Hegel-Studien Band 23 9783787329489, 9783787314874

TEXTE UND DOKUMENTE Ein unbekannter Brief Hegels an Tralles. Mitgeteilt und erläutert von Horst Zehe – Ein Hegel-Billett

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Hegel-Studien Band 23
 9783787329489, 9783787314874

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HE G E L- STU DIEN In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von FRIEDHELM NICOLIN und OTTO PÖGGELER

B and 2 3

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-On-Demand-Nachdruck der Originalausgabe von 1988, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1487-4 ISBN eBook: 978-3-7873-2948-9 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

INHALT TEXTE UND DOKUMENTE Ein unbekannter Brief Hegels an Tralles Mitgeteilt und erläutert von HORST ZEHE (Tübingen) Ein Hegel-Billett in Chicago Mitgeteilt von VOLKER SCHäFER (Tübingen) (Köln) Der systematische Aufbau der Geisteslehre in Hegels Nürnberger Propädeutik

9

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UDO RAMEIL

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ABHANDLUNGEN YOICHI KUBO

(Tokio)

Sein und Reflexion. Zur Entstehung der Metaphysik Hegels

51

(Bonn) Ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein. Bemerkungen zum Kapitel „Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" in Hegels Phänomenologie des Geistes

71

(Heidelberg) Hegels Transformation der aristotelischen Wahrnehmungslehre

95

GEORG RöMPP

REINER WIEHL

GABRIELLA BAPTIST

(Roma/Bochum);

HANS-CHRISTIAN LUCAS

(Bochum) Wem schlägt die Stunde in Denidas „Glas"? Zur Hegelrezeption und -kritik Jacques Derridas

139

(Bochum) „Allegory of disjunction". Zur dekonstruktivistischen Lektüre Hegels und Hölderlins in Amerika

CHRISTOPH JAMME

181

(Bochum) Die Kritik des Einen ist nicht die Epiphanie des Anderen. Bemerkungen zur Philosophie Emanuel Levinas' 205

HANS JüRGEN GAWOLL

(Düsseldorf) Hegel und die Dingproduktion. Ein Einblick in Lacans Hegel-Rezeption

ECKHARD HAMMEL

227

Auf Hegel verzichten? Die hermeneutische Phänomenologie Paul Ricoeurs. Zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart an Paul Ricoeur. Mit Beiträgen von MANFRED ROMMEL, OTTO PöGGELER, FRIEDRICH HOGEMANN

245

KLEINE BEITRÄGE (Utrecht) Natorp und die Hegelsche Dialektik

265

(Roma/Bochum) Wege und Umwege zu Hegels Phänomenologien

272

JAAP SIJMONS

GABRIELLA BAPTIST

SoK-ZiN LIM (Seoul)

Hegel-Rezeption in Korea

287

LITERATURBERICHTE UND KRITIK Phänomenologie des Geistes in gewandelten Perspektiven SöZER,

Istanbul)

(ÖNAY

291

Hegel's Philosophy of Nature: Recent developments PETRY, Rotterdam)

(MICHAEL

J. 303

Schleiermacher und Hegel. Neue Ausgaben und alte Fragen JAESCHKE, Bochum)

(WALTER

G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Band 17: Vorlesungsmanuskripte 1. Hrsg. V. W. Jaeschke (GENTSCHO DONTSCHEV, Sofia) G. Jarczyk; P.-J. Labariiere: Hegeliana

327

341

(GABRIELLA BAPTIST,

Roma/Bochum)

344

L. Lugarini: Prospettive hegeliane L'Aquila)

(GIANNINO

V. Di

TOMMASO,

347

K. Hielscher: Vernunft und transzendentale Einheit HOGEMANN, Bochum) B. Bourgeois: Le Droit Naturei de Hegel Jerusalem)

(FRIEDRICH

350

(MYRIAM BIENENSTOCK,

352

L. Heyde: De Verwerkelijking van de Vrijheid (Lu DE VOS, Löwen)

356

E. Schütz: Vernunft und Bildung (FRIEDHELM NICOLIN, Düsseldorf)

358

K. Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit Bochum)

361

A. Negri: Hegel nel Novecento A. Arndt: Karl Marx

(FRIEDRICH HOGEMANN,

(GIACOMO RINALDI,

(WOLFGANG LEF6VRE,

Berlin)

D. Kolb: The Critique of Pure Modernity S. U. N. Y. Stone Brook)

(SCOTT

Lovere) . . . 364 366

E.

P. Jagentowicz Mills: Woman, Nature and Psyche WEISSER, Bochum)

WEINER,

370 (ELISABETH

375

Kurzreferate und Selbstanzeigen

über R. Morresi; Persische Hegel-Übersetzungen; Hegel (ed. Legros); M. Bondeli; M. de Angelis; P. Becchi; K. Iwaki; W. Jung; D. Voss; G. Pasternak; Lukäcs and bis World; F. Hölderlin (ed. Sattler); S. Gauch; M. Knaupp BIBLIOGRAPHIE Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986. Mit Nachträgen aus den Jahren 1983-1985 (Zusammenstellung: ELISABETH WEISSER, Bochum)

EIN UNBEKANNTER BRIEF HEGELS AN TRALLES Mitgeteilt und erläutert von Horst Zehe (Tübingen)

Der im folgenden diplomatisch getreu abgedruckte Brief Hegels gehört zum Nachlaß TRALLES bei der Akademie der Wissenschaften der DDRi. Empfänger des Briefes ist JOHANN GEORG TRALLES (1763-1822), ein Berliner Kollege Hegels. TRALLES, in Hamburg geboren, studierte in Göttingen und erhielt bereits 1785 eine Professur für Mathematik und Physik in Bern. 1804 wurde er als Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften nach Berlin berufen. Seit 1810 war er Ordinarius der Mathematik an der Universität, vom gleichen Jahr ab bis zu seinem Tode auch Sekretär der mathematischen Klasse der Akademie der Wissenschaften^. — In Hegels Korrespondenz war TRALLES bisher als Briefpartner nicht vertreten. Von einem über das Dienstliche hinausgehenden Umgang zwischen beiden ist nichts bekannt. Hegel, der nach eigenem Bekunden GOETHE „die richtige Erkenntnis der Natur des Lichts und eines weiten Reichtums seiner Erscheinungen" verdankte^, hatte schon 1812 in seiner Wissenschaft der Logik und abermals 1817 in seiner Enzyklopädie der Wissenschaften für GOETHES Farbenlehre öffentlich Partei genommen, und GOETHE hatte üim „entschiedene und vollständige Kenntnis der Sache" bescheinigt. In seinem Brief an TRALLES will Hegel seinen selbstredend „newtonianisch" gesinnten Kollegen auf eine Passage in der Optik aufmerksam machen, in der NEWTON scheinbar Finsternis (Schatten) als Bedingung für das Entstehen von Farben anerkennt, also GOETHES Erkenntnis bestätigt, „daß zur Entstehung der Farbe ein Licht und Schatten, ein Licht und Nichtlicht nötig sei"®.

' AdW der DDR — Archiv — NL Tralles, Nr 96, Brief von Hegel. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Akademie. 2 Vgl. Adolf Harnack: Geschichte der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Erster Band, Zweite Hälfte. Berlin 1900. 646. 3 Hegel am 20. Juli 1817 an Goethe. Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Band 2. Nr 322. Goethe am 8. Juli 1817 an Th. J. Seebeck. Vgl. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft. 10 (1924), 177. ® Vgl. Goethe: Zur Farbenlehre. Des Ersten Bandes Zweiter, polemischer Teil. § 403.

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HORST ZEHE

Hegel an Tralles Verehrter Herr Collega! Die Newtonische Stelle, die ich gestern im Sinne hatte steht Optice Lib. II Pars II^ p. mihi 230. Aber da meine Ausgabe^ in diesem Theil keine Abtheilungen hat, kann ich ihren Ort nicht näher bestimmen, als daß Pars II mit S. 218 anfängt u. mit S. 238. endigt. Das Alinea fängt an: Inter omnes observationes (geht auf die 24te® ~) u. die Stelle geht bis inaequaliter luminosas^: Die Hauptsache ist cum — Corpora omnia — luminosas. Umbra ist hier ausdrücklich als Bedingung der Farbe ausgesprocheni^; und Sie wissen besser als ich, daß die Säure Bedingung ist, damit das Kalische als Salz existire^k Die folg. Erklärung des Phänomens^^, das hier Newton eine Schwierigkeit macht, thut zu jener Sache nichts^^ Ihr B. ^20

Hegel

Erläuternde Anmerkungen * Die im Zusammenhänge mit dem Briefe Hegels relevanten Teile 1 und 2 des 2. Buches der Newtonschen Optik enthalten die insgesamt 24 „Beobachtungen über Reflexionen, Brechungen und Farben dünner durchsichtiger Körper (observationes circa reflexiones, refractiones & colores corporum tenuium pellucidorum)" und die entsprechenden „Bemerkungen zu den vorhergehenden Beobachtungen (considerationes super praemissis observationibus)". Newton hat die meisten dieser Beobachtungen an einer Luftschicht veränderhcher und berechenbarer Schichtdicke angestellt und dazu u. a. die folgende einfache Anordnung benutzt: Eine sehr schwach gekrümmte Linse (mit einem Krümmungsradius von ca. 15 m) wird auf eine ebene Spiegelglasplatte gelegt. Man drückt die Linse leicht auf die Platte und beobachtet senkrecht von oben bei Tageslicht. Man sieht dann in der Mitte, wo sich Linse und Platte berühren, einen schwarzen Fleck und konzentrisch zu ihm ein System von Ringen unterschiedlicher Farbenfolge; nach außen zu werden die Ringe immer verwaschener und weißlicher und verlieren sich endlich im Weißen. Die Gesetzmäßigkeit der Phänomene offenbart sich, wenn man statt des Tageslichts monochromatisches verwendet, die Anordnung also mit einem schmalen Bereich des prismatischen Spektrums beleuchtet. Dann zeigt sich ein System von einfarbigen Ringen, die von einander durch dunkle Zwischenräume getrennt werden. Nach außen zu rücken die Ringe immer dichter aneinander, bis die Zwischenräume mit bloßem Auge nicht mehr zu unterscheiden sind. Der regelmäßige Wechsel zwischen hellen (farbigen) und dunklen Ringen legt den Schluß nahe, daß bei bestimmten, für jede Farbe spezifischen Dicken der Luftschicht zwischen Linse und Platte das Licht reflektiert (helle Ringe) und bei anderer Schichtdicke (dunkle Ringe) durchgelassen wird; und in der Tat sind die Erscheinungen im durchgehenden Licht zu denen im reflektierten

Ein Brief Hegels an Tralles

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komplementär. Um diese Phänomene deuten zu können postuliert Newton im 3. Teil des 2. Buches eine sich periodisch ändernde Eigenschaft des Lichts, nämlich, daß die Lichtstrahlen „durch irgendeine Ursache, welche es auch sei, in zahlreichen, wechselnden Aufeinanderfolgen die Fähigkeit oder die Neigung erhalten, reflektiert oder gebrochen zu werden"; Newton spricht in diesem Zusammenhang von „Anwandlimgen": von der „Anwandlung leichter Reflexion (vices facilioris reflexionis)" resp. der „Anwandlung leichten Durchganges (vices facilioris transmissus)". Die Deutung der im monochromatischen Lichte auftretenden Phänomene erlaubt auch eine Erklärung der weit komplizierteren Verhältnisse, die sich bei der Beleuchtung mit Tageslicht ergeben: Hier nämlich überlagern sich die einzelnen Ringsysteme (vom violetten mit den kleinsten Durchmessern, bis hin zum roten mit den größten) zu einer Mannigfaltigkeit von Mischfarben und Farbnuancen. Je weiter man sich vom Zentrum, also vom Berührungspunkte von Linse und Platte entfernt, desto mehr Ringe unterschiedlicher Spektralfarben überlagern sich, resp. desto größer wird die Anzahl der farbigen Bestandteile im reflektierten Licht, desto weißlicher also werden die entstehenden Mischfarben, bis sie endlich zu Weiß verschmelzen. Zur Erklärung der „Newtonschen Ringe" als Interferenzerscheinungen vgl. etwa BergrmnnSchaefer: Lehrbuch der Experimentalphysik. Bd 3. 4. Aufl. Berlin 1966. 246—248. Hegels Darstellung findet man in den Vorlesungs-Zusätzen zum § 320 der Enzyklopädie. Vgl. Hegel: Werke. Bd 7, Abt. 1. Berlin 1842. 316 f. ^ Newtons Optik erschien zum ersten Male im Jahre 1704 in London unter dem Titel: Opticks: Or, a Treatise ofthe Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light; im Jahre 1706 erschien eine von Newton autorisierte lateinische Übersetzung Samuel Clarkes, mit dem Titel: Optice: sive de reflexionibus, refractionibus, inflexionibus & coloribus lucis, libri tres. Zu Hegels Zeiten zitierte man in den meisten Fällen entweder nach der vierten englischen Auflage (London 1730) oder der „editio novissima" der lateinischen Übersetzung (Lausannae & Genevae 1740); Hegel hat die zweite Auflage der lateirüschen Übersetzung (Londini 1719) benutzt. (Vgl. Anmerkung 9.) Eine deutsche Übersetzung erschien erst zu Ende des 19. Jahrhunderts: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts. Übersetzt und herausgegeben von William Abendroth. Leipzig 1898. Dem Nachdruck dieser Übersetzung (Braunschweig 1983) sind die deutschen Newton-Zitate entlehnt. ® In der 24. Beobachtung bemerkt Newton, daß man bei einer Betrachtung durchs Prisma nicht nur mehr Ringe als mit bloßem Auge sieht, sondern auch in den Bereichen farbige Ringe entdeckt, die für das unbewaffnete Auge weiß erscheinen. (Vgl. Anmerkung 7.) * Die von Hegel angeführte Stelle lautet wie folgt: „Inter omnes observationes supra memoratas, nuUa est quae tarn mira habeat adjuncta, quam 24ta. Praecipue, quod certae tenues lamellae, quae nudo oculo albitudine pellucida, aequabili, & sui usquequaque simUi, sine ullis omiuno umbrarum vestigiis, videntur; per prisma tarnen inspectae, annulos coloratos exhibeant; cum e contrario, prismatis refractione, corpora omnia ea solummodo sui parte apparere soleant coloribus distincta, ubi vel umbris terminentiu", vel partes habeant inaequaliter luminosas (Unter allen oben angeführten Beobachtungen ist keine von so sonderbaren Umständen begleitet, wie die 24. Dahin gehört hauptsächlich, daß in dünnen, dem unbewaffneten Auge in gleichmäßigem, durchsichtigem Weiß ohne eine Spur von Schattengrenzen erscheinenden Blättchen die Brechung durch ein Prisma Farbeiuinge erscheinen läßt, da sie doch gewöhnlich die Gegenstände nur da farbig zeigt, wo sie von Schatten begrenzt sind oder ungleich beleuchtete Stellen haben)." — Diese Problematik hat auch Eingang in die Enzyklcrpädie gefunden. In der zweiten Auflage (Heidelberg 1827) heißt es im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Newtons Optik im §320: „Alsdenn über die gleich schlechte Beschaffenheit des Schließens, Folgems und Beweisens aus jenen unreinen empirischen Daten; Newton gebrauchte nicht nur das Prisma, sondern der Umstand war ihm auch lücht entgangen, daß zur Farbenerzeugung durch dasselbe eine Grenze von Hell und Dunkel erforderlich sei (Opt. Lib. II. P. II. p. 230), und doch konnte er jenes als wirksam zu trüben, übersehen." In der ersten Auflage (Heidelberg 1817) fehlt an entsprechender Stelle (§ 221) der Hinweis auf die Newton-Passage; in der dritten (Heidelberg 1830) ist die Litera-

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HORST ZEHE

tur-Angabe in § 320 erweitert zu: „Opt. Lib. II. P. II. p. 230. ed. lat. Lond. 1719" und in den Vorlesungs-Zusätzen zum § 320 wird die Passage sogar explicite zitiert; „Newton verwundert sich an der oben angeführten Stelle, (Opt. p. 230), dal? gewisse dünne Lamellen — oder Glaskügelchen (p. 217) — völlig durchsichtig und ohne allen Schein von Schatten, durchs Prisma gesehen, sich farbig zeigen (annulos coloratos exhibeant): cum e contrario, prismatis refractione, corpora omnia ea solummodo sui parte apparere soleant coloribus distincta, ubi vel umbris terminentur, vel partes habeant imequaliter luminosas." (Vgl. Werke, Bd7, Abt. 1. 320.) 'f* Vgl. Anmerkung 5 und die Passage im § 320 der dritten Auflage der Enzyklopädie, wo es nach dem Satze „. . . und doch konnte er das Dunkle als wirksam zu trüben, übersehen', weiter heißt; „Diese Bedingung der Farbe wird überhaupt von ihm nur bei einer ganz speziellen Erscheinung, (und auch dabei selbst ungeschickt) nebenher und nachdem die Theorie längst fertig ist, erwähnt. So dient diese Erwähnung den Verteidigern der Theorie nur dazu, sagen zu können, diese Bedingung sei Newton nicht unbekannt gewesen, nicht aber dazu, als Bedingung sie mit dem Lichte an die Spitze aller Farbenbetrachtung zu stellen." Es ist allerdings zu bezweifeln, ob Hegel sich hier auf die im Brief an TraUes zitierte Stelle aus Newtons Optik bezieht; wahrscheinlich hat er wohl Lib. I. P. II. Prop. VIII. Prob. III. im Sinn: „Ex proprietatibus luminis supra expositis, explicare colorum prismatibus exhibitorum rationem (Aus den nachgewiesenen Eigenschaften des Lichts die durch Prismen hervorgerufenen Farben zu erklären)." Newton erklärt dort, warum bei der prismatischen Zerlegung eines breiten Lichtbündels statt eines vollständigen Spektrums ein breiter weißer Streifen mit farbigen Rändern erscheint. Newton demonstriert, daß sich — je nach Breite des Lichtbündels — in geringerer oder größerer Entfernung hinter dem Prisma Strahlen unterschiedlicher Brechbarkeit (Farbe), die von verschiedenen Punkten des Prismas herkommen, zu Weiß überlagern. Nur an den Grenzen des Lichtbündels, wo eine solche Überlagerung nicht stattfindet, entstehen blau/violette resp. gelb/rote Ränder. Und Newton führt dann weiter aus: „Wenn man durch ein Prisma nach einem von Schwarz oder Dunkelheit umgebenen weißen Objekte blickt, so ist der Grund dafür, daß man an den Rändern Farben sieht, fast der nämliche, wie Jedem klar werden wird, der dies mit einiger Aufmerksamkeit betrachtet. Ist aber ein schwarzer Gegenstand von Weiß begrenzt, so sind die durch ein Prisma erscheinenden Farben aus dem Lichte des Weiß, welches sich in das Gebiet des Schwarz verbreitet, herzuleiten und erscheinen deshalb in umgekehrter Folge, wie wenn ein weißes Objekt von Schwarz umgrenzt ist. Begreiflicherweise tritt dasselbe ein, wenn man nach einem Objekte blickt, von dem einige Teile weniger gut beleuchtet sind als andere; denn an den Grenzen zwischen den helleren und den weniger hellen Teilen müssen nach denselben Grundsätzen durch das Überwiegen der hellen Teile Farben entstehen, und diese müssen von der nämlichen Art sein, als wenn die dunkleren Teile schwarz wären, nur daß sie schwächer und matter sein müssen." Dies heißt nichts anderes, als Goethes „Grundphänomene aller Farbenerscheinung bei Gelegenheit der Refraktion" (vgl. Goethe Zur Farbenlehre. Des ersten Bandes Erster, didaktischer Teil, § 202) in Newtonscher Manier erklären — nur daß es für Newton eben keine „Grundphänomene" sind. " So deutet Hegel die Neutralisation(?), d. h. die Umsetzung einer Base (in diesem Fall eines Alkalihydroxids) und einer Säure zu Wasser und einem (Alkali) Salz. (Vgl. Enzyklopädie. Heidelberg 1830. § 332.) Im Anschluß an die in Anmerkung 9 zitierte Stelle liefert Newton eine Erklärung der beobachteten Phänomene: „Die Ursache davon wird man begreifen, wenn man bedenkt, daß alle diese Ringe wirklich in dem Blättchen vorhanden sind, wenn man es mit bloßem Auge betrachtet, und daß sie nur wegen der großen Breite an ihrem Umfange sich so sehr mit einander vermischen, daß sie ein gleichförmiges Weiß zu bilden scheinen. Wenn aber die Strahlen durch ein Prisma in das Auge gelangen, so werden die in jedem Ringe den verschiedenen Farben angehörenden Kreise gebrochen, und zwar die einen mehr, die anderen weniger, je nach dem Grade ihrer Brechbarkeit."

Ein Brief Hegels an Tralles

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13 Newton freilich zieht aus alledem am Ende von Lib. 11. P. 11. bedeutsame Folgerungen: Insbesondere aus der 24. Beobachtung wird geschlossen, daß Weiß eine Mischung von allen Farben ist, daß zwischen Farbe und Brechbarkeit ein konstantes Verhältnis besteht und daß endlich die Farbeneigenschaften der Strahlen „ihnen von Natur unveränderlich innewohnen (congenitas esse atque immutabiles)". „Bei dieser Auffassung", so sagt Newton zum Beschluß seiner Überlegungen, „wird die Lehre von den Farben eine eben so sichere mathematische Theorie, wie irgend ein anderer Teil der Optik, insoweit nämlich die Farben von der Natur des Lichts abhängen und nicht durch die Einbildungskraft oder etwa einen Schlag oder Druck auf das Auge hervorgebracht oder geändert werden."

EIN HEGEL-BILLETT IN CHICAGO Mitgeteilt von Volker Schäfer (Tübingen)

Die Chicago Historical Society verwahrt in ihrer Handschriftenabteilung seit 1923 einen Sammelband „Autograph letters of the distinguished men of Germany". Zusammengetragen von den Damen der amerikanischen Gesandtschaft zu Berlini offensichtlich im Februar und März 1864, verdankt diese Autographensammlung ihr Entstehen dem amerikanischen Bürgerkrieg und der ihn begleitenden Woge privater Wohltähgkeitsveranstaltungen, im vorliegenden Fall dem 2. Northwestern Sanitary Fair in Chicago von 1865^. Bei rund der Hälfte der insgesamt 69 von ursprünglich 70 Einzelstücken^ handelt es sich um gezielt erbetene Autographen und demzufolge um Schriftproben aus dem gesellschaftlichen Umfeld der US-Diplomaten und ihrer Gattinnen, meist in Form kurzer, konventioneller Widmungen, manchmal sogar nur als Autogramme. Besonders stark repräsentiert ist die Universität mit ihren Professoren, wie etwa den Historikern GUSTAV DROYSEN, THEODOR MOMMSEN oder LEOPOLD VON RANKE, dem Physiker HEINRICH WILHELM DOVE, dem Naturforscher CHRISTIAN GOTTFRIED EHRENBERG, dem Altertumswissenschaftler AUGUST BöCKH oder den Medizinern ALBRECHT VON GRAEFE und RUDOLF VIRCHOW, um nur einige zu nennen. Für einen zweiten Schwerpunkt sorgen die Berliner Künstlerkreise mit den Bildhauern FRIEDRICH DRAKE und ALBERT WOLFF und mit Malern wie CONSTANTIN CRETI-

1 Die Provenienz-Angabe im Handschriftenkatalog lautet: „Materials collected by the ladies of the U. S. legation in Berlin to be donated for sale at the U. S. Sanitary Commission Fair in Chicago in 1865. The managing committee of the Fair gave the volume to Mrs. Zephaniah Humphrey, who gave it to her daughter Charlotte Humphrey Morris of New Haven, Conn. In 1911 Mrs. Morris gave it to Dr. J. G. H. McClure, who donated it to the Historical Society in 1923." Mrs. Morris spricht in ihrem Schenkungsbrief an Dr. McClure vom 6. 2. 1911 dagegen nur von einer Gruppe in Deutschland lebender Amerikaner („a Company of Americans living in Germany"). — Der Chicago Historical Society danke ich für die Publikationserlaubnis; mein besonderer Dank gilt Mr. Archie Motley, Curator of the Manuscripts Department, und Mr. Ralph A. Pugh, Assistant Curator, für den freundlichen Hinweis auf die Quelle und auf die Literaturstelle in Anm. 2 sowie für mancherlei entgegenkommende Unterstützung. 2 Zu den beiden Sanitary Fairs 1863 und 1865 von Chicago siehe Beverly Gordon: „A Furor of Benevolence". In: Chicago History, 15 (1986/87), Nr 4, 48—65. 3 Das Autographenblatt Nr 1 mit den Widmungen des preußischen Königspaars ist nicht mehr vorhanden.

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VOLKER SCHäFER

US, EDUARD HILDEBRANDT, LOUIS KNAUS, HERMANN KRETZSCHMER, CARL FRIEDRICH LESSING, EDUARD MAGNUS, JOHANN GEORG MEYER VON BREMEN

oder JULIUS SCHRäDER.

Die andere Hälfte der Dokumente besteht aus Briefen, vereinzelt auch aus amtlichen Schreiben, und geht — soweit datiert — bis 1816 zurück. Ins Auge fallen dabei Autographen von FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY^, GIACOMO MEYERBEER, von den Gebrüdern ALEXANDER und WILHELM VON HUMBOLDT oder von JAKOB GRIMM; nicht zuletzt erscheint sogar GOETHE mit einem Ministerschreiben vom 10. 11. 1818^. Die Vorbesitzer bleiben, von zwei Ausnahmen abgesehen*, im Dunkeln. An dieser Stelle interessiert das Blatt 61 — ein bislang unbekannt gebliebenes Hegel-Billett an die NicoLAische Buchhandlung in Berlin folgenden Wortlauts:

Jt2/ 3a -

/rr. ^ Nr 46: Brief aus Düsseldorf vom 18. 5. (recte 18. 3.) 1835 offenbar an einen Bildnisverleger (vermutlich in Köln). * Der Vollständigkeit halber seien auch die übrigen Schreiber genannt, bei deren Namen und Daten ich im wesentlichen dem Katalog der Chicago Historical Society folge: M. A. v. Bethmann-Hollweg, F. Bopp, I. A. Domer, E. Gerhard, M. Haupt, Th. Jolly, A. Kaselowsky, F. W. Krummacher, K. R. Lepsius, E. Mandel, F. E. Meyerheim, K. F. Neumann, K. I. Nitzsch, J. Olshausen, F. Piper, Raumer, E. Roediger, J. L. Teilkampf, A. Tholuck, A. und C. Twesten, A. Weber, J. H. Wiehern (alle 1864); O. Achenbach (1860), K. A. Böttiger (1816), C. K. J. V. Bunsen (1857), J. Ph. Fallmerayer (1839), C. Friedrichs (1859), Gessner (1839?), ehr. G. Körner (1819), J. G. L. Kosegarten (1856), B. v. Langenbeck (1861), M. H. K. Lichtenstein (1850), Ph. Marheineke (1822), A..Neander (1835), F. A. Trendelenburg (1859); ferner A. Achenbach, G. G. Gervinus, J. v. Mohl, E. Pape, G. F. Schömann, D. F. Strauß, G. F. Waagen und K. Th. Welcher (alle undatiert). — Es wäre zu prüfen, ob die Autographen von 1864 aus der „Gesetzlosen Gesellschaft" stammten, einer 1809 gegründeten und noch heute existierenden Berliner geselligen Vereinigung. Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Hegel und die „Gesetzlose Gesellschaft". In: Hegel-Studien. 20 (1985), 113—116. * 4 Briefe sind an den Berliner Kunsthändler N. L. Lepke adressiert, dessen Identität trotz freundlicher Bemühungen des Landesarchivs Berlin, des Archivs der Akademie der Künste Berlin sowie des Bildarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin ungeklärt blieb. Alexander von Humboldts Schriftprobe aus dem Jahr 1853 gehörte offenbar Giacomo Meyerbeer.

Ein Hegel-Billett in Chicago

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Geschichte der teutschen Reformation V. D. Marheinike 2 Th bitte mir aus Prof Hegel 130 Ist^ Rabaud de St. Etiene Histoire de la revol. frang. noch zu haben An d. Fr. Nicolaische Buchh. Mit den genannten Titeln meinte Hegel offensichtlich folgende Werke: 1) PHILIPP MARHEINECKE [sic]: Geschichte der teutschen Reformation. 2 Teile. Berlin 1816. In der Nicolaischen Buchhandlung*. 2) JEAN PAUL RABAUT SAINT-ETIENNE: Pre'cis de l'histoire de la Revolution frangaise. Paris 1792 (und öfter)^. Bisher waren sechs solcher Billette von Hegel an die NicoLAische Buchhandlung bekannt^o. Das neu aufgefundene Briefchen vom 8. Mai 1830 steht mit einiger Sicherheit im Zusammenhang mit der Rede, die Hegel als Rektor der Berliner Universität kurz danach, am 25. Juni, bei dem akademischen Festakt aus Anlaß des dreihundertjährigen Jubiläums der Augsburgischen Konfession gehalten hat^i. In dieser Feierstunde trat nach Hegel auch MARHEINEKE, und zwar als Dekan der Theologischen Fakultät, ans Rednerpult; sein Vortrag behandelte die historischen Ereignise um die Confessio Augustana von 1530^2 Anscheinend waren die bestellten Titel vergriffen; der Auktionskatalog der Hegelschen Bibliothek von 1832 jedenfalls führt keines der beiden Werke aufi*.

2 Es folgen ein oder zwei gestrichene Buchstaben (vielleicht: la). ® Eine zweite, vierbändige Ausgabe kam 1831—1834 bei Duncker und Humblot in Berlin heraus. ^ Die ersten 4 Auflagen erschienen 1792, zunächst unter dem Titel Almanach historique de la Revolution frangaise pour l'annee 1792; der Titel der 4. Auflage Precis historique de la Revolution frangaise wurde in den folgenden Auflagen — es gab mindestens 8 — geändert in Pre'cis de l'histoire de la Revolution frangaise par Rabaut Saint-Etienne. Zur Person des Autors, der 1793 der Französischen Revolution selbst zum Opfer fiel, vgl. Martin Göhring: Rabaut Saint-Etienne. Ein Kämpfer an der Wende zweier Epochen. Berlin 1935. (Historische Studien. 279.) Die Angaben über die Auflagen ebd. 189, Anm. 1. 1** Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Bd 4, Teil 2. Hrsg. v. Friedhelm Nicolin. Hamburg 1981. Register der Korrespondenten, 315. '' Ebd. 120 f, Erläuterungen zu Nr 644a. '2 Ebd. — Von Marheineke, der Hegel freundschaftlich verbunden war (ebd. 228), sei hier aus einem Brief an den Heidelberger Pädagogen und Theologen Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766—1837) vom 14. 9. 1816 eine Passage erstmals veröffentlicht, die in den Kontext von Hegels erstem Berliner Ruf gehört und einen überraschenden, neuen zeitlichen Ansatz bietet: „Ihren Wilken verlieren Sie nun auch, haben aber Hegel gewonnen, bei dem wir leider zu spät angeklopft hatten, oder vielmehr die Regierung: denn unsere Vorschläge hatten wir schon ein halbes Jahr abgegeben." (Universitätsbibliothek Basel, Nachlaß Schwarz, XVII/21.) Freundliche Auskunft des Hegel-Archivs Bochum vom 12. 12. 1986.

UDO RAMEIL (KÖLN)

DER SYSTEMATISCHE AUFBAU DER GEISTESLEHRE IN HEGELS NÜRNBERGER PROPÄDEUTIK

Als HERMANN GLöCKNER 1927 im Rahmen seiner Ausgabe von Hegels Sämtlichen Werken Hegels Enzyklopädie in der ersten Auflage von 1817 (Heidelberger Enzyklopädie) als Faksimile-Nachdruck wieder herausgab, hob er die Bedeutung dieses Werkes „im Hinblick auf den Entwicklungsgang des Philosophen" hervor. Die Hegelsche Philosophie zeige sich hier zum erstenmal wirklich „fertig", Hegel stehe auf der Höhe seines Lebens: „Die dreibändige Logik liegt abgeschlossen hinter ihm; in der (nicht für den Druck bestimmten) Philosophischen Propädeutik hatte er seiner Lehre die ,Schulform' gegeben; aus jener Skizze wird nunmehr ein Buch. Wie das eigentlich zugegangen ist, auf welchen Wegen Hegel von den ersten Jenenser System-Entwürfen über Phänomenologie, Propädeutik und Logik hinweg schließlich zu dieser ,Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse' kam — diese Fragen werden die Hegelforschung noch lange beschäftigen. "i Bis heute ist auf diese Fragen keine im ganzen völlig befriedigende Antwort gegeben worden, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß vor allem Hegels sogenannte Propädeutik, also seine philosophischen Lehrvorträge für den Schulunterricht am Gymnasium in Nürnberg in der Zeit zwischen 1808 und 1816, höchst unzureichend erschlossen und ediert sind. GLöCKNERS Fragestellung lenkt den Bück auf die Entstehungsgeschichte der Heidelberger Enzyklopädie; ihre unmittelbare Vorgeschichte — die Nürnberger philosophische Propädeutik — darf in einer entwicklungsgeschichtlich orientierten Betrachtung der Systemgestalt der Hegelschen Philosophie nicht übergangen werden. Hegels Rückkehr zur akademischen Lehre durch seinen Wechsel an die Heidelberger Universität 1816 macht es notwendig, seinen Hörern einen Leitfaden zu seinen philosophischen Vorlesungen vorzulegen, und so konzipiert Hegel in sehr kurzer Zeit seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse als Lehrbuch in Paragraphen „zum Gebrauch seiner Vorlesungen". Ein so rasches Erarbeiten eines Grundrisses, der seine Philosophie insgesamt in wissenschaftlicher Form als System darsteUt, ist Hegel nur dadurch möglich, daß er auf Texte zurückgreifen kann, die er für den Philosophieunterricht am Nürnberger Gymnasium konzipiert hat. „Seine Hefte vom Gymnasium boten ihm", wie KARL ROSENKRANZ in seiner Hegel-Biographie zur Ausarbeitung der Heidelberger En' G. W. F. Hegel: Sämtliche Werke. Hrsg, von H. Glöckner. Bd 6. 4. Aufl. Stuttgart 1968. VII.

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zyklopädie-Vorlesung von 1816/17 und der ersten Druckfassung der Enzyklopädie feststellt, „die beste Grundlage dazu".^ Diese herausragende Rolle der Nürnberger Propädeutik für die Entstehung der systematischen Darstellung der gesamten Philosophie Hegels ist für ROSENKRANZ dann auch das entscheidende Motiv, das Nürnberger Material in einem eigenen Band der Hegelschen Werkausgabe zu edieren, da in ihm „für die Anschauung der Entv/icklung Hegel's ein sehr bedeutsames Moment gegeben" sei.^ Dieser der heutigeii Forschung geläufige, damals aber eher ungewöhnliche Ansatz einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung des Denkens Hegels leitet zwar ROSENKRANZ' Einschätzung der Nürnberger Schultähgkeit Hegels insgesamt, nicht aber sein editorisches Verfahren im einzelnen. Vielmehr verfolgt ROSENKRANZ mit seiner Edition die Absicht, aus dem ihm vorliegenden vielfältigen Material „gewissenhaft ein Ganzes herauszuarbeiten", das er für „ein musterhaftes Maaß" hält, so daß „diese Propädeutik für alle Lehrer auf Gymnasien nicht nur, sondern auch für akademische, von großem Nutzen" sei.^ Dieser Anspruch ROSENKRANZ' führt dazu, daß er Hegels Nürnberger Texte nicht in ihrer eigenen Struktur dokumentiert, sondern aus Hegels Lehrvorträgen einen „ideal-typischen" Gesamtkurs konstruiert, der zum einen in dieser Weise von Hegel niemals durchgeführt worden ist und zum anderen Entwicklungslinien innerhalb der achtjährigen Schultähgkeit Hegels verzeichnet oder ganz unkenntlich macht. Zumal ROSENKRANZ' Edihon des Kursus über Philosophische Enzyklopädie stellt — wie schon aus seinen eigenen Angaben hervorgeht — eine Kompilation von Texten dar, die aus verschiedenen Jahrgängen und aus thematisch unterschiedlichen Kursen stammen. Sein Bemühen dabei ist offenbar, jeweils die aus den ihm vorliegenden Fassungen zu ermittelnde letzte und späteste Version Hegels in seine Edition aufzunehmen. Wie er in einem Brief von 1839 an Hegels Witwe sagt, besteht sein Textgestaltungsprinzip darin, „eine Ergänzung aller Hefte durcheinander und KontroUierung durch die späteren, vollendeteren Schöpfungen Hegels unausgesetzt zu üben''.^ Im Zuge eines solchen Verfahrens kommt es notwendigerweise zu einer größtmöglichen Annäherung der Nürnberger Enzyklopädie an die spätere, von Hegel selbst publizierte Heidelberger Enzyklopädie. Eine solche Darbietungsweise der Nürnberger Enzyklopädie muß den Eindruck erwecken, als habe Hegel von Anbeginn seiner Nürnberger Zeit am Gymnasium an bereits über ein ausgearbeitetes fertiges Gesamtsystem seiner Philosophie verfügt, das er dann — aus pädagogisch-didaktischen Gründen — dem Schulniveau angepaßt oder — wie GLöCKNER formulierte — dem er die „Schulform" gegeben habe. Zwar ist zu berücksichtigen, daß Hegel grundsätzlich be2 K. Rosenkranz: G. W. f. Hegels Leben. Berlin 1844 (Nachdruck Darmstadt 1977). 305. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel's philosophische Propädeutik. Hrsg, von K. Rosenkranz. Berlin 1840 (zit. als: Werke XVIII). V. 4 Ebd. VII, XII, XXII. 5 Zit. nach: G. W. F. Hegel: Nürnberger Schriften 1808—1816. Hrsg, von J. Hoffmeister. Leipzig 1938 (zit. als: NSchr). X.

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strebt war — wie erfolgreich auch immer —, in seinen philosophischen Lektionen der Auffassungsgabe seiner Hörer am Gymnasium Rechnung zu tragen; so berichtet er nach drei Jahren Gymnasialunterricht in einem Brief an NIETHAMMER, allmählich möchfen „meine Arbeiten für meine Lektionen eine populärere und herablassendere Form gewonnen haben".® Das aber ist nicht so zu verstehen, als modifiziere Hegel lediglich ein bereifs verfügbares systematisches Ganzes seiner Philosophie zu einem didaktisch ausgerichteten Gesamtplan philosophischer Vorbereitungswissenschaften. Vielmehr gewinnt Hegel eine solche ausgearbeitete enzyklopädische Systemgestalt allererst aus seiner Lehrtätigkeit am Gymnasium in Nürnberg. Die Idee einer systematischen Formierung der Philosophie freilich ist für Hegel damals keineswegs neu; sie beherrschf sein Denken spätestens seit Beginn der Jenaer Periode seines Philosophierens. In einem Brief vom 2. November 1800, unmittelbar bevor er sich „dem literarischen Saus von Jena" anvertraut, schreibt Hegel an SCHELLING: „In meiner wissenschaftlichen Bildung ... mußte ich zur Wisseiischaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von 1807 greift Hegel diesen Gedanken auf: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben seyn. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, ... ist es, was ich mir vorgesetzt."® Dieser Antrieb, an der wissenschaftlichen Form der Philosophie als System zu arbeiten, ist auch in Hegels philosophischen Lektionen in Nürnberg zu spüren. Mitte Oktober 1810 schreibt er an SINCLAIR, den ehemaligen Freund in Frankfurt: „Ich bin ein Schulmann, der Philosophie zu dozieren hat, und halte vielleicht auch deswegen dafür, daß die Philosophie, so gut als die Geometrie, ein regelmäßiges Gebäude werden müsse, das dozibel sei so gut als diese... Meine Sphäre ist, jene wissenschaftliche Form zu erfinden oder an ihrer Ausbildung zu arbeiten."^ Tatsächlich ist es Hegel als Nürnberger „Schulmann" — nach allen darauf zielenden Bemühungen auch schon in Jena — erstmals gelungen, das Gesamtgebäude seiner Philosophie in systematischer Form darzustellen — nicht zuletzt gerade aufgrund der Anforderungen, die sich ihm aus der Schultätigkeit stellten. Im Kontext der philosophischen Vorbereitungswissenschaften am Nürnberger Gymnasium gewinnt Hegel die enzyklopädisch-systematische Grundform seiner Philosophie, die er darm auch in den folgenden Etappen in Heidelberg und Berlin — allerdings mit weiteren Änderungen, Entwicklungen und Ausgestaltungen im Detail — beibehält. Aus Jena bringt Hegel bereits den grundsätzlichen Aufbau seines phUoso* Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister (zit. als: Briefe). Bd 1. Hamburg 1952. 390. 7 Ebd. 59. ® Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke (zit. als: GW). Bd 9: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980. 11. 9 Briefe. Bd 1. 332.

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phischen Systems in Wissenschaft der Logik, Naturphilosophie und Geisteslehre mit; die Stellung der Philosophie des Geistes, die hier unser Thema ist, als letzter Teil im enzyklopädischen Gesamtsystem liegt also schon fest, nicht aber ihre interne Gliederung, i** Der innere systematische Aufbau der Geistesphilosophie wird von Hegel allererst in Nürnberg entwickelt; die spätere streng triadische Gliederung der Geisteslehre in der von Hegel veröffentlichten Enzyklopädie wird in ihrer Tendenz bereits sichtbar, wenngleich sie in der bekannten Form einer Einteilung in die Lehre vom subjektiven, objektiven und absoluten Geist sowie der Trias des subjektiven Geistes: Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie in Hegels Nürnberger Texten selbst noch nicht abschließend durchgeführt ist. Der Versuch, die Entwicklung der systematischen Gestalt der Hegelschen Philosophie in der Nürnberger Zeit (1808—1816) speziell in der Philosophie des Geistes aufzuzeigen, setzt die Erschließung des gesamten z. Z. verfügbaren Materials zu Hegels philosophischer Schulpropädeutik voraus. Die grundsätzliche Unzulänglichkeit der Edition der Nürnberger Propädeutik Hegels durch ROSENKRANZ für eine entwicklungsgeschichtlich ausgerichtete Fragestellung ist oben schon betont worden. Auf ROSENKRANZ' alte Edition mußten jedoch auch noch — vor allem was die Philosophische Enzyklopädie angeht — die neueren Ausgaben der Nürnberger Schriften Hegels durch HOFFMEISTERI' sowie durch MOLDENHAUER und MICHELI^ zurückgreifen. Aufgrund neuer Manuskriptfunde ist es nun möglich geworden, gleichsam hinter die von ROSENKRANZ herausgegebene Textversion zurückzugehen auf die ursprünglichen Fassungen der Hegelschen Geisteslehre in verschiedenen Etappen der Nürnberger Zeit. Im Berliner Hegel-Nachlaß wurde ein zuvor nicht bekanntes Konvolut von Manuskripten entdeckt, in dem sich einige DiktatNachschriften durch Schüler Hegels aus den Jahren zwischen 1808 und 1811 befinden; eine Beschreibung dieser Manuskripte mit den jeweiligen systematischen Gliederungen hat EVA ZIESCHE 1975 vorgelegt. Unter diesen Nürnberger Manuskripten, die bisher noch nicht ediert sind, spielt für unsere Abhandlung eine Nachschrift des Oberklassen-Kursus von 1810/11 unter dem Titel System der besonderen Wissenschaften mit eigenhändigen Überarbeitungen und Randzusätzen von Hegel die entscheidende Rolle. Inzwischen sind zudem zwei Nachschriften von CFLRISTIAN S. MEINEL zugänglich geworden, durch die Hegels Psychologie-Kuis von

10 Abgesehen allerdings vom letzten Hauptteil der Geistesphilosophie: Die Einteilung in Kunst, Religion und Wissenschaft bzw. Philosophie findet sich bereits in der Jenaer Realphilosophie von 1805/06; s. GW Bd 8: Jenaer Systementwürfe UL Hrsg, von R.-P. Horstmaim. Hamburg 1976. 274 n. und 277 ff. Dieser Teil der Hegelschen Geistesphilosophie rvird deshalb in den folgenden Erörterungen nicht ausführlich behandelt. 11 S. Anm. 5. 12 G. W. F. Hegel: Nürnberger und Heidelberger Schriften. Hrsg, von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt/M. 1970. (Theorie-Werkausgabe. Bd 4.) 10 E. Ziesche: Unbekannte Manuskripte aus der Jermer und Nürnberger Zeit im Berliner HegelNachlaß. ln: Zeitschrift für philosophische Forschung. 29 (1975). 438—444.

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1811/121'* und sein Kursus über Philosophische Enzyklopädie von 1812/13 dokumentiert sind*^; eine Edition dieser Texte steht ebenfalls noch aus.*® Die verbesserte Materialgrundlage erlaubt nun einen weitergehenden Aufschluß über Hegels allmähliche Ausgestaltung seiner Lehre vom Geist in Nürnberg, als das zuvor allein auf der Basis der RosENKRANZschen Edition möglich war. Hegel knüpft zu Beginn seiner Gymnasialtätigkeit unmittelbar an sein letztes philosophisches Projekt in Jena an: die Phänomenologie des Geistes. Er reduziert dabei das Programm des Buches von 1807, das Einleitung in das System der Philosophie und zugleich dessen erster Teil sein sollte, nun innerhalb seiner Lehre vom Geist auf eine Kurzform, die lediglich bis zum Anfang des Vernunft-Kapitels reicht, Diese im Programm reduzierte Phänomenologie bildet als Lehre vom erscheinenden Geist oder vom Bewußtsein und seinen verschiedenen Arten den ersten Teil in der Lehre vom Geist. Als zweiter Teil der Geisteslehre folgt der Phänomenologie des Geistes die Psychologie als Lehre von den verschiedenen Arten dor Tätigkeit des Geistes. In der Psychologie wird der Geist nach den Bestimmungen seiner Tätigkeit innerhalb seiner selbst und nicht mehr — wie noch in der Phänomenologie — in Beziehung auf andere Gegenstände betrachtet; insofern ist für Hegel die Psychologie die eigentliche Geisteslehre. Im folgenden soll (I) zunächst die Psychologie in ihrem internen Aufbau dargestellt werden. (II) Daran anschließend wir das damit zusammenhängende Problem erörtert, wie Hegel den zweiten Teil der Psychologie, die Lehre vom praktischen Geist, gegen die folgende Lehre vom realen Geist in der Nürnberger Enzyklopädie abgrenzt. (III) Schließlich soll das späte Hinzutreten der Anthropologie zu Phänomenologie und Psychologie betrachtet werden, wodurch sich dann letztlich der triadische Aufbau der späteren Philosophie des subjektiven Geistes ergibt.

** S. dazu F. tV. Kantzenbach: Hegels Psychologie 1811/12 nach einer unbekannten Nachschrift. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte. 46 (1977). 272 f. Beide Texte sind berücksichtigt bei K. Kozu: Zur Chronologie von Hegels Nürnberger Fassungen des Selbstbewußtseinskapitels. In: Hegel-Studien. 21 (1986). 27—64. Bei Zitaten aus diesem imveröffentlichten Material in der folgenden Abhandlung handelt es sich um Transkriptionen des Verf.; sie sind in Orthographie und Interpunktion in der Regel normalisiert und modernisiert. — Der Verf. dankt der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin und dem Landeskirchlichen Archiv Nürnberg für die Erlaubnis, aus den nicht edierten Manuskripten zu zitieren, und Herrn H. Schneider vom Hegel-Archiv Bochum für die Unterstützung bei der Einsicht in Kopien dieser Manuskripte. S. dazu im einzelnen die Untersuchung des Verf.: Die Phänomenologie des Geistes in Hegels Nürnberger Propädeutik. (Erscheint demnächst.) - Im folgenden soll deshalb auf eine detaillierte Behandlung der Nürnberger Phänomenologie Hegels verzichtet werden.

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I. Psychologie Hegel beginnt seine Unterrichtstätigkeit am Gymnasium im Schuljahr 1808/09 in der Mittelklasse mit dem Kurs Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie. Diese Geisteslehre, für die Hegel in einem ersten Entwurf auch den Titel „Pneumatologie" in Erwägung zieht, ist zweiteilig konzipiert und soll aus einer „Lehre von dem Bewußtsein" (die der Sache nach der Phänomenologie des Geistes entspricht, ohne daß Hegel hier diesen Titel verwendet) und einer „Seelenlehre" (den bei ihm später dann üblichen Titel Psychologie gebraucht Hegel hier ebenfalls nicht) bestehen. In der Durchführung dieser Vorlesung allerdings geht Hegel im Vernunft-Kapitel der Bewußtseinslehre unmittelbar zur Logik über, ohne die anfangs angekündigte Seelenlehre zu behandeln, In einem Brief an NIETHAMMER vom Beginn dieses Schuljahres geht aus einer negativ abgrenzenden Formulierung Hegels ansatzweise hervor, was er ursprünglich in diesem Kursus intendiert hatte: „In der Mittelklasse gedenke ich gewissermaßen Psychologie, nämlich mehr als Geisteslehre denn als Seelenlehre in der bisherigen, gleichsam naturgeschichtlichen, völlig unspekulativen oder durch keinen Begriff zusammenhängenden Weise vorzunehmen, Auch im Oberklassenkursus desselben Schuljahres, der dem Allgemeinen Normativ von 1808 gemäß eine „Einleitung in die Kenntniß des allgemeinen Zusammenhangs der Wissenschaften" zu geben haUo, kündigt Hegel am Beginn der Lektionen die Behandlung einer Geisteslehre an: „§ 3. Das Ganze der Wissenschaften teilt sich in die drei Teile: 1) die Logik, 2) die Wissenschaft der Natur, 3) die Wissenschaft des Geistes." Zum Programm dieses dritten Teils hätte dann auch eine Geisteslehre im engeren Sinne oder Psychologie gehört; doch nach ausführlicher Abhandlung der Logik gelangt Hegel bis zum Schuljahrsende nur noch zur „Physik des Unorganischen" innerhalb der Naturphilosophie. 21 S. dazu die in Anm. 17 angeführte Abhandlung des Verf. w Briefe. Bd 1. 272. 20 Allgemeines Normativ der Einrichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten. In: Monumenta Germaniae Paedagogica. Bd 42. Berlin 1908. 575. Nach Hegels eigenem Bericht über seine Unterrichtsgegenstände gab er in diesem Kurs 1808/09 eine „Einleitung in die Kenntnis des philosophischen Zusammenhangs der Wissenschaften" {NSchr. 3). — Am Ende des Normativs trägt der Oberklassenkurs den Titel „Philosophische Enzyklopädie" (a. a. O., 583; vgl. NSchr. XIII); diese Bezeichnung übernimmt Hegel in seinen Berichten für die folgenden Schuljahre (vgl. NSchr. 4 ff). Die erhaltene Schüler-Nachschrift des Oberklassenkursus von 1808/09 trägt ebenfalls diesen Titel; s. E. Ziesche (Anm. 13), 439. — Das folgende Zitat stammt aus dieser Nachschrift. 21 S. E. Ziesche (Anm. 13), 440.

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Erst im zweiten Jahr am Gymnasium kommt Hegel dazu, eine eigene Psychologie auszuarbeiten. Nach seinem eigenen Bericht trägt Hegel 1809/10 in der Mittelklasse nach der Lehre von den Stufen des Bewußtseins (also der Phänomenologie des Geistes) den theoretischen Teil der Psychologie oder die Lehre von der Intelligenz vor.22 Ein Manuskript Hegels für die Diktate in diesem Kurs ist nicht erhalten, ebensowenig eine Schülernachschrift. Auch 1811/12 hat Hegel den Mittelklassenkurs über Psychologie nur bis zum Ende der Lehre von der Intelligenz durchgeführt, wie die erhaltene Nachschrift von MEINEL zeigt, obwohl als zweite Abteilung die Lehre vom praktischen Geist oder vom Willen vorgesehen war: „§ 50. Der Geist unterscheidet sich in theoretisches und praktisches Vermögen oder in Intelligenz und Willen." Es folgt diesem Gliederungsparagraphen die Überschrift „I. Der theoretische Geist oder die Intelligenz"; ein diesem Titel in derselben Hierarchie entsprechendes ,11. Der praktische Geist oder der Wille' fehlt. Von Hegels Psychologiekursen in der Mittelklasse 1813/14 und 1815/16 fehlen Nachschriften, doch ist zu vermuten, daß Hegel dort ebenso im Anschluß an die Phänomenologie lediglich den theoretischen Teil der Psychologie zum Vortrag gebracht hat. ROSENKRANZ hat die ihm zur Verfügung stehende Textquelle, die er nicht näher datiert, nicht so zum Abdruck gebracht, wie sie ihm vorlag, nämlich als zusammenhängenden Kursus über Phänomenologie und Psychologie; vielmehr hat er die Phänomenologie von der Psychologie getrennt und gesondert ediert, während er — anders als Hegel selbst — die Psychologie ohne vorangehende Phänomenologie in die Philosophische Enzyklopädie integriert. Hegels Mittelklassenkurs über Phänomenologie und Psychologie ist auf diese Weise in ROSENKRANZ' Edition eliminiert worden. Als Begründung für sein Vorgehen gibt ROSENKRANZ an: „Allein eben dies Heft" mit einer auf die Phänomenologie folgenden Psychologie als ein einheitlicher Kurs „stimmt ganz mit der in der Enzyklopädie enthaltenen Psychologie überein, welcher Umstand mich zur Uebergehung der eigentlichen Psychologie für den Cursus der Mittelclasse nöthigte."23 Die früheste heute zugängliche Fassung von Hegels Psychologie in Nürnberg stammt aus dem Schuljahr 1810/11, und zwar aus dem Oberklassenkurs über die Philosophische Enzyklopädie, von dem eine Schülernachschrift mit Hegels Überarbeitungen für spätere Jahrgänge erhalten S. NSchr. 4. 23 Werke XVIII (Anm. 3). XV. 22

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ist. 24 Hegel setzt in den verschiedenen Kursen über die Enzyklopädie unterschiedliche Schwerpunkte und Akzente; mitunter läßt er größere Teile des vollständigen Systems der philosophischen Wissenschaften aus, um für die übrigen Teile mehr Zeit für ausführlichere Behandlung zu haben. 1810/11 verzichtet Hegel vollständig auf Ausführungen zur Logik und handelt nur von der Philosophie der Natur und des Geistes.25 Dementsprechend trägt der Kurs den Titel: System der besonderen Wissenschaßen. Das ist hier Hegels Terminus für das, was er sonst Realphilosophie nennt. Eine Bestätigung dafür gibt Hegels Formulierung in seinem Bericht für das folgende Jahr: „Nach einer Wiederholung der Logik wurden die Grundbegriffe der besonderen Wissenschaften in systematischer Ordnung vorgetragen"26; die besonderen Wissenschaften sind mithin Natur- und Geisteslehre. Demgemäß lautet der § 1 des Systems der besonderen Wissenschaßen von 1810/11: „Das System der besonderen Wissenschaftjen] stellt die Idee dar, nicht im reinen Element des Wissens, sondern wie sie in der konkreten Form als Natur und Geist erscheint. "22 Die beiden Teile des Oberklassenkurses von 1810/11 sind in der Diktatnachschrift uneinheitlich gekennzeichnet: „A. Naturwissenschaft", „11. Teil. Die Lehre vom dem Geiste". Es kann aber kein Zweifel darüber bestehen, daß beide Titel auf derselben Gliederungsstufe stehen sollen. „Die Lehre von dem Geiste" hat hier innerhalb der gesamten Realphilosophie eine weitere Bedeutung als im Kontext des Mittelklassenkursus: Dort bezeichnet „Geisteslehre" entweder den gesamten Kursus mit Einschluß der Phänomenologie oder spezieller den zweiten Teil ohne die Phänomenologie, also die Psychologie im engeren Sinne. Im System der besonderen Wissenschaßen umfaßt der Titel „Die Lehre von dem Geiste" den gesamten zweiten Teil der Realphilosophie und entspricht den Formulierungen „Wissenschaft des Geistes" in der Selbstanzeige zur Phänomenologie des Geistes von 1807 bzw. „Philosophie des Geistes" in der Vorrede zum ersten Buch der Wissenschaß der Logik von 1812.28 2« Vgl. E. Ziesche (Anm. 13), 444. 25 S. Hegels Bericht: NSchr. 4. 26 Ebd. 5. 22 Anders allerdings verwendet Hegel die Formulierung ,besondere Wissenschaften' in seinem Gutachten an Niethammer von 1812; „3. Die Enzyklopädie . . . karm nichts anderes enthalten als den allgemeinen Inhalt der Philosophie, nämlich die Grundbegriffe und Prinzipien ihrer besondern Wissenschaßen, deren ich drei Hauptwissenschaften zähle: 1. die Logik, 2. die Philosophie der Natur, 3. die Philosophie des Geistes.“ (Werte XVII. 339). Hier also schließt das System der besonderen Wissenschaften die Logik ausdrücklich mit ein und entspricht mithin der Enzyklopädie insgesamt. 26 S. GW Bd 9. 447; GW Bd 11; Wissenschaß der Logik. Erster Band. Hrsg, von F. Hogemarm und W. Jaeschke. Hamburg 1978. 8.

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Die einleitenden Paragraphen zur Geisteslehre innerhalb des Systems der besonderen Wissenschaften von 1810/11 lauten: „II. Teil. Die Lehre vom dem Geiste §65 Der Geist sich beziehend auf seine Bestimmung als auf einen äußerlichen an und für sich seienden Gegenstand und dessen Bestimmung ist Bewußtsein oder der erscheinende Geist, und die Betrachtung desselben die Phänomenologie des Geistes. §66

Der Geist für sich betrachtet fängt nur von dem Äußeren an, bestimmt dieses und verhält sich fernerhin nur zu sich selbst und zu seinen eigenen Bestimmungen. §67 Die Ph[ilosophie] des Geistes enthält drei Abschnitte. Sie betrachtet 1) den Geist in seinem Begriff, Psychologie überhaupt, 2) Realisierung des G[eistes], Staatswissenschaft und Geschichte, 3) die Vollendung des Geistes in Kunst, Religion und Wissenschaft." Die Durchführung dieser Gliederung beginnt dann mit „I. Der Geist in seinem Begriffe". Von der Phänomenologie handelt Hegel in diesen Diktaten von 1810/ 11 nur in einem einzigen Paragraphen (§ 65); sie ist damit systematisch einbezogen, wird aber nicht weiter ausgeführt. Der Grund für die bloße Kurzerwähnung der Phänomenologie mag darin liegen, daß die Schüler der Oberklasse von 1810/11 bereits in der oberen Mittelklasse 1809/10 Phänomenologie (und den theoretischen Teil der Psychologie) sowie in der unteren Mittelklasse 1808/09 Phänomenologie (und Logik) gehört hatten, so daß Hegel im neuen Kontext des Systems der besonderen Wissenschaften die Phänomenologie nicht nochmals ausführlich darlegen mußte. Der folgende § 66 bestimmt nun den Geist in einer Hinsicht, die ihn von der Art und Weise unterscheidet, wie er in der Phänomenologie thematisiert wird: nicht wie in dieser in Bezug auf äußere Gegenstände, sondern „für sich betrachtet". Damit wird eine Hinsichtenunterscheidung aufgegriffen, die Hegel am Rand zu § 2 der Diktate zur Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie von 1808/09 notiert hat: „Geist in Bezug auf anderes" und „Geist an und für sich". Dort allerdings ist diese Unterscheidung nur bezogen auf Bewußtseinslehre (Phänomenologie) und Seelenlehre (Psychologie), jetzt aber wird auf diese Weise die Phänome-

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nologie vom gesamten Rest der realphilosophischen Geisteslehre abgegrenzt. Der Geist für sich betrachtet, d. h. unter Ausschluß der Phänomenologie, wird im § 67 in drei Abschnitte eingeteilt. Auf den ersten Blick handelt es sich hier also um eine dreiteilige Geistesphilosophie, wie wir sie ja beim späteren Hegel durchgängig finden (subjektiver, objekhver und absoluter Geist). Der Sache nach aber ist diese Geisteslehre viergeteilt; denn die in § 65 genannte Phänomenologie macht ja einen eigenen, wenngleich hier nicht weiter ausgeführten Teil der Geisteslehre aus: 1. Betrachtung des erscheinenden Geistes, Phänomenologie, 2. Betrachtung des Geistes in seinem Begriff, Psychologie, 3. Betrachtung der Realisierung des Geistes, Staatswissenschaft und Geschichte, 4. Betrachtung der Vollendung des Geistes in Kunst, Religion und Wissenschaft. (Am Rand dieser Diktat-Nachschrift hat Hegel eine Überarbeitung dieser Vierteilung der Geisteslehre vorgenommen, die weiter unten zu erörtern sein wird.) Die in den Diktaten von 1810/11 folgende Überschrift „1. Geist in seinem Begriffe" ist dem § 67 gemäß zu lesen als: „1. Abschnitt. Der Geist in seinem Begriff" (oder Psychologie). Das ist zu beachten, da die in den Diktaten folgende Gliederung z. T. verwirrend und inkonsequent ist. Auf den Gliederungspunkt „1." (zu lesen als „1. Abschnitt") folgen in gleicher Hierarchie: „2. Abschnitt. Realer Geist" (§§ 150—159) und „3. Abschnitt. Geist in seiner reinen Darstellung" (§§ 160—164). Verwirrend ist nun, daß dem Titel „1. Der Geist in seinem Begriffe" eine Überschrift „II. Der praktische Geist" (§§ 125—149) zu korrespondieren scheint. Ein derart gegliederter Text wird auch ROSENKRANZ Vorgelegen haben, der daraufhin fehlerhaft gliedert: 1. Abschnitt. Der Geist in seinem Begriff; 2. Abschnitt. Der praktische Geist. Das muß dann unmittelbare Konsequenzen haben für die systematische Gestalt der Geisteslehre insgesamt in der Version von ROSENKRANZ: Einerseits gehört nach ROSENKRANZ' Wiedergabe des Textes die Lehre vom praktischen Geist nicht mehr zur Psychologie, andererseits bildet der „Reale Geist" — in Hegels Diktaten der zweite Hauptabschnitt — bei ROSENKRANZ lediglich den dritten Teil des „Praktischen Geistes". Damit sind zwei Probleme aufgeworfen: (1) Welche systematische Rolle spielt der Abschnitt „Praktischer Geist"? (2) Wie wird die Psychologie im systematischen Aufbau der Geisteslehre von den folgenden Teilen abgegrenzt?

29 Werke XVIII. 178 bzw. 193.

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Was die erste Frage betrifft, so hat Hegel am Rand und im Text der Schülernachschrift die notwendige Korrektur durchgeführt: Er ergänzt am Rand nach der Hauptüberschrift „1. Der Geist in seinem Begriff" als Untergliederung „A) theoretischer Geist" und ändert konsequenterweise den später folgenden mißverständlichen Gliederungspunkt „11. Der praktische Geist" in ,,B) Der praktische Geist". Damit ist nun die Hierarchie eindeutig kenntlich gemacht: Die Psychologie besteht aus zwei Teilen, dem theoretischen und dem praktischen Geist. Dieser korrigierende Zusatz Hegels ist nicht als nachträgliche systematische Änderung aufzufassen, sondern lediglich als verdeutlichende Hervorhebung der bereits in den Diktaten 1810/11 selbst zugrunde gelegten Struktur; so beginnt der § 68 mit der Heraushebung des Wortes Intelligenz, wie dann später im § 126 das Wort Wille hervorgehoben ist, nur daß eben im zweiten Fall eine zusätzliche Überschrift (11. Der praktische Geist) eingefügt ist, im ersten Fall aber zunächst nicht. Das also korrigiert Hegel in der Schülernachschrift von 1810/11, ohne allerdings eine strenge Parallelität der Hauptgliederung in „Abschnitte" herzustellen; die völlig konsequente Korrektur wäre gewesen: „1. Abschnitt. Der Geist in seinem Begriff, I. der theoretische Geist, II. Der praktische Geist". Im Zuge derselben Korrektur gibt Hegel den folgenden, in ihrer Gliederungshierarchie zunächst nicht gekennzeichneten Überschriften „Das Gefühl" (vor § 69), „Vorstellung" (vor § 72) und „Denken" (vor § 106) die jetzt sinnvollen Bezeichnungen ,,AA)", ,,BB)" und „CC)".3o Hegels berichtigte Untergliederung der Psychologie von 1810/11 in die Lehre vom theoretischen und vom praktischen Geist ist in seinen Diktaten zur Psychologie für die Mittelklasse 1811/12 in aller Klarheit wiederzufinden. Dort lauten die einführenden Paragraphen zur Psychologie (in der Nachschrift von MEINEL):

„2. Teil. Die Lehre von dem Geiste §49 Der Geist als Bewußtsein betrachtet verhielt sich zu einem Gegenstand, der Geist für sich selbst betrachtet fängt nur von der Äußerlichkeit an, bestimmt diese und verhält sich fernerhin nur zu sich selbst und zu seinen eigenen Bestimmungen. §50 Der Geist unterscheidet sich in theoretisches und praktisches Vermögen oder in Intelligenz und Willen. Die Intelligenz hat in ihrem ^ E. Ziesche (Anm. 13), 444.

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Bestimmen ein äußerliches Sein zugrunde liegen, der Wille hingegen nur sich selbst." Die Ausführung dieses Programms setzt dann ein mit „I. Der theoretische Geist oder die Intelligenz". Der zweite Teil „Die Lehre von dem Geiste" (oder die eigentliche Psychologie) folgt hier auf die ausführlich dargelegte Lehre von dem Bewußtsein mit dem verkürzten Programm der Phänomenologie bis zum Vernunft-Kapitel (§§ 6—48). Diese Überschrift entspricht hierarchisch also nicht dem umfassenderen Titel „11. Teil. Die Lehre vom Geiste" im Text von 1810/11. Der § 49 gibt noch einmal einleitend eine Abgrenzung der Psychologie zur vorausliegenden Phänomenologie, und zwar in enger Anlehnung und z. T. wörtlicher Übernahme des § 66 von 1810/11 (s. o.). Ein dem § 67 von 1810/11 korrespondierender Paragraph muß in einem Psychologiekurs fehlen; denn eine Gesamtgliederung der Philosophie des Geistes bis hin zum absoluten Geist ist hier nicht erforderlich. Stattdessen gibt der § 50 die 1810/11 unvollständig gekennzeichnete Untergliederung der Psychologie in zwei Abschnitte an, wovon aber im folgenden nur „I. Der theoretische Geist oder die Intelligenz" von Hegel ausgeführt wird. Die hier von Hegel im § 50 formulierte Gliederung und die Kennzeichnung „I. Der theoretische Geist ..." zeugt aber wohl davon, daß Hegel nicht von vornherein auf Ausführungen zum praktischen Geist verzichten wollte; die Fülle des Materials und entsprechender Zeitmangel haben wohl — gegen die ursprüngliche Absicht — den Verzicht auf den Vortrag auch des zweiten Teils der Psychologie erzwungen.

11. Praktischer Geist und realer Geist In seinem Gutachten für NIETHAMMER vom Oktober 1812 rechtfertigt Hegel im nachhinein die Reduzierung der Psychologie auf ihren theoretischen Teil. Allerdings trägt er diese Rechtfertigung ausdrücklich für die Beschränkung der Psychologie auf die Lehre von der Intelligenz innerhalb des Kursus über die Philosophische Enzyklopädie vor, doch wird er sein Argument auch für den Mittelklassenkurs über Psychologie beanspruchen können. Hegel führt aus: „Die Psychologie als solche, die in die zwei Teile des theoretischen und praktischen Geistes, oder der Intelligenz und des Willens, zerfällt, kann größtenteils der Ausführung ihres zweiten Teils entbehren, weil derselbe in seiner Wahrheit schon als

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Rechts-, Pflichten- und Religionslehre vorgekommen ist. Denn die bloß psychologische Seite der letztem — nämlich Gefühle, Begierden, Triebe, Neigungen — sind nur ein Formelles, das seinem wahren Inhalte nach ... in der Rechts- oder Pflichtenlehre . . . bereits abgehandelt ist. Hegel gibt drei Beispiele für die enge Verzahnung von Inhalten des praktischen Teils der Psychologie mit Inhalten der Rechtssphäre und Moral an. (1) Der „Trieb nach Erwerb" ist als die psychologische Seite der „Pflicht des Erwerbs mit der Einschränkung der Rcc/ifsprihzipien" aufzufassen, und diese Pflicht ist dann als solche genuiner Gegenstand der Rechts- und Pflichtenlehre. Das Rechtsprinzip, das die Erwerbspflicht einschränkt, ist der Vertrag. In Hegels Rechtslehre 1810/11 innerhalb des „Praktischen Geistes" heißt es dazu in § 140: „Ich kann mein Eigentum an einen anderen veräußern und kann mir fremdes Eigentum erwerben. EHeser Erwerb geschieht nur durch den Vertrag, die gegenseitige Einwilligung zweier Personen, sich eines Eigentums zu entäußern und es dem anderen zu überlassen, und die Einwilligung, es anzunehmen."32 (2) Der „Trieb . . . nach Wissen", als Trieb zur Psychologie gehörig, ist die bloß psychologische Seite der „Pflicht, sich zu bilden", die in die Pflichtenlehre oder Moral gehört, und zwar dort in die Lehre von den „Pflichten gegen sich". Die „Pflichten gegen sich" machen die erste Gattung der Pflichten aus, wie sie Hegel in der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse aufführt. Der dahin gehörige § 41 lautet: „Der Mensch als Individuum verhält sich zu sich selbst. Er hat die gedoppelte Seite seiner Einzelheit und seines allgemeinen Wesens. Seine Pflicht gegen sich ist insofern teils seine physische Erhaltung; teils, sein Einzelwesen zu seiner allgemeinen Natur zu erheben, sich zu bilden."33 Entsprechend heißt es in der Geisteslehre im System der besonderen Wissenschaflen von 1810/11 unter ,,b.) Die Möralität": „§ 147 . . . Seinem allgemeinen geistigen Wesen muß es [sc. das Individuum] sich unterwerfen und angemessen machen, Bildung überhaupt. "34 (3) Die in der Psychologie zu betrachtende Neigung der Eltern zu den Kindern wird in der Morallehre als Pflichten der Eltern gegenüber den Kindern abgehandelt. So lautet in der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse der § 52 unter „II. Werke XVII. 340; dort auch die folgenden Zitate. Vgl. § 185 der Philosophischen Enzyklopädie in der Edition von Rosenkranz (Werke XVIII. 196). S. zum ,Vertrag' auch den § 15 in der Rechts-, Pflichten- und Religionslehre (Werke XVIII. 41). 33 Werte XVIII. 60; von diesem Kurs liegt kein Manuskript Hegels und keine SchülerNachschrift vor, so daß Rosenkranz' Text nicht überprüft werden kann. 34 Vgl. § 191 in Rosenkranz' Fassung der Philosophischen Enzyklopädie (Werke XVIII. 198).

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Familienpflicht": „Die Pflicht der Eltern gegen die Kinder ist, für ihre Erhaltung und Erziehung zu sorgen. . Der in diesen Beispielen von Hegel aufgewiesene innere Zusammenhang von psychologischen Bestimmungen und rechtlichen bzw. moralischen Verhältnissen zeigt, daß Hegel nicht einfach sagen will, der praktische Teil der Psychologie auf der einen Seite und die Rechts- und Pflichtenlehre auf der anderen Seite könnten sich wechselseitig ersetzen; vielmehr gehören beide Seiten wesentlich zusammen, so daß sowohl in der Behandlung der objektiven Inhalte der rechtlichen und moralischen Sphäre zugleich auch der subjektiv-formelle Aspekt ihrer Äußerung in Gefühlen, Begierden, Trieben und Neigungen zur Sprache kommen kann, als auch umgekehrt in der psychologischen Betrachtung die Inhalte von Rechtslehre und Moral thematisch werden können. In der Tat ist in der Einleitung zur Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse dann auch wiederholt von den Gefühlen (z. B. § 5), Trieben und Neigungen (z. B. §§ 5 und 7) die Rede. Umgekehrt heißt es von dem im „Praktischen Geist" abgehandelten praktischen Gefühl, es begreife „die praktischen, rechtlichen und moralischen Bestimmungen und Gesetze zwar in sich, aber unentwickelt und ungedacht und vornehmlich unrein durch die Beimischung der subjektiven Einzelheit" (§ 130 im System der besonderen Wissenschaflen von 1810/11). Hegel fährt an derselben Stelle fort: „Es ist wesentlich zu bemerken, daß das praktische Gefühl keinen anderen wahrhaften Inhalt hat, als die bestimmt gewußten Rechte, Pflichten und Gesetze sind."^^ Auch die Heidelberger Enzyklopädie von 1817 thematisiert unter dem zum praktischen Geist gehörigen „praktischen Gefühl" das Gefühl von Recht und Moralität (§ 390 Anm.), das aber als ein solches Gefühl bloß einen „unmittelbar einzelnen, somit zufälligen und subjektiven" Inhalt hat (§ 390). Die enge Verknüpfung zwischen der Lehre vom praktischen Geist (als dem zweiten Teil der Psychologie) und der Rechts- und Pflichtenlehre dient Hegel als Begründung für die Entbehrlichkeit eines ausführlichen Vortrages der Lehre vom praktischen Geist im Rahmen der Psychologie. In dieser großen inhaltlichen Nähe von praktischem Geist einerseits und Rechtslehre und Moral andererseits liegt für Hegel nun ein systematisches Problem, das oben in der zweiten Frage nach dem systematischen Aufbau der Geisteslehre insgesamt und der Abgrenzung der eigentli35 Werke XVIII. 67. 35 Vgl. in Rosenkranz' Edition der Philosophischen Enzyklopädie § 177 (Werke XVIII. 194). 37 Vgl. Enzyklopädie, 3. Aufl. 1830: § 471 und Anm.

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chen Psychologie in ihr aufgeworfen wurde. Die Bedeutsamkeit dieses Problems zeigt sich in den wechselnden Gliederungen Hegels in diesem Teil seiner Philosophie des Geistes. Bis in seine späte Philosophie hinein nimmt er Änderungen des systematischen Aufbaus der Geistesphilosophie vor: Noch in der dritten Auflage der Enzyklopädie von 1830 modifiziert er die systematische Gliederung des Psychologie-Kapitels dadurch, daß er einen neuen Unterabschnitt „c. Der freie Geist" parallel zum theoretischen und praktischen Geist einfügt, indem er die beiden ersten Paragraphen aus der Lehre vom objektiven Geist in die Lehre vom subjektiven Geist zurückzieht. Dies aber ist nur die letzte Phase eines Entwicklungsprozesses, in dessen Verlauf Hegel erst allmählich zu einer klaren Abgrenzung der Lehre vom subjektiven Geist von der des objektiven Geistes gelangt. Im System der besonderen Wissenschaften von 1810/11 liegt zwar im § 67 eine Dreiteilung der Lehre vom Geist vor; zum einen aber ist diesen drei Teilen als selbständiger Teil die Phänomenologie (§ 65) vorgelagert, zum anderen ist die Abgrenzung zwischen der Psychologie und dem realen Geist eine andere als in Hegels späterem enzyklopädischen System. Zur Realisierung des Geistes oder zum realen Geist zählt Hegel hier lediglich „Staatswissenschaft und Geschichte" (§ 67); hier werden Inhalte behandelt, die dann in der Heidelberger Enzyklopädie nur zum dritten Teil des objektiven Geistes gehören: „1. Das einzelne Volk, 2. Äußeres Staatsrecht, 3. Allgemeine Weltgeschichte" (s. Inhaltsanzeige der Enzyklopädie von 1817). Auch in der Rechtsphilosophie von 1820/21 und in den Berliner Fassungen der Enzyklopädie geht Hegel im Rahmen der Staatslehre auf die Weltgeschichte ein {Rph: §§ 341—360; Enzyklopädie 1830: §§ 548—552). Recht und Moral, die Hegel später als auch zum objektiven Geist gehörend betrachtet, sind 1810/11 noch Teile des praktischen Geistes innerhalb des Abschnittes „Der Geist in seinem Begriff" oder der Psychologie: „1. Das Recht" (§§ 136-144), ,,b.) Die Moralität" (§§ 145-149).38 Daß es sich hier nicht bloß um eine Unsicherheit des Nachschreibers in der formalen Gliederung des Diktattextes handelt, sondern um Hegels bewußte Zuordnung von Recht und Moral zum Abschnitt „Der Geist in seinem Begriff", zeigt der zugehörige Gliederungsparagraph 135: „Das Verhältnis des Geistes, nach seinem reinen Begriff, wird teils moralisches, teils rechtliches Verhältnis." Vgl. dazu in Rosenkranz' Ausgabe §§ 181 — 193, die zum Recht nahezu wörtlich, zur Moralität weitgehend übereinstimmend Hegels Diktattext von 1810/11 wiedergeben (Werte XVIll. 217 ff).

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hat für seine Edition der Philosophischen Enzyklopädie, der bisher einzigen veröffentlichten Version von Hegels Nürnberger Enzyklopädie, offensichtlich eine Textvorlage mit einer solchen Gliederung, wie Hegel sie 1810/11 vornimmt, benutzt. Er scheitert dann aber bei dem Versuch, sie der späteren geläufigen Einteilung der Heidelberger und Berliner Enzyklopädie anzupassen. Zwar behält er die Subsumtion von Recht und Moralität unter den praktischen Geist bei, versteht nun aber diesen Abschnitt vom praktischen Geist in seiner systematischen Stellung als Pendant zum späteren Hauptteil „Der objektive Geist". Um die spätere Dreiteilung des objektiven Geistes in Recht, Moralität und Sittlichkeit (mit dem zentralen Thema: Wissenschaft vom Staat) auch schon im philosophischen System Hegels in Nürnberg herzustellen, degradiert ROSENKRANZ kurzerhand Hegels zweiten Hauptabschnitt „Realer Geist" zum dritten Unterabschnitt des praktischen Geistes: „III. Der Staat (Realer Geist)".39 Zweierlei ist für ROSENKRANZ' Vorgehen entscheidend: (1) Er nimmt eine falsche Korrektur des Gliederungsfehlers in Hegels Diktaten von 1810/11 vor; anstatt den Punkt „II. Der praktische Geist" durch ein vorausgehendes „I. Der theoretische Geist" zu ergänzen und beide auf diese Weise als Untergliederung des ersten Hauptabschnitts „Der Geist in seinem Begriff" aufzufassen, stellt ROSENKRANZ eine falsche Parallelität zwischen „1. Abschnitt. Der Geist in seinem Begriff" und „2. Abschnitt. Der praktische Geist" her. (2) Er orientiert sich an der späteren Heidelberger und Berliner Enzyklopädie, indem er Recht, Moralität und Staatslehre als drei Unterabschnitte dem zweiten Abschnitt der Geisteslehre (bei ihm fälschlich: Der praktische Geist; später: Der objektive Geist) zuordnet. Damit aber zerstört er Hegels eigene anfängliche Gliederung der Geisteslehre in Nürnberg, in der Hegel den Einschnitt zwischen „Der Geist in seinem Begriff" (dessen praktischer Teil Recht und Moralität einschließt) und dem „Realen Geist" (Staatswissenschaft und Geschichte) trifft. Konsequenterweise ändert ROSENKRANZ Hegels im § 135 (s. o.) formulierte, dem praktischen Geist subordinierte Zweiteilung in moralisches und rechtliches Verhältnis in eine Dreiteilung: rechtliches, moralisches und politisches Gesetz (§ 180).'**’ Die Paragraphenfolge in ROSENKRANZ' Textversion ist inhaltlich sehr eng an den Wortlaut angeschlossen, der in den Diktaten von 1810/11 vorliegt. Die systematische Gliederung aber, die ROSENKRANZ eigenständig und willkürlich hergestellt hat, gibt nicht die von Hegel entworfene Struktur seiner damaligen Geisteslehre ROSENKRANZ

39 Werte XVIII. 199. « Werte XVIII. 195.

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wieder. Die Form, die ROSENKRANZ dem Text der Geisteslehre in der Philosophischen Enzyklopädie gibt, hat bei Hegel keine Vorlage, weder früher noch in der darauffolgenden Zeit. Anhand der Diktate zum System der besonderen Wissenschaßen von 1810/11 lassen sich aber ROSENKRANZ' Intention erkennen, seine Eingriffe rekonstruieren und als fehlerhaft zurückweisen. Daß Hegel im System der besonderen Wissenschaßen von 1810/11 innerhalb der Lehre vom praktischen Geist auch noch vom Recht und von der Moralität handelt, beide somit ndt zum ersten Abschnitt „Der Geist in seinem Begriffe" oder Psychologie rechnet und vom folgenden zweiten Abschnitt „Realer Geist" oder „Realisierung des Geistes" (§ 67) abgrenzt, muß vom späteren Systemaufbau her verwunderlich scheinen und hat offenbar ROSENKRANZ ZU der — in sich jedoch nicht stimmigen — Änderung der Hegelschen Gliederung veranlaßt. Hegels Nürnberger Systematik der Geisteslehre ist aber weniger erstaunlich, wenn seine Jenaer Entwürfe mit in die Betrachtung einbezogen werden. In seinem Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie von 1805/06 „Naturphilosophie und Philosophie des Geistes" teilt Hegel — nach der rekonstruierten Gliederung — die Philosophie des Geistes in die Abschnitte ein: „[!. Der Geist nach seinem Begriffe]" oder „[!. Der Geist in seinem Begriffe]", „II. Wirklicher Geist" und „III. Constitution"'^ — eine Gliederung, die soweit mit der 1810/11 im § 67 des Systems der besonderen Wissenschaßen angegebenen Einteilung im groben zusammensHmmt. Der erste Abschnitt „[Der Geist nach seinem Begriffe]" ist untergliedert in ,,[a. Intelligenz]" und „b. Wille"; auch diese Unterteilung hält Hegel 1810/11 bei. Unter „b. Wille" nun, dem 1810/11 der Titel „II. Der praktische Geist" entspricht, werden 1805/06 u. a. Themen abgehandelt wie Arbeit und Werkzeug, Erwerb und Familienbesitz, Naturzustand und Naturrecht, Recht und

Auf die Unstimmigkeit in Rosenkranz' Gliederung hat schon Hoffmeister (NSchr. XX n.) aufmerksam gemacht. Einen Revisions-Vorschlag unterbreiten Moldenhauer und Michel (Anm. 12; 607 ff). Vgl. auch die Erörterung der Inkonsequenzen in Rosenkranz' Textfassung durch f. Nicolin: Hegels Arbeiten zur Theorie des subjektiven Geistes. In: Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift für Th. Litt. Hrsg, von J. Derbolav und F. Nicolin. Düsseldorf 1960. 366 f. Daß die Konfusion im Aufbau der Geisteslehre in Rosenkranz' Edition z. T. aus „Unsicherheiten in der Genese dieses Systemteils bei Hegel selbst" resultiert, betont F. Nicolin in dem Kapitel Pädagogik — Propädeutik — Enzyklopädie, ln: Hegel. Einführung in seine Philosophie. Hrsg, von O. Pöggeler. Freiburg, München 1977. 100. — Eine völlige Aufklärung über das Vorgehen von Rosenkranz und die Rekonstruktion des von Hegel tatsächlich Vorgetragenen ist erst durch den detaillierten Rückgang auf die gefundenen Nachschriften von Hegels Lehrvorträgen möglich. ■*2 GWBd 8: Inhaltsverzeichnis und 316.

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Person, Besitz und Eigentum, Anerkennung und Vertrages — Themen also, die später von der Heidelberger Enzyklopädie an erst und ausschließlich in der Philosophie des objektiven Geistes bzw. in der Rechtsphilosophie zur Darstellung kommen. Einige dieser Inhalte werden im Manuskript von 1805/06 im folgenden Abschnitt „Wirklicher Geist" erneut behandelt, was von Hegels damaliger Unsicherheit zeugt, in die Gegenstände der praktischen Philosophie eine eindeutige systematische Ordnung zu bringen. In gewisser Weise läßt sich eine solche Unsicherheit nun auch noch im systematischen Aufbau der Geisteslehre innerhalb des Systems der besonderen Wissenschaßen von 1810/11 beobachten; die Gliederung von 1810/11 ist mit ihrer Zuordnung von Recht und Moralität zum praktischen Geist in Abhebung vom folgenden realen Geist eine Zwischenstufe, die sich insgesamt bruchlos in die Entwicklungslinie der Geisteslehre von Jena nach Heidelberg einfügt. Wie schon erwähnt, liegt heute kein Text eines Psychologie-Kursus der Mittelklasse vor, in dem Hegel den zweiten Teil der eigentlichen Psychologie, die Lehre vom praktischen Geist vorgetragen hat (falls das im Rahmen eines solchen Kursus überhaupt jemals geschehen ist). Es ist mithin nicht überprüfbar und entscheidbar, wie weit hierin Hegels Ausführungen zum praktischen Geist in die Rechts- und Morallehre hineinreichten. Das Normativ immerhin hätte ihm alle Handhabe dazu gewährt. Im Teil V, Abschnitt C, in dem die Psychologie als Unterrichtsgegenstand für die obere Mittelklasse angegeben wird, heißt es: „Daran schließen sich die ethischen und rechtlichen Begriße von selbst an, und derselbe Lehrkursus verbreitet sich auch über diese letzteren."^ Dieser Vorgabe des Lehrplans hätte Hegel aufgrund seines damaligen systematischen Entwurfs der Geisteslehre leicht folgen können. Wann genau Hegel das Unbefriedigende der bisherigen Abgrenzung der Psychologie mit ihrer Lehre des praktischen Geistes vom realen Geist bewußt geworden ist und ihn zu einer strukturellen Abänderung bewogen hat, ist nicht mit Bestimmtheit anzugeben; denn der Psychologiekurs 1811/12 endet nach der Lehre von der Intelligenz und ROSENEbd. 202—222. — Daß solche Inhalte, die später zum .objektiven Geist' gehören, hier im Abschnitt „b. Willen" thematisiert werden können, begründet L. Siep mit Hegels damaligem Festhalten „an einem Grundgedanken der Jenaer praktischen Philosophie . . ., den Hegel später aufgegeben hat: das System der Institutionen, d. h. der Selbstgestaltungen des Willens einer Gemeinschaft, zugleich als Bildungsgeschichte des Selbstbewußtseins darzustellen, innerhalb derer die Interaktionsformen erörtert werden, die notwendig sind, um dem Einzelnen seine Identität mit dem allgemeinen Geist zum Bewußtsein zu bringen" (L. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg, München 1979. 192). Allgemeines Normativ (Anm. 20), 583.

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KRANZ' Version der Philosophischen Enzyklopädie enthält eine eigenmächti-

ge Gliederung, die nichts über Hegels eigene Systematik auszusagen vermag. In der Philosophischen Enzyklopädie 1812/13 (MEINEL) ist bereits ein systematisch bedeutsamer Fortschritt vollzogen. Dieser Enzyklopädiekurs enthält nur wenige diktierte Paragraphen zur Geisteslehre, die nur „wiederholungsweise durchgegangen" wurde, „weil sie bereits in der Mittelklasse vorgekommen" war^^.§54 Die Lehre von dem Geiste enthält erstens: die Lehre vom erscheinenden Geiste, vom Geiste nämlich, insofern er sich auf äußere Gegenstände bezieht, oder vom Bewußtsein, Phänomenologie des Geistes. §55 Zweitens den Geist in seinem Begriffe oder nach den Bestimmungen seiner Tätigkeit innerhalb seiner selbst betrachtet die Psychologie. §56 Drittens den Geist in der Verwirklichung seiner Vernünftigkeit betrachtet die Rechtswissenschaft und Moral, die Staatswissenschaft und die Geschichte. §57 Die Wissenschaft, welche die philosophischen Begriffe des Rechts enthält, ist Naturrecht genannt worden. §58 Die Moral betrachtet die Handlungsweise der Menschen gegeneinander, insofern sie durch die Gesinnung bestimmt ist und die besondere Existenz zum Gegenstände hat. §59 Das Staatsrecht als inneres betrachtet die notwendige Organisation eines Staates, insofern es nämlich philosophisches Staatsrecht ist. Das äußere Staatsrecht und die Politik nur äußere Verhältnisse der Staaten. §60 Die Geschichte betrachtet nicht nur die äußerlichen Schicksale der einzelnen Völker nach ihren unmittelbaren Ursachen und zufälligen Umständen, sondern hat das Prinzip eines Volkes aufzufassen; ferner aber noch mehr betrachtet sie in der Weltgeschichte den allgemeinen Geist, wie er von den Anfängen seines Bewußtseins an ^5 So Hegels Bericht; NSchr. 6.

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sich immer höher zum vemüftigen Selbstbewußtsein emporgehoben [hat] und in einem inneren Zusammenhänge durch die Geschichte der getrennt erscheinenden Nationen und ihrer Schicksale die Stufen seiner Bildung durchlaufen ist. §61 Das Vierte ist die Vollendung des Geistes nach seiner Darstellung und absoluten Erkenntnis in Kunst, Religion und Philosophie." Diese Paragraphen zur Geisteslehre zeigen einen klaren Aufbau, der einerseits gegenüber 1810/11 eine deutliche Verbesserung aufweist, andererseits aber noch nicht völlig mit der systematischen Anordnung der geistesphilosophischen Inhalte in der Heidelberger Enzyklopädie übereinstimmt. Vielmehr trägt Hegel hier 1812/13 eine vierteilige Geisteslehre vor, die jetzt uniiüßverständlich im Text der Diktate durch Aufzählung gekennzeichnet ist: 1. Phänomenologie des Geistes (§ 54); 2. Der Geist in seinem Begriffe (§ 55), in der zugehörigen Anmerkung in eine theoretische und praktische Seite bzw. in Intelligenz und Willen unterschieden; 3. Der Geist in der Verwirklichung seiner Vernünftigkeit (§ 56); schließlich 4. Die Vollendung des Geistes (§ 61). Das ist zunächst derselbe Aufbau wie in der Geisteslehre innerhalb des Systems der besonderen Wissenschaften von 1810/11; denn auch dort ging den drei gezählten Abschnitten (§ 67) noch die Phänomenologie des Geistes voraus, die 1810/11 aber ohne ausführliche Behandlung nur kurz genannt wurde (§ 65) und in der Gliederung des § 67 keine Berücksichtigung fand. 1812/13 wird sie gleichberechtigt als selbständiger Teil aufgeführt. Beidemal sind Phänomenologie und Psychologie eigenständige Teile, die noch nicht wie später als Unterabschnitte zu einem Gliederungspunkt etwa unter dem Titel „Subjektiver Geist" zusammengefaßt sind. Die prinzipielle Änderung der Philosophischen Enzyklopädie von 1812/13 gegenüber dem System der besonderen Wissenschaften von 1810/11 besteht nun in der Untergliederung des Abschnitts vom verwirklichten Geist. Der abgrenzende Einschnitt gegenüber dem praktischen Geist ist jetzt vorverlegt, so daß Recht und Moralität nicht mehr zum praktischen Geist, sondern zum realen Geist gehören. In den Arunerkungen zu § 55 und § 56 gibt es zwar noch einige verwirrende Formulierungen, deren Authentizität aber eingeschränkt ist, da die Anmerkungen von Hegel nicht diktiert wruden, sondern auf der Grundlage seiner Ausführungen von den Schülern selbständig ausformuliert werden mußten. So heißt es etwa in der Anmerkung zu § 55: „Die Psychologie betrachtet den Geist in seinem Begriffe, der praktische Geist aber, wie er in seiner Realisie-

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rung ist", und zu § 56: „Die Rechtswissenschaft ist die erste Wissenschaft des praktischen Geistes." In den Diktaten selbst aber ist die systematische Zuordnung vollständig klar und deckt sich in diesem Punkt bereits mit derjenigen der späteren gedruckten Enzyklopädie. Die Inhalte des nun angewachsenen Abschnitts vom realen Geist gibt Hegel in § 56 an: „die Rechtswissenschaft und Moral, die Staatswissenschaft und die Geschichte." Daraus, daß Hegel diesen vier Themen im folgenden jeweils einen eigenen Paragraphen widmet, ist wohl zu entnehmen, daß auch der reale Geist — wie die Geisteslehre insgesamt — hier vierteilig gegliedert ist, und zwar unter Aufnahme der beiden Themen Recht und Moralität, die 1810/11 noch zum praktischen Teil des Abschnitts „Der Geist in seinem Begriff" gehörten, und der beiden Themen des „Realen Geistes" von 1810/11: Staatswissenschaft und Geschichte. Auch in diesen3 Punkt also ist 1812/13 die endgültige triadische Gliederung der Heidelberger Enzyklopädie noch nicht erreicht, in der Staatswissenschaft und Geschichte unter den neuen Titel „Sittlichkeit" subsumiert werden. Die Fortschritte, die den systematischen Aufbau der Geisteslehre von 1812/13 gegenüber 1810/11 auszeichnen, gehen auf Hegels Überarbeitungen am Rand der Diktate von 1810/11 zurück. Offenbar aber hat Hegel hier in mehreren Phasen Änderungen notiert, die im einzelnen oft schwer zu entziffern und wohl kaum exakt zu datieren sind; z. T. gehen diese Randnotizen noch über die Entwicklungsstufe von 1812/13 hinaus. EHe Gesamtgliederung der Geisteslehre, die Hegel in einer ersten Phase der Überarbeitung (wohl vor 1812/13, vermutlich bereits für 1811/12) der Diktate am Rand neben §§ 65—67 notiert, entspricht genau dem viergliedrigen Aufbau der Geisteslehre in der Philosophischen Enzyklopädie von 1812/13: „§. Die Lehre vom Geiste enthält erstens die Lehre von dem erscheinenden Geiste, insofern er sich nämlich auf äußere Gegenstände bezieht, oder vom Bewußtsein: Phänomeno[logie des Geistes]. §. Zweitens den Geist in seinem Begriffe oder nach den Bestimmungen seiner Tätigkeit innerhalb seiner selbst. Psychologie. §. Drittens den Geist in seiner Realisierung; die Rechtswissenschaft, Staatswissenschaft und Geschichte.^ §. Das Vierte ist die Vollendung des Geistes nach seiner Darstellung und absoluten Erkenntnis in Kunst, Religion und Philosophie. Die Abhängigkeit der Diktate 1812/13 von dieser Überarbeitungsstufe Hegels zu den Diktaten von 1810/11 ist offensichtlich: Die Die Morallehre fehlt in dieser Aufzählung wohl mrr versehenthch. Hier bereits ist „Wissenschaft" (§ 67 von 1810/11) durch „Philosophie" ersetzt, wie dann auch in § 61 der Diktate von 1812/13 (Meinel).

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Paragraphen jeweils zu Phänomenologie und Psychologie stimmen nahezu, die Paragraphen zur Vollendung des Geistes sogar wörtlich überein; lediglich die sich entsprechenden Paragraphen zum realen Geist differieren im Wortlaut. Die erste Stufe von Hegels Randnotiz zu den Diktaten von 1810/11 kann somit — mittelbar oder unmittelbar — als Vorlage für die Diktate zur Philosophischen Enzyklopädie von 1811/12 und 1812/13 gelten. Auf der folgenden Seite der Schüler-Nachschrift der Diktate von 1810/ 11 hat Hegel am Rand eine Paragraphenfolge entworfen, in der die §§ 57—60 der Enzyklopädie von 1812/13 weitgehend wörtlich vorgezeichnet sind. Auch hier also ist Hegels Überarbeitungsstufe im Text von 1810/11 die Vorlage für die späteren Diktate der Geisteslehre in der Enzyklopädie mindestens bis 1812/13. Zunächst setzt Hegel im ersten Paragraphen seiner Randnotiz mit der Formulierung „Der praktische Geist" an, streicht sie dann aber — wiederum ein Zeichen für seine damalige Unsicherheit in Fragen der Zuordnung von Themen der praktischen Philosophie zum praktischen Geist oder zum realen Geist. Nach dieser Streichung lautet der Paragraph: „Ehe Wissenschaft, welche die philosophischen Begriffe des Rechts enthält, ist vormals Naturrecht genannt worden" — bis auf das Wort „vormals" ist dieser Text identisch mit dem diktierten § 57 von 1812/13. In der Randnotiz Hegels folgt erst an übernächster Stelle ein Paragraph zur Moral; ihm ist allerdings ein Verweiszeichen vorgesetzt, dem gemäß er wohl vorzuziehen ist. Er lautet: „Die Moral betrachtet die Handlungsweise der Menschen gegeneinander, insofern sie durch die Gesinnung bestimmt ist und die besondere Existenz zum Gegenstand hat" — das ist exakt der Wortlaut des § 58 von 1812/13. Der übersprungene Paragraph der Randnotiz handelt vom Staatsrecht: „Das Staatsrecht, als inneres, betrachtet die notwendige Organisation eines Staats; das äußere Staatsrecht und die Politik die äußeren Verhältnisse desselben." (Diesem Paragraphen folgen einige Stichworte zu demselben Thema: „Staatsökonomie, Finanzwissen, Wissenschaft der besonderen Zweige".) Der § 59 von 1812/13 stimmt weitgehend mit dem skizzierten Paragraphen der Randnotiz überein, enthält darüber hinaus aber eine zusätzliche Kennzeichnung des inneren Staatsrechts: „insofern es nämlich philosophisches Staatsrecht ist". Die Anmerkung zu § 59 vervollständigt diesen zusätzlichen Gesichtspunkt der Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Staatsrecht: „Es gibt auch zweierlei Staatsrechte, ein inneres und äußeres; es kann aber auch unterschieden werden in philosophisches und positives". Dieser Gedanke ist hier neu gegenüber Hegels Randnotiz zu den Diktaten von 1810/11. Den drei bisher

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betrachteten Paragraph-Entwürfen in Hegels Randnotiz folgt ein lediglich fragmentarischer Ansatz zu einem vierten Paragraphen: „§. Die Gesch[ichte]" — die Ausführung dazu fehlt; die Vorlage für den § 60 von 1812/13 ist hier noch nicht konzipiert. Insgesamt ist unverkennbar, daß Hegels Randnotiz zu den Ditaten des Systems der besonderen Wissenschaften (1810/11) die weiterentwickelte Vorlage für den Vortrag der philosophischen Enzyklopädie in den folgenden Jahrgängen darstellt. Eine weniger vollständig ausformulierte Überarbeitung Hegels findet sich im Schülerheft am Rand neben den §§ 136/ 137 der Diktate von 1810/11, also neben den ersten Paragraphen zu „1.) Das Recht". Der hier von Hegel neu konzipierte Text scheint später entstanden zu sein als die oben besprochene Folge neuer Paragraphen zur Gliederung der Geisteslehre insgesamt. Erstmals taucht jetzt der Begriff „Objektivität" in diesem Kontext auf, ein erster Vorverweis wohl auf den späteren Titel „Objektiver Geist". Diesem als Shchwort am Rand stehenden Begriff „Objektivität" sind zwei Gliederungen zugeordnet: zum einen ,,a) Unmjittelbar] [?] an und für sich, ß) Äußerlichkeit" — eine wohl kaum eindeutig auslegbare Gliederung; zum anderen folgen drei sehr flüchtig geschriebene und schwer lesbare Paragraphen bzw. Ansätze dazu, die mit a), b.) und c) gekennzeichnet sind. Der erste lautet: ,,a) Rechtswissenschaß, Wissenschaft von dem Verhältnis des Einzelnen zu anderen im Äußerlichen, insofern sie abstrakt Freie oder Personen sind." Der nächste Paragraph-Entwurf ist durch mehrere verschachtelte Zusätze in seiner Endgestalt nicht sicher zu rekonstruieren: ,,b.) Die Moral enthält die wesentlichen Verhältnisse nicht bloß des abstrakt freien, sondern des konkreten freien Menschen, an dem daher teils subjektive Gesinnung, teils sein Wohl die Momente ausmachen." An welche Stelle der Zusatz „Pflichten gegen einen anderen" einzufügen ist, kann nicht eindeutig ermittelt werden. Der letzte Paragraph enthält nur ein Stichwort: ,,c) Staatswissenschaft". Nimmt man diesen Text lediglich in seiner Gliederung, so haben wir hier die größte Annäherung an den mittleren Teil der späteren Geistesphilosophie, die Lehre vom objektiven Geist mit den drei Unterabschnitten: Recht, Moralität und Sittlichkeit. Auch der Begriff der Sittlichkeit findet sich als Stichwort in dieser Randnotiz Hegels, zwar unter dem Punkt ,,b.) Moral", durch eine geschwungene Linie evtl, aber dem fragmentarischen Paragraphen zur Staatswissenschaft zugeordnet. Hegels Philosophie des „objektiven Geistes", wie sie seit der Heidelberger Enzyklopädie vorliegt, entsteht so allererst allmählich im Klärungsprozeß einer Abgrenzung zwischen der Lehre vom praktischen und vom

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realen Geist in der Nürnberger Geisteslehre, wodurch zugleich dann auch das Gebiet des späteren „subjektiven Geistes" klarere Konturen gewinnen kann.

111. Anthropologie Die endgültige Ausgestaltung des Kapitels über den objektiven Geist in der späteren Enzyklopädie von 1817 ist in Hegels Nürnberger Propädeutik noch nicht erreicht, wenn auch in einigen Randnotizen Hegels zu den Diktaten von 1810/11 bereits die Entwicklungslinien bis zu dieser Endgestalt der Philosophie des objektiven Geistes erkennbar werden. Allerdings schlagen sich diese offenbar recht späten Überarbeitungsnotizen Hegels in der letzten durch eine Nachschrift dokumentierten Version der Geisteslehre innerhalb der Nürnberger Propädeutik, der Philosophischen Enzyklopädie von 1812/13 (MEINEL), noch nicht nieder. Auch Hegels Lehre vom subjektiven Geist mit der Dreiteilung in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie findet ihre gültige Form wohl erst im Zuge der unmittelbaren Ausarbeitung der Heidelberger Enzyklopädie. Erneut ist in Hegels Randnotizen zu den Nürnberger Diktaten von 1810/11 eine Vorstufe erkennbar, die wiederum noch nicht in die Geisteslehre von 1812/13 eingegangen ist. Offenbar handelt es sich auch hier um eine recht späte Überarbeitung Hegels in Nürnberg, die frühestens 1813, wahrscheinlich aber erst ganz am Ende der Nürnberger Zeit anzusetzen ist. Die erste Phase der Weiterentwicklung der Diktate von 1810/11 mit der neuen, ausformulierten vierteiligen Gliederung der Geisteslehre insgesamt wurde oben bereits erörtert. Diese Einteilung in 1. Phänomenologie, 2. Psychologie, 3. Realisierung des Geistes und 4. Vollendung des Geistes übernimmt Hegel noch in die Philosophische Enzyklopädie von 1812/13. ln einer nachträglichen, weiteren Überarbeitung seiner Randnotiz zu den Diktaten von 1810/11 setzt nun Hegel diesen vier Teilen der Philosophie des Geistes noch einen weiteren Teil voran; „Der Geist betrachtet erstens in seinem bloß natürlichen Dasein und seiner unmittelbaren Verbindung mit dem organischen Körper und seiner daher rührenden Abhängigkeit von dessen Affektionen und Zuständen ist Gegenstand der Anthropologie.“ Dieses erste und einzige Auftauchen des Begriffs „Anthropologie" in Hegels Texten zur Nürnberger Propädeutik ist wohl das früheste Dokument für Hegels Konzeption einer Anthropologie als eines eigenständigen Teils der Lehre vom Geist. Das Voranstellen der Anthropologie vor Phänomenologie und Psychologie kann

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nicht vor 1813/14 von Hegel vollzogen worden sein; die Stellungsindizien zeigen unzweideutig, daß der Paragraph zur Anthropologie nachträglich dem Paragraphen zur Phänomenologie vorangestellt wurde und in immer kleiner werdenden Schriftzügen bis zu diesem heranführt, mit dem noch 1812/13 die Geisteslehre als ihrem ersten Teil beginnt. Durch das Vorangehen der Anthropologie wird nun eine Korrektur der bisherigen Zählung in der Randnotiz erforderlich: Aus der Vierteilung ist eine Fünßeilung der Geisteslehre insgesamt geworden, die Phänomenologie wird folglich zum zweiten Teil usw. Hegel hat diese notwendig gewordene Korrektur nur im ersten Schritt in den Randnotizen selbst durchgeführt: Er streicht das „erstens" im Paragraphen über die Phänomenologie, setzt „zweitens" darüber und ändert schließlich den gesamten Satzanfang in „Das Zweite ist ..." ln den folgenden Paragraphen der Randnotiz (s. o.) führt Hegel die neue Zählung nicht durch, so daß die inkonsequente Reihe 1, 2, 2, 3, 4 entsteht. Betrachtet man die nun entstandene Gesamtgliederung der Geisteslehre in 1. Anthropologie, 2. Phänomenologie, 3. Psychologie, 4. Realisierung des Geistes, bestehend aus Rechtswissenschaft, [Moral], Staatswissenschaft und Geschichte und 5. Vollendung des Geistes in Kunst, Religion und Philosophie, so ist einsichtig, daß es keines großen Schrittes mehr bedurfte, um parallel zum 4. und 5. Teil mit ihren Untergliederungen die drei ersten Teile als Untergliederung einem einzigen Abschnitt, dann „Lehre vom subjekiven Geist" genannt, unterzuordnen, zumal ja bereits zuvor Phänomenologie und Psychologie zusammen einen eigenen einheitlichen Kursus (für die Mittelklasse) bilden. So wird die spätere endgültige triadische Hauptgliederung der Geistesphilsophie entstanden sein. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, daß Hegel eine solche triadische Systematik der Geisteslehre bereits in Nürnberg erreicht hätte. Genau dies aber unterstellt ROSENKRANZ in seiner Edition, deren Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit schon immanent auffällt. ROSENKRANZ folgt inhaltlich streng den Paragraphen des Systems der besonderen Wissenschaften von 1810/11: Sein §127 korrespondiert dem §66 von 1810/11, sein § 128 entspricht dem früheren § 67. Damit übernimmt ROSENKRANZ formal die Dreigliederung der Geisteslehre von 1810/11, wobei dort jedoch in § 65 noch die Phänomenologie systematisch vorgelagert ist, die ROSENKRANZ durch seine Anordnung in dieser systematischen Stellung eliminiert. Wie oben betrachtet, interpretiert ROSENKRANZ den im Gliederungs-Paragraphen 67 von 1810/11 fehlenden, in der Ausführung dann auftauchenden Titel „II. Der praktische Geist" als Äquivalent für den

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späteren Titel „Objektiver Geist" und subsumiert ihm „I. Das Recht, II. Die Moralität, III. Der Staat (Realer Geist)", was mit seiner den Diktaten von 1810/11 entsprechenden Gliederung im § 128 „2. Die Realisierung des Geistes" kollidiert.^® Noch deutlicher wäre diese Kollision aufgefallen, hätte ROSENKRANZ den vollständigen Text des § 67 von 1810/11 in seinen § 128 übernommen; denn dann wäre unmittelbar deutlich geworden, daß Hegel damals zum zweiten Hauptabschnitt nur „StaatsWissenschaft und Geschichte" rechnet, nicht auch Recht und Moralität. Ähnlich verfährt ROSENKRANZ nun in Bezug auf den ersten Hauptabschnitt. Er übernimmt diesen Gliederungspunkt aus seiner Vorlage, die dem § 67 von 1810/11 entspricht, in seinen § 128 — „1. den Geist in seinem Begriff, Psychologie überhaupt" — und wählt auch richtigerweise als folgenden Zwischentitel: „Erster Abschnitt. Der Geist in seinem Begriff". Darunter aber erfindet ROSENKRANZ einen § 129^^, dem in den Diktaten von 1810/11 nichts korrespondiert; dieser Paragraph soll eine Untergliederung des Abschnitts vom Geist in seinem Begriff geben: 1. Anthropologie, 2. Phänomenologie, 3. Psychologie. Daraus geht unmißverständlich hervor, daß ROSENKRANZ nun die Formulierung „1. Abschnitt. Der Geist in seinem Begriff" als Äquivalent für den späteren Titel „Subjektiver Geist" auffaßt und ihm hier schon die Untergliederung der Heidelberger Enzyklopädie zuordnet. Das aber widerspricht unmittelbar dem vorausgehenden § 128, dem gemäß „Der Geist in seinem Begriff" insgesamt die Psychologie bezeichnet, die zugleich aber nach § 129 nur der dritte Teil des „Geistes in seinem Begriff" sein soll. Ganz offensichtlich hat ROSENKRANZ den § 129 aus Hegels Randnotiz zu den Diktaten von 1810/11 genommen, gemäß seiner Maxime, möglichst die jeweils letzte Stufe von Hegels Text zu edieren. Der Text zum ersten Unterabschnitt „Anthropologie" im § 129 stammt wörtlich aus dieser Überarbeitungsnotiz Hegels, und auch der Wortlaut bei ROSENKRANZ ZU Phänomenologie und Psychologie hält sich eng daran. Insgesamt also transportiert ROSENKRANZ' Edition zwar recht genau den Wortlaut Hegelscher Texte, allerdings in einer systematischen Anordnung, die derjenigen Hegels völlig entgegenläuft. ROSENKRANZ' Text geht in seiner Systematik aus dem Versuch hervor, das ihm vorliegende Textmaterial so weit wie möglich in das systematische Gefüge der späteren Geisteslehre in der gedruckten Enzyklopädie zu zwingen; das Resultat widerspricht sowohl der systematischen Gliederung von Hegels Nürn« Werke XVIII. 178. « Ebd.

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berger Geisteslehre, als auch der endgültigen Fassung der Heidelberger Enzyklopädie und ist ein in jeder Hinsicht — systematisch wie entwicklungsgeschichtlich betrachtet — unbefriedigender und gescheiterter Kompromiß. Wann Hegel die Anthropologie in seine Geisteslehre integriert, kann nicht genau angegeben werden. In Hegels Gutachten vom Oktober 1812 wie auch in der Philosophischen Enzyklopädie von 1812/13 fehlt sie noch, von den Kursen nach 1813 liegen z. Z. keine Dokumente vor.^o In den Berichten über seinen Unterricht gibt Hegel an, daß er in den Mittelklassenkursen über Psychologie 1813/14 und 1815/16 mit den Stufen des Bewußtseins, also der Phänomenologie begonnen hat, ohne daß dieser eine Anthropologie vorausgeschickt wurde. Auch seine Berichte über die in jedem Jahr vorgetragene philosophische Enzyklopädie in der Oberklasse enthalten keinerlei Hinweise auf die Anthropologie als neuen Systemteil. Eine solche Neuerung hätte er vielleicht für erwähnenswert gehalten, wie er etwa in seinem Bericht für 1814/15 eigens die Ästhetik als einen Schwerpunkt des Enzyklopädiekurses hervorhebt. Es

50 Eine Ausnahme stellt der kurze Textsplitter dar, den Hegels ehemaliger Schüler Daniel Zimmermann anläßlich des 100. Geburtstags Hegels in den Blättern für das Bayerische Gymnasial-Schulwesen, Bd 7 (1871), mitteilte (Wiederabdruck in: Hegel-Jahrbuch 1972, 326— 331; vgl. den Auszug in: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg, von G. Nicolin. Hamburg 1970. 133—135). Den eigenen Angaben nach war Zimmermann Hegels Schüler „während der letzten drei Jahre der Wirksamkeit desselben als Rektors und Lehrers der Philosophie der Studienanstalt zu Nürnberg", also in den Schuljahren 1813/14 bis 1815/16. Demnach nahm er an Hegels Psychologie-Kurs für die obere Mittelklasse von 1815/16 teil. Er macht eigens darauf aufmerksam, daß Hegel damals die Psychologie zweiteilig abgehandelt hat, „und zwar . . . in der Art, daß Hegel zuerst die Stufen des Bewußtseins in ihren Grundbestimmungen aufzeigte und dann die wesentlichen Thätigkeiten des Geistes als solchen ableitete"; es fehlte mithin auch 1815/16 in Hegels letztem Nürnberger Psychologie-Kurs noch die später dann „der Lehre vom Bewußtsein vorausgeschickte Abtheilung von der menschlichen Seele". Das belegt die im folgenden vertretene Auffassung, daß Hegel die Anthropologie in der Nürnberger Propädeutik überhaupt noch nicht vorgetragen hat. Zu dieser Einschätzung kommt auch f. Nicolin: Pädagogik — Propädeutik — Enzyklopädie (Anm. 41), 101. — Der Textauszug, den Zimmermann veröffentlicht, handelt von den Stufen der Vorstellung, gehört also in den theoretischen Teil der Psychologie oder in die Lehre von der Intelligenz. Er deckt sich weitgehend mit dem § 134 bei Rosenkranz {Werke XVlll. 179); in Meineis Nachschrift des Psychologie-Kursus von 1811/12 entspricht dem — nahezu wörtlich — der § 55. Zimmermann führt diesen Auszug aus Hegels Vortrag an, um zu dokumentieren, wie Hegel „oft wie zur Bestätigung der Wahrheit seiner Passung der von ihm aufgestellten Begriffe auf die Übereinstimmung derselben mit ihrer Bezeichnung in der deutschen Sprache aufmerksam" gemacht habe: Erinnerung — ins Innere versetzen; Einbildung — ein Bild machen; Gedächtnis — mit einem Gedanken verknüpfen. Gerade diese charakteristischen Worterklärungen fehlen in den Textfassungen von Meinel und Rosenkranz; erst in der Heidelberger Enzyklopädie (§§ 374 ff) klingen sie an. 51 NSchr. 8.

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ist also nicht auszuschließen, daß Hegel die Anthropologie in Nürnberg lediglich im Ansatz konzipiert und gar nicht mehr vorgetragen hat. Die zusätzlichen Dokumente aus der Nürnberger Zeit, in denen Hegel auf die Anthropologie zu sprechen kommt, stammen erst aus dem Sommer 1816, also vom Ende seiner Schultätigkeit, als der Wechsel an die Universität Heidelberg bereits ansteht, ln seinen „Gedanken über den Vortrag der Philosophie auf Universitäten", die Hegel in einem Brief an RAUMER vom 2. August 1816 mitteUt, listet er am Ende auf, „in welche Wissenschaften die Philosophie zerfallen muß: das ganz abstrakte Allgemeine gehört in die Logik mit allem, was davon ehemals auch die Metaphysik in sich begriff; das Konkrete teilt sich in Naturphilosophie, die nur einen Teil des Ganzen abgibt, und in die Philosophie des Geistes, wohin außer Psychologie mit Anthropologie, Rechts- und Pflichtenlehre, dann Ästhetik und Religionsphilosophie gehört; die Geschichte der Philosophie kommt noch hinzu. "^2 Was Hegel hier in seiner kurzen Bemerkung zur Geistesphilosophie sagt, deutet bereits über die bloße Aufzählung von ihr zugehörigen Teilen auf die endgültige Dreiteilung der Geisteslehre hin, wenn er hier auch nur jeweils zwei Unterabschnitte der drei Teile nennt: 1. Psychologie mit Anthropologie, 2. Rechts- und Pflichtenlehre (oder Moral), 3. Ästhetik und Religionsphilosophie. In demselben Schreiben an RAUMER kann Hegel feststellen: „Ich habe soeben die Herausgabe meiner Arbeiten über die Logik beendigt"^^; die Vorrede des letzten Teils der Wissenschaft der Logik, der subjektiven Logik oder Begriffslehre, ist mit „Nürnberg, den 21. Juli 1816" unterzeichnet. In der Ideenlehre als dem letzten Teil der subjektiven Logik ergibt sich die Idee des Geistes als logische Idee aus der Idee des Lebens. Diese logische Entwicklung des Geistes nimmt Hegel zum Anlaß, „beiläufig" auch auf die Gestalten der Idee des Geistes einzugehen, „in welchen sie in den konkreten Wissenschaften des Geistes zu betrachten ist, nämlich als Seele, Bewußtsein und Geist als solcher"^^. Die Lehre von der Seele ist die Anthropologie, die Lehre vom Bewußtsein die Phänomenologie und die Lehre vom Geist als solchem oder vom „Geist für sich“ ist die „eigentliche Geisteslehre" oder Psychologie. Diese drei Teile werden von Hegel nun inhaltlich charakterisiert wie schon zuvor in der Nürnberger Zeit. „Der für sich selbst seiende Begriff" 52 Briefe Bd 2. Hamburg 1953. 102. 53 Briefe Bd 2. 99. 5^ GW Bd 12; Wissenschaß der Logik. Zweiter Band. Hrsg, von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg 1981. 197; die folgenden Zitate 197 f.

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oder der Geist „ist notwendig auch in unmittelbarem Dasein; in dieser substantiellen Identität mit dem Leben, in seinem Versenktsein in seine Äußerlichkeit ist er in der Anthropologie zu betrachten". Die geistige Tätigkeit ist hier noch „dem Spiele ganz zufälliger körperlicher Beschaffenheit, äußerlicher Einflüsse und einzelner Umstände unterworfen". Diese Kennzeichnung des Gegenstandes der Anthropologie steht in großer Nähe zu derjenigen in Hegels überarbeiteter, später Randnotiz zu den Diktaten von 1810/11. Im Bewußtsein nun ist der Geist auf die Objektivität „als sein Anderes, als gegenüberstehenden Gegenstand" bezogen. Der Geist so „als erscheinend, am Gegenteil seiner selbst sich darstellend betrachtet" ist Gegenstand der Phänomenologie des Geistes, „einer Wissenschaft, welche zwischen der Wissenschaft des Naturgeistes und des Geistes als solchen inne steht". Auch diese Bestimmung der Phänomenologie deckt sich erkennbar mit ihrer Kennzeichnung in Hegels Randnotiz. Die eigentliche Geisteslehre oder Psychologie schließlich wird von Hegel in der Logikstelle von 1816 als Lehre vom „Geist für sich" bestimmt, „für welchen der dem Bewußtsein an sich seiende Gegenstand die Form seiner eigenen Bestimmung .. . hat". Dieser Geist, so heißt es weiter, ist „auf die Bestimmungen als auf seine eigenen . . . tätig". Auch diese Charakterisierung stimmt ersichtlich mit derjenigen aus Hegels Randnotiz überein, nach welcher der Geist nach den Bestimmungen seiner Tätigkeit innerhalb seiner selbst Gegenstand der Psychologie ist. Hegels Ausführungen in der erörterten Logik-Stelle gehen nun aber darin über seine Randnotizen zu den Diktaten über das System der besonderen Wissenschaften von 1810/11 hinaus, daß hier die zur Anthropologie gehörenden spezifischen Inhalte erstmals — zumindest andeutungsweise — angegeben werden. Zur Anthropologie zählt Hegel nun die „dunkle Region" des Geistes, sofern dieser nämlich unter „siderischen und terrestrischen Einflüssen steht", als ein Naturgeist „in Sympathie mit der Natur lebt", ihre Veränderungen bloß träumend und ahnend aufnimmt und als bestimmten körperlichen Organen wie dem Gehirn, dem Herzen, den Ganglien oder — wie in PLATONS Timaios (71 d—e) — der Leber (der Stätte der Weissagung) einwohnend aufgefaßt wird. In der Tat werden all diese Themen dann 1817 in der Heidelberger Enzyklopädie innerhalb der Anthropologie behandelt (§§311 f, 318, 320). Lediglich eine erste und nur stichwortartige Konzeption dieser anthropologischen Einzelthemen findet sich bereits in Hegels Randnotizen zu den Diktaten von 1810/11; zum Paragraphen über die Anthropologie heißt es dort ergänzend: „Astrologie, siderische und terrestrische Einflüsse. Krankheiten

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[des Geistes], klimatische Unterschiede." Die Krankheiten des Geistes werden in der Heidelberger Enzyklopädie im § 321 thematisiert, die klimatischen Unterschiede werden in der Berliner Enzyklopädie aufgegriffen: „Der Geist lebt ... in seiner Substanz, der natürlichen Seele, . . . den Unterschied der Klimate" mit (3. Auflage 1830, § 392 und Anm.). Nicht alle der jetzt der Anthropologie zugehörigen Themen sind inhaltlich neu in die Geisteslehre eingefügt, einige Gegenstände werden von Hegel lediglich in ihrer systematischen Zuordnung umgruppiert. So haben der Traumschlaf^s^ der Somnambulismus, die Verrücktheit sowie Ahnung, Vision und Schwärmerei bereits im System der besondern Wissenschaßen von 1810/11 innerhalb der Lehre vom theoretischen Geist oder von der Intelligenz im Abschnitt über die „tätige Einbildungskraft" ihre Behandlung gefunden (§§ 90—93). In der Psychologie von 1811/12 (MEINEL) thematisiert Hegel dieselbe Themengruppe dann unter dem neu eingeführten Titel: „Das Unterscheiden der Vorstellungen von den Anschauungen" (§§ 72— 73). Die Anordnung, die sich in ROSENKRANZ' Edition findet (§§ 151—153), läßt sich in den erhaltenen Dokumenten nicht nachweisen; sie ist zudem in sich unstimmig: a) Träumen, mit Ahnung, Vision und Schwärmerei; b. Somnambulismus; e) [!] Verrücktheit.^^ In der Hauptsache also gewinnt Hegel die Inhalte der Anthropologie durch inhaltliche Ausführung von Stichworten in seinen Überarbeitungsnotizen zu den Diktaten von 1810/11 und durch systematische Umgruppierung von Gegenständen, die zuvor noch im theoretischen Teil der Psychologie ihren Platz hatten. Die angeführten Zeugnisse sprechen dafür, daß Hegel die Anthropologie allererst ganz am Ende seiner Nürnberger Zeit als selbständigen Teil in seine Geisteslehre einführt. In der Begriffslehre der Wissenschaß der Logik von 1816 schließlich sind in der dortigen Trias von Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie die drei ersten von zuvor fünf Abteilungen der Philosophie des Geistes, wie Hegel sie in den späten Randnotizen zu den Diktaten von 1810/11 skizziert hatte, zusammengestellt als die drei Unterabschnitte einer Lehre vom konkreten Geist, die Hegel in der Enzyklopädie von 1817 dann Lehre vom „subjektiven Geist" nennt — ein Terminus freilich, den Hegel auch 1816 in der Wissenschaß der Logik noch nicht verwendet.

55 Auch in der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 kommt im Abschnitt „[Intelligenz]" der träumende Geist vor (GW Bd 8. 190). 56 Werke XVIII. 184 ff.

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Der systematische Aufbau der Hegelschen Geisteslehre, die in der Heidelberger Enzyklopädie ihre klassische Gestalt einer Triade von subjektivem, objektivem und absolutem Geist erhalten hat, erwächst so erst allmählich aus den inhaltlichen Entwürfen und unterschiedlichen Entwicklungsstufen, wie sie sich in Hegels Arbeiten zur Nürnberger Propädeutik niedergeschlagen haben.

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SEIN UND REFLEXION Zur Entstehung der Metaphysik Hegels

Wenn man nach der Möglichkeit der Metaphysik nach KANT fragt, muß zuerst geklärt werden, was KANTS Kritik an der Metaphysik bedeutet. Als KANT in der Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik kritisierte, lehnte er durch seine Deutung der Naturwissenschaft die Erkenntnisse ab, die mit dieser nicht übereinstirmnen. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Ist diese Deutung, die man die Ontologie oder eben die Metaphysik nennen könnte, erstens damals wie heute als Grundlegung der Naturwissenschaft wirksam?! Ist sie zweitens als Ontologie gültig? Hier behandle ich mu die zweite Frage. Für KANT ist das Sein „kein reales Prädikat"^, sondern in erster Linie das, was objektiv und wirklich ist. Erstens wird das „Objekt" durch die Synthese aus Anschauung und Kategorie, durch die Synthese der Einbildungskraft und die Einheit der transzendentalen Apperzeption, als das Mögliche konstruiert oder analog erschlossen; mit anderen Worten: es wird der Horizont des Seins gebildet. Zweitens wird, von der Wahrnehmung oder durch den Zusammenhang mit ihr, dieses mögliche Objekt als das „wirkliche" Seiende bestätigt. Aber schon in der Konstruktion des Objekts gibt es Probleme, z. B. ob die apriorischen Bedingungen der Hegels Jenaer Schriften werden zitiert nach: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4: Jenaer kritische Schriften. Hrsg, von H. Büchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968. (GW4.) Bezüglich der Seitenangaben zu den Vorlesungsmanuskripten von 1801/02 folge ich den Aufsätzen von Baum und Meist usw., die Stellen aus ihnen zitieren. Die sonstigen hauptsächlich zitierten Bücher kürze ich wie folgt ab: Bl. — Hegel Nachlaß. Bd 11. Berlin (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz). N = Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. v. H. Nohl. Tübingen 1907. FG = Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Hrsg. v. Medicus. Hamburg 1970. (P/i. B. 246.) SS = Schelling: Ausgewählte Werke. Schriften von 1801—04. Darmstadt 1973. Die zitierten Texte werden gegebenenfalls orthographisch normalisiert. ' Heute könnte das Problem zum sogenannten „demarcation problem" gerechnet werden, wo man über den Maßstab diskutiert, mit dem die echte Wissenschaft von der Pseudowissenschaft unterschieden werden kann. ^ Kritik der reinen Vernunft. B 626. Zum folgenden vgl. dort „Die transzendentale Analytik", vor allem B 164 f, 194 f, 218 f, 272-3, 275.

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Erfahrung absolut apriorisch sein könnten, ob die Inhalte der Kategorien und der Grundsätze gültig seien, usw. Wenn auch die Erklärung KANTS dazu überzeugt, bleibt das folgende Problem bestehen: Die Erkenntnis des Seins als des wirklichen Objekts begleitet zwar immer die transzendentale Apperzeption („Ich denke"), aber nicht die Selbsterkenntnis. Durch das „Ich denke" allein kann das Sein des Ichs nicht konstruiert werden. (Dafür ist auch die Anschauung vom Ich nötig.) Obwohl diese Erkenntnis des Objekts das rein wissenschaftliche Verhältnis des Menschen zum Seienden sein könnte, trifft das nicht für andere Erkenntnisarten zu, z. B. für die vorwissenschaftliche Erkenntnis sowie das praktische, ästhetische Verhältnis, in dem das Weltverständnis das Selbstverständnis begleitet. Zwar entfaltet KANT dies für den Bereich der moralischen Praxis als eine Metaphysik, aus der die Versuche der Metaphysik nach ihm resultieren. Aber es bleibt zu fragen, ob dieses moralische Verständnis vom Selbst und der Welt alle möglichen Zusammenhänge des Selbst und der Welt restlos erschöpft. Im Anschluß an KANT verfolgte der Erankfurt-Homburger Kreis um HöLDERLIN die Möglichkeit des dritten Wegs statt der Theorie und der Praxis. Daraus entwickelte Hegel zusammen mit SCHELLING in Jena eine Metaphysik. Wenn man daher nach der Möglichkeit der Metaphysik „nach" KANT fragt, muß man deshalb zuerst danach fragen, auf welches Verständnis des Selbst und der Welt sich die Metaphysik Hegels gründen konnte. Hegel nannte diesen Zusammenhang des Selbst und der Welt eben das „Sein", das sich natürlich von KANTS oben genanntem Begriff des Seins als des wirklichen Objekts unterscheidet. Das Folgende rekonstruiert die Entwicklung des Hegelschen Gedankens vom Sein.3 Dabei ist zu bemerken, daß die Grenze des Begriffs vom Sein und der dasselbe erfassenden Reflexion jeweils auf der nachfolgenden Stufe überschritten wird, wodurch eine Bedeutungsverschiebung erfolgt, die die Bedeutung der vorhergehenden Stufe als ein Moment der nachfol3 Hier behandle ich nur die Entwicklung seines Gedankens von der Frankfurter Zeit bis zu der frühen Jenaer Zeit. Die weitere Entwicklung des Seinsbegriffs sowie des Reflexionsbegriffs muß natürlich im Zusammenhang mit der Entwicklung der Begriffsform und der Konzeption des Systems betrachtet werden. Dazu vgl. O. Pöggeler: Hegels Jenaer Systemkonzeption. In: Philosophisches Jahrbuch. 71, 2 (1964), 286— 318; H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels „System der Philosophie" in den Jahren 1800—1804. Bonn 1970. (Hegel-Studien. Beiheft 8.); /, H. Trede: Hegels frühe Logik (1801 — 1803/04). In: Hegel-Studien. 7 (1972), 123—168; K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn 1976. (Hegel-Studien. Beiheft 15.); W. Jaeschke: Äußerliche Reflexion und immanente Reflexion. In: Hegel-Studien. 13 (1978), 85—117; T. Shikaya: Die Wandlung des Seinsbegriffs in Hegels Logik-Konzeption. In: Hegel-Studien. 13 (1978), 119—173; D. Henrich: Andersheit und Absolutheit des Geistes. In: Henrich: Selbstverhältnisse. Stuttgart 1982. 142—172.

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genden bewahrt. Folglich werden Sinn und Richtigkeit des Resultats, d. h. der ersten Konzeption der Metaphysik Hegels, erst klar, wenn dieser ganze Prozeß oder wenigstens seine hauptsächlichen Stufen dargestellt worden sind. Die charakteristischen Merkmale dieser Stufen werden durch die drei folgenden Thesen zusammengefaßt: 1. Sein wird als Vereinigung (die ästhetische Weltordnung) durch das Gefühl vor der Reflexion eröffnet. II. Sein wird als Geschichtliches (die notwendige Entwicklung des Lebens) durch die Selbstnegation der Reflexion und den Glauben reflektiert. III. Sein wird als Idee (als das absolute Nichts) spekulativ reflektiert.

I. Der Ausgangspunkt des Hegelschen Seinsgedankens liegt in der These: „Vereinigung und Sein sind gleichbedeutend" (N 383). Es ist klar, daß der Satz sich auf die Tradition der Eleaten beruft, die das Sein in Verbindung mit dem Eins erfaßten, oder auf die jüngere Vereinigungsphilosophie HöLDERLINS, der das Sein als „die Verbindung des Subjects und Objects"^ bestimmte. Aber im Fragment Glauben und Sein, wo dieser Satz steht, gibt Hegel kaum einen anderen Grund dafür, warum Sein und Vereinigung gleichbedeutend seien, als daß die Kopula „Sein" die Vereinigung des Subjekts und Prädikats ausdrücke. Denn er erklärt es dort durch die Struktur des Glaubens dahingehend, daß Nichtsein Nichtvereinigung ausdrücke, und bestätigt damit den obigen Satz. Wenn etwas „geglaubt" wird, ist es nach Hegel einerseits etwas, was als wirklich Seiendes nicht bewiesen wird, was nicht „für uns" „bewußt" wird, oder was nür „das Gedachte" ist (N 383). Andererseits ist es doch keine bloße Phantasie, sondern „muß sein". In diesem Sinn ist Glauben „Widerspruch", weil es Nichtsein als Sein versichert, was bedeutet, daß man Nichtvereinigung als Vereinigung versichert. Denn setzt das Geglaubte als „Gedachtes" den Gegensatz des Denkens und des Gedachten voraus, so vereinigt das Gedachte (z. B. der Gott des Judentums) den Gegensatz des Denkens (Menschen) und der Welt zwar in der Weise der Beherrschung, behält ihn aber gerade deswegen als Nichtvereinigung. In diesem Sinn drückt das Nichtsein des Geglaubten die Nichtvereinigung aus. ■* Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. v. F. Beissner, Bd 4. 216. Vgl. I. von Sinclair: Philosophische Raisonnements. Hrsg. v. H. Hegel. Manuskript (A) 19-21.

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Diese Nichtvereinigung des Glaubens und des Geglaubten wird durch die „Reflexion"^ verursacht. „Diese Vereinigung ist die Tätigkeit, diese Tätigkeit, reflektiert als Objekt ist das Geglaubte" {N 382). Der Glaubende und das Geglaubte, das Subjekt und das Objekt, die erscheinende Welt und die intelligible Welt, das Diesseits und das Jenseits usw., mit kurzen Worten, „verschiedene Arten von Vereinigungen, von Sein" (N 383) werden durch Reflexion verursacht. Aber es gibt nur „Ein Sein", „das einzige mögliche Sein" (ebd.). Insofern „das einzige mögliche Sein" mit den „verschiedenen Arten von Sein"unvereinbar ist, und der Reflexion gegenübersteht, wird der obige Satz, „Vereinigung und Sein sind gleichbedeutend" wie folgt erweitert: Sein steht als Vereinigung der Reflexion gegenüber. Aber dieser Satz ist noch nicht positiv begründet. Wie kann man Sein als die Vereinigung anders als durch Reflexion erfassen? Hier versuche ich dieses Problem eher mit dem Standpunkt FICHTES als dem KANTS ZU vergleichen, denn ich meine, daß die Richtigkeit der Behauptung Hegels zuerst unter Rücksicht auf den Standpunkt FICHTES geprüft werden sollte, da Hegel seine Vereinigungsphilosophie zusammen mit HöLDERLIN zuerst in Auseinandersetzung mit FICHTE, und zwar mit den Termini FICHTES („Vereinigung" und „Reflexion" usw.) entwickelte. Vom Standpunkt FICHTES aus gesehen, (hier hauptsächlich auf die Wissenschaßslehre von 1794/5 begrenzt) kann der obige Satz in den folgenden zwei Punkten nicht akzeptiert werden. Erstens ist das von der Reflexion (Trennung) geschiedene Sein (Vereinigung) nichts anderes als ein dogmatischer Gedanke. Sein ist für FICHTE wie für DESCARTES ursprünglich das Sein von dem und für das Ich. „Das Ich ist nur insofern, inwiefern es sich seiner bewußt ist." (FG 17) Auch im allgemeinen ist kein Sein denkbar, das nicht wenigstens eine Beziehung auf das Ich hat, mithin der Handlung sowie Reflexion des Ichs voraussteht. Wenn das Nicht-Ich auch unabhängig vom Ich da zu sein und auf das Ich zu wirken scheint. 5 Der Terminus „Reflexion" meinte in einigen Fällen die Kantisch-Fichtesche Autonomie (N 370, 373) in der frühen Frankfurter Zeit, aber seit der Wendung zu der Vereinigungsphilosophie die Trennung im negativen Sinn. Diese Trennung bedeutete vor allem die des Denkenden und des Gedachten, die des Gedachten und des Nichtgedachten. Daher waren „Reflexion", „Bewußtsein", „Verstand" und „Sprache" fast gleichbedeutend. „Reflexion" wurde auch auf die praktischen Verhältnisse angewandt, die auf der Trennung basieren (z. B. „Reflexionskultur"). Ihre positive Anwendungsweise begann im „reflektierten Leben" in der späten Frankfurter Zeit. In der „spekulativen Reflexion" und der „absoluten Reflexion" in der frühen Jenaer Zeit wurde sie der „Vernunft" gleichbedeutend. Seit 1803/04 wurde sie im Sinn der Reflexion über sich oder der Rückkehr zu sich angewandt, allmählich wurde die „immanente Reflexion" herrschend, aber auch die Reflexion als Verstand oder die „äußerliche Reflexion" blieb als Moment übrig.

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kann dieser Sachverhalt nur dadurch bestehen, daß Ich ihn übernehme. „Alles was ist, ist nur insofern, als es im Ich gesetzt ist, und außer dem Ich ist nichts." (FG 19)^ In diesem Standpunkt, dem „Selbstbewußtsein", ist (wie HöLDERLIN kritisierte) die „Trennung" des reflektierenden Ichs und des reflektierten Ichs schon vorausgesetzt. Aber das bedeutet keinen Mangel des FiCHTEschen Standpunkts. „Das absolute Ich" ist immer schon in der Grundlage des ihm gegenüberstehenden „endlichen Ichs" und zugleich das Ziel dieses Ichs, aber es kann nicht anders sein. Wenn ein Ich sein könnte, das keine Trennung des reflektierenden Ichs und des reflektierten Ichs enthielte, wäre es ein „Selbstbewußtsein Gottes". Das aber ist „für alle endliche Vernunft" „unerklärbar", daher nichts anderes als ein dogmatischer Gedanke (FG 192). Zweitens ist die von der Vereinigung (in der Handlung) geschiedene Reflexion (Trennung) nur eine Seite der verschiedenen Funktionen von Reflexion. Reflexion ist nach FICHTE eine „Handlung", die „die Handlungen" des „menschlichen Geistes" „zum Bewußtsein" erhebt.^ Dabei behandelt sie ihre Gegenstände, d. h. „die notwendigen Handlungen" willkürlich. Sie abstrahiert und trennt sie nämlich „aus der Reihe, in der sie etwa an sich Vorkommen mögen", nimmt die Bestimmungen aus ihrer eigentümlichen Vereinigung in der Handlung heraus, unterscheidet sie und findet ihre Synthesis. Allein werden die Bestimmungen von Reflexion nur „aufgesucht" und „gefunden", aber nicht „gemacht und erkünstelt" (FG 44 f). Die Hervorbringung der Bestimmungen ist das, was eben die „ursprünglichen Handlungen des Ich" als Gegenstand der Reflexion machen können, die aus der „ursprünglichen antithetischen Handlung" und der „ursprünglichen synthetischen Handlung" (FG 45) des Ichs besteht, und die auch „die Spontaneität des menschlichen Geistes" (FG 141) oder „die ursprünglich notwendige Reflexion" (FG 142) heißt. Daher wird die Analysis und Synthesis der Reflexion von der ursprünglichen Handlung des Ichs als Gegenstand der Untersuchung sozusagen gestützt und geleitet. Aber diese ursprüngliche Handlung des Ichs wird am Ende als „Einbildungskraft", oder noch ursprünglicher als „Trieb" oder „Streben" charakterisierbar. Daraus wird die Reflexion im Gegensatz zur Eingangsüberlegung als eine Form des Triebs abgeleitet. Die Reflexion entsteht nämlich, wenn der Trieb von dem äußerlichen ^ Fichte spricht auch nachher über den Primat der „Freiheit", des „Sehens" oder des „absoluten Wissens" zum „Sein", das sich dem „Denken" entgegensetzt. Fichte: Erste und zweite Einleitung in die W. L. Hrsg, von Medicus. (Ph. B. 239.) 85; Fichte-Schelling: Briefwechsel. Hrsg, von W. Schulz. Frankfurt a. M. 1968. 126, 152. ^ Fichte: Über den Begriff der W. I. (1794). Hrsg, von R. Lauth und W. Jacobs. 141 f.

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Anstoß gehemmt sich nach der Innenseite wendet, wo das Ich in das reflektierende Ich und das reflektierte Ich getrennt wird. Aber trotzdem treibt der Trieb das reflexive Ich von der Innenseite zur Außenseite, wo das Streben nach dem Ideal entsteht (FG 193 f, 205 f). Daher gibt es hier am Ende den „Kreislauf der Funktionen des Ich" {FG 211). Reflexion ist nun das Denkvermögen von Trennung (Analysis) und Beziehung (Synthesis), während sie, wenn sie im „Kreislauf" mit der ursprünglichen Handlung des Ichs funktioniert, den Trieb oder das Streben gegeneinander voraussetzt. Der Reflexionsbegriff Hegels betrifft nun nur jene zuerst genannte Seite, übersieht aber diese zweite Seite. Daher wird keine Notwendigkeit der Reflexion anerkannt. Wie würde Hegel diese Kritik erwidern? Was den ersten Punkt anbetrifft, ist die folgende Antwort denkbar. Die Vereinigung, die mit dem Sein gleichbedeutend ist, kann die „Verbindung des Subjects und des Objects" (HöLDERLIN) sein, die doch nicht das für Menschen „unerklärbare" „Selbstbewußtsein des Gottes" ist. Die „Verbindung des Subjects und Objects" ist vielmehr die Liebe. Sie ist die Welt, wo Menschen, Natur und Götter sowie die Fähigkeiten im Menschen durch den Bund der Liebe verbunden sind. Zwar ist sie nicht die nur vom Menschen und in ihm geschaffene Welt, sondern die an sich über dem einzelnen Menschen liegende, die doch von ihm (z. B. dem jungen Abraham in seiner Heimat Chaldäa) erfahren werden kann. Sie ist das Feld, wo sich die einzelnen Menschen und Seienden® in ihren Wesen als eins miteinander erfahren, eins sind. Insofern ist das Sein als Vereinigung der „Natur" oder dem „Leben" gleichbedeutend^, was man auch als ästhetische Weltordnung charakterisieren könnte. „Das Schöne, eine Einigkeit eurer zwei oder drei, .. . ist, weil es in ihr [= der Harmonie des Ganzen] ist, weil es ein Göttliches ist." (N 316) Im Gegensatz dazu sind die Juden nach Hegel „Nichts" (N 250), weil und insofern sie in den feindseligen Verhältnissen des Menschen, der Natur und Gottes nur animalisch exi® „Sein" und „Seiendes" wurden, wenn auch nicht inuner, so doch oft unterschieden. (Z. B.; „in einer eidlichen Versicherung" wird „der Zusammenhang des Wortes und der Tat, die Verknüpfung, das Sein selbst dargestellt an einem Seienden, in ihm vergegenwärtigt;" N 270 f.) Dabei geriet das „Seiende" oft in Gegensatz zum „Gedachten" (N 276 [b], 278). Diesem Gegensatz folgte m. E. der des „Seins" (durch Reflexion) und des „Begriffs" in der frühen Jenaer Zeit. 9 Vgl. N244, 250, 266, 267, 271, 303, 316, 317, 389, 400, 401. In N268f, wo Hegel „das Komplement der Möglichkeit" zuerst „die Wirklichkeit" nannte, doch nachher diese mit dem „Sein" wechselte, berief er sich auf den Seinsbegriff der Leibniz-Wolffianer und schuf ihn aus dem Standpunkt der Vereinigungsphilosophie um. Vgl. H. S. Harris: Hegel's Development. Toward the sunlight 1770—1801. Oxford 1972. 316.

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stieren. Auch der Egozentrismus FICHTES kann als Beharren in denselben feindseligen Verhältnissen kritisiert werden (vgl. N 351). Das Sein als ästhetische Weltordnung kann nicht mittels der Reflexion erfaßt, sondern nur von der ästhetischen „intellektuellen Anschauung" oder dem „Gefühl" der Liebe „im Moment" (N 290) eröffnet werden. Als Hintergrund des Primats des Gefühls gegenüber der Reflexion über Sein kann man wohl JACOBIS Konzeption des „Gefühls des Seins" oder Gedanken ROUSSEAUS anführen, wie „exister. . . est sentir''.^^ Bei ROUSSEAU gewinnt das Gefühl den Vorrang vor der Reflexion, und der Naturzustand geht dem Gesellschaftszustand voraus. In derselben Weise gewinnt bei Hegel das Gefühl der Liebe und die ästhetische Weltordnung den Vorrang vor der Reflexion und den feindseligen Verhältnissen. Durch das Gefühl vor der Reflexion kann es sein, daß Sein als Vereinigung der Reflexion gegenübersteht. Mithin kann die erste Stufe des Hegelschen Seinsgedankens wie folgt ausgedrückt werden: Sein wird als Vereinigung (ästhetische Weltordnung) von dem Gefühl vor der Reflexion eröffnet. Von daher könnte Hegel auch folgendes gegen den zweiten Punkt ein-, wenden. Liebe kann nicht nur die theoretische Reflexion sondern auch die praktische Handlung überwinden, insofern auch die letztere auf dem Gegensatz des Subjekts und Objekts basiert. Der Standpunkt des „Strebens" bei FICHTE zielt zwar auf die Vereinigung des Ichs und Nicht-Ichs, aber läßt ihre Nichtvereinigung letztlich bestehen. Daher kann die wahre Vereinigung nicht im Sinne FICHTES konzipiert werden. Wenn auch Reflexion und Streben einander voraussetzen, können beide von der Liebe überboten werden, insofern sie die unvollständige Vereinigung bedeuten. Aber wenn die wahre Vereinigung auch in der Liebe erfahren werden kann, kann diejenige Liebe in Wahrheit Liebe sein, die keiner Reflexion bedarf, sondern sie nur ausschließt? Kann diejenige Vereinigung in Wahrheit Vereinigung sein, die sich der Trennung nur entgegensetzt? Kann dasjenige Sein in Wahrheit Sein genannt werden, das das Nichts nur verleugnet? Hier entsteht ein neues Problem. Ich meine, daß Hegel sich in der letzten Hälfte der Frankfurter Zeit zwangsläufig mit diesem Problem auseinanderzusetzen hatte. Der Anlaß lag wohl nicht in seiner Auseinandersetzung mit FICHTE, sondern vielmehr in der Auslotung der

I** Oeuvres completes de J. }. Rousseau. Avec des ecl. par Auguis. Tome IV. 307. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza. 2. Aufl. Breslau 1789. 193 f.

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Möglichkeit der „schönen Religion", die sein eigentümliches Anliegen war, das er aber zugleich unter Anleitung HöLDERLINS vertiefte.

II. Was kann es für eine Bewandtnis damit haben, daß das Sein nicht nur als Vereinigung durch das Gefühl der Liebe eröffnet wird, sondern daß es auch noch der Reflexion bedarf? Es ist keine Vermischung der Liebe (Vereinigung) und der Reflexion (Trennung), sondern die Sachlage muß so sein, daß Hegel am Primat der Liebe (Vereinigung) gegenüber der Reflexion (Trennung) festhalten und zugleich die Reflexion (Trennung) für zulässig erweisen kann. Wenn die Reflexion (Trennung) nun unter Voraussetzung der Vereinigungsphilosophie zugelassen wird, kann sie nicht anders als im „einzigen möglichen Sein" bestehen. Obwohl sich „das einzige Sein" durch die Reflexion in „verschiedene Arten von Sein" auseinanderfaltet, geht jenes in diesen nicht ganz verloren, sondern ist sozusagen nur verborgen. Nur in diesem Zustand kann die Reflexion (Trennung) zugelassen werden. Wenn der andere Zustand auch bewahrt wird, wo das „einzige mögliche Sein" von der Liebe vollständig enthüllt wird, könnten diese zwei Zustände nur in unterschiedlichen Zeiten zusammenbestehen, nicht zugleich bestehen.Deswegen ist Sein als das denkbar, was sich in der Veränderung von einem den „einzig möglichen Zustand" enthüllenden Anfangszustand zu einem „einzig möglichen Zustand", der sich in den „verschiedenen Arten von Sein" verbirgt, durchträgt, mithin auch als etwas, das den Anfangszustand wiederherstellen soll. Insofern ist Sein nicht das Eins der Eleaten, das weder Mannigfaltigkeit noch Bewegung zuläßt, sondern „das Geschichtliche" (N 401), das sich im Durchgang durch die mannigfaltigen Formen entwickelt. Hegel entwickelt diesen Gedanken des „Geschichtlichen" oder des „Werden des Seins"(ebd.) erst im Geist des Christentums.^^ Aber dort er11 Vgl. die Ansicht Platos über das Werden und das Vergehen des Eins und des Mannigfaltigen (Parmenides 155 E) und N 400. 12 Bei Hegel gab es schon ein geschichtliches Bewußtsein, aber erst in einem Fragment zum „Geist des Judentums" (N 243—5) wurde die Geschichte der Menschheit als die Entwicklung der übermenschlichen „Natur" erfaßt. (Vgl. vom Verf.: Entstehung des „Geist des Judentums" beim jungen Heget. In: Bulletin der literarischen Fakultät der Komazawa Universität. Bd 43. Tokio 1985). Dementsprechend wurde „Reflexion" zugleich zugelassen (N 394, 257). Kondylis erkennt den „Weg zur Legitimation der Trennung und der Reflexion" schon

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scheint die Vereinigung der Liebe (Vereinigung) und der Reflexion (Trennung) nicht sogleich und vollständig. Sie erscheint, aber verbirgt sich. Hegel versucht nun, das wahre Sein (Vereinigung) sozusagen von der Finsternis seiner Verborgenheit zutage zu bringen. Seine Argumentation entwickelt sich in den folgenden drei Stufen, die ungefähr dem Prozeß der Entwicklung bzw. der Verbesserung der Manuskripte zum Geist des Christentums entsprechen. (1) Daß das Sein (Vereinigung) trotz der Reflexion (Trennung) nicht zu Nichts wird, sondern „umgeschaffen" übrigbleibt, wird zuerst durch das die Reflexion zerstörende „Schicksal" ersichtlich. „Vernichtung des Lebens ist nicht ein Nicht-Sein desselben, sondern seine Trennung, und die Vernichtung besteht darin, daß es zum Feinde [= Schicksal] umgeschaffen worden ist." (N 280) Insofern setzt die Reflexion sich nicht mehr nur dem Sein entgegen, sondern wird auch im Sein zugelassen. Und das Schicksal treibt sie zur „Versöhnung mit dem Schicksal durch Liebe", um den von ihr korrumpierten Anfangszustand des Seins wiederherzustellen. Aber wenn die Versöhnung mit dem Schicksal die bloße Rückkehr des Anfangszustands bedeutet, wird die Notwendigkeit der Reflexion (Trennung) noch nicht in dem Sinn anerkannt, daß das wahre Sein (Vereinigung) nur durch die Reflexion (Trennung) erscheinen kann. (2) Wenn die Liebe bloß den Anfangszustand wiederherstellt, wäre sie selbst bloß die „schöne Seele", die wieder der Reflexion oder der von der Reflexion gesetzten „objektiven Welt" gegenübersteht. Dann entsteht die neue Aufgabe, den Gegensatz der „schönen Seele" und der „objektiven Welt" zu überwinden. Daraus ergeben sich die Probleme, (a) der Selbstnegation der schönen Seele und (b) der Religion als Synthesis der Liebe und der Reflexion, ln diesen Problemen gibt es, meine ich, erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Anerkennung der Notwendigkeit der Reflexion (Trennung) zwischen der ersten und der zweiten Fassung des Geist des Christentums. Die Darlegung dieser Punkte erfolgt bei der Berücksichtigung der ersten Fassung unter Berufung auf die Handschrift Hegels, und bei der zweiten Fassung im Verweis auf NOHLS Ausgabe.

im Fragment Glauben und Sein, aber dort, wie oben gesagt, setzte Reflexion sich noch dem Sein entgegen. Vgl. P. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Stuttgart 1979. 467. n Zur Chronologie der verschiedenen Manuskripte zum Geist des Christentums vgl. vom Verf.: Ein Versuch der Revision der Fragmente des frühen Hegel (Nr 80, 81). In; Bulletin der literarischen Fakultät der Komazawa Universität. Bd 44. Tokio 1986. Vor allem zu den Unterschieden der ersten und der zweiten Fassung vgl. C. famme: „Ein ungelehrtes Buch". Bonn 1983. 386 -395.

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(a) Schon in der ersten Fassung des Geists des Christentums ist erkennbar, daß die schöne Seele zwangsläufig negiert werden muß. Aber die Negation der schönen Seele, vor allem der Tod JESU, wird hier bloß als Selbsttötung erfaßt, als freiwillig ausgewählte Selbstnegation, um den Zustand der reinen Liebe von den Verderbtheiten der Welt abzuschirmen, freizuhalten. Die Aufhebung seiner Beziehungen „ist eine Selbsttötung, die sich endlich in das Leere zurückziehen muß" (Bl.93 recto; N 285[b]). In diesem Sinn beharrt Hegel noch auf dem Standpunkt der Liebe, die sich der Reflexion entgegensetzt. (b) Der Standpunkt der Religion als Synthesis der Liebe und der Reflexion wird in der ersten Fassung als „reines Selbstbewußtsein" (Bl. 111 recto; N 302[b]) bezeichnet. Es bedeutet das,,Bewußtsein dessen, was der Mensch ist" (ebd.), nämlich die wahre Selbsterkenntnis des Menschen, wo er seiner vom beschränkten Bewußtsein nicht angeschauten „Quelle" bewußt sein kann, die auch „Leben", „Einfaches", „Reines" oder „Göttliches" heißt (ebd.; N 302—3), da er „von aller Tat abstrahiert, und von allem Bestimmten" (ebd.; N 303). Hegel nennt es „Bewußtsein, . . . von Gott getrieben zu werden", d. h. „Geist" (Bl. 113 verso; N 304), aber auch „das reine Gefühl des Lebens" (Bl. 111 verso; N 303) oder „an einen Gott glauben" (Bl.lll recto; N 303). Deswegen ist es zwar ein Bewußtsein, doch viel eher etwa vergleichbar einem neuplatonischen mystischen Gefühl, wo das Moment der Reflexion noch nicht hinreichend anerkannt werden kann. (3) In der ersten Fassung wird die Notwendigkeit der Reflexion von einem Standpunkt her erkannt, der am Ende noch auf der sich der Reflexion entgegensetzenden Vereinigung (schöner Seele, reinem Gefühl des Lebens) beharrt, während die Reflexion (Trennung) in der zweiten Fassung klar als das notwendige Moment der Entwicklung des Seins (Lebens) erkannt wird. (a) Der Tod JESU wird in der zweiten Fassung nicht mehr als „Selbsttötung" charakterisiert, sondern sozusagen in der geschichtlichen Notwendigkeit als „Schicksal", das das die Welt verweigernde Handeln JESU mit sich brachte. Es gibt keine Beharrung mehr auf der sich der Reflexion entgegensetzenden Liebe, sondern diese Beharrung selbst wird vielmehr vom Schicksal zerstört. In diesem Sinn ist der Tod JESU unvermeidlich, und für die „Vollendung des Glaubens" (N 318) der Anhänger nötig, Der Tod der reinen Vereinigung, die „Entgegensetzung" ist „die MögZu den Verhältnissen des Jesus bei Hegel und des Empedokles bei Hölderlin vgl. Jamme (wie Anm. 13), 296 f.

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lichkeit der Wiedervereinigung" (N 282). Die Entgegensetzung ist daher dem wahren Sein (Vereinigung) notwendig in dem zweifachen Sinn, unvermeidlich und nötig zu sein. (b) Der Standpunkt der Religion wird in der zweiten Fassung einerseits noch als „das reine Gefühl des Lebens" wie in der ersten Fassung erfaßt, wie das Leben „nur mystisch gesprochen werden kann" {N 308) oder „außerhalb der Reflexion" (N 310) ist. Andererseits wird die Notwendigkeit der Reflexion aber durch Hegels eigene Deutung von der Dreieinigkeit in den drei folgenden Bedeutungen erkannt. (Diese Punkte wurden m. E. von den bisherigen Forschungen nicht genug beachtet.) Erstens wird das Erscheinen des Unterschieds des Unendlichen und des Endlichen in ihrer wesentlichen Vereinigung der Wirkung der Reflexion (Logos) zugeschrieben. Hegel findet den Grund im Anfang des Evangelium des JOHANNES, und dabei bringt er meiner Meinung nach den oben erwähnten Reflexionsbegriff FICHTES vor.^s „Die Reflexion supponiert das, dem sie die Form des Reflektierten gibt, zugleich als nicht reflektiert." (N 306) Das Reflektierte, das nicht reflekhert wird, war die ursprüngliche Handlung des Ichs bei FICHTE, ist aber hier „Gott". Reflexion ist hier die Wirkung des „Logos". Logos bei dem nicht reflekherten Gott reflektiert zugleich über Gott. Diese Reflexion, „die das Leben trennt, kann es in Unendliches und Endliches unterscheiden" {N 310), insoweit die endliche Welt nämlich geschaffen wird. Zweitens kann das Leben (Sein) von dieser Reflexion (Trennung) zwar nicht erfaßt werden, aber solche Ohnmacht der Reflexion kann die Struktur des Lebens (Seins) andeuten. Wenn die Reflexion oder der Verstand sich zu Erklärungen über das „Göttliche" versteigt, ist „jedes über Göttliches in Form der Reflexion Ausgedrückte widersinnig" {N 306). Aber; „Was im Reich des Toten Widerspruch ist, ist es nicht im Reich des Lebens." (N 308—9) Deswegen behalten die Sprache oder Reflexion und deren Widerspruch ihre Bedeutung im Sinne einer theologia negationis, sie sind sogar nötig. Diese Bedeutung ihres Widerspruchs wurde aber schon in „der verkehrten Welt" durch die Strafe des Schicksals ersichtlich. Drittens wird in dem Standpunkt, der die ursprüngliche Vereinigung durch die Reflexion und ihre Selbstnegation zurücknimmt, selbst das Moment der Reflexion enthalten sein. Auf das Göttliche, insofern es der Hegel wendet die Fichteschen Begriffe hier und da geheimlich an, z. B., „Einbildungskraft" (N 376, 248 f), „Trieb" (N 333), „Sehnen" (N 334) usw. Zum Terminus „Trieb" vgl. K. Kozu: Das Bedürfnis der Philosophie. Bonn 1988. 69 f.

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Gegenstand der theoretischen Erkenntnis ist, wird in der Selbstnegation der Reflexion wie oben erwähnt hingedeutet, angespielt, während dessen Sein noch durch das Selbstverständnis des Glaubens positiv eröffnet wird. „Glauben an Göttliches ist nur dadurch möglich, daß im Glaubenden selbst Göttliches ist, welches in dem, woran es glaubt, sich selbst, seine eigene Natur wiederfindet" (N 313). Aber der Standpunkt des Glaubens an das Göttliche auf dieser Stufe ist noch nur „Ahnden .. . des Göttlichen" oder „Verlangen der Vereinigung mit ihm" (N 313), aber nicht selbst vollständig das Göttliche („Licht") als solches, oder es hat das Göttliche noch nicht. Man kann den „Licht"-Zustand durch „die Vollendung des Glaubens" (N 318) erreichen, wo er sich von der Abhängigkeit von JESUS befreit. In der Vollendung des Glaubens ist das Leben „auch als ein reflektiertes", „aufgefaßtes Leben" (N 307). Diesen aufschlußreichen Ausdruck, das reflektierte aufgefaßte Leben erklärt Hegel wie folgt. „Nur ein Bewußtsein, das dem Leben gleich, und [die] nur darin veschieden sind, daß dieses das Seiende, jenes dies Seiende als Reflektiertes ist, ist 4>ö)g." {N 307) Dieses Bewußtsein ist nämlich weder die das Leben trennende und verbergende Reflexion (Verstand) noch das bloße reine Gefühl des Lebens, sondern diejenige Reflexion, die selbst das Leben ist und es zugleich als solches erfaßt, insofern es die relative Entgegensetzung des „Seienden" und der Reflexion enthält. In diesem Sinn ist das Moment der Reflexion eben in dem Standpunkt selbst enthalten, der die ursprüngliche Vereinigung (Sein, Leben) zurücknimmt. In der zweiten Fassung nun heißt es, daß das Leben einerseits „außerhalb der Reflexion" sei, aber andererseits „reflektiert", was widersprüchlich scheint. Doch gibt es in der Sache keinen Widerspruch. Nach meiner Auslegung spielt hier die notwendige Entwicklung des Lebens (Seins) eine Rolle, die nicht mehr dessen einfache Rückkehr zum Anfangszustand ist. Zuerst entdeckt sich das noch nicht entwickelte Leben, zweitens, die Trennung des Lebens durch Reflexion (insofern ist das Leben „außerhalb der Reflexion", aber durch die Selbstnegation der Reflexion und den Glauben vermittelt), drittens existiert „reflektiertes Leben". Daher könnte die zweite Stufe des Hegelschen Seinsgedankens wie folgt dargestellt werden: Das Sein wird als Geschichtliches (die notwendige Entwicklung des Lebens) durch die Selbstnegation der Reflexion und den Glauben reflektiert. Hier wird die im ersten Abschnitt erwähnte Bedeutung des Seins und der Reflexion als das untergeordnete Moment aufbewahrt. Das Sein als die Vereinigung (ästhetische Weltordnung) ist nicht nur in der ersten Stufe der Entwicklung des Lebens gelegen, son-

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dem auch in der dritten Stufe als die „Idee eines Reiches Gottes" (N 321) entwickelt. Auch die Reflexion als Trennung ist in der zweiten Stufe gelegen. Hier scheint der Seinsgedanke der Frankfurter Zeit zur Vollendung zu kommen, aber zwei Fragen bleiben bestehen. Die erste Frage betrifft die Verwirklichung der Idee des Reichs Gottes. Sie scheint im Glauben an den auferstandenen JESUS als die „gestaltete Liebe" (N 335) in der Gemeinde verwirklicht zu werden, wo eben die Synthesis der Liebe und der Reflexion zu finden ist. Aber zu dieser „Gestalt" kommt ein „Objektives, Individuelles" hinzu, das „für den Verstand fixiert bleiben soll" (ebd.). Deswegen entsteht die von der Autorität des individuellen Religionsstifters JESUS abhängende positive Religion, und in dieser wiederholt sich im Schicksal der Gemeinde, die sich der Welt entgegensetzt, das Schicksal des Religionsstifters. Die Überwindung dieser neuen Entgegensetzung müßte wohl die Idee des Reichs Gottes postulieren. Die zweite Frage ist die des Standpunktes wie des Terminus „reflektiertes Leben". Wer im „reflektierten Leben" über das Leben reflektiert, ist zwar Mensch, wird sich des Lebens bewußt, das in ihm verborgen ist. Aber soU man nicht vielmehr sagen, daß das Leben (Sein) selbst sich dadurch beleuchtet, oder über sich reflektiert? Wenn Hegel die Dreieinigkeit erwähnt, soll es sich schon dämm handeln, eine solche Selbstreflexion des Lebens in sich zu exemplifizieren, wird aber noch nicht als solche klar zum Ausdmck gebracht. Hegel erfaßt zwar die Entwicklung des Lebens (Seins), begreift sie aber noch nicht vom Standpunkt des Lebens (Seins) selbst her, sondern letztlich aus der Perspektive des Menschen. Anders gesagt; er findet den Grund der Möglichkeit jenes Standpunkts noch nicht. Trotzdem gibt er es am Ende der Frankfurter Zeit zu, daß er auf solchem Standpunkt stehen sollte, oder, wie es in seinem Brief an SCHELLING am 2. 11. 1800 heißt, dazu „vorgetrieben werden" muß. Er ist der Standpunkt der „Metaphysik" oder der „Wissenschaft", die das Leben als solches, d. h. den „Zusammenhang des Unendlichen mit dem Endlichen" (N 304) oder das „Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen" {N 146) betrachtet.

über die Veränderung des Standpunktes Hegels werden „metaphysische-theologische und methodologische Überlegungen" (Düsing [wie Anm. 3], 71) angestellt. Dabei geht es, meine ich, um die Legitimation der Reflexion im Leben aus Anlaß der Kritik der schönen Seele. Vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg 1973. 119, 123, 140 ff; Harris (s. o. Anm. 9), 381 f; W. Göbel: Reflektierende und absolute Vernunft. Bonn 1984. 140.

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Wenn das vom religiösen Menschen „reflektierte Leben" als dessen Reflexion über sich in der Metaphysik erfaßt wird, müßte sich der Ausdruck der Sache ändern. Im Terminus bzw. Begriff „reflektiertes Leben" werden der Reflektierende (Mensch) und das reflektierte „Seiende" als getrennt vorausgesetzt, aber bei der Reflexion des Lebens (Seins) über sich ist es zu erkennen, daß es in demselben Subjekt (dem Leben) die zweifache Funktion, nämlich die des Seins und die der Selbsterkenntnis gibt. Daher wird eine neue Grundlage und ein ihr entsprechender begrifflicher Ausdruck erforderlich, der eine Tatsache bezeichnen könne, die zugleich das Sein und die Selbsterkenntnis ist.

III. In Jena findet Hegel einen Schlüssel zur Lösung dieser Fragen in der Metaphysik SCHELLINGS, vor allem in ihrem Prinzip der „intellektuellen Anschauung". Schon bei FICHTE war die intellektuelle Anschauung als „Anschauen seiner [= des Ichs] selbst im Vollziehen des Aktes"i^ nach meiner Meinung das, was zugleich das Prinzip des Seins und das der Selbsterkenntnis ausmacht, insofern das Ich im Akt ist. Die intellektuelle Anschauung in SCHELLINGS Identitätsphilosophie leistet diese Synthese auf die Art, daß vom „Ich", dem „Subjektiven" in FICHTES intellektueller Anschauung abstrahiert wird. Damit wird sie zum Gesichtspunkt des Absoluten geändert, die die „absolute Identität" des Subjekts und des Objekts oder die „Vernunft" heißt (SS 10—11, 256). Die absolute Identität „ist" als Eins, Alles, Ewiges und Unendliches, während sie zugleich in der Eorm der „Selbsterkenntnis" oder der „absoluten Erkenntnis" ist (SS 12—18, 263 ff). In der intellektuellen Anschauung wird „das absolute Erkennen zugleich als das Reale, . . . das Absolute selbst, . . . erkannt" (SS 266, vgl. SS 152). Hegel findet in dieser Bestimmung der intellektuellen Anschauung, meine ich, den Grund und den adäquaten Ausdruck für die Unterschiedenheit des Seins und der Selbsterkenntnis vom Leben (Sein), und daraus übernimmt er den traditionellen metaphysischen Ansatz, „Gott . . . als das einzige principium essendi und cognoscendi zu stellen" (GW4. 179). Insofern die intellektuelle Anschauung vom „Ich", dem „Subjektiven" abstrahiert, kann zugleich auch die letzte Beschränkung beseitigt werden, die im Schicksal der Gemeinde übrigblieb. Wenigstens könnte die Fichte: Erste und zweite Einleitung in die W. L. Hrsg. v. Medicus. 49.

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theoretische Vorbereitung zur Überwindung der Entgegensetzungen in der „Reflexionskultur" (GW4. 124) der „neuern Geschichte" der nordwestlichen Welt" (GW4. 126), z. B. der Entgegensetzung von Glauben und Vernunft, Kirche und Staat, von Ständen gegeneinander und gegen das Reich, oder des Cartesischen Dualismus usw., erreicht werden. Daß aber Hegel die Lösung seiner eigenen Fragen in SCHELLINGS Philosophie fand, bedeutet, daß er das Prinzip SCHELLINGS, es in der ihm eigentümlichen Weise modifizierend, aufnahm. Hier schon keimen die Unterschiede beider Gedanken.Sie sind in drei Punkten zu benennen, nämlich erstens in der negativen Seite der Philosophie, zweitens in deren positiver Seite und drittens in deren Verwirklichung. Zugleich mit dieser ScHELLiNGmodifikation ergeben sich die neuen Sinnverschiebungen des Seins und der Reflexion bei Hegel: die Ausbildung der dritten Stufe seines Seinsgedankens. Erstens, indem das reflektierte Leben als die intellektuelle Anschauung oder die Vernunft erfaßt wird, darf jene Herkunft von der Selbstnegation der Reflexion und dem Glauben in diesen Entstehungszusammenhang gebracht werden, und damit darf SCHELLINGS Begründung der Erkenntnis des Absoluten ergänzt werden. Bei SCHELLING besteht die Erkenntnis des Absoluten darin, daß das Absolute, d. h. die absolute Identität unter der Satzform, „A=A, [A ist A]", mithin der Differenz des Subjekts und des Prädikats (des Objekts) erfaßbar ist (SS 13, 16—18). Deswegen bedarf es keiner Begründung der Metaphysik von einem anderen Standpunkt als dem des Absoluten her, nämlich keines „Eingangs vor der Philosophie" (SS 257). Aber Hegel stellt die „die endlichen Formen der Reflexion" behandelnde „Logik" als die Einleitung in die „eigentliche Philosophie" oder „Metaphysik" vor dieser dar. Dort stellt er die Selbstaufhebung der Reflexion dar, wodurch der Mensch sich zum Absoluten erheben kann. Zwar „ist" das Absolute „schon vorhanden" (GW4.15). Die Reflexion als „das Vermögen des Seins und der Beschränkung" (GW4.16) versucht, dieses Absolute mit einer Bestimmung, einem Satz auszudrücken. Aber da das von der Reflexion gesetzte „Sein" sich dem „Nichtsein" (ebd.) entgegensetzt, erschöpft es nicht das Sein des Absoluten. So reiht die Reflexion die Gegensätze aneinander, gerät in einen unendlichen Progreß. Indem hier die Antinomie zwischen dem Satz und dem Gegensatz auftritt und beide einander negieren, soll der Standpunkt der Reflexion eigentlich untergehen. Hegel spielt hier auf In Wirklichkeit haben beide Einfluß aufeinander, aber hier nehme ich nur die Seite der Unterschiede beider heraus.

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„das ursprüngliche absolute Sein" (GW 4. 76) zwar negativ an, wie bei dem oben erwähnten Widerspruch der Reflexion: Insofern das ursprüngliche absolute Sein in solcher Weise als „Nichts" (GW4. 16) für die Reflexion erscheint, ist „das Erste der Philosophie", „das absolute Nichts zu erkennen" (GW4. 398). Da die Reflexion oder der Verstand selbst dazu, wie die oben erwähnten Juden, „nichts" (GW4. 333) ist, bedeutet „das absolute Nichts" sozusagen „das Nichts des Nichts". Aber im Prozeß der Selbstaufhebung der Reflexion wird sie zugleich „insgeheim von der Vernunft getrieben, zu einer Identität zu gelangen" (17b). Daher gibt es hier nicht nur den Standpunkt der Reflexion, sondern auch „die geheime Wirksamkeit der Vernunft" (GW4. 17). Das wird auf die Einsicht der Frankfurter Zeit zurückgeführt, daß das Leben als das Schicksal die Reflexion zu ihrer Selbstaufhebung treibe. Dieser Kreislauf der Reflexion und der Vernunft, daß das Aufsteigen der Reflexion zur Vernunft schon von ihrem Ziel, d. h. der Vernunft geleitet und unterstützt wird, ist jedenfalls m. E. dem der Reflexion und der ursprünglichen Handlung des Ichs bei FICHTE strukturell ähnlich. In der Tat charakterisiert Hegel seine Logik in anderer Terminologie als „Idealismus" in einem Sinn, der fast dem „theoretischen Idealismus" FICHTES gleichbedeutend ist.^^ Aber der Standpunkt Hegels kann andererseits nicht als die bloße Ersetzung der „ursprünglichen Handlung" bei FICHTE durch „Vernunft" beschrieben werden. Denn bei Hegel hat die Antinomie der Reflexion eine positive Bedeutung, bei FICHTE aber bleibt die Antinomie bloße Antinomie. Obwohl die Antinomie der Reflexion die positive Bedeutung bei Hegel hat, so daß sie auf die Vernunft hindeuten kann, kann die Reflexion ihre eigene Intention nicht unmittelbar begreifen, sondern für sie bleibt nur ihre Selbstnegation unabschließbar. Hier wird die Synthese der Antinomie der Reflexion und der Anschauung der absoluten Identität postuliert, wie vorher der Glauben zur Selbstnegation der Reflexion ergänzt wurde. In dieser Synthesis der Reflexion und der Anschauung besteht „die intellektuelle Anschauung" (GW4. 76), die auch „die transzendentale Anschauung", „das transzendentale Wissen" (GW4. 27) oder „das philosophische Wissen" (GW4. 28) heißt. Dazu vgl. J. Watambe: Zusammenhang der Gedanken zur Zeit des deutschen Idealismus und des Gedankens von Heidegger über die Frage nach dem Nichts. In: Tetsugaku (Philosophie). Bd 30. Tokio 1980. 9 f, 12 f. 19 Vgl. M. Baum: Zur Methode der Logik und Metaphysik beim jungen Hegel. In: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit ScheUing. Bonn 1980. (HegelStudien. Beiheft 20.) 138. Vgl. auch die Andeutung Schellings in Fichte-Schelling: Briefwechsel. 134.

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In dieser intellektuellen Anschauung wird die absolute Identität, oder „das ursprüngliche absolute Sein" (GW4.76) wiederhergestellt, das hinter dem endlichen „Sein" durch die Reflexion verborgen war. Hier wird das endliche Sein die Erscheinung des unendlichen Absoluten. In diesem Sinn ist die wahre Synthesis des Endlichen und des Unendlichen zu erkennen. Nun lautet die 6. Habilitationsthese Hegels: „Idea est synthesis infiniti et finiti et philosophia omnis est in ideis." Und nach dem Vorlesungsfragment aus dem Jahre 1801/02 wird „die Idee des absoluten Wesens" in der Logik und der Metaphysik behandelt. Daraus wird verständlich, daß das in der intellektuellen Anschauung wiederhergestellte Sein des Absoluten die Idee d. h. etwas der platonischen Ideenwelt ist.^o Dementsprechend „ahmt" die Reflexion oder der Verstand die Synthesis des Endlichen und des Unendlichen in der Vernunft als solcher Idee „nach" (GW4.13), die als „die Entzweiung in Sein und Nicht-Sein, in Begriff und Sein, in Endlichkeit und Unendlichkeit" (GW4. 15) für Reflexion erscheint. In diesem Sinn ist das von der Reflexion gesetzte endliche Sein, das das „Sein" als eine Kategorie der Logik sein könnte^i, der „Reflex" (18b) oder der „Schein" (GW4.13) des Seins als der Idee. An das „Urbild" (18b) dieses Scheins des Seins wird von der intellektuellen Anschauung erinnert. Daher würde die dritte Stufe des Seinsgedankens für jetzt wie folgt charakterisiert werden: An Sein wird als Idee (absolutes Nichts) von der intellektuellen Anschauung erinnert, die durch die Selbstnegation der Reflexion und die Anschauung hindurchgegangen ist. Zweitens gibt es auch in der „eigentlichen Philosophie", die dieses Sein als Idee positiv entwickelt, einen Unterschied zwischen Hegels und ScHELLiNGS Ansicht über das Verhältnis der intellektuellen Anschauung und der Reflexion. Insofern die Reflexion bei SCHELLING die Erkenntnis ist, die „nur von Gegensätzen ausgeht und auf Gegensätzen beruht" (SS 9), kann sie die „absolute Einheit des Endlichen und Unendlichen" (SS 242) nicht erfassen, die die intellektuelle Anschauung oder die Vernunft nur begreifen kann. „Diese Einheit [= die absolute Einheit des Endlichen und Unendlichen] . . . ist ... Evidenz nicht für den reflektierenden Verstand, sondern für die anschauende Vernunft" (ebd.) Auch in diesem Standpunkt der intellektuellen Anschauung ist zwar der Un20 Zum Verhältnis des Platonismus zum Seinsbegriff vgl. S. Rosen: Self-Conscious and SelfKnowledge in Plato and Hegel. In: Hegel-Studien. 9 (1974), 120 f; D. Henrich: Selbstverhältnisse. 149—52; H. Kato: Hintergrund des Logikgedankens Hegels. In: Forschung der Philosophie Hegels. Hrsg, von H. Nakano. Tokio 1986. 21, 24. 21 Shikaya (Anm. 3), 143 f.

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terschied vom „Subjekt und Objekt" (SS 19) zu erkennen, worin das absolute Erkennen (wie oben dargelegt) besteht. Aber dieser Unterschied des Subjekts und Objekts ist nicht der reelle Gegensatz, sondern es sind „bloß ideelle Gegensätze" (SS 277) in der Idee, die wesentlich Eins sind. In diesem Sinn gibt es keinen Raum der Wirksamkeit der Reflexion in der „philosophischen Construktion" (SS 287) SCHELLINGS. Auch bei Hegel ist die Reflexion noch das Vermögen der Trennung und der Beschränkung. Aber sie wird von ihm auch als „Instrument des Philosophierens" (GW4. 16) erkannt. Dazu bedeutet die philosophische Konstruktion bei ihm, „das Absolute im Bewußtsein zu konstruieren" (GW4. 11; vgl. 9, 75 f). Es ist einerseits denkbar, daß diese Notwendigkeit der Reflexion oder des Bewußtseins für die Philosophie die der Selbstnegation der Reflexion in der Logik betrifft (s. o.). Andererseits wird die Notwendigkeit des Moments der Reflexion in der eigentlichen Philosophie auch, meine ich, anerkannt, indem die intellektuelle Anschauung eben als die Synthesis der Reflexion und der Anschauung erfaßt wird. Insofern die intellektuelle Anschauung die bloße Anschauung der absoluten Identität bleibt, und der Artikulation ermangelt, ist sie nach Hegel nur „das Philosophieren, das sich nicht zum System konstruiert" (GW4. 30).22 Dann soll die intellektuelle Anschauung der „Gegenstand der Reflexion" (GW4. 77) werden. Das bedeutet, daß der Unterschied des Subjekts und Objekts in der absoluten Identität nicht als „ideelle Gegensätze" wie bei SCHELLING erfaßt werden, sondern vom „Reflektieren" als die „reelle Entgegensetzung" (GW 4. 65) gesetzt. Trotzdem gilt dieses „Übergewicht" (GW4. 76) der Reflexion oder des Bewußtseins in der philosophischen „Spekulation" ohnehin als „ein Außerwesentliches" (ebd.). Denn die Entgegensetzung des Subjekts (Geistes) und Objekts (Natur) durch die Reflexion wird durch die Darstellung des Systems (Naturphilosophie, dann Geistesphilosophie und letztlich Kunst, Religion und Spekulation) wieder aufgehoben. Solche Entgegensetzung in der intellektuellen Anschauung und deren Aufhebung nennt Hegel „die spekulative Reflexion" (GW4. 77), „die philosophische Reflexion" (ebd.) oder „die absolute Reflexion" (2b). Daher erweitert sich die Bedeutung des Reflexionsbegriffs, nun von ihr als dem trennenden und beschränkenden Vermögen zu der es enthaltenden „spekulativen Reflexion", wie die Bedeutung des Seinsbegriffs sich vom Geschichtlichen zur es enthaltenden Idee verschiebt. Im Blick darauf soll die obige 22 Diese Kritik entspringt m. E. auch der oben erwähnten Kritik an der schönen Seele. Vgl. GW4. 119.

Sein und Reflexion

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provisorische These wie folgt verbessert werden: Das Sein als die Idee (das absolute Nichts), an der durch die Selbstnegation der Reflexion und die Anschauung erinnert wird, wird spekulativ reflektiert. Die Reflexion des Seins über sich, die als die Erfassung des „reflektierten Lebens" vom metaphysischen Standpunkt her am Ende der Frankfurter Zeit erfordert werden sollte, wird nun als solche spekulative Reflexion des Seins formuliert. Drittens ist der Unterschied hinsichtlich der Annahmen über die Verwirklichung der Philosophie zwischen Hegel und SCHELLING erkennbar. Wenn SCHELLING auch über die „Weltbeziehung" der „Philosophie" (SS 424) spricht, ist sie nur die Beziehung auf die „Religion", die „Moralität", oder die „Poesie" (ebd.). Bei Hegel ist die Philosophie als solche, als „eine Gestalt" des „Lebens"^^, an die Geschichte des „Weltgeistes" gebunden. Sie erscheint in den „Übergangsperioden" der Geschichte, um sich „von aller Beschränktheit" in der „alten sittlichen Form" zu „reinigen", den neuen Weltgeist in der innellen Welt zu bilden, und ihn in die äußere Welt zu verwirklichen (15b—16b). Weil die „vollkommene Bedeutung" der „Wissenschaft der Idee" (Logik und Metaphysik) „die ganze Philosophie und das Leben selbst" (2b) ist, muß die Philosophie „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen" finden, und als augenblickliche Aufgabe, „eine neue Religion" und „ein freies Volk" (die staatliche Einheit des Deutschlands) verwirklichen.^4 Mithin ist die Dimension des Geschichtlichen, der notwendigen Entwicklung des Lebens hier nicht restlos in die Ideenwelt aufgehoben, sondern auch in ihrer Realität aufbewahrt. Daher gründet die Metaphysik Hegels sich auf dieses Leben, besonders den religiösen und sozialen Zusammenhang des Selbst und der Welt. Wenn die spekulative Reflexion des Lebens (Seins) nun als dessen Gestalt an dieses Leben selbst gebunden ist, wird ein neuer Kreislauf der Philosophie (Vernunft) und des Lebens erkennbar, zusammen mit dem oben erwähnten der Reflexion und der Vernunft. Dieser zweifache Kreislauf bestimmt m. E. die Entwicklung und die Struktur des metaphysischen Gedankens Hegels weiter.25 23 Baum/Meist: Durch Philosophie leben lernen. In: Hegel-Studien. 12 (1977), 52, 65. 24 Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Bd 1. 59—60; Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg, von ]. Hoffmeister. 324 f. 25 Dieser Aufsatz entstand aus einem Vortrag auf dem Hegel-Kongreß in Stuttgart 1987, der die Überarbeitung meines in der Gesellschaft für Philosophie in Tokio gehaltenen Referats war. Die japaiüsche Fassung, die einige Veränderungen enthält, erschien in: Tetsugakuzasshi (Philosophisches Journal). Nr 774. Tokio 1987.

GEORG RÖMPP (BONN)

EIN SELBSTBEWUSSTSEIN FÜR EIN SELBSTBEWUSSTSEIN Bemerkungen zum Kapitel „Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" in Hegels Phänomenologie des Geistes

Daß ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein sein könne, erscheint zunächst paradox. Wenn das Wissen von sich selbst jenes ausgezeichnete Wissen darstellt, in dem Subjekt und Objekt absolut vereinigt sind, so kann es durch keine externe und unabhängige Gegenständlichkeit bestimmt sein. Sein Sein besteht deshalb nur in seinem Sich-Wissen und entzieht sich insofern jeder Fixierung. Als unbestimmtes Fürsichsein kann es folglich kein intersubjektiv gemeinsamer Referent sein.i Deshalb ist jene Paradoxie auf doppelte Weise zu verstehen. Zum einen kann das Selbstbewußtsein wegen seines beständigen Entstehens aus dem bloßen Wissen von sich selbst keinen Bestand darstellen, der von anderem Bewußtsein gewußt werden könnte. Zum anderen kann ein Selbstbewußtsein als solches schon per definitionem nichts außer sich selbst wissen. Jene absolute Vereinigung von Subjekt und Objekt im Wissen von sich selbst sollte im idealistischen Denkzusammenhang aber die Möglichkeit bieten, den vorausgesetzten Begriff des Wissens als Übereinstimmung eines Objektiven mit einem Subjektiven deshalb als möglich zu erweisen, weil im absoluten Akt des Selbstbewußtseins Sein und Vors teilen eins sind und damit, indem identisch geurteilt wird, im gleichen Akt synthetisch geurteilt wird. Deshalb ist jene Paradoxie aufs engste mit der Begründungskapazität des Wissens von sich selbst verbunden, um derentwillen die Selbstbewußtseinsrelation zur Grundlage idealistischen Argumentierens wurde. Nun wird in der Rede vom Selbstbewußtsein, das für ein Selbstbewußtsein ist, ganz selbstverständlich Gebrauch ge' Wir könnten diese Struktur der Selbstbewußtseinsrelation als Diskussionsstand des Frühidealismus bei Fichte und Schelling ansehen. Daß die problematische Potenz dieses unbestimmten Wissens von sich selbst auch dort bereits bewußt war, zeigt insbesondere SchelUngs System des transzendentalen Idealismus. Ich habe an anderem Ort zu zeigen versucht, daß jene Problematik von Schelling geradezu als Konstituens der Entwicklung des Systems von 1800 eingesetzt wurde. Vgl. G. Römpp: Sich-Wissen als Argument. Zum Problem der Theoretizität des Selbstbewußtseins in Schellings ,System des transzendentalen Idealismus'; erscheint in: Kant-Studien 1988.

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macht von der Struktur des ausgezeichneten Wissens des Sich-Wissens. Wer so redet, wird offensichtlich erheblichen Argumentationsaufwand investieren müssen, um jenen Begriff konsistent verwenden zu können. Aus der Konstellation des Problems läßt sich auch bereits die Bahn angeben, der ein solches Argumentieren zu folgen haben wird. Wenn gerade der Titel Selbstbewußtsein für etwas in Anspruch genommen wird, das für ein anderes sein können soll, so läßt sich eine solche Relation nicht anders rechtfertigen denn aus dem Selbstbewußtsein und seiner Struktur selbst. Ein solches Argumentationsprojekt wird also nur in selbstbewußtseinstheoretischen Erörterungen zeigen können, daß es möglich und sinnvoll ist zu sagen: „Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein". Hegel formuliert diese offensichtlich problematische Behauptung in Kapitel IV der Phänomenologie des Geistes, das überschrieben ist mit „Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst". Jener Satz steht deshalb im Zusammenhang der Diskussion des Resultats der vorangegangenen dialektischen Argumentationen. Darin wurde ein Wissen entwickelt, das formal „eine Gewißheit, welche ihrer Wahrheit gleich ist" darstellt. Wegen dieser Form ist es identisch mit seinem Inhalt, „denn die Gewißheit ist sich selbst ihr Gegenstand, und das Bewußtseyn ist sich selbst das Wahre" (103)2, anders formuliert: „Ich ist der Inhalt der Beziehung, und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein anderes, und greifft zugleich über diß andre über, das für es ebenso nur es selbst ist" (103). Offensichtlich mißt Hegel dieser Struktur des Wissens eine ausgezeichnete Bedeutung zu, durch die es sich von allen zuvor diskutierten Formen unterscheidet. Gerade mit dem jetzt erreichten Selbstbewußtsein nämlich sollen wir in „das einheimische Reich der Wahrheit" eingetreten sein (103). Betrachten wir diese Struktur nun isoliert für sich, so wird uns nur eine neue Formulierung der grundlegenden Einsicht FICHTES und SCHELLiNGS geboten, der zufolge Wissen seinem genuinen Sinn nach nur zu begründen ist, sofern eine Struktur als wirklich aufgewiesen werden kann, die Form und Inhalt des Wissens in Identität vereinigt und analytisch und synthetisch in einem ist. Diese Forderung ist mu im Ich erfüllt, das ist, indem es für sich ist, m. a. W.: das ist, indem es von sich weiß, und von sich weiß, indem es ist. Wenn dem so ist, so kann jedes andere Wissen seine Dignität nur aus seinem Bezug auf jene form- und inhaltsidentische Ichstruktur herleiten. 2 Wir zitieren mit bloßer Seitenzahl im Text G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980. (Gesammelte Werke. Bd 9.)

Ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein

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Nun unterscheidet sich die Hegelsche Konzeption des Selbstbewußtseins als Basis alles Wissens von der idealistischen zunächst durch ihren Resultatcharakter. Anders als im idealistischen Systemaufbau wird die Struktur des Ich nicht eingeführt aus Überlegungen, die die notwendige Form eines wissensbegründenden Wissens als solche betreffen, sondern erscheint als Ergebnis einer argumentativen Entwicklung, die ihren Anfang in einer Form des Wissens nahm, die Hegel gerade wegen ihrer Einfachheit geeignet schien, als allgemein akzeptable Ausgangsbasis einer Diskussion des Wissensproblems zu dienen.^ Zum anderen nimmt Hegel das Selbstbewußtsein auch zum Ausgang einer Entwicklung, die sich auf genuine Weise von der idealistischen Systemkonstruktion unterscheidet. Dies wird bereits in den ersten Schritten deutlich, mit denen das Selbstverhältnis des Ich sich aus sich entwickelt. Die interne Bewegung des wissensbegründenden Wissens führt nicht zu einer systemischen Deduktion des Nicht-Ich und seiner kategorialen Verfaßtheit, sondern zu einer Theorie der Interpersonalität, die zum einen für sich Interesse beanspruchen kann, zum anderen von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" sein wird. Wir werden diese Theorie im folgenden durch eine eingehende Interpretation der Grundlagen und des Aufbaus der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft untersuchen.^

3 Deshalb geschieht am Anfang des Selbstbewußtseinskapitels keine Aufhebung des Unterschiedes zwischen Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein, die „jede sinnvolle Rede sowohl von einem Selbstbewußtsein als auch von einem Gegenstandsbewußtsein unmöglich macht" (W. Becker: Idealistische und materialistische Dialektik. Das Verhältnis von „Herrschaft und Knechtschaft" bei Hegel und Marx. Stuttgart 1970. 57). Hegels Anspruch lautet vielmehr, das letztere durch seine immanente argumentative Entwicklung in das erste übergeführt zu haben, das damit zum Ergebnis geworden ist und somit die Gegenständlichkeit als aufgehobene in sich enthält. Gerade deshalb ist die Differenz von Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein nun in das erstere integriert. Wir können diese Integration somit sowohl als Resultat als auch als Anfang der weiteren Entwicklung auffassen. Vgl. dazu H. G. Gadamer: Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins. In: Materialien zu Hegels .Phänomenologie des Geistes'. Hrsg, von H. F. Fulda und D. Henrich. Frankfurt/Main 1927. 217—242, hier 218 ff. * Wir beschränken uns ausschließlich auf die Phänomenologie des Geistes. Zum Zusammenhang der phänomenologischen und logischen Entwicklung vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg, München 1973. 263 ff, bes. 266 ff. Darüber hinaus würde es den gegebenen Rahmen sprengen, Hegels Ansatz in den Zusammenhang der idealistischen Diskussionen um eine Theorie der Interpersonalität zu stellen, obwohl es sehr reizvoll wäre, an dieser Stelle die Parallele etwa zu SchelUngs Deduktion der Interpersonalität zu ziehen, die mit der absoluten Abstraktion als dem Ende der theoretischen Philosophie einsetzt und das darin liegende Selbstbestimmen als zugleich erklärbare und unerklärbare Handlung auf einen vermittelnden Begriff bringen soll. Schellings Lösung lautet schließlich.

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1.

''on der idealistischen Systemidee her gedacht scheint es zunächst merkwürdig, daß sich die Entwicklung des Selbstverhältnisses in Begriffen bewegt, die die Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins als Herrschaft und Knechtschaft thematisieren. Um die Folgerichtigkeit dieser Diskussion zu verstehen, ist zunächst an den Resultatcharakter der Ich-Struktur zu erinnern. Weil das Selbstbewußtsein — anders als im idealistischen Denkzusammenhang — bereits das Ergebnis primitiverer Wissensformen ist, aus denen es durch deren eigene Dialektik entwickelt wurde, sind die vorangegangenen Stufen in ihm aufbewahrt. Indem das Selbstbewußtsein nur als solches Resultat seinen Charakter und seine Begründung als Struktur wahren und gewissen Wissens erhält, sind ihm keine dem Argumentationsgang der Phänomenologie des Geistes externen Momente zuzuschreiben. Insofern ist das Selbstbewußtsein nichts anderes als seine Entwicklung. Deshalb ist auch die charakteristische Grundstruktur des vorangegangenen Wissens, nämlich „Wissen von einem Andern" (103) zu sein, als Moment aufbewahrt.^ Indem das Selbstbewußtsein nun „Reflexion" aus jenem Wissen ist, ist es „Rückkehr aus dem Andersseyn" und damit „Bewegung" (104). Mit dieser Bewegungsstruktur formuliert Hegel den Doppelcharakter von Selbstbewußtsein: zum einen ist es Bewußtsein und als solches ist ihm sein eigenes Anderssein ein Sein; zum anderen ist auch die Einheit seiner selbst mit diesem Unterschiede für es. Als Selbstbewußtsein muß es nun in jedem dieser Momente die ganze Struktur beschlossen haben. Eben deshalb erfüllt die entwickelte Struktur des Selbstbewußtseins den Begriff der Bewegung in seiner Paradoxalität. Wie die Bewegung nur anfangen kann, wenn sie schon angefangen hat, so kann Selbstbewußtsein nur werden, indem es immer schon ist; es ist aber nur, indem es wird. Diesen paradoxalen Charakter der Bewegungsstruktur des Selbstbewußtseins drückt Hegel positiv mit dem Begriff „Begierde" aus (104).

das deduzierte Verhältnis der Intelligenz außer der Intelligenz als eines von Forderung und Sollen zu bestimmen. Mit diesem Begriff versucht er, das ,Verhältnis' zweier Freiheiten zueinander zu formulieren. Vgl. dazu näher G. Römpp: Forderung und Sollen. Zum Problem der Interpersonalität im Kontext von Sozialität und Individualität in Schellings .System des transzendentalen Idealismus' In; Tijdschrift voor Filosofie. 49 (1987), 646—675. 5 Vgl. zu dieser Charakteristik des Hegelschen Selbstbewußtseinsbegriffes auch E. Fink: Flegel. Phänomenologische Interpretationen der „Phänomenologie des Geistes". Hrsg, von J. Holl, Frankfurt/Main 1977. 156 ff, sowie C. A. Scheier: Analytischer Kommentar zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Freiburg, München 1980. 99 ff.

Ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein

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„Begierde" in diesem strukturellen Sinn erscheint als geeigneter Terminus, weil damit sowohl die interne Andersheit als auch die Identität des Bewußtseins mit sich in eins gefaßt sind. Insofern können wir in dem Begriff der „Begierde" bereits eine Form der grundlegenden Hegelschen Denkfigur der Identität von Identität und Nicht-Identität sehen. Im Gegensatz zu diesem statischen Begriff drückt „Begierde" jedoch den dynamischen Charakter des Selbstverhältnisses aus, der sich aus dessen Entwicklung ergeben hat. Mit dem Strukturbegriff der „Begierde" ist bereits ein erster Schritt in die Explikation der Hegelschen Interpersonalitätstheorie getan, wie sie im Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft" entwickelt wird. Insofern das Selbstbewußtsein nämlich als solches Resultat einer internen argumentativen Entwicklung aus der einfachsten Form des Wissens ist, ist auch seine interne Andersheit nicht bestimmungslos vorgegeben, sondern selbst Resultat und somit bestimmt. Diese Bestimmtheit charakterisiert deshalb auch die Struktur der „Begierde" näher. Weil das Selbstbewußtsein Reflexion ist aus dem, was zuvor dem Bewußtsein als Wahrheit galt (vgl. 104), deshalb ist auch das ihm interne „Negative" „in sich zurückgegangen" und damit eine „Reflexion in sich" (104). Es mutet zunächst überraschend an, daß Hegel den so entwickelten Gegenstand des Selbstbewußtseins, der als dessen Negatives das interne Andere ist, als „Leben" bezeichnet und den Gegenstand der unmittelbaren Begierde als ein „Lebendiges" (104). Um die Einführung dieser Begriffe in die Selbstbewußtseinsstruktur zu verstehen, müssen wir in der Entwicklung einen Schritt zurücktreten. Hegel bezeichnet das allgemeine Resultat der vorangegangenen Dialektik von „Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnlicher Welt" als ,,das Unterscheiden des Nichtzuunterscheidenden, oder die Einheit des Unterschiednen" (105). Wir können die Argumentation, die Hegel zu diesem Resultat führte, in unserem Zusammenhang nicht im einzelnen rekonstruieren. Es dürfte aber deutlich sein, daß jene Struktur ein „Abstoßen von sich selbst" (105) in sich birgt. Indem darin eine Entzweiung liegt, die sich von sich selbst abstößt, differenziert sich diese Struktur in eine Einheit, ßir welche eben diese Einheit ist, und in diese Einheit selbst, die nur dadurch von der ersteren unterschieden ist, daß sie nicht zugleich für sich selbst ist (105). Diese letztere Einheit bezeichnet Hegel nun als „Leben". Daraus ergibt sich für die Charakterisierung dieses Begriffes zweierlei. Zunächst können wir paradox formulieren: „Leben" ist jene Seite des Selbstbewußtseins, auf der es nicht für sich ist. Da Selbstbewußtsein aber sich von sich unterscheidet und darin eine rein interne Andersheit gewinnt, stellt „Leben" in dieser

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Charakterisierung gerade jenes Andere dar, von dem her das Selbstbewußtsein Bewußtsein sein kann. Leben als „unendliche Einheit der Unterschiede" (105) ohne Fürsichsein ist somit integratives Moment der Selbstbewußtseinsstruktur als solcher. Wenn nun das Selbstbewußtsein als „Begierde" die „Erfahrung" der Selbständigkeit seines internen Gegenstandes machen muß (105), so stellt sich dies der bisherigen Entwicklung zufolge als Erfahrung des „Lebens" dar. Es ist jedoch offensichtlich, daß der Begriff des „Lebens" bisher undeutlich geblieben ist. Nichtsdestoweniger beansprucht Hegel, diesen Begriff für die in Gang befindliche Diskussion aus seiner Entwicklung hinreichend bezeichnet zu haben (105). Diese Bezeichnung ist mit der „unendlichen Einheit der Unterschiede", die nicht für sich ist, zunächst erschöpft. Hegel versucht jedoch im Anschluß daran, den Kreis der Momente dieser Bestimmung näher zu explizieren. Wir werden daraus entnehmen können, aufgrund welcher Inhalte Hegel gerade den Begriff des Lebens als geeignet ansieht, den internen Gegenstand des Selbstbewußtseins zu charakterisieren. Die Bestimmung des „Lebens", wie sie sich aus der Entwicklung ergeben hat, wird in folgendem Satz zusammengefaßt: „Dieser ganze Kreislauff macht das Leben aus, weder das, was zuerst ausgesprochen wird, die unmittelbare Continuität und Gediegenheit seines Wesens, noch die bestehende Gestalt und das für sich seyende Discrete, noch der reine Proceß derselben, noch auch das einfache zusammenfassen dieser Momente, sondern das sich entwikkelnde, und seine Entwicklung auflösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze." (107) Nach unseren bisherigen Interpretationen müßten wir darin die Struktur des Selbstbewußtseins wiederfinden können, der nur an der Stelle ihres internen Gegenstandes das Fürsichsein fehlt. Diese Struktur war zuvor in ihrer Dynamik als „Begierde" bezeichnet worden. Als „Begierde" ist das Selbstbewußtsein stets in einer prekären Situation, in der es gerade durch die Tendenz zu seiner eigenen Auflösung im Zusammenfallen seiner selbst mit seiner internen Gegenständlichkeit gekennzeichnet ist. Deshalb muß ein Begriff gefunden werden, der es als mit und trotz dieser Tendenz sich erhaltend denken läßt. Darin muß die „Begierde" in ihrem Verschwinden in Erfüllung stets neu entstehen. Als dieses Verschwinden und Entstehen in Permanenz stellt sich das „Leben" nun als begriffliche Fortentwicklung jener Kennzeichnung der Struktur von Selbstbewußtsein dar, die Hegel unter dem Titel „Begierde" eingeführt hatte. Nun war der Begriff des „Lebens" zunächst verwendet worden als Bezeichnung für den entwickelten internen Gegenstand des Selbstbe-

Ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein

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wußtseins.^ Deshalb bestätigt sich unsere Interpretation nur dann, wenn dieser Begriff ebenso die andere Seite des Selbstbewußtseins kennzeichnet. In der Tat nennt Hegel das Ich als Subjekt, ßr das sein eigener interner Gegenstand ist, „Diß andere Leben" (107).^ Von da her erscheint das „Leben" als interner Gegenstand nun als „Gattung". Folgerichtig ist damit aber das Selbstbewußtsein als Fürsichsein selbst als „Gattung" bezeichnet und Hegel kann die nun entwickelte Struktur des Selbstbewußtseins zusammenfassen als „Diß andere Leben . . ., für welches die Gattung als solche und welches für sich selbst Gattung ist" (107). Ein solches Selbstverständnis des Bewußtseins ist aber bisher nur „für uns oder an sich" entwickelt (104). Insofern „Gegenstand" unserer Reflexionen aber das Selbstbewußtsein ist und wir eben damit in das „einheimische Reich der Wahrheit" (103) eingetreten sind, so kann in den entwickelten Strukturbestimmungen des Selbstbewußtseins nur dann Wahrheit liegen, wenn gezeigt werden kann, daß und wie in seiner rein internen Entwicklung ihm die Begriffe von „Leben" und „Gattung" zu seinen immanenten Bestimmungen werden.® Deshalb muß dem Selbstbewußtsein

^ W. Becker (s. o. Anm. 3) kritisiert in diesem Zusammenhang, daß das objektive Moment im Selbstbewußtseinsgegensatz als Gegenstandsbewußtsein bestimmt werde, was zur Konsequenz habe, „daß das Selbstbewußtsein zu einem Moment im Gegensatzverhältnis mit dem Gegenstandsbewußtsem herabgesetzt wird, welches seinerseits in seiner die Materie und jede äußere Gegenständlichkeit animistisch ,intellektuierenden' Gestalt als ,Leben' auftritt" (60). U. E. handelt es sich dagegen nur um eine neue, entwickelte Formulierung der internen Gegenständlichkeit eines Bewußtseins von sich selbst. Deshalb kann es auch nicht Ziel der Argumentation sein, das Ich aus seiner Grundlage, der realen Natur, zu entwickeln, wie W. Janke interpretiert (Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx. Berlin, New York 1977. 305). ^ Diese „Strukturgleichheit der Lebensbewegung des Lebendigen mit dem Selbstbewußtsein" bedeutet umgekehrt, daß das Sich-Verhalten des Lebendigen sich nur denken läßt vom Ich her, das seiner selbst bewußt ist; vgl. H.-G. Gadamer: Hegels Dialektik (wie Anm. 3). 222. ® Nur aufgrund dieser argumentativen Grundstruktur der ,Phänomenologie des Geistes' als einer ,Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins' kommt es auch im weiteren Verlauf zur Einführung des Selbstbewußtseins als empirisches Ich: wenn das Selbstbewußtsein nur sich selbst bewußt haben kann in der Erfahrung eines anderen Selbstbewußtseins, so ist dies deshalb — und nur deshalb — empirisch verstanden. Auch damit werden also keine externen Bestimmungen eingeführt. Insofern scheint uns W. Beckers Kritik an einer „Identifizierung" von Selbstbewußtsein und empirischem Ich nicht gerechtfertigt (vgl. Becker [Anm. 3]. 69 und 78). Auch gibt es in diesem Sinne keinen „argumentativen Sprung" zur Einführung empirischer Ich, wie K. Gloy befürchtet: Bemerkungen zum Kapitel ,Herrschaß und Knechtschaß' in Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 39 (1985), 187—213, hier 201. Deshalb unterscheidet sich die Hegelsche Einführung eines zu erfahrenden Selbstbewußtseins durch den argumentativen Zusammenhang grundlegend von Ansätzen im Linkshegelianismus, die Selbstbewußtseinsstruktur als ein Verhältnis zwischen sinnlich differenten Individuen zu denken. Vgl. dazu G. Römpp: Sensualismus und Altruismus.

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in seiner „Erfahrung" der „abstracte Gegenstand" reines Ich sich bereichern „und die Entfaltung erhalten, welche wir an dem Leben gesehen haben" (107). Indem es sich als „Begierde" versteht, ist es seiner selbst nur gewiß durch das Aufheben seines internen Gegenstandes als eines selbständigen Momentes, d. h. durch das Aufheben des selbständigen Lebens als seines internen Anderen (vgl. 107). Auf diese Weise aber hebt es sich selbst als Selbstbewußtsein in der Struktur der „Begierde" auf. Damit gerät es in eine widersprüchliche Situation, in der es sein bisheriges Selbstverständnis nicht beibehalten kann. Das Problem läßt sich kurz gefaßt so beschreiben: das Selbstbewußtsein in der Struktur der „Begierde" muß seinen internen Gegenstand so aufheben, daß es ihn damit gerade nicht aufhebt. Gerade durch die negative Beziehung darf und kann es seinen Gegenstand nicht aufheben; mit Hegels Worten: „es erzeugt ihn darum vielmehr wieder, so wie die Begierde" (107). Damit zeigt sich aber, daß das Selbstbewußtsein, gerade indem es sich als „Begierde" versteht, zu einem gewandelten Selbstverständnis kommen muß, das nach einem neuen Begriff seines internen Gegenstandes verlangt.

2.

Mit der jetzt gegebenen widersprüchlichen Situation nähern wir uns einem entscheidenden Schritt auf dem Weg unserer Interpretationen, mit dem wir unser eigentliches Thema erreichen. Für das entwickelte Problem einer Aufhebung des internen Gegenstandes, die dadurch Aufhebung ist, daß sie gerade als solche den Gegenstand nicht aufhebt, findet Hegel nämlich eine bemerkenswerte Lösung. Die Situation, zu der die Selbstbewußtseinsstruktur sich entwickelt hat, ist nur denkbar, wenn der Gegenstand selbst die Negation an sich vollzieht und sie vollziehen muß, weil er genau durch diese Negation charakterisiert ist: „er ist an sich das negative, und muß für das andre seyn, was er ist" (108). Eine solche selbständige Negation kann aber nur als Bewußtsein gedacht werden. Daß das Bewußtsein aufgrund seiner eigenen Entwicklung seine Wahrheit im Selbstbewußtsein hat, ist bereits als Resultat der vorangegangenen Erörterungen verfügbar und kann deshalb hier aufgenommen werden. Desweiteren ist das Selbstbewußtsein auf dem jetzt erreichten Zum Zusammenhang der beiden Grundmotive Feuerbachschen Denkens. In: Philosophisches Jahrbuch. 93 (1986), 326-339.

Ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein

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Stand als Gattung charakterisiert, „an der die Negation als absolute ist" (108). Deshalb kann der jetzt gewonnene Gegenstand als lebendiges Selbstbewußtsein (108) bezeichnet werden. Mit dem Selbstbewußtsein als Gegenstand ist folglich jene Situation möglich, die durch die Entwicklung der Selbstbewußtseinsstruktur gefordert war: „Es ist ein Gegenstand für das Bewußtseyn, welcher an sich selbst sein Andersseyn oder den Unterschied als einen nichtigen setzt, und darin selbständig ist." (108) Das Ergebnis der durchgeführten Entwicklung der internen Gegenständlichkeit eines Selbstbewußtseins lautet also nun: „Das Selbstbewußtseyn erreicht seine Befriedigung nur in einem andern Selbstbewußtseyn." (108) Es ist just dieses Ergebnis, das Hegel in dem berühmten und lapidaren Satz zusammenfaßt: „Es ist ein Selbstbeioußtseyn ßr ein Selbstbewußtseyn." (108) Darin findet die Struktur jenes Selbstverhältnisses seine — vorläufige — Aufklärung, das als Selbstbewußtsein Resultat der vorangehenden Dialektik des Bewußtseins ist und selbst Grundlage des Fortgangs zu Vernunft, Geist^, Religion und absolutem Wissen sein wird. Wir können diese Aufklärung gemäß unseren Interpretationen so zusammenfassen. Jener interne Gegenstand, in dem das Bewußtsein sich als sich selbst wissen und somit Selbstbewußtsein sein kann, muß in der Negativität seiner selbst ebenso selbständig sein. Nur in einem solchen Verhältnis kann es das Selbstbewußtsein geben, „denn erst hierin wird für es die Einheit seiner selbst in seinem Andersseyn" (108). Die Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" stellt deshalb die vorläufige Lösung Hegels für das Grundproblem jenes Bewußtseinsverhältnisses zu sich selbst dar, das Ausgang idealistischen Philosophierens war: das Selbst, in dem das Bewußtsein seiner bewußt sein kann, ist in diesem Ergebnis ebenso Ich wie Gegenstand (vgl. 108).Damit hat sich der inter* Hegel erklärt an dieser Stelle mit der Struktur , Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein' den Begriff des Geistes als bereits für uns vorhanden. Deshalb wird der Fortgang in einer Entwicklung liegen, die diese Struktur zu ihrem besseren Selbstverständnis bringt. Wenn der Geist als „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist" (108) aber in seinem Begriff die jetzt entwickelte Struktur von Selbstbewußtsein darstellt, so gewinnt unsere Interpretation auch von da her ihre Legitimation gegen andere Verstehensmöglichkeiten: mit dem Ausdruck ,Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein' muß eine Struktur begriffen sein, die gerade als Entwicklung des Selbstbewußtseins in seiner Struktur doch zu einem Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbstbewußtsein führt. Deshalb ist die Verdoppelung des Selbstbewußtseins gerade nicht Resultat des methodologischen Prinzips der Dialektik, „die erkaimte Mangelhaftigkeit in ein Positivum zu verkehren", wie W. Becker (oben Anm. 3) interpretiert (67). Mit ihr wird gerade der Versuch gemacht, die als Grundlage alles Wissens entwickelte Selbstbewußtseinsrelation auf eine adäquate Formulierung zu bringen. Ein Selbstbewußtsein, das in der Bewegung eines inner-

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ne Gegenstand der Selbstbewußtseinsrelation in einem gewissen Sinne als externer erwiesen: als Negation an sich selbst ist er selbständig. Gerade als solcher ist er der adäquate interne Gegenstand, in dem das Selbstbewußtsein sich erfüllt. Es ist deshalb das Selbstbewußtsein selbst, das nun „außer sich gekommen" (109) ist.

3. Diese intem-exteme Gegenständlichkeit des Selbstbewußtseins ist nun der Entwicklungsstand, auf dem die Diskussion um „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft" einsetzt. Für das „Wesen" des Selbstbewußtseins, nämlich „unendlich, oder unmittelbar das Gegentheil der Bestimmtheit, in der es gesetzt ist, zu seyn", ist auf diesem Stand der Begriff einer „geistigen Einheit in ihrer Verdopplung" (109) gefunden. Das Thema „Herrschaft und Knechtschaft" wird nun erreicht auf dem Weg der Auseinanderlegung dieses Begriffs. Daraus ergibt sich bereits, daß die „Gestalten" von Herr und Knecht ihre Bedeutung nur erhalten aus der weitergehenden Entwicklung der Selbstbewußtseinsrelation in der Näherbestimmung der jetzt gefundenen Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein". Es ist diese Auseinanderlegung, die Hegel als „Bewegung des Anerkennens" (109) bezeichnet. Ehe Einheit in der „Verdopplung", die als charakteristisch für die Selbstbewußtseinsstruktur entwickelt wurde, führt in ihrer auseinandergelegten Gestalt entsprechend zur Formulierung: das Selbstbewußtsein „ist nur als ein Anerkanntes". Dies ist gleichbedeutend mit: es ist „an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist" (109). Die Bewegung des Anerkennens beschreibt deshalb die Explikation jenes Verhältnisses, in dem einem Selbstbewußtsein sein einzig adäquater Gegenstand wird.^^ Indem das Selbstbewußtsein aufgrund der Entwicklung seiner Struktur „außer sich" gekommen ist, findet es sich zum einen als ein anderes liehen Sich-Selbst-Unterscheidens verbliebe und nur innerlich ein Anderssein setzte, wäre für Hegel gerade kein wahres Selbstbewußtsein (W. Marx: Das Selbstbewußtsein in Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/Main 1986. 25, vgl. 32). n Allerdings kommt diese Bewegung mit der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft noch nicht an ihr Ende. Vgl. dazu L. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Freiburg, München 1979. 68 ff, 97 ff, 131 ff, 203 ff. Zu einer Interpretation der Hegelschen Philosophie im ganzen vom Prinzip der Anerkennung her vgl. /. Simon: Wahrheit als Freiheit. Zur Entwicklung der Wahrheitsfrage in der neueren Philosophie. Berlin, New York 1978. Bes. 304.

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Wesen; ebenso aber hat es darin „das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das andere als Wesen, sondern sich selbst im andern" (109). Offensichtlich ist bereits hier eine Dialektik angelegt, die die Entwicklung der Selbstbewußtseinsrelation auch über den jetzt erreichten Stand hinaus forttreiben wird. Zunächst aber wird dem Selbstbewußtsein aufgrund jener Struktur eine merkwürdige Leistung zugemutet. Als Bewußtsein nur von sich selbst muß es die Andersheit seines Wesens aufheben; eben dadurch hebt es auch sich selbst auf, indem es den ihm einzig adäquaten Gegenstand wieder verliert (vgl. 109). Die darin liegende Rückkehr zu sich selbst ist aber selbst doppelsinnig, denn es erhält durch das Aufheben nicht nur sich selbst zurück, sondern gibt auch das andere Selbstbewußtsein ihm zurück: „es war sich im andern, es hebt diß sein Seyn im andern auf, entläßt also das andere wieder frey" (109). Dieses Ergebnis erscheint zunächst paradox. Nach unserer Interpretation denkt Hegel nicht daran, daß das andere Selbstbewußtsein als vorhandenes aus dem Nichts auftauchen und sich dem ersten gegenüberstellen könnte, sondern versucht, es aus der internen Entwicklung der Selbstbewußtseinsrelation zu denken, die in ihrer immanenten Logik zur Exteriorität eines anderen Selbstbewußtseins führt. Nun soll die Rückkehr zu sich aber den anderen als frei entlassen. Also hebt das Selbstbewußtsein im Aufheben des anderen selbständigen Wesens dieses andere Wesen gerade nicht auf. Zunächst kehrt mit dieser Situation jenes Problem wieder, das als Entwicklung der Struktur des Selbstbewußtseins den Ausgangspunkt unserer Erörterungen bildete: die Selbstbewußtseinsrelation kommt nur dann in eine — wenigstens vorläufig — haltbare Verfassung, wenn die Aufhebung des internen Gegenstandes so geschieht, daß er dadurch gerade nicht aufgehoben wird. Offensichtlich ist es noch nicht gelungen, diese paradoxe Lage zu überwinden. Möglicherweise geht es Hegel nun überhaupt nicht um die Beseitigung dieser Antinomie. Das Argumentationsziel fordert zunächst nur, die Selbstbewußtseinsrelation so weit zu entwickeln, daß die Widersprüchlichkeit ihrer Vereinigung von subjektiver Objektivität und objektiver Subjektivität auf einen Begriff gebracht werden kann, der sie auszuhalten erlaubt. 12 In diesem Sinne haben wir es jetzt zwar wohl mit einer Daß bei Hegel von einer „aus dem widersprüchlichen Verhältnis von Identität und Gegensatz sich speisenden Unruhe" nichts mehr zu merken sei (W. Becker [wie Anm. 3].61), scheint uns deshalb nicht der Fall zu sein. Die Suche nach einem Begriff, der die Widersprüchlichkeit zu formulieren erlaubt, ist das Folgeproblem der anfänglichen Dialektik des Wissens in der Phänomenologie des Geistes. Deshalb scheint es uns auch nicht möglich, die Genesis der Hegelschen Dialektik auf die einfache Formel zu bringen: „Hegel schreibt

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Wiederkehr des Ausgangsproblems zu tun, aber in entwickelter Form und in einer Begrifflichkeit, der Hegel offenbar die Kapazität zutraut, mit der Selbstbewußtseinsrelation und ihrer internen Problematik umgehen zu können. Der Preis dieses Ergebnisses scheint jedoch gerade das Paradoxon zu sein, das uns jetzt begegnet ist: in der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" stellt sich das notwendige Auflieben des anderen selbständigen Wesens als ebenso notwendiges Freilassen in seine Selbständigkeit dar. Wir können dieses Paradoxon noch einen Schritt fortführen, um es deutlicher hervortreten zu lassen. Gerade weil in der Bewegung der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" ein Freilassen des anderen liegt, kann es sich nicht nur um ein „Tun des Einen" handeln, sondern „dieses Thun des einen hat selbst die gedoppelte Bedeutung, ebensowohl sein Thun als das Thun des Andern zu seyn" (110). Die Begründung dafür ist bereits mit dem Charakter des anderen als eines Selbstbewußtseins gegeben: „es ist nichts in ihm, was nicht durch es selbst ist"; es ist „in sich beschlossen" (110). Daraus folgt: das Selbstbewußtsein hat das andere Selbstbewußtsein, das es durch sein Aufheben freiläßt, dann nicht als einen für sich seienden selbständigen Gegenstand, „über welchen es darum nichts für sich vermag, wenn er nicht an sich selbst diß thut, was es an ihm thut" (HO). Die Bewegung kann deshalb nur durch beide Zustandekommen; sie ist „schlechthin die gedoppelte beyder Selbstbewußtseyn" (110). Die Paradoxalität nimmt deshalb nun den Charakter einer Bewegung an, in der zwei für sich und für nichts außer ihnen seiende Selbstbewußtseine in ein Verhältnis geraten, das „ungetrennt" (110) Tun des Einen und Tun des Anderen ist. Da zu Beginn des Kapitels das Selbstbewußtsein als ein „Anerkanntes" bezeichnet wurde — wodurch zum Ausdruck kam, daß es nur an und für sich ist, indem es für ein anderes an und für sich ist (vgl. 109) —, so kann Hegel die nun erreichte Form der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" so charakterisieren: „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend" (110). Insofern gibt diese Formulierung den jetzt erreichten Entwicklungsstand der internen Problematik der Selbstbewußtseinsrelahon wieder. „Anerkennen" nennt Hegel also die Form eines möglichen „Verhältnisses" zweier Wesen, deren Sein nur in ihrem Fürsichsein liegt, weshalb zunächst ein „Verhältnis" zueinander grundjeweils die Erkenntnis der inneren Unmöglichkeit des idealistischen Grundverhältnisses diesem selber gut" (ebd. 64). Wen die Anfangsdialektik überzeugt, der wird versuchen müssen, die Folgeprobleme zunundest so zu lösen, daß er sie in eine Struktur faßt, die sie ohne Destruktion denkbar macht. Erst an einem solchen Gelingen bemißt sich dann die Haltbarkeit der Anfangsdialektik und ihres begrifflichen Resultates.

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sätzlich ausgeschlossen scheint. Daß von einem solchen „Verhältnis" jedoch die Rede sein muß, war Ergebnis der Diskussion über die Strukturbedingungen eines Fürsichseins. Deshalb ist mit „Anerkennen" die Form bezeichnet, in der jenes Ergebnis seine Möglichkeit findet.

4. Wir haben bisher noch nicht erörtert, warum Hegel die beiden Seiten der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" in der Bewegung des Anerkennens in einen „Kampf auf Leben und Tod" geraten sieht, in dem sie sich zu den Gestalten von Herr und Knecht entwickeln. Ohne die bis jetzt durchgeführte Interpretation von Hegels Diskussion der internen Problematik der Selbstbewußtseinsrelation war dies auch nicht möglich. Mit der Thematik von Herrschaft und Knechtschaft wird nämlich nichts anderes expliziert als die bisher argumentativ entwickelte Selbstbewußtseinsproblematik. Der entscheidende neue Charakter der jetzt folgenden Entwicklung liegt in jener die Argumentationsform der Phänomenologie des Geistes kennzeichnenden Wendung von der Explikation einer Struktur in ihrer Logik an sich oder ßr uns zur Betrachtung, wie die entwickelten Momente und Prozesse sich ßr das Selbstbewußtsein darstellen. Diese Wendung geschieht für den Begriff des Anerkennens, der in der Phänomenologie des Geistes auf unserem Stand die höchstentwickelte Strukturbestimmung der Selbstbewußtseinsrelation ausdrückt (vgl. 115), mit Hilfe der Thematik von Herrschaft und Knechtschaft, Allerdings leistet jene Thematik dies nicht für die ganze ausgearbeitete Struktur, sondern nur für die Seite der „Ungleichheit" der beiden SelbstWir sehen deshalb nicht, daß Hegels Dialektik im Gegensatz zu Fichte und Schelling die Überzeugung zur Bedingung habe, „die Antinomie des Idealismus sei innertheoretisch zu lösen" (W. Becker, 64). Natürlich wird die Lösung innertheoretisch entwickelt — im gleichen Sinne wie Fichte und Schelling die Antinomie innertheoretisch zu ihrer Auflösung in Praxis bzw. Ästhetik führen. Ebenso wie bei Fichte und Schelling ist damit aber die Lösung selbst keine innertheoretische. 1^ H.-G. Gadamer (s. o. Anm. 3) drückt dies so aus: „Der innere Unterschied von Ich zu Ich, der im Selbstbewußtsein liegt, kommt jetzt zur Erscheinung, wird der wirkliche Unterschied des Wir, die Ich und Du, reales Ich und reales anderes Ich sind" (228). Wir können deshalb K. Gloys Auffassung von dem einen Selbstbewußtsein mit seiner Interndifferenz, wonach die Duplikation des Selbstbewußtseins innerhalb des einen ganzen Selbstbewußtseins verbleibt, nicht folgen (vgl. G/oy; Bemerkungen [Anm. 8]. 205). Die ,Deduktion' der Einzel-Iche scheint uns nicht in der Alternative von Ausgang und Resultat zu stehen (vgl. ebd. 206), vielmehr verhilft nur die Einheit von externer und interner Gegenständlichkeit dem Selbstbewußtsein zu seiner eigenen Möglichkeit.

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bewußtseine, in der, in Hegels Ausdrucksweise, die Mitte des Anerkennens als gegenseitig sich anerkennend „heraustritt" in die „Extreme", die sich als nur Anerkennendes und nur Anerkanntes entgegensetzen (vgl. HO). Nichtsdestoweniger findet damit die Einführung der Gestalten von Herr und Knecht ihren Ort in jener Strukturbestimmung der Selbstbewußtseinsrelation, die nun betrachtet wird, wie sie für das Selbstbewußtsein erscheint. Ein solches Vorgehen entspricht gerade der Wahrheit des Selbstbewußtseins, dem alles, was es ist, nur für es sein kann. Was nun von einem Selbstbewußtsein gefordert wird, damit für es ein anderes sein kann — und so es selbst denkbar ist gemäß der bisher zur Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" entwickelten Selbstbewußtseinsrelation —, ist im Grunde etwas sehr einfaches. Wenn die Gewißheit des Selbstbewußtseins nur so zur Wahrheit wird, daß sein eigenes Fürsichsein sich ihm als selbständiger Gegenstand darstellt, so muß es ihm gelingen, einen „Gegenstand" zu finden, der sich zu ihm so in ein Verhältnis setzt, daß sie für einander die „Bewegung der absoluten Abstraction, alles unmittelbare Seyn zu vertilgen" (111), vollbringen können. Ein Wissen von sich selbst gelingt darin aber nur, wenn beide je für sich diese Bewegung leisten, so daß „wie der andere für ihn, so er für den andern, jeder an sich selbst durch sein eigenes Thun, und wieder durch das Thun des andern, diese reine Abstraction des Fürsichseyns vollbringt" (111). Auf dem erreichten Niveau einer Entwicklung der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" muß diese Abstraktion aber füreinander dargestellt werden.Diese Darstellung besteht nun darin, „sich als reine Negation seiner gegenständlichen Weise zu zeigen, oder es zu zeigen, an kein bestimmtes Daseyn geknüpft" zu sein. Auf der jetzigen Entwicklungsstufe der Selbstbewußtseinsstruktur erfordert dies näher den Erweis, „nicht an das Leben geknüpft zu seyn" (111). Damit haben wir jenes Thema des Kapitels „Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" erreicht, das besonders leicht zu Mißverständnissen Anlaß gibt und nur als Resultat der bisherigen Entwicklung der Selbstbewußtseinsrelation in ihrer Wendung zur Erscheinung für das Selbstbewußtsein angemessen zu verstehen ist: den „Kampf auf Leben und Tod". Um sich als Fürsichsein zu zeigen, muß jedes auf den Tod des anderen gehen; in diesem Sinne ist die Darstellung „Tun des Anderen". Deshalb würde es nicht genügen, die eigene Unabhängigkeit vom Leben durch Selbsttötung zu demonstrieren: „Es muß, damit ein jedes die Gewißheit seiner selbst gewinnt — für sich ist —, diese Gewißheit zur Wahrheit an dem anderen erweisen." (W. Marx: Das Selbstbewußtsein [oben Anm. 10] 69).

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Insofern die Bewährung des Selbstbewußtseins in seinem Fürsichsein aber nur durch ein anderes Fürsichsein geschehen kann, muß dieses andere so negiert werden, daß es sich darin gerade als Fürsichsein bewährt, damit das Verhältnis nicht auf die überwundene Stufe der Begierde zurückfällt. Um den Anforderungen der jetzt entwickelten Verfassung der Selbstbewußtseinsrelation Genüge zu tun, muß diese Darstellung also ebenso „Tun durch sich selbst" sein, d. h. das Daransetzen des eigenen Lebens muß auf beiden Seiten geschehen (111). Deshalb handelt es sich um eine einheitliche Struktur, in der das Tun des Anderen und das Tun durch sich selbst in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen. Wir stehen vor dem merkwürdigen Ergebnis, daß eine rein theoretische Entwicklung der immanenten Problematik der Selbstbewußtseinsrelation in eine Situation führt, in der zwei Leben eingesetzt werden müssen, um die angemessene Gegenständlichkeit eines Fürsichseins zu erreichen. Daß dieser „Kampf" kein zufälliges Tun ist, sondern notwendiges Implikat der Selbstbewußtseinsstruktur in ihrer Wahrheit, drückt Hegel unmißverständlich aus: „Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, ßr sich zu seyn, zur Wahrheit an dem andern, und an ihnen selbst erheben." (111) Zunächst hat sich aus unseren Interpretationen deutlich ergeben, daß es sich nicht um zwei „Selbstbewußtseine" handeln kann, die in diesen Kampf gehen; seine Wahrheit als Selbstbewußtsein gewinnt jedes vielmehr erst in und durch diesen Kampf. Es kann sich jedoch auch nicht um eine bloß interne Relation eines Selbstbewußtseins handeln. Daß auf dem Boden der reinen Inferiorität seiner Gegenständlichkeit keine haltbare Selbstbewußtseinsrelation gedacht werden kann, war . Ergebnis der Entwicklung dieser Relation für uns. Die interne Exteriorität, die als Bedingung eines Bewußtseins von sich selbst entwickelt wurde, wird zur Wahrheit erst in jenem Verhältnis, das Hegel als „Kampf auf Leben und Tod" bezeichnet und das wir wegen seiner selbstbewußtseinsermöglichenden Bedeutung ein absolutes nennen dürfen. Aus der argumentativen Entwicklung der Selbstbewußtseinsproblematik, die Hegel zu der jetzt erreichten Situation führte, ergibt sich jedoch auch, daß der entscheidende Grundgedanke darin das Daransetzen des eigenen Lebens füreinander ist, das zur wechselseitigen Darstellung der Freiheit des Fürsichseins führt (vgl. 111).Daraus können wir Das zugrandeliegende Problem hat Sartre sehr klar formuliert und kritisch gegen Hegel gewendet: „le pour-soi est inconnaissable par autrui comme pour-soi" (L'etre et le neant. Essai

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die Legitimation ableiten, den Kampf auf Leben und Tod als paradigmatische Formulierung jenes absoluten Verhältnisses zu betrachten, das wir auch in weniger martialischen Situationen verwirklicht sehen können. Das Paradigma eines solchen ,Kampfes' können wir bereits dort als erfüllt ansehen, wo es einem Lebewesen gelingt, sich als nicht seinem sinnlichen Dasein attachiert zu zeigen; d. h.: wo es ihm gelingt zu zeigen, daß es aufgrund seines Selbstverständnisses mehr ist als sein bloßes FürAndere-Sein. Die Grundstruktur einer solchen Selbstdarstellung ist schon dort gegeben, wo Lebewesen eine , soziale' Beziehung konstituieren, indem sie das Leben einsetzen nicht um des Lebens sondern um eines darüber hinausgehenden Gutes willen. Insofern ist der Grundgedanke jenes Verhältnisses, das Hegel paradigmatisch als „Kampf auf Leben und Tod" formuliert, auch zu beschreiben durch die Bereitschaft eines Wesens, sein Leben nicht um jeden Preis erhalten zu wollen. In diesem wechselseitigen Daransetzen des Lebens — paradigmatisch formuliert als „Kampf auf Leben und Tod" — geschieht jenes Verhältnis, das Hegel als „Anerkennen" bezeichnet und das nun die Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" bestimmt. Deshalb kann es im übrigen keinen , Kampf um Anerkennung' geben, wenn damit das Motiv jenes Kampfes bezeichnet sein soll. Warum das Daransetzen des Lebens stattfindet, kann und muß nicht Thema der selbstbewußtseinstheoretischen Erörterungen sein. Mit „Anerkennung" als Bezeichnung des Verhältnisses „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" ist vielmehr das Resultat jenes Daransetzens des Lebens genannt, Insofern drückt dieser Begriff auch die Faktizität jenes selbstbewußtseinsermögli-

d'ontologie phenomenologique. 26® ed. Paris 1937. 298) — „Mais en tant que l'autre m’apparait comme objet, mon objecitvite pour lui ne saurait m'apparaitre: sans doute je saisis que l'objet-autre se rapporte ä moi par des intentions et des actes, mais du fait meme qu'il est objet, le miroir-autnii s'obscurcit et ne redete plus rien" (299). Sartre gründet darauf seine „accusation d'optimisme" (296) gegen Hegel, dem es nicht gelungen sei, das Erkenntnisverhältnis zu transzendieren und zu einem adäquaten Begriff zu kotrunen, wie ein Fürsichsein für ein Fürsichsein sein könne. Hegel sucht jedoch an dieser Stelle gerade eine Erfahrungsmöglichkeit von einen fremden Fürsichsein zu beschreiben. Insofern scheint uns Sartres Kritik im ganzen nicht berechtigt. Inwieweit bei der Ausarbeitung dieser Problematik Hobbes Lehre vom Naturzustand eine Rolle gespielt hat, müssen wir offenlassen. Auf jeden Fall aber steht der ,Kampf' in der Phänomenologie des Geistes in völlig anderen Zusammenhängen als bei Hobbes. Schon von einem Naturzustände des Selbstbewußtseins zu sprechen, scheint uns sehr gewagt (W. Janke: Historische Dialektik [oben Anm. 6].315). Eine Parallelisierung scheint ohnehin nur unter den Prämissen einer historisch-materialen Interpretation möglich. Vgl. zu diesem Thema L. Siep: Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung iiüt Hobbes in den Jenaer Schriften. In; Hegel-Studien. 9 (1974), 155—207.

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chenden Geschehens aus, in dem ein Fürsichsein für ein Fürsichsein wird. Wenn wir nun für einen Augenblick wieder auf die paradigmatische Formulierung der entwickelten Selbstbewußtseinsstruktur in ihrer Wendung zur Erfahrung des Selbstbewußtseins als „Kampf auf Leben und Tod" zurückgehen, so wird bereits aus dem Rückblick auf die bisherige Entwicklung deutlich, daß es mit dieser Lösung nicht sein Bewenden haben kann. Mit der bloßen Negation des Lebens fiele die Selbstbewußtseinsstruktur hinter ihre bereits ausgearbeiteten Momente zurück und würde deshalb durch ihre interne Dynamik erneut den soeben als nicht haltbar erkannten Zustand erreichen müssen. Dieses Wissen muß auch für das Selbstbewußtsein werden als Erfahrung, „daß ihm das Leben so wesentlich als das reine Selbstbewußtseyn ist" (112). In der bloßen Negation ohne Affirmation jener Selbständigkeit, die sich als Leben zeigt, wäre die geforderte Bedeutung des Anerkennens nicht zu erreichen, Es handelte sich nicht um eine Negation durch das Bewußtsein, „welches so aufhebt, daß es das aufgehobene aufbewahrt und erhält und hiemit sein Aufgehobenwerden überlebt" (112). Deshalb muß sich die Selbstbewußtseinsrelation wiederum fortentwickeln zu einer Struktur, in der auf beiden Seiten Leben und Daransetzen des Lebens integriert sind. Nur darin können für die Erfahrung des Selbstbewußtseins jene Bedingungen erfüllt sein, die sich aus der Entwicklung seiner Struktur ergeben hatten.

5. Für den ersten Schritt dieser Fortentwicklung findet Hegel nun eine Begrifflichkeit, die ebenso wie die Rede vom „Kampf auf Leben und Tod" im Zusammenhang einer Strukturdiskussion der Selbstbewußtseinsrelation nicht ohne weiteres zu erwarten wäre. Das Verhältnis „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" erscheint nämlich in der Integration des Momentes des Lebens in das sich darstellende Fürsichsein als Ver-

18 Dgj. einfache Schluß, daß ein totes Selbstbewußtsein niemanden mehr anerkennen kann, unterbietet Hegels argumentativen Aufwand beträchtlich. Ehe Notwendigkeit des Lebens für das Selbstbewußtsein ist nicht der Erfahrung des natürlichen Bewußtseins entnommen, sondern selbst argumentativ aus der Problematik der internen Gegenständlichkeit der Selbstbewußtseinsrelation entwickelt.

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hältnis von Herr und Knecht.Wiederum können wir unseren bisherigen Interpretationen entnehmen, daß damit nicht eine vorhandene soziale Konstellation beschrieben sein kann. Ebenso kann nicht eine kontingente soziale Urhandlung am Anfang der Geschichte gemeint sein. Herr und Knecht sind vielmehr Begriffe, die die Selbstbewußtseinsrelation auf der Stufe der internen Exteriorität ihrer Gegenständlichkeit weiter explizieren sollen. Deshalb sind wir auch hier wieder legitimiert, die Hegelschen Begriffe als paradigmatischen Ausdruck einer Struktur zu nehmen, ohne in wörtlichem Sinne eine bestimmte Konstellation damit zu verbinden. Müssen wir aufgrund der bisherigen argumentativen Entwicklung das „Leben" jenem „Gegenstand" attachieren, in dem allein ein Selbstbewußtsein adäquat sich auf sich beziehen kann, so haben wir als neue Gegenständlichkeit des Bewußtseins von sich selbst ein solches Selbstbewußtsein, „welches nicht rein für sich, sondern für ein anderes, das heißt, als seyendes Bewußtseyn oder Bewußtseyn in der Gestalt der Dingheit ist" (112). Genau durch einen solchen „Gegenstand" — den Hegel als „Knecht" bezeichnet — ist nun das Selbstbewußtsein mit sich vermittelt, das deshalb von der anderen Seite her als Herr erscheint. Weil seine Entwicklung sich aber bereits auf der Stufe „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" befindet, so treten die beiden Seiten auseinander in die Gestalten von Herr und Knecht, bzw. eines selbständigen und eines unselbständigen Selbstbewußtseins. Als Herr ist das Selbstbewußtsein nun durch ein Bewußtsein mit sich vermittelt, das mit der Dingheit synthetisiert ist (112/113). Genau dies war erfordert, um die Relation des Eürsichseins aus der problematischen Situation, in die sie erneut geraten war, herausführen zu können. Der „Knecht" scheint nun als Bezeichnung für die neue Gegenständlichkeit der Selbstbewußtseinsrelation besonders gut geeignet, da er sich auf doppelte Weise an das dingliche Sein gebunden hält. Einerseits ist ihm sein eigenes Dingliches wesentlich; dies hat er gezeigt, indem er im Kampfe nicht den Tod vorgezogen hat, bzw. nach unserem Interpretationsvorschlag, indem er keinen Preis kannte, für den er das Leben zur

Zu diesem Thema im Zusammenhang der Vor- und Nachgeschichte der Phänomenologie des Geistes vgl. H. Ottmann: Herr und Knecht bei Hegel. Bemerkungen zu einer mißverstandenen Dialektik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 35 (1981), 365—384. Wir möchten gegen Ottmanns Untersuchungen die Bedeutung des argumentativen Zusammenhanges speziell der Phänomenologie des Geistes stärker zur Geltung bringen; vgl. dazu auch O. Pöggeler: Hegels Idee (oben Anm. 4), bes. 264.

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Disposition zu stellen bereit gewesen wäre. Andererseits ist er als Knecht gerade definiert durch seinen Bezug zu fremdem dinglichen Sein; dies zeigt er, indem er es für andere bearbeitet und es so zwar negiert, aber nicht bis zur Vernichtung mit ihm fertig werden kann (vgl. 113). Wenn es mit der Begrifflichkeit von „Herr und Knecht" um die Darstellung der für uns oder an sich entwickelten Struktur der Selbstbewußtseinsrelation für das Selbstbewußtsein selbst geht, so können wir nun auch dieses Verhältnis als Strukturbegriff auffassen und die gleichnamige soziale Relation nur als deren paradigmatischen oder extremen Ausdruck verstehen. Im Anschluß an unseren Versuch, für das „Daransetzen des Lebens" einen etwas weniger martialischen Ausdruck zu finden, könnten wir nun sagen: die Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" in der Form „Herr und Knecht" ist überall dort erfahrbar, wo ein solches Hinausgehen über das bloße Leben stattfindet, das zur Bedingung gerade die Bewahrung des Lebens hat und darin ein soziales Unterordnungsverhältnis in der Auseinandersetzung mit der Natur konstituiert. Im Rahmen unserer bisherigen Interpretationen ist ein solches Verhältnis relativ leicht zu rekonstruieren. Es genügt dazu, eine winzige Differenz zwischen den beiden Parteien einzuführen. Jener, der überhaupt keinen Preis kennt, für den er das Leben einzusetzen bereit wäre, ist jenem, der im Bewußtsein der Bereitschaft lebt, für einen — beliebig hoch anzusetzenden — Preis sein Leben zu wagen, strukturell unterlegen. Eo ipso ist damit der Grundstein zu einem Verhältnis sozialer Über- und Unterordnung gelegt. Da mit dem Paradigma von „Herr und Knecht" eine neue Charakterisierung der Relation „Bewußtsein von sich selbst" entwickelt sein sollte, so ist es aus unmittelbar einzusehenden Gründen unvollständig und kann nicht Bestand haben. Wohl wird für den Herrn sein Anerkanntsein durch ein anderes Bewußtsein (113). Aber indem dies einseitig ist, kann darin das Bewußtsein von sich selbst nicht zu seiner adäquaten Gegenständlichkeit kommen, in der es sich selbst als Subjekt und Objekt wissen muß. Deshalb fehlt zum eigentlichen Anerkennen das Moment, „daß was der Herr gegen den andern thut, er auch gegen sich selbst, und was der Knecht gegen sich, er auch gegen den andern thue" (113). Indem der Herr seine Gewißheit in einem unselbständigen Bewußtsein hat, kann er darin nicht seine Wahrheit finden. Nach unseren bisherigen Interpretationen ergibt sich bereits aus einer einfachen Überlegung, von welcher Seite der Fortgang beginnen muß. Der Herr hat die für die adäquate Selbstbewußtseinsstruktur nötige Einheit von Fürsichsein und Leben in Gestalt des Knechtes bereits für sich. Er kann sich darin aber nicht

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für sich werden, da er sich selbst nicht als Leben versteht. Ein solches Verständnis aber ist aufgrund der Entwicklung der Selbstbewußtseinsproblematik für ein adäquates Sich-Wissen unabdingbar. Dem Herrn ist jedoch per definitionem das dingliche Sein nur im Anderen wesentlich. Deshalb wird er von sich aus keinen Weg über sich hinaus anbieten können — und auch nicht müssen, denn in der Blickrichtung vom Herrn auf den Knecht ist die Relation der entwickelten Selbstbewußtseinsstruktur gemäß. Für den Knecht dagegen stellt sich die Lage genau umgekehrt dar. In sich selbst hat er alle Wahrheit, denn er ist ebenso Fürsichsein, wie er sich als Leben versteht und gezeigt hat. In der Blickrichtung auf den Herrn jedoch kann er sich als diese Wahrheit nicht wiederfinden, denn der Herr ist Fürsichsein, dem das Leben gerade nicht wesentlich ist. Aber als Knecht hat er auch bereits das andere Moment seiner eigenen Wahrheit, nämlich das dingliche Sein, für sich. Deshalb muß es nun an ihm liegen, die beiden Momente seiner Wahrheit so zu einem Gegenstand zusammenzubringen, daß er seine Wahrheit darin wiederfinden kann. Damit wäre jene gesuchte Selbstbewußtseinsrelation in der Erfahrung für das Selbstbewußtsein gefunden, die zuvor aus der internen Problematik eines Fürsichseins entwickelt wurde.

6.

Für die Struktur dieser Fortentwicklung von der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" in der Form „Herr und Knecht" — die sich als nicht ausreichend gezeigt hat, um die Selbstbewußtseinsrelation auf der nun erreichten Stufe zu charakterisieren — benutzt Hegel nun den Begriff „Arbeit". Es ist bereits deutlich geworden, daß es damit möglich sein muß, eine Situation zu erfassen, in der die beiden Momente, die dem Knecht in seinen Gegenständen noch auseinanderfallen, nämlich das bloße Fürsichsein und das dingliche Sein, zusammenzubringen sind. In der Tat sieht Hegel in der Arbeit die negative Beziehung auf den Gegenstand, die das Fürsichsein ausmacht, zur Form und damit zu einem Bleibenden werden (115). Auf diese Weise kommt gerade das arbeitende Bewußtsein „zur Anschauung des selbständigen Seyns, als seiner selbst" (115). Nun war für den Knecht zunächst das selbständige Bewußtsein in der Gestalt des Herrn erfahren, der sich ihm als reines Fürsichsein dargestellt hatte. Daß sich in der Arbeit des Knechtes dieses Fürsichsein in die Dingwelt hineinbildet, muß sich deshalb aus der

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Struktur der Herr-Knecht-Beziehung entnehmen lassen. Indem der Knecht das „Mittel" ist, durch das sich der Herr zu den Dingen verhält, gestaltet er jenes Fürsichsein des Herrn in das Produkt seiner Arbeit. Nun arbeitet das knechtische Bewußtsein zwar im Dienste seines Herrn und bildet deshalb dessen Fürsichsein in das Sein. Aber indem es dies tut, hebt es auch stets andere Formen und damit andere Bildungen eines Fürsichseins im Sein auf. Insofern holt es darin in gewissem Sinne das nach, was es zuvor versäumt hat und wodurch es zum Knecht wurde: es zerstört das fremde Fürsichsein im Elemente der Gegenständlichkeit und setzt darin, obwohl im Dienste eines Herrn arbeitend, „sich als ein solches in das Element des Bleibens" (115). Offensichtlich ist es dem knechtischen Bewußtsein gerade durch seine Arbeit möglich, jene nun entwickelte Form der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein", in der Ich-Subjekt und -Objekt ebenso Fürsichsein wie Leben zukommen, zu einer für das Selbstbewußtsein erfahrbaren Gestalt werden zu lassen. Das Fürsichsein, in dem das Selbstbewußtsein seine adäquate Gegenständlichkeit erreichen kann, hat jedoch nun eine ganz andere Gestalt gefunden, als zu Beginn der Entwicklung zu vermuten gewesen war. Nicht in der unmittelbaren Beziehung zweier „Menschen" wird die Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" erfahrbar, sondern nur in der Vermittlung durch die Arbeit in Orientierung an anderem Fürsichsein, das darin als Fürsichsein gegenständlich wird. Zur Erfüllung bzw. Erfahrbarkeit dieser Struktur genügt es also offenbar nicht, daß das Bewußtsein nach seinen eigenen Vorstellungen und Plänen das dingliche Sein verändert; in Hegels Verständnis würde dies den Begriff der Arbeit nicht erfüllen, weil ein solches „Formieren" deni Bewußtsein nicht „das Bewußtseyn seiner als des Wesens geben" könnte (115). Wir können die argumentative Grundlage dieses Arbeitsbegriffes wiederum in selbstbewußtseinstheoretischen Erwägungen sehen. Die Form nämlich, die das knechtische Bewußtsein nach seinem eigenen Sinn verwirklichen würde, wäre nicht die Negativität an sich. Was es so realisieren würde, wäre deshalb noch von seinem eigenen bestimmten Sein, d. h. von seinem eigenen „Leben" affiziert. Wir könnten auch sagen: es würde nicht die reine Form realisieren, die mit dem reinen Fürsichsein identisch ist (vgl. 116). Auf diese Weise würde es nicht seine spezifische Gegenständlichkeit gewinnen, in der die Bestimmtheit des Dinglichen und die Absolutheit des Fürsichseins ver20 Zur näheren Erläuterung dieses Zusammenhanges siehe H.—G. Gadamer: Hegels Dialektik (wie Anm. 3). 237 ff.

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eint sein müssen. Auch der das Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft" beschließende Begriff der Arbeit ist also nicht losgelöst von der selbstbewußtseinstheoretischen Abzweckung der gesamten argumentativen Entwicklung dieses Textes zu verstehen. Mit diesem Gedanken schließt der Abschnitt A, in dem die „Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" unter dem Titel „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins" diskutiert wurde. Offensichtlich fußt der Abschnitt B, der die Selbstbewußtseinsstruktur unter dem Titel „Freiheit des Selbstbewußtseins" weiter entwickelt, auf jenen argumentativen Resultaten, die jetzt mit dem Begriff der Arbeit als Entwicklung der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" ihren Abschluß gefunden haben. Indem so eine Möglichkeit gefunden ist zu begreifen, wie diese entwickelte Struktur für das Selbstbewußtsein erfahrbar werden kann, ist für uns oder an sich eine neue Gestalt des Selbstbewußtseins geworden. Es mag zunächst merkwürdig erscheinen, daß dieses Selbstbewußtsein als freies und d. h. denkendes bezeichnet wird. Auf den ersten Blick mutet der Weg von „Arbeit" zu „Denken" ziemlich weit an. Wir kommen auch hier nur dann einem Verständnis näher, wenn wir die beiden Begriffe und ihren Zusammenhang rein aus ihrer Funktion der Strukturexplikation der problematischen Selbstbewußtseinsrelation verstehen. Dann wird es auch verständlich, daß „Denken" in diesem Zusammenhang das Selbstverhältnis bezeichnet, „nicht als abstractes Ich, sondern als Ich, welches zugleich die Bedeutung des Ansichseyns des Bewußtseyns hat, für welches es ist" (116). Dies formuliert gerade jenen Entwicklungsstand der Selbstbewußtseinsrelation, der unter der Bezeichnung „Arbeit" argumentatives Ergebnis des Abschnitts A war. Auch dieser Zusammenhang bestätigt unseren Versuch, die Hegelschen Begriffe in einem strukturellen Sinne und aus dem Entwicklungszusammenhang der Selbstbewußtseinsrelation aufzufassen. Aufgrund dieses Zusammenhangs von „Arbeit" und „Denken" können wir nun auch das freie oder denkende Bewußtsein von der Entwicklung der Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" her auffassen. Insofern ist das denkende Selbstbewußtsein zurückbezogen auf jene intern-externe Gegenständhchkeit eines Bewußtseins von sich selbst, die nur als ein anderes Selbstbewußtsein adäquat zu denken ist. Wir können auf die Folgen dieses Zusammenhanges hier nicht näher eingehen; es ist jedoch offensichtlich, daß der Hegelsche Begriff des Denkens sowie die gesamte weitere Entwicklung der Phänomenologie des Geistes von der von uns interpretierten Struktur „Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein" als

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argumentativer Entwicklung der problematischen Selbstbewußtseinsrelation affiziert sein wird.^i

7. Unsere Interpretationen haben uns zu Ergebnissen geführt, die sich teilweise beträchtlich von anderen Versuchen unterscheiden, dieses ebenso problematische wie zentrale Kapitel der Phänomenologie des Geistes zu verstehen. Es scheinen uns gerade rein selbstbewußtseinstheoretische Erwägungen zu sein, die Hegel zu jener zunächst paradox anmutenden Behauptung veranlassen, derzufolge ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein ist. Diese aus der internen Dynamik der Selbstbewußtseinsrelation entwickelte Exteriorität wird als Erfahrung eines fremden Fürsichseins formuliert, indem und sobald der Diskurs des erscheinenden Wissens jene charakteristische Wendung vollzieht, die ihm die argumentative Kapazität verschaffen soll, Relationen eines Fürsichseins zu diskutieren, für die Wahrheitsansprüche nur dann erhoben werden können, wenn das Fürsichsein sie selbst für sich erfahren hat. Wir haben versucht, die Theoreme vom Kampf auf Leben und Tod, von Herr und Knecht sowie von der Bedeutung der Arbeit in den Zusammenhang jenes selbstbewußtseinstheoretischen Beglaubigungsverfahrens zu stellen. Wenn wir einem Systematisierungsvorschlag von K. GLOY folgen, so ließe sich unser Versuch zum einen unter die formalen Interpretationen des Abschnittes „Herrschaft und Knechtschaft" subsumieren.22 Daß und wie unsere Interpretation sich von den beiden wichtigsten Unternehmungen in dieser Richtung unterscheidet, dürfte durch Text und Anmerkungen deutlich geworden sein.23 Dies führt uns zu der zweiten UnVgl. zur weiteren Entwicklung des Selbstbewußtseinskapitels W. Marx (oben Anm. 10). 99 ff. ^ Vgl. K. Gloy: Bemerkungen (Anm. 8). 188 ff. 23 Wir beziehen uns auf W. Becker (Anm. 3) und H.-G. Gadamer (Anm. 3); vgl. ferner K. Gloy: Bemerkungen. 201 ff. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den „materialen" Interpretationen historischer, soziologischer oder psychologischer Art fehlt uns hier der Raum. Vgl. insbesondere A. Kojeve: Hegel.Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur „Phänomenologie des Geistes". Hrsg, von I. Fetscher. Stuttgart 1958. Zur Kritik R. K. Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte. Stuttgart 1965; H. Ottmann: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Bd 1. Berlin, New York 1977. 93 ff; I. Fetscher: Randglossen zu ,Herrschaß und Knechtschaft' in Hegels „Phänomenologie des Geistes". In: Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift für W. Schulz. Pfullingen 1973. 137—144. Vgl. ferner K. Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. In: MEGA. Abt. 1, Bd. 3. Berlin 1932. Bes. 150—172; E. Bloch: Subjekt-Objekt.

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terscheidung von K. GLOY, deren Alternativen wir aufgrund unserer Interpretation in Frage stellen möchten. Während GADAMER nämlich eine „Intersubjektivitätsthese" zu vertreten scheint mit der Annahme zweier externer Selbstbewußtseine, favorisiert BECKER eine „Subjektivitätsthese", die bei dem Gedanken zweier interner Selbstbewußtseine bleibt. Wir sehen dagegen die Auszeichnung der Hegelschen Argumentation gerade in der selbstbewußtseinstheoretischen Entwicklung von den internen Strukturmerkmalen eines Bewußtseins von sich selbst zu dem externen Verhältnis eines Selbstbewußtseins zu einem Selbstbewußtsein. Im Zusammenhang eines interpersonalitätstheoretischen Interesses sind es deshalb drei Theoreme, die unabhängig von ihrer Einordnung in den Argumentationsgang der Phänomenologie des Geistes systematische Bedeutung beanspruchen können: zum einen die selbstbewußtseinstheoretische Erörterung selbst, zum zweiten Hegels Versuch, die Erfahrbarkeit fremden fürsichseienden Selbstbewußtseins plausibel zu beschreiben24, und zum dritten die argumentationslogische Verknüpfung von Selbstbewußtseinstheorie und Deskription der Erfahrbarkeitsstruktur eines fremden Selbstbewußtseins.

Erläuterungen zu Hegel. Berlin 1957; G. Lukdcs: Der junge Hegel und die Probleme der taipitalistischen Gesellschaft. Berlin 1954; H. H. Holz: Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel. Neuwied 1968. Für eine Interpretation als „Soziodialektik des Geistes", die es mit „Idee und wesenhafter Entstehung der urgesellschaftlichen Relation" zu schaffen hat, vgl. W. janke: Historische Dialektik (oben Anm. 6). 371, sowie ders.: Herrschaß und Knechtschaß und der absolute Herr. In: Philosophische Perspektiven. 4 (1972), 211—231. Als psychologische Interpretation ist zu nennen G. A. Kelly: Bemerkungen zu Hegels „Herrschaß und Knechtschaß“. Deutsch in: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes.“ Hrsg, von H. F. Fulda und D. Henrich. Frankfurt/Main 1973. 189-216. Hier wäre der Ansatz, im Hegelschen Kontext die Verbindung herzustellen zu einer transzendental-phänomenologischen Theorie der Erfahrbarkeit fremden Fürsichseins, wie sie in Husserls — allerdings nie zur systematischen Ausarbeitung gekommenen — Phänomenologie der Interpersonalität vorliegt, in der die Leibeserfahrung in ihrem urinterpretativen Charakter zum zentralen Theorem wird. Wir hoffen, in Kürze einen größeren Versuch zu diesem Thema vorlegen zu können.

REINER WIEHL (HEIDELBERG)

HEGELS TRANSFORMATION DER ARISTOTELISCHEN WAHRNEHMUNGSLEHRE

I. Der Entwicklungsbegriff (Entelechie) als Begriff eines Systems einer Geschichte und einer Kritik der Philosophie Das äußere Erscheinungsbild, welches Hegels riesiges Denkgebäude dem philosophischen Betrachter bietet, zeigt sich maßgeblich geprägt durch die Wirkung, die von der antiken Logosphilosophie der Griechen, vor allem von der Philosophie des PLATO und des ARISTOTELES auf seine systematische Entwicklung ausgegangen ist. Der Wirkungszusammenhang zwischen der Philosophie der Griechen und Hegels philosophischer Begriffsspekulation ist von der Art, daß er dieser einen unverkennbar antikisierenden Charakter verleiht, der geeignet ist, das spezifisch Neuzeitliche und Moderne dieser Gedankenspekulation vergessen zu machen. Von dem Eindruck dieses Wirkungszusammenhanges her scheint Hegels Philosophie dies und nur dies zu sein: Erinnerung, Wiederbelebung oder auch Erneuerung der Philosophie der Griechen in ihren wichtigsten Grundzügen. Hegel ist in seinem philosophischen Denken nicht unbewußt oder unwillkürlich durch jene Wirkung geprägt. Vielmehr hat er diese Wirkung, den Einfluß der Antike auf die eigene Gedankenwelt absichtlich gesucht. Er hat diesen selbst gesuchten Einfluß bejaht und selbsttätig die eigene Prägung durch denselben gestaltet. Er hat das Verdienst der Alten gerühmt zu wissen, was sie am Abstrakten, am Begriff, für das Konkrete hatten. Spekulativ zu sein in ihrem Denken, das war der Ruhmestitel, den er nicht müde wurde, in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, den Meistern der griechischen Philosophie, PLATO und ARISTOTELES, immer neu zu verleihen. Doch ist der Eindruck jener philosophischen Prägung durch die Antike die eine Seite der MedaUle. Ohne Betrachtung der Kehrseite ist dieser Eindruck irreführend. Hegel wußte, daß der Zeitenabstand zwischen der antiken und der modernen Welt sich nicht einfach überbrücken ließ und daß die Kultur des Altertums der Vergangenheit angehörte. Dabei war ihm nur zu bekannt, daß das Bewußtsein von der Differenz zwischen

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Antike und Moderne selbst seine Geschichte hat, die ebenso Bestandteil der Philosophiegeschichte wie der Weltgeschichte ist. Wenn ihm bekanntlich die Philosophie dem Begriffe nach „ihre Zeit in Gedanken erfaßt" war, so mochte er diesen Begriff wohl auch für , seine' Philosophie in Anspruch nehmen: als Philosophie seiner Zeit und ihrer aktualen Gegenwart. Zu dieser Philosophie seiner Zeit gehörte untrennbar jenes überlieferte Bewußtsein von der Differenz zwischen Antike und Moderne als eine ihrer Quellen. Dieses Bewußtsein galt ihm ebenso sehr als philosophisches wie als weltgeschichtlich gültiges. Dementsprechend hat er ihm einen systematischen Ort zugewiesen in seiner „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins", die er unter dem Titel einer Phänomenologie des Geistes darstellte. Aber er ist über diese Darstellung noch hinausgegangen. Das Datum jenes Bewußtseins von der Differenz zwischen den Alten und den Modernen wies in seinen Augen auf die Notwendigkeit hin, grundsätzlich zwischen System und Geschichte der Philosophie, zwischen systematischer und historischer Darstellung der Wahrheit des philosophischen Wissens zu unterscheiden. Und zugleich wurde ihm diese Unterscheidung zu einem Grundprinzip der philosophischen Philosophiekritik, das geeignet war, KANTS Prinzip einer Vernunftkritik zu verbessern und schließlich abzulösen. Dieses Prinzip einer Vernunftkritik mußte in den Augen Hegels unzulänglich bleiben, weil es zwar — im Blick auf die sogenannte rationale Metaphysik — den formalen Vernunftgebrauch in ihrem Erkenntnisanspruch kritisierte, ohne dabei aber selbst den Boden eines Formalismus der Vernunft zu verlassen. ^ Hegel hat sich mit der Unterscheidung zwischen System und Geschichte der Philosophie schwer getan. Sein Versuch, die Geschichte der Philosophie als philosophische Geschichte und die Philosophie als wesentlich geschichtlich verfaßt zu denken, mußte zwangsläufig dasjenige, was eigentlich unterschieden werden sollte, in unmittelbarste Nähe zueinander führen, bis an den Punkt, wo sich die fraglichen Unterschiede in nichts aufzulösen schienen. Im Zentrum dieser Bemühung um Abgrenzung zwischen der systematischen und der historischen Darstellung des philosophischen Wissens stehen die Begriffe der Entwicklung und des Konkreten.2 Diese beiden Schlüsselbegriffe gehören hier untrennbar ' Zum Verhältnis von System, Geschichte und Kritik der Philosophie, vgl. Hegels „Einleitung" in seine Vorlesungen über die Geschichte der Philoscrphie, insbesondere dort die Abschnitte A und B. 2 Es ist vor allem Kuno Fischer gewesen, der mit besonderem Nachdruck die Kategorie „Entwicklung" in das Zentrum der Hegel-Interpretation gerückt und dabei die Funktion des

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zusammen: Die Entwicklung ist — ihrem philosophischen Pegriffe nach — Entwicklung eines Konkreten; und das Konkrete ist — seinem philosophischen Begriffe nach — Entwicklung seiner selbst aus dem Abstrakten. Durch diese beiden zusammengehörigen Begriffe lassen sich nun Übereinstimmung und Nicht-Übereinstimmung, sowie das Grundprinzip einer philosophischen Kritik namhaft machen. Die systematische Darstellung des philosophischen Wissens, die Architektonik des Systems, ist — der Diskursivität des Verstandes entsprechend — auf eine schrittweise Entwicklung angewiesen. Jeder bestimmte einzelne Gedankenschritt ist ein Schritt vorwärts auf dem Wege fortschreitender Wahrheitserkenntnis. Die Gedankenentwicklung ist eine Begriffsbewegung, eine Selbstbewegung des Begriffes, und diese ein überzeitliches, ein übergeschichtliches Geschehen: das Geschehen der Wahrheit als ein fortschreitendes. Diesem übergeschichtlichen Geschehen steht nun die historische Entwicklung, die Entwicklung der philosophischen Erkenntnis in der Geschichte gegenüber. Diese Entwicklung der philosophischen Wahrheit in der Geschichte ist ein Geschehen im geschichtlichen Nebeneinander und Nacheinander. Beide Entwicklungen aber, die übergeschichtliche und die geschichtliche Entwicklung des philosophischen Wissens sind wechselseitig aufeinander angewiesen: die eine Entwicklung ist die Bedingung der Möglichkeit der anderen. So bedarf die systematische Darstellung des philosophischen Wissens der ergänzenden historischen Darstellung. Der Grund für diese Ergänzungsbedürftigkeit liegt im Begriff der Philosophie, deren Wesen als geistiges Wesen und als absolutes Sich-Wissen des Geistes bestimmt ist. Ein solches absolutes Wissen aber verlangt, daß dieses Wissen sich ,entäußert', d. i. in eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen heraustritt, deren Form die des geschichtlichen Nebeneinander und Nacheinander ist. Absolute Selbsterkenntnis und Sich-Selbst-Wissen ist Sammlung dieses Nebeneinander und Nacheinander in der Einheit begrifflicher Synthesis. Ebenso ist aber auch die historische Darstellung der Philosophie auf die systematische Darstellung angewiesen. Das historische Geschehen der philosophischen Erkenntnis im geschichtlichen Raume ist für Hegel kein zufälliges Nebeneinander und Nacheinander kontingenter Positionen und Lehrmeinungen. Die Geschichte der Philosophie ist nicht nur Doxographie. Entwicklungsbegriffes für den dialektischen Zusammenhang von System, Geschichte und Kritik der Philosophie erkarmt hat. Er war es auch, der im Entwicklungsbegriff die Verbindung eines Hegelschen Aristotelismus und Kantianismus konstatierte; vgl. Kuno Fischer: System der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre. 3. Aufl. Heidelberg 1909. 165 ff u. 465 f.

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Sie muß mehr und anderes sein, wenn sie dem Begriffe der Philosophie als Wahrheitserkenntnis soll gerecht werden können. Wo die Geschichte der Philosophie sich im Sammeln unterschiedlicher Grundauffassungen erschöpft, da ist im Grunde bereits Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer philosophischen Wahrheitserkenntnis am Werk. Und wird die Geschichte der Philosophie von der Philosophie selbst einer solchen äußerlichen Sammlung gleichgesetzt, so erweist sie sich als außerstande, mit ihrer eigenen Skepsis fertig zu werden. Aber die geschichtliche Vielfalt der Philosophien ist mehr als nur eine unbestimmte Mannigfaltigkeit von Meinungen. Als Vielfalt von Philosophien setzt sie einen bestimmten, für allgemein geltenden Begriff der Philosophie voraus und mit diesem eine Wirklichkeit und Wahrheit, die dem Begriffe entspricht. Von diesen Voraussetzungen her ist eine gegebene geschichtliche Mannigfaltigkeit philosophischer Theorien lediglich ein anfängliches Datum, welches durch den Begriff der Philosophie und seine Verwirklichung zur Einheit der Synthesis einer philosophischen Selbsterkenntnis, zur Erkenntnis der philosophischen Wahrheit durch die Philosophie verknüpfbar vorgestellt wird. Demnach ist die übergeschichtliche Entwicklung der philosophischen Wahrheit die Bedingung der Möglichkeit einer philosophischen Geschichte der Philosophie, so wie diese Geschichte ihrerseits die Bedingung der Möglichkeit eines übergeschichtlichen philosophischen Wahrheitsgeschehens ist. ln diesem wechselseitigen Bedingungsverhältnis bedingen sich zwei philosophische Wahrheitsbegriffe: der Begriff einer absoluten, sich selbst aus sich und durch sich offenbarenden philosophischen Wahrheit und der Begriff einer philosophischen Wahrheit, die weltgeschichtlich bedingt ist, indem sie ihre Zeit in Gedanken erfaßt darstellt, und die in Zusammenhang steht mit anderen weltgeschichtlichen Mächten. Aus diesem Bedingungsverhältnis entspringt nun auch das philosophische Prinzip einer Kritik der Philosophie, die nicht im Skeptizismus endet und die die Unzulänglichkeit einer bloß formalen Vemunftkritik überwindet. So sind die Grundbegriffe der Entwicklung und des Konkreten auch für die Kritik der Philosophie durch die Philosophie maßgeblich bestimmend, als Prinzipien einer systematischen und einer historischen Philosophiekritik. Die Entwicklung der philosophischen Wahrheit ist eine fortschreitende Entwicklung des Wahren aus dem Unwahren, des Konkreten aus dem Abstrakten. Diese Entwicklung ist die Bewegung des kritischen Gedankens selbst, seiner Negativität und seiner Funktion der begrifflichen Widerlegung. Das fortschreitende Wahrheitsgeschehen der Philosophie kann demnach unter dem zweifachen Gesichtspunkt der fortschreiten-

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den Widerlegung des Unwahren wie der fortschreitenden Konkretisierung des Abstrakten gesehen werden. Dabei ist zu bedenken: die Form des Fortschritts in der philosophischen Erkenntnis ist nur die eine Seite der Wahrheitsentwicklung. Diese hat neben der Außenseite auch eine Innenseite. Jede Entwicklung, und so auch die der Wahrheit, ist geprägt durch eine lebendige Form, einen Begriff, der an sich mit dem Zweckbegriff übereinstimmt, welcher die Entwicklung aus eigener Kraft steuert, um schließlich an und für sich und in Realität mit derh konkreten Inhalt und seiner inneren Zweckmäßigkeit zusammenzufallen. Wenn Hegel immer wieder das Beispiel des Zusammenhanges von Blüte und Frucht zur Exemplifikation des Grundverhältnisses von Unwahrheit und Wahrheit in der philosophischen Erkenntnis verwendet hat, so keineswegs nur, um die Funktion der Unwahrheit und des Abstrakten als Stimuli einer lebendigen Wahrheitsentwicklung zu unterstreichen und um auf eine lu-sprüngliche Wesensverwandtschaft zwischen Leben und Wahrheit hinzu weisen. Vielmehr soll jene Exemplifikation fernerhin deutlich machen, daß die lebendige Entwicklung der Wahrheit die höchste Formgestalt des Lebens ist, nämlich die Lebendigkeit des geistigen Seins, und daß es diese höchste Lebendigkeit ist, die uns allererst verstehen läßt, was die Knospe zur Blüte und diese zur Frucht werden läßt. Zum Grundprinzip der philosophischen Kritik der Philosophie vermögen die Begriffe der Entwicklung und des konkreten Seins dadurch zu werden, daß sie einen kritischen Vergleich zwischen der übergeschichtlichen und der geschichtlichen Wahrheit der philosophischen Erkenntnis ermöglichen. Denn dem, was in der übergeschichtlichen Entwicklung dieser Wahrheit als abstrakt oder als konkret gilt, entspricht nicht unbedingt Sinn und Funktion des Abstrakten und des Konkreten innerhalb der entsprechenden geschichtlichen Entwicklung. Eine eindeutige Zuordnung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten hier und dort ist keineswegs ohne weiteres und unmittelbar möglich. So kann für eine bestimmte weltgeschichtliche Epoche eine philosophische Erkenntnisgestalt durchaus als konkret erscheinen, während dieselbe für eine andere Epoche, bzw. vom Standpunkt der übergeschichtlichen Geschichte aus eine unzulängliche Abstraktion darstellt. Der kritische Vergleich zwischen der übergeschichtlichen und der geschichtlichen Wahrheitsentwicklung, bzw. der Vergleich zwischen verschiedenen geschichtlichen Entwicklungen anhand des Maßstabes des übergeschichtlichen Wahrheitsgeschehens erlaubt es daher, dem entgegenzuwirken, was man die elementarste Form des philosophischen Irrtums nennen könnte: diejenige Unwahrheit, die sich der Bestimmung ihrer Funktion als Ingredienz

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zur Beförderung der Wahrheit innerhalb ihrer Entwicklung und ihrer Integration in das lebendige Wahrheitsgeschehen verweigert. Bei diesem Irrtum handelt es sich um die Verwechslung des Abstrakten mit dem Konkreten, bzw. des Konkreten mit dem Abstrakten. Eine solche Verwechslung entspricht der irrtümlichen Vertauschung unterschiedlicher Entwicklungsmomente, bzw. Entwicklungsphasen miteinander: sei es eines anfänglichen mit einem späteren Entwicklungsmoment, sei es eines späteren mit einem anderen solchen Moment oder der Entwicklung insgesamt mit ihrem Resultat, sei es umgekehrt die Vertauschung eines solchen Resultates mit der zugehörigen oder einer anderen Entwicklung oder irgendeinem vorangehenden Entwicklungsmoment. Dabei gibt es nicht nur die Vertauschung unterschiedlicher Momente oder Phasen, sondern auch die Vertauschung zwischen Entwicklungsmomenten und Entwicklungsphasen gleicher oder unterschiedlicher Entwicklungsstufe. Immer geht eine solche irrtümliche Vertauschung Hand in Hand mit einer korrespondierenden Verwechslung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten. Diese Vertauschungs- und Verwechslungsmöglichkeiten erstrecken sich auch auf den Bereich des epochalen Gegensatzes von Antike und Moderne. So war es in den Augen Hegels ein grundsätzlicher Irrtum, die antike Kultur und ihre Philosophie unter Verdrängung der eigenen geschichtlichen Gegenwart blindlings wiederholen zu wollen; ein folgenschwerer Irrtum nicht weniger aber auch dies, die Philosophie der Moderne gleichsam aus dem Nichts, aus einem absoluten und voraussetzungslosen Anfang entstehen zu lassen, in welchem die Vorgeschichte desselben, insbesondere seine begriffliche Vorgeschichte vergessen ist. Aus dieser Perspektive war die Wiederbelebung der Philosophie der Griechen nicht länger bloß Selbstzweck. Vielmehr entdeckte Hegel durch diese Wiedererinnerung die Prinzipien einer philosophischen Kritik, die ihn instand setzte, die Verwechslung des Abstrakten und des Konkreten in der Philosophie der Neuzeit zu durchschauen und ihre Konsequenzen, den abstrakten Formalismus und Subjektivismus in der Philosophie seiner Zeit zu kritisieren. Aber zugleich fand er auf dem Wege jener Erinnerung auch eine Grundlage für die Prägung seiner eigenen neuzeitlichen Philosophie des Konkreten. Hegels Wiedererinnerung der Philosophie der Griechen, ihre dialektische Anverwandlung und „Aufhebung" in seinem eigenen Denken hat insofern methodischen Charakter. Sie hat Methode, welche ebensosehr in der systematischen wie in der historischen Darstellung dieses Denkens zu Buche geschlagen ist. Niedergeschlagen hat sich diese methodische Anamnese überall in dem entworfenen System der philosophischen

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Wissenschaft: in der spekulahven Logik, d. i. der allgemeinen Ontologie ebenso wie in der Philosophie der Natur und in der Philosophie des endlichen und des absoluten Geistes. Der philosophische „Archäologe" wird bei seinen Begriffsschürfungen immer sehr schnell hier auf zwei sich überlagernde und sich durchdringende Begriffsschichten stoßen: auf die Schichten einer antiken und einer modernen Begriffsbildung. Diese Schichten sind zusammengewachsen zu einem Ganzen einer konkreten Begriffsgestalt.3 Dem Kompositionsprinzip der Schichtung und Überlagerung des Alten und des Neuen begegnet man auch, wenn man den Gebrauch der erwähnten Grundbegriffe der Entwicklung und des konkreten Seins genauer verfolgt. Für Hegel sind diese Begriffe philosophische Prinzipien, die ebensogut der Philosophie des ARISTOTELES wie der des KANT entnommen sein können und die hier wie dort die Philosophie der Natur maßgeblich bestimmen. Hegel macht von diesen Begriffen seinen eigenen Gebrauch: wie gesagt in der Verhältnisbestimmung zwischen der Philosophie und ihrer eigenen Geschichte; aber auch in der allgemeinen Ontologie, in der Philosophie der Natur, — und vor allem in der Philosophie des Geistes. Es ist hier in der Philosophie des Geistes, wo jene Begriffe in ihrer spezifisch ARiSTOTELischen Prägung ihre volle begriffsgeschichtliche Wirkung entfalten. So hat Hegel in der „Einleitung" in seine Philosophie des Geistes „die Bücher des ARISTOTELES über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben" rühmend erwähnt als „noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand"^. Dabei wollte er vor allem den wesentlichen Zweck einer Philosophie des Geistes gewürdigt wissen, der nur der sein konnte, „den Begriff wieder in die Erkenntnis des Geistes einzuführen''^. Den tieferen Sinn und Zweck dieser Losung einer Wiedereinführung des Begriffes in die Erkenntnis des Geistes verdeutlicht nichts eindrucksvoller als jenes berühmte Zitat aus dem XII. Buch der ARiSTOTELischen Metaphysik, mit dem Hegel kommentarlos seine Philosophie des Geistes und mit ihr zugleich die Philosophie im ganzen abschließt. Es ist das Zitat jener Textpassage, die von dem Denken des Denkens, von dem sich-wissenden Geist han3 Besonders deutlich wird dieses Kompositionsprinzip in dem bekannten Buch von W. Purpus: Zur Dialektik des Bewußtseins nach Hegel. Berlin 1908, auch wenn der Verfasser dabei nirgends zur philosophischen Durchdringung dieses Zusammenwachsens von Antike und Moderne in dem untersuchten Text der Phänomenologie des Geistes gelangt. •* Enzyklopädie der philosophischen INissenschaften im Grundrisse (1830). Neu herausgegeben von F. Nicolin u. O. Pöggeler. Hamburg 1959 u. ö. (Im folgenden zitiert: Enz.) § 378. 5 Ebd.

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delt, von der Identität des Denkens und des Gedachten in der reinen Selbsttätigkeit, in der Hegel seine Wahlverwandschaft mit ARISTOTELES zum Ausdruck bringt. Die Wiedereinführung des Begriffes in die Erkenntnis des Geistes bedeutet, von jenem Schlußpunkt des philosophischen Systems im Ganzen aus gesehen: die Erkenntnis des ursprünglichen Wesenszusammenhanges zwischen Leben, Geist und Gott, zwischen lebendigem, geistigem und göttlichem Sein. Hier, in dieser Wesenserkenntnis begegnen das Denken der Moderne und das der Antike einander. Es ist dies eine Wesenserkenntnis, die sich auf die Einheit des Begriffes gründet; und diese Einheit ist die Einheit einer begrifflichen Mannigfaltigkeit, in der insbesondere auch solche Begriffe versammelt sind, die im Zentrum des ARiSTOTELischen Denkens stehen, Begriffe wie Form und Stoff, Energeia und Dynamis, Entelechie und konkretes Sein.

II. Die Wiedereinßhrung des Begriffes in die Philosophie des Geistes jenseits einer Metaphysik der Seele und einer Transzendentalphilosophie des Bewußtseins Die von Hegel geforderte Wiedereinführung des „Begriffes" in die Erkenntnis des Geistes zielt demnach auf die Neubegründung einer Philosophie, die, im Bewußtsein der Differenz zwischen Antike und Moderne, dem Wesen des Geistes in seiner vollen, unreduzierten Konkretion gerecht wird, und die demgemäß die Vielfalt des geistigen Lebens in seiner konkreten Besonderung als seelisches und bewußtes Sein, als Verstand, als Vernunft und als Geist zum Gegenstand der philosophischen Erkenntnis macht. Jene Forderung hat somit aber auch eine kritische Funktion gegenüber der Philosophie der eigenen Zeit. Diese Kritik richtet sich zwangsläufig gegen den Mangel, gegen die Abwesenheit des Begriffs in den maßgeblichen Strömungen und Richtungen der neuzeitlichen Philosophie des Geistes. Hier kommt der kritisierte Begriffsmangel als der Mangel abstrakter Vorstellungen des geistigen Seins zum Vorschein und als entsprechende irrtümliche Verwechslung dieser Abstraktionen mit dem wahren konkreten Sein. Einen solchen Mangel des Begriffes konstatiert Hegel in der rationalen und in der empirischen Psychologie seiner Epoche, und zwar sowohl innerhalb der rationalen Metaphysik wie innerhalb des transzendentalen Idealismus, also innerhalb der beiden wichtigsten neuzeitlichen Gestaltungen einer Philosophie des

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Geistes. Der Vorwurf des Begriffsmangels trifft hier wie dort die Vorstellungen von der menschlichen Subjektivität, aber auch die jeweilige abstrakte Unterscheidung zwischen dem Logisch-Apriorischen und dem Empirisch-Aposteriorischen in der Erkenntnis des Geistes. In dieser Kritik kommt den Begriffen und Kategorien ARiSTOTELischen Ursprungs eine maßgebliche bestimmende Funktion zu. So.kritisiert Hegel am Begriff der Seele innerhalb der rationalen Metaphysik, daß jene hier als ein abstraktes Ding vorgestellt werde, als ein bloßes Gedankending und als eine Substanz des Denkens ohne Leben und Geist. Dieser abstrakten Vorstellung von der Seele entspreche die Form der Aussagen über sie. In diesen Aussagen fungiere die Seele inkonsequenterweise lediglich als allgemeines Prädikat eines Zugrundeliegenden, als die abstrakt-allgemeine Bestimmung eines materiellen tierischen Körpers. Nicht anders aber werde mit den zu bestimmenden Vermögen und Kräften dieser Seele verfahren. Auch diese würden als Prädikate vorgestellt, sei es als Besonderungen des allgemeinen Seelenbegriffes, sei es als Besonderungen des allgemein-bestimmten Verhaltens des tierischen Körpers. Der von Hegel kritisierte Mangel des Begriffes ist hier ein vielfältiger: Es ist der Mangel der Abstraktion in der Bestimmung des allgemeinen Seelenbegriffes, ferner der Mangel der abstrakten Verhältnisbestimmung des Allgemeinen und Besonderen im Verhältnis der Seele zu ihren Vermögen und Kräften, in der das Spezifische dieser Aktivitäten und das ihres konkreten Zusammenhanges verfehlt wird. Schließlich aber ist, mit diesen Mängeln zusammenhängend, vor allem ein Mangel zu konstatieren, nämlich der, daß durch diese abstrakte Betrachtungsweise des Allgemeinen und Besonderen das Einzelne und damit die singuläre Konkretion des seelischen Seins überhaupt nicht in den Blick der Erkenntnis zu gelangen vermag. Abstrakt und formell bleiben hier alle Erkenntnisse der Seele, sofern dabei die allgemeinen und besonderen seelischen Bestimmungen vom Einzelnen und Konkreten abgetrennt betrachtet werden. Auf diese Weise vermag die philosophische Erkenntnis der einzigartigen Einheitsform geistiger Gebilde, zu denen nicht zuletzt die Seele zählt, ebensowenig gerecht zu werden wie der lebendigen Wirksamkeit und Spontaneität der seelischen Kräfte. Diese werden nicht in ihrer konkreten Wirksamkeit bestimmt, sondern nur als abstrakte Gegebenheiten vorgestellt; teils durch ihre Repräsentation in substantiellen Attributen und dinglichen Eigenschaften, teils als Repräsentation von solchen Attributen und Eigenschaften. Auf diese Weise aber ergibt sich lediglich ein äußeres Nebeneinander von Vermögen und Kräften, deren Einheitsform die eines räumlichen Naturgebildes ist.

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Aus der ARiSTOTEÜschen Begriffsperspektive ergibt sich für Hegel, daß die Substanz- und Dingontologie der neuzeitlichen rationalen Metaphysik als Grundlage einer Philosophie des Geistes inadäquat ist, und daß es einer Revision dieser Ontologie zugunsten einer Ontologie des Subjektes bedarf. In dieser neuen Ontologie des Subjektes spielt der ARISTOTELische Begriff der Entelechie offenkundig eine hervorragende Rolle. Dabei geht es um mehr als nur um die Wiedereinführung der Zweckursachen in die Naturerkenntnis. Schließlich war der Streit um das Für und Wider dieser Wiedereinführung bereits eine der großen Streitfragen der rationalen Metaphysik selbst. Die Wiedereinführung des Begriffes in die Erkenntnis des Geistes bedeutet vielmehr: begriffliche ExplikaHon des gesamten Begriffsnetzes, das sich um den Begriff der Entelechie knüpft: insbesondere der Begriffe des Prozesses und der lebendigen Entwicklung, sowie der inneren Zweckbestimmung und der zielgerichteten Selbsttätigkeit; darüber hinaus aber die begriffliche Bestimmung der Zusammenhänge des Allgemeinen und Besonderen mit dem Einzelnen. Hierher gehört auch die methodische Anwendung jenes Prinzips, welches Hegel als das des „spekulativen Satzes" bezeichnet hat, in dem man eher das vereinfachende Schema des spekulativen Begriffsgebrauches als diesen selbst zu sehen hat. Dieser schematische Gebrauch des spekulativen Satzes in der Philosophie des Geistes, insbesondere hinsichtlich des seelischen Seins, bedeutet, daß hier, in allen Aussagen über die Seele, der Begriff des „Seelischen" methodisch sowohl als Subjektbegriff wie als Prädikatsbegriff Verwendung finden muß, und zwar sowohl hinsichtlich des Verhältnisses der Seele zum materiellen Körper wie auch hinsichtlich des Verhältnisses der Seele zur Mannigfaltigkeit der seelisch-geistigen Aktivitäten. Wo die Seele als prädikative Bestimmung eines materiellen Körpers gedacht, und dieser Körper demzufolge als „beseelt" und als lebendiger Körper begriffen wird, da ist die Seele auf andere Weise Thema und in einem anderen gegenständlichen Verhältnis stehend gedacht als da, wo sie den Subjektbegriff abgibt für Aussagen, die der Seele den Besitz und die Habe eines eigenen und ihr spezifisch eigentümlichen Körpers zusprechen. Und ebenso liegen jeweils spezifische Grundverhältnisse und Phänomenbereiche des Seelischen vor, je nachdem, ob in den philosophischen Aussagen über die Seele der Begriff derselben als Subjektbegriff oder als Prädikatbegriff Verwendung findet. In diesen beiden unterschiedenen Fällen werden teils unterschiedliche Verhältnisse der Seele zu ihren Kräften und Tätigkeiten, teils unterschiedliche Aktivitäten, teils unterschiedliche Verhältnisse dieser Aktivitäten zu anderen Gegebenheiten zur Erörterung stehen. Hegel hat

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seine Philosophie des Geistes eingeleitet mit einem Verweis auf das Selbstgefühl des Subjektes. Dieses Selbstgefühl ist eine seelische Grundkraft, „das Selbstgefühl von der lebendigen Einheit des Geistes", es „setzt sich von selbst gegen die Zersplitterung desselben in die verschiedenen, gegeneinander selbständig vorgestellten Vermögen, Kräfte oder, was auf dasselbe hinauskommt, ebenso vorgestellten Tätigkeiten".^ Der Begriff des Selbstgefühls, auf den Hegel hier zurückgreift, entstammt der von ihm kritisierten Psychologie der rationalen Metaphysik.^ Insofern gibt dieser Rückgriff zugleich zu erkennen, daß diese metaphysische Psychologie nicht grundsätzlich verworfen, sondern daß ihr eine bedingte Wahrheit zugestanden wird, die sich mittels der angezeigten ARiSTOTELischen Begriffsperspektive in eine umfassendere Philosophie des Geistes integrieren läßt. Der Rückgriff auf diesen, der rationalen Metaphysik entstammenden Begriff des Selbstgefühls sagt zugleich aber etwas aus über das Verhältnis der Hegelschen Philosophie des Geistes zur Psychologie des transzendentalen Idealismus von KANT, insbesondere zu dem Grundbegriff dieser Psychologie, dem des transzendentalen Bewußtseins. Der metaphysische Begriff des Selbstgefühls entspringt aus der Anwendung des CARTESischen Grundprinzips des Selbstdenkens auf das menschliche Sinnesvermögen als solches. So wie das Denken ursprünglich mit dem Selbstsein des Denkenden verknüpft ist, so das Fühlen ursprünglich mit dem Selbstsein des Fühlenden. Der Begriff des Selbstgefühls bildet in Hegels Philosophie des Geistes einen Brückenschlag zwischen der Psychologie der rationalen Metaphysik und der des transzendentalen Idealismus. Dabei fungiert es auch als Prinzip der Kritik an dem idealistischen Bewußtseinsbegriff der KANrischen Transzendentalphilosophie. Dieser Bewußtseinsbegriff ist nicht nur, wie bei DESCARTES, an den formalen Begriff eines denkenden Subjektes überhaupt geknüpft, sondern darüber hinaus funktional auf die höheren Erkenntnisvermögen der Anschauung, des Verstandes und der Vernunft bezogen. Seine Funktion besteht darin, Einheit in der Anwendung dieser verschiedenen Vermögen auf das durch die Sinnlichkeit Gegebene zu ermöglichen und auf diese Weise die Einheit einer objektiv gültigen Gegenstandserkenntnis zustandezubringen. In dieser Funktionsbestimmung des Begriffes eines transzendentalen Bewußtseins scheint der metaphysische Begriff der 6 Enz. § 379. ^ Vgl. A. G. Baumgarten: Metaphysica. § 534. Das Selbstgefühl ist hier bestimmt als ich denke meinen gegenwärtigen Zustand unter Bedingungen meiner Sinnlichkeit.

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Seele und mit diesem die ursprüngliche Kraft des Selbstgefühls ebenso verdrängt wie das damit verbundene Gefühls- und Empfindungsleben der Seele überhaupt. Aufgrund dieser Verdrängung konstituiert sich ein bewußtes Selbst- und Weltverhältnis, dem der Grund und Boden eines ursprünglichen unbewußten Verhaltens zu sich und zur je eigenen Welt entzogen ist. Aufgrund dieser Verdrängung und des ihr entsprechenden Selbst- und Weltentzugs muß das bodenlos gewordene bewußte Selbstund Weltverhältnis abstrakt bleiben. In seiner Kritik an der Psychologie des transzendentalen Idealismus hat Hegel sich keineswegs mit dem Rückgriff auf den metaphysischen Seelenbegriff des Selbstgefühls begnügt. Vielmehr ist auch die Kritik an der Psychologie des transzendentalen Idealismus von jener eigenwilligen ARiSTOTELischen Begriffsperspektive geleitet, die sich hier mit dem Prinzip des Selbstgefühls unschwer verbindet. Daher bestehen weitgehende Analogien zwischen der Kritik an dieser und jener philosophischen Position und den entsprechenden Prinzipien der Subjektivität. KANTS Terminus eines Dinges an sich ist schon für sich eine Bestätigung dessen, daß die transzendentalphilosophische Bestimmung der Subjektivität nicht aus dem Bann der Ding- und Substanzontologie herausfindet. Wie schon für das Verhältnis der Seele zu ihren Kräften, so scheint auch für das Verhältnis des Bewußtseins zu seinen Vermögen, den Erkenntnisvermögen der Anschauung, des Verstandes und der Vernunft zu gelten, daß das Allgemeine hier gegenüber seinen Besonderungen abstrakt und äußerlich bleibt und insofern außerstande ist, diese Besonderungen selbst aus sich hervorzubringen und sich mit den entsprechenden Unterschieden zu vermitteln. Und so vermag das transzendentale Bewußtsein, das als Bedingung möglicher Einheit fungiert, auch nicht jener lebendigen Einheit des Geistes gerecht zu werden, auf die uns das Selbstgefühl untrüglich hinweist. Vielmehr ist und bleibt die objektive Erkenntnis, die durch das Bewußtsein und seine Erkenntnisfunktionen ermöglicht werden soll, die Erkenntnis eines gegenständlichen Außereinander-Seins, unter Bedingungen äußerlicher Verknüpfungsformen der Anschauung, des Verstandes und der Vernunft. Aber auch darin stimmt die Hegelsche Behandlungsart des transzendentalen Idealismus mit der der rationalen Metaphysik überein, daß sie auch hier sich nicht mit einer rein destruktiven Kritik zufrieden gibt, sondern bemüht ist, in dem Gegenstand der Kritik die bedingte Wahrheit anzuerkennen und durch die quasi-aristotelische Begriffsperspektive Raum zu schaffen für die Integration dieser Wahrheit in den umfassenden Erkenntniszusammenhang einer Philosophie des konkreten Gei-

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stes. Es ist, wenn nicht dem „Buchstaben", so doch dem „Geiste" dieser Philosophie gemäß, wenn der ARiSTOTEÜsche Begriff der Entelechie auch auf den transzendentalphilosophischen Begriff des Bewußtseins Anwendung findet. Demgemäß läßt sich sagen: So wie die Seele die erste Entelechie eines komplexen, mit der Möglichkeit des Lebens begabten Körpers ist, so ist das Bewußtsein die erste Entelechie einer differenzierten Seele, die zur vernünftigen Erkenntnis begabt ist. Es ist nicht zuletzt diese ARiSTOTEÜsche Begriffsgrundlage, die es Hegel erlaubt, Seele und Bewußtsein als zusammengehörige Prinzipien einer Philosophie der Subjektivität in die Philosophie des konkreten Geistes zu integrieren. Jene Begriffsgrundlage ermöglicht auch hier, hinsichtlich der möglichen Zusammenhänge zwischen seelischen und bewußten Phänomenen den Gebrauch des spekulativen Satzes, d. i. die methodische Vertauschung von Subjekt- und Prädikatbegriff in den philosophischen Aussagen über diese Phänomenbereiche. Allerdings darf nun Hegels produktive Kritik an den beiden philosophischen Psychologien nicht vergessen machen, daß in dieser Kritik der höhere Wahrheitsgehalt des transzendentalen Idealismus gegenüber der rationalen Metaphysik anerkannt und damit auch die Berechtigung jener Kritik eingeräumt ist, die der kritische Idealismus an dem transzendenten Vemunftgebrauch in der rationalen Metaphysik geübt hat. Diese Anerkennung einer theoretischen Überlegenheit, einer höheren Wahrheit der Transzendentalphilosophie gegenüber der rationalen Metaphysik findet ihren Ausdruck nicht zuletzt in einer entsprechenden Rangordnung unter den hier und dort maßgeblichen Prinzipien einer Philosophie des Geistes, nämlich unter den Prinzipien des transzendentalen Bewußtseins und der metaphysischen Seele. So kommt für Hegel dem transzendentalen Bewußtsein Vorrang vor dem metaphysischen Prinzip der Seele zu, und zwar sowohl in ontologischer wie auch in gnoseologischer Hinsicht. Die Differenz zwischen Bewußtsein und Seele hinsichtlich dieser Prioritäten hat ihren Grund in jeweils unterschiedlichen Verhältnissen, in denen diese beiden Gegebenheiten, Bewußtsein und Seele, jeweils zu sich selbst und zu dem Anderen stehen. Während im Bewußtsein die Beziehung auf sich und die Beziehung auf Anderes eine ursprüngliche innere Einheit bilden, treten in der Seele diese beiden Beziehungen als äußerlich getrennte Relationen auseinander: in eine Beziehung, in der die Seele sich denkend und fühlend zu sich selbst verhält, und in eine andere Beziehung zu einem Anderen, von ihr unterschiedenen, zu dem materiellen Körper, dem sie auf die eine oder andere Weise zugeordnet ist. Dagegen kennt das transzendentale Bewußtsein eine solche abstrakte Trennung zwischen seinen beiden

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Grundbeziehungen zu sich und zu Anderem nicht. Es ist, indem es Bewußtsein seiner selbst ist, zugleich Bewußtsein seines Erkenntnisgegenstandes und als Gegenstandsbewußtsein zugleich Bewußtsein seiner selbst. Angesichts der Frage nach den Gründen der Priorität des transzendentalen Bewußtseins vor der metaphysischen Seele gewinnt die Wiedereinführung des Begriffes in die Erkenntnis des Geistes, deren Funktion Hegel den ARiSTOTELischen Büchern über die Seele glaubt entnehmen zu können, eine tiefere, über die Philosophie des ARISTOTELES hinausreichende Bedeutung. Die Priorität des Bewußtseins gegenüber der Seele ist eine Priorität hinsichtlich des Verhältnisses zum „Begriff", d. i. zur Begriffsbeziehung des Einzelnen und Allgemeinen. Auch in dieser Begriffsbeziehung gibt es innere Einheit und äußerliche Unterscheidung. So treten in der Seele Einzelheit und Allgemeinheit in ihrem Verhältnis zu sich und zum Anderen äußerlich auseinander. Sofern die Seele in ihrem Verhältnis zu sich selbst, d. i. zu ihren eigenen, ihr eigentümlichen Aktivitäten und Tätigkeiten das Allgemeine ist, findet sich das Einzelne in Gestalt des materiellen Körpers als das Andere ihr gegenüber, mit dem sie auf die eine oder andere Weise verknüpft ist. Ist sie dagegen das Einfache und Einzelne, so tritt ihr das Allgemeine wiederum als ein Anderes gegenüber, nämlich auch diesmal in Gestalt des materiellen Körpers, zu dem sie ein mehr oder weniger entferntes Verhältnis hat. In diesem Falle sind die Besonderheiten die des Verhaltens dieses Körpers, der sich zu anderen Körpern teils tätig, teils leidend verhält. Ganz anders liegen die Verhältnisse im Falle des transzendentalen Bewußtseins. Mit welcher Seite des Begriffsverhältnisses von Einzelheit und Allgemeinheit dieses auch immer identifiziert wird, immer findet es an dem jeweiligen Gegenstück sein eigenes Selbst wieder. Indem es einzelnes Bewußtsein ist, ist es zugleich allgemeines Bewußtsein, und indem es allgemeines Bewußtsein ist, ist es zugleich einzelnes. Ist es allgemeines Bewußtsein hinsichtlich der verschiedenen besonderen Erkenntnisformen, so ist es hinsichtlich einer spezifischen unter seinen verschiedenen Erkenntnisformen mit dem Einzelnen, bzw. mit dem Sein der Einzelheit verbunden. Es ist die Erkenntnisform der Sinneswahrnehmung, die in Gestalt der Anschauungsformen von Raum und Zeit und als Form der Einzelheit dem transzendentalen Bewußtsein selbst Anteil an dieser Form gewährt und es auf diese Weise zu einem Einzelnen macht. Ist aber so das transzendentale Bewußtsein ein einzelnes Bewußtsein, so gewinnt es andererseits durch Teühabe an einer anderen seiner Erkenntnisformen Anteil am Allgemeinen: so, wenn es das gegebene Mannigfal-

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tige der Anschauung der Form des Verstandes unterwirft und gemäß der allgemeinen Gesetzgebung desselben unter ihren Bedingurigen begreift und erkennt. Das transzendentale Bewußtsein ist das Bewußtsein eines Erkenntnissubjektes. Als ein solches Subjekt verknüpft es die ihm eigentümlichen Erkenntnisformen hinsichtlich seiner Daten zur Einheit eines gegenständlichen Erkenntnisverhältnisses des Einzelnen und des Allgemeinen. Aber, indem es sich als ein solches Erkenntnissubjekt in seinen verschiedenen Erkenntnisformen und mittels derselben betätigt, tritt es zu sich selbst in ein entsprechendes Erkenntnisverhältnis des Einzelnen und Allgemeinen. Dies macht demnach die Bestimmung des transzendentalen Bewußtseins aus, daß es sowohl zu sich selbst als auch zu dem Anderen, dem Objekt der Erkenntnis im Begriffsverhältnis des Einzelnen und des Allgemeinen steht. ln dem Verhältnis des transzendentalen Bewußtseins zu sich selbst, in „seinem" Selbstverhältnis des Begriffes liegt seine ontologische und gnoseologische Priorität gegenüber dem metaphysischen Prinzip der Seele. Es ist dies die Priorität eines Subjektes gegenüber einer Substanz, bzw. gegenüber einem substantiellen Dinge. Diese Priorität besagt; Die Relationen zwischen gegebenen Eigenschaften von Dingen sind Abstraktionen hinsichtlich der konkreten Kausalbeziehungen von Substanzen, und diese wiederum Abstraktionen hinsichtlich der begrifflichen Spontaneität von Subjekten. Die ontologische und gnoseologische Priorität des transzendentalen Bewußtseins gegenüber der metaphysischen Seele erweist sich demnach als entsprechende Priorität des Konkreten gegenüber dem Abstrakten. Hier gilt der Grundsatz, daß das Abstrakte nicht ohne das Konkrete sein und nicht ohne dieses begriffen werden kann. Das Konkrete ist der Grund des Seins und der Erkenntnis des Abstrakten, nicht umgekehrt. Diese Priorität ist die des Selbstverhältnisses des Begriffes, des Selbstverhältnisses des Einzelnen und Allgemeinen gegenüber dem Verhältnis der äußeren Beziehung zwischen dem einen und dem anderen. Wenn Hegel zwar dem transzendentalen Bewußtsein Priorität vor der metaphysischen Seele einräumt, so hat er dem ungeachtet jenes Prinzip einer Philosophie des Geistes nicht von aller Kritik freigehalten. Die Unzulänglichkeit dieses Prinzips ist für ihn eine Unzulänglichkeit in der Anwendung des Selbstverhältnisses des Begriffes. Indem die Erkenntnislehre des transzendentalen Idealismus eine formale Identität zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis postuliert, leistet sie selbst der Reduktion jenes Subjektes auf ein bloßes Ding Vorschub und reduziert damit am Ende das Selbstverhältnis des Bewußtseins auf ein äußerliches Verhältnis eines Dinges zu einem anderen. So

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gesehen ist das transzendentale Bewußtsein zwar ein einzelnes und ein allgemeines Bewußtsein in verschiedenen Hinsichten, nämlich hinsichtlich der Formen der Anschauung und des Verstandes, nicht aber an und für sich und als Selbstverhältnis der autonomen Vernunft. Dieses transzendentale Bewußtsein ist nur ein endliches Bewußtsein, für welches die Autonomie ein unerreichbares Ideal bleibt und in welchem das Verhältnis des Begriffes zu sich selbst sich nur unvollkommen zu entfalten vermag. Eine vollkommene Entfaltung des wahren Verhältnisses der Vernunft zu sich setzt ein unendliches Bewußtsein und in diesem das Wesen und die Wirksamkeit des Geistes voraus. Die postulierte Wiedereinführung des Begriffes in die Erkenntnis des Geistes gewinnt gerade hier für Hegel eine zusätzliche wichtige Perspektive. Sie ermöglicht einen Gesichtspunkt der methodischen Kritik, die das erkenntnistheoretische Selbstverständnis der rationalen Metaphysik und des transzendentalen Idealismus gleichermaßen trifft. Diese Kritik richtet sich gegen die abstrakte Trennung zwischen Denken und Wahmehmen, sofern diese sich in einer methodischen Aufspaltung der Erkenntnis in eine rationale und eine empirische Erkenntnis mit entsprechend unterschiedlichen Gegenstandsbereichen der Philosophie des Geistes niedergeschlagen hat.

III. Die Wahrnehmung als Entelechie und als Einheit von Begriff und Erfahrung Wenn Hegel diese gemeinsame methodische Grundlage der rationalen Metaphysik und des transzendentalen Idealismus der Erkenntniskritik unterwirft, so hat er dabei durchaus auch die unterschiedlichen Konsequenzen im Auge, die hier und dort aus der Trennung des Rein-Vernünftigen und des Empirischen gezogen werden: Die rationale Metaphysik hat im Blick auf die allgemeine ontologische Differenz zwischen Existenz und Wesen die empirische Psychologie von der rationalen abgetrennt, indem sie jene auf die Erkenntnis der seelischen Existenz, diese dagegen auf die Erkenntnis des seelischen Wesens festgelegt hat. Demgegenüber hat der transzendentale Idealismus in seiner radikalen Kritik am metaphysischen Vernunftgebrauch nicht nur die Unmöglichkeit einer selbständigen rationalen Psychologie in theoretischer Hinsicht demonstriert, sondern auf der Grundlage der Demonstration dieser Unmöglichkeit Raum geschaffen für neue differenzierte methodische Unterscheidungen, die zur Ausbildung so selbständiger Disziplinen wie die der empirischen Psychologie, der Metaphysik der Sitten und der An-

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thropologie in pragmatischer Hinsicht geführt haben. Hegels Kritik der hier wirksamen methodischen Sonderungen, sein Bemühen, in der eigenen spekulativen Philosophie des Geistes die beobachteten Brüche zwischen Begriff und Erfahrung zu überwinden, sind in besonderem Maße durch seine eigenwillige quasi-aristotelische Begriffsperspektive bestimmt. Sein Zugang zur Philosophie des Stagiriten ist sich der Differenz gegenüber den anderen zeitgenössischen Deutungen wohl bewußt. ARISTOTELES war für Hegel nicht der Empiriker, der sich dem Rationalisten PLATO entgegenstellte. Und schon gar nicht war jener für ihn ein Empirist und Sensualist, kein LOCKE der Philosophie des Altertums. Das Denken des PLATO und des ARISTOTELES entsprang für ihn aus einer gemeinsamen Erkenntnisquelle. Der von ihm hier beobachtete gemeinsame Wesenszug war der der Begriffsphilosophie und der Ideenlehre, in seiner eigenen Begriffssprache: spekulative Philosophie und Philosophie des Absoluten. Wenn sich dabei das Denken des ARISTOTELES von dem des PLATO aus moderner Sicht unterschied, so nicht einfach durch das Empirische oder Empiristische, sondern durch die Totalität des Empirischen. Diese Totalität aber ist mehr als bloße Empirie. Sie ist das Verhältnis des Begriffes zu sich selbst im Verhältnis des Einzelnen und Allgemeinen zur Erfahrung; und sie ist Verhältnis der Erfahrung zum Begriff im Verhältnis des Einzelnen und Allgemeinen zu sich: „Das Empirische, in seiner Synthesis aufgefaßt, ist der spekulative Begriff."* Für Hegel lag die philosophiegeschichtliche Größe des ARiSTOXELischen Denkens in dessen einzigartigen Erfahrungsreichtum, der sich dem spekulativen Begriff verdankte und der diesem andererseits seine ungewöhnliche Konkretion verlieh. So hat er die ARiSTOTELischen Bücher über die Seele gelesen, so auch deren Wahrnehmungslehre als spekulative Theorie gedeutet. Von einer spekulativen Währnehmungstheorie zu reden, bedeutete für ihn, dem Vorkommen der Kategorien in der Wahrnehmung theoretisch Rechnung zu tragen. Dabei zählten als Kategorien, die hier vorkamen, nicht nur Sein und Quantität, Qualität, Relation etc., nicht nur Wesen und Existenz, Dynamis und Energeia, sondern vor allem der Begriff selbst in Form des begrifflichen Grundverhältnisses von Einzelheit und Allgemeinheit. Im Lichte dieser spekulativen Auffassung der Wahrnehmung zeigte sich ein gemeinsamer Grundzug in den Philosophien des * Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Zweiter Band. Berlin 1833. (Werke. Bd 14.) 298 ff und insbesondere 341. Indem Hegel immer wieder die moderne empiristische Deutung der aristotelischen Philosophie zurückweist, betont er zugleich die Bedeutung der aristotelischen Wahrnehmungstheorie, der er unter dem Terminus „Empfindung" eine ausführliche Darstellung gewidmet hat (vgl. 376 ff).

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und des KANT, über alle epochalen Differenzen hinweg.^ Hier wie dort war das Begriffsverhältnis des Einzelnen und Allgemeinen ursprünglich in der Wahrnehmung verankert, hier wie dort war dadurch die Möglichkeit einer methodischen Selbstdifferenzierung der Erkenntnis gegeben. Hier wie dort bildete die Wahrnehmungstheorie das Eingangstor zu einer Philosophie, die zumindest im Prinzip spekulative Philosophie des Geistes war. Hegels angestrengte Bemühung, durch seine eigenwillige Begriffsperspektive die abstrakte Trennung zwischen Rationalität und Empirie im Methodenverständnis der neuzeitlichen Philosophie zu überwinden, war alles andere als ein unmittelbarer, unkritischer Rückgang zu den Quellen der klassischen griechischen Philosophie. Dazu sah er nur zu deutlich, daß die neuzeitliche Wissenschaft, anders als die antike, aus der extremen Spannung zwischen rationalem und empirischem Selbstverständnis lebte. Insofern blieb ihm über der Entdeckung einer Verwandtschaft zwischen ARisTOTELischer und KANTischer Wahrnehmungslehre die epochale Differenz zwischen der einen und der anderen keineswegs verborgen. Systematisch suchte er dieser Differenz Rechnung zu tragen, indem er unterschied zwischen seelischen Empfindungen, deren Erkenntnis sich auf die Ontologie der Substanz gründet, und bewußten Wahrnehmungen, deren ontologischer Grund in der Logik der Subjektivität zu suchen ist.^o So sollte die Wiedereinführung des Begriffes in die Erkenntnis des Geistes auch nicht die Empirie aus der Philosophie verbannen, die Spannung zwischen dieser und der reinen Vernunfterkenntnis nicht neutralisieren, sondern den Verwechslungen des Abstrakten und des Konkreten entgegenwirken, die sich aus einem Bruch zwischen Rationalität und Empirie zwangsläufig ergeben mußten. Die Anerkennung, daß der transzendentale Idealismus gegenüber der rationalen Metaphysik den höheren Standpunkt darstelle, sein Prinzip des transzendentalen Bewußtseins insofern Priorität gegenüber dem metaphysischen Prinzip der Seele in Anspruch nehmen konnte, verband sich mit der Bejahung der transzendentalen Kritik am metaphysischen ARISTOTELES

® So unterstreicht Hegel nicht nur, daß Aristoteles das „reine Wesen der Wahrnehmung aufgenommen habe", sondern er sagt auch: „Die nähere Stufe des Bewußtseins, auf welcher die kantische Philosophie den Geist auffaßt, ist das Wahrnehmen, welches überhaupt der Standpunkt unseres gewöhnlichen Bewußtseins und mehr oder weniger der Wissenschaften ist." Enz. §420 Anm. Dementsprechend tut er der aristotelischen und der kantischen Wahrnehmungstheorie an verschiedenen systematischen Orten der Enzyklopädie Erwähnung. Der ersteren in der Theorie der Seele und der seelischen Empfindung (Enz. § 389), der letzteren in der Theorie des Bewußtseins und der bewußten Wahrnehmung (Enz. § 420).

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Vernunftgebrauch im Blick auf eine Philosophie des Geistes. Schon diese Kritik hatte die Überwindung der Trennung zwischen reinem Denken und der Erfahrung zum Ziele. Der Begriff einer Synthesis apriori galt hier als der Schlüssel, um Einsicht in das Wesen und auch in die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens zu gewinnen. Damit wurde die Frage, wie einem solchen Grundbegriff entsprechend synthetische Urteile zwecks Darstellung der menschlichen Erkenntnis möglich seien, die Grundfrage der Philosophie überhaupt. Das der rationalen Metaphysik entgegengestellte Prinzip eines transzendentalen Bewußtseins übernahm die Funktion eines obersten Prinzips der Einheit einer solchen Synthesis apriori, in welcher die spezifischen Beiträge der verschiedenen Erkenntnisformen in der Einheitsform eines Gegenstandes der Erkenntnis verbunden gedacht wurden. Eine solche Synthesis apriori war nicht eine jener herkömmlichen Verknüpfungen, in denen Begriffe mit Begriffen, Wahrnehmungen mit Wahrnehmungen und Begriffe mit Wahrnehmungen entweder logisch oder empirisch verbunden vorgestellt wurden. Eine Synthesis apriori, in der Funktion eines höchsten Erkenntnisprinzips, war vielmehr bestimmt als eine Verbindung apriori von reinen Begriffen und reinen Anschauungen zu einer allgemein und objektivgültigen Erkenntnisform, und zwar im Blick auf die dem Menschen durch seine Sinnlichkeit gegebene ursprüngliche Datenmannigfalhgkeit. Diese ursprüngliche Synthesis apriori galt, der Reinheit ihrer Komponenten entsprechend, selbst als rein, und ihre Reinheit besagte: Reinheit von jeglichem empirischen Gehalt und entsprechende Unabhängigkeit der Geltung von einem solchen Gehalt.Und ihre Apriorität bedeutete: Beweisbarer Primat vor aller Erfahrung als Erkenntnisbedingung möglicher Erfahrung. KANTS transzendentaler Idealismus lehrte auf Grund einiger Beweisstücke, wie aus der Anwendung des menschlichen Verstandes auf die menschliche Anschauung, einer reinen Synthesis apriori gemäß, der Begriff eines Gegenstandes der reinen Erkenntnis apriori hervorgeht, und wie aus dieser Anwendung verschiedene synthetische Urteile apriori entspringen, deren allgemein verbindlicher Charakter von obersten Grundsätzen der Erkenntnis sich demonstrieren läßt. Dies beides zusammen, die Definition eines Gegenstandes der reinen Erkenntnis aprioDie ausgezeichnete methodische Bedeutung der Reinheit des Denkens in Verbindung mit den Grundprinzipien der Entwicklung und des Konkreten für eine spekulative Philosophie hat Kuno Fischer in seinem System der Logik und Metaphysik (s. o. Anm. 2), 182, hervorgehoben und die Verwandtschaft im Denken des Aristoteles, Kant und Hegel auf diesen Begriff der Reinheit des Denkens gegründet.

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ri und die obersten Grundsätze, schreiben der menschlichen Erkenntnis die Gesetze ihrer Allgemeingültigkeit vor. Zugleich schränken sie diese Erkenntnis auf einen bestimmten Gegenstandsbereich, den des Erfahrbaren ein. Schließlich gab die transzendentale Selbstkritik der Vernunft Prinzipien einer Kritik am Vernunftgebrauch der rationalen Metaphysik an die Hand. Wenn Hegel, wie gesagt, die philosophische Überlegenheit, die höhere Wahrheit des transzendentalen Idealismus gegenüber der rationalen Metaphysik anerkannte, so galt diese Überlegenheit keineswegs nur dem Prinzip des Bewußtseins gegenüber dem Prinzip der Seele, sondern auch dem verbesserten Vernunftverständnis. Zweifellos war auch hier jene Begriffsperspektive im Spiel, die ihn eine Wesensverwandtschaft zwischen den Wahmehmungstheorien des ARISTOTELES und des KANT hatte entdecken lassen. Das ,Spekulative' der ARiSTOTELischen Wahmehmungslehre erschöpfte sich in seinen Augen nicht darin, daß dort dem Vorkommen der Kategorien in der Wahrnehmung nur überhaupt und irgendwie Rechnung getragen war. Worauf es ihm ankam, war vielmehr dies, daß dort die Wahrnehmung vom Grundbegriff der Entelechie her gedacht und dementsprechend als zweck- und zielbestimmte Aktivität der Seele, bzw. als Aktivität eines lebendigen, animalischen Körpers begriffen war. 12 Dieser Wahrnehmungsbegriff des ARISTOTELES ist demgemäß weit entfernt von dem Wahrnehmungsbegriff des neuzeitlichen Empirismus und Sensualismus, demzufolge sich die Wahrnehmung auf Sinneswahrnehmung, diese auf die Gegebenheit einer bloßen Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten und das wahrnehmende Subjekt sich auf einen rein passiven und rezeptiven Empfänger dieser Daten reduziert, die ihrerseits aus der kausalen Einwirkung materieller Dinge auf das erkennende Subjekt entsprungen gedacht werden. Wenn Hegel in KANTS Wahrnehmungslehre eine an ARISTOTELES erinnernde spekulative Komponente hineinlas, so sah er diese wohl darin, daß hier die menschliche Sinneswahrnehmung an die reinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit gebunden, und diese Formen in ihrer bestimmenden Funktion unter die Bedingung einer reinen Synthesis apriori mit den reinen Verstandesbegriffen gestellt waren. Insofern war in der Sinneswahmehmung die „Spontaneität der Begriffe" aufgrund einer reinen Verstandeshaltung des transzendentalen Bewußtseins in bestim'2 Der Begriff der Entelechie ist in den Augen Hegels der Grund- und Schlüsselbegriff der aristotelischen Philosophie überhaupt, den er, der eigenen Begriffsübersetzung folgend, bald mit „Begriff" und „Zweck", bald nüt „Wirklichkeit", „Tätigkeit" und „Subjekt" wiedergibt. Charakteristisch für Hegels Umgang mit überlieferten Philosophien im allgemeinen ist diese exemplarische Freiheit im Umgang mit einer überlieferten Terminologie.

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mender Funktion wirksam. Und KANTS Wahrnehmungstheorie war insofern ebensowenig sensualistisch wie die des ARISTOTELES. Die Wesensverwandtschaft war hier eine Verwandtschaft der Begriffe der Entelechie, der Spontaneität und der reinen Verstandeshandlung eines transzendentalen Bewußtseins, ln einer solchen spekulativen Wahrnehmungstheorie war dann insbesondere auch die erste und maßgebliche Instanz der Kritik am Vernunftverständnis der rationalen Metaphysik zu suchen. Diese Kritik am Vemunftverständnis der rationalen Metaphysik ist in erster Linie eine Kritik an der unzureichenden Bestimmtheit der Unterscheidung zwischen einem analyHschen und einem synthetischen Vernunftgebrauch, eine Unterscheidung, die zu treffen schon die einfache Wahrnehmung für sich fordert. Mit jener Unzulänglichkeit verbindet sich nun die andere einer unzureichenden Bestimmtheit der Differenz zwischen einem reinen und einem empirischen Vernunftgebrauch, die auch dann ihre Geltung behält, wenn die reine Vernunftanwendung unter empirischen Bedingungen stattfindet. So sind logische und empirische Analysen von Wahrnehmungen und empirischen Erkenntnissen für sich selbst genommen keine Erkenntnisse, wenn sie nicht mit der ihnen vorausliegenden Synthesis zu einer Erkenntniseinheit verbunden werden. Die Klärung und Verdeutlichung gegebener Vorstellungen stellt nicht schon für sich eine Erkenntnis dar, so wenig der Begriff einer klaren und deutlichen Vorstellung zur Wesensbestimmung der Erkenntnis hinreicht. Aber auch logische und empirische Synthesen empirischer Gegebenheiten können von sich aus allein keinen eigentlichen Erkenntnisanspruch erheben: die einen nicht, weil sie nur dem Scheine nach synthetisch und in Wahrheit analytische Erkenntnisse sind; die anderen deswegen nicht, weil sie es überhaupt nicht zu jener Objektivität und Allgemeingültigkeit bringen, welche allererst Notwendigkeit der Geltung ermöglicht, an der sich spezielle Erkenntnisse orientieren. Schließlich richtet sich die transzendentale Kritik gegen einen vermeintlich reinen Vernunftgebrauch, durch den das Wesen der Dinge erkannt werden soll, der aber nicht sicherstellen kann, daß die Sinnlichkeit und ihre empirischen Vorstellungen hier nicht unbemerkt einen Einfluß ausüben, der die vermeintliche Reinheit der Wesenserkenntnis trübt und zu mancherlei Fehlschlüssen Anlaß gibt. Diese verschiedenen Unzulänglichkeiten im methodischen Selbstverständnis des metaphysischen Vernunftgebrauches liefen nun alle auf eine grundsätzliche Täuschungsmöglichkeit hinaus: Indem die rationale Metaphysik die prinzipielle Endlichkeit des menschlichen Daseins in ihren Konsequenzen für die Erkenntnis ver-

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kannte, mußte es zwangsläufig dazu kommen, daß die Vernunft in ihrem Gebrauch auf die eine oder andere Weise die bestimmte Grenze überschritt, die ihr apriori durch ihre Anwendungsbedingungen gesetzt ist. Auf diese Weise wurden unbemerkt all jene Paralogismen und Antinomien auf den Plan gerufen, die der transzendentale Idealismus durch seine rigorose Beschränkung des menschlichen Vernunftgebrauches auf den Bereich des Erfahrbaren bewußt zu machen beanspruchte, um damit zugleich die entsprechenden Täuschungen auszuschalten. Nun hat die eigenwillige Begriffsperspektive, die Hegel der ARiSTOTEÜschen , Spekulation' abzugewinnen wußte, keineswegs nur die kritische Distanz gegenüber der sogenannten Verstandesmetaphysik begünstigt. Sie hat darüber hinaus ein eigentümliches Licht auf die hier zu bemerkende Übereinstimmung mit dem transzendentalen Idealismus in Sachen des metaphysischen Vernunftgebrauches geworfen. Und sie hat schließlich wesentlich beigetragen zur Kritik an der transzendentalen Vernunftkritik und ihrem Vernunftverhältnis, insbesondere zur Kritik an der Beschränkung des Vemunftgebrauches. Indem Hegel aus jener Perspektive heraus diese Beschränkung aufhebt, gewinnt sein spekulatives Denken eine neue Nähe zur rationalen Metaphysik. Auch bei dieser Annäherung spielt die spekulative Theorie der Wahrnehmung eine nicht unerhebliche Rolle. Es ist demnach die eigenwillige quasi-aristotelische Begriffsperspektive, von der aus ein erhellendes Licht auf die komplementären Unzulänglichkeiten im Vernunftverständnis der rationalen Metaphysik und des transzendentalen Idealismus fällt. Es ist dies nicht nur die Unzulänglichkeit, die Bedingtheit einer Ding- und Substanzontologie, die sich hier so wenig wie dort eindeutig zu einer Ontologie des Subjektes fortentwickeln will, zu der sie eigentlich veranlagt ist. Ein zweiter komplementärer Mangel tritt hinzu. Es ist dies der Mangel einer lediglich äußeren und abstrakten Unterscheidung zwischen einer analytischen und einer synthetischen Vernunfterkenntnis, welche auch die mögliche Verknüpfung der einen mit der anderen im Äußerlichen und Abstrakten beläßt. Während die rationale Metaphysik in ihrem Vernunftgebrauch die Bedeutung des synthetischen Elementes in der empirischen und rationalen Erkenntnis unterschätzt und damit versäumt, die Analysis an ihre Voraussetzung, die Synthesis, zurückzubinden, ist es im transzendentalen Idealismus umgekehrt: Hier wird der konstitutive Beitrag der Analysis für die Demonstration einer reinen Synthesis apriori zu gering veranschlagt, so daß hier nun, sozusagen mit umgekehrtem Vorzeichen, das Vernunftverhältnis von Analysis und Synthesis ebenfalls ganz äußerlich

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und abstrakt bleibt. Das aber ist das wahre Wesen des spekulativen Begriffes, die innere Einheit des analytischen und des synthetischen Vernunftgebrauches bei systematischem Wechsel der jeweiligen Priorität in jedem Gedankenschritt der Erkenntnis hervorzubringen. Dieses Wesen des spekulativen Begriffes vermag schon die Wahrnehmung exemplarisch zu demonstrieren. Hierin liegt die besondere Bedeutung der Wahrnehmung für eine spekulative Philosophie. Von diesem Standpunkt des spekulativen Begriffes aus erweist sich die Beschränkung des menschlichen Vernunftgebrauches auf den Bereich der Erfahrung nicht als ein einseitiges, sondern als ein wechselseitiges, — als ein Bedingungsverhältnis wechselseitiger Beschränkung. Nicht nur soll die Vernunft in ihrem Gebrauch auf den Bereich des Erfahrbaren eingeschränkt werden, sondern dementsprechend erweist sich die Erfahrung in ihrer Geltung auf den Bereich des Vernünftigen und durch die Vernunft Bestimmten eingeschränkt. Ein solches Bedingungsverhältnis gegenseitiger Einschränkung aber weist durch seine unterschiedlichen, voneinander trennbaren Komponenten über die beiderseitige Beschränkung hinaus: die Vernunft über die Erfahrung und die Erfahrung über die Vernunft hinaus. Die Spekulation aber beobachtet nicht nur diesen Verweisungszusammenhang, sondern sie erkennt den ihm zuvor- und vorausliegenden Grund in Gestalt des Wesens und des Begriffes des Geistes. Aus dieser Sicht einer spekulativen Philosophie des Geistes hat Hegel die Vernunftkritik des transzendentalen Idealismus ihrerseits kritisiert als eine Philosophie des formellen Sollens, einer schlechten Unendlichkeit und einer äußerlichen Reflexion. Dieser Kritik zufolge blieb die Einheit des Zusammenhanges zwischen dem analytischen und dem synthetischen Vernunftgebrauch äußerlich und abstrakt. Die Begriffsanalysen, welche die geforderte reine Synthesis apriori bedingten, blieben teils außerhalb der synthetischen Einheit, wie die erkenntnistheoretischen Unterscheidungen von Form und Inhalt; teils fanden sie zwar Eingang in die Synthesis als deren konstitutive Bedingungen, aber nur, um hier ganz äußerlich verbunden zu werden, wie die Unterschiede zwischen den einzelnen Erkenntnisvermögen der Sinnlichkeit und der Anschauung, des Verstandes und der Vernunft. Zu einem anderen Teil schließlich traten sie dem Bewußtsein der synthetischen Einheit als unbewältigte gegenständliche Begriffstrennungen gegenüber; so die Unterscheidung zwischen der erkennbaren Erscheinung und dem unerkennbaren Ding an sich, — eine Unterscheidung, in der die metaphysische Differenz zwischen Existenz und Wesen in modifizierter Form weiterlebte; sowie die Unterscheidung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwi-

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sehen der Endlichkeit einer auf Anschauungen beschränkten Verstandes- und Vernunfterkenntnis und der Unendlichkeit ihres Fortschrittes. Ein Blick auf diese unbewältigten Entzweiungen der transzendentalen Reflexionsphilosophie ergab nun, daß diese in der Wahrnehmung ihr besonderes Wesen treiben und daß dementsprechend die transzendentale Wahrnehmungstheorie jenem Reflexionscharakter Rechnung getragen hat. Das Vorkommen der Kategorien in der Wahrnehmung war, wie gesagt, vor allem Vorkommen der Kategorie „Begriff". Dieses aber zeigte sich in der Wahrnehmung auf zweierlei Weise und in zwei äußerlich voneinander unterschiedenen Begriffsverhältnissen des Einzelnen und des Allgemeinen. 13 Die Wahrnehmung ist Wahrnehmung des Einzelnen und des Allgemeinen. Sie ist Wahrnehmung des Allgemeinen im Einzelnen und des Einzelnen im Allgemeinen. Sie ist Wahrnehmung des Allgemeinen als Bedingung der möglichen Wahrnehmung des Einzelnen und Wahrnehmung des Einzelnen als Bedingung der möglichen Wahrnehmung des Allgemeinen. Diese verschiedenen Begriffsverhältnisse waren nun in KANTS Wahrnehmungstheorie durch äußere Reflexion voneinander getrennt und auf zwei ganz unterschiedliche Formen des Urteils zurückgeführt worden, auf die Urteilsformen einer bestimmenden und einer reflektierenden Urteilskraft. Wegen dieser Trennung der beiden ursprünglich zusammengehörigen Begriffs- und Urteilsformen mußte die konkrete Wahrnehmung jener ursprünglichen begrifflichen Einheit entbehren, die sie zum bestimmten Datum einer möglichen Synthesis apriori mit anderen Daten tauglich macht. Diese unvollkommene Einheit und mangelnde Bestimmtheit mußte ihrerseits ihr Analogon finden in einer zugrundeliegenden unvollkommenen Einheit und mangelhaften Bestimmtheit des Zusammenhanges zwischen Wahrnehmungsobjekt und Wahmehmungssubjekt. Hier nun, angesichts dieser analogen Unvollkommenheiten der Einheit und der Bestimmtheit konnte Hegel anstelle der beobachteten Wesensverwandtschaft zwischen den Wahmehmungstheorien des ARISTOTELES und des KANT nunmehr eine ÜberlegenHegel hat nicht nur die Verwandtschaft der aristotelischen und kantischen Darstellung der Natur hinsichtlich der allgemeinen Idee derselben und hinsichtlich des Gebrauches des Begriffes des Zweckes in der Erkenntnis derselben betont, sondern hinzugefügt, daß „des Aristoteles Begriff von der Natur . . . vortrefflicher" sei „als der gegenwärtige"; vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. (Werke. Bd 14.) 342. Dieser Wertmaßstab überträgt sich konsequenterweise auch auf die Darstellung der Wahrnehmung, sofern diese in den Bereich der Natur und des Geistes fällt. So verfehlt Kants subjektivistische Deutung der Reflexion in der Theorie der reflektierenden Urteilskraft den Doppelcharakter der Reflexion als subjektive und objektive Reflexion. Zur „Mischung" von Einzelheit und Allgemeinheit in der Wahrnehmung vgl. Enz. §421.

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heit und höhere Wahrheit der Theorie des ersteren im Vergleich zu der des letzteren konstatieren. Denn wenn die Wahrnehmung, wie dies bei ARISTOTELES geschieht, als Entelechie bestimmt, und damit in den realen Bewegungszusammenhang von D3mamis und Energeia versetzt wird, so wird sie damit als ein teleologisch bestimmtes Geschehen begriffen: als ein zielbestimmter realer Vorgang, dessen Entwicklung seinen Zweck in sich selbst hat, in dessen Entwicklungsverlauf das Wahrnehmbare zum Wahrgenommenen wird und das Wahrnehmungsorgan zusammen mit dem Wahrnehmungsvermögen der Seele und durch dieses bestimmt, vom potentiellen Sein in ein aktuales Sein übergeht. Die Wahrnehmung ist aber, so gesehen, nicht nur Entelechie überhaupt, sondern Entelechie der wahrnehmenden Seele, und diese, ihrem bestimmten Begriff entsprechend, nicht nur an einen lebendigen Körper überhaupt, sondern an einen bestimmten tierischen Organismus gebunden. Die Wahrnehmung ist insofern das bestimmte Verhalten eines solchen Organismus zu den von ihm wahrgenommenen Gegenständen; und die Wahrnehmung als Bewegung der Entelechie die Konstitution einer konkreten Einheit in der Unterscheidung zwischen dem bestimmten Objekt und dem Subjekt der Wahrnehmung. Verglichen mit dieser , spekulativen' Deutung des Wahrnehmungsgeschehens bleibt KANTS transzendentale Wahrnehmungslehre unzureichend. Zwar wird auch hier die Relation zwischen dem Wahrnehmungsgegenstand und dem wahrnehmenden Subjekt an die , transzendentale' Bedingung einer Form der inneren Zweckmäßigkeit im Verhältnis des Wahrnehmbaren zum Erkenntnisvermögen des wahrnehmenden Subjektes gebunden. Aber diese Form der inneren Zweckmäßigkeit ist nicht für die Entwicklung und die ständige Präsenz der Wahrnehmung bestimmend. Sie gilt vielmehr als ein Produkt der reflektierenden Urteilskraft, indem ein mögliches Erkenntnissubjekt sich nicht erkennend, sondern lediglich urteilend zu einer gegebenen Wahrnehmung verhält. Das Prinzip der Entelechie hat es nun Hegel erlaubt, wenn auch nicht dem Buchstaben, so doch dem Geiste der ARiSTOTELischen Psychologie vermeintlich folgend, die spekulative Wahrnehmungstheorie noch einen Gedankenschritt weiter zu entwickeln. Nicht nur die Einheit von Objekt und Subjekt, sondern auch die Einheit der beiden in der Wahrnehmung vorkommenden Begriffsverhältnisse des Einzelnen und Allgemeinen sollte dank des Prinzips der Entelechie möglich sein und auf diese Weise in die Wahrnehmung Einheit und Bestimmtheit des Begriffes bringen. Dank der Anwendung des Entelechieprinzips, oder — in Hegelscher Terminologie — aufgrund der Selbstbewegung des Begriffes zeigte sich

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die wahre, die begriffliche Bewegung der Wahrnehmung: als konkrete Entwicklung von der einzelnen zur allgemeinen Wahrnehmung, von der Wahrnehmung zur Erfahrung in der Wahrnehmung und durch die Wahrnehmung. Und diese konkrete Entwicklung stellt sich dar als Entwicklung von der Wahrnehmung des Einzelnen als solchem und des Einzelnen im Allgemeinen und durch das Allgemeine zur Wahrnehmung des Allgemeinen als solchem und des Allgemeinen im Einzelnen und durch das Einzelne, sowie als die entgegengesetzte Entwicklung unter den Bedingungen eines wesentlich veränderten Zusammenhanges zwischen dem Wahrnehmbaren und Wahrgenommenen einerseits und dem Wahrnehmungsvermögen und dem Wahmehmenden andererseits. Angesichts der Frage nach dem zureichenden Grunde dieser Bewegung der Wahrnehmung durch den bewegenden Begriff mittels seiner Selbstunterscheidung eines Einzelnen und eines Allgemeinen erweist sich, daß die Wahrnehmung nicht nur die empirische Erfassung der Existenz und die rationale Aufnahme des Wesens eines gegebenen Wahrnehmungsdinges ist; daß sie sich auch nicht nur bestimmen läßt als die Rezeption einer Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten durch das sinnliche Rezeptionsvermögen unter Bedingungen, die nicht rein empirisch sind, sondern unter Bedingungen möglicher Erfahrung wie die reinen Anschauungsformen und die spontanen Verstandesbegriffe. Aber sie ist auch nicht nur, und alledem zuvor, Entelechie und Bewegung durch den spekulativen Begriff mittels seiner Selbstbewegung. Denn selbst angenommen, daß es der spekulative Begriff ist, der durch seine Selbstunterscheidung der Beweger der Wahmehmungsbewegung ist, so ist mit diesem Hinweis auf ihn als das teleologische Bewegungsprinzip des Wahrnehmungsgeschehens die Frage nicht zureichend beantwortet, warum seine Selbstbewegung Bewegung der Wahrnehmung ist und worin diese seine Selbstbewegung und die Bewegung eines anderen durch ihn ihren Grund hat. Daher bedarf die Beantwortung der Frage nach dem zureichenden Beweggrund der Wahrnehmung eines Bewegungsprinzips, welches ursprünglicher und grundlegender ist als die Prinzipien der Seele, des Bewußtseins und der Vernunft mitsamt ihrem begrifflichen Bewegungsapparat. So ist, Hegel zufolge, der wahre Grund des Wahrnehmungsgeschehens, welches sich in Form der Selbstbewegung des Begriffes vollzieht, im aktualen Wesen und in der lebendigen Selbsttätigkeit des Geistes zu suchen.

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IV. Die Transformation der aristotelischen Wahrnehmungslehre 1. Der Geist als Entelechie der Natur Vom Wesen und von der lebendigen Selbsttätigkeit des Geistes als dem wahren Beweggründe aus gesehen ist die Wahrnehmung nicht nur dieses oder jenes, sondern dieses und jenes. Und die verschiedenen Wahrnehmungsbegriffe, welche die traditionellen Philosophien ihren eigenen theoretischen Grundprämissen folgend aufgestellt haben, erweisen sich daher als einseitig, indem sie immer nur einen Aspekt auf Kosten anderer in den Blick rücken. In Wahrheit ist die Wahrnehmung mancherlei und begreift in ihrem Begriffe eine Vielfalt von Verhaltensweisen lebendiger Subjekte in sich: Sie ist Sinnesempfindung und Wahrnehmung der Gegenstände des äußeren und inneren Sinnes; und sie ist empirische Beobachtung von Wahrnehmungsdingen hinsichtlich eines fraglichen Wahrnehmungszusammenhanges, sowie verständige Beobachtung eines Wahrnehmungszusammenhanges hinsichtlich gegebener Wahrnehmungsgegenstände. In diesen verschiedenen Arten, bzw. Gestalten der Wahrnehmung vollzieht sich dank des aktualen Wesens des Geistes und aufgrund seiner aktualen Wirksamkeit die Begriffsentwicklung des Einzelnen und Allgemeinen auf je spezifische, der jeweiligen Gestalt entsprechende Weise. Wird die Begriffsentwicklung der Wahrnehmung nicht mehr nur aus dem abstrakten metaphysischen oder transzendentalen Gegensatz von Vernunft und Empirie, und nicht mehr nur als Entelechie des Begriffes verstanden; wird vielmehr diese Begriffsentwicklung selbst als aus dem Wesen des Geistes entsprungen und somit als ursprüngliche Entelechie des Geistes erkannt, so fällt damit ein neues Licht auf das Wahmehmungsgeschehen und auf den Entwicklungszusammenhang zwischen Wahrnehmung und Erfahrung. Beide, Wahrnehmung und Erfahrung, gewinnen aufgrund der Entelechie des Geistes eine neue Dimension. Beide, Wahrnehmung im Einzelnen und im Allgemeinen erweisen sich hier als geistige Phänomene und ihre zusammenhängende Entwicklung als Entwicklung des Geistes. So gesehen ist Erfahrung nicht mehr nur die empirische oder apriorische Synthesis gegebener einzelner Wahrnehmungen, die alle einem einzigen bestimmten Typus der Wahrnehmung zugerechnet werden, also nicht mehr nur eine Synthesis verschiedener Wahrnehmungen von je unterschiedlichem singulären Gehalt unter der Bedingung einer identischen allgemeinen Wahrnehmungsform. Aber sie ist auch nicht mehr nur eine Synthesis verschiedener Formen und Inhalte der Wahrnehmung unter der Voraus-

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Setzung der Unterscheidbarkeit von Form und Inhalt in der Wahrnehmung; also nicht mehr nur Synthesis verschiedener Formen und verschiedener Inhalte jeweils untereinander, sondern Synthesis verschiedener Formen untereinander unter Voraussetzung jeweils identischer Gehalte und Synthesis verschiedener Inhalte unter Voraussetzung jeweils identischer Formen, sowie Synthesis dieser Synthesen. Wahrnehmung und Erfahrung sind vielmehr als geistige Phänomene und als Entwicklungen des Geistes betrachtet über all dieses hinaus: Synthesis des Wahrgenommenen mit dem Wahrnehmenden, des Objektes mit dem Subjekt der Wahrnehmung; aber nicht nur Synthesis überhaupt, sondern Synthesis hinsichtlich der mannigfachen Formen und Inhalte der Wahrnehmung. Dank dieser mannigfachen Formen und Inhalte ist sowohl Gleichheit wie Verschiedenheit zwischen Objekt und Subjekt der Wahrnehmung möglich. Und es entsprechen diesen verschiedenen zusammenhängenden Formen und Inhalten nicht nur verschiedene Objekte, sondern auch verschiedene Subjekte der Wahrnehmung. Die Phänomene der Wahrnehmung und der Erfahrung sind als geistige Phänomene Phänomene des Lebens und der Erkenntnis. Und die aktuale Wirksamkeit, die Entelechie des Geistes ist hinsichtlich dieser Phänomene Beweggrund und Grund der Erkenntnis. So kommt in jenen Phänomenen das Wesen eines Lebendigen und das des Geistes auf je spezifische Weise zum Ausdruck. Insofern ist hier das ontologische und gnoseologische Verhältnis von Phänomen und Wesen anders bestimmt als das metaphysische Verhältnis von Existenz und Wesen, und auch anders bestimmt als das transzendentale ideale Verhältnis von Erscheinung und Ding an sich. Denn der Begründungszusammenhang zwischen den Phänomenen und dem Wesen des Geistes verleiht beiden Seiten, den Phänomenen und dem Wesen wechselseitig Erkennbarkeit. Die geistigen Phänomene, wie zum Beispiel die Wahrnehmungsphänomene, werden erkennbar in der Erkenntnis des Wesens des Geistes, so wie das Wesen des Geistes erkennbar wird in der Erkenntnis der vielfältigen geistigen Phänomene. Hier ist nicht nur die abstrakte metaphysische Unterscheidung zwischen einer empirischen und einer rationalen Erkenntnis der Seele, sondern auch die abstrakte transzendentale Trennung zwischen dem Erkennbaren und dem Unerkennbaren hinsichtlich des Bewußtseins möglicher Erfahrung überwunden. Erfahrung ist hier nun nicht nur seelische und bewußte Erfahrung, nicht nur Erfahrung der Seele und des Bewußtseins, sondern geistige Erfahrung und Erfahrung des Geistes. In dieser Erfahrung sind jene abstrakten Unterscheidungen zugunsten der Konkretion überwunden. Die Erkenntniseinheit, die zwi-

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sehen den geistigen Phänomenen und dem Wesen des Geistes besteht, hat die geistige Form der Entelechie. Sie ist einheitliche Fortentwicklung der geistigen Erfahrung hinsichtlich der Erkenntnis des Geistes als solche, d. i. des absoluten Geistes. Schon die Wahrnehmung läßt uns nicht nur einen bestimmten Gegenstand der Sinne bemerken und uns dessen Präsenz vergewissern; sie läßt uns nicht hur einen Zusammenhang von gegenständlichen Eigenschaften und Kräften beobachten. Vielmehr erweisen sich die Erfahrungen, die wir in diesen Wahrnehmungen machen, als ebenso viele Beweisgründe für das Dasein und für das Wesen des Geistes. Mit dieser spekulativen Einsicht, daß das aktuale Wesen des Geistes den obersten Beweg- und Erkenntnisgrund für alle geistigen Phänomene, und so auch für die Phänomene der Wahrnehmung bildet, scheint nunmehr die äußerste Nähe zur Philosophie des ARISTOTELES gewonnen. Hier scheint es nun aus Hegels Sicht wahrhaft gerechtfertigt, an den Gedanken zu erinnern, daß der Geist (Nous) der unbewegte Beweger ist, und dieser Erinnerung Rechnung zu tragen in Form des erwähnten unkommentierten Zitats aus der ARiSTOTELischen Metaphysik, mit dem die Philosophie des Geistes endet. Besondere RechtferHgung für diese Erinnerung aber scheint durch die ARiSTOTELische Psychologie und deren Wahrnehmungslehre gegeben. Denn hier sind nicht nur verschiedene Fähigkeiten und Wirksamkeiten der Seele und nicht nur entsprechende Gegenstände unterschieden, auf die jene Fähigkeiten und Wirksamkeiten gerichtet sind; sondern diesen verschiedenen Fähigkeiten und Tätigkeiten entsprechend verschiedene Seelen oder Subjekte, wie sie Hegels eigene spekulative Theorie der Subjektivität fordert: pflanzliche, tierische und menschliche Seele, unter denen allein den beiden letztgenannten die Fähigkeit und aktuale Wirksamkeit des Wahrnehmens zugestanden wird. Aber zugleich ist hier nun auch der Punkt der gedanklichen Entwicklung erreicht, wo Hegel nicht länger die ARisxoxELische Psychologie und Wahmehmungstheorie gegen die neuzeitlichen Philosophien des Geistes ausspielen kann; denn es zeigt sich, daß die ARiSTOTELische Bestimmung der Seele nicht ohne weiteres der neuzeitlichen Bestimmung des Subjektes gleichgesetzt werden kann. Und wenn dort den verschiedenen seelischen Fähigkeiten und Tätigkeiten entsprechend pflanzliche, tierische und menschliche Seele unterschieden werden, so erweist sich zugleich, daß diese Unterschiede konkreten seelischen Seins der begrifflichen Grundlage ermangeln, die dieses Sein allererst zu einem konkreten Sein zu machen vermag. Dieser Begriffsmangel in der Bestimmung des seelischen Seins verlangt vor allem vom Standpunkt der neuzeitli-

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chen Philosophie der Subjektivität aus eine Korrektur. Die Philosophie ist für Hegel ihrem allgemeinen übergeschichtlichen Begriffe nach Philosophie des Geistes. Ihre Aufgabe ist es daher, das Wesen des Geistes zu erkennen, und zwar dieses Wesen als solches und in seinem Zusammenhang mit der Natur. Damit ist zugleich die Aufgabe gestellt, den Begriff der philosophischen Erkenntnis und mit diesem Begriff zugleich den Begriff des Begriffes zu ermitteln, der jenem Wesenszusammenhang entspricht und demselben gerecht zu werden vermag. Es ist nun jener Grundbegriff der Philosophie überhaupt und die aus diesem universalen Begriff entspringende Erkenntnisaufgabe, die vor allem deutlich werden läßt, daß die antike Welt und mit ihr auch die klassische griechische Philosophie der Vergangenheit angehört. Aber ebenso wird hier wie nirgends sonst klar erkennbar, daß die Philosophie der Moderne zu ihrer eigenen Grundlegung und Ortsbestimmung der bewußten Erinnerung dieser Vergangenheit und deren Auffassung vom Grundverhältnis zwischen Geist und Natur bedarf. Wenn Hegel als die fundamentalen Wesensmerkmale des Geistes absolute Negativität, Freiheit und Selbstoffenbarung anführt, so sind diese zusammengehörigen Wesensbegriffe aus seiner eigenen Sicht spezifisch neuzeitliche Begriffsbestimmungen, denen nicht ohne weiteres theoretische Äquivalente in der vergangenen Philosophie der Griechen zugeordnet werden können. Spezifisch neuzeitlich ist darüber hinaus Hegels Begriffsbestimmung des Wesenszusammenhanges von Geist und Natur, von dem es heißt, der Geist habe „für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit, und damit deren absolut Erstes er ist"^^. In dieser Verhältnisbestimmung wird zwar von der wichtigsten Begriffsunterscheidung der klassischen griechischen Philosophie Gebrauch gemacht, die ARISTOTELES ausdrücklich von seinem Lehrer PLATO übernommen hat, von der Unterscheidung nämlich zwischen dem, was ansich, bzw. von Natur, und dem, was für uns das Erste und Wahre ist. Aber andererseits wird diese ontologische und gnoseologische Unterscheidung der griechischen Klassiker hier offensichtlich von Hegel in die spezifisch neuzeitliche Verhältnisbestimmung zwischen Geist und Natur eingebunden und von dieser her bestimmt gedacht. Was die Philosophie der Antike von der der Moderne unterscheidet, ist die Stellung ihres Denkens zu diesem Grundverhältnis von Geist und Natur. So sieht Hegel bei den Griechen allenthalben „substantielle

Enz. §381.

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Einheit" von Geist und Natur, Aus dieser Einheit sind ihm dort die klassischen Gebilde der Kunst, der Religion und der Philosophie und somit auch die philosophischen Erkenntnis- und Begriffsbegriffe entsprungen. Hier ist noch nicht die freie Subjektivität und ihre spezifische Begrifflichkeit, welche die Gestalten der Neuzeit bestimmt. Maßgeblich für die Philosophie der Neuzeit ist nicht substantielle Einheit, sondern subjektive Einheit, Einheit der Subjektivität des Geistes mit der Natur. Die hier thematische Transformation der philosophischen Psychologie des ARISTOTELES und ihrer Wahrnehmungslehre ist nur vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Transformationen des antiken Verhältnisses von Geist und Natur durch die Moderne verständlich zu machen. Transformiert wird die substantielle Einheit von Geist und Natur. Aus dieser Einheit wird die Einheit der Subjektivität des Geistes. Danach sind Geist und Natur nicht länger gleichursprüngliche Seinsweisen, deren Wesen ineinander verwoben ist. Aufgrund einer Transformation mittels der Dialektik der Begriffe wird aus jener Einheit die Entelechie und Selbsttätigkeit des absoluten Geistes. Dieser setzt die Natur aus sich heraus und sich als „das Andere seiner selbst" gegenüber. Diese absolute Setzung und absolute Negation zugleich lassen die Natur in ihrem Sein als bloßen Schein und Widerschein des Geistes erkennen. In der Erkenntnis dieses Scheines gewinnt der Geist einen Begriff des Wesens seiner theoretischen und praktischen Freiheit, und dank dieser wahren Selbsterkenntnis ein absolutes Wissen der Wahrheit, nämlich: der absoluten Wahrheit seiner selbst. Die geforderte Transformation, bzw. dialektische Aufhebung der substantiellen Einheit des Geistes und der Natur in der Einheit der Subjektivität des absoluten Geistes verlangte eine entsprechende Transformation des philosophischen „Begriffes des Begriffes", bzw. eine Transformation der Ontologie, nämlich aus einer Ontologie der Substanz in eine Ontologie des Subjektes. Wenn Hegel die antike und die moderne Ontologie gleichermaßen als Substanzontologien kritisierte, so geschah dies im Bewußtsein einer hier vorliegenden epochalen philosophischen Differenz, die eine Bewertung einschloß, und zwar zugunsten der antiken Ontologie. Leitend bei dieser „Wertkritik" war ein hier wie dort angelegter doppelter Wertmaßstab. So wurde die antike und die moderne Substanzontologie einmal hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit dem für sie jeweils zeitgemäßen, für sie jeweils 15 Vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Erster Teil. Berlin 1833. (Werke. Bd 13.) 174. Diese substantielle Einheit der Natur und des Geistes bestimmt alle Lebensäußerungen der Griechen, nicht nur die philosophischen, sondern insbesondere auch die künstlerischen und religiösen.

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weltgeschichtlich gültigen und somit jeweils relativ wahren Verhältnis des Geistes zur Natur beurteilt, zum anderen hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit der übergeschichtlichen und absoluten Wahrheit des Geistes. Dabei ergab sich nun in einer, nämlich der letztgenannten Hinsicht ein gemeinsamer Mangel beider Ontologien, sofern diese, antike und moderne gleichermaßen, als Substanzontologien dem wahren Wesen des Geistes als freier Subjektivität nicht gerecht wurden. Aber bei aller Mangelhaftigkeit hatte hier die antike Ontologie der Substanz gegenüber der Moderne einen wichtigen theoretischen Vorteil, indem sie im Einklang stand mit der für sie zeitgemäßen substantiellen Einheit des Geistes und der Natur. Anders die Ontologie der Neuzeit. Hier konstatierte Hegel ein Mißverhältnis, eine fehlende Übereinstimmung mit dem für sie zeitgemäßen Grundverhältnis des Geistes, welches das der Subjektivität war. Nicht darum also ging es Hegel in seiner bewußten Wiederaufnahme der ARiSTOTELischen Begriffsperspektive, die antike Stellung des Gedankens zur Objektivität einfach zu wiederholen. Hatte die Philosophie der Griechen das Ideal einer Übereinstimmung zwischen allgemeiner Ontologie und Philosophie des Geistes für ihre Zeit zu verwirklichen vermocht, so galt es, das Ideal dieser Übereinstimmung, bzw. der Wahrheit unter veränderten weltgeschichtlichen Bedingungen und angesichts eines veränderten Begriffes des Geistes neu zu aktualisieren. Der doppelte Wertmaßstab, den Hegel in der kritischen Beurteilung der antiken und der neuzeitlichen Philosophie zugrundelegte, ermöglichte eine Kritik der dreifachen Stellung des Gedankens zur Objektivität, die für die Philosophie der Neuzeit bestimmend war.^^ All dies ist nun in die Transformation der ARiSTOTEüschen Wahrnehmungstheorie eingegangen: Die Transformation der substantiellen Einheit von Geist und Natur in die Einheit der Subjektivität des Geistes ebenso wie die Transformation der Ontologie der Substanz in die Ontologie des Subjektes. Die spezifisch neuzeitliche Bestimmung des Grundverhältnisses zwischen Geist und Natur führte in ihrer begrifflichen Explikation und unter Berücksichtigung der Wesensbestimmungen des Geistes zur Unterscheidung von drei Einzelverhältnissen, die den theoretischen Hintergrund für drei verschiedene Wahmehmungsbegriffe bildeten. So bestimmte sich das Grundverhältnis des Geistes zur Natur: Konsequenterweise bedurfte es nur dort einer grundsätzlichen Kritik der Stellung des Gedankens zur Objektivität, wo es sich um ein Mißverhältnis, um ein unwahres Verhältnis, um ein Verhältnis der Nichtentsprechung handelte. Daher bezieht sich Hegels kritische Darstellung der „drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität" ausschließlich auf die Philosophie der Neuzeit, vgl. Enz. §§26— 78.

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erstens als Natur, und diese als ein Grundverhältnis des Außer-Sichund Außereinander-Seins: des Nebeneinander- und Nacheinandefseins dessen, was als Naturhaft-Seiendes gilt. Diese Natur war absolute Setzung des Geistes, in der das Wesen des Geistes an und für sich verborgen ist. Diese Verborgenheit des Geistes in der Natur besagt: Die Natur läßt als solche und an ihr selbst nicht erkennen, was sie eigentlich und ihrem wahren Wesen nach ist. Als bloße Natur verbirgt sie, daß sie nicht bloß Natur ist: sie verbirgt, daß ihr wahres Wesen, das aktuale Wesen, die reine Selbsttätigkeit des Geistes ist. Als bloße Natur ist die Natur das materielle Sein der Dinge und Substanzen in ihrer unendlichen Vielfalt, denen allen die universale Form vereinzelter individueller Existenz und korrespondierender Äußerlichkeit aller Relationen gemeinsam ist: vereinzelter Existenz individueller Stoffe, Körper, Gestalten und Prozesse und entsprechender externer Verknüpfungen, ln dieser bloßen Natur wirkt der Geist auf verborgene Weise, als Leben und lebendige Entwicklung vom Anorganischen zum Organischen, von der geologischen zur vegetabilischen und zur animalischen Natur. Diesem Verhältnis liegt nun ein zweites Verhältnis des Geistes zur Natur zugrunde. Dieses Verhältnis ist nun nicht ohne weiteres dem einer substantiellen Einheit gleichzusetzen. Natur und Geist sind hier nicht als eine Art unterschiedlicher Stoffe in einem bestimmten Mischungsverhältnis verbunden. Auch verhalten sie sich nicht wie zwei voneinander unterschiedene und gegeneinander völlig gleichgültige Wesensattribute, die in der Einheit einer absoluten, mit sich identischen Substanz verknüpft sind. Vielmehr handelt es sich hier um ein Verhältnis der Reflexion, ln diesem Reflexionsverhältnis verhalten sich Geist und Natur zueinander sowohl positiv als auch negativ. Jede der beiden Seiten ist im Verhältnis zu ihr selbst und zu der anderen Seite sowohl Position als auch Negation. Auf diese Weise erscheint jede Seite, wenn auch bedingt und unter spezifischem Aspekt als Widerschein der anderen. Diese Bedingtheit kommt in einem Ungleichgewicht, einer Asymmetrie der beiden Seiten zum Ausdruck, indem die Natur hier für uns im Vergleich zum Geiste das Erste ist. Indem die Natur das aktuale Wesen des Geistes reflektiert, ist sie mehr als nur bloße Natur; und indem der Geist sich reflektierend zur Natur verhält, ist er noch nicht in seiner eigentlichen Wahrheit, ist er noch nicht reiner, absoluter Geist. Im Widerschein des Geistes und dank seiner absoluten Negativität erscheint die Natur in ihrer äußerlichen Materialität idealisiert und durch diese Idealisierung in die Form einer höheren immateriellen und vergeistigten Natur erhoben. Diese Natur ist das Prinzip des Lebens in allen Phänomenen der bloßen Natur. Auf der an-

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deren Seite bleibt der Geist in seiner Reflexion der Natur an deren Bedingungen und an die Gesetzmäßigkeit dieser Bedingtheit gebunden. So erscheint der Geist hier als Seele, bzw. als „Naturgeist". Das heißt: die Phänomene des geistigen Seins haben, sofern sie Phänomene des Naturgeistes sind, nicht nur die Form geistiger Innerlichkeit, sondern auch die Form naturbestimmter Äußerlichkeit. Dies gilt für alle natürlich-geistigen Eigenschaften, Gestalten und Tätigkeiten: für die Gestalten der Empfindung und der Gewohnheit, der Wahrnehmung und der Beobachtung, der vernünftigen theoretischen und praktischen Tätigkeit des Ich. Diesem zweiten Verhältnis liegt schließlich ein drittes und höchstes Verhältnis des Geistes zur Natur zugrunde, das der subjektiven Einheit des Geistes mit sich. Außer diesem Verhältnis gibt es kein anderes, in welchem Geist und Natur sich zu einer höheren Einheit eines Dritten zu verbinden vermögen. Hier, in dieser subjektiven Einheit mit sich ist der Geist aus seiner Versenkung in die Natur, aus seiner Selbstverborgenheit in die Offenbarung seiner selbst herausgetreten. Nur der Geist, nicht die Natur ist — Hegel zufolge — der absoluten Wahrheit fähig und mächtig. Nur der Geist, nicht die Natur, vermag sich zu offenbaren und sich selbst offenbar zu werden, also nicht nur ansich wahr zu sein und in einem anderen und für ein anderes, sondern sowohl ansich als auch für sich. Nur der Geist vermag in der Wahrheit zu sein und die Wahrheit in ihm, indem er sich absolut wissend zu sich verhält; nur er ist ein absolutes Wissen der Wahrheit in seinem Verhältnis zu sich. Dieses absolute Wahrheitsverhältnis unterscheidet sich wesentlich von dem Reflexionsverhältnis, das er mit der materiellen äußeren Natur eingeht. Es ist seiner Form nach Negation des ganzen Reflexionsverhältnisses, also nicht nur Negation in der Reflexion und Negation der Position desselben; also hier konkret Negation der Reflexion der Natur in ihrer äußerlichen Materialität. Die Wahrheitsentwicklung des Geistes, das geistige Werden der Wahrheit vollzieht sich in dieser Form der Negation der Negation. Und von der absoluten Wahrheit des Geistes, seiner reinen Selbsttätigkeit und Negativität aus, erweist sich die Reflexion der Natur, ihre Materialität und individuelle Vereinzelung nicht nur als einer Idealisierung und Vergeistigung fähig, sondern als ein wesenloser Schein, dessen scheinbares Wesen in Wahrheit nur ein erborgtes ist: ein äußerer Reflex der reinen aktualen Wesenheit des Geistes, der seine eigene absolute Wahrheit noch nicht erkannt hat. Den drei angegebenen einzelnen Verhältnissen des Geistes zur Natur entsprechen nun ebensoviele Stellungen des Gedankens zur Objektivität. Und wenn Hegel die Philosophie der Neu-

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zeit hinsichtlich der Positionen ihres Denkens gegenüber der Wirklichkeit und Objektivität kritisiert, so wegen der mangelnden spekulätiven Einheit des Begriffes in diesen Positionen und wegen des fehlenden Grundes dieser Einheit: der fehlenden Grundlegung in der Einheit des Grundverhältnisses des Geistes zur Natur und zu sich selbst. Den Explikationen dieses Grund Verhältnisses in drei einzelne Verhältnisse und den drei korrespondierenden Stellungen des Gedankens zur Objektivität entsprechen nun drei unterschiedliche Wahrnehmungsbegriffe. Und wenn hier von Hegels spekulativer Wahrnehmungstheorie und einer Transformation der ARiSTOTEÜschen Wahrnehmungslehre durch diese Theorie die Rede ist, so im Sinne eines einheitlichen Bedeutungszusammenhanges dieser drei Wahrnehmungsbegriffe vor dem Hintergrund der spekulativen Einheit des Geistes mit sich selbst.

2. Die mannigfachen Begriffe und Wirklichkeiten der Wahrnehmung Was nun die drei verschiedenen Stellungen des Gedankens zur Objektivität, d. i. zum Grundverhältnis des Geistes betrifft, so entsprechen diese drei Positionen notwendig den drei Explikationen dieses Grundverhältnisses. Wo der Geist erstens noch ganz in die Natur versenkt ist und hier hinsichtlich seines waliren Wesens und seiner aktualen Wirksamkeit verborgen bleibt hinter den Erscheinungen einer materiellen Natur und deren einzelnen individuellen Gestalten und Prozessen, da zeigt sich die Natur zwar in ihrer gesamten Entwicklung am Ende als ein Lebendiges, das sich in vereinzelten Gebilden verkörpert. Aber das Wesen dieser Lebendigkeit, der Grund des Lebens der Natur, auf dem die Lebendigkeit der Gestalten und Prozesse beruht, ist hier noch nicht eigentlich erkannt. Die Natur selbst zeigt nicht, daß ihre Lebendigkeit in Wahrheit die Subjektivität des Geistes ist. Die konkrete Wirklichkeit des geistigen Seins vermag sich hier nicht unmittelbar und direkt zu manifestieren. Vielmehr zeigt sich die bloße Natur zunächst an sich und für uns als ein allgemeines System äußerer mechanischer Verhältnisse, deren Gesetzen die Materie in ihrer Schwerkraft unterworfen ist; ferner als ein allgemeines Gefüge chemischer Verbindungen, in denen die mannigfachen stofflichen Elemente der Natur bald zusammen-, bald auseinandertreten, je nachdem, ob sie eine wechselseitige Affinität bejahen oder verneinen; schließlich als allgemeiner Wesenszusammenhang von Organismen der verschiedensten Art. Die geologische, die vegetabilische und die animalische Natur genügen dabei auf je spezifische Weise der allge-

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meinen Naturform des lebendigen Organismus. Zuletzt entwickelt sich die Natur in ihrem pflanzlichen und tierischen Wesen zu jeweils einzelnen individuellen Gestalten und Prozessen, in denen sich eine vereinzelte konkrete Subjektivität in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gattung kundtut. Insofern scheint die Natur in ihrer ganzheitlichen immanenten Entwicklung von Anfang an auf das Ziel der Verwirklichung konkreter Subjekte hin angelegt, und am Ende in ihren höchstentwickelten Gebilden durch Idee und Begriff der Subjektivität bestimmt zu sein. Sie, die Natur, erscheint als ein autonomer Lebens- und Entwicklungsprozeß, in welchem die Idee der Subjektivität als immanenter Zweck bestimmend ist. Aber zugleich ist diese Erscheinung einer autonomen, teleologischen Selbstentfaltung ein bloßer Schein. Denn der wahre, ursprüngliche Grund dieser Selbstentfaltung liegt nicht in der Natur als solcher, sondern in dem aktualen Wesen des Geistes und in dessen aktualer Selbsterkenntnis. Deswegen finden wir vordergründig die universale Idee der Subjektivität, anstelle der eigentlichen Selbsttätigkeit des Geistes, in mannigfache begriffliche Formen entfaltet, und diese Formen als Kategorien unserer Naturerkenntnis zur Geltung gebracht. Wenn demnach die bloße Natur in ihrer Gesamtentwicklung und im Werden und Sein ihrer einzelnen Gebilde durch die begrifflichen Formen der Subjektivität bestimmt ist — Formen, die ihrerseits durch eine eigene immanente Entwicklung, durch die „Selbstbewegung des Begriffes" bestimmt sind —, so liegt darin eine gewisse Unzulänglichkeit der kategorialen Bestimmtheit unserer Naturerkenntnis. Diese Unzulänglichkeit ist die des äußeren Nebeneinanders von Begriff und Wirklichkeit der Subjektivität. So fungieren die begrifflichen Formen der Subjektivität in den philosophischen Aussagen über die Natur lediglich als Prädikate. Diese finden ihre Anwendung im Bereich der Naturerscheinungen, ohne daß diese als solche ihrer prädikativen Bestimmung als Subjekte vollkommen gemäß sind. So sprechen wir in gewisser Hinsicht der pflanzlichen Natur, im eigentlichen Sinne aber erst der animalischen Natur Subjektivität zu. Aber auch wenn wir insofern die Tiere ihrem Begriffe nach als Subjekte anerkennen, sehen wir dieselben zugleich unter dem Gesichtspunkt einer unvollkommenen Entsprechung ihrer Wirklichkeit zu diesem Begriff. Von dieser ersten Stellung des Gedankens zur Objektivität der Natur ist nun die zweite Stellung zu unterscheiden. Die Objektivität ist hier nicht mehr die bloße Natur, sondern das Reflexionsverhältnis zwischen dieser und dem Geiste; insofern befindet sich der Geist nicht mehr nur in einer einfachen Stellung zur Objektivität. Vielmehr ist diese Stellung

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eine in sich entzweite und verdoppelte entsprechend einer in sich entzweiten und verdoppelten Objektivität. Denn diese Objektivität ist nicht mehr die bloße materielle und in ihren höchstentwickelten Gestalten lebendige Natur, sondern die reflektierte Natur, die Natur, in der sich eine geistige Wirklichkeit ausdrückt. Die Objektivität und Wirklichkeit des Gegebenen ist hier die entmaterialisierte und vergeistigte Natur einerseits und der verkörperte naturalisierte Geist andererseits. Von dieser in sich entzweiten Wirklichkeit der Natiu und des Geistes handelt Hegel unter dem allgemeinen Titel „Seele oder Naturgeist". Seele, bzw. Naturgeist stehen, ihrem systematischen Ort, dem Übergange der Philosophie der Natur in die Philosophie des Geistes entsprechend, zumindest teilweise unter den allgemeinen Naturbedingungen der individuellen Vereinzelung. Dementsprechend ist die Seele, sowohl in Form des beseelten Leibes als auch in der Form der verleiblichten Seele gegeben. In diesem Doppelbereich seelischer Realität zeigt sich nun auch die doppelte Stellung des Gedankens zur objektiven Wirklichkeit. Zum einen ist hier das Wesen des geistigen Seins nicht mehr gänzlich hinter der bloßen Natur verborgen, sondern es zeigt sich darin, daß mit dem seelischen Sein Entmaterialisierung und Idealisierung des Gegebenen untrennbar verbunden sind. Andererseits ist hier in dieser objektiven Wirklichkeit das wahre Wesen des Geistes noch nicht in seiner vollkommenen Wahrheit als absolut reine Geistigkeit manifest geworden. Das Sein der Seele ist jeweils an einen einzelnen individuellen Leib gebunden, und die Wahrnehmung spielt zwischen beidem, zwischen beseeltem Leib und verleiblichter Seele. Doppelt und zweifach aber ist die Stellung des Gedankens zu dieser doppelten Objektivität; nicht mehr nur ein bloßes äußerliches Nebeneinander von Begriff und objektiver Wirklichkeit der Subjektivität, aufgrund dessen der Begriff sich in Form einer Kategorie der Erkenntnis auf die Objektivität richtet. Vielmehr wirkt hier nun die Objektivität immer über die bestimmende Funktion der Kategorie hinaus auf den Begriff zurück, um dessen begriffliche Form dem Inhalt entsprechend zu modifizieren. So ist die Reflexion des Geistes und der Natur selbst ein Doppelgebilde. Sie ist einmal Kategorie der Subjektivität und zum anderen geistige Wirklichkeit derselben. Wenn Hegel aus seiner ARISTOTEüschen Begriffsperspektive heraus insbesondere die neuzeitliche rationale Psychologie unter dem Titel einer Anthropologie erneuert, so legt er im allgemeinen ein dreifaches Verhältnis des Geistes zur Natur und insbesondere dabei das zweite Verhältnis als das der Reflexion des Geistes und der Natur zugrunde. Die Stellung des Gedankens zur Objektivität ist hier eine wesentlich andere als gegenüber der Objektivität der bloßen

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Natur. Denn während im letzteren Falle von den höchstentwickelten Naturgebilden Subjektivität prädikativ und in Form synthetischer Urteile ausgesagt wird, gilt für die Seele, bzw. den Naturgeist, daß in deren Begriff der Begriff der Subjektivität enthalten ist, so daß die philosophische Aussage, daß die Seele Subjekt sei, lediglich eine Tautologie, bzw. ein analytisches Urteil darstellt. Soweit reicht Hegels Übereinstimmung niit der transzendentalphilosophischen Kritik an der rationalen Psychologie. Aber dieses analytische Begriffsverhältnis der Seele zur Subjektivität ist nur die eine Seite der in sich verdoppelten Stellung des Gedankens zur Objektivität. Denn, was in Hegels Anthropologie von der Seele, bzw. von dem Naturgeist philosophisch ausgesagt wird, sind nicht nur allgemeine begriffliche Formbestimmungen, nicht nur kategoriale Prädikate des Seins der Subjektivität, sondern konkrete Bestimmungen der seelisch-geistigen Wirklichkeit wie zum Beispiel leibhafter Ausdruck und seelische Empfindung, reines Gefühlsleben in seiner krankhaften Ausschließlichkeit, Selbstgefühl und Gewohnheit als stabilisiertes psychosomatisches Verhalten. Die philosophische Erkenntnis des Seelischen, bzw. des naturhaft geistigen Seins hat mit diesen Wirklichkeiten zu tun und zwar hinsichtlich ihrer begrifflichen und realen Zusammenhänge. Deswegen finden sich die kategorialen Bestimmungen der Subjektivität in den entsprechenden philosophischen Erkenntnisaussagen, teils implizit, teils explizit im Blick auf die realen seelischen geistigen Bestimmungen mitausgesagt.^^ Und diese Aussagen sind daher sowohl in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht teils analytische, teils synthetische Urteile, teils eine Verbindung des einen Urteils mit dem anderen. Hier ist aber auch eine Grenze der Gültigkeit bzw. eine Beschränktheit der Wahrheit in dieser Stellung des Gedankens zur Objektivität zu beobachten. So wie das Verhältnis der Reflexion des Geistes in der Natur noch nicht die vollständige, sich selbst ganz manifest gewordene Wahrheit, noch nicht die absolute Wahrheit des sich wissenden Geistes ist, so ist auch die jener Reflexion entsprechende Stellung des Gedankens zur Objektivität nicht die vollständige Erfüllung der kategorialen Erkenntnisfunktionen. Das Denken ist hier noch nicht un-

So werden zum Beispiel einerseits Schlafen und Wachen als Zustandsveränderungen der Seele gekennzeichnet, ist von dem fühlenden Individuum als einfacher Idealität, vom Gefühlsleben als Form die Rede (Enz. §§ 399, 403, 406); zum anderen wird von der Seele ausgesagt, daß sie das konkrete Leben des Universums mitlebt, daß sie ihre Leiblichkeit ausdrückt und empfindet, daß sie sich selbst fühlt, daß sie in Form der Gewohnheit das Besondere ihrer Gefühle reduziert, etc. (Enz. §§ 392, 401, 407, 410).

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eingeschränkt Erkenntnis. Zwar ist die Seele, bzw. der Naturgeist anders als der tierische Organismus nicht nur ansich, sondern auch für sich Subjekt. Während die Subjektivität des Tieres nur eine Art höheren Stoffwechsels ist, in dem der tierische Instinkt Einheit des Selbstseins bewirkt, ist die Seele ein ursprüngliches wirkliches Verhältnis zu sich. In ihrem ganzen Verhalten, in ihren Empfindungen, in ihren Ausdrucksweisen und Gewohnheiten setzt sich immer und ständig die Einheit des Selbstgefühls durch. Insofern ist die Seele nicht nur dem Begriffe nach Subjekt, sondern sie ist apriori wirkliche Seele, wirkliches Subjekt. Was diesem Subjekt fehlt, ist die Erkenntnis seiner selbst, sein Wissen um sich als Subjektivität. Selbstgefühl ist nicht Selbsterkenntnis, sondern nur der mögliche Anfang derselben. Deswegen entsprechen die kategorialen Formen des Erkenntnisurteils über die Seele nicht dem vollständigen Formbegriff der Subjektivität. Deswegen finden wir in Hegels rationaler Seelenlehre eine scheinbare Übereinstimmung mit der neuzeitlichen Tradition der Verstandesmetaphysik hinsichtlich des Gebrauches der Kategorien des Dinges und der Substanz zur gegenständlichen Darstellung und hinsichtlich des Gebrauches des Urteils als Darstellungsform. Gleichwohl sehen wir Hegel um eine grundsätzliche Unterscheidung bemüht zwischen der Stellung des Gedankens zur Objektivität in der eigenen Seelenlehre und der vergleichbaren Position der vormaligen Verstandesmetaphysik. Aus Hegels kritischer Sicht darf eine spekulative Theorie der Seele nicht nur aus einer enzyklopädischen Sammlung analytischer Urteile ohne eigentlichen Erkenntniswert bestehen. Auch ist die hier zugrundeliegende Ontologie keineswegs eine reine Ding- und Substanzontologie, sie läßt vielmehr in ihrer Begriffsentwicklung und in ihrem fortschreitenden kategorialen Erkenntnisgebrauch immer wieder den immanenten Widerspruch sichtbar werden, der den Zusammenhang der Begriffe in den entsprechenden Erkenntnisurteilen bestimmt. Es ist dies der Widerspruch zwischen den Kategorien der Substanz und des Subjektes. Diesen Widerspruch teilt die Ontologie der Seele bzw. des Naturgeistes im übrigen mit der Ontologie der bloßen Natur. Nur ist dieser Widerspruch hier und dort der Form und dem Inhalt nach ein anderer. In gewisser Hinsicht kann die unterschiedliche Widersprüchlichkeit in den beiden partiellen Ontologien als komplementär bezeichnet werden. So verläuft in der philosophischen Erkenntnis der bloßen Natur die Entwicklung des Begriffes und der Wirklichkeit von der Substantialität zur Subjektivität. Die mannigfachen Naturgebilde erweisen sich zunächst als Dinge und Substanzen, als Kräfte und Prozesse, die sich im Verlaufe der Entwicklung nicht mehr nur mechanisch und che-

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misch, sondern wie Subjekte verhalten, auch wenn sie nicht im eigentlichen und vollständigen Sinne Subjekte sind. Dagegen ist die Entwicklung im Bereich des Naturgeistes bzw. der Seele ganz anderer Art: hier ist die Seele von Anfang an wirkliches Subjekt, auch wenn sie zunächst nicht als ein solches wirkliches Subjekt, sondern wie ein Ding und eine Substanz sich verhält und auch wenn sie im Verlaufe ihrer Entwicklung nie endgültig dahin gelangt, sich wie ein wirkliches Subjekt zu verhalten, welches weiß, daß es Subjekt ist. Um es überspitzt zu formulieren: die bloße Natur ist ein Mechanismus, der dahin tendiert, sich wie ein wirkliches Subjekt zu verhalten; die Seele ist ein wirkliches Subjekt, welches wie ein höherer Mechanismus sich verhält. So gesehen ist die Begriffs- und Erkenntnisentwicklung sowohl in der Ontologie der Natur wie in der Ontologie des Naturgeistes eine unvollständige und hinsichtlich ihres Zieles unvollkommene. Weder hier noch dort verwirklicht sich eine Subjektivität, die sich zugleich als eine solche weiß. Insofern verweisen die beiden Ontologien dadurch, daß sie in ihrer Entwicklung stehen bleiben auf das dritte Verhältnis des Geistes zur Natur und auf die entsprechende Stellung des Gedankens zur Objektivität. Indem hier nun der Geist sich in seinem wahren und vollständig entwickelten Wesen entsprechend zu sich verhält und dementsprechend Selbsterkenntnis und absolutes Wissen des Geistes ist, ist auch die korrespondierende Ontologie des Subjektes zur vollständigen Entwicklung gebracht. Es ist der Geist in seinem wahren Verhältnis zu sich, der sich als Entelechie und damit als der wahre und eigentliche Grund der Entelechie des Subjektes erweist. Dabei hat sich nun offensichtlich die Stellung des Gedankens zur Objektivität im Vergleich zur ersten Stellung des Gedankens zur bloßen Natur umgekehrt: war dort der Geist hinter der bloßen Natur und deren Erkenntnis verborgen, trat dort demnach der Begriff als Kategorie und diese in scheinbarer Selbständigkeit gegenüber der zu erkennenden Natur hervor, war dort daher nicht nur die Natur, sondern auch der Begriff derselben für uns das Erste gegenüber dem Wesen des Geistes, so ist hier nun der Geist nicht nur gegenüber der Natur, sondern auch gegenüber dem Begriff und der Kategorie das absolut Erste und Wahre geworden. Der Begriff hat hier seine scheinbare Selbständigkeit als Kategorie und seine scheinbare Gleichberechtigung als Erkenntnis gegenüber der Objektivität verloren. Indem die Wirklichkeit des absoluten Geistes sich als reine Selbsterkenntnis, als absolutes Wissen des Geistes und dieses Wissen sich als die einzig wahre Wirklichkeit offenbart, erweist sich der reine Begriff in seiner Abtrennung von dieser wahren Wirklichkeit als bloße Abstraktion und lediglich formelle Bestimmtheit.

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Hegels spekulative Wahmehmungstheorie ist dem zugrundeliegenden dreifachen Verhältnis des Geistes zur Natur sowie der korrespondierenden dreifachen Stellung des Gedankens zur Objektivität entsprechend ein komplexer theoretischer Zusammenhang hinsichtlich einer dreifachen Wirklichkeit der Wahrnehmung und einer korrespondierenden dreifachen Begrifflichkeit. Dieser komplexe theoretische Zusammenhang der Wahrnehmung umfaßt das Subjekt und das Objekt der Wahrnehmung sowie die Wahrnehmung als solche, in der sich dem Begriffe und der Wirklichkeit gemäß Subjekt und Objekt der Wahrnehmung verbinden. So unterscheidet Hegel drei grundverschiedene Subjekte der Wahrnehmung, der Wirklichkeit und dem Begriffe nach, den tierischen Organismus, die Seele und das Bewußtsein. Diese verschiedenen Wahrnehmungssubjekte unterscheiden sich nun den bisherigen Ausführungen zufolge nicht nur durch ein jeweils bestimmtes, von den anderen Verhältnissen des Geistes zur Natur unterschiedenes Wirklichkeitsverhältnis, sondern auch durch eine jeweils bestimmte Stellung des Gedankens zur Objektivität dieses Wirklichkeitsverhältnisses. Wenn wir demnach den verschiedenen Wahrnehmungssubjekten, dem tierischen Organismus, der Seele und dem Bewußtsein, dem Begriffe der Subjektivität entsprechend Negativität und Idealität, Freiheit und Selbstoffenbarung als einzelne begriffliche Bestimmungen einer allgemeinen Subjektivität zuschreiben, so ist gleichwohl in diesen Begriffszuschreibungen die Stellung des Begriffes zur Objektivität eine jeweils andere. So ist erstens die Wahrnehmung des tierischen Organismus der bestimmte Lebensprozeß der bloßen Natur als organischer Stoffwechsel, mittels dessen sich das animalische Subjekt die Stoffe der anorganischen Natur zum Zwecke seiner Selbsterhaltung und Fortpflanzung assimiliert. Genauer ist diese tierische Wahrnehmung der organische Stoffwechsel der Assimilation unter theoretischem Aspekt und als elementarer theoretischer Prozeß im Unterschied zu dem praktischen Prozeß der animalischen Begierde. Der tierische Organismus verhält sich in seiner Assimilation der anorganischen Natur als Subjekt, indem er die Mannigfaltigkeit seiner theoretischen und praktischen Lebensprozesse in der Einheit seines animalischen Selbstgefühls instinktiv verbindet. Von der tierischen Wahrnehmung als einem theoretischen Stoffwechsel der Assimilation unterscheidet sich zweitens die Wahrnehmung der Seele der Wirklichkeit und dem Begriffe nach. So konstituiert sich in der Seele, bzw. im Naturgeist ein substantielles Gefühlsleben, welches den geistigen Stoff für alle höhere geistige Aktivität abgibt. Dieses Gefühlsleben der Seele stellt den ersten unstofflichen immateriellen Austausch zwischen Natur und Geist dar.

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Die äußere kosmische Natur wirkt auf mannigfache Weise in dieses Gefühlsleben der Seele hinein und dies in einer Form, die für das Gefühlsleben der Seele selbst unbestimmt und nur dunkel empfindbar ist. Der Zusammenhang zwischen dem substantiellen Gefühlsleben der Seele im allgemeinen und den einzelnen seelischen Empfindungen im besonderen bildet einen ersten und elementaren seelischgeistigen Zusammenhang, der im Unterschied zum organischen Stoffwechsel wahrnehmender tierischer Subjekte nicht nur vereinzelte Negationen und Idealisierungen von Naturstoffen in Form einzelner theoretischer Prozesse der Sinnlichkeit voraussetzt, sondern die absolute Negation und Idealisierung, die Beseelung und Vergeistigung eines Ganzen der organischen Natur. Die Wahrnehmung der Seele, bzw. des Naturgeistes stellt demnach das Ganze eines Geschehens, bzw. der Zuständlichkeit eines reinen Gefühlslebens dar. Dieses Gefühlsleben gibt den substantiellen Grund ab für jede einzelne seelische Empfindung sowie für jegliche höhere geistige Tätigkeit im allgemeinen und im besonderen. Wo dieses substantielle Gefühlsleben sich grundsätzlich nicht zur geistigen Aktivität fortzuentwickeln vermag, sondern in seinem unbewußten Sein verharrt, da haben wir es mit einer Krankheit zu tun, deren Möglichkeit eine der Möglichkeiten seelisch-geistigen Seins ist. Dem Reflexionsverhältnis des Geistes und der Natur entspricht nun aber nicht nur eine Verinnerlichung und Begeistung der stofflichen Natur und eine Aufhebung der vereinzelten stofflichen Naturgebilde durch Negation und Idealisierung. Zu diesem Reflexionsverhältnis gehört auch die andere Seite, derzufolge die Vereinzelung und deren stoffliche Bedingungen in gewisser Hinsicht erhalten bleiben. Deswegen hat das Gefühlsleben der Seele zwei untrennbar zusammengehörige und ineinander reflektierte, sich wechselweise spiegelnde Seiten. Es ist dieses Gefühlsleben einerseits das Ausdrucksgeschehen eines beseelten lebendigen Körpers und zum anderen das Empfindungsgeschehen einer mit einem Leibe begabten Seele. Die Seele selbst aber ist in diesem allgemeinen und besonderen Gefühlsgeschehen ein wirkliches Subjekt. Sie verwirklicht die Einheit ihrer selbst in der Mannigfaltigkeit ihres Ausdruckes und ihrer EmpfinHegels ausdrücklicher Verweis auf den passiven Nous des Aristoteles in diesem Zusammenhang (Enz. § 389) muß aber unter jenem Vorbehalt gelesen werden, den Hegel selbst angesichts der Unwiederholbarkeit der substantiellen Einheit von Natur und Geist im Denken der Griechen macht. Unter diesem Aspekt sind auch die Anstrengungen Hegels zu verstehen den Aristotelischen Text zu übersetzen, denen Walter Kern im Vergleich der Vorlesungsnachschriften der Berliner Vorlesungen nachgegangen ist; vgl. W. Kern: Eine Übersetzung Hegels zu De anima III, 4—5. ln: Hegel-Studien. 1 (1961), 49—88.

Hegels Transformation der aristotelischen Wahrnehmungslehre

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düng durch die Einheit ihres Selbstgefühls. Dieses seelische Selbstgefühl unterscheidet sich von dem animalischen Selbstgefühl der bloßen Natur durch den Unterschied von Gewohnheit und Instinkt. Das seelische Selbstgefühl ist der reale Grund der Einheit der Gewohnheit, das tierische Selbstgefühl der Grund der Einheit des Instinkts. Gewohnheit und Instinkt machen die jeweilige Gesetzmäßigkeit des Verhaltens der verschiedenen Arten von Subjekten aus. Die dritte Wirklichkeit der Wahrnehmung und die ihr entsprechende Stellung des Begriffes unterscheidet sich von den vorherigen Wirklichkeiten und Begriffspositionen dadurch, daß hier nun, über die vereinzelte, bzw. absolute Negation und Idealität hinaus, Freiheit und Selbstoffenbarung der Wahrheit als die eigentlich maßgebenden Bestimmungen der Subjektivität hervortreten. Die Wahrnehmung ist hier Wahrnehmung des Bewußtseins, bzw. Wahrnehmung des Ich in Form des Bewußtseins. Diese Wahrnehmung ist nicht ein bloßer organischer Stoffwechsel als theoretischer Prozeß der Sinne und auch nicht ein bloßes Gefühlsleben, in dem sich Ausdrucksgeschehen und Empfindung vermischen. Sie ist vielmehr der Vorgang der Vergegenständlichung und der gegenständlichen Erkenntnis, in dem sich das Bewußtsein seines Gegenstandes und damit seiner selbst vergewissert. Der Zusammenhang dieser dritten Wirklichkeit der Wahrnehmung mit den beiden anderen Wahrnehmungswirklichkeiten ist der eines bestimmten Bedingungsverhältnisses. So ist der animalische Stoffwechsel eine notwendige Voraussetzung und Bedingung der Möglichkeit gegenständlicher Wahrnehmung, nicht umgekehrt dieser eine Voraussetzung für animalische Stoffwechselprozesse. Dagegen ist das seelische Gefühlsleben auch durch den tierischen Stoffwechsel bedingt, wenn auch auf andere Weise des Bedingtseins als die gegenständliche Wahrnehmung. Zwischen seelischem Gefühlsleben und gegenständlich bewußter Wahrnehmung herrscht wiederum ein anderes Bedingungsverhältnis. Diese verschiedenen Bedingungsverhältnisse entsprechen verschiedenen Stellungen des Gedankens zur Objektivität. In der Wahrnehmung des Bewußtseins ist zum ersten Male Manifestation von Freiheit und Wahrheit. Zugleich haben hier die Begriffsmomente der Einzelheit und der Allgemeinheit ihre scheinbare Selbständigkeit verloren. Sie sind nur noch als Ingredienzien und als Momente inner-

Hans Jonas hat besonders darauf hingewiesen, daß die gegenständliche Wahrnehmung ihre eigenen kausalen Bedingungen, den organismischen Stoffwechsel, auf dem sie beruht, gewissermaßen unterdrückt und neutralisiert. In: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Göttingen 1973. 42—53.

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halb eines konkreten geistigen Zusammenhanges gegeben. Hegels bewußte Aneignung der ARiSTOTEüschen Begriffsperspektive in der eigenen spekulativen Wahrnehmungstheorie deklariert sich selbst als Explikation eines einfachen Wirklichkeits- und Begriffszusammenhanges von Natur und Geist. Aber diese Explikation ist keineswegs nur Klärung und Verdeutlichung eines komplexen Zusammenhanges von Wirklichkeiten und Begriffsbedeutungen. Vielmehr handelt es sich um eine über eine solche Explikation hinausgehende bewußte Transformation und Umdeutung. Angesichts des Bewußtseins von dieser Transformation sind Hegels verschiedene bedeutsame Verweise auf die ARiSTOTELische Psychologie und insbesondere auf den höchsten Begriff der ARiSTOTELischen Metaphysik und Psychologie, auf den Begriff des Nous, mit dem Vorbehalt zu verstehen, den das Bewußtsein von dieser Umdeutung gebietet. Der Vergleich der Hegelschen und der ARiSTOTELischen Wahrnehmungstheorie verlangt vor einer genaueren Interpretation der ARiSTOTELischen Texte eine Klärung der Wahrheitsfrage. Diese Frage ist zum einen die nach der Wahrheit der Hegelschen Philosophie und damit dann die Frage, wieweit diese Raum läßt für eine eigenständige Wahrheit des ARiSTOTELischen Denkens. 20

20 Eine echte Alternative zu Hegels pneumatologischer Wahmehmungstheorie bildet A. N. Whiteheads kosmologische Wahmehmungslehre, die einen ganz anderen Zugang zum Verständnis der aristotelischen Wahmehmungslehre eröffnet. Vgl. meinen Beitrag Whiteheads Kosmologie der Gefühle zwischen Ontologie und Anthropologie. In: Whiteheads Metaphysik der Kreativität. Hrsg, von F. Rapp und R. Wiehl. Freiburg, München 1986. 141—167.

GABRIELLA BAPTIST (ROM/BOCHUM) UND HANS-CHRISTIAN LUCAS (BOCHUM)

WEM SCHLÄGT DIE STUNDE IN DERRIDAS „GLAS"? Zur Hegelrezeption und -kritik Jacques Derridas

No s6 cuäl de los dos escribe esta pägina. (Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.) Jorge Luis Borges: Borges y yo. (Borges und ich.)

I. Einleitung Das Werk mit dem vieldeutigen Titel Glas^ bildet den Höhepunkt der Auseinandersetzung JACQUES DERRIDAS mit Hegels Philosophie. Eine erste Orientierung zum Titel kann die Übersetzung des französischen ' /. Derrida: Glas. Paris 1974. Eine Taschenbuchausgabe in zwei Bänden erschien mit dem Untertitel: Que reste-t-il du savoir absolu? 1981 in Paris. Der Untertitel erscheint nur auf dem Umschlag, es ist also nicht gesichert, daß er von Derrida selbst ist. Diese beiden Ausgaben werden im folgenden kurz im Text zitiert als: Glas, TB. Ein Aufsatz mit dem gleichen Titel und mit Auszügen aus dem späteren Werk erschien schon in: L'Arc. 54 (1973), 4—15. Diese Nummer ist Derrida gewidmet. Die häufig zitierten Texte Derridas werden mit folgenden Kürzeln im Text zitiert: D La dissemimtion. Paris 1972. ED Vdcriture et la difference. Paris 1967. Gd Grammatologie. Frankfurt a. M. 1974. Gf De la grammatologie. Paris 1967. HW Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der „Krisis". München 1987. M Marges de la philosophie. Paris 1972. OG E. Husserl: L'origine de la geometrie. Traduction et introduction par J. Derrida. Paris 1962. Pd Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Graz, Wien 1986. Pf Positions. Entretiens avec Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Paris 1972. R Randgänge der Philosophie. Die differance. Ousia und gramme. Fines hominis. Signatur Ereignis Kontext. Frankfurt a. M., Wien 1976. SD Die Schliß und die Differenz. Frankfurt a. M. 1972. Sd Schibboleth für Paul Celan. Graz, Wien 1986. Sf Schibboleth pour Paul Celan. Paris 1986. SP Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Frankfurt a. M. 1979.

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Wortes „glas" mit „Totenglocke" bieten, wie sie beispielsweise in der Übersetzung des HEMiNGWAY-Titels For Whom the Bell Tolls in Pour qui sonne le glas deutlich wird, wobei der Titel im Deutschen allerdings bekanntlich Wem die Stunde schlägt lauten muß.

Ordnet sich einerseits DERRIDAS Hegelrezeption und seine Kritik an Hegel in einen breiten Diskussionskontext ein, der die unterschiedlichen Phasen und Formen der Auseinandersetzung mit Hegel in der französischen Philosophie seit den 40er Jahren dieses Jahrhunderts ausmacht, so bestimmt sie andererseits auch einen längeren Zeitraum seiner philosophischen Arbeit. Bereits in dem Vortrag Le puits et la pyramide ist eine Arbeit über Hegels Familie und die Rolle der Geschlechtsdifferenz in der dialektisch-spekulativen Ökonomie angekündigü, Glas ist also etwa seit 1968 in Arbeit gewesen und 1974 erschienen. La dissemination, Marges de la Philosophie und Positions erschienen 1972, L'archeologie du frivole 1973, Glas ist also gleichzeitig mit diesen Schriften bearbeitet worden. Die angedeuteten Gründe lassen es ratsam erscheinen, sich dem schwerzugänglichen Werk über Umwege anzunähern, auf denen das philosophische „ambiente" erhellt wird, in dem ein Buch wie Glas entstehen konnte, und verdeutlicht wird, inwiefern Glas eine Summe aus verschiedenen Arbeiten DERRIDAS ZU ziehen sucht und insofern ein bedeutsames Zwischenresultat für DERRIDAS Denkweg darstellt. Folgt man dem thesenhaft durchgeführten Überblick über die Entwicklung der Philosophie in Frankreich von 1933 bis 1978, den VINCENT DESCOMBES in Das Selbe und das Andere (Le meme et l'autre)^ gibt, dann zeigt sich als Grundmuster der Wandel im Verhältnis zu den sog. „Drei H.", d. h. zu Hegel, HUSSERL und HEIDEGGER. (9) Bis ca. 1960, als politisches Ereignis markiert das Ende des Algerienkrieges von 1962 den Zeiteinschnitt, dienten diese „Drei H." einer großen Zahl meinungsprägender französischer Philosophen als orientierende Vorbilder, während nach einem „Generationswechsel" MARX, NIETZSCHE und FREUD als „drei Meister des Zweifels" diese Rolle einnahmen. Nach diesem Wechsel wurden die VP

La voix et le phenomene. Introduction au probleme du signe dans la phenomenologie de Husserl. Paris 1967. Die Zitate werden grundsätzlich auf Deutsch mitgeteilt, sofern eine deutsche Übersetzung vorliegt. Die Stellenverweise beziehen sich jedoch immer zunächst auf das französische Original. 2 M 79—127, hier 89. (Dieser Aufsatz ist nicht in die deutsche Übersetzung aufgenommen worden, er geht auf einen Vortrag von 1969 zurück, der bereits 1971 erschien.) 3 V. Descombes: Le meme et l'autre. Quarante-cinque ans de philosophie fran^aise (1933—1978). Paris 1979. Im folgenden zitiert nach: ders.: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich. 1933—1978. Frankfurt a. M. 1981.

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„Drei H." jedoch nicht schlichthin vernachlässigt, sondern man wandte sich mit vergleichbarer Vehemenz gegen sie, wie man ihr Denken vorher fortgedacht hatte. Nach DESCOMBES war mit der Orientierung an den „Drei H." jedoch nicht primär das Interesse an einer präzisen Textinterpretation verknüpft. Die Texte der „Drei H.", aber auch die der „drei Meister des Zweifels", wurden und werden,' dies hält DESCOMBES für besonders typisch hinsichtlich der von ihm behandelten französischen Autoren, einer „produktiven Transformation" unterzogen, insofern aber als Texte gewissermaßen „verraten". Gerade in diesem „Verrat" aber erblickt DESCOMBES das eigentlich Kreative dieser Bemühungen: „vielleicht bringt der Verrat ein (wie HEIDEGGER sagt),Ungedachtes' zutage, das diesen Gedanken innewohnt". (13) Für die Rezeption wie für die Kritik Hegels sieht DESCOMBES die Wege im übrigen wesentlich vorgezeichnet durch KojfevES einflußreiche Hegelinterpretation.^ Obwohl JACQUES DERRIDA erst nach dem von DESCOMBES angezeigten „Generationswechsel" zu publizieren beginnt, läßt er sich wohl kaum in dessen Grobraster einzeichnen. Freilich sind (mit deutlichen Einschränkungen bei MARX) alle sechs von DESCOMBES als orientierende Leitbilder herangezogenen Autoren für DERRIDA bedeutsam, allerdings in einer Weise, die dem DESCOMBESschen Schema eindeutig widerspricht. So ist festzustellen, daß er bereits in seiner frühen Behandlung HUSSERLS Elemente des Denkens Hegels, HEIDEGGERS und FREUDS methodisch in sein Vorgehen einschließt. So beruft er sich am Schluß von La voix et le phenomene (Die Stimme und das Phänomen) ausdrücklich gegen HUSSERL auf Hegels Konzeption der Unendlichkeit und auf das „Absolute Wissen", an das „wir . . . glauben ... als an die Abgeschlossenheit (clöture), wenn nicht sogar an das Ende der Geschichte". Er fährt fort: „Und zwar glauben wir buchstäblich, daß ein solcher Abschluß stattgefunden hat." Er präzisiert: „Die Geschichte des Seins als Präsenz, als Selbstpräsenz im absoluten Wissen, als thetisches oder athetisches Selbstbewußtsein (conscience de soi) in der Unendlichkeit der Parousie ist abgeschlossen. Die Geschichte der Präsenz ist abgeschlossen." Die Frage nach dem, was nach diesem Ende komme, was dann beginne, verweist er auf die Notwendigkeit von „unerhörten Gedanken . . . die es durch das Gedächtnis der alten Zeichen hindurch zu suchen" gelte. (VP 115 f; SP 162 f; vgl. DESCOMBES, 163)

Vgl. Descombes, ebd. 17 f, 23 f, 37 ff, 42 f, 47 f; zum Zusammenhang von Geschichte und Gewalt vgl. auch Anm. 22.

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Wenn DERRIDA in einer solchen Weise philosophische Texte gegeneinander ausspielt, scheint dies prima vista dem zu entsprechen, was DESCOMBES Verrat genannt hatte, ln der Tat handelt es sich dabei um ein von DERRIDA bewußt gewähltes Strategem, daß die scheinbare Eindeutigkeit philosophischer Texte in ihrer grundlegenden Zweideutigkeit offenbaren soll. Auch die Rede vom Tod der Metaphysik wird von DERRIDA nicht in der Eindeutigkeit akzeptiert, wie DESCOMBES vielleicht glauben machen kann: „Ich versuche mich an der Grenze [im frz. Original: limite] des philosophischen Diskurses aufzuhalten. Ich sage Grenze und nicht Tod, weil ich an das, was man heutzutage den Tod der Metaphysik zu nennen pflegt, ganz und gar nicht glaube (genausowenig übrigens, wie einfach an irgendeinen anderen, sei es nun des Buches, des Menschen oder Gottes; um so mehr als, wie jeder weiß, dem Toten immer eine ganz besondere Wirkung eigen ist)." Diese Grenze aber erweckt sein Interesse, weil er davon ausgeht, daß von dieser Grenze her Philosophie erst möglich geworden ist, sie sich von dieser Grenze her erst als Episteme hat entwickeln können. (Pf 14; Pd 37 f)^ Wie zu zeigen sein wird, kreisen DERRIDAS Texte um das Problem der Sprache, insbesondere aber der Schrift, um die Schrift als Zeichen und als Spiur. Aus dieser ,Thematik' hat sich, in gewisser Hinsicht überraschenderweise, eine Diskussion mit Vertretern der angloamerikanischen sprachanalytischen Philosophie, nämlich den speech-act-Theoretikem AUSTIN und SEARLE ergeben. Ob man von daher freilich die Berechtigung ableiten kann, auch nur in heuristischer Weise den Ansatz DERRIDAS mit dem ERNST TUGENDHATS ZU vergleichen, wie MANFRED FRANK dies tut,^ darf man wohl füglich bezweifeln. Dennoch ist dieser Vergleich, gerade wegen der Unterschiedlichkeit der Konsequenzen, die sich bei „vergleichbaren" Ansatzpunkten für diese beiden Autoren ergeben, geeignet, die Schwierigkeiten zu erhellen, die sich einer „Kommunikation" zwischen deutschen und französischen Philosophen, die DERRIDA nach eigener Auskunft ausdrücklich erhofft, bisher noch in den Weg stellen. 5 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Pd 19 ff, d. h. das in der deutschen Ausgabe ergänzte Einleitungsgespräch in „Positionen, 14 Jahre später"; hier setzt sich Derrida z. B. auch mit den in verkürzter Form zur Sprache gebrachten Vorwürfen auseinander, die /. Habermas in Der Diskurs der Moderne (Frankfurt a. M. 1985. 191 ff) vorgebracht hatte. ^ M. Frank: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie. Frankfurt a. M. 1980. 141 ff: Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Denida. Vgl. ders.; Wijs ist Neostrukturalismus? Frankfurt a. M. 1984. 282 f, 286 f. Ferner: H. U. Gumbrecht: Deconstruction Deconstructed. Transformationen französischer Logozentrismus-Kritik in der amerikanischen Literaturtheorie. In: Philosophische Rundschau. 33 (1986), H. 1/2, 1-35.

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Dazu DERRIDA selbst: „Der Imperativ der Lektüre ist der erste Imperativ, um eine Verständigung einzuleiten. Ich hoffe, daß wir am Beginri einer gegenseitigen Lektüre stehen, die zu einer wirklichen Diskussion führt, die sich nicht mit Modellen oder Etiketten begnügt."^

II. Zwei „H": Husserl und Heidegger erste zwei Bücher {OG/HW; VP/SP), sowie zwei seiner früheren Aufsätze — „Genese et structure“ et la phenomenologie {ED 229—51; SD 236—58) und La forme et le vouloir-dire, note sur la phenommologie du langage (M 185—207) — sind HussERLschen Themen gewidmet. Daß DERRIDA mit HUSSERL angefangen hat, geht aber über eine bloß chronologische Feststellung hinaus, sein Anfang von HUSSERL her ist in der Tat durch einen theoretischen Ansatz gekennzeichnet, der auch das spätere Werk tief prägen wird: In der kritischen Auseinandersetzung mit HUSSERL entwikkeln und definieren sich Begriffe und Themen, die später seine Denkweise charakterisieren werden, und die sich auch in Glas als wichtige Leitfäden werden heraussteilen lassen.® Wenn man eine Genealogie des DERRiDAschen Denkens umreißen will, bietet DERRIDA selber eine Geometrie, eine Art von Architektonik seines philosophischen Anfangs (Pf 12—14; Pd 35—37): De la grammatologie und L'ecriture et la difference stellen jeweils wechselseitig die Mitte des anderen dar, La voix et le phenomene kann als eine lange Anmerkung dazu verstanden werden, die selber als recto oder verso, also als die Vorder- oder Rückseite seiner Einleitung zu HUSSERLS Ursprung der Geometrie gelesen werden soll. Dieser Selbstdarstellung nach bilden diese vier Arbeiten zusammen ferner das Vorwort eines noch zu schreibenden Werkes und das Epigraph eines nie geschriebenen Buches; alle vier sind überdies nichts anderes als Kommentare einer Stelle aus HUSSERLS Ideen I, die auf ein „labyrinthe de chiffres" hinweist. Diese Stelle, von welcher er seiner Selbststilisierung nach ausgegangen ist, und die auch später in Glas noch eine Rolle spielen wird, kommt selber wiederholt vor, z. B. als Motto seiDERRIDAS

7 Pd 27, vgl. oben Anm. 5. ® Über das Verhältnis Derridas zu Husserl vgl. letztlich: R. Bernet: Differenz und Anwesenheit. Derridas und Husserls Phänomenologie der Sprache, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität, ln: Phänomenologische Forschungen. 18 (1986), 51—112; S. Strasser: Von einer Husserl-Interpretation zu einer Husserl-Kritik. Nachdenkliches zu Jacques Derridas Denkweg. In: Phänomenologische Forschungen. 18 (1986), 130—69. S. auch R. Bernet: Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: HW 11—30.

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nes zweiten HussERL-Buches und als dessen Ende. Es handelt sich um die bekannte Stelle aus dem § 100 der Ideen I: „Ein Name erinnert uns nennend an die Dresdner Galerie und an unseren letzten Besuch derselben: wir wandeln durch die Säle, stehen vor einem TENiERSschen Bilde, das eine Bildergalerie darstellt. Nehmen wir etwa hinzu, Bilder der letzteren würden wieder Bilder darstellen, die ihrerseits lesbare Inschriften darstellen usw., so ermessen wir, welches Ineinander von Vorstellungen und welche Mittelbarkeiten hinsichtlich der erfaßbaren Gegenständlichkeiten wirklich herstellbar sind." {Husserliana. 111. 253) Diesem Zitat nach geht es bei HUSSERL nicht so sehr um chiffrierte Verweislabyrinthe, sondern vielmehr um die Ineinanderschachtelung von Vorstellungen in ihrer Stufenbildung, um die Selbstbezüge der Selbstreferenzialität, was durch das Wandeln in einer potentiell unendlichen Bildergalerie versinnbildlicht wird. Es ist aber von Interesse, den DERRiOAschen Gebrauch dieser Stelle, ihre philosophische , Übersetzung' nach Maßgabe der Problematik der Lesbarkeit eines Chiffrenlabyrinths kurz zu analysieren. Schon aus dieser ,Version' kann man tatsächlich die polemische Intention DERRiDAs HUSSERL gegenüber ablesen, seinen Versuch, durch eine Rettung der Äußerlichkeit des Zeichens (als Abbildes, Verweises, Anzeichens, Kopie, Repräsentation) eine Semiotik der transzendentalen Bewußtseinsphilosophie entgegenzustellen. Dieser Vorrang einer Äußerlichkeit und einer Verräumlichung, die sich der Möglichkeit der transzendentalen Reduktion entziehen, ist gewissermaßen die Karte, die ständig gegen HUSSERL ausgespielt wird, eine Art Waffe, die gewiß auch durch eine Lektüre HEIDEGGERS vermittelt ist, insofern auch die HussERLsche Phänomenologie von DERRIDA als Ausdruck der zu destruierenden abendländischen Metaphysik des Seins als Präsenz verstanden wird. ln allen HUSSERL gewidmeten Werken bildet die Problematisierung der Sprache als der irreduziblen Differenz den eigentlichen Leitfaden der kritischen Auseinandersetzung. Die Sprache wird in der Tat von DERRIDA als der Krisenpunkt der Phänomenologie angesehen, als das Problem, das sie von innen sprengen kann, so „leistet die Sprache paradoxerweise den größten Widerstand gegen die phänomenologische Reduktion" (OG 60, HW 91).9 ln seiner Einleitung in HUSSERLS Ursprung der Geometrie betont DERRIDA, daß schon in dem HussERLschen Text die Konstitution der ideellen Objektivität nur durch die Vermittlung einer sprachlichen bzw. schriftlichen Überlieferung ermöglicht wird. HUSSERL wird aber in diesem Punkt 9 Vgl. dazu auch VP 65, SP 113.

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gegen HUSSERL selbst gewendet: Die Schrift wird tatsächlich in Verbindung mit der irreduziblen Struktur der Verschiebung des Verweises und des ,Sich-Differierens' thematisiert, welche als das eigentliche Transzendentale vor jeder Vergegenwärtigung eines reinen Ichs beansprucht werden. Das Sein, das Absolute, ist präsent nur „indem es sich ununterbrochen aufschiebt [se differant]", insofern es sich als „Ursprüngliche Differenz" zeigt. Nur diese Bewegung ist im Sinne DERRIDAS das wahrhafte Transzendentale: „Transzendental wäre die Differenz". (OG 171; HW 203) Auch in La voix et le phenomene bildet das Thema der Sprache den eigentlichen Leitfaden der Auseinandersetzung mit HUSSERL, hier gewinnt allerdings die Schrift ein besonderes argumentatives Gewicht. DERRIDA bearbeitet wieder einen HussERLschen Ansatz aus der ersten Logischen Untersuchung gegen HUSSERL selbst, und zwar wird die Äußerlichkeit des Anzeichens gegen den vermeintlichen Platonismus des Verhältnisses Bedeutung—Ausdruck ausgespielt. Auch in der Selbstaffektion der phone erkennt DERRIDA die Differenz, die Spur einer Andersheit, die Zerspaltung einer ursprünglichen Verschiebung und eines ursprünglichen Verweises, welche die Grundstruktur der Supplementarität des Zeichens und der Schrift charakterisieren, ln dieser Struktur drückt sich das Labyrinthische als ursprüngliche Präsenz von Spuren und Verweisen aus, in welchen die Sache selbst sich entzieht. ,Differance' wird jetzt schon mit ,a' geschrieben (z. B. VP 98, 111—2; SP 145, 159). DERRIDA selbst wird später betonen, daß dieser Begriff aus der Lektüre HUSSERLS erarbeitet worden ist: „Die Begriffe einer ursprünglichen ,Differenz' und Verspätung haben sich uns aus einer Lektüre HUSSERLS aufgenötigt." (ED 302; SD 312)10 Auch spätere Kernbegriffe DERRIDAS wie ,trace', ,renvoi', ,residu' kommen bereits in diesem frühen Zusammenhang der HUSSERLInterpretation und -Kritik vor, und entstehen z. B. in der Übersetzung von „Verweisungen" und „Nachgestalten" des § 38 der Cartesianischen Meditationen (vgl. OG 7; HW 39). Hegel bleibt noch im Hintergrund, er wird manchmal am Rande erwähnt (vgl. OG 45; HW 75; VP 86—7; SP 134), oder aus zweiter Hand Die entsprechende französische Stelle hat „difference" in der Originalausgabe und „differance" (mit ,a') in der später erschienenen Taschenbuchausgabe (Paris 1978), die sonst unverändert und seitengleich ist. Diese Korrektur ist zwar auffällig, aber wohl doch nicht so bedeutend, wie es zunächst scheinen mag, da es schon in der Originalausgabe um das Problem der „differance" (mit ,a') geht; dieser Terminus kommt in dem Kontext der zitierten Stelle mehrmals vor. Wahrscheinlich handelt es sich in der Taschenbuchausgabe bloß um eine Verbesserung eines Druckfehlers.

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z. B. in Zitaten HYPPOLITES und BLANCHOTS nachzitiert (OG 58; HW 90). Es geht also offenbar noch um ein sehr allgemeines, fast klischeehaftes Hegel-Verständnis, um den , phänomenologischen' Hegel der Erinnerung (OG 104; HW 136) und des absoluten Wissens (VP 115; SP 163), noch nicht um Hegel als einen ausgewählten Gesprächspartner, obwohl gelegentlich Argumente aus seinen Texten gewonnen werden. Einen weiteren für sein Denken unverzichtbaren Ansatzpunkt hat DERRIDA bereits früh in HEIDEGGERS Schriften gefunden. Diese Einwirkung geht so tief, daß DERRIDA gelegentlich einfachhin als Heideggerianer bezeichnet wird oder man ihm zumindest vorwirft, nicht über HEIDEGGER hinausgegangen zu sein.^i Während, mit DESCOMBES ZU sprechen, ein „H", nämlich HUSSERL, im Werk DERRIDAS zurückgetreten ist, behaupten HEIDEGGERS Denkanstöße eine zentrale Rolle in DERRIDAS Schriften. So wird in einer seiner bisher letzten Veröffentlichungen, in Schibboleth pour Paul Celan in einer als Parenthese hervorgehobenen Bemerkung in eigentümlicher Weise ex negative die Bedeutung HEIDEGGERS für DERRIDA angedeutet: „. . . in Klammem gesagt: Ich habe mich mehrmals der Anrufung HEIDEGGERS oder der Anfrage bei HEIDEGGER enthalten. Ihre Notwendigkeit kann niemandem entgehen." (S/94; Sd 110) Selbst in Texten also, in denen sich DERRIDA überhaupt nicht ausdrücklich auf HEIDEGGER bezieht, ist dieser in solcher Abwesenheit für ihn doch stets präsent. Positiv gewendet heißt es entsprechend in Positions: „Keine meiner Untersuchungen wäre ohne den Ansatz der HEiDEGGERschen Fragestellung möglich gewesen; vor allem nicht. . . ohne die Beachtung dessen, was HEIDEGGER die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden, die ontisch-ontologische Differenz, nennt, die von der Philosophie in gewisser Weise immer noch unberücksichtigt bleibt, Sein in dieser Hinsicht zentriertes Interesse führt DERRIDA dazu, die auch sonst in Frankreich mit großer Intensität aufgenommene Anregung HEIDEGGERS, die man aus Identität und Differenz aufnahm, mit besonders ausgeprägter Energie zu verfol-

** Vgl. /. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1986. VII. Überbietung der temporalisierten Ursprungsphilosophie: Derridas Kritik am Phonozentrismus (191—218); vgl. auch den Exkurs dazu (219—47). Vgl. auch die Antwort Derridas in dem Interview, das das Vorwort der deutschen Übersetzung von Positions abschließt: Pd 27—30. '2 Pf 18, Pd 43. Vgl. dazu: Philosophien. Gespräche mit M. Foucault e. a. Hrsg, von P. Engelmann. Graz, Wien 1985. 51 ff, besonders 64 f. Ferner F. Rotzer: Französische Philosophen im Gespräch. München 1986. 76 f.

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gen, nämlich gegen die , Identitätslogik' der philosophischen Tradition „die Differenz als Differenz" zur „Sache des Denkens" zu machen. ^3 Zweifellos ist DERRIDA jedoch grundsätzlich darauf aus, HEIDEGGER ZU übertreffen oder zu vertiefen. Vielleicht nicht zuletzt um den gelegentlich gegen ihn geäußerten Verdacht zu entkräften, er beschreite hintergründig doch die ausgetretenen Wege einer Ursprungsphilosophie^^ wählt DERRIDA für sein Vorhaben des Übertreffens und Vertiefens die Strategie einer „doppelten, geradezu geschichteten, verschobenen und verschiebenden Schreibweise" (Pf 57; Pd 47 f). Die Verschiebung der Fragestellung drückt sich dabei insbesondere aus in der Überführung von „Destruktion" in „Dekonstruktion", von „Differenz" in „differance (mit a)". Seine , Lektüre' HEIDEGGERS wendet sich darum insofern gegen HEIDEGGER, als er in dem HEiDEGGERschen ,Text' „die Anzeichen seiner Zugehörigkeit zur Metaphysik oder zu dem, was er als Onto-Theologie bezeichnet, herauszufinden" versucht. (Pf 18; Pd 43) Wenn also einerseits Einflüsse HEIDEGGERS, andererseits Bemühungen um eine weiterführende Kritik an HEIDEGGER DERRIDAS Texte insgesamt durchziehen, muß man aber wohl doch davon ausgehen, daß die grundsätzliche Auseinandersetzung DERRIDAS mit HEIDEGGER noch aussteht. Lediglich als die „Indikation einer solchen [man kann ergänzen: noch ausstehenden] Lektüre" (M 35; R 40) bzw. als schematische Problematisierung, als „einen Leseraster der HEiDEGGERschen Texte" (Pf 75; Pd 111) versteht dementsprechend DERRIDA seine „note sur une note de Sein und Zeit" mit dem Titel ousia et gramme^^. In diesem mit DERRiDASchem Understatement als bloßer „Leseraster" klassifizierten Text wird die große Fußnote am Schluß von Sein und Zeit thematisiert, in welcher der Zeitbegriff Hegels, den dieser in seiner (der damaligen Editionssituation entsprechend noch sogenannten) Jenenser Logiü^ und in der Naturphilosophie der Enzyklopädie ausbildet, in seinem Zusammenhang mit dem Zeitbegriff der ARiSTOTELischen Physik aufgezeigt wird.^^ Insofern sich HEIDEGVgl. V. Descombes: Das Selbe und das Andere (s. o. Anm. 3). 91, 161 f, 179 f. — M. Heidegger: Identität und Differenz. Pfullingen 1957. 43. 1^ Vgl. dazu z. B. H. Kimmerle: Ist Derridas Denken Ursprungsphilosophie? Zu Habermas' Deutung der philosophischen „Postmodeme". ln: Die Frage nach dem Subjekt. Hrsg, von M. Frank, G. Raulet, W. van Reijen. Frankfurt a. M. 1988. 267—282. 13 Zuerst im Rahmen einer Festschrift erschienen: L’endurance de la pensee. Pour saluer Jean Beaufret. Paris 1968. 219—266. Dann in M 31—78, R 38—87. 13 G. W. F. Hegel: Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie. Hrsg, von G. Lasson. Hamburg 1923. 186, 195, 202 ff. Vgl. jetzt GW. Bd7. 177 f, 187, 193 ff. 1^ M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1927. 423 f. In M 39 ff zitiert Derrida die Heideggersche Fußnote in eigener Übersetzung.

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GER in

Sein und Zeit die Frage nach dem Sinn von Sein in der Weise stellt, daß sie nur als „Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie", damit als „Destruktion . . . der ontologischen Tradition" im Ganzen zu leisten sei^®, kann DERRIDA die zu Beginn von Sein und Zeit exponierte Problemstellung am Schluß des Buches in einer offenbleibenden Weise wieder aufgenommen finden. Angriffsziel der HEIDEGGERschen Destruktion ist „die Bestimmung des Sinnes von Sein als :taQouoia bzw. oÜGia, was ontologisch-temporal , Anwesenheit' bedeutet. Seiendes ist in seinem Sein als ,Anwesenheit' gefaßt, d. h. es ist mit Rücksicht auf einen bestimmten Zeitmodus, die ,Gegenwart', verstanden. Diese itapoBOLa bzw. ,Gegenwart' oder ,Anwesenheit' unter dem lateinisch geprägten „Präsenz" fassend zielt DERRIDAS Dekonstruktion darauf ab, daß HEIDEGGERS Kritik der Metaphysik gerade hinsichtlich des Sinnes von ,Präsenz' nicht weit genug gehe und nicht ausreichend präzis sei: In diesem Sinne gibt DERRIDA ZU bedenken, daß er „manchmal das Gefühl habe, daß die HEiDEGGERsche Problemstellung die , tiefgründigste' und ,gewaltigste' Verteidigung dessen ist, was [er] unter dem Schlagwort Denken der Präsenz in Frage zu stellen suche". (Pf 75; Pd 111 f) Dem Vorwurf in HEIDEGGERS Fußnote, Hegels Begriffsbestimmung der Zeit folge dem „vulgären Zeitverständnis" und damit ineins dem „traditionellen Zeitbegriff", der laut der Fußnote seit ARISTOTELES in der Verräumlichung der Zeit begründet, im übrigen seit PARMENIDES durch den Vorrang der Präsenz bezeichnet sei, setzt DERRIDA nach dem Durchgang seiner Textlektüre Hegels und ARISTOTELES' die These entgegen, daß es einen „vulgären Zeitbegriff" überhaupt nicht gebe: „Der Zeitbegriff gehört in allen Teilen zur Metaphysik und nennt die Herrschaft von Anwesenheit beim Namen." (M 73; R 81) HEIDEGGERS eigene Entwicklung ernst nehmend sieht er „Gegenwärtigkeit" zunehmend nur als Beschränkung der „Anwesenheit", die bei HEIDEGGER in eine Rede von einem „ungegenwärtig Anwesenden" übergehe. Den Zusammenhang von Anwesenheit und Sinn von Sein sieht DERRIDA mit HEIDEGGER als gültigen Leitfaden der Lektüre der Texte der Metaphysik, und er meint, sich vermittelst der Konzeption von Präsenz als „Einschränkung in Gestalt der Subjektivität und der Repräsentation" gegen HEIDEGGER wenden zu müssen. Insofern HEIDEGGER die Geschichte der Metaphysik allein unter dem Gesichtspunkt der Anwesenheit betrachte, übersehe er eine grundsätzliche

A4. Heidegger: Sein und Zeit. 22. A4. Heidegger: Sein und Zeit. 25. Vgl. dazu A4 33 ff, R 38 ff.

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Doppeldeutigkeit des sich fortsetzenden Textes (oder Gewebes) des metaphysischen Diskurses. Könne man mit HEIDEGGER die Geschichte der Metaphysik als das Ereignis eines Versäumnisses, des Versäumnisses, die Frage nach dem Zusammenhang von Sein und Zeit auszuarbeiten, verstehen, so bleibe HEIDEGGER doch selbst (dies formuliert DERRIDA überaus vorsichtig, Eindeutigkeit vermeidend) in seinen für die Zeitanalyse in Sein und Zeit zentralen Konzeptionen „Eigentlichkeit", „Uneigentlichkeit", „ursprünglich" und „abgeleitet", besonders aber im „Verfallen" bzw. „Verfallensein" in einer prekären Weise der Sprache der Metaphysik verhaftet. Es sei nicht möglich, der Metaphysik zu entgehen, indem man ihren Grundkonzeptionen andere Begriffe entgegensetze, da diese letztlich doch wieder „nur mit der Hilfe anderer metaphysischer oder onto-theologischer Prädikate konstruiert" werden könnten. Hier setzt DERRIDA seine Unterscheidung von Destruktion und Dekonstruktion an: „Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begriff zu einem anderen überzugehen, sondern darin, eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung, an der sie sich artikuliert, umzukehren und zu verschieben." (M 393; R 155) Die Arbeit der Dekonstruktion kann sich also nicht in einer Neutralisierung der traditionellen oder nachmetaphysischen Oppositionen (z. B. Sprechakt/Schrift oder Anwesenheit/Abwesenheit) erschöpfen, sondern sie muß eine Umkehrung (renversement) der klassischen Opposition und ineins damit eine Verschiebung (deplacement) des Systems bewirken. Das in traditioneller Begrifflichkeit nicht faßbare Resultat ist eine oszillierende Doppelung: „eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wissenschaft, eine doppelte Schrift". (M 392 f; R 154 f)20 Die Dekonstruktion hat dieses Dyadische im Text der Metaphysik aufzuweisen, insofern unterscheidet sie sich als aktiver Eingriff von einer bloßen Interpretation: „Die Überschreitung der Metaphysik erfordert die Inschrift einer Spur in den metaphysischen Text, als Hinweis nicht auf eine andere Anwesenheit oder andere Form von Anwesenheit [wie DERRIDA es letztlich dem HEIDEGGER von Sein und Zeit unterstellt], vielmehr [als Verweis, Zeichen, Hinweis (signe)] auf einen ganz anderen Text." (M 76; R 85) Eine solche Spur, die in den Text der Metaphysik einzuschreiben ist, hat man sich offenbar vorzustellen wie in Wasser gezogene Schriftzeichen, allenfalls wie Schriftzeichen, die auf dem Rand des Strandes gezogen von der Brandung weggewaschen werden, insofern DERRIDA das Entstehen der 20 Vgl. dazu auch M 75, R 85: „Zwei Texte, zwei Hände, zwei Blicke und zwei Arten des Vernehmens, auf einmal zugleich und einzeln."

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Spur und ihr Erlöschen ineins fassen will. Die Spur entzieht sich damit auch der Opposition von sichtbar und unsichtbar. Im ,Text' der Metaphysik, vielleicht auch noch im ,Text' HEIDEGGERS, erweist sich für DERRIDA das Anwesen als die „Spur der Spur oder die Spur des Erlöschens der Spur". (M 76 f; R 86) Unter der Voraussetzung, daß die Rede vom „es gibt" im Blick auf die Spur sinnlos sei, daß andererseits die Frage nach dem Ursprung, der dQxi), die Grundoperation der Metaphysik gewesen und darum so nicht zu wiederholen sei, fragt sich DERRIDA im Blick auf die Differenz (mit „e") von Anwesen und Abwesen, von Sein und Seiendem, ob nicht in diesen Differenzen (mit „e") eine tieferliegende, ältere („plus vieille") Differenz als Spur angelegt sei, die selbst „älter" sei als das Sein selbst. Dann wäre damit eine Differenz gegeben oder ,es gäbe' („aurait") eine Differenz, die noch unvordenklicher (plus impensee) wäre als die ontisch-ontologische Differenz. Diese frühere oder ältere Differenz, älter als das Sein selbst, die der metaphysische Text als Spur behütet, nennt DERRIDA differance (mit „a"). Diese differance (mit „a") als eine nichtmetaphysische Schrift, darum eine Schrift „ohne Anwesenheit und ohne Abwesenheit, ohne Geschichte, Ursache, Archie oder reXog, welche die gesamte Dialektik, Theologie, Teleologie und Ontologie vollkommen" derangieren würde, „übersteigt" nach DERRIDA „alles, was die Geschichte der Metaphysik in der Form der ARiSTOTELischen YQCtgfu) begriffen hat, in ihrem Punkt, in ihrer Linie, in ihrem Kreis, in ihrer Zeit und ihrem Raum". (M 78; R 87)2i

111. Unzureichender Zugang zu Hegel: Bataille und Leinas Der erste Zugang zu DERRIDAS Hegel-Verständnis ist über seine Weise eröffnet, sich mit BATAILLE und LSVINAS auseinanderzusetzen, denn BATAILLE repräsentiert für ihn eine unangemessene Hegel-Rezeption, während er in LfiviNAS eine unzureichende Hegel-Kritik erblickt. Nach DERRIDAS Aufsatz De l'economie restreinte ä l'economie generale. Un hegdianisme sans reserve (ED 369—407; SD 380—421) ist das Verhältnis BATAiLLES ZU Hegel schwer definierbar, da es sich um eine „vorbehaltlose Komplizität" (ED 371; SD 382) und zugleich um einen Bruch handelt, um In seinem Aufsatz Geschlecht — difference sexuelle, difference ontologique (in: L'Herne Martin Heidegger. Hrsg, von M. Haar. Paris 1983. 419—430; vgl. Geschlecht — sexual difference, ontological difference. In: Research in Phenomenology. Vol. 13. 1983. 65—83) geht Derridas Kritik an Heidegger völlig andere Wege. — Vgl. z. B. neuerdings /. Derrida: De l'esprit. Heidegger et la question. Paris 1987; ders.: Psyche. Inventions de l'autre. Paris 1987. S. bes. 109 ff, 415 ff.

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einen Hegelianismus zwar, aber zugleich doch auch um einen Antihegelianismus. (ED 373; SD 384) Wiederum stellt sich mit dem Problem der Schrift die Frage, die DERRIDA stets besonders hervorhebt. Im Anschluß an BATAILLE thematisiert er eine , Schrift der Souveränität' und stellt diese gegen die servile Komplizenschaft des Wortes mit dem Sinn, gegen die unterwürfige Schrift und ihre Korrespondenz mit dem Projekt der Beherrschung, als Technik eines Xöyoq in seiner Strategie, die Herrschaft zu perpetuieren. Gegen diese Schrift der „maitrise" (als „ecriture mineure", unmündige Schrift), pendant einer Vernunft ä la Hegel, die Anerkennung sucht^^, entwickelt DERRIDA in der Nachfolge des BATAiLLEschen Ansatzes eine „ecriture majeure", eine überflüssige, abenteuerliche, sinnlose Schrift, die keine Anerkennung mehr beansprucht, die Offenheit, Wunsch, Zufall ist, eine Schrift, die die Spur als solche produziert und ihre Verwischung nicht befürchtet (vgl. ED 390; SD 402), und deswegen eigentlich Verlust ist (vgl. ED 397; SD 410).23 Als eine solche Kommunikation ist sie die Erfahrung der absoluten Differenz, die auf keine Präsenz, auf keine Arbeit in der Geschichte des Sinnes verweist. (Vgl. ED 387; SD 399) In diesem Rahmen ist es von Interesse, wie DERRIDA von BATAILLE das antihegelianische Thema des Übermaßes und der Verschwendung übernimmt: Der ,geizigen' und in sich geschlossenen Haltung der Erinnerung und der Aufhebung, der Dialektik des Sinnes, der Arbeit des Negativen, der rechnenden Vernunft als Marktinstanz der Kapitalisierung wird die Transgression entgegengesetzt. Das Lachen^^, das Spieps, der Wunsch, 22 Hier wirkt die von Kojeve vertretene und propagierte Lektüre der Phänomenologie des Geistes indirekt nach. Vgl. Anm. 4. 23 Es ist wichtig, darauf t|ir>zuweisen, daß Derrida von BataiUe zwei Stellen zitiert, in welchen die Begriffe „effacement" und „trace" schon Vorkommen, allerdings stehen sie dort nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Problematik der Schrift, sondern im Rahmen seiner Thematisierung der Souveränität. Vgl. ED 390 f, SD 403. 2^ Das Nietzscheanische Thema des Lachens, das sich bei Bataille zu einem Lachen über die Philosophie und über den Hegelianismus zuspitzt, wird von Derrida mehrfach betont. So auch in Glas: Mag das Lachen im Hegelschen System abwesend scheinen, so bleibt doch an seinen Rändern die Bedrohung durch die „ewige Ironie", die Frau und ihr die Systematik erschütterndes Gelächter. Vgl. z. B. Glas 209 ff, TB 260 links; vgl. dazu GW Bd 9. 259. 25 Dieses Thema Batailles scheint für Derrida eine tiefgehende Prägnanz zu haben: Wenn der Sinn überhaupt nur innerhalb eines Spieles ohne Sinn zu suchen ist, dessen Regeln sich als Selbstregulierung des Spiels ergeben, dann zeigt sich das Spiel als zentrumlose Struktur, die dem Sein zugrunde liegt. Vgl. ED 426, SD 440: „Das Spiel ist immerfort ein Spiel von Abwesenheit und Präsenz, doch will man es radikal denken, so muß es der Alternative von Präsenz und Abwesenheit vorausgedacht werden." Merkwürdigerweise bringt die deutsche Übersetzung den Satz hier lücht zu Ende und läßt daher Derridas eigentliche Pointe aus: „il faut penser Tetre comme presence ou absence ä partir de la possibilite du jeu et non l’inverse". Spiel in diesem Sinne gebraucht wird von Derrida mit der Schrift gleichgesetzt, vgl. Gf

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die Poesie, die Erotik, die Extase, das Risiko, der Wahnsinn, diese Themen BATAILLES werden noch in Glas eine bedeutende Rolle spielen. Trotz dieser thematischen Nähe sieht DERRIDA aber die Grenzen des BATAiLLEschen Ansatzes in seiner Erneuerung des Hegelianismus: in der Bewegung der Transgression bleibt in der Tat für BATAILLE die Aufhebung als Struktur bewahrt, was nach DERRIDA in seinem Projekt einer absoluten Zerreißung des Sinnes die Servilität der „maitrise" wieder einführen würde. Der Begriff der Aufhebung scheint also für DERRIDA den eigentlichen Kernpunkt der zu kritisierenden Hegelschen, bzw. hegelianisierenden Denkweise auszumachen. Mit Hilfe BATAiLLEscher Begriffe definiert er die Aufhebung als die Sprache des Knechtes, die zur servilen Ökonomie des Verbots gehört und Ausdruck eines vulgären Bewußtseins ist (ED 405—7; SD 419—21). Die Konzeption der Aufhebung, Indiz einer systematischen Abgeschlossenheit, wird in Glas als Schlüsselbegriff der Auseinandersetzung mit Hegel wiederkehren. Der großangelegte Artikel zu LfiviNAs: Violence et mdaphysique. Essai sur la pensee d'EMMANUEL L£VINAS (Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken EMMANUEL LSVINAS') (ED 117—228; SD 121—235) kann hier nur gestreift werden. Dabei sollen Elemente des Textes angesprochen werden, die auch in Glas wirksam werden. DERRIDA geht in diesem Essay aus von der Frage nach dem vielberufenen ,Tod der Philosophie' (ob diese seit gestern tot sei, seit Hegel oder MARX, seit NIETZSCHE oder HEIDEGGER) und von der Feststellung, daß diese Frage eigentlich keine Fragestellung der Philosophie sein könne. Allerdings werde sie von solchen erhoben, die vielleicht nur gewohnheitsmäßig, „wenigstens aufgrund einer Erinnerung noch Philosophen" genannt würden. (Vgl. ED 117 f; SD 121 f) Aus diesem Fragehorizont werden alle „Drei H." in dem Essay über L^VINAS thematisiert: „In unserer Nähe und seit Hegel, in seinem gewaltigen Schatten, sind die beiden großen Stimmen, die uns diese totale Wiederholung [sc. den „Rekurs zur (philosophischen) Tradition"] diktierten, sie uns zurückriefen, und in denen sie sich als höchste philosophische IDringlichkeit zu erkennen gab, zweifellos die von HUSSERL und HEIDEGGER." (ED 120; SD 124) Insofern es LfiviNAS um „eine Metaphysik der radikalen Trennung und Exteriorität" ( ED 132; SD 136) gehe, steht DERRIDA seinem Unternehmen 16, Gd 17: „Die Heraufkunft [av6nement] der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels." Der Vorwurf, Derrida spiele nur mit Worten, wird sich zunächst iiut dieser Spielkonzeption auseinandersetzen müssen. Derrida nimmt Anregungen von verschiedenster Seite aus der weitschichtigen Diskussion über die Bedeutung des Spiels auf, um sie zu seiner eigenen Konzeption von Spiel umzuformen. Wortspiele durchziehen Glas.

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sehr nah, das sich gegen die Grundtendenz der Metaphysik seit PARMENIDES richtet, das Sein unter den Anspruch der Identität zu stellen und im Rahmen der ontologischen Vorrangigkeit des Lichts oder der Sichtbarkeit zu fassen. DERRIDA zitiert (ED 132; SD 137) aus Le Tetnps et l'Autre (Die Zeit und der Andere) von LfiviNAS: „Wir möchten auf einen Pluralismus zugehen, der nicht mehr in einer Einheit zusammenfließt, und, wenn es gewagt werden kann, mit PARMENIDES brechen."26 Gegen ein Denken der Einsamkeit des Seienden (existant) in seinem Sein (exister), das er bei HEIDEGGER findet, wendet LfiviNAS sein Denken der ursprünglichen Differenz, das Bedenken der Erfahrung des Anderen, aus der heraus die irreduzible Einsamkeit des Seienden der philosophischen Tradition seit PARMENIDES erst verständlich werde. (ED 133 ff; SD 138 ff) Neben eine so sichtbar werdende Nähe zu LSVINAS tritt jedoch auch eine Distanzierung, wenn DERRIDA zur Beurteilung des Verhältnisses von LEVINAS ZU Hegel übergeht: „L£VINAS steht Hegel sehr nahe, viel näher als er selbst will, und das gerade in dem Augenblick, wo er sich ihm in scheinbar radikalster Weise entgegensetzt." (ED 147; SD 152) Eine überraschende Übereinstimmung von LfiviNAS und Hegel sieht DERRIDA hinsichtlich des Übergewichts des Lauts über das Licht, des Gehörs über das Sehen. (ED 147 f; SD 152 f) Eine besondere Gefahr läuft LfiviNAS jedoch in den Augen DERRIDAS, wenn er Andersheit gegen Hegel bzw. in der Form eines Anti-Hegelianismus formulieren will. LfiviNAs' Bemühen um eine „Ethik der Ethik" (ED 163 f; SD 169 f) sieht DERRIDA in der Hauptsache bestimmt durch die Auseinandersetzung mit Hegel bzw. dem Hegelianismus und dem (damit in einer geheimen Komplizenschaft stehenden) Antihegelianismus. Daraus ergibt sich für ihn selbst die umfassende Frage nach einer möglichen sprachlichen Strategie, die es gestatte, sich aus dem durch die philosophische Tradition vorgegebenen Rahmen zu befreien: „Wir fragen nach dem Sinn einer Notwendigkeit: in der überlieferten Begrifflichkeit sich einrichten zu müssen, um sie destruieren zu können." (ED 165; SD 170) Im Spannungsfeld der Konzeptionen „Selbst", „Anderes", Negativität, , schlechter' und ,wahrer' ünendlichkeit zeigt DERRIDA in Bezug auf LEVINAS die Gefahr auf, die Sprache des Hegelianismus, die für ihn „die einzige Sprache der okzidentalen Philosophie" (ED 176; SD 182) bedeutet, zu wiederholen. Hinter der Frage, ob mit dem schlechten ünendlichen als einem Irreduziblen umgegangen werden könne, etwa im Sinne einer Vgl. E. Levinas: Le Temps et l'Autre. Montpellier 1979. 20 (deutsche Übersetzung: Die Zeit und der Andere. Hamburg 1984. 19). Vgl. auch 78 (d. Ü. 56).

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„uranfänglichen Endlichkeit", die DERRIDA in HUSSERLS „Irreduzibilität der intentionalen Unvollständigkeit der Andersheit" (ibid.) erblickt, vermutet DERRIDA die traditionelle Vorgängigkeit des Wahren vor dem Falschen und analog dazu das traditionelle Verhältnis von Selbem und Anderem. „Diese letzte Frage, die wohl die Frage von LBVINAS an HUSSERL sein könnte, würde beweisen, daß LBVINAS im Augenblick, wo er gegen Hegel spricht, diesen nur bestätigen kann und ihn bereits bestätigt hat." (ED 176; SD 182) Aus der Gefahr, eine unzureichende Kritik der Tradition, insbesondere Hegels und des Hegelianismus, nachvollziehen zu müssen, wie sie LBVINAS in seinem Augen läuft, sucht sich DERRIDA in der Folge durch eine Entgrenzung des philosophischen Diskurses zu entziehen. Glas muß als der großangelegte Versucht eines solchen Entzuges gelten. 27

IV. Hegel als das entscheidende „H"? Welche Rolle Hegel in DERRIDAS geistiger Ökonomie spielt, kann ein Blick auf seine private Bibliothek verdeutlichen, den DERRIDA selbst uns in einem seiner Texte gestattet. In La dissemination (D 328) verrät DERRIDA Komposition und Disposition seiner Bücherschränke, „notre bibliotheque domestique": „le Tao Tö King, le Zohar, les mythologies mexicaine, indienne et islamique. EMPBDOCLE, NICOLAS DE CUES, BRUNO, MARX, NIETZSCHE, LBNINE, ARTAUD, MAO TSB-TOUNG, BATAILLE etc.; et dans une autre marge, plus Interieure ou moins visible, effacee, LUCRBCE, DANTE, PASCAL, LEIBNIZ, Hegel, BAUDELAIRE, RIMBAUD, et quelques autres". Trotz dieses versteckten Ortes gelingt es den Hegel-Büchern, gewaltige Schatten zu werfen (vgl. ED 120; SD 124), trotz ihrer unbequemen und schwer erreichbaren Stelle scheinen diese Bücher sehr oft aus dem Regal genommen zu werden: „Wir werden mit dem Lesen oder Wiederlesen des He27 In einer letzten Anmerkung, in der Derrida an den Sätzen: „Woman's reason. Jewgreek is greekjew. Extremes meet." aus James Joyces Ulysses verdeutlichen will, was es bedeutet, daß wir „in und aus der Differenz" (ED 227, SD 234) leben, gibt Derrida zu bedenken, ob das „philosophische Subjekt" von Totalite et Infini „der Mann (vir)" in der Weise sei, daß „es unmöglich, wesensgemäß unmöglich erscheint, daß es [sc. das Buch] von einer Frau geschrieben wäre". Daraus ergibt sich für Derrida eine ontologische bzw. metaphysische Dimension der Frage nach der Geschlechtsdifferenz; „Ist diese prinzipielle Unmöglichkeit eines Buches, von einer Frau geschrieben worden zu sein, nicht einzigartig in der Geschichte des metaphysischen Schreibens? Levinas gibt an anderem Ort zu, daß die Weiblichkeit eine ,ontologische Kategorie' ist. Muß diese Anmerkung in Beziehung zur wesenhaften Männlichkeit der metaphysischen Sprache gesetzt werden?" (ED 228, SD 235)

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gelschen Textes nie fertig werden, und in gewisser Weise versuche ich nichts anderes, als mir über diesen Punkt Klarheit zu verschaffen." (Pf 103; Pd 147—148) Der am meisten benutzte Band scheint die Phänomenologie des Geistes zu sein, oft in den Anmerkungen zitiert, manchmal in den verschiedensten Texten als Hinweis oder Vergleich anwesend (vgl. z. B. ED 19, 38, 45, 148, 190; SD 20, 40, 47, 153-4, 197). Auch die Enzyklopädie ist häufig vertreten (vgl. z. B. ED 148; SD 154; Gf 146; Gd 174; M 4), sowie die Wissenschaft der Logik (vgl. z. B. ED 227—8; SD 234). Ebenso sind die Vorlesungen über die Ästhetik nicht unberücksichtigt geblieben (vgl. z. B. ED 146—8; SD 151—3; M 303); darüber hinaus gibt es Hinweise auf die Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (vgl. z. B. M 321). Eine systematische Lektüre Hegelscher Texte wird sich in Glas zeigen. Hier kommen die Jugendschriften, Jenaer Schriften, Naturphilosophie, Rechtsphilosophie, Religionsphilosophie und Briefe hinzu. Der Hegel, der sich aus diesen ständigen Anspielungen erkennen läßt, ist hauptsächlich der Metaphysiker, der die Entwicklung der abendländischen Philosophie seit PLATON abschließt, als solcher Abschluß (cloture) dieser Linie der Metaphysik der Präsenz tritt er immer wieder in den Texten DERRIDAS auf (vgl. z. B. G/349; Gd 423 u. ö.). Er ist im HEIDEGGERschen Sinne der beispielhafte Vertreter der Onto-Theologie, der „eine Theologie des absoluten Begriffes als Logos" entwirft (Gf 104; Gd 125), der in der metaphysischen Tradition der Verknüpfung griechischer Termini wie tekog, etbog, ouoia, dLfiOeia unauflösbar die Teleologie einer Eschatologie, einer Theologie und einer Ontologie zuordnet (vgl. M 144; R 103). Er ist der Hegel der „dreieckigen" Triade und der zirkulären Dialektik, Metaphern, die mit ihrem ternären Rhythmus die Metaphysik beherrscht haben: „Oedipe, Trinite, Dialectique" (D 32, 392) sind Ausdrükke, die den „phallocentrisme", den „logocentrisme" und das „Systeme phallogocentrique" bezeichnen (M XVll). Das Hauptthema der Auseinandersetzung mit Hegel ist, wie schon der Aufsatz über BATAILLE gezeigt hat, die Aufhebung (vgl. z. B. ED 190; SD 196), manchmal mit dem Begriff Erinnerung verbunden (vgl. z. B. M 269; Pf 59; Pd 91) und oft dem DERRiDASchen Begriff der ,differance' (mit ,a') entgegengesetzt: „Könnte man die differance definieren, so müßte man sagen, daß sie sich der Hegelschen Aufhebung überall, wo sie wirkt, als Grenze, Unterbrechung und Zerstörung entgegenstellt." (Pf 55; Pd 86)28 Hegel dient aber nicht nur zu einer negativen Definition der ,diffe2* Zum Verhältnis von .differance' (mit ,a') und Hegelscher .Differenz' vgl. ferner Pf 59 f. Pd 91 f.

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rance' (mit ,a'), dieser ÖERRiDAsche Begriff ist auch zum Teil im Anschluß an Hegel gedacht: „pharmacon, Supplement, differance . . . ont une valeur double, contradictoire, indecidable" (D 250), haben einen doppelten, widersprüchlichen, unentscheidbaren Sinn, genauso wie bei Hegel Aufhebung, Urteil, Meinen, Beispiel (D 249). Hegelsche Texte antizipieren eine Differenz im aktiven Sinne und sie können deswegen für DERRIDA am besten durch ein Spiel des ,a' übersetzt werden. Es gibt bei DERRIDA aber noch einen weiteren Hegel, nämlich denjenigen, mit dem man denkt, Hegel als Quelle und Anreger, dessen Zitate als Motti gelten. Marges beginnt mit drei Hegel-Zitaten: eins stammt aus der Wissenschaft der Logik (die Anmerkung, in der die zweite KANrische Antinomie und die Problematik der Grenze besprochen wird, vgl. GW 21. 232), weitere zwei aus der Differenz-Schxift (über das Philosophieren ,ä corps perdu' und über das Bedürfnis nach Philosophie, vgl. GW 4. 11, 15). ln La dissemination (D 198) dient ein Hegel-Zitat zusammen mit Zitaten anderer Autoren als Intermezzo, es handelt sich um eine Stelle aus der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts über den Stein der Weisen {Werke. Bd 8. 23 f) und um eine Stelle aus der Phänomenologie (vgl. GW 9. 254). Dieser gespaltene Hegel, zu oder mit dem DERRIDA ein wiederum gespaltenes Verhältnis hat, ist also derjenige Philosoph, der DERRIDA zugleich am nächsten und am entferntesten steht: „Hegel est donc aussi proche et aussi loin que possible d'une conception ,moderne' du texte ou de l'ecriture" (D 27). Er gilt DERRIDA als Denker der irreduziblen Differenz und deswegen als der erste Philosoph der Schrift als Spur: „Hegel ist auch der Denker der irreduziblen Differenz. Er hat das Denken als ein Zeichen produzierendes Gedächtnis wieder zu Ehren gebracht. Und er hat.. . die wesensmäßige Notwendigkeit der geschriebenen Spur in einem philosophischen, das heißt sokratischen Diskurs, der sich ihrer immer entledigen zu können glaubte, von neuem eingeführt. Hegel ist der letzte Philosoph des Buches und der erste Denker der Schrift." (G/41; Gd 48) Hegel selber bewirkt einen gewaltigen Schriftrest, dadurch daß er ^ Wenn Hegel in den Jenaer Systementwürfen die „differente Beziehung" thematisiert und Koyrd als Übersetzung „diffdrenciant" in einer aktiven Bedeutung vorschlägt (vgl. Alexandre Koyre: Hegel ä Una. ln; Revue d'Histoire et de Philosophie religieuses. 5 [1935], 439; später in; {.tudes d'Histoire de la pensee philosophique. Paris 1961. 154 f, aufgrund von G. W. F. Hegel: Jenenser Logik,'Metaphysik und Naturphilosophie. Hrsg, von Georg Lassen. Hamburg 1923. 203 f, jetzt in GW Bd 7. 194 f), meint Derrida dagegen; Wenn man „differant" oder „differance" (mit ,a') gebrauche, ermögliche man ohne weitere Anmerkungen oder Erklärungen eine Übersetzung Hegels in diesem besonderen Punkt, der absolut entscheidend für seine Argumentation sei. Vgl. A4 15, R 20.

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zwingt, in seinen Rissen weiterzudenken: „Ich glaube tatsächlich, daß der Text Hegels notwendigerweise rissig ist; daß er mehr und etwas anderes ist als die zirkuläre Abgeschlossenheit seiner Darstellung. Er beschränkt sich nicht auf den Inhalt von Philosophemen, er erzeugt auch notwendigerweise einen gewaltigen Schreibvorgang, einen Schriftrest, dessen merkwürdige Beziehung zum philosophischen Inhalt man nochmals untersuchen müßte; die Bewegung, mit der er sein Sagen-Wollen überschreitet, läßt sich außerhalb seiner Selbstidentität umgehen, umdrehen, wiederholen." (Pf 104; Pd 148) In Le puits et la pyramide (M 79—127) bzw. der gekürzten und bearbeiteten englischen Fassung Speech and Writing According to Hegel^ nimmt DERRIDA eine Thematik im Blick auf Hegel erneut auf, die bereits seine Grammatologie bestimmt hatte: Die Privilegierung der gesprochenen Sprache gegenüber der Schrift, die er dort im Zusammenhang mit dem „Ethnozentrismus", dem „Logozentrismus" und mit dem Thema der „Metaphysik der phonetischen Schrift" (G/11; Gd 11) anhand von Texten ROUSSEAUS behandelt hat. (Eine Art Leitfaden seiner Untersuchungen bezieht DERRIDA in der Grammatologie aus der Linguistik FERDINAND DE SAUSSURES und deren Fortführung in der Kopenhagener Linguistenschule, z. B. L. HJELMSLEV, aus ROMAN JAKOBSONS strukturaler Linguistik und aus der strukturalen Ethnologie und Anthropologie von CLAUDE Lfivi-SXRAUSS. Außerdem läßt er sich leiten von dem durch CHARLES SANDERS PEIRCE aufgezeigten Zusammenhang von Logik und Semiotik.) DERRIDA sieht in der Grammatologie gegenüber dem Phonozentrismus der Spracheinschätzung der Metaphysik eine „Heraufkunft der Schrift", die letztlich auf eine „Destruktion des Begriffs ,Zeichen' und seiner ganzen Logik" (Gf 16; Gd 17 f) hinauslaufe. In dem, was er als „Tod der Buchkultur" anspricht, sieht er dementsprechend die Ankündigung einer ,,neue[n] Mutation in der Geschichte der Schrift, in der Geschichte als Schrift" (Gf 18; Gd 20), denn da die „Idee des Buches" für DERRIDA „immer auf eine natürliche Totalität verweist", sieht er sie als „dem Sinn der Schrift zutiefst fremd", denn sie schirme „die Theologie imd den Logozentrismus enzyklopädisch gegen den sprengenden Einbruch der Schrift", gegen deren „aphoristische Energie" und schließlich gegen „die Differenz im allgemeinen" ab (Gf 30 f; Gd 35). Die Hauptthese zum Verhältnis von Metaphysik und Schrift wird in der Grammatologie zwar in der Lektüre RousSEAUscher Texte ausgeführt, jedoch bereits in einleitenden Passagen des 30 J. Derrida: Speech and Writing According to Hegel. In: Man and World. 11 (1978), Nr 1—2, 107—130. Im folgenden zitiert: Speech.

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Buches und dann in Le puits et la pyramide auf Hegels Philosophie bezogen; „Die Stellung der Schrift in der Geschichte der Metaphysik kann umschrieben werden als ein unterdrücktes, beiseite gerücktes, zurückgedrängtes, verschobenes Thema, das jedoch einen anhaltenden Druck von dem Ort ausübt, wo es in Grenzen gehalten wird." (G/ 381; Gd 461) ln der Anwendung auf Hegel findet DERRIDA in dessen Denken eine Doppeldeutigkeit, die sein eigenes Verhältnis zu Hegel in einer bezeichnenden Analogie grundsätzlich bestimmt: Einerseits wird sein System als ein Resümee der „Totalität der Philosophie des Logos" erkannt, in dem die „Ontologie als absolute Logik bestimmt" werde und in dem sich alles versammelt finde, „was das Sein als Präsenz" begrenze. Insofern stellt Hegels Philosophie den Kulminationspunkt der logozentristischen Metaphysik dar. Die Schrift wird (nach der Grammatologie) bei Hegel als Selbstvergessenheit und Entäußerung der Erinnerung (dem verinnerlichenden Gedächtnis) als Gegenteil gegenübergestellt. Insofern Hegel in der Enzyklopädie von 1827/30 (§ 459 Anm.; Enz. S. 371) in der Buchstabenschrift Töne bezeichnet sehe, welche ihrerseits bereits Zeichen seien, bestehe die Buchstabenschrift für Hegel „aus Zeichen der Zeichen", daher finde seine Kritik der Schrift in der Buchstabenschrift ihre Grenze. Denn als Schrift, welche die „ideelle Innerlichkeit der lautlichen Signifikanten" respektiere, sei die Buchstabenschrift „die beste Schrift, die Schrift des Geistes". {Gf 39; Gd 45 f) Sie sei darum auch die „Schrift der Geschichte", die „Schrift des absoluten Geistes (ecriture de Tesprit infini)" und als solche sei sie die „Aufhebung aller anderen Schriften", wobei Aufliebung als der von DERRIDA ZU attackierende Kernausdruck Hegelscher Dialektik im französischen Original als deutsches Wort auftritt. (Gf 39 f; Gd 46) Trotz der Aufhebung insbesondere der Hieroglyphenschrift, die von der Präsenz der phone abgetrennt ist, durch die Buchstabenschrift, macht sich in Hegels Text ein Eigenleben der Schrift bemerkbar. Durch die Gewohnheit des stummen Lesens sieht Hegel nämlich die Bindung der Buchstabenschrift an die Töne getilgt, sie wird unter der Hand gewissermaßen wieder zur Hieroglyphenschrift: „Die erlangte Gewohnheit tilgt auch später die Eigentümlichkeit der Buchstabenschrift, im Interesse des Sehens als ein Umweg durch die Hörbarkeit zu den Vorstellungen zu erscheinen, und macht sie uns zur Hieroglyphenschrift, so daß wir beim Gebrauche derselben die Vermittlung der Töne nicht im Bewußtsein vor uns zu haben bedürfen." (Enz. §459 Anm., S. 373)3^ 3* Die so für Derrida sichtbar werdende Doppeldeutigkeit der Behandlung der Schrift bei Hegel wird in der Grammatologie folgendermaßen zusammengefaßt: „Der Horizont des ab-

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Das Spannungsfeld von Sprache und Schrift bei Hegel, das Verhältnis von Erinnerung (Schacht, puits) und stummem Zeichen (Pyramide) ist dann weiterhin das Thema DERRIDAS in Le puits et la pyramide bzw. in Speech and Writing According to Hegel. Die beiden Fassungen dieses Textes können also als ausgearbeitete Fußnoten zur Grammatologie verstanden werden. Auch hier geht DERRIDA wieder aus Von der Psychologie der Hegelschen Enzyklopädie. Besonders auffallend erscheint ihm dabei neben Hegels Charakteristik des Zeichens als die Pyramide, in welche eine fremde Seele versetzt und aufbewahrt ist" {Enz. § 458 Anm.) und der etwas und sich erinnernden Intelligenz als „nächtlichen Schacht" oder „bewußtlose[n] Schacht" {Enz. § 453 Anm.), die Tatsache, daß Hegel selbst darin ein Problem erkennt, daß Zeichen und Sprache in der Philosophie an den Rand gedrängt werden; „Gewöhnlich wird das Zeichen oder die Sprache irgendwo als Anhang in der Psychologie oder auch in der Logik eingeschoben, ohne daß an ihre Notwendigkeit und Zusammenhang in dem Systeme der Tätigkeit der Intelligenz gedacht würde." {Enz. §458 Anm.) Durch eine „architektonische Lektüre" der Enzyklopädie von 1827/1830 (der amerikanische Text nennt übrigens fälschlich die Ausgabe von 1817)32 sucht DERRIDA der Realisierung des Anspruchs nachzugehen, der sich aus der Anklage der Verdrängung von Zeichen und Sprache an den Rand von Psychologie oder Logik ablesen läßt. Er findet diesem Anspruch gemäß nicht nur eine Semiologie in Hegels System, er findet sie sogar an einem auch von Hegel so genannten Mittelpunkt.^^ Selbst wenn Hegels, vornehmlich in Anmerkungen ausgeführte Bemerkungen zu Sprache und Zeichen sich als eine Semiologie deuten lassen und diese in der angegebenen Weise (Anmerkungen!) innerhalb der Psychologie in den Mittelpunkt gerückt sind, muß man doch fragen, welchen Charakter dieser Mittelpunkt haben kann. Sicher hat das Hegelsche System mehrere Teile aufzuweisen, die jeweils auf eigene Weise einen „Mittelpunkt" darstellen (in manchen Vorlesungen spricht Hegel, wie aus den Nachschriften zu schließen ist, übrigens in fast stereotyper Wiederholung von der „Hauptsache", die nun gerade behandelt werde). Ob allerdings die Psychologie den Mittelpunkt des Systems darstelle, bedürfte sicher eines sehr ausführlichen, wohl auch außergewöhnlichen Beweisganges. soluten Wissens ist das Erlöschen der Schrift im Logos, die Resumtion der Spur in der Parusie . . . Und doch kann alles, was Hegel in diesem Horizont gedacht hat . . . auch als Überlegung zur Schrift gelesen werden". G/41, Gd 48. Anschließend s. oben S. 156. 32 Speech 108. 33 Dazu M 92, Speech 115. Vgl. Hegel: Enzyklopädie. §457 Anm.

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Als Ergebnis ist sehr kurz zusammenzufassen, daß DERRIDA den traditionellen Phonozentrismus in Hegels System an eine Grenze geführt sieht, insofern Hegel die in der philosophischen Tradition als Randproblem behandelte Schrift in einen Mittelpunkt rücke. Die Behandlung der verschiedenen Schriftarten und deren Aufhebung in der Buchstabenschrift verdeutliche jedoch nachhaltig, daß dieser Mittelpunkt für Hegel letztlich auch ein Punkt der Vermittlung sei, damit aber unter dem Gesetz der Aufhebung stehe. Durch die Mächtigkeit der Aufhebung (von DERRIDA mit „releve", also etwa Ablösung im Sinne von Wachablösung übersetzt) wird Hegels Denken gewissermaßen in traditionelle teleologische Muster zurückgezwungen.

V. „Glas" als Kritik und Rezeption Hegels Eine zentrale, von DERRIDA eigens hervorgehobene Bedeutung des Buches (oder Nicht-Buches) Glas ist die der „Einführung“ (deutsch im Original) in Hegels Philosophie. (Glas 10, TB 5 links) Er geht dabei von der Voraussetzung aus, daß es eine große Zahl von Einleitungen in Hegel auf dem (französischen) Markt gebe, daß aber gleichzeitig Hegel selbst immer wieder in seine Philosophie einleite, so daß man die gesamte Philosophie Hegels als Einführung in Hegel verstehen könne. Im Zuge der Einführung, als die sich Glas versteht, soll sich freilich auch herausstellen, in welcher Hinsicht Hegels Denken noch hier und jetzt für uns von Bedeutung sei. Insofern beginnt Glas: „quoi du reste aujourd'hui, pour nous, ici, maintenant, d'un Hegel?" mit der Frage nach dem Rest, nach dem was bleibt von Hegels Philosophie. Dabei konstatiert DERRIDA sogleich, daß wir unbewußt bereits in der Fragestellung Worte in einem von Hegel geprägten Sinn gebrauchen. Versteht man den Titel Glas jedoch im Sinne der Totenglocke, so fragt das Buch eben nicht nur nach dem Bleibenden, nach dem Rest, sondern vor allem auch danach, was als der Historie verfallen für uns nicht mehr gültig sein kann. Von daher kann man sich an BENEDETTO CROCES Titel Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie erinnert fühlen. Obwohl — oder vielleicht gerade weil DERRIDA eine Reihe von Einführungen in Hegel kennt^^ wählt er einen völlig ungewöhnlichen Weg des 34 Er bezieht sich besonders auf Bemard Bourgeois, Jacques D'Hondt, Jean-Pierre Lefebvre und Eric Weil. Vgl. Glas 96 f, TB 116 f links, ferner /. Derrida: Vage de Hegel. In: GREPH: Qui a peur de la philosophie? Paris 1977. 73, 88. Er kennt freilich auch z. B. F. Rosenzweig: Hegel und der Staat, vgl. ED 225, SD 232.

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Einführens. Dies gilt für die literarische Form wie auch für das inhaltliche Vorgehen: Ein erster Blick zeigt Glas als einen in zwei Koluirinen gespaltenen Text, der in sich vielerlei Schnitte und Aufteilungen aufweist, der (zweimal) fragmentarisch beginnt und ebenso endet.^s Entgegen einem möglichen literarischen Vorbild, dem Finnegans Wake von JAMES JOYCE scheinen diese fragmentarischen Anfänge und Schlüsse jedoch nicht aufeinander zu verweisen oder aneinander anzuknüpfen.^ Ein in solcher Art fragmentarisch wirkender Text kann gleich den Verdacht erwecken, daß er auch kein Zentrum besitzt, vielleicht noch nicht einmal eine These oder gar Hauptthese (vgl. dazu Glas 84, TB 100 rechts). Dagegen sollte man zunächst strategisch annehmen, daß dieser Text mehrere Zentren, mehrere Hauptthesen, mehrere Gravitationspunkte habe, und deswegen ist zu versuchen, durch wiederholte Annäherungen seine geheimen Regeln zu enträtseln. Es handelt sich anscheinend um ein Labyrinth, in dem man gezwungen ist, sich zunächst ,ä tätons', tastend, zu bewegen. Insbesondere die französische Nachkriegskultur neigt zu labyrinthischen Verwicklungen3^; diese Vorliebe kommt auch in Glas zum Ausdruck: Die exzentrischen Stellen ,am Rand' (en marge), ,in den Ecken' (dans les angles) bilden gewissermaßen einen „cadre dedaleen", einen Dädalusrahmen {Glas 10, TB 5 rechts).3® Insofern bietet sich DERRIDAS Glas selbst als eine Art Wanderung durch eine labyrinthische Galerie dar. Es finden sich im Text eine Vielzahl von Anspielungen in dieser Richtung: Einerseits wird die Vorliebe GENETS, des Protagonisten der rechten Textkolumne, für die Galerien hervorgehoben (vgl. Glas 15, TB 11—12 rechts), andererseits Hegel, Protagonist der linken Spalte, als ein begeisterter Besucher von Bildergalerien in Erinnerung gebracht. Es ist daher kein bloßer Zufall, Eine vergleichbare Textgestaltung ist in der deutschen Literatur insbesondere durch Arno Schmidt bekannt geworden, man denke etwa an Zettels Traum oder Abend mit Goldrand. ^ Während sich in Finnegans Wake Ende und Anfang so zusammenschließen, daß gewissermaßen ein Kreis geschlossen wird, kann man in Glas eher einen verschlungenen, labyrinthischen Anschluß erkennen, in welchem sich die Textkolumnen überkreuzen, sofern das Ende an den Anfang anschließt. Ein Vorbild dafür könnte Genet selbst bieten, vgl. dazu Anm. 41. Was z. B. in der Rezeption von Jorge Luis Borges und in der Begeisterung, die sein El Aleph fand, abgelesen werden kann. Über die literarische Suggestionen hinaus sind für die Debatte um dieses Thema die Einflüsse der Mythenforschung, der archäologischen Funde, der psychoanalytischen Strömungen sowie der mathematischen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über die komplexen Systeme bedeutend gewesen. 38 Labyrinthe treten oft auf, vgl. z. B. Glas 128, 246, TB 156, 307 rechts. Zur Gleichstellung Labyrinth-Schrift vgl. z. B. ED 434, SD 448.

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wenn schon beim erstenmal, wenn es um das private Leben Hegels und seiner Familie geht, die Dresdner Galerie mit ihren Originalen und Kopien erwähnt wird: „Lors d'un voyage ä Dresde (1821), il ecrit ä sa femme. Comme d'habitude il lui parle des galeries de peinture dont il fait systematiquement, ä chaque deplacement, le tour. En particulier d'un tableau de HOLBEIN le Jeune, La Madone du bourgmestre Meyer. Il a toujours pris l'original — qu'il voyait regulierement ä Berlin — pour une copie et la copie, qu'il venait de voir ä Dresde, pour l'original." {Glas 72, TB 85—86 links) Hier wirkt offenbar noch die bereits zitierte HussERLsche Stelle aus Ideen I nach, aus welcher, nach DERRIDAS SelbstdarsteUung, sein Denken den entscheidenden Anstoß erfahren hat. Man kann sich fragen, was für Bilder in diesem von DERRIDA vorgeschlagenen ,itinerarium' durch eine labyrinthische Galerie zu sehen wären. Der HussERLschen Stelle nach sollen es Bilder sein, die wiederum Bilder darstellen, welche ihrerseits lesbare Inschriften darstellen usw. Tatsächlich sind dementsprechend die Versatzstücke, die dies Werk als ein ,patchwork' erscheinen lassen, überwiegend Zitate. Zu Beginn der linken Spalte findet sich die programmatische Äußerung: „Pour nous, ici, maintenant: ces mots sont des citations, dejä, toujours, nous l'aurons appris de lui." {Glas 7, TB 1 links) Entsprechend wird in der rechten Spalte als Anfang ein Zitat von GENET in Anführungszeichen gegeben. Dies Verfahren bestimmt den Fortgang des Textes; alle diese Stücke, oft unvollständig, wie mit der Schere ausgeschnitten, manchmal plötzlich unterbrochen und nach einigen Seiten ohne besondere Anzeige wiederaufgenommen, sind in der Tat lose Fragmente, Bruchstücke (auch im Sinne des Häppchens): „L'objet du present ouvrage, son style aussi, c'est le morceau." {Glas 135, TB 166 rechts) Wenn DERRIDA im Werk GENETS eine Fülle von Spuren, Spuren von Spuren und Textverweise findet, gilt Ähnliches auch für sein Unternehmen: „il n'y a ici que des traces, des traces de traces sans trace, ou si vous voulez des traces qui ne traquent et ne retracent que d'autres textes." {Glas 92—93, TB 111 rechts) Glas beansprucht daher, kein Buch im üblichen Sinne des Wortes zu sein: Sein Anliegen ist vielmehr aufzuzeigen, daß das Buch nicht als Einheit existieren könne, es wird sogar die Frage gestellt, ob ein einheitlicher Text möglich sei, ob er nicht ebenso eine Fiktion sei, wie das Einhorn (s. Glas 190, TB 236 rechts). In der Tat stellt Glas in einer provokativen Form dar, was auch sonst für jeden Text, und nicht nur für einen wissenschaftlichen, wesentlich sei: eine variierte Reihe von Zitaten und Anspielungen, eine Collage aus Bruchstücken anderer Texte: „ce qui se

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donne ä lire se donne ä lire par citations (necessairement tronquees, coupures, repetitions, . . . sections, . . . selection)." {Glas 189, TB 235 rechts) Die Lesbarkeit von Texten wird damit grundsätzlich in Frage gestellt, Glas kündigt sich selbst durch seine Andeutungen als unlesbar an^^, und wenn eine Lesbarkeit noch existieren soll, scheint sie nur noch ,a tergo' möglich zu sein: „Je ne suis accessible, lisible, visible que dans un rätroviseur." {Glas 97, TB 117 rechts)^ Die textintemen Querverweise und die oft chiffrierten Verweise auf andere Texte innerhalb dieses labyrinthischen , Buches' zwingen den Leser, es in mehrere Richtungen zu lesen, sich ihm aus verschiedenen Richtungen anzunähern. Unser erster Annäherungspunkt wird, wie bereits angekündigt, der Titel selbst sein, der Titel als Rätsel: Glas bedeutet zunächst Totenglocke. DERRIDA knüpft hier an verschiedene literarische Vorbilder an, z. B. MALLARM£, POE, BATAILLE (vgl. Glas 170 ff, 174 ff, 246 f, TB 210 ff, 216 ff, 308 f rechts). Auch von GENET wird mehrmals betont, daß er sein Werk als Trauerfeier verstehe, als Nachmf für Tote und für niemanden, sich selbst als einen lebendigen Toten: „J'ecris pour les morts, dit-ü partout. Lisez les Lettres ä ROGER BLIN, l'Atelier d'ALBERTO GIACOMETTI, lisez tout. Mais il precise: pour des morts qui n'ont jamais ete vivants. Le glas n'est de personne." {Glas 91—92, TB 110 rechts) Wem schlägt die Stunde in DERRIDAS Glas? Man findet im Text Formulierungen, die Antworten auf diese Frage zu geben scheinen, z. B. ein „glas de la langue" {Glas 187, TB 232 rechts), „glas ... de l'idiome ou de la signature. De Taieul absolu" {Glas 169, TB 209 rechts), „glas des classes" {Glas 112, TB 137 rechts), „glas du phallogocentrisme" {Glas 252, TB 315 rechts), also etwa Totenglocke der Sprache, des Idioms, der Unterschrift, des absoluten Vorfahren, der Klassen, des Phallogozentrismus. Schließlich schlägt der Bedeutung die Stunde: „Les glas, tels que nous les aurons entendus, sonnent la fin de la signification, du sens et du signifiant." {Glas 39, TB 42 rechts) Es bleibt meist unbestimmt, ob es sich um objektive oder subjektive Genitive handelt. Was bedeutet z. B. „glas de la langue"? Ist die Sprache diejenige, die zu betrauern ist — oder ist sie es, die die Totenglocke läu-

Zum Problem der Lesbarkeit bzw. Unlesbarkeit des Titels Glas vgl. /. Derrida: Survivre. In: Parages. Paris 1986. 153; dort erklärt Derrida Glas für unübersetzbar. — Zu einem Sprachspiel Genets über Unlesbarkeit vgl. Glas 41 f, TB 46 rechts. ^ Eine solche Äußerung erinnert an die Mallarme-Zitate in D 202, 258. Auch in /. Derrida: La carte postale de Socrate ä Freud et au-dela. Paris 1980. 55: „Tout se joue en retro et a tergo.“ Deutsche Übersetzung: Die Postkarte. Von Sokrates bis zu Freud und jenseits. 1. Lieferung. Berlin 1982. 63.

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ten läßt? Schon in dieser Zweideutigkeit kündigt sich die Doppelheit des gesamten Textes an, die Spaltung, die seine Struktur bestimmt. Diese Struktur wird das Objekt eines zweiten Annäherungsversuches sein. Die Spaltung des Textes löst bei manchen Lesern Verwirrung aus, dies ist von DERRIDA offenbar so geplant und wird im Text selbst kommentiert: „Pourquoi faire passer un couteau entre deux textes? Pourquoi, du moins, ecrire deux textes ä la fois? Quelle scene joue-t-on? Que desire-t-on? Autrement dit, de quoi a-t-on peur? qui? de qui? On veut rendre l'ecriture imprenable, bien sür. Quand vous avez la tete ici, on vous rappelle que la loi du texte est dans Tautre, et ainsi ä n'en plus finir. . . . On ne vous laisse plus savoir oü est la tete et oü le corps de ce discours, on vous dissimule le cou pour que vous ne puissiez porter le votre." {Glas 76, TB 90-91) Diese Art und Weise zu schreiben bedeutet innerhalb der Literatur, insbesondere der zeitgenössischen französischen, allerdings kein Novum. DERRIDA kann sich also an literarischen Vorbildern orientieren, und ein direktes Vorbild für Glas ist ein Text GENETS, den DERRIDA mehrfach zitiert und auf den er gelegentlich anspielt. Es geht um Ce qui est reste d'un Rembrandt dechire en petits carres bien reguliers et foutu aux chiottes*^, mit dem Zitat dieses Titels hebt die rechte Spalte an. Es ist allerdings zu fragen, was mit diesem Angebot einer , schielenden' Lektüre beabsichtigt wird, was die Anwendung eines literarischen Musters für philosophische Argumentation bedeuten soll. Betreibt DERRIDA hier Literatur mit philosophischen Themen, Philosophie mit literarischen Mitteln, keins von den beiden, beides auf einmal? Diese Frage hat DERRIDA schon an anderer Stelle beschäftigt, ln Positions gibt er z. B. zu, daß seine Texte weder dem , philosophischen' noch dem ,literarischen' Register angehören. (Vgl. Pf 95; Pd 138) ln Marges, durch einen doppelten Text eingeleitet, der auch typographisch das Muster von GENETS Ce qui est reste . . . sehr treu reproduziert, wird in Tympan unter dem Leitmotiv „Tympaniser — la philosophie" das ,An-der-Grenze-Sein' thematisiert. (M 1—XXV) Aber trotz dieser Antworten bleibt die Frage, was diese Oszillation bedeuten soll, zwischen welchen Rändern dies Glas schlägt, in welcher Be‘*1 In: Tel quel. 29 (1967). Vgl. jetzt: J. Genet: Oeuvres completes. Bd 4. Paris 1968. 19—31. ln der Zeitschrift Tel quel, an der Derrida nütwirkte, vertraten auch andere Autoren eine entsprechende literarische Form. Vgl. z. B. die Texte von J. Aeply, M. Roche, G. Amy in: Tel quel. 2 (I960), 19—28; 16 (1964), 84—90; 17 (1964), 83—93. Die Thematisierung des Zusammenhanges Räumlichkeit und Schrift bezeichnet einerseits Diskussionen und Literatur der Sechziger Jahre (z. B. Butor, Barthes, Blanchot), hat aber andererseits auch eine ältere Tradition, man denke etwa an Sterne, Caroll, Joyce im englischen Sprachraum, oder an Mallarme, Valery, Apollinaire im französischen.

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Ziehung rechte und linke Spalte, d. h. GENET versus Hegel und umgekehrt, zueinander stehen. Sind die parallellaufenden Teile symmetrisch, ähnlich, analog oder stellt jeder Teil jeweils die Umkehrung oder die Kehrseite des anderen dar - oder bestehen diese zwei widersprüchlichen Verhältnisse gleichzeitig? Eine mögliche Antwort findet sich vielleicht in der folgenden Formulierung: „X, chiasme presque parfait, plus que parfait, de deux textes mis en regard Tun de l'autre: une galerie et une graphie qui l'une l'autre se gardent et se perdent de vue. Mais les tableaux sont ecrits et ce(lui) qui (s')ecrit se voit regarde par le peintre." {Glas 53, TB 61 rechts) Es kommen wieder Bilder und Inschriften vor, wie in der HussERL-Stelle aus Ideen I. Eine Spalte ist dann einerseits Abbild, Repräsentation, Inszenierung der anderen, sie ist der anderen ähnlich, symmetrisch, um einen semiologischen Begriff zu gebrauchen, ist sie ihr Ikon. Andererseits ist aber jede Spalte Graphie, d. h. Verweis und Anzeichen der anderen, ihr Index. Die Bilder sind keine bloßen Ikons sondern auch kodierte Hinweise, Indizes, sie stellen Inschriften dar, und die Verweise sind wiederum wie schöne Bilder anschaubar.‘*2 Die GENETSpalte z. B. ist dann, filmtechnisch gesprochen, der Tonstreifen der Hegel-Spalte: eine Art symmetrisch laufender Kommentar, der zugleich den Schlüssel und den Kode des anderen Teils enthält. Was DERRIDA in Bezug auf Les bonnes von GENET feststellt, ist auf Glas selbst zu beziehen: „D'abord, un texte pictural, representatif, iconique, la tapisserie, est applique sur un texte narratif ou discursif: une piece dans l'autre . . . il s'agit d'une etoffe (sens propre) piquee sur un tissu (sens figure)." {Glas 215, TB 267—268 rechts) Jeder Teil ist Simulacrum, Abbild des anderen, sein Supplement, aber auch sein Fetisch^^, zugleich das Original und seine Kopie, es ergibt sich etwas wie der Widerspiegelungseffekt einer Spiegelgalerie. Dieser scheinbar depotenzierte Text will aber in der Tat Potenzierung eines Textes sein, so heißt es mit einem doppeldeutigen Wortspiel: „Ce que je voulais ecrire, c'est POTENCE du texte" {Glas 223, TB 278 rechts), der in kleine Quadrate geteilte Text will ein ins Quadrat erhobener Text sein (vgl. Glas 254, TB 317 links).^ ^ Dieses Zitat hat schon Maler inspiriert, vgl. die Zeichnungen von Valerio Adami in ]. Derrida: La verite en peinture. Paris 1978. 173, 190 (sowie auf dem Buchumschlag). Vor allem in der zweiten Hälfte von Glas werden diese Themen auch mit Beziehung auf Freud und Marx behandelt. Vgl. Glas 231, TB 288 links. Vgl. parallel dazu das Thema SatzErsatz in der rechten Spalte: Glas 242 ff, TB 302 ff rechts. Über Fetisch mit Bezug auf Freud s. Glas 249 ff, TB 311 ff rechts, mit Bezug auf Hegel Glas 232 ff, TB 289 ff Unks. Über den Zusammenhang Fetisch-Supplement vgl. ferner Glas 256, TB 320 rechts. ^ Möglicherweise bezieht sich Derrida hier auf die sogenannte „literature potentielle" (man denke etwa an Frangois Le Lionnais oder an Raymond Queneau).

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Der dritte Annäherungsversuch wird besonders die rechte Spalte betreffen, die hier allerdings nur in beispielhaften Sondierungen untersucht werden kann. Zunächst die Frage: warum GENET als Simulacrum Hegels? Beide entsprechen sich und entsprechen der Grundintention DERRIDAS, insofern beide schon gespaltene Texte produzieren: GENET schreibt Mythologien, die in der Tat Autobiographien sind, und umgekehrt, in seiner literarischen Produktion ist immer eine innere und äußere Spaltung am Werk, gleich am Anfang seines Journal du voleur schreibt er „Mon emoi c'est l'oscillation", in Glas wird dies mehrfach zitiert oder darauf angespielt; auch der Hegelsche Text ermöglicht für DERRIDA zwei Antworten, zwei Interpretationen, zwei Lektüren, teilt sich in zwei (vgl. Glas 223, TB 277—27?> links). GENET ist nicht nur eine Art Ebenbild, er ist auch das Gegenbild, das Jenseits Hegels. GENET, der Namenlose, ohne Familie, ist mit SARTRES Worten nicht der Sohn einer Frau, sondern ihr Rest, er ist ein Abfall.^s Zu Beginn von Glas fragt DERRIDA im Anschluß an HEIDEGGER „qu'appelle-t-on pensee?" bzw. „qu'est-ce qui s'appelle pensee?" {Glas 2U, TB 27 links) So wird mit HEIDEGGER der Sinn von „heißen" in der Frage „Was heißt Denken?" eigens problematisiert, in diesem Rahmen wird die Frage gestellt, wie ein Namenloser zu diesem Thema paßt, was für einen Namen wird er dem Denken geben, verbunden damit die verwandte Frage, ob es einen Platz für den Bastard im Hegelschen System gibt: „Y a-t-il une place pour le bätard dans l'onto-theologique ou dans la famille hegelienne? Question ä laisser de cote, ä tenir en marge ou en laisse quand on entre dans une vraie famille ou dans la famille de la verite." {Glas 12, TB 8 links)'*^ Während sich die Familie für DERRIDA als schöne Totalität in einem ’köyoc, konzentriert, in dem Namen des Vaters oder des Vorfahren, trägt GENET den Namen einer unbekannten Mutter, einen Blumennamen (genet bedeutet Ginster). DERRIDA betont, daß daher ständig Blumen in den Werken GENETS Vorkommen, und er zitiert mit Vorliebe solche Stellen: es sind rhetorische Blumen, die wieder auf die Struktur dieses Werkes als Anthologie, also wörtlich genommen als Blumensammlung, verweisen; ein Beispiel: „Que nous proposet-on? Des fioritures? Une anthologie? . . . Pas meme une anthologie. Des morceaux d'anthologie. Pour inviter, si possible, ä relier, ä relire en tout „n n'est pas le fils de cette femme; il en est l'excrement." j.-P. Sartre: Saint Genet comedien et martyr. Paris 1952. 16. ^ In einer Reminiszenz an Plato verknüpfen sich für Derrida die Themen des Bastards und der Schrift, vgl. z. B. Pf 22, Pd 47 f. Eine Verknüpfung beider Textkolumnen ergibt sich inhaltlich auch durch die Thematik der ,Unehelichkeit'; Genet wird die Spiegelung des vorehelichen Sohns Hegels, Ludwig Fischer. Vgl. Glas 13, TB 10 links.

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cas." (Glas 135, TB 165—166 rechts) GENET stellt sich selber (mit einem Blumennamen als seinem eigenen Kryptogramm) als eine lebende rhetorische Figur, eine Antonomasie, dar.^^ Viele Seiten der rechten Spalte sind Blumen gewidmet. Auch in ihrer Darstellungsweise ist die Spaltung und die Teilung des Textes beibehalten. Sie sind die Metapher der Frau, der Jungfräulichkeit, der unbefleckten Empfängnis, „Immacule Conception" — dies wird von DERRIDA vorwiegend ironisch abgekürzt als „IC" — (vgl. z. B. Glas 57, TB 65—66 rechts), aber es sind auch die phallischen Blumen als „simul de l'erection et de la castration" (Glas 30, TB 31 rechts). Die Blumen weisen auf die Reinheit hin sowie auf die Entjungferung, auf die Defloration.^® Oft sind diese Blumen „glycines" (Glyzinien), „glaieuls" (Gladiolen), „eglantine" (Wildrosen) und tragen in ihren Namen ein Kennzeichen dieses Textes: GL. Diese Konsonantenverbindung ist bezeichnend für das Titelwort, wie auch für andere Worte, auch aus Fremdsprachen, die nur wegen dieser Konsonantenkombination GL oder KL in den Text aufgenommen werden (z. B. Klang, Glocke, tinkle). Die Konsonantenverbindung GL führt Derrida zu einer Vielzahl durchaus verschiedenartiger Überlegungen und Auseinandersetzungen: PLATONS Kratilos wird z. B. in seiner Thematisierung der Konsonanten lambda und gamma zitiert (vgl. Glas 263, TB 328—329 rechts); SAUSSURES Cours de linguistique generale wird für seine Analyse des Wortes „glas" als falschen onomatopoetischen Wortes herangezogen (vgl. Glas 104 ff, TB 126 ff rechts); FONAGY wird mit seiner Interpretation der Kombination „GL" und besonders im Hinblick auf die Zweideutigkeit des Phonems L als pulsionell-libidinalen Ausdruckes zitiert (vgl. Glas 178 ff, TB 221 ff rechts). In der Verbindung „GL" ist (wie schon bei den Blumen) die Spaltung aufgezeigt, diese ist eine Chiffre des gesamten Textes, sein Kryptogramm. ^9 Eigentlich ist aber der Text, trotz aller seiner Zitate, der Kommentar einer Abwesenheit, die in dem weiß gelassenen Raum zwischen den Spalten versteckt ist: „Le texte se presente alors comme le commentaire du mot absent qu'il delimite, enveloppe, sert, entoure de ses soins. Le texte Vgl. Glas 204 f, TB 253 f rechts, mit Bezug auf Genets Journal du voleur. Vgl. Wortreihungen wie z. B. ,gladiolus', ,gladius', ,glans' in Glas 59 ff, TB 68 ff rechts. In diesem Kontext interessieren Derrida auch Spiele mit dem Namen „Hegel". Dabei geht es hauptsächlich um Hegels abgekürzte Unterschrift „Hgl", um die Französische Art und Weise, diesen Namen auszusprechen und die dadurch möglich werdende Bedeutungswandlung: ,aigle' (Adler). Vgl. z. B. Glas 7, 46, 65 f, 106, 117, TB 1, 51, 76 f, 128, 143 links. Vgl. außerdem Glas 206 f, TB 257 f links.

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se presente comme le metalangage du langage qui ne se presente pas." {Glas 147—148, TB 182 rechts)5° Obwohl der für DERRIDA SO bezeichnende Begriff der „differance" (mit a) in Glas kaum vorkommt, erklärt er das stumme „a" in diesem Wort als das Bindemittel geradezu als Klebstoff („la glu"), der die Trennung, Spaltung, des „GL" im Titel des Buches zu Glas zusammenbindet, in seiner Großschreibung ermöglicht dies „A" noch weitere Assoziationen (Pyramide, Galgen): „Le detache reste colle par lä, par la glu de la differance, par Ta. L'a de gl agglutine les differents detaches. L'echafaud de TA est gluant." {Glas 188, TB 233—234 rechts) Eine wichtige Funktion der rechten Spalte ist, daß sie heuristisches Material und Interpretationsmuster für die Lektüre der linken Spalte bereitstellt, in der es um Hegel geht. Es ist nun zu fragen, in welcher Weise Hegel die , Sache' dieser linken Kolumne ist. „Pour travailler au nom de Hegel, pour Teriger, le temps d'une ceremonie, j'ai choisi de tirer sur un fil." {Glas 10, TB 5 links) DERRIDA versteht seine Lektüre Hegels in Glas also als eine Arbeit im Namen Hegels, um diesen wieder aufzurichten (eriger). Und er gesteht ein, daß er einen beschränkten interpretativen Zugang wählt, indem er im Gewebe, der Textur der Hegelschen Texte nur an einem Faden ziehe. Dieser Faden könne, so meint er selbst, manchem zu fein, zu fremdartig und zu wenig haltbar erscheinen (trop fin, etrange et fragile; ibid.). Dieser Eindruck mag sich insofern verstärken, als DERRIDA im gleichen Zusammenhang davon spricht, daß es in Glas um den Abgesang an das Absolute Wissen gehe: „le glas du Sa [sc. savoir absolu]", der aber in eben diesem Absoluten Wissen selbst angelegt sei: „le glas comme Sa" (ibid.). Den inhaltlichen (Leit-)Faden findet Derrida in Hegels Darstellung der Familie, wie sie sich insbesondere im Rahmen der Exposition von „Sittlichkeit" in der Enzyklopädie und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts findet. Hinweise für die Strategie seiner Fragestellung an Hegel entnimmt DERRIDA der Passage über die Blumenreligion in der Phänomenologie des 50 Vgl. auch Glas 88, TB 106 rechts. S. auch die Anspielungen auf die Teilung und auf die Textkolumnen der Thora etwa in Glas 268 f, TB 335 rechts, oder auf die leer und weiß bleibenden Spatien der heiligen Texte etwa in Glas 220, TB 274 rechts. — Die Rolle des Weißen, der Spatien, zwischen den Textkolumnen oder -stücken betont U. Eco auch in Bezug auf Derridas Diskussion mit Searle. Die Spatien werden dabei in ihrer zentralen Bedeutung für das Verfahren der ,Dekonstruktion' sichtbar; dabei ist auch für Eco der vergleichende Rückblick auf die Spatien in der Thorarolle bedeutsam. Vgl. U. Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache. München 1985. 228 f. (Eco bezieht sich dabei auf G. Schalem: Die Kabbala und ihre Symbolik. Zürich 1960. 111.)

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Geistes und der Passage über die phallischen Säulen der Inder in den Vorlesungen über die Ästhetik. Beide Text-Passagen sind ihm wichtig, da sie ihm in ausgezeichneter Weise „passage" als Übergang zu repräsentieren scheinen und daher Aufschluß darüber versprechen, wie das dialektische Auflieben Hegels zu verstehen sei. Beide Textpassagen werden übrigens auf Deutsch und Französisch in den Text aufgenommen, wobei der französische Text sich als Haupttext der linken Spalte bzw. TextSäule, Kolumne, Texterektion ausnimmt, der deutsche Text demgegenüber einen Einschub, eine Ruptur der Säule darstellt: a) „Die Unschuld der Blumenreligion, die nur selbstlose Vorstellung (reprösentation) des Selbsts ist, geht in den Ernst des kämpfenden Lebens, in die Schuld der Tierreligion, die Ruhe und Ohnmacht der anschauenden Individualität in das zerstörende Fürsichsein über." {Glas 8, TB 3 links; vgl. Phänomenologie in GW 9. 372) b) „Hauptsächlich in Indien nun gingen von dieser Art der Verehrung der Zeugungskraft in der Form der Zeugungsglieder auch Bauwerke in dieser Gestalt und Bedeutung aus; . . . Den Ausgangspunkt . . . bilden in Indien die unausgehölten Phallussäulen, die sich später erst in Schale und Kern teilten und zu Pagoden wurden." {Glas 9, TB 4 links; vgl. Hegels Ästhetik in: Werke. Bd 10,2. 280) Am Schluß von Glas kommt DERRIDA auf diese beiden Passagen aus der Phänomenologie und aus der Ästhetik zurück (vgl. Glas 272 f, 282 f, TB 341 f, 353 f links), sie bilden auf diese Weise den Rahmen des Textes der linken Spalte des Buchs. Der Weg seiner Lektüre Hegels, der ihn durch alle Winkel des Hegelschen Oeuvres führt, auch die (privaten) Briefe nicht ausläßt, einer symptomatischen Lektüre, die, wie WALDENFELS für La voix et le phenomene im Blick auf HUSSERL DERRIDAS Methode beschreibt, „sich auf Textäußerungen nur einläßt, um die zugrundeliegende Textur freizulegen"5i, wird sich am Ende als eine Erinnerung im Hegelschen Sinne erweisen. Ein entscheidendes Paradigma für den Gang der Hegelschen Äufltebung findet DERRIDA in der ägyptischen Religion, die Hegel als Religion des Rätsels darstellt. Hier meint er offenbar, den Schleier vor dem Rätsel Hegel lüften zu können. Der Schleier, den DERRIDA im Verlauf des Textes in Anlehnung an MALLARM^ mit dem Hymen (und einer Vielzahl damit zu verbindender Assoziationen) und dem (Theater-)Vorhang verglichen hat, sieht er bei Hegel dargestellt als Mangel des ägyptischen Geistes (manque ä Tesprit egyptien), dem die entschleierte Klarheit des Griechen-

51 B. Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt/M 1987. 540.

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tums abgeht. Dieser Schleier gilt ihm jedoch andererseits als antizipierende Repräsentation der griechischen Entschleierung. Hegel selbst verleiht dem Vorgang des Entschleierns des Naturhaften zur logosorientierten griechischen Klarheit eine erhebliche Dramatik in den Schlußpassagen der Darstellung der Naturreligion. DERRIDA zitiert (Glas 284 f, TB 356 f links)^^: „La presentation principale (Hauptdarstellung) qui rend completement accessible ä l'intuition (anschaulich) Tessence de ce combat [DERRIDA übersetzt „Ringen" mit „combat" und ergänzt in eckigen Klammem: „entre le conscient et l'inconscient, le clair et Tobscur, etc."], on pourrait la trouver dans l'image de la deesse ä Sais [DERRIDA ergänzt in mnden Klammem „Neith"] qui etait presentee (dargestellt) voilee (verschleiert). L'inscription sur le temple le symbolise et formule expressement — ,je suis ce qui a ete, est et sera; mon voile, aucun mortel ne La encore souleve' — que la nature est un etre-differencie en soi, ä savoir un autre oppose ä la manifestation mais qui s'offre immediatement, une enigme." Das Zitat unterbrechend, es auf diese Weise zerschneidend, fragt DERRIDA nun nach dem Zusammenhang von Schleier und Rätsel: „Le voile ne symbolise pas l'enigme. L'enigme, c'est la stmcture du voile suspendu entre les contraires." Zwar fragt sich DERRIDA nun, ob nicht Hegel selbst in der Folge lasterhafte ägyptische Wortspiele treibe, aber er scheint sich doch sicher zu sein, an dieser Stelle eine Spur von Andersheit gefunden zu haben, die seine Lektüre Hegels gegen den Strich legitimiere. — Den Schluß der Inschrift des Tempels zu Sais zitierend, ermögliche es sich Hegel, diese griechisch-deutsch zu dechiffrieren, um sodann den gesamten Lauf der Sonne ablesen zu können, „qui se couche en Occident et se rappelle audedans de lui-meme". (Glas 285, TB 357 links) — Sich im Okzident, dem griechisch geprägten Abendland, zur Ruhe legend (hier ist das Thema der clöture und der Erschöpfung angesprochen) erinnert sich die Sonne innerhalb ihrer selbst oder in sich selbst. DERRIDAS Pointe lautet: „L'histoire de cette Erinnerung est une histoire de famUle." Das Motiv der Familie, dem DERRIDA in Hegels Texten nachspürt und das sich bereits an früheren Texten in die Thematisiemng der humanen und religiös-spirituellen bzw. spekulativen Familie entfaltet hatte, wird so zu einer emi-

52 Derrida folgt hier dem Text der zweiten Ausgabe der Vorlesungen über die Philosophie der Religion im Rahmen der Werke (Bd II. Berlin 1840. 455 f) bzw. H. Glöckners Wiederabdruck in Sämtliche Werke. Bd 15. 471. Er folgt jedenfalls nicht den gängigen französischen Übersetzungen von A. Vera (Bd 2. Paris 1878. 476 ff) oder von /. Gibelin (IP Partie. 1. La Religion de la Nature. Paris 1959. 186 f).

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nent geschichtlichen ,Kategorie'. — Das Ende der Inschrift, soweit Hegel sie zitiert, lautet bekanntlich; Die Frucht meines Leibes ist Helios. Hegel fährt fort: „Dieses noch verborgene Wesen spricht die Klarheit, die Sonne, das sich selbst Klarwerden, die geistige Sonne aus als den Sohn, der aus ihr geboren werde." {Werke. Bd 11. 2. Aufl. 456) Für DERRIDA zeigt sich so, indem er Hegel interpretierend paraphrasiert, die geistige Sonne zugleich als Sohn und als Vater der sinnlichen Sonne. Die gleiche und die entgegengesetzte Zirkularität erhelle bzw. erkläre im Ganzen auch den Staat (Republique). Das Rätsel der Göttin zu Sais, das für Hegel auf die griechische Religion, als die der Schönheit, und die jüdische, als die Religion der Erhabenheit verweist, sieht DERRIDA in Wahrheit bei Hegel in der griechischen und christlichen (offenbarten) Religion gelöst; „Das Räthsel ist gelöst; die ägyptische Sphinx ist", so Hegel an gleicher Stelle, und DERRIDA zitiert übersetzend, „nach einem bedeutungsvollen, bewunderungswürdigen Mythus, von einem Griechen getödtet und das Räthsel so gelöst worden: der Inhalt sey der Mensch, der freie, sich wissende Geist" („Vhomme, l'esprit libre et disposant du savoir de soi"). — War vorher gesagt worden, das Rätsel in der Struktur des Schleiers sei das Verbindende zwischen den Gegensätzen, so bedeutet die Lösung des Rätsels den Untergang einer Seite des Gegensatzes, für diesen schlägt die Stunde: „La resolution Oedipienne de l'enigme sonne la fin de la religion naturelle en son dernier moment." {Glas 285, TB 358 links; unsere Hervorhebung) In diesem kurzen Textzusammenhang findet sich ein großer Teil der (Leit-)Motive versammelt, die DERRIDA in seiner, in dieser Hinsicht musikalisch anmutenden, Lektüre des Hegelschen Textes verfolgt: Eine Schrift ist zu entziffern, in der sich stumm ein naturhaftes Wesen äußert, — eine Schrift, die aus der Zeit fällt oder die Zeit umgreift. Diese Schrift zeigt in der Form des Rätsels die Spur einer Differenz, die der Natur eigen ist. Der Zusammenhang von Schrift, Spur, Differenz und Natur deutet hier auf das, was Derrida sonst als differance (mit „a") anspricht. (Nebenher sei bemerkt, daß im Motivbündel Schleier-Schwangerschaft in einer anachronistischen Weise das Motiv der „Immaculee Conception=IC" repräsentiert wird.) Diese Schrift, Natur, Spur, differance (mit „a") wird enträtselt, entschleiert bzw. durch einen Akt tödlicher Gewalt ausgelöscht — und eine andere Differenz und Identität, die von Vater und Sohn, die, insofern sie, gemäß der im Durchgang durch die Jugendschriften entzifferten christlich-spirituellen-familialen, Identität und Differenz vereinenden Relation Vater-Sohn als umkehrbar gedeutet wird, nicht einfach eine patriarchalische, sondern eine phallokratische Struk-

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tur zum Ausdruck bringt, tritt an ihre Stelle. — Das gelöste Rätsel, der überwältigte natürliche Ursprung ist weiblich. Das Innere, das in diesem Ereignis äußerlich wird, vermag dies nur dadurch, daß die ursprüngliche Äußerlichkeit eines Inneren entgrenzt wird, die Differenz damit vernichtet wird. Auf diese Weise ist dann auch kein Inneres, Innerliches mehr möglich. Die verbergende Schrift des Rätsels wird der Stimme weichen, das bergende Dunkel wird dem strahlenden Licht der Sonne, nämlich der Selbstgewißheit weichen. Der Phallokratie entspricht so der Phonozentrismus und der Logozentrismus, DERRIDA spricht auch vom Phallogozentrismus, allerdings vom „Glas du phallogocentrisme". {Glas 252, TB 315 rechts; auch hier ist die doppelte Bedeutung des Genitiv zu beachten!) Ein Für-sich-sein kann seinen spezifischen Status nur erlangen durch die gewaltsame Auseinandersetzung mit einem Anderen. Dies scheint der Textzusammenhang auszusprechen, die Hervorhebung des Zusammenhangs von Gewalt und Geschichte bedeutet allerdings unübersehbar auch eine Reminiszenz an KojfeVES Hegeldeutung. Die Familie, die eingeführt wird über die Konzeption der Liebe, entpuppt sich als nur scheinbarer Ruhepunkt in diesem Gewaltgeschehen, sie bedeutet nur eine erste Etappe, eine erste Antizipation der Sittlichkeit. Entgegen der Ökonomie der Lust und des Überflusses bei BATAILLE findet DERRIDA in Hegels Konzept der Familie eine Ökonomie des Schmerzes und der Trauer {Glas 162, TB 200 links): „La famille ne connait pas encore le travail producteur d'universalite dans la eite, seulement le travail du deuil. Si la famille figure le deuil, l'economie du mort, la loi de l'oikos {tombe), si la maison, lieu oü la mort d'elle-meme se garde, forme un theätre ou une pompe funöbre, si la femme en assure la representation, il revient ä la feminite epousee de gerer, strictement, un cadavre." Antigone steht gewissermaßen stellvertretend für diesen düsteren Zusammenhang, indem sie das FamUiengesetz erfüllt, dadurch aber dem Gesetz des Staates verfällt. Sie entspricht letztlich der Hegelschen Zuordnung des Weiblichen zum Dunklen, Erd- und Naturhaften (in der Gestalt von Blumen bedeutet Natur aber andererseits Helligkeit), das vom Männlichen, Spirituellen, Sonnenhaften, Sittlichen überwunden wird. (Insofern diese Klarheit aus Kampf, Gewalt, damit aus Schuld hervorgeht, hat sie selbst düstere Voraussetzungen. öbwohl der Gegensatz hell/dunkel, weiß/schwarz den gesamten Text durchzieht, geht es gerade nicht um die Verfestigung von Gegensätzen; alles verdoppelt sich in sich selbst.) Insofern Antigone das Gesetz der Familie als Schwester zweier Brüder erfüllt, ihr Leben für die der Familienpietät gemäße Bestattung eines Bruders einsetzt, verweist

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sie allerdings auf die ungewöhnliche, für das System einzigartige Rolle der Frau als Schwester eines Bruders. ln diesem Zusammenhang deutet sich zumindest an, was DERRIDA — in aller Vorsicht gegenüber festlegbaren Lösungen — als den gesuchten Rest (als Bleibendes, aber auch als Abfall, Ausgespieenes, Exkrement, wie er sich in unterschiedlichen Annäherungen und Wortspielen ausdrückt) des Systems des absoluten Wissens vermeint. — Hier sei eine explizite Bemerkung DERRIDAS ZU seinem Vorgehen eingeschoben. Auf die Frage nach seinem Verhältnis zu dem, was die Rede vom „Erbe Hegels und PLATOS" für ihn bedeute, nennt er „diese Texte trotz jahrhundertelanger Lektüre noch unberührt und für zukünftige Zeiten zurückgelegt"; dieser Unberührtheit und Offenheit gesellt sich jedoch gegenüber dieser Philosophie auch das „Gefühl der Abgeschlossenheit und des gleichzeitigen Erschöpftseins" bei. Das Widersprüchliche dieser Eindrücke will er mit und in seiner Lektüre klären. („Es ist im Grunde das, worüber ich mir klarzuwerden suche." — Man beachte die Assonanz an die griechische Klarheit in dem aus Hegel gezogenen Bild!) „Es gibt das ,System', und es gibt den Text, und in dem Text Risse oder Quellen, deren ein systematischer Diskurs nicht Herr werden kann; Von einem gewissen Augenblick an kann er von sich aus nicht mehr antworten. Auf einmal beginnt er, sich selbst zu dekonstruieren. Daher die Notwendigkeit einer endlosen, aktiven Interpretation, die mit der Genauigkeit eines Skalpells zugleich gewalttätig und texttreu vorgeht . . Die Frage nach dem Rest, die DERRIDA sich in Glas stellt, ist als methodisch durchgeführte Ausforschung der Hegelschen Texte oder, wie DERRIDA sagen würde, des Textes zugleich weniger und mehr als eine Frage; im Umgang mit dem Text wird das Fragen übergeführt in das, was DERRIDA als seine ,Methode' „Dekonstruktion" nennt. Das dekonstruktive Spiel mit dem Text ist in der Lage, im Text Risse, auch Grenzen aufzuweisen, insofern ein „Weniger", aber auch Quellen, deren der Text als System

53 Vgl. dazu H.-C. LUCHS; Zwischen Antigone und Christiane. Die Rolle der Schwester m Hegels Biographie und Philosophie und in Derridas „Glas". In: Hegel-Jahrbuch 1984/85 (1988). 409 —442; ders.: Die Schwester im Schatten. Bemerkungen zu Hegels Schwester Christiane. In: Ch. ]amme, O. Pöggeler (Hrsg.): „o Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard". Stuttgart 1988. 284—306; ders.: „An Mademoiselle Christiane Hegel". Ein unveröffentlichter Brief Hegels und ein Briefkonzept des Dekans Göritz. In: Hegel-Studien. 22 (1987), 9—16. 54 Entretiens avec Le Monde. 83 f. Philosophien. 59. Vgl. auch Pf 103 f, Pd 147 f.

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nicht mehr Herr wird, ein „Mehr" ein „Supplement".(Vgl. die Rede vom „Schriftrest (reste d'eciiture)" in Positionen, Pf 103, Pd 148.) Insofern sich im Text ein solches Supplement aufweisen und gegen die Systematik des Textes ausspielen läßt, wird der Text selbst in Bewegung gebracht. Der Text erweist sich als ein solches, das ein (nicht sein) Anderes an sich hat, er zersetzt sich, verschiebt sich, dezentriert sich im Verlauf der dekonstruktiven Lektüre — „auf einmal beginnt er, sich selbst zu dekonstruieren" (s. o.).

VI. Pour qui sonne le glas dans „Glas“? An den Schluß sollen einige Fragen an DERRIDAS Vorgehen in Glas und deren (zumindest vorläufige) Beantwortung gerückt werden. Es soll dabei hauptsächlich um drei Fragen gehen: 1. Worin ist das Resultat des dekonstruktiven Vorgehens in Glas zu sehen? Diese Frage wird zu stellen sein als die Frage nach dem ,Rest' bzw. dem ,Schriftrest'. 2. Welchen Aufschluß gibt Glas über das Verhältnis der Dekonstruktion zu Dialektik, Philosophie und insbesondere Hermeneutik? 3. Zum eigentlichen Abschluß soll die immer wieder anklingende Frage ,Pour qui sonne le glas?' bzw. ,Wem schlägt die Stunde in Glas?' erneut aufgenommen werden. 1. Die Frage nach dem Resultat oder dem von DERRIDA immer wieder beschworenen Rest oder Schriftrest wird sich auf einige Beispiele beschränken müssen. Dies hat seinen Grund im Vorgehen DERRIDAS selbst, denn durch die Zersplitterung der Texte, die der dekonstruktiven Lektüre unterzogen werden, erstehen der Dekonstruktion nur Schriftreste, die ihrerseits in vielfacher Hinsicht zersplittert sind. Auch wenn die hier angeführten Beispiele zentrale Bedeutung haben mögen, steht zu bedenken, daß sie doch einen in sich gebrochenen Charakter aufweisen, a) Die Doppelung des Textes in Glas, die in sich, wie bereits dargestellt, eine Vielfalt von Doppelungen und Brechungen birgt, soll aufdecken, daß der Hegelsche ,Text' selbst bereits in sich gedoppelt sei. (Nicht zuletzt wird dies ausgedrückt durch die Auswahl der Textbeispiele, die sich, da es DERRIDA um die Hervorhebung der zentralen Rolle der Struktur der Familie für Hegels System geht, durch eine stets latent anwesende Sexu55 Zur „logic of supplementarity" vgl. H. /. Silverman: Interrogation and Deconstruction. In: Studien zur neueren französischen Phänomenologie. Ricoeur, Foucault, Derrida. Freiburg, München 1986. (Phänomenologische Forschungen. Bd 18.) 113—129, bes. 119 ff.

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alität auszeichnen. Dieser Eindruck wird bewußt verstärkt durch die Konfrontation Hegels mit GENET.) b) Einen ,Rest' besonderer Art stellt die Gestalt der Schwester dai^, die das ,Zwischen' und das Ausgeschlossensein der Erau, des Femininen in seinen unterschiedlichen textuellen Spielarten für Hegel in eine letzte Dimension führt. Wobei allerdings zu bedenken ist, daß Hegel in diesem Zusammenhang immer die Schwester eines Bruders vor Augen hat. Diese Marginierung des Weiblichen für das System der sittlichen Institutionen hat für DERRIDA bei Hegel eigentlich nicht den Charakter der Aufhebung und beläßt der Frau daher die Freiheit eines Lachens, einer Ironie, die erst aus der Ferne zu diesem System möglich wird. (Mag dies einerseits überzogen wirken, so wird es vielleicht besser verständlich, wenn man darin eine Wendung gegen KojfivES Hegel-Deutung vorherrschender Gewalt erblickt.) c) Ein dritter ,Rest' läßt sich durch die Thematik des Klangs bezeichnen. Der Klang als das „innere Erzittern des Körpers in ihm selbst" (Enz. § 299) bedeutet für Hegel „das Übergehen der materiellen Räumlichkeit in materielle Zeitlichkeit" (Enz. § 300). Offenbar repräsentiert der Klang in eigener Weise für DERRIDA das Spannungsfeld von Anwesenheit und Abwesenheit, wenn der Klang sich als Antizipation der Stimme in der Weise zeigt, daß er als Antizipation der Stimme selbst schon Stimme ist, andererseits aber fern davon bleibt, Stimme zu sein, also noch nicht Stimme ist. Besondere Symbolkraft gewinnt für DERRIDA in diesem Zusammenhang Hegels Darstellung der Memnonen als kollossaler Klangstatuen, die durch die ersten Sonnenstrahlen zum Klingen gebracht werden. Das Bildnis des Memnon gilt Hegel „als tönend und stimmegebend . . . durch sein Seyn lebendig, bedeutsam, offenbarend, wenn auch zugleich nur symbolisch andeutend."57 Vom Erzittern des Klangs ausgehend findet DERRIDA eine Vielzahl analoger Übergänge, so den von der Pyramide zur Säule, von der Mathematik zum Geist, von der Geraden zur Kurve. (Wobei dieser letzte Übergang in der schwingenden Materie geradezu durch das ,Erzittern' ausgemacht wird. In diesem Zusammenhang gewinnt dann auch das bereits besprochene „GL" der rechten Text-Kolumne Bedeutung, insofern diese Phoneme eben noch kein Wort bilden.) Alle hier aufgeführten Beispiele verweisen auf ,Reste', die im Hegelschen Text für Hegel selbst eher Randerscheinungen bedeuten und erst in einer Lektüre Hegels gegen Hegel die von DERRIDA intendierte Bedeutung des ,Schriftrestes' erlangen können. Dieser widersprüchlichen Zu5* Vgl. z. B. Glas 169—185, TB 208—229 links; vgl. ferner Anm. 53. 5^ G. W. F. Hegel: Werke. Bd 10,2. 282; vgl. Bd 10,1. 477 (Ästhetik).

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Ordnung der ,Reste' entspricht ein Durchspielen widersprüchlicher Bedeutungen von ,reste' und ,rester' in DERRIDAS Text. Man könnte insofern davon sprechen, daß DERRIDAS , Resultat' eine eigene , Dialektik des Restes' darstellt. An diesen Zusammenhang ist offenbar zu denken, wenn DERRIDA konstatiert, man werde mit Hegel nie fertig.^® 2. DERRIDAS Kritik an Hegel richtet sich insbesondere gegen die Konzeption der Aufhebung als Bewegungsgesetz der Dialektik, wobei er sich (offenbar in einer bewußt durchgeführten Vereinfachung) gegen das Überwiegen der negativen, negierenden, destruierenden Komponente des Aufhebens wendet und diese als durch Gewalt geprägt versteht. (Gerade darum kann das Verhältnis zwischen Schwester und Bruder seine herausragende Bedeutung gewinnen, da es verdeutlicht, daß für Hegel ein Verhältnis der Anerkennung möglich ist, das weder Begierde noch Kampf voraussetzt.) Man muß sich allerdings fragen, ob DERRIDA sich nicht letztlich gegen eine bestimmte Hegel-Interpretation wendet, die man schlagwortartig als das Erbe KojfeVES bezeichnen könnte, der stets den Zusammenhang von Geschichte und Gewalt, Dialektik und Gewalt hervorgehoben und damit tiefe Spuren im Hegelverständnis in Frankreich hinterlassen hatte. Ist also DERRIDAS Stellung zu Hegel eine problematische, so gilt dies a fortiori für seine Haltung zur Philosophie als Ganzes. Entgegen einem in weiten Kreisen üblichgewordenen Reden vom Tod der Philosophie spricht DERRIDA sehr entschieden von den Grenzen der Philosophie. Nähert er sich Hegels Denken von dessen Grenzen her, so ist dies sein übliches Verfahren, sich philosophischen Texten zu nähern. Obwohl literarisch entwickelte Formen in der Strukturierung seiner eigenen Texte eine unübersehbare Rolle spielen, scheint für ihn selbst jedoch nicht fraglich, daß er Philosophie betreibe, auch wenn er von der Grenze her philosophiere. Der Titel Marges de la philosophie kann als umfassendes Programm verstanden werden. Besonders schwierig scheint eine Beurteilung des Verhältnisses der Dekonstruktion zur Hermeneutik. Auf den ersten Blick könnte die Dekonstruktion als der Versuch einer Radikalisierung der Hermeneutik erscheinen. Gemeinsam hat sie mit der Hermeneutik jedenfalls die unverzichtbare Voraussetzung von schon vorliegenden Texten. Als weitere Gemeinsamkeit kann man sicher das Bemühen sehen, im Anschluß an 58 Vgl. z. B. Pf 59 f, Pd 91 f. Eine ähnliche Beurteilung des Verhältnisses zu Hegel findet sich auch bei Ricoeur, vgl. dazu in diesem Band (256 ff) den Beitrag von F. Hogemann; vgl. bes. P. Ricoeur: Temps et Recit. Paris 1983—85. Bd 3. 299.

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das Ungedachte in Texten zu eruieren. — Im übrigen aber scheinen doch die Differenzen zu überwiegen, dies verdeutlicht insbesondere die „unwahrscheinliche Debatte" DERRIDAS mit HANS-GEORG GADAMER, die sich auf die völlig entgegengesetzte Einschätzung von „Verstehen" zugespitzt hat.59 Diese Differenz verweist ihrerseits zurück auf die grundlegendere Unterscheidung hinsichtlich der Konzeption von Sprache. Wird bei GADAMER im Anschluß an HEIDEGGER die Sprache fundamental als gesprochen, die Situation des Gesprächs als strukturell prägend vorausgesetzt, so geht DERRIDA von einer stark ausgeweiteten Vorstellung von , Schrift' aus, die als Zeichensystem weit über das übliche Verständnis von Schrift hinausführt, z. B. Höhlenmalereien mitumfassen kann, und ,Schrift' oder ,Text' darum in jeder dieser Formen als Spur interpretiert.^ Damit gehen weitere Differenzen einher, die aus dem Verständnis von Spur folgen; die von der Hermeneutik vorausgesetzte Einheit von Text, des Buches, von Theorie und Sinn, letztlich auch von Geschichte, scheint sich bei DERRIDA auflösen zu müssen. (Das in Glas fortwährend spürbare Voraussetzen von Ergebnissen der Linguistik und der Psychoanalyse, sowie die Kritik dieser wissenschaftlichen Ansätze, deuten auf eine weitere Unterscheidung.) 3. In die größte Verlegenheit führt die letzte Frage: Pour qui sonne le glas? Wem schlägt die Stunde in DERRIDAS Glas? — Das Verfahren, den eigenen Text mit Zitaten so zu durchsetzen, daß er geradezu aus fremden Textsplittem zusammengesetzt scheint, ermöglicht gewissermaßen eine Dokumentation, wie in fremden Texten, also in denen Hegels und GENETS die Totenglocke läutet. Gilt dies in Hegels Text all dem, das der Aufhebung verfällt, so in GENETS Text all dem, das gesellschaftlicher Marginierung und Ächtung verfällt. Als Spuren führen diese Hinweise jedoch über das in ihnen Dokumentierte hinaus. In seiner ,Dialektik der Spur und des Restes' kann DERRIDA gerade in dem so dem „glas" Verfallenen den Rest erahnen, der über die Texte in ihrem Selbstverständnis hinausragt, gewissermaßen ein unwillentlich hinterlassenes Erbe darstellt. — Dennoch muß wohl auch davon ausgegangen werden, daß dem Buch als Totalität, als abgeschlossene, zumindest abschließbare Einheit HEIDEGGER

55 Vgl. besonders die Beiträge von H.-G. Gadamer und J. Derrida in Ph. Forget (Hrsg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G. Gadamer, J. Greisch und F. Lamelle. München 1984. “ Die Thematik durchzieht das gesamte bisherige Werk Derridas, hier sei beispielhaft nur verwiesen auf P/37 ff, Pd 66 ff. Vgl. dazu auch O. Pöggeler: Sprache — Haus des Seins? Sprachphilosophie im Kontext zu Dichtung und Theologie. In: Evolution und Sprache. Über Entstehen und Wesen der Sprache. Hrsg. v. W. Böhme. Karlsmhe 1985. 100—122.

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die Stunde schlägt. Entsprechend kann der erste Satz von La dissemination lauten: „Ceci (donc) n'aura pas ete un livre." Die Bücher, die auf dieser , methodologischen' Grundlage entstehen, sind vielleicht am ehesten in der Weise zu ,verstehen', wie JORGE LUIS BORGES dies für die Bücher der Kabbalah vorschlägt: „Ich weiß, daß diese Bücher nicht geschrieben wurden, um verstanden, sondern um ausgelegt zu werden. Sie sind gedacht als Anreize für den Leser, den Gedanken zu folgen. Wie das Thema der Totalität mit dem der Gewalt zusammenspielt, ist bereits öfter angesprochen worden, auch einem solchen Zusammenhang soll in Glas offenbar die Stunde schlagen. Das häufige Rekurrieren auf fremde Texte könnte allerdings auch den Eindruck eines spezifischen Eklektizismus erwecken und von daher zu der Frage überleiten, ob die Totenglocke nicht auch für DERRIDA als Autor geschlagen habe. DERRIDA selbst versucht darauf in der Weise zu antworten, daß er seine Verfahrensweise der dekonstruktiven Lektüre eine „Erfahrung" eigener Art nennt: „Eine Erfahrung ist eine Durchquerung, eine Reise, eine Strecke, ein Weg. Ich durchquere also oder lasse in mir arbeiten, was ich Zeichen, Spur oder ficriture nenne, was sich nie ganz phänomenologisieren läßt."^^ Dieser Weg des Freilegens von Spuren, Zeichen, von Ecriture führt insofern zu einem kaum greifbaren Resultat, als DERRIDA immer wieder den zwischen An- und Abwesenheit schwebenden Charakter der Spur hervorhebt, die darum ebenso sehr verberge wie zeige. Den Vorwurf, bei der Dekonstruktion handele es sich um einen amoralischen oder unethischen Nihilismus, weist DERRIDA jedoch empört und nicht ohne Erstaunen von sich: „Die Dekonstruktion ist ein affirmatives Denken einer möglichen Ethik, eines Engagements jenseits der Technik des Kalkulierbaren. Die Sorge um die Verantwortlichkeit steht im Zentrum der dekonstruktiven Erfahrung. Mag auf den ersten Blick Glas als eine Art Verwirrspiel erscheinen, in dem literarische und philosophische Sprachformen labyrinthisch ineinander verschlungen sind, so setzt DERRIDA offenbar auf eine Selbstregulierung des Textes, der er allerdings durch eine wohlbedachte Komposition des Textes zuarbeitet. Insofern die Kompositionsmittel häufig aus der Literatur entlehnt sind, stellt sich der Text zwischen Philosophie und Literatur. Auch wenn DERRIDA einmal sagt, was er mache, sei eigentlich keine Philosophie mehr, so ist es offenbar in der Hinsicht doch philosoZitiert nach dem Vortrag Das Buch in: /. L. Borges: Die zwei Labyrinthe. München 1986. 255. 62 Derrida in F. Kötzer: Französische Philosophen im Gespräch. München 1986. 85. 63 Derrida ebd. 77 f; Hervorhebung der Autoren.

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phisch, als es sich um „Fragen an die Philosophie" handelt.^ Diese Fragen an die Philosophie werden ausgeführt in einem Text, dem man sich nur über Umwege annähem kann, um ihm seine Regeln abzulauschen: „Un texte n'est un texte que s'il cache au premier regard, au premier venu, la loi de sa composition et la regle de son jeu." (D 71)

^ Vgl. Derrida ebd. 81.

CHRISTOPH JAMME (BOCHUM)

„ALLEGORY OF DISJUNCTION" Zur dekonstruktivistischen Lektüre Hegels und Hölderlins in Amerika

Die von JACQUES DERRIDA theoretisch fundierte Methode der „deconstruction" läßt sich verstehen als Kombination des neo- bzw. poststrukturalistischen Ansatzes mit der HEiDEGGERschen „Verwindung" der Metaphysik. Trotz dessen politischer Verfehlung, die man gegenwärtig in Frankreich endlich voll zur Kenntnis zu nehmen beginnt^, ist DERRIDA stets seiner Überzeugung treu geblieben, HEIDEGGER berge ein unausgeschöpftes FragepotentiaP. Allerdings soll HEIDEGGER übertroffen und überboten werden, indem DERRIDA NIETZSCHE gegen HEIDEGGER ausspielt: aus der „Destruktion" wird die „Dekonstruktion".^ Diese Kritik an der Metaphysik verbindet sich mit einer Kritik an der Ontologisierung des StrukturBegriffs im „klassischen" Strukturalismus etwa eines ROLAND BARTHES. Wie sehr beide Motive zusammengehören, erhellt exemplarisch aus dem Aufsatz La structure, le signe et le jeu dans le discours des Sciences humaines, in dem DERRIDA — sicher zu Unrecht — den LEVI-STRAUSS der Mythologiques an der Grenze des Strukturalismus sieht.^ Was hier der Kritik verfällt, ist vor allem die Vorstellung einer Abgeschlossenheit („clöture") der Struktur; an seine Stelle tritt bei DERRIDA der Begriff des „Spiels", den LEVI-STRAUSS — noch nicht radikal genug in seiner Dezentrierung — zwar bejaht habe, aber noch zu zaghaft. Es geht darum, die Instabilität der Bedeutung radikal kenntlich zu machen. ' Vgl. die Wirkung des (leider ebenso unhistorischen wie unphilosophischen) Buches von Victor Parias: Heidegger et le Nazisme. Paris 1987. Derrida bereitet zu diesem Komplex eine Stellungnahme vor, nachdem er sich bereits mit der Rektoratsrede auseinandergesetzt hat (vgl. /. Derrida: De l'esprit. Paris 1987). 2 Vgl. Jacques Derrida: Positions. Paris 1972. 18: „Rien de ce que je tente n'aurait et^ possible Sans 1'Ouvertüre des questions heidegeriennes ..." — Derrida ganz auf Heidegger zurückführen wollen Luc Ferry/ Alain Renaut: La pensie 68. Paris 1985. 165—197. 3 Vgl. das Methodenkapitel in De la grammatologie. Paris 1967. ^ Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel int Diskurs der Wissenschaften vom Menschen (1966). ln: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976. 422—442. — Die Interpretation des Levi-Strauss'sehen Spätwerks durch Manfred Frank (Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a. M. 1983. 66 ff) ist in diesem Punkt zu sehr von Derrida inspiriert.

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Stets hat DERRIDA allerdings betont, daß die „deconstruction" „keine Technik", keine Methode unter anderen ist, weil sie „eine Änderung der Begriffe Text und Schrift (ecriture) voraus[setzt]".5 Gleichwohl ist die „deconstruction" als „deconstruction" in den USA zu einer der beherrschenden literaturwissenschaftlichen Interpretationsmethoden avanciert, propagiert von der sog. Yale-Mafia, die in literaturtheoretisch orientierten amerikanischen Literatur-Departments seit Beginn der 70er Jahre viel Einfluß gewonnen hat. Die Leitfigur ist PAUL DE MAN, außerdem gehören zu dieser Schule J. HILLIS MILLER, GEOFFREY HARTMAN*, HAROLD BLOOM^, SAMUEL WEBER® und ANDRZEJ WARMINSKI^. Gegenwärtig scheint die amerikanische Variante des „Derridianismus" allerdings in eine Krise geraten zu sein. So zeigt sich in BLOOMS Theorie der Literaturgeschichte, daß die Untersuchung der Genese des historischen Bewußtseins innerhalb der amerikanischen Spielart der deconstruction eine zunehmende Rolle spielt. Das Heraufkommen der Kategorie der Subjektivität läßt sich bei GEOFFREY HARTMAN beobachten, der seinem Hymnus auf DERRIDAS Glas, Saving the Text (1981), die deutliche Widmung vorangestellt hat: „For the subject". Die Rehabilitierung der Dimensionen der Zeit, des Subjekts, der Bedeutung diuch die von DERRIDA beeinflußte amerikanische Literaturtheorie läßt darauf schließen, daß sich innerhalb der ästhetischen Debatte in den USA ein ähnlicher Prozeß vollzieht, wie jener innerhalb der analytischen Philosophie, den RICHARD RORTY (Philosoph}/ and the Mirror of Nature) beschrieben hat, daß man nämlich verstärkt wieder nach Europa zu blicken beginnt, um eigene theoretische Defizite und Aporien zu überwinden. Welch wachsende Bedeutung in diesem Prozeß die traditionelle Hermeneutik (ä la GADAMER) wiedergewinnt, zeigt exemplarisch eine im Oktober 1987 gemeinsam von den Departments of Philosophy (KARSTEN HARRIES) und German and Comparative Literature (CYRUS HAMLIN) der Yale University und dem Hegel-Archiv 5 ® ^ * ®

Florian Rotzer: Französische Philosophen im Gespräch. München 1986. 70. Geoffrey Hartman: Saving the Text: Literature/Derrida/Philosophy. Baltimore 1981. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. 1971. Samuel Weber: Institution and Interpretation. 1987. Vgl. zur Yale-Mafia und zum amerikanischen Dekonstruktivismus: Jonathan Culler: On Deconstruction: Theory and Criticism after Structuralism. Comell 1982; The Yale Critics: Deconstruction in America. Hrsg, von Jonathan Arac, Wlad Godzich, WaUace Martin. Minneapolis 1983; Rhetoric and Form. Deconstruction at Yale. Hrsg. v. Robert C. Davis u. Ronald Schleifer. Norman 1985; Hans Ulrich Gumbrecht: Deconstruction Deconstructed. Transformationen franzö-

sischer Logozentrismus-Kritik in der amerikanischen Literaturtheorie. In: Philosophische Rundschau. 33 (1986), 1—34; Rodolphe Gasche: The Tain of the Mirror. Derrida and the Philosophy of Reflection. Cambridge 1987. — Wichtige Hinweise verdanke ich überdies Regine Lippka.

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in New Haven veranstaltete Tagung über „Hegel and HöLDERLIN. Speculative Philosophy and Hermeneutics".^*’ Deutlich wurde auf dem Colloquium, daß in den USA nicht nur HöLDERLINS Bedeutung zunimmt, sondern man sich auch von dem Gespräch zwischen HöLDERLIN und Hegel und damit der Wechselbeziehung zwischen idealistischer Philosophie und Dichtung bzw. zwischen klassischer Philosophie und hermeneutischer Literaturtheorie wesentliche Aufschlüsse für die aktuelle Diskussion erhofft. Somit gelang es hier, den von den Herausgebern des Bandes The Yale Critics beklagten „ ,gap' between Anglo-American and Continental criticism and philosophy"ii etwas zu schließen. Diese Wendung „zu Hegel" hatte sich schon im Denkweg von PAUL DE MAN vorbereitet.

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(geb. Antwerpen 1919, gest. Yale 1983) war Sterling Professor of Comparative Literature in Yale. Seit seiner Pariser Zeit in den späten 40er Jahreni2 hat er literarische Essays geschrieben; seinen eigenen Weg aber fand er erst mit den Beiträgen, die er in der Mitte der 50er Jahre für Critique verfaßte (darunter der wichtige Aufsatz Les exegeses de Hölderlin par Martin Heidegger). Als Student 1947 in die USA ausgewandert, wurde er 1960 in Harvard mit der Arbeit über Mallarme, Yeats and the Post-Romantic Predicament promoviert. ^3 Essays waren PAUL DE MANS bevorzugte Form; gesammelt sind sie in vier Bänden. Der berühmteste erschien 1971 unter dem programmatischen Titel Blindness and Insight, 1979 folgte Allegories of Reading; der letzte PAUL DE MAN

'0 Eine Veröffentlichung der Beiträge ist für 1990 bei Yale University Press geplant. — Zum Verhältnis von Derrida und de Man zur Hermeneutik vgl. Hans-Georg Gadamer: Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus. In: Die Aktualität der Frühromantik. Hrsg, von E. Hehler u. J. Hörisch. Paderborn 1987. 251—260. The Yale Critics. X. Im Spätherbst 1987 stieß man während der Arbeit an einer (erstmalig) vollständigen Bibhographie der Schriften von Paul de Man auf frühe (1941/42) Dokumente eines (allerdings moderaten) Antisemitismus, was in Yale — wo die Studenten diese Kunde sogleich durch Flugblätter und Anschläge verbreiteten — für großes Aufsehen sorgte. Danüt scheint sich nun für de Man Ähnliches zu wiederholen, wie es zuvor Parias für Heidegger bewirkt hatte. — Vgl. /. Derrida: Paul de Man's War. — In: Critical Inquiry. 14 (Spring 1988), 590—652. Zum Werk von Paul de Man vgl. Harro Müller: Kleist, Paul de Man und Dekonstruktion. In: Merkur. 40 (1986), 108 ff; Stanley Corngold: Error in Paul de Man. In: The Yale Critics. 90—108; Suzanne Gearhart: Philosophy before Literature — Deconstruction, Historicity, and the Work of Paul de Man. In: Diacritics. 13 (1983), N. 4.

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von DE MAN publizierte Band war The Rhetoric of Romanticism 1984. Postum erschien 1986 die Sammlung The Resistance to Theoty; die Schüler bereiten die Publikation der Vorlesungsmanuskripte vor.^4 DE MANS theoretischer Ansatz fußt auf Einflüssen der amerikanischen Sprechakt-Theorie sowie des New Critidsmi®; im Kern aber besteht er in einer Übertragung der „deconstruction" DERRIDAS (der selbst auch umgekehrt Anregungen DE MANS aufgegriffen und verarbeitet hat) auf literarisches Terrain^^. In seinen kurz nach dem Tode seines Freundes zum Gedächtnis von PAUL DE MAN gehaltenen Vorlesungen an der University of California at Irvine bekannte DERRIDA: deconstruction in America' would not be what it is without PAUL DE MAN." Allerdings dürfe es nicht allein um rückwärtsgewandte Trauer gehen: „I will speak of the future, of what is bequeathed and promised to us by the work of PAUL DE MAN."1^ Versucht DERRIDA das Ungedachte zu finden in den Zwischenräumen der überlieferten Texte der philosophischen Tradition, so sucht PAUL DE MAN in literarischen Texten nach „blind spots" der Lektüre. Der dekonstruktive Umgang mit einem Text will hier und da in diesem Text Risse und Grenzen aufweisen. Die Literatur ist deshalb so gut poststrukturalistisch deutbar, weil sie sich vorgängig immer schon dekonstruiert hat.i® DE MAN vermeidet allerdings die unmittelbare Auseinandersetzung mit Primärtexten und wendet sich lieber literaturtheoretischen {Blindness and Insight) und „hybriden" {Allegories of Reading) Texten zu: „Hence the emphasis on hybrid texts considered to be partly literary and partly referential, on populär fictions deliberately aimed towards social and psychological gratification, on literary autobiography as a key to the understanding of the seif, and so on."i^ Mit dieser indirekten Annäherung will DE MAN die täuschenden Effekte der „differance" auflisten und beweisen. Er selbst erhält dadurch Einsichten in „misreadings", die er Paul de Man: Blindness and Insight. Oxford 1971, 2. Aufl. Minneapolis, London 1983; ders.: Allegories of Reading. New Haven 1979 (dt. Teil-Übers. Frankfurt a. M. 1988); ders.: The Rhetoric of Romanticism. New York 1984; ders.: The Resistance to Theory. Minneapolis 1986. — In Vorb.: Aesthetic Ideology. Ed. by A. Warminski. 1989. Vgl. Paul de Man: The Resistance to Theory. 116. Vgl. Ulrich Horstmann: Parakritik und Dekonstruktion. Würzburg 1983. 15. — Zum Verhältnis Paul de Man/Derrida vgl. Rodolphe Gasche: Deconstruction as Criticism. In; Glyph. 6 (1979), 177—215; ders.: „Setzung" and „Übersetzung". Notes on Paul de Man. In; Diacritics. 11 (1981), N. 4, 36—57; Wlad Godzich: The Domestication of Derrida. In: The Yale Critics. 20—40. Jacques Derrida: Memoires — for Paul de Man. New York 1986. 19, 22. — Zur Deconstruction vgl. 13 ff, 120 ff. — Über sein Verhältnis zu de Man äußert sich Derrida auch in: Psyche. Inventions de l'autre Paris. 1987. 13, 19 ff. (Diesen Hinweis verdanke ich G. Baptist.) Vgl. Ulrich Horstmann: Parakritik. 66. Paul de Man: Allegories. 3.

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folglich auch nicht verurteilt.Der „verwirrenden historischen Instabilität von Textbedeutungen", so begründet er seinen Ansatz in dem Aufsatz The Resistance to Theory, werde die Semiotik bzw. Ontosemiologie besser als die Hermeneutik gerecht. Seine Aufmerksamkeit schenkt er deshalb der rhetorischen Funktion („Literarizität") der Literatur, dabei geleitet von der These, „daß die Untersuchung literarischer Texte notwendig abhängt von einem Akt des Lesens" und „daß dieser Akt systematisch außer acht gelassen wird"2i. Die Methode der „deconstrucHon", wie sie theoretisch in Blindness and Insight begründet wird, erwächst aus der Verzweiflung über das weiterwuchernde Chaos der Textbedeutung; gesucht wird nach Entlastung von Bedeutungsdruck: die traditionellen Interpretationsverfahren schaffen eher Distanz zu den Problemen des Textes und dafür Nähe zu solchen des Interpreten: dieser sieht im Text nur das, was er auch sehen wollte. Damit dekonstruiert er gleichzeitig unbewußt sein eigenes logozentrisches Interpretationsmodell. Erst der folgende Interpret hat Einsicht in diesen Vorgang; dies — so beschreibt GODZICH das DE MANsche Verfahren — macht die Dialektik von Einsicht und Blindheit aus: „Blindly, it sees itself as a better representation of the truth, whereas it is in fact engaged in an allegorical relation of mapping one sign with another, of sublating one sign by another. The practice of a secondary discourse in this founded on the premise that meaning, or the truth, is not ,at home' in the language of representation of the primary text, and that, further, the secondary discourse can provide such a home."^ Im Unterschied zu DERRIDA versteht PAUL DE MAN seine Methode und seine Arbeit deshalb als „more pedagogical than philosophical"^^. Das Werk von PAUL DE MAN ist von erstaunlicher Konsistenz (so enthält der letzte von ihm publizierte Band zugleich eine seiner frühesten Schriften), die er in der bescheidenen Formel resümiert: „rhetorical ana20 Vgl. Ulrich Horstmann: Parakritik. 68. 2' Paul de Man: The Resistance to Theory. In: Ders.: The Resistance to Theory. 3—20, hier 15. — Zitiert nach der dt. Übersetzung; Der Widerstand gegen die Theorie. In: Romantik. Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hrsg, von Volker Bohn. Frankfurt a. M. 1987. 80—106, hier 98, 99. — Vgl. auch The Resistance to Theory. 121: „I have achieved some Control over technical problems of language, specifically problems of rhetoric, of the relation between tropes and performatives, of Saturation of tropology as a field that in certain forms of language goes beyond that field." 22 Paul de Man: Blindness. XXIII f; vgl. zur „deconstruction" auch 139 f. — Die „Intuition des Wahren", die de Man für sich in Anspruch nimmt, hat man als selbst schon wieder Blindheit kritisiert; vgl. Stanley Corngold, in: The Yale Critics. 90 f; Ulrich Horstmann: Parakritik. 71; Frank Lentricchia: After the New Criticism. Chicago 1980. 283 f, 317. 22 Paul de Man: The Resistance to Theory. 117.

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lysis of figural language"24. Von Anfang an war die Dichtung HöLDERLINS einer der Brennpunkte der dekonstruierenden Lektüre. DE MAN sprach von HöLDERLIN als „the obvious stumbling block of my own enterprise"25, und das nicht nur im Blick auf die frühen HöLDERLiN-Studien, die er mit dieser Vorbemerkung versehen in The Rhetoric of Romanticism gesammelt hat^^, sondern mehr noch im Blick auf ein mögliches, aber ungeschriebenes Buch, das HöLDERLIN als Paradigma von „Dekonstruktion" genommen hätte. HöLDERLIN ist deshalb so exemplarisch, weil er Dichtung nicht als Akt der Kreation, sondern als Akt der Interpretation versteht, als Akt der Interpretation nämlich der heiligen „Sage", als Sorge für den „Buchstaben" und als Absicht, „Bestehendes gut zu deuten"; „The interpretation is possible only from a standpoint that lies on the far side of this failure, and that has escaped destruction thanks to an effort of consciousness to make sure of itself once again. But this consciousness can be had only by one who has very extensively partaken of the danger and failure. Act and interpretation are thus connected in a complex and often contradictory manner."^^ In seinen Gedenkvorlesungen bekennt DERRIDA: „Today I understand more clearly than ever why, almost thirty years ago, one of PAUL DE MAN'S friends had called him ,HöLDERLIN in America'. He confided this to me one day . . In seinen späten Lebensjahren trat neben HöLDERLIN die zunehmend in ihrer Bedeutung erkannte Gestalt des Freundes Hegel. In letzten Interviews proklamierte DE MAN nicht nur die „Return to Philology"^^ und bekannte sich ausdrücklich zu deren pädagogischer Aufgabe und einer entsprechenden textorientierten Didaktik^o, sondern er kündigte auch ein großes Projekt an, das die Entwicklung der Ästhetik von KANT bis zu MARX und KIERKEGAARD als Lesern Hegels zum Gegenstand haben soUte: „It's taking me first of all in a preparatory move by forcing me to go back to Hegel and KANT . . . DE MAN starb vor Vollendung dieses Projekts; 24 Paul de Man: The Rhetoric of Romanticism. VIII. 25 Ebd. IX. 25 Vgl. die Aufsätze L'image de Rousseau dans la poesie de Hölderlin (1965) (bes. über die Rhein-Hymne) und Wordsworth and Hölderlin (Züricher Antrittsvorlesung v. Januar 1966). 22 Paul de Man: The Rhetoric of Romanticism. 58. 25 Jacques Derrida: Memoires. 10. 24 Paul de Man: The Resistance to Theory. 21—26. 50 Polemisch wurde sogleich gefolgert, man befinde sich wieder in einem Zustand vor der Dekonstruktion; vgl. Michael Fisher: Does Deconstruction Make Any Difference? 1985. — Vgl. zu dieser Entwicklung Georg Stanitzek: Spiel ohne Grenzen. Dekonstruktion und literarischer Kanon in den amerikanischen Literaturwissenschaften. In; Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 226 V. 30. 9. 1987, 35. 51 Paul de Man: The Resistance to Theory. 121.

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von seinen letzten Seminaren über Hegel gibt es keine Unterlagen. Fertiggestellt sind allein zwei Aufsätze, nämlich Sign and Symbol in Hegel's Aesthetics und Hegel on the Sublime?'^ In dem grundlegenden ersten Aufsatz, der eingeleitet wird mit der Feststellung: „Whether we know it, or like it, or not, most of us are Hegelians and quite orthodox ones at that"33^ versucht DE MAN, von der Differenz zwischen „Erinnerung" und „Gedächtnis", wie ihn die Enzyklopädie bestimmt, ein Licht zu werfen auf das Moment in der Ästhetik Hegels, wo Kunst sprachlich wird. Für DERRIDA ist dieser Aufsatz ein herausragendes Exempel für die „so-called ,deconstruction in America'"^4. DE MAN grenzt einen bestimmten Bereich, den selbstbewußter und selbstreflektierter Zeichen („blind Spots" als „organizer"), für die Kunst ab. In dem Essay über Hegel ist von einzelnen Figuren als „organizer" die Rede; diese Figuren beobachtet er in der Hegelschen Sprache, um so zu Ansichten über deren Täuschungsmanöver zu gelangen. Er liest Hegels Ästhetik als „theory of symbolic form", muß aber schon bald feststellen, daß es bei Hegel eine nicht geringe Konfusion in der Definition der Kunst als Symbol bzw. Zeichen gibt. Gestützt auf §§ 20 und 458 der Enzyklopädie (Differenz Zeichen/Allegorie) entwickelt DE MAN die These, daß die Metapher der „Verinnerlichung" das gesamte Zeichensystem dieser philosophischen Konstruktion organisiert und tyrannisiert, mit der Folge: „The sensory manifestation (sinnliches Scheinen) of art and literature is the outside of an inner content which is itself an outer event or entity that has been internalized."^^ Ehe auch die Ästhetik^^ beherrschende Abwertung des Äußeren=Zeichenhaften gegenüber dem Inneren bzw. der „Vorstellung" sei reine Willkür und mache die Vorlesungen über Ästhetik zu einem doppelzüngigen Text („a double and possibly dupücitous text''^^). Der Differenz von Zeichen und Symbol entspreche Hegels Unterscheidung zwischen der bildhaften Erinnerung und dem bildlosen Gedächtnis.^^ Hegel orientiere sich stets am Paradigma eines bestimmten Reflexionsmodells, das zwischen denkendem und wahmehmendem Ich trenne. DE MAN folgert: „Memory effaces remem32 Paul de Man: Sign and Symbol in Hegel’s Aesthetics. In; Critical Inquiiy. 8 (1982), 761—775; ders.: Hegel on the Sublime. In: Displacement: Derrida and After. Ed. by Mark Krupnik. Bloomington 1983. 139—153. 33 Paul de Man: Sign and Symbol. 763. 34 Ebd. 771. 35 Vgl. G. W. F. Hegel: Werke. Red. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969-1979 (im folgenden: TWA). Bd 15. 229. 3* Paul de Man: Sign and Symbol. 773. 37 TWA 10. 270 f {Enz. § 458).

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brance (or recollection) just as the I effaces itself . . . The art, the techne, of writing which cannot be separated from thought and from memorization, can only be preserved in the figural mode of the symbol, the very mode it has to do away with if it is to occur at all. "3® Das Theorem vom „Ende der Kunst" und die klassische Norm bedingen einander: „We are now in a position to see that the two Statements ,art is for us a thing of the past' and ,the beautiful is the sensory manifestation of the idea' are in fact one and the same Statement.Die „Verinnerlichung" ist auch das Paradigma der Kunst: „To the extent that the paradigm for art is thought rather than perception, the sign rather than the symbol, writing rather than painting or music, it will be memorization rather than recollection. . . . Art is ,of the past' in a radical sense, in that, like memorizaHon, it leaves the interiorization of experience forever behind."^ Mit einer Passage aus MARCEL PROUSTS Recherche macht DE MAN den Sachverhalt verständlich, daß „the theory of the aesthetic . . ., in Hegel, is no longer aesthetic"^^. Das Subjekt kann nicht zu sich selbst finden; die Identitätsfindung ist nur der Effekt der Figurationen leerer Zeichen, die im Gedächtnis eingeschrieben sind, ln der Ästhetik gibt es nur eine Stelle, wo es über Kunstformen explizit heißt, sie seien weder ästhetisch noch schön, nämlich in dem Kapitel über die Allegorie am Ende der symbolischen Kunstform. DE MAN gelangt zu der Conclusio, daß es bei Hegel weder einen dialektischen Übergang vom Symbol zum Zeichen noch von der Erinnerung zum Gedächtnis gebe und daß die Kunst mit dem Zeichen und nicht mit dem Symbol verbunden sei. Hegels Philosophie „is in fact an allegory of the disjunction between philosophy and history, or,. . . between literature and aesthetics, or,. . . between literary experience and literary theory. Worum es ihm in dieser Analyse eigentlich ging (die ja zentrale Probleme ausklammert, etwa die systematischen Verschiebungen bei Hegel zwischen 1805/06 und 1827 oder die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Thematik der Verinnerung bzw. Innerlichkeit und dem Hegelschen spekulativen Modell der Selbstbeziehung, das ja seinerseits bereits eine Antwort darstellte auf die Aporien der FiCHTEschen Begrün-



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Paul de Man: Sign and Symbol. 77S. Ebd. 773 f. Ebd. 773. Ebd. 774. Ebd. 775.

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düng der Selbstreflexion^^), sagt DE MAN in seiner Replik auf die Kritik von R. GEUSS: „What is suggested by a reading such as the one I propose is that difficulties and discontinuities . . . remain in even as masterful and tight a text as the Aesthetics. These difficulties have left their mark or have even shaped the history of the understanding of Hegel up to the present. They cannot be resolved by the canonical System explicity established by Hegel himself, namely, the dialectic .... Such a way of reading is by no means willful; it has its own constraints, perhaps more demanding than those of canonization.''^^ DERRIDA erläutert an dieser HegelDeutung die Methode der Dekonstruktion: „The very condition of a deconstruction may be at work, in the work, within the System to be deconstructed; it may already be located there, aheady at work, not at the Center but in an ex-centric center, in a corner whose eccentricity assures the solid concentration of the System .. . deconstruction is not an Operation that supervenes aftenvards, from the outside, one fine day; it is always already at work in the work; one must just know how to identify the right or wrong element, the right or wrong stone . . . "^5 Einer traditionellen Interpretation sei Hegels Philosophie grundsätzlich nicht zugänglich: „If Hegel's philosophy represents an allegory of disjunction, an allegory of aUegories, one must conclude that it cannot itself be totalized by an interpretation . .

II. Dieses Pathos der Interpretation bestimmt auch das neue Buch von ANDRZEJ WARMINSKI Readings in InterpretationDer Band, tusprüngüch eine Dissertation in Yale (Comparative Literature), versammelt sieben (z. T. ältere) Aufsätze. Nicht nur in der essayistischen Struktur, sondern ^3 Vgl. zur Diskussion der Theorie des Selbstbewußtseins innerhalb der sog. „Heidelberger Schule" (Henrich, Pothast, Cramer) jetzt die Übersicht von Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ,postmodernen' Toterklärung. Frankfurt a. M. 1986. — Zur Hegelschen Bestimmung von „Innerlichkeit" vgl. Claudia Becker: Ende und Anfang der Kunst — Zu Hegels Begriff der „Innerlichkeit". In: Hegel and Hölderlin. Speculative Philosophy and Hermeneutics. Ed. by C. Hamlin and K. Harries. New Haven 1990 (in Vorb.). ** Paul de Man: Reply to Raymond Geuss. In: Critical Inquiry. 10 (1983), 389—390. — Die Kritik von Geuss war erschienen in: Critical Inquiry. 10 (1983), 375—382. Jacques Derrida: Memoires. 73. « Ebd. 77. Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. Hölderlin, Hegel, Heidegger. Introduction by Rodolphe Gasche. Minneapohs 1987. (Theory and History of Literature. 26.)

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auch in der Thematik sind die Studien DERRIDA, vor allem aber PAUL DE MAN verpflichtet, dessen Student WARMINSKI in Yale war. Wie seinem Lehrer, so geht es auch WARMINSKI um das Problem des Gegensatzes zwischen Rhetorik und wahrem Wort, um die „difference between literal and figurative senses'"*®. Das Bedürfnis nach klarer Unterscheidbarkeit zwischen beiden Lektüren ist aufs engste verbunden mit dem Verlangen nach stabiler, identifizierbarer Autorschaft. Es ist dies Bedürfnis, das HEIDEGGERS Opposition zwischen „wesentlichem Wort" bzw. „echtem Sagen" und bloßem „Blendwerk" zugrundeliegt.'*^ WARMINSKI konzentriert seine Aufmerksamkeit auf HEIDEGGERS Charakterisierung des unessentiellen, leeren Worts als „nur ein Her- und Nachgesagtes". Hier lokalisiert HEIDEGGER die Differenz ganz in der vertrauten Tradition der bürgerlichen Subjekt-Ideologie des 18. Jahrhunderts. Jedes Interpretieren, so geht WARMINSKI an Hand von HEIDEGGERS HöLDERLiN-Lektüre auf, ist immer ein Totalisieren, weil der Interpret Differentes vereinheitlicht und die textuelle bipolare Organisation unterdrückt. Gemäß DERRIDAS Theorem der „differance" plädiert WARMINSKI für die „undecidable difference" und liest jeden Text „as a text with a history of readings inscribed within itself"™. Nicht über Texte, sondern über Deutungen von Texten wird gehandelt. So gelangt er zu einer eigenständigen Theorie des „(literary) reading": „Insofar as every movement of thought and its interpretation is vulnerable to being seen, taken or read literarily, this vulnerability would be the condition of possibility of every movement of thought and every interpretation . . . not only does literary reading (and writing) always come before the text of the interpretation (,Auslegung', ,Erläuterung' [am Beispiel HEIDEGGERS, C. J.]) as its condition of possibility, but it always goes aßer the text of the interpretation as its condition of impossibility: the text of the interpretation and the interpretation of the text are always divided, parasitized, by the (literary) reading (and writing) that comes before to give life to the text and goes after to kill it in a coming and going that has no end (and no beginning). Reading (and writing) — the title(s), for example — would be a parasite that gives and takes the life of interpretation. So gelangt WARMINSKI ZU der These, „that reading is neither a subject nor a method"^^. Lektüre sei vielmehr ein dreistufiger Prozeß: 1. „to understand the opacity in the text's . . . selfre« Ebd. 19. « 50 51 52

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

206 f, Anm. 30. 6. 150. XXVII.

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flection in terms of a rigorous conception of the negative . . 2. „to reformulate, rewrite, this negative in the text's relation to itself... in linguistic terms . . 3. „to understand ,language' and ,linguistic', trope and inscription, rhetoric and writing, in a radically other sense, not ,philosophically' . . . but linguistically, as it were, in terms of a radically open tropological or ,grammatological' System: that is, not as a System at all but as text. Language is a text in need of being read."^5 Für dieses Problem des Zwischenspiels der textuellen Elemente und für die Beziehung zwischen Text und Interpretation bietet der Chiasmus eine nichtdialektische „Lösung"56. Eine andere Lösung findet WARMINSKI in HöLDERLINS Theorie der „Zäsur". In seinem Vorwort formuliert WARMINSKI die leitende Frage seiner Untersuchung so: „what difference does reading make?"^^ Was ist „reading" im Unterschied zur Interpretation? Es geht um die Re-formulierung des „negative in the text's relation to itselP's®. In den ersten drei Kapiteln seines Buches (1. „HöLDERLIN'S textual history", 2. „HöLDERLIN in France", 3. „HEIDEGGER reading HöLDERLIN") geht es WARMINSKI um dies „,linguistic negative'" in der Hegelianischen und HEiDEGGERianischen HöLDERLiN-Lektüre; er will „demonstrate that neither the Hegelian nor the HEIDEGGERIAN interpretations — the philosophically most rigorous interpretations of HöLDERLIN — can account für HöLDERLIN'S radically textual Version of history — more allegorical than historical, more NIETZSCHEan than Hegelian or HEiDEGGERian."^^ Nach einem Kapitel über HöLDERLINS Hymne Patmos, das Brückenfunktion hat (4. „Patmos: The Senses of Interpretation"), folgt ein zweiter, „Reading Hegel" überschriebener Teil (5. „Pre-positional By-play", 6. „Parentheses: Hegel by HEIDEGGER", 7. „Reading for Example: ,Sense-certainty' in Hegel's Phenomenology of Spirit"). Im Epilog geht es abschließend um BLANCHOTS Hegel-Kritik.^ Im ersten Kapitel problematisiert WARMINSKI die Rede von einer „abendländischen Wendung" bzw. „vaterländischen Umkehr" HöLDER53 Ebd. XXXI. 54 Ebd. XXXII. 55 Ebd. XXXIII. 56 Vgl. Jacques Derrida: Positions. Paris 1972. Vgl. auch de Mans häufigen und systematischen Gebrauch des Chiasmus, besonders in den späten Essays; vgl. die Definition in Allegories of Reading, 113 (=endlose Verhinderung der „clotüre" des Textes). 57 Andrzej Warminski: Readings in Interpretations. XXXI. 58 Ebd. XXXII. 59 Ebd. — Warminski erläutert dies anhand der Analyse einer Metapher aus Nietzsches Geburt der Tragödie. 68 Vgl. Paul de Man: Impersonality in the Criticism of Maurice Blanchot. In; Blindness and Insight. 60—78.

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(wobei er die Forschung recht willkürlich berücksichtigt^^). Dazu wählt er das Verfahren der Lektüre dreier spezifischer Momente „of the explicit tuming of self-consciousness in three exemplary texts from different ,periods' in HöLDERLIN'S career"^^^ nämlich die Theorie des Selbstbewußtseins in Urteil und Sein (1795), die Grundlegungsversuche des Selbstopfers in der dritten Fassung der Empedokles-Tragödie (1798—1800) und die Theorie der „Zäsur" in den Anmerkungen zu Ödipus und Antigonae (1804). Das Problem der Differenz zwischen Literal- und Figuralsinn wird von WARMINSKI zugespitzt auf die Frage der Autorschaft, exemplifiziert anhand einer kritischen Diskussion von DIETER HENRICHS sehr subtiler Stilanalyse für HöLDERLIN Autorschaft am Fragment Urtheil und Seynß^ HENRICH stützt seine Argumentation auf die Bedeutung einer Textkorrektur, die eine Frage in eine rhetorische Frage umwandelt. WARMINSKI bezweifelt die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen rhetorischer und , echter' Frage, zwischen figuraler und literaler Rede. Er fragt, wie wir sagen können, „what is more or less rhetorical if the relation between literal and figurative is not a matter of quantitiy, not a matter of more or less".^ Das Empedokles-Drama liest WARMINSKI mit LACOUE-LABARTHE als „the tragedy of the theory of tragedy"^^. Sein besonderes Augenmerk gilt der Manes-Szene (als „scene of reading"^) und hier der zweiten Frage von Manes: „und wer bin ich?" Weder sei das Drama gescheitert, noch seien die Figur des Empedokles oder das Drama insgesamt untragisch, beide seien vielmehr eminent tragisch wegen der „contradiction between the impossibility and the necessity of action".^^ WARMINSKI wendet sich dann den SoPHOKLES-Anmerkungen zu, denn für das Verständnis der Manes-Szene wie für HöLDERLINS Lektüre von SOPHOKLES sei es unerläßlich zu verstehen, was eine „Zäsur" ist. Gegen vorschnelle (Vor-)Urteile nimmt WARMINSKI HöLDERLIN in Schutz: „we should remember . . .that HöLDERLIN is always a few steps ahead of anyone eise, particularly in his reading of the Greek tragedies."^ Die Zäsur habe geLINS

Zu dem grundlegenden Aufsatz „Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes" nennt er nur M. Konrads Arbeit aus dem Jahre 1967 (199, Fn. 5). Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 4. ^ Dieter Henrich: Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus. In: Hölderlin-Jahrbuch. 14 (1965—1966), 73 —96. ^ Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 10. Ebd. 11. — Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe: Die Zäsur des Spekulativen, ln: Hölderlin-Jahrbuch. 22 (1980-1981), 203-231. ^ Warminski: Readings in Interpretation. 13. 67 Ebd. 16. 68 Ebd. 18.

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schichtsbegründende Kraft: WARMINSKI erkennt Analogien zwischen dem ungeschriebenen Ende des Empedokles, der „speaking silence" von HöLDERLINS späten Hymnen, den „monströsen" SoPHOKLES-Übersetzungen und der finalen „Zäsur" von HöLDERLINS Verrücktheit, die darin bestehen, daß alle diese Formen des Schweigens Spuren hinterlassen (wie die bronzenen Sandalen des Empedokles).In HöLDERLINS „Zäsur" ist „the impossibilitiy and the necessity of such analogies" thematisiert^^, hierin liegt der Zusammenhang von Zeichen, Sprache, Tragödie und Geschichte: „Although the caesura may be found everywhere in HöLDERLIN'S text, its reading, its bridging by analogy, is always violent and always extorts a death of the reader: whether that death be put as a self-blinding or a long-deferred jump into a vulcano. We are left, then, if not exactly with Empedocles' bronze slippers, with a trace resembling that: a caesura, a pure Word, an antirhythmical interruption, which we can take neither literally nor figuratively — because it founds (and confounds) the differences between literal and figurative senses just as it founds (and confounds) history . . . Die HöLDERLiNsche Zäsur entspreche HEIDEGGERS „Zwischen" als der Spur eines (doppelt) abwesenden Sinns. Nach diesem Exkurs nimmt WARMINSKI seine ursprüngliche Frage wieder auf, wie wir nach Ägypten gelangen. Im Empedofc/es-Drama verkörpert Manes den Orient, Empedokles Griechenland und Pausanias Hesperien. Der Vergleich mit dem Thalia-Fragment von Hyperion und dem ersten Brief an BOHLENDORFF legt die These nahe: „we are the Egyptians: that is . . ., the relation between nature and culture for us and the relation between nature and culture for the Egyptians is the same"^^^ während das Verhältnis bei den Griechen umgekehrt sei. Deshalb gebe es nicht, wie viele hegelianisierende HöLDERLiN-Lektüren nahezulegen versuchten, die Form eines dialektischen Prozesses (oder Progresses) zwischen dem Orient und Hesperien, „but rather more like, again, the ,two' sides of a MöBIUS band — a nonorientahle surface"^^ Von hier aus wagt WARMINSKI dann nicht nur eine neue Lektüre der späten Hymnen, son-

^ Der Begriff der „Spur" (trace) ist einer der zentralen Begriffe Heideggers wie der französischen Phänomenologie, seine Geschichte (er begegnet bei Levinas ebenso wie bei Derrida) ist noch nicht aufgearbeitet; vgl. Otto Pöggeler: Hölderlin and the Concept of Trace. In: Hölderlin and Hegel. (In Vorb.); außerdem die Abhandlung zum Begriff „Spur" von H. /. Gawoll, in: Archiv für Begriffsgeschichte (in Vorb.). Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 18. Ebd. 18 f (Hervorhebung nicht im Original). 72 Ebd. 19. 73 Ebd. 20.

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dem auch und zuerst eine Kritik ihrer bisherigen Deutungen; als „zu griechisch" verwirft er etwa SZONDI (Kap. 2) und HEIDEGGER (Kap. 3). SzoNDis Deutung von HöLDERLINS Stellungnahme innerhalb der „Querelle des Anciens et des Modernes"^^ üest er als „Hegelian dialectical Interpretation''^^. ^^SZONDI saves the Greeks . . .elegantly."^^ Er mißverstehe die Beziehungen zwischen „das Eigene" und „das Fremde" in HöLDERLINS Brief an BöHLENDöRFF vom 4. Dez. 1801, weil er sie zu hegelianisch-symmetrisch sehe. Das Verhältnis zwischen Griechen und Hesperiem sei aber grundlegend asymmetrisch, die Griechen taugten nicht zum (negativen) Spiegel unserer selbst, denn „they contain a nature from which we are forever separated and which we can never make an object of (self-)consciousness".^ Unser Verhältnis zu den Griechen sei nicht strukturiert wie das Verhältnis des Bewußtseins zu dem Objekt seiner Erkenntnis, sondern wie das Verhältnis Trope-Chiasmus; zwischen Griechenland und Hesperien gebe es eine „chiasmic reversal''.^® WARMiNSKi gelangt zu dem Schluß: „It would have been easier to assimilate HöLDERLIN'S philosophy of history to his poetics than vice versa.Damit hat WARMINSKI den das Spätwerk HöLDERLINS tragenden Zusammenhang zwischen Poetik und Geschichtstheorie erkannt: das Göttliche erscheint als Sprache und als Zeichen („Wink"), es erscheint in der Geschichte und Geographie. So kommt es zu der gewaltigen Geschichtsdeutung des Einzigen und anderer vaterländischer Gesänge. Allerdings müßte man das Gmnd-Folge-Verhältnis zwischen Poetik und Geschichtssicht wohl gegenüber WARMINSKIS Vorschlag genau umkehren: HöLDERLIN gründet Ästhetik und Poetologie auf einen geschichtsphilosophischen Entwurf, nicht umgekehrt; er deutet in seinem Spätwerk die Bewegung der Weltgeschichte als gesetzmäßigen Rhythmus. Die Geschichte im ganzen hat Tragödiencharakter: das Absolute ist nicht, sondern wird erst, was es ist, indem es sich in der Zeit verwirklicht.^ Gmndgelegt ist diese Sicht in der Theorie von der „notwendigen Willkür

Peter Szondi: Überwindung des Klassizismus. In: Ders.: Hölderlin-Studien. Frankfurt a. M. 1967. 95-118. ^5 Andrzej Warminski: Readings in Interpretations. 40. 76 Ebd. 31, 77 Ebd. 33. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Vgl. meine Untersuchung: „Ein ungelehrtes Buch". Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797—1800. 2. Aufl. Bonn 1988. 338 f, bes. 342 f.

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des Zevs"®i, d. h. in der Theorie einer Einheit, die aus sich herausgehen muß, weil sie anders nicht ihrer selbst bewußt werden kann. Nur weil WARMINSKI diesen theologisch-mythologischen Hintergrund völlig vernachlässigt, kann er HöLDERLINS mythopoehsche Sicht der Geschichte auf ein linguistisches Schema reduzieren, das SZONDI mit Hilfe des Hegelschen dialektischen Modells der Selbst-Repräsentation „ästhetisiere".®^ „What does not get saved in such a scheme, however, is HöLDERLIN'S text — the text as text, poetry as poetry (and not as art)."^^ HöLDERLINS Ziel sei es, „to represent the Greeks as the Orientais (or the Egyptians)". Das sei aber keine „representation", sondern eine „translation".®^ Wenn WARMINSKI SZONDI vorwirft, daß er insofern Hegelianer bleibe, weil er die Ägypter nicht einbringe, so folgt er einer falschen Identifikahon: das Ägyptische ist nämlich für HöLDERLIN durchaus nicht das Orientalische (im späten Sinne), der Altersweise Manes ist nicht das „Feuer vom Himmel".®® Seinen Grund hat diese Deutung wohl in dem Appell, den DERRiDA in der Grammatologie (mit Vico) an die ägyptischen Hieroglyphen gerichtet hat. Für WARMINSKI ist auch HEIDEGGER ein Hegelianer, weil auch er das, was WARMINSKI „HöLDERLIN'S textual history" nennt®®, ignoriere: „He, like SZONDI before him, must ignore the explicitly linguistic (indeed rhetorical) framework and categories HöLDERLIN employs."®^ Zwar sehe HEIDEGGER HöLDERLINS Dichtung ausdrücklich nicht als Kunst (die ja für ihn metaphysisch ist®®), aber auch seine analogisierende Interpretation ignoriere die Ägypter. WARMINSKI belegt dies vor allem an dem Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung. HEIDEGGER interpretiere zudem die Präsenz und Äbsenz der Götter in den Hymnen in Termini der ontologischen ** Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Hrsg, von Friedrich Beißner. Stuttgart 1943—86 (im folgenden: StA). Bd4, 1. 269. Auch hier folgt Warminski Lacoue-Labarthe; vgl. dessen Essay: Hölderlin et les Grecs (in: Poetique. 40 [1979], 465—74), wo Lacoue-Labarthe Szondis Theorie einer dialektischen Wiederentdeckung des (abwesenden) Griechentums kritisiert: „Le propre des Grecs est inimitable parce qu'il n'a jamais eu lieu." (473) Warminski folgt auch Paul de Mans These einer „aesthetic ideology" (so der Titel der nachgelassenen Essays über Kant und Hegel; vgl. Anm. 14). Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 35. w Ebd. 36. Falsch verstanden und daher nicht korrekt übersetzt ist auch „Geschik" mit „skill" (ebd. 28), denn „Geschik" meint „Schicksal". ^ Ebd. 45 u. ö. 87 Ebd. 40. 88 Vgl. hierzu vom Verf.: Heideggers Kritik der Ästhetik. In: Philosophisches Jahrbuch. 95 (1988), 187-195.

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Differenz.®^ „HEIDEGGER'S attempt to reduce HöLDERLIN'S syntax to ontological semantics"^ö belegt WARMINSKI abschließend an der Auslegung des eröffnenden „Nicht sie, die Seeligen ..." der Hymne Germanien in seinem Kolleg aus dem Wintersemester 1934/35. Die (zuerst 1976 veröffentlichte) Patmos-Deutung des 4. Kapitels versteht WARMINSKI als „the physical center of the book"9i. pj- stellt hier die Frage der spezifischen Selbst-Referentialität eines Textes, dem seine eigene „Theorie" der Interpretation inhärent ist, und zwar anhand einer Auslegung von HöLDERLINS Version der Parabel vom Sämann (inspiriert von JEAN STAROBINSKIS Deutung dieser Parabel des Neuen Testaments als „Parabel der Parabel")^^. WARMINSKI konzentriert die These seines Essays auf die Kombination zweier Parabeln des Neuen Testaments im Bild vom Sämann in Strophe 11 {Mark. 4,3—9), der zugleich die Spreu vom Weizen trennt (Matth. 3,12), so die Figur der Katachrese einführend, wie sie DERRiDA in La mythologie blanche neu definiert hat, um zu bekräftigen, daß HöLDERLIN hier eine Figur etabliere, um mit dieser zu „name the nameless and make sense of the senseless".^^ WARMINSKI geht es um den Aufweis, daß es hier nicht mehr möglich ist, zwischen „the literal and the figurative sense" zu unter scheiden. Diese Ununterscheidbarkeit, die auch die Schlüsselwörter des HOLDERLiNschen Spätwerks (wie wahr/ falsch, gut/schlecht, Wohlgefallen/Leid) betrifft, sieht WARMINSKI sehr zu Recht in einer spezifischen Theorie des Göttlichen gegründet, die sich etwa mit dem Brief an NEUFFER vom 12. 11. 98 auf die Formel „Das Reine kan sich nur darstellen im Unreinen" bringen ließe. WARMINSKI geht allerdings nicht so weit, von hier aus seine Leitidee einer primär textuellen Geschichtssicht HöLDERLINS ZU revidieren. In einer erstaunlichen Volte, die zum übrigen Buch quer steht, unternimmt er es statt dessen, dieses Theologumenon (das er im „Nah ist und schwer zu fassen" der ersten Strophe wiedererkennt) im Sinne Hegels dialektisch als „identity of Identity and difference"^^ zu interpretieren (weil „god has to be preserved in

Hier rekurriert Warminski auf H. Biraull: Heidegger et iexperience de la pensee. Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 70. Vgl. ebd. XXVII f. *2 Vgl. dazu jetzt Cyrus Hamlin: The Task of Interpretation: The Hermeneutics of Hoelderlin's Patmos. Unveröff. Ms. - Vgl. auch die Fortführung von Warminskis Ansatz bei Rainer Nägele: Fragmentation und fester Buchstabe. Zu Hölderlins Patmos-Überarbeitungen. In: Modern Language Notes. 97 (1982), 556-572. Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 82. 94 Ebd. 81. 95 Ebd. 89.

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his purity and in his difference"^^). Daraus zieht er den kühnen Schluß: „Maintaining the bridge between senses, between identity and difference, becomes increasingly difficult in the late HöLDERLIN as the most ,insignificant' words, one by one, lose their innocence and gain a surplus of meaning. WARMINSKI hat hier kunstvoll verwirrt, was eine streng entwicklungsgeschichtlich vorgehende Interpretation genauestens zu scheiden vermöchte; in der Tat gibt es auch bei HöLDERLIN eine Form der ,Dialektik', die der berühmten Formel des Systemfragments von 1800 „Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung" auch dem Wortlaut nach entspricht, allerdings nur in zeitlich parallelen Texten; das Spätwerk folgt anderen, „mythischen" Gesetzen, die HöLDERLIN von Hegel weg und in eine Region jenseits des Idealismus führen.Richtig an der These WARMINSKIS ist allerdings, daß gegen Ende der 90er Jahre bei beiden Freunden gleichzeitig eine Einsicht gereift ist, die bei Hegel zur ausgebildeten Methode der Dialektik und bei HöLDERLIN zur Geschichtssicht der späten Hymnen führt.^ Der zweite Teil seines Buches, zu dem WARMINSKI mit diesen Überlegungen den Übergang geschaffen hat, gilt Hegel. Das 5. Kapitel fragt nach „the meaning of meaning"^™’. Bedeutung („meaning") ist der Übergang von der „Vorstellung" zum „Gedanken". Unter Rekurs auf § 20 der Enzyklopädie^^^ konstatiert WARMINSKI zwischen „Vorstellung" und „Gedanke" ein „double movement of position and ,presupposition' möglich geworden deshalb, weil jeder der beiden Begriffe die dialektische Rolle des Ausgangs- bzw. Endpunktes spielen kann. In der Religionsphilosophie unterscheidet Hegel die „Vorstellung" von „Bild" und „Gedanke": der wahre Gedanke ist vom Sinnlichen frei, die Vorstellung aber „bedarf desselben [sc. des Sinnlichen] und dieses Kampfes gegen das Sinnliche, um selbst zu sein".i^3 Die Vorstellung hat eigentlich zwischen sinnlicher Anschauung und geistigem Gedanken keinen festen Platz; WARMINSKI spricht von einem „(non-)status of being in-bet9* Ebd. 90. «7 Ebd. 89 f. Vgl. Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804—06). Hrsg, von Christoph Jamme u. Otto Pöggeler. Bonn 1988. ^ Vgl. meine Untersuchung: „Ein ungelehrtes Buch". 317 ff, bes. 347. Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 95. Vgl. TWA 8. 73 f: „Der Unterschied von Vorstellung und von Gedanke hat die nähere Wichtigkeit, weil überhaupt gesagt werden kann, daß die Philosophie nichts anderes tue, als die Vorstellungen in Gedanken zu verwandeln. — Aber freilich fernerhin den bloßen Gedanken in den Begriff." '02 Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 96. 103

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ween"i^. Analog verhält es sich mit dem Status von „Beispiel": es „has no official place to fill or role to play . . . But if its existence is marginaB® in relation to Hegel's System, ,Beispiel' is nevertheless ubiquitous in Hegel's text".io* Das „Beispiel" ist insofern exemplarisch, weil es autoreferentiell ist; „it both precedes and follows, it is both inside and outside, exemplary and derived: „Beispiel' would be ,its own' ,Beispiel'."^07 Um zu erweisen, daß „Beispiel" ein anderes „spekulatives Wort" sein könnte, fragt WARMINSKI nach dem „ ,textual' Status of ,Beispiel' und analysiert hierzu Hegels Darstellung von ARISTOTELES' System in seiner Geschichte der Philosophie, besonders die Analyse des Vergleichs zwischen der Seele und dem Wachs in De anima^^. Hegel bietet eine neue Version des Verhaltens der Seele („keineswegs soll die Seele passives Wachs sein"ii0), d. h. er verdrängt (in einer ähnlichen Stilisierungsleistung wie GOETHE) das, was ihm nicht paßt. „Reading" und „misreading" werden ununterscheidbar. Im Kapitel 6 will WARMINSKI zeigen, was in HEIDEGGERS Lektüre der Hegelschen „Einleitung" zur Phänomenologie des Geistes^^^ ungedacht bleibt, um so wiederum dem Unterschied zwischen „interpretation and reading" und der Frage nach dem „subject of reading"ii2 näherzukommen. Besonders hier zeigt sich, wie stark WARMINSKI in einer bestimmten Tradition der Hegel-Auslegung steht, die in den USA der mit KojfevE befreundete LEO STRAUSS begründet hat. STRAUSS' Schüler ALLAN BLOOM hat KOJ£VE herausgegeben und übersetzt — als abschreckendes Beispiel für den Niedergang der Philosophie.Dgj- Hegel der Phänomenologie wird in dieser Schule mit KojfeVE in eins gesehen und als der einzige Hegel vorgestellt, der dann mit HEIDEGGER zusammengebracht werden kann. HEIDEGGER las im Wintersemester 1930/31 über Hegels PhänomenoloAndrzej Warminski: Readings in Interpretation. 97, 105 Warminski liest wie Derrida von den „Marges de la philosophie" her. 1« Ebd. 97. 107 Ebd. 98. 108 Ebd. 101. 109 Vgl. TWA 19. 207 ff. 110 Ebd. 209. 111 Vgl. Martin Heidegger: Hegels Begriff der Erfahrung (1942/43). In: Ders.; Holzwege. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1963. 105-192. 117 Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 113. 118 Sein neuer scharfer Traktat The Closing of the American Mind, der die Bestsellerlisten des zweiten Halbjahres 1987 anführte, vertritt ebenfalls die These, daß die Krise des amerikaiüschen Geistes ihre Wurzeln in Deutschland habe, bei Marx, Nietzsche, Weber, Freud, Heidegger, Marcuse, Adorno, Th. Mann. Der amerikanische Lebensstil habe sich der europäischen Verzweiflung anverwandelt („ein Nihilismus nüt happy-end"), sei — durch Nietzsche und Heidegger (via Derrida) — „germanisiert" worden.

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gie^^*, im Winter 1934/35 brachte er dann zusächlich HöLDERLIN ins Spieliis Das Thema ist die „Innigkeit", die parallelisiert und kontrastiert wird mit Hegels Bewußtseinsbegriff. Auch SCHELLINGS FraTicifs-Schrift las HEIDEGGER im Sommer 1936 (wohl zu Recht) als Parallele zu Hegels Phänomenologie.^^^ Der 1942/43 entstandene mikrologische Kommentar zur „Einleitung" der Phänomenologie ist insgesamt eine Verunklärung. Leider folgt WARMINSKI dieser durch HEIDEGGER vorbereiteten Umwendung der Hegel-Forschung; neu (abgesehen vielleicht von BRUNO LIEBRUCKS) ist allein seine Zusammenstellung von Hegels Phänomenologie mit HöLDERLINS Patmos. Von der Methode der Phänomenologie versteht WARMINSKI nichts. Mit DERRiDA behandelt er die bisherige historische Forschung (besonders PöGGELERS These von der Phänomenologie als Palimpsest) als Legende. Man kann aber heute sehr wohl genau rekonstruieren, wie dieses Buch zwischen 1804 und 1807 entstanden ist.^^^ Was Hegel unter dem ursprünglichen Titel einer „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" der Logik als Einleitung voranstellen wollte, hatte schon den ganzen Inhalt dessen, was später Phänomenologie des Geistes hieß, nur daß es sich während der Niederschrift auswuchs und sich damit auch die Konzeption des Werks änderte. Die Phänomenologie stellt, wie die „Einleitung" sagt, nicht die Momente der Logik in ihrer Einfachheit dar, sondern so, wie sie zum Gegenstand des erfahrenden Bewußtseins werden. HEIDEGGER ging es in seinem Kommentar um den ontotheologischen Aufriß der Metaphysik; die Phänomenologie sei als Erfahrung des Bewußtseins „Parusie des Absoluten"!!^. WARMINSKIS Metakommentar geht von der These aus, der erste Satz über die (natürliche) Vorstellung lasse sich nicht lesen „without already having written and read its (re)read and (re)written end: ,Das absolute Wissen'Die doppelte Inschrift des Textes (natürliche Vorstellung/absolutes Wissen) bedinge auch eine doppelte Lektüre: „a reading of the ,we' [= das Absolute; C. J.] as well as a

1980 hrsg. von I. Görland als Bd 32 der Gesamtausgabe. 115 Vgl. Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen „Germanien" und „Der Rhein". Hrsg, von S. Ziegler. Frankfurt a. M. 1980. (GA Abt. 1, Bd 39.) 116 Vgl. Martin Heidegger: Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Hrsg, von l. Schüßler. (GA Abt. 1, Bd 42.) 117 Vgl. Otto Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg i. Brsg. 1973. 170—230; vgl. auch den editorischen Bericht in G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von W. Bonsiepen u. R. Heede. Hamburg 1980. (Gesammelte Werke. Bd 9.) 456 ff. Martin Heidegger: Holzwege. 175. Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 121.

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reading of natural,Vorstellung'.Somit haben wir zwei Texte vor uns: „The ,we' can appear as the ,we' of absolute knowing only when it does not appear . . . when it does not appear as the ,we' of natural ,Vorstellung', Blickt man nun auf HEIDEGGERS Kommentar, dann vervielfachen sich die Schwierigkeiten: wenn schon, wie gezeigt, der Leser (und Verfasser) des Textes von Hegel sich in einer „double bind"-Situation befindet (wie WARMINSKI mit dem symbolischen Interaktionismus sagt), „who can be the reader (and writer) of the text of ,HEIDEGGER'".122 Die von WARMINSKI aufgewiesene doppelte Bewegung zwischen der natürlichen Vorstellung und dem Absoluten entgehe HEIDEGGER. Seine „strategy renders the text of Hegel less readable as the text of ,Hegel'..." Am Werk sei bei HEIDEGGER eine „strategy of reading and not reading". 1^3 Im Kapitel 7 — dem ein MERLEAU-PoNXY-Zitat (aus Le visible et l'invisible) programmatisch vorangestellt ist — beschäftigt sich WARMINSKI mit dem ersten Kapitel des ersten Teils von Hegels Phänomenologie, das von der „sinnlichen Gewißheit" handelt und das „exemplary Status in the book and in commentaries on the book" besitze.In der Phänomenologie geht es — POGGELER zufolge — um eine exemplarische Entsprechung mit der Logik: sechs große logische Kapitel (die Realphilosophie von 1805/06 nennt „Absolutes Sein, Verhältnis, Leben und Erkennen, wissendes Wissen, Geist und Wissen des Geistes von sich") entsprechen acht Kapiteln der Phänomenologie (die letzte Kategorie wird aufgeteilt in Religion und Wissen). So entspricht z. B. das „Dieses" der sinnlichen Gewißheit dem Sein. Nun gilt gerade für diesen Beginn der Phänomenologie eine einzig in diesem Werk anzutreffende Form der bestimmten Negation (Auswechselung zwischen Wahrheit und Gewißheit).^25 Die sinnliche Gewißheit sieht sich zu einer Umkehrung genötigt, will sie erfahren, was wirklich in ihrem Wissen war. Über diese spezifische Gestalt der Hegelschen Dialektik in der Phänomenologie macht WARMINSKI sich bei seiner Interpretation der Einleitungsfrage keine Gedanken. Er wählt seinen Einstieg in Ebd. '21 Ebd. 126. 122 Ebd. 131. 123 Ebd. 133. '2‘i Ebd. 163. — Vgl. Paul de Man: The Resistance lo Theorie. 41 ff. 125 Ygi Hans Friedrich Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels „Wissenschaft der Logik". Frankfurt a. M. 1965; ders.: Zur Logik der „Phänomenologie" von 1807. In: Hegel-Tage Royaumont 1964. Beiträge zur Deutung der „Phänomenologie des Geistes". Hrsg, von H.-G. Gadamer. Bonn 1966. (Hegel-Studien. Beih. 3.) 75—101; Otto Pöggeler: Die Konzeption der „Phänomenologie des Geistes". Ebd. 27—44; ders.: Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins. In: Ders.: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. 231 ff (bes. 257—71); Klaus Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn 1976. (Hegel-Studien. Beih. 15.) 205 —208. 120

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das Problem des Anfangs der Philosophie über DERRIDAS Anfang seiner Interpretation der Hegelschen Philosophie und ihres Anfangs in Hier wie dort hätten wir es mit einem „double beginning"i27 zu tun: . the first words of the opening sentences introduce the partners in the dialogue — a knowing (,Das Wissen') and the ,we' (,Wir') — as well as the relation between them/'i^s Aufgrund dieser bereits im vorangegangenen Kapitel entwickelten Überzeugung einer Doppelung des Wissens wie des Textes kommt WARMINSKI ZU der These: „Hegel's critique is directed not so much at sense-certainty as at its language, its rhetoric, a certain misreading of the verb ,to be'."i29 Um diesen Dialog zwischen Bewußtsein und Selbstbewußtsein, natürlichem Bewußtsein und dem „wir", sinnlicher Gewißheit und dem „wir" zu klären, zieht WARMINSKI den Abschnitt 60 der „Vorrede" heran. Mit einem Ausdruck GADAMERS nennt er diesen dialektischen Prozeß, der stattfindet, wo das „wir" dem Ich des natürlichen Bewußtseins gegenübertritt, „conversion"i30, die er mit der „Konversion" Christi von „Legion" in „Logos" (Mark. 5,9) vergleicht. Die rhetorische Struktur des Kapitels über die „sinnliche Gewißheit" untersucht er abschließend an Hegels Beispielen für „Hier" und „Jetzt", dabei konzentriert auf die Verwendung des Wortes „Beispiel" (abgeleitet aus „beiherspielen"). Hegel wolle nicht nur Fragen stellen und Antworten geben, sondern zugleich das Beispiel einer Frage und das Beispiel einer Antwort demonstrieren: „In short, insofar as we can never question and answer without giving examples of question and answer, all questions and all answers are always already parasitized by the question (and the ,answer') of the example of example, ,Beispiel' of ,Beispiel'. Daß WARMINSKI damit die Struktur der Phänomenologie nicht erfaßt, würde er womöglich als Einwand gelten lassen, da es ihm ja um anderes geht: um die Selbst-Referentialität von Lektüre und Schreiben. Diesem Akt des Lesens gilt auch der „Epilog" über BLANCHOTS „L'angoisse de lire".^^^ BLANCHOT zeigt, „that reading — Hegel, for example — is dreadful, for it comes up against a Nothing that does not turn over into Being (nor does it reveal and conceal Being) but rather rereads and 126 122 128 129 130 131 132 terres

Paris 1974. 7. Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 164, Ebd. 165. Ebd. 167. Ebd. 171. Ebd. 178. Hier berührt sich Warminski mit Paul de Man: Hypogram and Inscription Poetics of Reading. In: Diacritics. 11 (1981), N. 4, 17—35.

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rewrites Nothing. "i33 Es geht nicht darum, Hegel zu erklären, sondern ihn an anderer Stelle neu zu schreiben. Dies bedeutet aber zugleich den Tod Hegels. 134 Für dieses ,Ergebnis' dekonstruierender Lektüre — den Tod des Dekonstrukts — ist WARMINSKIS Buch insgesamt ein hervorragendes „Beispiel des Beispiels".

III. Inspiriert von DE MANS dekonstruierender Lektüre HöLDERLINS ist auch — wenn auch weniger offensichtlich — die Studie des Princetoner Germanisten ERIC SANTNER.I^S Er versteht seine Deutungsversuche als „both a ,revisionist' reading of HöLDERLIN's later poetry and as an introduction to a larger study of issues concerning narrative theory and, in particular, the psychology of narrative". 136 Schon dieser Ansatz, HöLDERLIN unter eine Theorie des „Narrativen" subsumieren zu wollen, muß höchst problematisch erscheinen. Ihn interessiere nicht, so bekennt SANTNER in seinem Vorwort, HöLDERLINS soteriologische Sicht der Geschichte („his particular Version of ,Heilsgeschichte'"i37) — SZöNDIS Deutung der ,abendländischen Wendung' verwirft er mit ähnlichen Argumenten wie WARMINSKI138 —, sondern die Form poetischer Bilder, über deren Verwendung eine gewisse Sorgfalt („vigilance") wache. Leiten läßt er sich dabei von THEöDOR W. ADORNöS (in Kritik an HEIDEGGER entwickelter) These einer parataktischen Struktur des HöLDERLiNschen Spätwerks, die — und dies macht den Dichter für dekonstruierende Lektüren so anziehend — die (bürgerliche) Sinnkategorie erschüttere. 139 Innerhalb der Technik der Reihung autonomer Bilder unterscheidet SANTNER zwei Formen: „on the one hand, there is the undetermined parataxis of the final lines of Hälfte des Lebens . . ., where concrete particulars seem to have withdrawn into mute Isolation . . .; here parataxis seems to suggest absence. On the other hand, there is the overdetermined parataxis of such poems as Pat133 Andrzej Warminski: Readings in Interpretation. 185. 134 Vgl. Maurice Blanchot: La litterature et le droit ä la mort. In: Ders.: La Part du Feu. Paris 1949. 133 Eric L. Santner: Friedrich Hölderlin. Narrative Vigilance and the Poetic Imagination. New Brunswick, London 1986. 13« Ebd. IX. 137 Ebd. 13« Vgl. ebd. 71 ff; 155, Anm. 16. 139 Yg] Theodor W. Adorno: Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins. In: Ders.: Noten zur Literatur 111. Frankfurt a. M. 1965. 156—209, hier 192.

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mos and Der Einzige . . where one senses that anxiety may give way to a kind of exhilaration in the face of the excess of significations opened up by the loosening of the old narrative syntax."^'*^’ Bei seiner HOLDERLINDeutung geht es ihm darum, jeweils zu unterscheiden, um welche Form es sich im Einzelfall handelt, „absence may begin to look like excess, abject silence may become the promise of infinite possibilities".^^^ Im Hintergrund steht unübersehbar die die französische Philosophie von MERLEAU-PONTY bis DERRIDA — im Gefolge HEIDEGGERS — beschäftigende Theorie der „absence". Diesem Programm gemäß, diskutiert SANTNER in seinem Buch verschiedene späte Gedichte und Fragmente, vor allem Gesang des Deutschen, Hälße des Lebens, Der Einzige, Patmos, Mnemosyne und Andenken. Dabei kommt es mitunter zu grotesken Fehlinterpretationen, vor allem im Falle von Andenken und Mnemosyne. Die RoussEAU-Konnotation am Schluß der ersten Strophe der dritten Fassung von Mnemosyne („Uns wiegen lassen, wie/ Auf schwankem Kahne der See"i^^) entgeht ihm ebenso wie er die „Tageszeichen" nicht als Zeichen der Epiphanie versteht; mißverstanden wird auch das Bild des Wanderers in der zweiten Strophe („. . . auf hoher Straß / Ein Wandersmann geht zornig, / Fern ahnend mit / Dem andern . . „Zornig" ist dieser nicht aufgrund seiner tragischen Sehnsucht „in's Ungebundene", sondern HöLDERLIN kontaminiert hier die Emmaus-Jünger am Ostermontag {Lk. 24,13 ff) mit der Ahnung von Heroen vergangner Zeit, die den Wanderer schmerzlich aufwühlt — Heroen, die in der Schlußstrophe dann als Achill, Ajax und Patroklos angerufen werden (als Symbol des Untergangs der antiken Kulturepoche). Am groteskesten erscheint SANTNERS Lesart der Schlußgnome von Andenken („Was bleibet aber, stiften die Dichter"i44); „Might it be that ,bleiben' does not signify abiding, permanence, that is, that which transcends the flux of time, but rather what remains, in the sense of what is left over — ,Was übrigbleibt', ,Was zurückbleibt' . . . The poet's task would, then, no longer to be to transcend the flux of time, but rather, in a peculiar sense to let us feel it more deeply, more fully, more caringly, and perhaps, even, to celebrate it."^45 Eric L. Santner: Hölderlin. X.

1« Ebd. StA 2, 1. 197. — Vgl. Eric L. Santner: Hölderlin. 49, 121. StA 2, 1. 198. — Vgl. Eric L. Santner: Hölderlin. 127 f. StA 2, 1. 189. — Vgl. Eric L. Santner: Hölderlin. 128 ff. Eric L. Santner: Hölderlin. 136. — Vgl. dazu meinen Aufsatz: Hölderlin und das Problem der Metaphysik. Zur Diskussion um „Andenken". In: Zeitschrift für philosophische For-

schung. 42 (1988), 646-665.

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CHRISTOPH JAMME

In die Irre führt auch der ständige Bezug auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichtet"^, schon aus rein chronologischen Gründen (HöLDERLINS Spätwerk entstand nach 1803, Hegel trug seine „Philosophie der Weltgeschichte" aber erst ab 1822/23 vor). Man könnte Gedichte wie Andenken oder Mnemosyne höchstens auf die Phänomenologie des Geistes beziehen, wie dies J. SCHMIDT versucht hat.^^^ Aber bei Hegel bricht 1807 etwas Neues auf, nämlich erstmalig eine Teleologie der Geschichte; demgegenüber hat HöLDERLIN in seinen späten Jahren jede (in den Gesprächen mit seinem Freund Hegel in Frankfurt und Homburg vielleicht noch vertretene) Geschichtsteleologie aufgegeben; die Zuversicht, das Bewußtsein der Nähe der Epiphanie, ist dem Gefühl einer Bedrohung gewichen. In den Vordergrund treten jetzt Motive eines Verlangens nach Schutz, nach Schatten und Ruhe, nach „Schonung", und damit zugleich verändert sich das Verständnis der dichterischen Aufgabe: aus der Prophetie in das Gedenken, wie es die Gedichtentwürfe Andenken und Mnemosyne dann gestalten.!^ Der Mythos ist innerlich geworden: „Am Feigenbaum ist mein / Achilles mir gestorben, Eine Parallele zu Hegel ergibt sich höchstens, wenn man berücksichtigt, wie HöLDERLIN in Andenken die bürgerliche Sphäre (der Seefahrer und Kaufleute) aufwertet, was Hegels Auszeichnung des Bürgerlichen (etwa der „Tapferkeit auf See") von der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 an entspricht. Worin SANTNERS Deutungen Recht haben, ist der Hinweis darauf, daß sich in HöLDERLINS Spätwerk ein neues (hymnisches) Sprechen Bahn bricht. Doch was diese neue Sprache in ihrem Wesen ist, das hat SANTNER ebensowenig gesehen wie eigentlich alle Interpreten (von HEIDEGGER bis HENRICH) vor ihm.

146 Vgl. Eric L. Santner: Hölderlin. 34 f; zur „Phänomenologie" vgl. 39 f, 49, 54, 93. Jochen Schmidt: Hölderlins letzte Hymnen „Andenken“ und „Mnemosyne". Tübingen 1970. 148 Vgl. V. 25 ff von Andenken: das „dunkle Licht" (Metapher für den Wein im Becher) deutet auf die Kraft der Erinnerung (StA 2, 1. 188). 1« StA 2, 1. 198.

HANS-JÜRGEN GAWOLL (BOCHUM)

DIE KRITIK DES EINEN IST NICHT DIE EPIPHANIE DES ANDEREN Bemerkungen zur Philosophie Emmanuel Levinas'

Eine sich immer schneller technologisierende Zivilisation, die die Wirklichkeitserfassung weitgehend in digitale Raster auflöst, provoziert gleichsam das postmoderne Verständnis der Gegenwart. Mit Blick auf die fortschreitende Entmaterialisierung der Wirklichkeit leitet LYOTARD die Postmoderne von einem Kontext ab, der durch die Sprachwende der Philosophie und das Eindringen anglo-amerikanischer Strömungen in das europäische Denken charakterisiert ist.^ Die seinsgeschichtliche und analytische Beschäftigung mit der Sprache wurde von einem Niedergang universalistischer Doktrinen flankiert, denen zufolge die metaphysische Zufälligkeit des Empirischen zu einer sich in der Zeit entwickelnden Einheit organisieren soll. Ausdrücklich beruft sich LYOTARD für die Vorbereitung der Postmoderne neben WITTGENSTEIN und BUBER auf die Philosophie EMMANUEL LEVINAS'^, dessen Totalität und Unendlichkeit (1961) seit 1987 in einer deutschen Übersetzung vorliegt. Diesem Buch wird von LYOTARD das Verdientst zugeschrieben, daß es den Anspruch eines Denkens delegitimierte, die Kontingenzerfahrung des Wirklichen zu bewältigen und in Gestalt der Wissenschaft „allein die Theodizee"^ zu sein, wie Hegel den Universalismus philosophischer Theoriebildung prägnant ausdrückte. Allerdings variiert die Postmoderne unter dem Titel der Delegitimierung philosophischer Metaerzählungen von Fortschritt und Emanzipation lediglich NIETZSCHES Diagnose des Nihilismus: Der Wille zur Wahrheit wendet sich im Verlauf seiner Geschichte gegen das von ihm vorgestellte Objekt, so daß nur eine Welt übrigbleibt, für die jede vorgängig geforderte Teleologie des Sinnes nichts mehr bedeutet. Vor diesem Hin' Vgl. dazu Jean-Francgis Lyotard: Der Widerstreit. Übersetzt von Joseph Vogl. Mit einer Bibliographie zum Gesamtwerk Lyotards von Reinhold Clausjürgens. München 1987. 12 f. 2 Vgl. dazu Jean-Frangois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz, Wien 1986. 118 f. 3 Brief an Zellmann vom 23. Januar 1807; vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg, von Johannes Hoffmeister. 3. Aufl. Hamburg 1969. Bd 1. 137.

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tergrund tritt die postmoderne Verabschiedung der Metaphysik bloß das Erbe des 19. Jahrhunderts an; die Postmoderne selbst erscheint als die Verspätung einer Diskontinuitätserfahrung, die von der Forderung nach einer systematischen Vereinheitlichung des Wissens Abstand nimmt und programmatisch die Aktivierung heterogener Differenzen geltend macht.“^ Aller französischen Emphase der Befreitung vom , Systemdenken' zum Trotz geht aber die Delegitimierung metaphysischer Diskurse, die wohl in stiller Wirksamkeit von LfiviNAS zu Bewußtsein gebracht wurde, kaum über vertraute Perspektiven hinaus. So brandmarkte bereits ADORNOS Negative Dialektik das inhumane Identitätsprinzip des Idealismus, der bei Hegel seinen spekulativen Höhepunkt erreicht hatte.^ Erinnert man sich der metaphysischen Meditationen ADORNOS, der gegen die Gewalt des jede Form von Andersheit negierenden Absoluten „die Reflexion der Differenz"^ stellte, dann scheinen sie, selbst wenn sie nur zur ethischen Verweigerung vor der Allmacht der Identität führen, der Intention LfiviNAS' verwandt. In Totalität und Unendlichkeit geht es auch darum, aus der Kritik des Identitätsprinzips eine gewaltfreie Relation aufzuweisen^, in der die Andersheit die Grundbestimmung der Moral wird. Das heißt jedoch gleichfalls, daß die jetzt im deutschsprachigen Raum einsetzende LfiviNAS-Rezeption, noch bevor sie 26 Jahre nach der französischen Erstveröffentlichung von Totalität und Unendlichkeit wirklich angefangen hat, schon verspätet ist. Denn erst auf dem Umweg über Frankreich entdeckt die LfiviNAS-Rezeption eine Achtung vor dem Anderen, deren Ethos man, lastete auf ADORNO nicht der Ruf eines bloßen Theoretikers der Ästhetik oder das Stigma eines Marxisten, bei ihm hätte finden können.

^ Vgl. dazu Jean-Frangois Lyotard: Postmoderne für Kinder. Briefe aus Jahren 1982—1985. Wien 1987. 30 f. 5 Zu Adornos ausführlicher Kritik am hegelschen Totalitätsdenken vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1982. 295 ff. ^ Ebd. 341. — Daß insbesondere zwischen Derridas Philosophie der Differenz und Adornos Kritik am begrifflich identifizierenden Denken eine Affinität besteht, hat zuletzt Kimmerle hervorgehoben. Vgl. Heinz Kimmerle: Derrida zur Einführung. Hamburg 1988. 7 ff. ^ Vgl. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg, München 1987. 57. — Im Text beziehen sich alle Zitate aus Totalität und Unendlichkeit (=TU) auf diese Übersetzung.

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I. Der Vorteil einer historisierenden Betrachtung besteht darin, daß sie oftmals zur Versachlichung und Objektivierung einer Philosophie beiträgt. Macht man sich diesen Vorteil für eine Beurteilung der Philosophie LßviNAS' zunutze, so scheint das ideengeschichtliche Spezifikum, vor dem die Entwicklung des französischen Denkens im 20. Jahrhundert auch gesehen werden muß, durch eine Wiederentdeckung Hegels charakterisiert zu sein. Als KojfeVE 1933 Vorlesungen über Hegel zu halten begann, rührte sein Erfolg vornehmlich daher, daß er es möglich machte, in Frankreich eine gemeinsame philosophische Sprache zu entwickeln. Die von ihm vorgetragene Hegelinterpretation stand implizit unter der Prämisse, eine Zeit der Totalitarismen in Begriffe zu fassen und damit ein Selbstverständnis der Gegenwart zu erlauben. Ohne eine Schule gebildet zu haben, hinterließ KOJEVE den Hörern seiner Vorlesungen eine Auffassung der Geschichte, in der die Vernunft nicht zur Diskussion führt, sondern sich durch Gewalt verwirklicht.® Auf dieses Motiv der Gewalt in der Geschichte, das weitgehend die nachfolgenden Diskussionen bestimmte, spielt unvermittelt das Vorwort von Totalität und Unendlichkeit an. Hier behauptet LEVINAS, daß sich dem philosophischen Den* Zu der Bedeutung von Kojeves Hegelinterpretation für die Entwicklung der französischen Philosophie im 20. Jahrhundert vgl. Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosphie in Frankreich. 1933—1978. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff. Frankfurt/M. 1981. 17 ff und Philosophien: Gespräche mit Michel Foucault, Kostas Axelos, Jacques Derrida, Vincent Descombes, Andrö Glucksmann, Emmanuel Levinas, JeanFrancois Lyotard, Jacques Ranciere, Paul Ricceur und Michel Serres. Graz, Wien 1985. 71 ff. — Es ist jedoch interessant zu beobachten, wie die, wohl von Descombes' Buch induzierte Aufmerksamkeit für die Geschichte der französischen Philosophie in diesem Jahrhundert gar nicht auf den Einfluß und die Bedeutung von Levinas eingeht. Verschwieg schon Descombes, obwohl dessen Buch im Titel wörtlich die Überschrift des ersten Kapitels von Totalität und Unendlichkeit adaptiert, bewußt oder unbewußt die Philosophie Levinas', so lassen auch Jürg Altwegg und Aurel Schmidt in ihrer Bestandsaufnahme; Französische Denker der Gegenwart. Zwanzig Porträts (München 1987) die Metaphysik des Anderen aus. Damit begeben sie sich jedoch in Gegensatz zu Derrida und Lyotard, deren Philosophien ohne eine Auseinandersetzung und die unterirdische Wirkung Levinas' allem Anschein nach kaum vorzustellen sind. Neben seinem kritischen Kommentar weiß der Essay Derridas über Gewalt und Metaphysik (vgl. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1976. 121 ff) Levinas sehr wohl zu würdigen. Und Lyotard sieht bei Levinas nicht bloß die Vollendung des modernen Delegitimierungsprozesses, der den Freiraum für eine Dispersion der Vernunft qua inkompatibler Sprachspiele eröffnete, sondern er gibt ebenso eine kommunikationstheoretische Übersetzung der Philosophie Levinas' (vgl. Jean-Frangois Lyotard: Der Widerstreit. 188 ff). — Eine Einführung in die Pldlosophie Levinas', die sie auch im Kontext der französischen Phänomenologie verortet, gibt Stephan Strasser: Emmanuel Levinas: Ethik als Erste Philosophie. In: Bernhard Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt/M. 1983. 218 ff.

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ken das Sein als Krieg zeige, der eine allumfassende Ordnung errichtet, aus der kein bis dahin in sich verankertes Seiendes entfliehen kann. Der reinen Evidenz des Seins im Krieg, zu der es, wie LfiviNAS wohl mit Blick auf HEIDEGGERS Herafchf-Interpretation sagt, keines Beweises anhand dunkler Fragmente bedarf, entspricht theoretisch der Begriff der Totalität; er reduziert die Individuen darauf, Träger von Kräften zu sein, die ein Geschehen ohne das Wissen der Beteiligten steuern. Unter Totalität versteht LfiviNAS die Summierung des Endlichen zu einem Ganzen, in das die empirische Mannigfaltigkeit ein- bzw. zusammengeschlossen wird. Da LfiviNAS bei seiner Auffassung des Ganzen nicht zwischen dem Selben und dem Ich unterscheidet, sondern sie zum Amalgam der endlichen Totalität verschmilzt, fallen das griechische Denken ebenso wie die moderne Philosophie der Subjektivität dem Verdikt anheim, kein wahrhaftes Außerhalb des metaphysischen Diskurses zuzulassen. Geschichtlich gesehen, gehorcht die abendländische Logik seit ihren eleatischen Anfängen dem Bann eines sich zur ausschließlichen Ganzheit totalisierenden Monismus, der auf der unlösbaren Verbindung zwischen dem Einen und dem Selben beruht. In dem Moment, wo PARMENIDES die ontologische Aufgabe stellte. Sein und Denken in Übereinstimmung zu bringen, wies er der Philosophie den Weg zum Primat des Selben, mit dem LfiviNAS, was schon sein Frühwerk Die Zeit und der Andere (1948) formulierte,^ brechen will. Allerdings hat dieses geforderte Durchbrechen, das die immer wieder neu ansetzenden Meditationen von Totalität und Unendlichkeit sich in extenso einzulösen bemühen, neben dem radikalen Ge* Vgl. Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. Hamburg 1984. 19. — Zu seiner Kritik an der Logik des Monismus, den er mit der Totalität gleichsetzt, ist Levinas nach eigener Aussage durch den Stern der Erlösung von Franz Rosenzweig angeregt worden (vgl. TU 31, sowie das Vorwort von Levinas zu Stephane Moses: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1985. 15). ln der Einleitung zum Stern der Erlösung (1921) kritisiert Rosenzweig den parmenideischen Panlogismus, der die Philosophie von „Jonien bis Jena" bestimmte (vgl. Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, ln: Gesammelte Schriften. II. Den Haag 1976. 13). Historisch gesehen geht m. E. die These, daß in der abendländischen Metaphysik die Logik des Monismus den Dualismus der Differenz von Denken und Sein dominierte, explizit auf die Jacobi-Verehrerin Madame de Stael zurück. Ihr 1813 im Londoner Exil erschienenes Buch über Deutschland stellt die These auf: „Seit den Griechen bis auf unsere Tage hat man oft das Axiom wiederholt, daß das All ein Einiges ist, und die Bestrebungen der Philosophen haben immer darauf gezielt, in einem einzigen Prinzip, sei es der Seele oder der Natur, die Auflösung des Rätsels der Welt zu finden." {Anne Germaine de Stael: Über Deutschland. Vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814 in der Gemeinschaftsübersetzung von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Julius Eduard Hitzig. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Monika Bosse. Frankfurt/M. 1985. 520.)

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stus des Neuanfangs auch seine nationale Begrenztheit: Es ist ebenso der Versuch, in eins mit dem hegelschen Erbe der französischen Philosophie jenes totale Enthüllungsdenken zurückzudrängen, das sich für LEVINAS mit der transzendentalen Phänomenologie und dem Rückgang auf den Sinn von Sein verbindet. Aus diesem Grund kann man LEVINAS einer philosophischen Zeitströmung zurechnen, die sich in Frankreich seit den 60er Jahren gegen die von Hegel, HUSSERL und HEIDEGGER bestimmten Theoreme bewegt. Die LEVINAS zuerkannte, delegitimierende Originalität besteht darin, für die Einseitigkeit des abstrahierenden Denkens die historischen Wurzeln zu lokalisieren. In kritischer Intention leitet LEVINAS die Vorherrschaft des theoretischen Wissens von einem ontologischen Schema ab, das die Entfernung zwischen dem Selben und dem Anderen verringert. Zielte die Ontologie primär auf die Manifestation von Seiendem, dann kehrte sich ihr Wesen um, als sie die erschließende Kraft des reinen Denkens hypostasierte. Seiendes mußte nun in der Weise angegangen werden, daß man seinen logos verstehen konnte. Aus dem achtenden Sein-Lassen von Gegenständen wurde, sofern sie das Denken ßr sich reklamierte, ein verstehendes Ideal des Wissens. Seine methodische Wirksamkeit erlangte es dadurch, daß das erkennende Seiende vermittels eines dritten Terminus mit dem zu erkennenden Seienden in Beziehung tritt. Eine solche Vermittlung geschieht aufgrund einer begrifflichen Identifikation von Seienden, deren Widerständigkeit zum Verschwinden gebracht und die in die Permanenz eines schon fixierten Bezugspunktes eingeschlossen werden. Auf diese Weise verlieren die Dinge ihre offenbare Individualität; sie werden bloß durch die Vermittlungshilfe eines Allgemeinen erfaßt, das der Vorgriff einer Identitätsinstanz von sich aus freigibt. Nach LEVINAS basiert damit das ontologische Schema des Wissens auf dem die Welt einverleibenden Sich-Vollziehen des Selben, das bei SOKRATES seinen ersten, geschichtsmächtigen Höhepunkt erlebte: „Das Ideal der sokratischen Wahrheit beruht also auf der essentiellen Genügsamkeit des Selben, auf seiner Identifäf als Selbst, auf seinem Egoismus. Die Philosphie ist eine Egologie." {TU 53) Indem SOKRATES den Schematismus des Wissens zu dem ausgezeichneten Modell erhob, der Wirklichkeit zu begegnen, legte er den Grundstock des abendländischen Idealismus: Das Bewußtsein stellt die eigentliche und ideale Repräsentation des Seins dar, denn es erlaubt, die Differenz zu dem ihm andersartigen Seienden in das Geschehen einer transempirischen Instanz zu konvertieren. In diesem Sinn ist laut LEVINAS, für den das idem und das ego durch die synthetisierende Funktion einer

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Seiendes vereinnahmenden Identität zusammenfallen, die abendländische Philosophie ein prinzipieller Egoismus. Mit der begrifflichen Sprache der Tradition ausgedrückt: Der Idealismus der Philosophie löst die Realität von Gegenständen und Personen in bloße Gehalte und Schöpfungen eines sie konstituierenden Prinzips auf, dessen akosmistische Tendenz, wie JACOBI ausführlich an der Transzendentalphilosophie FICHTES kritisierte, die Fähigkeit zur Erfahrung eines von ihm unabhängigen ,E)u' verliert. 10 Der , ontologische Imperialismus', Seiendes aus der Beziehung zu einem einigenden Prinzip her zu verstehen, zeigt sich für LSVINAS besonders deutlich in der Licht-Metaphorik der abendländischen Theorie des Erkennens. Seiendes liefert sich in dem, was es ist, einem durch das Licht eröffneten Horizont aus; von einem Fixpunkt falle der enthüllende Lichtstrahl der Erkenntnis auf etwas, das dadurch zu unserem konzeptuellen Besitz gemacht wird. Dergestalt charakterisiere die Ontologie ein das Faktum des Gegebenseins im Begriff überschreitendes Gewaltstreben, dessen Erbe die moderne Subjektivitätsphilosophie angetreten hat. Die Evidenz eines universalen ,Ich denke', zu dem sich das Prinzip der Identität ausgebildet hat, meint für LEVINAS ebenso ein ,Ich kann', dessen Unbeschränktheit auf eine Ausbeutung der Wirklichkeit tendiert. Aus diesem Grund impliziere das von der Welt besitzergreifende Wissen, das die Autonomie des Ich sichern will, zugleich eine pragmatische Herrschaft über die Welt. In prakHsch-politischer Hinsicht spreizt sich das durch kein andersartiges Seiendes infragegestellte Subjekt nach LEVINAS zu einem Leviathan auf, dessen nivellierende Unterdrückungsmechanismen die Konsequenz einer Philosophie der Identität sind. Kaum begründeter als ADORNO behauptet LEVINAS, daß das ontologische Prinzip der Totalität die Diktatur des Staates zur Folge habe: „Die Ontologie als Erste Philosophie ist eine Philosophie der Macht. Sie endet beim Staat und der Gewaltlosigkeit der Totalität, ohne sich gegen die Gewalt, von der diese Gewaltlosigkeit lebt und die in der Tyrannei des Staates offenbar wird, zu wappnen. Die Wahrheit, die die Personen versöhnen müßte, besteht hier auf anonyme Weise. Die Universalität präsentiert sich als unpersönliche, und darin liegt eine andere Unmenschlichkeit." {TU 55 f) Seinen i'’ Vgl. dazu F. H. Jacobis Beilage zum transzendentalen Idealismus aus dem David Hunte (1787), wo er seine Kritik zum ersten Mal formulierte, und das Sendschreiben an Fichte (1799), in dem Jacobi hervorhebt, daß der „umgekehrte Spinozismus" Fichtes ein methodischer Monismus ist, der nichts anderes als die Bewußtseinsinhalte des Ich gelten läßt (Friedrich Heinrich Jacobi's Werke. Herausgegeben von Friedrich Roth und Friedrich Koppen. Leipzig 1812-1825 (Nachdruck: Darmstadt 1968). Bd 2. 291 ff; Bd 3. 1 ff).

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historischen Zielpunkt erlangte der ontologische Vorrang der Einheit, die sich von PARMENIDES in der Antike und SPINOZA in der Neuzeit exemplarisch durchsetzte in der Philosophie Hegels. Da Hegel der Hauptvertreter der spekulativen Moderne ist, die sich dem Projekt des Selben verpflichtet, soll ihm gemäß der postmodemen Perspektive französischer Philosophie, die beispielhaft DERRIDA und LYOTARD vertreten, bei LSVINAS der Prozeß gemacht werden. Allerdings gibt es in Totalität und Unendlichkeit keine ausführliche Hegel-Kritik, sondern die Anklagepunkte nehmen eher die Form historisch veranschaulichender Anmerkungen an, die über das ganze Buch verstreut sind. Will man dennoch einen konsistenten Zusammenhang entdecken, so liegt er in LEVINAS' Auseinandersetzung mit der hegelschen Vorstellung, daß sich die spekulative Einheit des Wirklichen erst als ein teleologischer Prozeß herstelle. An der Philosophie Hegels offenbart sich für LEVINAS am deutlichsten die Intention des gesamten Idealismus, der darauf zielt, Wille und Vernunft miteinander zu identifizieren. Das heißt: Wenn man in einer theoretischen Einstellung danach strebt, den logos bzw. die Vernunft von Seiendem zu erkennen, dann ist hier bereits ein determinierender Wille zum Wissen wirksam. Dieser Wille erzeugt seine Identität mit der Vernunft auf eine solche Weise, die den begrifflichen Überschuß, der die Selbständigkeit eines Objektes garantierte, zunehmend in das Wissen einer sich perfektionierenden Erkenntnisform auflöst. Bei Hegel wird nach LEVINAS der Wille zum Wissen im Medium der historischen Entwicklung zu einer Vernunft, die sich dadurch, daß sie das wahre Sein der Objekte fortschreitend enthüllt, selbst sucht und abschließend auch findet. Das faktische Gegebensein einer realen Mannigfaltigkeit reduziert sich auf die internen Relationen eines Unendlichen, das in dem Moment vollständig ist, wo es die Möglichkeit eines essentiell von ihm unabhängigen Anderen verneint. Nach LEVINAS könne allein das so verstandene Unendliche Hegels alle Verhältnisse von Seiendem umfassen: „Wie der aristotelische Gott bezieht es sich nur auf sich selbst, freilich erst am Ende einer Geschichte." {TU 281) Die Unruh(e), die den Lauf der Metaphysik bestimmte, resultiert für LEVINAS aus dem Nichtseinsollen einer Äußerlichkeit von Seienden, die auf einem durch die Geschichte ermöglichten Weg die Heimkehr zu ihrem metaphysischen Ursprung in der Einheit antreten. Hegels Philosphie realisiert damit das logische Denkgesetz der Identität zugleich in Gestalt eines objektiven Telos des Seins: Der theoretische Anspruch, den logos der Welt zu verstehen, führt bei Hegel auf einen dynamischen Monismus, der das Wiedererkennen der Vernunft im Sein ermöglicht. Konkret bedeutet diese sich an

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den Gegenständen vollziehende Identifikation der Vernunft mit dem Sein ein Rechtfertigungsgeschehen, das es dem einzelnen Subjekt erlaubt, sich in einer sinnhaften Sphäre anzusiedeln, die das Defizit der ontologischen Trennung von Ich und Nicht-Ich zum Verschwinden bringt. Wie LEVINAS gerade für die Philosophie Hegels hervorhebt, vermag das Subjekt den metaphysischen Zufall der Existenz bloß um den Preis abzulegen, daß es, indem es seine Endlichkeit negiert, an dem Unendlichen teilhat. Aber damit liefert es sich zugleich dem unpersönlichen Neutrum eines Absoluten aus, das hinter seinem Rücken handelt. Zum einen gibt so das Subjekt die Einmaligkeit seiner Existenz auf, die jetzt von einer allmächtigen Vernunft dominiert wird; und zum anderen beugt es sich der Herrschaft eines absoluten Staates, der faktisch die theoretische Auszeichnung einer sinnverleihenden Vernunft einlöst. Wendet man die Diagnose der Anonymität des Sinnes nicht nur auf die Ideengeschichte, sondern auf die reale Geschichte in der Welt an, dann zeigt hier für LEVINAS der Primat der Identität seine unmenschlichsten Konsequenzen. Da die Geschichte von Hegel als verstehbare Notwendigkeit begriffen wird, in der sich die Vernunft qua Vernunft selbst enthüllt, erreicht die theoretische Allergie gegen das Andere seinen zynisch irreligiösen Höhepunkt: Während die Völker einander vernichten, spendet Hegels Philosophie nachträglich denjenigen eine ihre Würde verletzenden Zuspruch, die de facto ausgeschlossen oder vernichtet werden.

II. Aus der Kritik am theoretischen Totalitarismus und der mit ihm verbundenen ontologischen Gewalt ergibt sich für LEVINAS die positive Aufgabe seiner Philosophie, zunächst eine Struktur zu beschreiben, die sich von vornherein der Vereinnahmung durch eine logische Allheit widersetzt. Eben weil das abendländische Denken ein Spiel des Selben war, gelang es ihm nicht, der Trennung und dem irreduziblen Fürsichbestehen von Seiendem gerecht zu werden. In dem Bewußtsein, daß Begriffe eine veränderte Färbung annehmen können, wenn man sie von ihren überlieferten Konnotationen befreit und sie an die Wirklichkeit zurückbindet, kehrt LfiviNAS die Bedeutung des Selben um. Er versucht, sofern er an diesem Begriff festhält, eine der philosophischen Terminologie zuwiderlaufende Erfahrung des Ich zu reflektieren. LfiviNAS verschiebt den Prozeß der Identifikation auf die Vitalität des Ich, das aus sich heraus gedeutet werden will. Das Ich, das das Geschehen der Identifikation

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vollzieht, entspringt bei LEVINAS nicht mehr einer Logik der Einheit, in der das Selbe seine Geschlossenheit aus dem Gegensatz zu anderem bezieht; vielmehr sondert es sich zu einem autochthonen Seienden „in der Gestalt eines inneren Lebens, eines Psychismus" {TU 68) ab. Mit dem Begriff „Psychismus" definiert LEVINAS die alltägliche Selbst-Gewißheit, immer schon eine Identität zu besitzen. Die pathetische Erfahrung der eigenen Innerlichkeit bricht mit der Despotie des Monismus, der eine individuierte Identität in den Bereich der Einbildung verbannte. Allerdings darf man den Psychismus bei LEVINAS nicht als das inhaltslose Ereignis eines Ich aufassen, sondern er hat vor allem seine Richtung nach außen, die in der Konfrontation mit einer ursprünglich andersartigen Welt zur Geltung kommt. Kraft des Psychismus beginnt ein Individuationsprozeß, der den Umschlag des Andersartigseins von Welt in die Identifikation eines Selbst ermöglicht. Diese Identifikation verwirklicht ein grundlegender Egoismus, der sich dank der Innerlichkeit des Subjektes einer Totalisierung von außen, sei es durch das Allgemeine oder das Sein, widersetzt. Auch hier verfolgt LEVINAS die Strategie, einen der Metaphysik kritisch zugeordneten Begriff einer solchen Weise zu gebrauchen, daß ein Unterschied der Akzentuierung dessen Bedeutung verlagert. Der Begriff ,Egoismus' meint jetzt nicht mehr die von SOKRATES initiierte Egologie des Einen, das Bindung und Teilhabe des Mannigfalrigen voraussetzt. Bei seiner Auffassung des Egoismus legt LEVINAS das ganze Gewicht in ein gegenteiliges Extrem, das die Selbstaffirmation von endlichen Seienden evozieren soll, die danach streben, aus sich allein zu existieren. Aufgrund dieser Abgrenzung zur Metaphysik führt LEVINAS die durch den Psychismus bedingte Einsamkeit zu der Beschreibung einer egoistischen Struktur aus, in der sich die ontologische Trennung artikuliert. Der Egoismus eines unabhängigen Ich hat seine materialen Momente, die weder empirische noch konHngente Gegebenheiten sind, in der Sinnlichkeit des Genusses, dem Haus, der Arbeit und der Ökonomie. LEVINAS, der, eigenen Aussagen zufolge, in der Darstellung und Entwicklung der verwendeten Begriffe alles der phänomenologischen Methode verdankt, macht zunächst anschaulich, was das Ich vor seiner theoretischen Herrschaft durch idealistische Konstruktionen bestimmt. Inhaltlich gesehen, legt der häufige Gebrauch einer poetisch-metaphorischen Sprache, in der LEVINAS die ontologische Konstitution des Ich beschreibt, den Vergleich mit der Inselliteratur nahe. Wenn LEVINAS die Einsamkeit des Ich thematisiert, dann weist seine Philosophie in dieser Hinsicht erstaunliche Parallelen zu DEFOES paradigmatischem Roman

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auf. Zugespitzt formuliert: LöVINAS entwickelt in Totalität und Unendlichkeit eine Phänomenologie der Inselerfahrung Robinson Crusoes.^ Ebenso wie der schiffbrüchige Robinson den Elementen ausgeliefert ist, muß sich für L£VINAS der Mensch in „das anonyme Brausen des Es gibt" {TU 230) einrichten. Ohne daß man einen Ursprung oder ein Woher des „Es gibt" angeben könnte, findet sich das Ich immer schon in „Wind, Erde, Meer, Himmel, Luft" {TU 187) vor. Aus dieser qualitätslosen Flüssigkeit des Elementalen erhebt sich gleichsam die Insel des Ich. Zu der Positivität eines Beisichseins gelangt das Ich, indem es sich das Elementale genießend zu eigen macht: „Die absolute Leere, das ,Nirgends', in dem das Element sich verliert und aus dem es auftaucht, umbrandet von allen Seiten das Eiland des Ich, das innerlich lebt. Die Innerlichkeit, die vom Genuß eröffnet wird, kommt zum Subjekt, das mit bewußtem Leben ,begabt' wird, nicht wie ein Attribut, wie eine psychologische Eigenschaft unter anderen, hinzu. Die Innerlichkeit des Genusses ist die Trennung an sich, die Weise, der gemäß ein Geschehen wie die Trennung sich in der Ökonomie des Seins ereignen kann." {TU 210) Während Robinson nach DEFOE jedoch einiger aus dem Schiff geborgener Versatzstücke der ZivUisatin bedarf, um sich momentan am Leben zu erhalten, fallen für das Ich bei LLVINAS sämtliche Hilfsmittel weg. Gegen die phänomenologische Reduktion auf eine lediglich dem Bewußtsein erscheinende Welt setzt er beim faktischen Sein im bloß Unbestimmten an; er analysiert die absolute „Inselhaftigkeit" {TU 214) der Existenz, die sich nur von Innen begreift, sofern sie sich an Inhalte bindet. Das Ich wird zu einem getrennten Seienden durch das, was sich ihm im sinnlichen Genuß darbietet. Nach LfiviNAS bildet der Genuß den präreflexiven Modus, Wirklichkeit zu erfahren. Vor einer apriorischen Theoretisierung leitet die dem Genuß eigene Intentionalität das Verhalten des Ich, in dem es sich auf die Welt bezieht. Statt des idealistischen Anscheins, daß erst das Denken Seiendes hervorbringt, konkretisiert sich die Seinsweise des Genusses zu dem sinnlich Seienden des Leibes; mit seiner leibhaftigen Existenz spürt das Ich die elementare Beschaffenheit der Dinge, die ihm zur Nahrung und es bedingenden Umwelt werden. n Während Levinas noch in Die Zeit und der Andere erklärte, daß das beziehungslose Existieren nicht „als bloß faktische Isolierung wie die eines Robinsons" (Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere. 20) erscheint, führen die ausführlichen Analysen der (hegelschen) Themen von Begierde und Arbeit ein gleichsam transzendentalpragmatisches Ideal aus. Nimmt man die für diese Analysen verwendete Sprache hinzu, dann geht Levinas in Totalität und Unendlichkeit zu der Ontologisierung einer Robinsonexistenz über, deren faktische Zufälligkeit er am Anfang seines Denkweges relativierte.

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Das Ich lebt von den Dingen, in denen es verwurzelt ist. Für LEVINAS besteht die Wahrheit des Genusses darin, die Kategorie der Trennung zu entformalisieren. Zwar findet das Ich seinen Grund in dem, was es nicht ist, aber diese Abhängigkeit garantiert eben jene reale Selbstgenügsamkeit des Ich, die eine egologische Bewußtseinstheorie mit dem Gedanken einer Konstruktion der Welt aus dem Subjekt zu unterlaufen versuchte. Der Prozeß der Identitätsbildung kommt demnach bei LEVINAS in Gang, wenn das Ich ohne weiteren Sinn und weiteres Ziel die Welt genießt. Sofern der Genuß alle Beziehungen zu Seiendem umgreift, erlaubt er es, Trennung und Isolation des Ich positiv zu bestimmen. Das Geschehen des Genusses richtet sich dergestalt auf die Gegenstände, „mit vollen Händen die Nahrung der Welt zu greifen, ... ihr elementales Wesen aufzusprengen und zu entfalten" (TU 190). In dem Augenblick des Genusses erfüllt sich das Ich an den Gegenständen der Welt; sein hedonistischer Realismus gipfelt im Gefühl des Glücks, stets aufs neue, Bedürfnisse befriedigen zu können und damit ganz bei sich zu sein — „außerhalb aller Kommunikation und aller Verweigerung von Kommunikation — ohne Ohren wie ein hungriger Bauch" (TU 190). Aber schon DEFOE beschrieb den Menschen nicht bloß als einen hungrigen Bauch, sondern Robinson baut sich, um vor einer potentiell feindlichen Umwelt geborgen zu sein, ein Zelt, hinter dem der Eingang einer Höhle liegt. Die anthropologische Konstante, daß sich der Mensch ein Obdach beschaffen muß, überhöht LEVINAS ZU einer existentiellen Kategorie. Es klingt fast wie eine philosophische Dechiffrierung der Robinson-Existenz, wenn nach LEVINAS für das Ich „sein Haus oder seine Ecke oder sein Zelt oder seine Höhle . . . der Vorhof des Inneren" (TU 224) sind. Das Ich zieht sich aus den Elementen auf einen Ort zurück, an dem es bleiben kann. Allerdings erschöpft das Wohnen in einem Haus seine Funktion nicht darin, das Ich vor den widrigen Wettereinflüssen oder vor Feinden zu verbergen. Vielmehr bricht die Einkehr des Ich in einer Bleibe mit der rein naturhaften Existenz. Inmitten der Elemente lebt das Ich aus einer räumlichen Trennung heraus, die praktisch eine Sammlung und Konzentration ganz auf sich darstellt. Der Übergang vom Genuß zur Extraterritorialität des Wohnens wirkt LEVINAS zufolge zivilisationsbildend, da er den Anfang aller menschlichen Tätigkeit ermöglicht, in der sich eine neue Beziehung mit dem Elementalen abzeichnet. Eine zivilisatorisch geformte Welt entsteht erst „im Ausgang von der Bleibe" (TU 225), die demjenigen einen Zugriff auf das noch herrenlose Sein erlaubt, der es besitzen will. Die Genese einer anthropozentrischen Zivi-

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lisation beginnt damit, daß das Ich in der animalischen Selbstgefälligkeit des Genusses zugleich „die dumpfe Brandung des Nichts" (TU 209) vernimmt, worein die Elemente zurückströmen und sich verlieren. Offenkundig und hörbar gewarnt, bezieht sich der Genuß auf das virtuelle Verschwinden dessen, was ihm unmittelbar gegenwärtig ist auf die Instabilität des Glücks" {TU 203). Das unbekümmerte Ich wird „durch die nächtliche Dimension der Zukunft" {TU 203) unter dem Titel des „Es gibt" beunruhigt, das kein Versprechen auf Sicherheit gewährt. Mit der Abhängigkeit von dem „Es gibt" erfährt das Ich nach LEVINAS also auch die Sorge um das Morgen, in das seine Existenz hineinreichen soll. Das Ich, das zunächst seine Zuflucht im Haus gefunden hat, versucht von dort aus über die im Genuß liegende Unsicherheit durch Arbeit hinauszugehen. Die Arbeit — bei Robinson der planmäßige Anbau von Getreide und das Herstellen von über die Natur jederzeit verfügenden Werkzeugen — bedeutet ein Aneignen des Elementalen, das die Bedrohung durch eine nicht voraussehbare Zukunft bändigt. Arbeitend hebt der Mensch die Selbständigkeit des Elementalen auf und verwandelt es in eine substantielle Kontinuität der Dinge. Dadurch, daß man die Dinge aus dem Elementalen herausgreift, werden sie als etwas behandelt, das man ins Haus bringen kann. So bekommt das Haus den Status einer Vorratskammer, zu der schon Robinson seine Höhle umfunktioniert hat. Aufgrund seiner Arbeit erwirbt sich das Ich einen Besitz, der das Sein der Dinge den Veränderungen in der Zeit entzieht; sie bekommen eine Festigkeit bzw. Dauer, kraft deren sie die Habe des Ich bilden, die man im Haus lagert und später genießt. Das Ich, das jetzt die Dinge immer gegenwärtig hat, zögert die Zeit des Genusses hinaus. Es spart sich seine Zukunft auf und gönnt sich eine überschaubare Frist. Die Arbeit befreit den Menschen von der Anarchie der Elemente und führt zu einem Bewußtsein, das sich der Möglichkeit inne wird, die Zeit zu nutzen. Mit der Arbeit hebt sich das Bewußtsein vom reinen Sein ab, und zwar in der Weise, daß das Ich eine Lebenszeit gewinnt, in der die Gegenwart des Elementalen ihren gesicherten Raum findet. Entsprechend dieser Verräumlichung materialisiert sich das Bewußtsein im Eigentum, dessen Besitz die romantisierende Sprache LEVINAS' verklärt: „Von der Bleibe aus entdeckt der Besitz eine Welt; der Besitz vollzieht sich in der gewissermaßen wunderbaren Ergreifung eines Dinges in der Nacht, im Apeiron der ersten Materie. Das Ergreifen eines Dinges erhellt die eigentliche Nacht des Apeiron." {TU 234 f) Ohne auf das soziale Allgemeinheit implizierende Moment der Arbeit einzugehen, wie es eben Hegel in seiner Jenaer Realphilosophie analysiert hat, verengt LEVINAS die Bestimmung

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der Arbeit zum Erwerb einer ökonomisch unabhängigen Existenz. Robinsons frühkapitalistischer Traum von Autarkie kleidet sich hier in eine ontologische Begrifflichkeit, die gemäß dem Liberalismus^^ das SelbstSein der Person hervorhebt: „Der Besitz als tätiger reduziert auf das Selbe, was sich zunächst als ein Anderes darbietet. Die ökonomische Existenz (genauso wie die animalische Existenz) bleibt im Selben — trotz der unendlichen Ausbreitung der Bedürfnisse, die sie möglich macht. Ihre Bewegung ist zentripetal." {TU 254) Der Genuß, der sich der Arbeit bedient, wird wieder absoluter Herr der Welt; sie wird dank des Verhältnisses zum Haus, das den realen Mittelpunkt des Egoismus bildet, interiorisiert. Auch im Falle dieser Egozentrik liegt die Parallele zur Robinsonade auf der Hand. Denn an der Beschreibung des konkurrenzlosen und materialen Bei-sich-zu-Hause-seins betont DEFOE, daß Robinson, solange ihn die Existenzsicherung in Anspruch nahm, sein Leben ohne den Gedanken an Gott zu fristen vermochte.In diesem Sinn nennt LEVINAS gleichfalls das Ich, das sich ökonomisch unabhängig gemacht hat, atheistisch. Damit deutet er schon die enge Verbindung seiner Philosophie mit der Theologie an^^, durch die aller Aufklärung und Religionskritik zum Trotz die Metaphysik des Anderen geprägt ist.

III. Mit seiner Phänomenologie der Ich-Existenz zeichnet LEVINAS das vorläufige Bild eines Seienden, dessen Autarkie nicht aus dem dialektischen Gegensatz zu anderem resultiert. Zwar hält LEVINAS am neuzeitlichen Subjektbegriff eines notwendigen Selbstseins fest, aber das Ich bildet für ihn ebenfalls den Ausgangspunkt zur Erfahrung einer Differenz, die sich ihm diesseits seiner Vermögen darstellt. Gemäß dieser Vorgabe will LEVINAS eine die Logik des Widerspruchs außerkraftsetzende Struktur des Ich beschreiben, das, ohne dem Geschehen der Verinnerlichung untreu zu werden, gleichzeitig bei sich und offen für die Begegnung mit dem anderen seines Selbst ist: „Das Schicksal des inneren Seienden muß sich in einem egoistischen Atheismus vollziehen, den nichts Äußeres win Vgl. TU 168. '3 Vgl. insbesondere die Tagebucheintragung Robinsons vom 27. Juni; Daniel Defoe: The Life and Adventures of Robinson Crusoe. Edited with an Introduction by Angus Ross. Harmondsworth 1987. 101 f. n Vgl. dazu Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. 166

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derlegt; bei allen Bewegungen des Abstiegs in die Innerlichkeit darf das in sich absteigende Seiende sich nicht durch ein bloßes Spiel der Dialektik und in der Form einer abstrakten Korrelation auf die Exteriorität beziehen. Andererseits aber muß sich in dieser Innerlichkeit selbst, die der Genuß gräbt, eine Heteronomie ereignen, die zu einem anderen Schicksal als dem der bloß animalischen Selbstgefälligkeit aufruft." (TU 213) Interiorität und Exteriorität stehen in einer derartigen Beziehung, daß die Absolutheit des Innen zur Freiheit eines souveränen Außen wird. Mit seiner ökonomischen Existenz erreicht das Ich, dessen Subsistenz durch den erarbeiteten Besitz im Haus garantiert ist, eine vollkommene Befriedigung seiner Begierden; es erleidet weder Mangel noch erfährt es ein Defizit. Sofern das Ich der stets befriedigte Herr seiner verdinglichten Welt ist, hat es keinen Wunsch nach weiterer Herrschaft. Von dem alles dem Ich zu eigen machenden Kreislauf der Begierde und ihrer Befriedigung unterscheidet L£VINAS das Begehren, das das Ich zur Exteriorität konvertiert. Das Begehren hat seinen Ursprung nicht in der spontanen Intentionalität des Subjektes, sondern es stammt von dem Gedachten her; in sich findet das Ich die Idee des Unendlichen vor, das einen Riß des Egoismus vorzeichnet. Nach LfiviNAS gestattet die Ökonomie eines selbstversorgenden Ich das unwahrscheinliche Geschehen, daß ein schon fixiertes Seiendes mit der Idee des Unendlichen etwas enthält, das durch die bloße Kraft der Identität nicht zu konstituieren noch zu denken ist. Gegenüber der Begierde, die von dem Objekt lebt, das sie erfüllt, besitzt das Begehren keine Finalität. Das Heterogene, das das Begehren erstrebt, meint nicht ein im Wollen erreichbares Ziel; vielmehr ist es ein vom Telos des Besitzes und der Intentionalität des Begriffs freies Indefinites bzw. Unendliches. Belege für ein auf diese Weise verstandenes Unendliches findet LfiviNAS bei zwei Höhepunkten der Philosophiegeschichte, die von ihm ansonsten als die Akkumulation von Herrschaft qua Begriff kritisiert wird. Schon PLATONS Idee des Guten bezeuge ein Denken, das einen Inhalt besitzt, der das rein theoretisch-vorstellende Vermögen überschreitet. Insbesondere beruft sich LfiviNAS aber auf DESCARTES, dessen dritte Meditation über die Grundlagen der Philosophie eine Idee des Unendlichen entdeckt, die das Subjekt nicht aus sich allein hervorgebracht haben kann. Nach LfiviNAS zeigt die cartesianische Idee des Unendlichen eine Beziehung an, in der das Subjekt, statt sich dem ideatum anzugleichen, den Abstand zu ihm erhält. Dieses Unendliche im Endlichen ist der Anfang des metaphysischen Begehrens, mit dem der Mensch über die Bedürfnisse seiner naturhaften Existenz hinausgeht. Allerdings

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meint die Metaphysik des Begehrens bei LEVINAS jetzt nicht mehr im traditionellen Sinne eine Orientierung auf das Über-Sinnliche, sondern sie öffnet das Tor zu einem „radikalen Empirismus" (TU 280), der die Einsamkeit und das bloß innere Denken des Ich beendet. Dieser radikale Empirismus wird dabei so antihegelisch wie möglich gefaßt: Wäre das Ich nur das abstrakte Moment einer dialektischen Selbstbewegung und Wechselbeziehung, dann könnte sich ihm nichts zeigen, das es nicht bereits substantiell enthielte. Eine Erfahrung „des Neuen und des Noumenon" (TU 62) käme nie zustande. Vor jeder theoretischen Auszeichnung des Selben geht es LEVINAS jedoch um die Erfahrbarkeit des Unendlichen, das dem Ich zwar gegenwärtig ist, aber außerhalb des Ich gegenwärtig bleibt. Innerhalb der Ökonomie des Ich bedeutet das Unendliche einen Überfluß, der, ohne seiner Andersheit beraubt zu werden, die begriffs- und demnach herrschaftsfreien Sinne affiziert. Konsequenterweise erscheint für das auf Genuß und Besitz festgelegte Ich die Exteriorität von anderem als „ein Wunder" (TU 423), das man mit eigenen Augen erlebt. Für LEVINAS konkretisiert sich die Erfahrung des Unendlichen in Gestalt „einer Beziehung mit dem Antlitz" (TU 280). Das Andere ist damit die Unmittelbarkeit des anderen Menschen, dem das Ich von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Während das theoretische Erkennen versucht. Seiendes ans Licht treten zu lassen, indem es durch Begriffe einen Bezug zum Selben herstellt, fehlt dem Anderen jedes logische Attribut; er transzendiert eine kategoriale Deutung, die seine allgemeine Qualität enthüllen will. In der Erfahrung des Anderen wird also nicht etwas thematisiert, sondern es geschieht eine Offenbarung. Aller begrifflichen Formen entblößt, ist der Andere, der sich mit seinem Antlitz dem Ich zuwendet, „vollkommen nackt" (TU 100). Entgegen den Bedingungen, die eine Verstehbarkeit von Seiendem ausmachen, gelangt der Andere nicht im lichthaften Horizont des Ich zur Erscheinung; die Präsenz des Anderen zeigt vielmehr einen Fremden, der unvorhersehbar in den Gesichtskreis des Ich tritt. Dieser Bestimmungslosigkeit, in der der Andere ein absolut Fremder ist, liegt nach LEVINAS eine ethische Dimension zugrunde: Ein nacktes Antlitz liefert sich dem Ich aus und bUdet so die allein mögliche Materie für eine totale Negation. Der Fremde, der ungeschützt in den Herrschaftsbereich des Ich einbricht, ist das einzige Wesen, dessen Tod man wollen kann, aber seine Wehrlosigkeit macht diese Versuchung unmöglich. Hier trifft das Ich auf den ethischen Widerstand desjenigen, der „keinen Widerstand leistet" (TU 286). Die fremde Existenz des Anderen lähmt in der Weise die Egozentrik der Macht, daß er das Ich aus wehrlosen

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Augen anblickt. Seine Nacktheit verweist auf die Not eines Menschen, der — wie die biblischen Figuren des Waisen und der Witwe — der Obhut bedarf. Jedoch erschöpft sich der unbegreifbare Andere nicht in der stummen Präsenz des Antlitzes, sondern er ist wesentlich Ausdruck. Aufgrund seiner Transzendenz, durch die er ein Seiendes kat'auto wird, stiftet der Andere eine Beziehung zum Ich, indem er, wenn er sich manifestiert, dieser Manifestation beisteht. Das Antlitz spricht und macht sich als Stimme vernehmbar, die das Ich um Hilfe anruft. Ebenso wie die Offenbarung des Antlitzes die Macht des Könnens paralysierte, ist die Rede des Anderen ein vorgängig sensuelles Ereignis, das die Illusion des Ich außer Kraft setzt, Sender von Sätzen zu sein. Die Stimme bedeutet ihre eigene Botschaft, die denjenigen in die Verantwortung nimmt, der sie hört. Nach L£VINAS eröffnet die Stimme des Antlitzes eine ursprüngliche Rede, deren erstes Wort Verpflichtung ist: „keinerlei , Innerlichkeit' gestattet, der Verpflichtung aus dem Weg zu gehen. Die Rede verpflichtet zum Eingehen auf die Rede; hier ist der Anfang der Rede, den der Rationalismus herbeisehnt; die Rede ist die „Kraft", die sogar die überzeugt, „die nicht hören wollen", die Kraft also, die die wahre Universalität der Vernunft begründet" (TU 289). Im ersten Wort des Anderen erhält das Ich keine sachliche Information, weil noch nichts Gemeinsames existiert, das man mitteilen könnte. Vor einem theoretischen Diskurs, in dem man die Welt beschreibt oder thematisiert, wird an das Ich die Vorschrift gerichtet, daß es überhaupt Vorschriften gibt: „früher als die Ebene der Ontologie ist die Ebene der Ethik" (TU 289). Hier verdeutlicht und konstituiert die Erfahrung des Anderen den Sinn jeder ethischen ForderungiS; Zwar ergeht ein Appell an das Ich, aber der Andere bleibt der Nicht-Zuvereinnahmende, der der Totalisierung ein Ende setzt. Indem die ethische Beziehung die Unverfügbarkeit und damit den Abstand zum Anderen aufrecht erhält, führt sie nach LEVINAS auf ein diskontinuierliches Zeitverständnis. Die Zeit nimmt jetzt nicht mehr die Mannigfaltigkeit von Seienden in eine Einheit zusammen, die sie durch eine Reihe von Ursachen und Wirkungen entfaltet. Gegenüber der Vorstellung einer sukzessiven Ordnung der Dinge bedingt die Trennung vom Anderen ein absolutes Intervall, das durch den Bruch der Kontinuität hindurch einen Neuanfang in der Zeit möglich macht: „Das zentrale 15 Vgl. Emmanuel Levinas: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo. Graz, Wien 1986. 69: „Meine Aufgabe besteht nicht darin, die Ethik aufzubauen; ich versuche nur, ihren Sinn zu suchen."

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Geschehen der Zeit ist die Wiederauferstehung. Es gibt also keine Kontinuität im Sein. Die Zeit ist diskontinuierlich. Ein Augenblick geht nicht ohne Unterbrechung ekstatisch aus dem anderen hervor. In seiner Fortsetzung findet der Augenblick einen Tod und steht wieder auf. Tod und Auferstehung machen die Zeit aus." {TU 415) Zeit impliziert daher bei LEVINAS die sich stets aufs neue ereignende Beziehung mit dem Anderen, für den das Ich immer bereit sein muß. Eine derartige Beziehung, die nur außerhalb eines totalisierenden Geschichtsverstehens und doch bloß mit der Zeit beginnt, nennt LEVINAS durchaus doppeldeutig Religion. So meint Religion etymologisch eine interpersonale Beziehung, die allerdings die Trennung von Ich und Anderem zur Voraussetzung hat. Es ist daher eine notwendige, epistemologische Bedingung der Transzendenz, daß sich eine Beziehung außerhalb der Ganzheit nach LEVINAS in einem Empirismus von Gesicht und Gehör realisiert, die beide, da sie das ihnen Begegnende nicht berühren oder begreifen, eine gewaltfreie Distanz zu ihm wahren. Darüber hinaus erscheint im Anderen, der sich der historisierenden Zeitrechnung entzieht, der Ort einer religiösen Epiphanie. Er stelle zwar nicht die Inkarnation Gottes dar, werde jedoch „durch sein Antlitz, in dem er körperlos ist, die Manifestation der Höhe, in der sich Gott offenbart" {TU 108). An diesem Zitat findet man einen Anhaltspunkt dafür, daß sich bei LEVINAS die Vorliebe für die innovative Kraft der Metapher zu einer religiösen Bildersprache ausweitet, mit der er die Struktur der grundlegend ethischen Beziehung offensichtlich machen will. Die Tendenz, durch einen veranschaulichenden Sprachgebrauch die Herrschaft des Allgemeinen zu unterlaufen, tritt besonders prägnant dort hervor, wo LEVINAS die Asymmetrie der ethischen Instanzen verstärkt. Sofern man das Ich und den Anderen nicht als Individuen eines Gattungsbegriffs betrachten darf, der sie nur wieder zu Teilen einer umfassenden Totalität werden ließe, sind sie topologisch gesehen nicht auf der gleichen Ebene angesiedelt. Für den Anderen impliziert die Transzendenz eine Höhe, an die keine Begriffe des Ich heranreichen; er besitzt eine nicht darstellbare Erhabenheit, die das Fremdartige seiner Seinsweise aufrecht erhält. Aus diesem Grund kann das Ich auch nicht den Namen eines vertrauten Du für ihn finden, sondern der Andere nimmt bei LEVINAS Konturen des alttestamentarischen Jahwe an; er bedeutet den Herrn, der da ist und „den man in einer Dimension der Erhabenheit mit ,Sie' anredet" {TU 103). Während sich das Ich gleichsam von unten an eine Person ohne Namen wendet, spricht der Andere von einer Höhe bzw. Erhobenheit, in der die Trennung anschaulich ist. Seine Rede hat nach LEVINAS die Form einer

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Unterweisung, wie sie das Verhältnis von Meister und Schüler charakterisiert. Allerdings wäre hier zu fragen, ob LfiviNAS mit der Dimension der Höhe nicht jene Gewaltfreiheit des interpersonalen Raumes zunichte macht, die er eigentlich auf zeigen will. Ein Anderer, der aufgrund seiner Erhabenheit mit dem Ich nichts gemeinsam hat, verfügte ebensowenig über eine Sprache, in der man ansprechende Bedeutungen interpretieren bzw. vernehmen könnte. Die von dem Anderen ausgehende Unterweisung degradierte das Ich zu einem Empfänger, der blindlings dem Sprachgestus eines Befehls gehorchen muß. ln letzter Konsequenz erhielte der Meister keine Schüler, sondern Sklaven^^, die eine anonyme Stimme gefangen nimmt, deren bloßer Klang unverständlich bleibt: Mit dem Gebrauch der Metapher der Höhe lastet sich LSVINAS ein Folgeproblem auf, das seine Fundamental-Phänomenologie infragestellt. Gerade die Tatsache, daß der Andere ein absolut Fremder ist, würde ihn zum Ursprung einer neuen Gewalt, die diesmal das Ich zur Geisel machP^ und seine Selbständigkeit aufhebt, werden lassen.

IV. Hinter dieser aus der Darstellung der Philosophie LfiviNAs' erwachsenen Kritik liegt jedoch auch ein prinzipielles Problem, das das Verhältnis von Ich und Anderen betrifft. Zu seiner Verdeutlichung sei noch einmal kurz auf die ökonomische Existenz verwiesen, die beispielhaft am Inseldasein Robinson Crusoes behandelt wurde. Bei Robinson zeigt sich in der Begegnung mit dem ersten und einzigen (empirischen) Du das Dilemma, daß ein Subjekt, das seine Herrschaft installiert hat, auf diese Herrschaft nicht verzichten will. Obwohl Robinson die Hilfsbedürftigkeit eines im wörtlichen Sinne nackten Menschen empfand, hinderte ihn sein SelbstVerständnis als ,Master' daran, die Gleichheit des Wilden mit sich zu erkennen. Ein Erweckungserlebnis durch den in Lebensgefahr schwebenden Anderen, der nach LfiviNAS jede Gewalt ungültig macht, findet nicht statt. Vielmehr wird Robinson zu einem Herrn, der dem Anderen den Status eines selbständigen Subjektes nimmt. Sieht man einmal von den spezifischen Bedingungen einer Inselexistenz ab, bei der der Anschein entsteht, daß das Streben nach uneingeVgl. Jacques Derrida: Die Schriß und die Differenz. 226 Vgl. Jean-Frangois Lyotard: Der Widerstreit. 189

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schränkter Herrschaft eine anthropologische Konstante des Überlebens sei, dann lassen sich zwei weitere Fälle denken, wo sich das LfiviNASsche Axiom der Asymmetrie und Ungleichheit gegen das Ideal einer sozialen Beziehung auswirkt. Die erste Möglichkeit wäre, daß sich das Ich, das kein gemeinsames Merkmal am Anderen feststellt, von ihm abwendet. Weil damit dem Ich ein Bezugspunkt fehlt, führte die axiologische Trennung zu einer reinen Indifferenz, die die Erfahrung des Anderen suspendiert. Neben diesem relativ günstigen, unkriegerischen Fall könnte der Andere, wiederum aufgrund der Tatsache, daß er keine ontologische Bestimmung des Ich teilt, den Charakter des Fremd- oder sogar Abartigen annehmen, das als Gefahr und Bedrohung der eigenen Souveränität erscheint. Statt zu einer Begegnung käme es zu einer Konfrontation mit dem Anderen, die schließlich in dem Versuch mündete, ihn zu vernichten. Genügend Beispiele dafür, den Anderen vor dem Gerichtshof eines idiosynkratischen Überlegenheitsgefühls abzuurteilen, bieten Vergangenheit und Gegenwart politischer Unterdrückung. Formuliert man die Voraussetzung der gerade durchgespielten Kritik an LEVINAS positiv, so läßt sich sagen, daß friedliche personale und soziale Beziehungen nicht auf der zum Teil von der Theologie angeregten Hypostasierung von Ungleichheit, sondern auf dem Grundsatz der Gleichheit beruhen. Erst die wechselseitige Anerkennung gestattet die reale Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen. Während die vorschnelle Betonung der Ungleichheit entweder eine indifferente Toleranz oder intolerante Herrschaft veranlaßt, eröffnet das Anerkennen die Chance, Andersheit ohne den Wunsch nach faktischer Nivellierung sein zu lassen. Im Hinblick auf die theoretische Legitimation von Gleichheit gewinnt Hegel eine neue Relevanz, der seit seinen Jenaer Arbeiten, die Verhältnisse, aus denen der (endliche) Mensch lebt, von dem Prinzip der Anerkennung analysierte. Gegenüber LEVINAS, für den das Ich und der Andere ahistorische Pole eines Offenbarungsgeschehens sind, hat Hegels Philosophie den Vorteil eines methodischen Dynamismus; sie ist an dem argumentativen Aufweis logisch struktureller Zusammenhänge interessiert, die als Erfahrungsschritte bei der Bildung des Selbstbewußtseins durch das Prinzip der Anerkennung organisiert werden.^® Nach der von ROSENKRANZ erstmalig edierten Nürnberger Bewußtseinslehre für die '8 Vgl. dazu Ludwig Siep: Anerkmnung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg, München 1979. Insbesondere 231 ff.

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Mittelklasse hat die Entwicklung des Selbstbewußtseins Hegel zufolge drei Stufen. Auf der ersten Stufe wird das Selbstbewußtsein von der Begierde bestimmt, die darauf zielt, das Anderssein von Gegenständen aufzuheben. Zwar macht die Befriedigung der Begierde das Objekt dem Subjekt gleich, aber es kommt lediglich zu dem Selbstgefühl eines vereinzelten Ich. Um jedoch dem Begriff eines autonomen Subjektes zu entsprechen, „muß das Selbstbewußtsein sich für ein anderes als frei vom natürlichen Dasein darstellen"^^. Die Überwindung des Solipsismus der Begierde geschieht nach Hegel durch einen vitalen Prozeß: Sofern zwei Typen von Selbstbewußtsein aufeinander treffen, von denen das eine die Freiheit vom sinnlichen Dasein behauptet, während das andere das Leben in der Unmittelbarkeit vorzieht, „tritt mit dem gegenseitigen Anerkanntwerdensollen in der bestimmten Wirklichkeit das Verhältnis von Herrschaß und Knechtschaß zwischen ihnen ein"^o. In diese reallogische Struktur stellt Hegel hier auch die Geschichte Robinsons und Freitags; sie versinnbildlicht für ihn das Defizit einer Ungleichheit, derzufolge der Knecht auf das selbsthafte Fürsichsein verzichtet und der Herr „im Dienenden das andere Ich als ein aufgehobenes und seinen einzelnen Willen als erhalten"^^ anschaut. Allerdings bedeutet diese Asymmetrie, in der allein der Herr die Gleichheit mit sich erreicht, einen Mangel, der die Notwendigkeit der nächsten Stufe begründet. Obgleich der Knecht ohne Selbst ist, besitzt er immer noch den Willen, der sich in die Formierung naturhafter Gegenstände entäußert. Die Bearbeitung der Natur im Dienste eines anderen markiert für Hegel den Übergang zu einer positiven Freiheit und zum allgemeinen Selbstbewußtsein, wo der Prozeß des Anerkanntwerdens von Identität in den Zustand gegenseitigen Anerkanntseins mündet. Die Forderung nach Anerkennen wird dadurch eingelöst, daß jedes Selbstbewußtsein in den übrigen, und zwar ihnen gleich, seinen Widerschein hat. Ein solches Anerkanntsein meint nicht nur den formalen Status einer Rechtsperson, sondern sie intendiert die Einzelheit des Ich, das sich mit allen anderen ontologisch gleich und allgemein weiß. Auf dieser wesentlichen Allgemeinheit, durch die das Ich seine Partikularität übersteigt, beruht nach Hegel ebenso die private Intersubjektivität von Liebe und Freundschaft wie das öffentliche, durch Gesetze geregelte Verhalten von Staatsbürgern.

1* Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Frankfurt/M. 1970. Bd 4. 119. 20 Ebd. 120. 21 Ebd. 121.

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Jedoch denkt Hegel die Teleologie des Anerkennens auf eine absolute Struktur hin, die das, was die Zeit auseinander hält, in einem vollkommenen Wesenszusammenhang vereinigt. Wenn der Geist über die Bildung des Selbstbewußtseins hinaus den reinen Begriff von sich erfasse, tilge er die Zeit.22 Damit wirkt bei Hegel jene platonische Furcht vor der Zeitlichkeit des Vergänglichen, das er auf eine zeitlose und in sich vollendete Totalität bezieht. Indem Hegel, trotz' aller realistischen Dynamisierung historischer Gegebenheiten, einem metaphysischen Ressentiment gegenüber der Zeit verhaftet bleibt, nimmt er der Geschichte eine Offenheit, durch die sie sich zu einer unabgeschlossenen und nicht vorhersehbaren Zukunft verlängern könnte. An diesem Punkt weist LEVINAS zurecht auf eine Erfahrung hin, die vor die Kontamination der Zeit in die absolute Gegenwart der Ewigkeit die Diskontinuität des Neuanfangs setzt. Greift man die von LäVINAS für die Epiphanie des Anderen angegebenen Kriterien auf, dann scheinen sie sich in einem nicht-personalen Bereich zu erfüllen, der nicht durch die Vorbelastungen einer je eigenen Lebensgeschichte labilisiert wird. Das „ganz und gar uninteressierte Begehren" (TU 63), in dem das Ich sich auf den Anderen richtet, trifft eher für die Entstehung des Neuen zu. Eine Gesellschaft, die sich auf der Grundlage vorhandener Institutionen und Instanzen zu erhalten vermag, stellt ein in sich geschlossenes System dar; sie funktioniert als eine Totalität, deren Problem und Schwierigkeiten systemimmanent zu lösen versucht werden. In einer solchen Situation, der das Bewußtsein eines essentiellen Mangels fehlt, erfährt man mit dem Neuen einen nicht notwendigen Überfluß. Dem Begehren im personalen Bereich entspräche hier die Neugierde auf das, wie es anders sein könnte. Gegen die Beharrungstendenz eines Systems, das sich allein um die Wahrung des Status quo bemüht, bricht das Neue mit dem verbindlichen Weltbild der herrschenden Totalität. Die Hypokrasie des Glaubens an ein geschichtliches Kontinuum, auf dem die Totalität beruht, skandiert das Neue zu einem radikalen Anfang in der Zeit. Redewendungen, die z. B. vom Anbruch einer neuen Zeit sprechen, verweisen auf das Überfluten einer Epoche, deren bestimmendes Paradigma abgelöst wird. Formal gesehen, leistet der Paradigmawechsel die Veränderung kultureller oder wissenschaftlicher Perspektiven auf ein bis dato nicht Sichtbares hin, was LEVINAS eigentlich der Person des Anderen zugemutet hat. Läge demnach nicht die Zu-

^ Vgl. Phänomenologie des Geistes. GW 9, 429.

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kunft der Philosophie von Totalität und Unendlichkeit in einer Lektüre gegen ihren ethisch-theologischen Strich, durch die sie für die Analyse und Beschreibung nicht-personaler Beziehungen fruchtbar gemacht werden könnte?

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HEGEL UND DIE DINGPRODUKTION Ein Einblick in Lacans Hegel-Rezeption

Hegels Phänomenologie des Geistes trug ursprünglich den Titel „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins". Die Phänomenologie erörtert in diesem Sinne, zunächst in der Tradition der Philosophie KANTS stehend, das Bewußtsein als das Gegenüber von unbesHmmter Gegenständlichkeit als die „primitivste" Form des Geistes. Über KANT hinaus freilich wird das Bewußtsein innerhalb einer Geschichte der Erfahrung begriffen. Im Progreß seiner Erfahrung wird das Bewußtsein zum Selbstbewußtsein, dessen bestimmte Gegenständlichkeit darin besteht, das Ich zum Objekt zu haben. Erst auf einer dritten Stufe der vernünftigen Rationalität ist Hegel zufolge eine Vermittlung beider Momente als des sich selbst gegenständlichen Geistes gegeben. Diese Stufe hebt die SubjektObjekt-Spaltung auf in den Grad universaler Absolutheit, der die logische Eschatologie von Anfang bis Ende als die Wahrheit bestimmt. Das eigentliche Problem besteht also darin, wie die Wahrheit gewußt, und das Wissen wahr und wirklich werden kann. Hegel beginnt mit der Annahme einer Art „corps sans Organes"^ der reinen Materie — die freilich immer schon als Funktion des Absoluten gedacht ist. Diese Monotypie güt zwar als Identität mit sich, impliziert aber immer schon eine minimale immanente Heterogenität, insofern sie eine Identität mit sich, eine Selbstidentität vorstellig macht. Auf dieser Matrix setzt die „wunschmaschinale" Arbeit der reinen Form ein, das Moment der Differenziertheit. In Hegels Enzyklopädie liest sich dies — und damit ist sogleich eine Überleitung vom vollen Materiekörper über Animatorik zur Rationalität aufgezeigt — in folgender Weise: „Indem das Animalische real für sich, d. h. individuell geworden ist, so ist diese Beziehung auf sich unmittel-

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Gilles Deleuze, Felix Guattari: Anti-Ödipus.

1977, 15.

Kapitalismus und Schizophrenie. Frankfurt/M.

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bar Diremtion und Teilung seiner, die Konstituierung der Subjektivität unmittelbar Abstoßen des Organismus von sich selbst."^ Die genannten Extreme allerdings sind nicht unabhängig voneinander zu betrachten, sondern vielmehr in dialektischer Abhängigkeit; indem sich die Materie formiert, entsteht nach Hegel die Selbstdifferenz als Identität für sich, und indem die Form sich materialisiert, entsteht die Selbstidentität des Ansich als Differenz für ein anderes, gleiches Bewußtsein. 3 Als „vorbewußtem" Ansich kommt der materialen Körperlichkeit als Unmittelbarkeit des Geistes keine Wahrheit zu. Erst in der formierenden Vermittlung mit sich, in der sich die fürsich seiende Idealität im Ansich zeigt, mithin ein stereotypisches Verhältnis sich ausbUdet, setzt das Bewußtsein die Grundlage des Wissens und damit der Wahrheit seiner selbst. Den Bereich des „Vorbewußten" macht neben dem Vegetabien vor allem das Animale aus. Im Animalen vollzieht sich freilich eine Vermittlungsarbeit zwischen Subjekt und Objekt, die die Heraufkunft des Bewußtseins vorbereitet. „Das Tier ist zunächst auf sich eingeschränkt; dann bringt es sich auf Kosten der unorganischen Natur hervor, indem es sich dieselbe assimiliert. Zwischen „Bildungstrieb" und „Kunsttrieb" kommt das Tier so zum „Genüsse seiner selbst"^. Ein Genuß aber, der nicht wäre ohne die lebensgenealogische Erfahrung des Ekels. Ein für Hegel signifikantes Ereignis liegt in der Wahrnehmung des Exkrements: „Das abstrake Abstoßen seiner von sich selbst, wodurch sich das Tier sich selbst äußerlich macht, ist die Exkretion, der Beschluß des Assi2 G. W, F. Hegel: Enzyklopädie. §365 Zusatz. (Im folgenden zitiert als „Enz." mit Angabe des Paragraphen nach: Werke. Frankfurt/M. 1983.) 3 Die Differenz zum Topos Deleuze/Guattaris: „Abstoßen der Wunschmaschinen durch den organlosen Körper" ist freilich dort zu sehen, wo Hegels Logizismus alles vom konsumatorischen Genuß her denkt und der paralogistischen Konstruktion der „Extrapolation". (G. Deleuze, F. Gmttari: Anti-Ödipus. 103, 142, 270.) — Hegel denkt das Wegschaffen des Korporellen als Aufgang der Erkenntnis, ohne zu sehen, daß die gesamte Entwicklung seiner Erfahrungswissenschaft inklusive Logik nicht funktionieren könnte ohne die basale Verkenntnis dieses Körperlichen selber. Für Deleuze/Guattari liegt an diesem ,Ort' deshalb die „Urverdrängung" (15). Lacan hat dies vorformuliert in dem Satz: „Verdrängung. Dies wäre eigentlich das Thema der List der Vernunft" (Jacques Lacan: Schriften II. Olten 1975. 186) — Fraglos kann Lacan als einer der gewichtigsten Hegelinterpreten letzter Zeit gelesen werden. Das Verhältnis Lacans zu Hegel, dem er vielleicht sogar mehr verdankt als seiner allgegenwärtigen Berufungsinstanz Freud, scheint jedoch mit wenigen Ausnahmen (vgl. Anastasias Lipowatz: Diskurs und Macht. Jacques Lacans Begriff des Diskurses. Marburg/L. 1982. bes. Kap. V und VI) seltsam tabuisiert zu sein. Enz. § 366 Zusatz. 5 Enz. § 365 Zusatz.

Hegel und die Dingproduktion

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milationsprozesses. Indem es sich nur zu einem Äußerlichen macht, so ist dies ein Unorganisches, ein abstrakt Anderes, worin das Tier nicht seine Identität hat. Indem der Organismus sich so von sich trennt, ekelt er sich selbst an . . . Die Exkremente sind also nichts anderes als dies, daß der Organismus, seinen Irrtum erkennend, seine Verwicklung mit den Außendingen wegwirft . . Eine Prozedur, die im Bereich des Animalen für die Wegschaffung verbrauchter Mittel und die Fülle anstelle des Mangels sorgt. Neben dieser Funktion, die das Tier erkennen läßt, daß es sich im „Angesichte" seiner selbst auf sich zu besinnen, und die kosmologische Verdrängung fortzubetreiben hat. Es ist somit nicht nur wegschaffende „disjunktive Tätigkeit"^, die die Gefahr vermittlungsloser Mechanik zwischen Subjekt und Objekt ergibt, sondern insgleichen Grundlage der Selbstvermittlung: „Die andere Seite ist, daß das Tier aus sich selbst Gebilde exzerniert, aber nicht aus Ekel, zum Vonsichschaffen, sondern die Exkremente, äußerlich gemacht, werden geformt, als das Bedürfnis des Tiers befriedigend."® Hier zeigt sich ein Inversionspunkt, der in Hegels „Anthropologie" der Enzyklopädie noch leidlich namhaft gemacht wird, den die „Phänomenologie" allerdings verschließend verdichtet. Dieser Inversionspunkt markiert in gewisser Weise die genealogische Komponente des Erfahrungsurbeginns des Logos — obgleich Hegel nicht davon abläßt zu beteuern, daß es einen solchen nicht gäbe. Hegels Programm besteht nämlich gerade darin im phänomeno-logischen Blick, dem Phänomen den Logos aufzupfropfen und gleichzeitig unterzuschieben. Das sich entwikkelnde Bewußtsein ist noch vielzusehr mit der konkreten Besonderheit seiner körperlichen Matrix behaftet, die es in Allgemeinheit, wenn auch zuförderst abstrakte, zu transformieren gilt. So geht es gerade darum, die Entwicklung soweit fortzutreiben, daß die im Animalen bestehende Kontradiktion (als Kontrast) zwischen der innerlichen Bestimmung der TriebhafHgkeit und der äußerlichen der Umwelt aufgehoben wird^. Der Trick der Phänomenologie, die letztendlich das Mentale vom Animalen und der „vorbewußten" Seelenhaftigkeit befreien und jene „exkrementale Kontradikhon" im Bereich des Animalen aufheben soll, besteht in Folgendem; „In der Phänomenologie erhebt sich nun die Seele durch die

7 s ^

Ebd. Enz. § 365. Enz. § 365 Zusatz. Enz. § 381 Zusatz.

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Negation ihrer Leiblichkeit zur reinen ideellen Identität mit sich, wird Bewußtsein, wird Ich, ist ihrem Anderen gegenüber für sich. Diese Logik kulminiert in dem Satz, daß die Materie ansich keine Wahrheit in der Seele habe, diese aber als fürsich seiende sich von dieser Unmittelbarkeit ihres Seins trenne und sich „dasselbe als Leiblichkeit"ii gegenüberstelle, welches „ihrem Einbilden in sie keinen Widerstand leisten"i2 könne. Im Zusatz heißt es dann: indem die Seele zum „Gefühl dieser Beschränktheit ihrer Macht"^^ gelange, werfe sie „die Leiblichkeit als ein ihr Fremdes aus sich hinaus"^^. Hierin liegt bereits der Übergang von der noch im Animatorischen verhafteten Seele zum Ich beschlossen; durch das Reflexionsvermögen nämlich emanzipiert sich Rationalität von ontischen Fesseln und wird zum wesenhaften Ich, zur abstrakten Allgemeinheit. Angelegt zwar schon in der „vorbewußten" Seelenhaftigkeit, kommt das Bewußtsein erst zu sich als sich auf sich selbst beziehendes, ichhaftes Allgemeines, das losgelöst ist von seiner natürlichen Besonderheit als zeitlich-räumliche Einzelheit. Sterbliche Körperlichkeit erscheint somit als Funktion des Geistes einzig; als Matrix auf der sich die nunmehr in sich reflektierende Ichheit ereignet. Eine wesentliche Stufe der Selbstabsolution von Rationalität macht demnach der „Tod des Natürlichen"i5 und dessen mentale Reanimation aus. Nicht umsonst beginnt die Phänomenologie des Geistes mit den sinnlichen Verfehlungen, die sich an eine Verkenntnis just dieses Modells knüpfen. Auch das Ich, dem Animatorik, also der Begriff des Animalen, nunmehr gegensteht, ist allerdings auch Einzelheit als abstrakte Freiheit und Negativität, die nur formell als stereotypisch gesetzt gilt. Diese Kontradiktion, unvermittelt einzeln und allgemein zu sein, begründet den Absolutionssog; Fortschritt der Erfahrung des Bewußtseins. Das Ich hinwiederum muß nun in sich homogen werden; das Ansichsein des Ich, seine Identität in seinem Gegenstände zu haben, muß Wirklichkeit werden. Dies geschieht, indem das Bewußtsein das gegenstehende Andere zu einer ihm gleichen Totalität ausbildet. Die der Seele noch anhaftende Körperlichkeit der Fühlungen, wird somit isoliert zum Anderen. Hegel schreibt: „Das Ziel des Geistes als Bewußtsein ist, diese seine Erschei'0 n 12 12 w 15

Enz. § 387 Zusatz, Enz. § 412. Ebd. Enz. § 412 Zusatz, Ebd. Enz. § 376.

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nung mit seinem Wesen identisch zu machen, die Gewißheit seiner selbst zur Wahrheit zu erheben. Keinesfalls geht es Hegel darum, das Objekt und das Subjekt emanzipatorisch gegeneinander zu halten und als wie auch immer geartetes Gemeinsames gen Himmel fahren zu lassen. Hegel philosophiert so lange, bis das Objekt vollends der Gewalt des subjektivistischen Begriffs des Absoluten entspricht. Er löst die Kontradiktion innerhalb der Ichheit dergestalt, daß das gegenstehende Andere des Ichs von diesem erinnert werden müsse. Diese einzigartige Objektivitätsdurchstreichung auf dieser Ebene (Hegel wird alles wieder renovieren) kompensiert und erfüllt sich in die Erinnerung des signaten Begriffs. So wird das äußere Objekt zum erinnerbaren, zum Problem der Innerlichkeit des Bewußtseins selber. In diesem anamnestischen Raum entwickelt sich darauf folgend und schon gar damit in eins die Reflexion des Bewußtseins in sich zum Selbst-Bewußtsein. In processu stößt dann das Selbstbewußtsein sich von sich selber ab und setzt sich ein anderes Selbstbewußtsein entgegen. Durchbricht es auch diese zunächst abstrakte Struktur der Stereotypie „Selbstbewußtsein vs. Selbstbewußtsein", so überführt es sich in die Freiheit, Wahrheit und das Wissen des allgemeinen Selbstbewußtseins — eine lange Reise, die die beiden Geschlechter von Mann und Frau nicht gemeinsam antreten werden. Dies können sie auch gar nicht, denn die Frau ist bereits weit zurückgeblieben: „Der Unterschied zwischen Mann und Frau ist der des Tieres und der Pflanze: das Tier entspricht mehr dem Charakter des Mannes, die Pflanze mehr dem der Frau, denn sie ist mehr ruhiges Entfalten"!^ — woraus Hegel vor allem dann eine Gefahr wittert, wenn eine Frau an der Spitze des Staates stünde. An einer anderen Stelle doziert Hegel über den Tod und über die Pflanze: „Im Geschlechtsgegensatze sterben unmittelbar nur die ausgesonderten Geschlechtsglieder, — die Pflanzenteile; sie sterben hier durch ihre Einseitigkeit, nicht als Ganze; als Ganze sterben sie durch den Gegensatz der Männlichkeit und Weiblichkeit, den jedes an ihm selbst hat. ... so ist nun jedes Individuum selbst die Einheit beider Geschlechter. Dieses aber ist sein Tod . . Das Ganze wäre nicht mehr als eine putzige Analogie, die dem Mann wenigstens noch, bei aller animalen Partikularität, den Trieb in der Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt ließe, wenn nicht Hegel das§ 416. G. W. F. Hegel: Grundlinien Enz. § 375 Zusatz. Enz.

der Philosophie des Rechts.

§ 166 Zusatz.

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jenige, was er von den Pflanzen behauptet, just auf die Frau in ganz direkter Manier anwenden würde. Wegen einer ursprünglichen Identität liegt nämlich, wie Hegel ausführt, „den männlichen und weiblichen Geschlechtsteilen derselbe Typus zugrunde, nur daß in den einen oder anderen der eine oder der andere Teil das Wesentliche ausmacht; beim Weibe notwendig das Indifferente, bei dem Manne das Entzweite, der Gegensatz."!^ Die einfältige Substanz auf Seiten der Frau, die sich nicht zum Subjekt zu erheben im Stande sei, beschreibt Hegel nun indirekt mit dem gewohnten Genealogieanriß, ohne allerdings denselben zu vertiefen (—im Gegenteil, Hegel ist immer bemüht, die Differenz zu einer verschlossenen Subjektfunktion aufzuheben): „Die Pflanze ist ein untergeordneter Organismus, dessen Bestimmung ist, sich dem höheren Organismus darzubieten, um von ihm genossen zu werden, Dieser höhere Organismus, so wird im gleichen Zusatz ausgeführt, ist nun eben das Tier. Der tierische Mann mithin. Den selbstgewählten Gesetzen der Dialektik zufolge muß sich dieses Verhältnis perpetuieren, das die Frau darstellt als ein Wesen, an dem der Mann schmarotzt; das er immer schon konsumiert hat, bevor er mit seinen knechtischen Fertigungen, seinem wahren Machen, beginnt. Auf der Stufe des Bewußtseins jedenfalls wiederholt sich dieser wohlgeregelte „double-bind", indem das Ich „mit den äußeren Gegenständen in Kampf sich begibt"2i. Dies ist nach Hegel so recht etwas „Höheres" als die kindlich-einfältige und „ohnmächtige natürliche Seele, in welche, eben wegen ihrer Ohnmacht, die . . . Krankheitszustände fallen."22 Nimmt es noch wunder, wenn Hegel nun von den Krankheiten schreibt; von „Krankheiten, z. B.

Enz. § 369 Zusatz. — Im Rahmen seiner Kant-Interpretation versucht Emge gegen Kants Eigentumsbegriff im Eherecht den Liebesbegriff Hegels geltend zu machen. Die „sittliche Vereinigung", so wie er sie bei Hegel namhaft macht, ist jedoch längst nicht geeignet, den Moralismus Kants zu quittieren (vgl. Carl A. Emge: Das Eherecht Immanuel Kants. In: KantStudien. 29 (1924), 253, 276), was sich aus dem Angeführten verdeutlicht. Der Versuch Hegels stellt eher ein Denkuntemehmen dar, das die transzendentalphilosophischen Ungereimtheiten subtilisiert und darin zu absorbieren vorgibt. Zumal Emge — der gänzlich irrt, wenn er glaubt, Hegel gestatte nur um der Frau willen den „Vollzug" der Liebe einzig in der Ehe (258) — die Konstitutivität der Sexusdifferenz für das philosophische Denken der Vormoderne gänzlich außer acht läßt. Enz. § 349 Zusatz. Enz. § 413 Zusatz. 22 Ebd.

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der weiblichen Entwicklung"23 — vvas im Zusatz präzisiert wird als „der Zustand der Schwangerschaft"^^? Die Schwangerschaft ersetzt Hegel desgleichen beholfen, wie alles andere der Absolutionsentropie Hinderliche. Aus dem Gesagten wird schon klar, daß der Frau die Sterblichkeitsschuld und der Ausbruch der Lüsternheit beim Manne zufallen wird. Sie trägt die Schuld, während er über genügend Mittel zu verfügen scheint, sich all dem zu widersetzen. Er inszeniert ein Begehren, das sich vom Fleisch soweit entfernt, wie es sich der göttlichen Allselbstbewußtheit nahe wähnt. Hierin ist Hegel KANT auf den Fersen und dessen Passagen über die Grundsatzlosigkeit der Frauen — im Gegensatz zum Manne, dessen Grundsätzlichkeit durch Entwicklung und Prüfung, also durch „Arbeit''^^ erfahrbar wird. Was also bewerkstelligt „der Mann" Hegels? Wenn er nicht arbeitet, dann kämpft er, und wenn er nicht kämpft, dann arbeitet er . . . Hegel beschreibt in den Grundlinien der Philosophie des Rechts das Geschlechterverhältnis mit folgender Sequenz; „Der Mann hat . . . sein wirkliches substantielles Leben im Staate, der Wissenschaft und dergleichen, und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst, so daß er nur aus seiner Entzweiung die selbständige Einigkeit mit sich erkämpft, deren ruhige Anschauung und die empfindende subjektive Sittlichkeit er in der Familie hat, in welcher die Frau ihre substantielle Bestimmung und in dieser Pietät ihre sittliche Gesinnung hat. "26 Obzwar dieser Satz prima vista recht einfältig anmutet, führt er ins Zentrum der Philosophie Hegels. Kaum nur handelt es sich um eine in historisierender Hinsicht zu problematisierende Marginalie, deren semantische Implikationen längst sich im Prozeß der Geschichte gewandelt hätten. Mag letzteres zwar im Hinblick auf die konkrete (Arbeits-) Welt der Fall sein, so ist es dies doch längst nicht als synchronische Abstraktion. Diese bestimmt sich bei Hegel aus der Tätigkeit des Mannes als Kämpfender und als Arbeitender. In diesem Verstände wird das so bekannte wie verkannte Modell von „Herrschaft und Knechtschaft" einer erneuten Lektürebemühung unterzogen werden müssen. Die Begriffe „Kampf" und „Arbeit" sind maskulinitätsimmanent verwandt: der Mann, der catonisch mit sich selber im Gefecht liegt, derweil die Frau 23 2^ 25 393. 25

Enz. § 406. Enz. § 406 Zusatz. Immanuel Kant: Werkausgabe. Hrsg. v. W. Weischedel. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1982. Bd 6. Eiegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 166.

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daheim — herd- und erdverbundene Antigone — der substanziellen Bestimmung mittels Empfindung huldigt. Wie also gestaltet sich die Deduktion des Politischen aus der Erfahrung des Bewußtseins, das nunmehr explizit und darin vollends sich als männliches prostituiert? In erster Instanz war das Selbstbewußtsein ein — wie alle anderen Bewußtseinsstufen auch — begehrendes Bewußtsein, das das Begehren leitete, seinen Gegenstand zu verzehren. Von Mann zu Mann funktioniert dies aber, wie sich zeigt, offenbar nicht so einfach, wie von Mann zu Frau. Würde das Selbstbewußtsein seinen Gegenstand, der ein anderes Selbstbewußtsein ist, einfach konsumieren, handelte es nicht der Logik seines Begriffes zufolge — denn schließlich ist es selbst ein Selbstbewußtsein. Bis es aber dies versteht, und es daraus die Konsequenzen der Anerkennung und Versöhnung mit sich zieht, bleibt es verhaftet in dem imaginären Stereotypiemoment der gewalttätigen Opponierung gegen sein Anderes, das doch nur die Dedoublikation seiner selbst ist. Die Selbstbewußtseine verhalten sich also kämpfend auf Leben und Tod zueinander. Ein notwendiger Prozeß, denn ohne den Kampf mit seinem Double kann das Selbstbewußtsein sich nicht seiner selbst dergestalt gewiß werden, daß es seine Vermitteltheit mit dem jeweils anderen erkennt. Risiko und Spieleinsatz dieses Verhältnisses ist die korporelle Matrix des Bewußtseins selber. Darin freilich nun erkennen sich die Kämpfer als noch nicht freie, denn sie sind abhängig von „residualer" Materialität. Der Tod allerdings, der hier droht, ist nicht der reale Tod, sondern immer schon die bloße Aufhebung der natürlichen Fesseln. Dies erhellt daraus, daß der Sieger den Unterlegenen nicht tötet (dies widerspräche dem Begriff), sondern ihn zum Knecht macht, um diesen Dinge herstellen zu lassen, die des Herrn Konsumafionsbedürfnisse befriedigen. Ausgehend von dieser stabUierten Harmonie (der sehr wohl ihr „prae-" eignet), entwickelt Hegel die soziale Organisation und die einstweilige Beantwortung der Wahrheits- und Wissensfrage. — Um nun aber mit einem Umweg fortzufahren: LACAN bezieht sich in seinen Schriften und Seminaren des öfteren auf Hegel, den er teils affirmativ, überwiegend aber kritisch rezipiert hat. LACAN zufolge steht das Denken FREUDS in keiner anderen Tradition als der „der Dialektik des Selbstbewußtseins, wie es sich von SOKRATES bis Hegel entfaltet"^^. LACAN schreibt deshalb, daß es unstatthaft sei, „die Strukturmomente der

27 Jacques Lacan: Schriften I. Frankfurt/M. 1975. 134. Vgl. auch Schriften UI. Olten 1980. 148; Schriften II. Olten 1975. 216; Das Seminar von Jacques Lacan. Buch I. Olten 1978. 281 ff.

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Hegelschen Phänomenologie außer acht zu lassen: zunächst vor allem die Dialektik von Herr und Knecht"^». Die hier folgenden Überlegungen stellen in dieser Direktive einen Versuch dar, Hegel mit FREUD ZU lesen, um den letzteren hinwiederum mit dem ersteren kritisierbar zu machen. LACANS Ansatz und seine Kritik am Denken Hegels kulminieren in der Auffassung vom Absoluten als Sprache, welche das Subjekt immer bereits unterworfen habe^^. Zugespitzt, formuliert sich seine Kritik innerhalb einer Kritik des Freiheitsbewußtseins subjektiver Vigilanz, so wie sie Hegel proklamiert. Im Folgenden gilt es diese Wendung LACANS gegen Hegel weiterzutreiben. Richtungsweisend wird dabei das im Rahmen der pathognostischen Lektüre RUDOLF HEINZ' genealogierelevante „Dingphantasma" sein. Die Bedeutung eben des dingphantasmatischen Verschlusses von Hominisationsgeschichte (sei diese auch strukturell verstanden) zeigt Hegel in seiner phänomenologischen Analyse des Herr-Knecht-Verhältnisses an — freilich um den Preis, den Verschluß um Etliches zu perfektionieren: Hegels Mysteriengeschichte sinnlicher Verfehlungen, wie sie in der Phänomenologie des Geistes ausgeführt ist, entspricht recht genau der oralen Phase innerhalb der psychoanalytischen Erfahrung.^o Bei Hegel läutert sich das Absolute in die Sphäre des Selbstbewußtseins. EREUD folgt der strukturalen Erfahrungswissenschaft im Begriff der prägenital-analsadistischen Organisationskategorie. Das Selbstbewußtsein artikuliert sich auf dieser Stufe der Erfahrung bekanntlich imaginär, verzehrt sich transitivistisch im Kampf mit seinem Double, bleibt befangen in der Stereotypieform^i. Narzißmus und direkt gelebter Todeskomplex kennzeichnen dieses präödipale Umfeld phänomenal. In der Psychoanalyse besteht nun der selbstgenealogische Inversionspunkt im Ödipuskomplex und dessen symbolinauguriertem Untergang in der Punktion väterlicher Observanz32. Bevor Hegel seinerseits einen ähnlichen, Anerkennung und Versöhnung verheißenden Diskurs beginnt, setzt auch er einen Inversionspunkt: ebenjenes Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft. Um dieses geht es hier insofern, als dort alles nur läuft über die

28 29 88 logie 81 32

Lacan: Schriften I. 135. Ebd. 136, 230. Vgl. Sigmund Freud: Studienausgabe. Frankfurt/M. 1982. Bd 1. 532 ff. — Hegel: Phänomenodes Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 5. Aufl. Hamburg 1952. Kap. A I. Lacan: Das Seminar. Buch I. 218. Ebd. 219.

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Funktion der Produktion von Dingen inklusive des Rechts auf Konsumation derselben. Sogleich kann Hegel entgegengehalten werden, daß sich sein hoffnungsvoller Moralismus^^ — historisch zumal — schlicht nicht erfüllen kann, denn das Verhältnis von kognitiver Exekutive und Legislative vermag als Selbstbegründungsphantasma die Phase des Sadismus (diesseits der Perversion), der verfehlenden, unselbständigen „Wahrheit der Gewißheit seiner selbst"34^ nicht zu quittieren. Und die von FREUD monierte, der Phänomenologie nahe, „Aufhebung der Sonderexistenz des Objekts"35 verbleibt strukturgenealogisch im Rahmen eines bloß verhüllten Kannibalismus^ö. Insofern aber an diesem Produktionsschemen der relevante Hominisations- und Zivilisationsursprung liegt, kommt der Dingproduktion erste Aufmerksamkeit zu. Sie markiert das „Aufkommen" von rationalisierter Kultur selber; bzw. die Aneignung der Produktivkraft seitens des patriarchalen Gesamtsozius. Diese negativierende Bewegung des Fürsichseins, die drängende Rationalisierungsprogredienz des Begriffs, ist IRIGARAY zufolge als idealisierendes Selbstbegreifen des, sich die eigentlich frauliche Lebensproduktivkraft aneignenden männlichen Sozius zu verstehen. Das Leben nämlich erscheint im Diskurs Hegels immer als idealisches, indem — dies ist FICHTE nicht unähnlich, der zu sehen vorgibt, wie das System von sich aus Leben entfalte — das Selbst vorgibt, den Begriff „durch seine eigene Natur, d. h. durch das Selbst als das seinige, sich bewegen zu lassen und diese Bewegung zu Vgl. Hegel: Phänomenologie (wie Anm. 30). 58. 34 Ebd. Kap. B IV. 35 Freud: Studienausgabe. Bd 3. 101 3* Freud: Studienausgabe. Bd 5. 287; „Man will die Mutter auffressen, von der man sich genährt hat". — Vgl. Jacques Attali: Die kannibalische Ordnung. Frankfurt/M., New York 1981. Attali zeigt, daß der Begriff „Kultur" gleichbedeutend mit dem hominisationslogischen Begehren ist, das „Kannibalische" zu verwerfen. Dies aber kehre wieder unter der Regie des Codes, der Subjekt und E)ing zunehmend indifferenziere. Ein Beispiel dafür sei die Wiederkunft des kannibalischen Konsums in der Organtransplantation. Die künstlichen Organe seien dabei Lebendigkeitskopien gleich dem Subjekt. Um den Tod zu vertreiben, müsse das Gesunde konsumiert werden, — Selbst Kant schreibt in der Metaphysik der Sitten, daß „der fleischliche Genuß dem Grundsatz (wenngleich nicht immer der Wirkung nach) kannibalisch" sei {Kant: Werkausgabe. Bd 8. 483 f). Generationendifferentiell sei dabei die Frau betroffen, die vom Kind konsumiert würde, aber sexusdifferentiell sei es einzig der Mann, der sich vor dem scheint's fraulichen Vamp(ir) zu hüten habe. Ihm nämlich drohe „von öfteren Ansprüchen des Weibes an das Geschlechtsvermögen des Mannes herrührende Erschöpfungen aufgezehrt" (ebd.) zu werden. Kant kommt so wenig wie Hegel — nicht einmal im Anschluß an die zitierte Passage über den kindlichen Verzehr — darauf, daß das kannibalische Verhältnis, wenn es namhaft gemacht wird, viel eher die Partizipation am fraulichen Körper betrifft.

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betrachten. "37 Wenn IRIGARAY zwar in diesem Punkt zugestimmt werden muß, so gilt es doch ihre aufschlußreiche Interpretation Hegels, in der „der weibliche Knecht, ohne eigenes Selbst"^^ zur Sprache kommt, zu präzisieren. Wie sich zeigen wird, entspricht die dienende Funktion des Knechts keinesfalls der Frau; aus dem Genannten erhellt, daß diese „Weiblichkeit" mit männlicher Produktion selbst zu tun haben muß. ln dieser Hinsicht ist die Produktion des Dings in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen, weil die gängige Konsumationslust des Selbstbewußtseins (nicht bloß erst der final-nachträglichen Funktion des Herrn) ein strukturelles Apriori des singulären Bewußtseins vorgibt, das sich in der politischen Organisation vergessen macht. Da der Begriff des Selbst-Bewußsteins bereits in sich den Negationsmagnetismus zum Absolvierten trägt, zeitigt den Begriff selber immer auch schon der Verschlußcharakter von Repräsentiertheit. Zum anderen im Hinblick auf die Todesanimation des „wahren Selbstbewußtseins" (das knechtische), dessen Angst — „die Furcht des Todes"^^ — eingeht in die Dingproduktion. Diese Angst muß so unterdessen in den Dingen selber stecken (jene „erste Angst" ARTAUDS: Sterblichkeit von Animatorik^O) p)je Angstphantasie vom „zerstückelten Körper"^!, die sich auf der Ebene des analsadistischen Imaginären erhält (dem unselbständigen Selbstbewußtsein mithin) findet sich mit der Abwehr derselben wieder als repräsentationsimmanenter Entropiesog: Homogenisierungscrescendo partieller Objekhvitätsstereotypen auf der res-extensa-Seite und einschlagende Wiederkunft auf der cogitionalen Seite."*2 Hegel: Phänomenologie (wie Anm, 30). 48. ^ Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt/M. 1980. 279. Vgl. auch Edmond Ortigues: Reflexions sur la Theologie de Gaston Fessard. In: Revue de Metaphysique et de Morale. 66 (1961), 320 ff — Auch Adorno hat die „Dialektik von Herr und Knecht" auf die geschlechtsdifferentielle „Ordnung des Hauses" angewandt (Theodor W. Adorno: Schriften. Bd 4. Frankfurt/M. 1980. 195 [Minima Moralia, § 111]). — Detailliert wird dieses Interpretationsmodell von K. Böhme ausgeführt (Karin Böhme: Zum Selbstverständnis der Frau. Philosophische Aspekte der Frauenemanzipation. Meisenheim/G. 1973. 39 ff). Im Rahmen der Interpretation sind diese Ausführungen fraglos stimmig (und es ist sehr wohl sinnvoll die Applikation des Herr-Knecht-Modells auf das Mann-Frau-Verhältnis anzuwenden und zu durchdenken), wiewohl andererseits dieselbe nicht zuläßt, das knechtische Bewußtsein als mannsimmanente Simulation lesbar zu machen. Diese Bewußtseinsform nämlich bezeichnet nichts anderes — jedenfalls insofern es von Hegel als das wahre bezeichnet wird — als einen „Substantiationsprozeß" innerhalb des männlichen Kollektiv-Narzißmus. Folgend wird diese Logik beschrieben. Hegel: Phänomenologie (wie Anm. 30). 148. ^ Antonin Artaud: Briefe aus Rodez/Postsurrealistische Schriften. München 1979. 145 Vgl. u. a. Lacan: Schriften I. 67 ^2 Ein dialektischer Unitarismus, so wie ihn Hunke im Hinblick auf Hegel fordert, verdeckt die genannten Mißverhältnisse eher, als daß er sie offenlegt. Die Freiheit, die sie von

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Es bleibt festzuhalten, daß FREUD die Dingproduktion so wenig bedenkt, wie Hegel die Unmöglichkeit des Untergangs des Sadismus. Andererseits aber zeigt sich eine Homologie zwischen beiden Philosophietexturen, die die Todeskomplexlehre FREUDS und LACANS mit Hegels Indizierung der Dingproduktion verbindet: Der „eigentliche Sadismus" bei FREUD stellt, wie RUDOLF HEINZ nachgewiesen haU^, eine Expremationstendenz, eine Veräußerlichung des Todeskomplexes dar (der „Ursadismus" und „primären Masochismus" in eins vorstellig macht). Diese Expremation ist nicht nur imaginär-destruktiv und direkt konsumatorisch, sondern desgleichen als desexualisierte Libido (Vermischungsproblematik) sehr wohl produktiv, denn die aus dem Todeskomplex abgeleiteten Destruktionstriebe werden „zu Zwecken der Abfuhr in den Dienst des Eros gestellt"^. Sie dienen damit dem Aufbau komplexer Objektivitätssysteme, die allerdings ihre Abkunft vom Todeskomplex nimmer durchstreichen^s. Auf Hegel rückgewandt bedeutet dies, daß auch die scheinbare Purifikation des Bewußtseins innerhalb der Erfahrungsstufe der Dingproduktion und darüber hinaus keinesfalls ein Verlassen des Imaginären meinen kann, sondern bestenfalls ein Verschleiern, das den imaginären Kampf der unselbständigen männlichen Geschlechtsgenossen verschiebt auf die Frau, die nun, darin dem Dinge gleich, denselben latent werden läßt, indem sie ihn repräsentiert. Zwei Bestimmungen des angezeigten mannsintemen Verhältnisses sind folgend relevant. Zum einen eben der Kampf und darin insbesondere die Funktion des Todes; zum anderen die Arbeit und darin insbesondere die Funktion des Mächens von Dingen. Den narzißtisch-imaginären Kampf charakterisiert Hegel wie folgt: Zwar geht es um Leben und Tod, aber das Selbstbewußtsein gefährdet sich und sein Double nur, da seine Idealität zur Freiheit des Begriffs nicht seinen Untergang fordert, sondern im Gegenteil sein Zu-sichselbst-kommen. Der reale Tod würde demnach nur die immanente Konder Gotteserfahrung abhängig macht, ist tatsächlich nichts denn Agententum für's BCritisierte (Sigrid Hunke: Der dialektische Unitarismus. In: PhUosophinnen. Von wegen ins 3. Jahrtausend. Jahrbuch 1 der Internationalen Assoziation von PhUosophinnen. Mainz 1982. 10 ff). ■*3 Rudolf Heinz: Omissa aesthetica. Phüosophiebeiträge zur Kunst. Essen 1987. 68; zum Problem vgl. Shame and Scandal in the Family. In: Die Eule. Diskussionsforum für rationalitätsgenealogische insbesondere femiiüstische Theorie. Hrsg. v. Heide Heinz. Sondernummer. Lollar 1982. 85 ff; Was ist Patho-Gnostik. In: KAUM. Halbjahresschrift für Pathognostik. Wetzlar 1984. Nr. 1. 10 ff ^ Freud: Studienausgabe. Bd 3. 308 ^5 R. Heinz (vgl. Anm. 43).

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tradiktion dieser Bewußtseinsstufe potenziert fortschreiben: das Selbstbewußtsein würde sich selbst bis zur Nichtigkeit konsumieren. Pointe des Ganzen ist somit das AngesichHgwerden natürlicher Selbstressourcen als unwesentliche. Der Sieger kann sich vom Toten nicht anerkennen lassen, er hat den Konflikt zwar abstrakt gelöst, nicht aber im Hinblick auf die über diese Negativität hinaus zu erwartende höhere Positivität der Anerkennung. Insofern das Gegenüber nicht durch die Begierde verschlungen wird, bleibt der Kampf bloße Erscheinung, nicht aber ist er Substanz des Sozialen. Das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft wird sich deshalb etablieren, weil der Herr der Anerkennung bedarf und sich vor dem Verlust derselben geradezu fürchtet. Der Knecht ist nun nicht nur abhängig vom Bewußtsein des Herrn, dieser wird für ihn auch der Stellvertreter des Todes; aber eben nur dieser, denn er, der Knecht hat im Kampf erfahren, was es heißt, Angst vor dem Tod zu haben. Sein Selbstbewußtsein „hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn empfunden"^ — ein aber, wie angezeigt, funktionell beshmmter Tod, der das knechhsche Bewußtsein animatorische Fühlung erleiden ließ, doch nur, um diese um so geschickter wieder passieren zu lassen, indem der LACANsche „Trick" sich inszeniert: das knechtische Bewußtsein wartet auf den Tod des Herrn^^, ohne Interesse daran haben zu müssen, daß dieser wirklich stirbt. LACAN schreibt dazu: „Jenseits des Todes des Herrn wird er [der Knecht] dem Tod die Stirne bieten müssen, wie jedes völlig realisierte Wesen, und im HEiDEGGERschen Sinn, sein Sein-zum-Tode annehmen. Der Zwangscharakter nimmt sein Sein-zum-Tode eben nicht an, er lebt im Aufschub. "48 Jener Zwangscharakter markiert freilich nur die Kulminationsspitze des ohnehin im Normalen Präsenten, den grundsätzlichen Aufschub von Sterblichkeit/Endlichkeit innerhalb der Ordnung der Bewußtseinsrepräsentationen. DERRIDA hat in seiner Philosophie der „differance" weidlich darüber gehandelt.49 Für DERRIDA ist der Aufschub, der gegen den Hegelschen Terminus „Aufhebung" gedacht ist, allerdings ein Mo^ Hegel: Phänomenologie (wie Anm. 30). 148. Lacan: Schriften I. 160 f; Schriften 11. 186; Das Seminar. Buch 1. 35 Lacan: Das Seminar. Buch 1. 360; vgl. Schriften 1. 160 f. ** Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1976. bes. 302 ff (Kap.: Freud und der Schauplatz der Schrift); Randgänge der Philosophie. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976. 6 ff (Kap.: Die differance); vgl. 101 ff; dazu Klaus Englert: Frivolität und Sprache. Zur Zeichentheorie bei Jacques Derrida. Essen 1987. 56 ff. — Kojeve hat bereits innerhalb seiner sehr zu ihrem Nutzen recht eigenwilligen Hegel-Interpretation formuliert: „Das menschliche Leben" sei „ein aufgeschobener Tod" {Alexandre Kojeve: Hegel. Frankfurt/M. 1975. 240)

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ment, das sich ausschließlich innerhalb der von LACAN SO genannten „symbolischen Ordnung" (freilich als Reales selber) abspielt. Dem ist entgegenzuhalten, daß der Aufschub als Bewegung innerhalb der Artikulationen der Lebens-Todes-Differenz sehr wohl noch bestimmt ist von den stereotypischen Weisen des Imaginären; was sich darin zeigt, daß der Knecht eben auf den Tod des Herrn wartet. Da dort sich Imaginäres und Symbolisches vermischen, wird diese Extrapolation hier „Halluzinatorik" genannt^o. Letztlich ereignet sich diese im Felde der Begierde, des Begehrens, des Wunsches usw., so wie sie KOJEVE in seiner immer noch brillanten Hegel-Interpretation zusammenfaßt: „Die Begierde nach Anerkennung ist die Begierde nach einer Begierde, d. h. nicht nach einem gegebenen (= natürlichen) Sein, sondern nach der Gegenwart der Abwesenheit eines solchen Seins. Diese Begierde transzendiert also das natürlich Gegebene, und insoweit sie wirklich wird, erschafft sie ein transnaturales oder menschliches Sein. Aber die Begierde wird nur soweit wirklich, als sie mehr Gewalt als das natürlich gegebene Sein hat, d. h. insoweit sie es zunichte macht." Es handelt sich demzufolge um ein „Zunichtewerden des Animalischen''^^. Innerhalb des halluzinatorischen Phantasmas ereignet sich also gerade die Renovation der „natürlichen" Welt in die rationalisierte, künstliche. Diese erscheint dann — darin mit ihrem Wesen deckungsgleich — als die wahrste aller möglichen Welten. Ein Phantasma, das das subjektive Selbstbewußtsein allemal über dessen Funktion im Unklaren läßt, es gar täuscht und als Aufzeichnungsmaschinerie seine Epiphanie erst in der Funktion des Mächens des Dings erfahren wird. Es „spricht" von jenem dritten Ort aus, auf den hinzuweisen LACAN nicht müde wird; dem Ort des Anderen, dem Ort des Todes gar selbst, der den rein männlichkeitsimmanenten „Pakt"52 ermöglicht, welcher die Modi des Imaginären zu transformieren gewährt. Bei LACAN entspricht dies der Überführung des 50 Die Differenziemng in Symbolisches, Imaginäres und Reales, die durch Lacan in die philosophische Terminologie geriet, stammt von Ferenczi, welcher damit in psychologielastiger Weise den Koitus von seiten des Mannes zu bestimmen sucht. Symbolisch verhielte sich das Organ, imaginär der Körper und real einzig das Exkrementierte. Der Begriff des Halluzinatorischen steht bei Ferenczi in eins mit „imaginär". Innerhalb dieser Untersuchung aber verweist er auf eine Indifferenz von Imaginärem und Symbolischem dergestalt, daß sich der Kampf substanziell nicht vom vermeintlichen Frieden differenzieren läßt. Im Hinblick wiederum auf Realifät meint dies nichts anderes, als daß das als Konstruktion „exkrementierte" Ding nun die tödliche Bedrohung „enthält", ln gewisser Weise wird dieser Begriff hier also anders verwandt als im üblichen Sinne. Meint der vulgäre Begriff „etwas sehen, wo nichts ist", so hier im Gegenteil: „etwas nicht sehen, wo etwas ist". 5' A. Kojme: Hegel (wie Anm. 49). 257. 52 Lacan: Schriften II. 184 f

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Phantasmas in die Simulation, die darin sich aller Materialitätsresistenz entzöge; ein Vorgang, der insofern erneut zu überprüfen ist, als die Logik von Herr und Knecht gerade nicht ist ohne verarbeitete und formierte Materie. Dieselbe imponiert sogar in einem erheblich stärkeren Maße als beispielsweise in dem für die Theorie des Imaginären klassischen Spiegelstadium, innerhalb dessen doch die phantasmatische Reflexion ihre materielle Reflektionsmatrix verschwinden macht. Die zweite Bestimmung des mannsinternen Verhältnisses liegt, Hegel nachgedacht, in der Arbeit bzw. im Verfahren des Mächens von Dingen. Das biazematische Erscheinungsbild (Gewalt) der selbstbewußten Interaktionen nimmt sich im Transfer zum Allgemeinen Selbstbewußtsein zurück. Der aus dem Kampf hervorgehende Sieger, der Herr, ist nun insofern unwesentlich, als das für ihn unwesentliche, knechtische Bewußtsein seine Wahrheit ausmacht. Der Herr ist demnach nicht zur vollen Entfaltung seines bislang ideell gesetzten Fürsichseins gelangt. Hegel führt aus, daß die Wahrheit dergestalt dem knechtischen Bewußtsein zukommt^3^ jjaß dieses einzig seine imaginär-unmittelbare Selbstgewißheit aufhebe. Die wahre Gewißheit des Wissens und der Wahrheit, die die cartesianische Gewißheit darin übersteigt, daß sie nur über die Vermittlung mit anderem wahrhaft wird, bildet sich beim knechhschen Bewußtsein durch die zunächst so erscheinende Unfreiheit. Vermittels derselben aber wird der Knecht, der sein Sein erst über das andere Bewußtsein des Herrn erlangt, zur wahren Freiheit eleviert. Das wesentliche Transformationsmoment liegt dort in der Arbeitskraft, die der Knecht dem Herrn zur Verfügung zu stellen hat. Die Arbeit wird für den Herrn geleistet, weshalb der Knecht zum Aufschub seiner Begierde genötigt wird; er selbst kann das Ding, das er hergestellt hat, nicht konsumieren, ohne die Gewalt des Herrn fürchten zu müssen — eine Gewalt, die unterdessen eine nicht mehr direkte Todesbedrohung darstellt. Der Knecht „arbeitet"54 seine imaginäre Willkürlichkeit ab und hebt „die innere Unmittelbarkeit der Begierde auf"^^ Durch diese Einschränkungen ebnet er erst den Weg zum wahren, allgemeinen Selbstbewußtsein und der Selbstvollendung absoluter Rationalität. Er allein komme in der Herstellung des Dings zu einer Reflexion des Beständigen, der Kontinuität.

53 Hegel: Phänomenologie (wie Anm. 30). 147 54 Enz. § 435. 55 Ebd.

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Zwei Aspekte gehören hier unauflöslich zusammen: die Furcht und das Herstellen^ö — die Furcht freilich, die zunächst durchaus Anklänge schon an einen existenzialistischen Begriff von „Angst" hervorruft, wandelte sich von ebendieser Todesangst in die bloß noch gegenständliche Furcht vor dem Herrn, die nunmehr sich mit dem Machen verbindet. Eine Furcht, die sich gänzlich zu transsubstantiieren scheint in der Progredienz der sittlichen Ordnung — und hierin bestätigt sich die Vermutung LACANS mindest, daß der Pakt allen Kämpfen vorausginge —, die Herrn und Knecht zu einer republikanischen Politbruderschaft assoziiert. Hegel zufolge nämlich hat der Herr inzwischen Einsicht gewonnen, bedroht seinen Knecht nimmermehr und ist ihm väterlich-versöhnlich verbunden57. So wird der Tod um so mehr verbannt, und der Herr wird recht eigentlich zu einer Funktion des knechtischen Bewußtseins, womit sich auch der Aufschub funktionalisieren wird, der zwar das Leben erhält, von dem aber noch zu bestimmen ist, innerhalb welcher Modi er dies zu leisten gewährt. Zunächst sind sowohl das Bewußtsein des Herrn, wie das des Knechts über das Ding definiert. Das erstere aber bezieht sich konsumatorisch direkt auf dieses, welches es in der verzehrenden Begierde negiert. Das knechtische Bewußtsein hingegen vermag das Ding nicht zu konsumieren, es ist ihm etwas anderes geworden als das natürliche Sein; dasjenige, durch welches das Bewußtsein des Herrn es selbst beherrscht. So aber löst es sich von den Bindungen an den Herrn und damit auch von dem direkten Bezug auf das Ding. Dem Herrn bleibt so zwar das Genießen, nicht aber jenseits der Wahrheit des Verhältnisses, das sich aus dem Zusammenspiel des knechtischen Bewußtseins mit dem Ding ergibt. Der Knecht hat das Ding zu produzieren, es zu bilden und zu bearbeiten, und damit negiert er es nicht vollständig. Es schiebt die Konsumation, die restlose, auf in die Dingproduktion als Produktion von beharrlicher Positivität. Hegel zufolge ist dort auch der Gehorsam bedeutsam, der als knechtischer notwendig verknüpft ist mit der Unterdrükkung der selbstsüchtigen Begierde. Die An-und-für-sich-werdung der wahren und wissenden Vernunft ergibt somit sich, indem sich das Fürsich-sein im Herrn als anderes, in der Furcht als an sich selbst und im Machen als Aneignung erfährt. Der subjektive Begriff des Selbstbewußtseins hat nunmehr sich objektiviert.

^ Hegel: Phänomenologie. 149 Enz. §435 Zusatz.

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Aber besteht dieses allgemeine Zu-sich-selbst-kommen des „logos" nicht exklusiv unter der Erwirtschaftung eines anthropologischen Mehrwerts? Eines Mehrwerts, so wie ihn DE BEAUVOIR (im Anschluß an SARTRES Rezeption Hegels) recht deutlich bezeichnet: „Was aber nun auf eine eigenartige Weise die Existenz der Frau begrenzt, ist, daß sie, obwohl wie jedes menschliche Wesen eine autonome Freiheit, sich entdeckt und sich wählt in einer Welt, in der die Männer ihr auferlegen, sich als das Andere zu sehen: man bemüht sich, sie zu einem Ding erstarren zu lassen und sie zur Immanenz zu verurteilen, da ja ihre Transzendenz unaufhörlich von einem anderen essentiellen und souveränen Bewußtsein überstiegen wird."^® Nach DE BEAUVOIR geht mit dieser Fundamentalverdinglichung eine Zuweisung einher, die die frauliche Existenz mit der „animalischen Natur"59 kurzschließe. Bleibt auch der Begriff „Natur", der keinesfalls einen Ursprung bezeichnen kann, fragwürdig, so gilt gleichwohl, daß diese Abarbeitung des Animatorischen durch die Frau als verdingte über die Produktivität des knechtischen Mannes funktioniert, der schon sämtliche Phantasmen und Simulationen der In-vitro-Fertilisation, des Clonings etc. antezipierend, die Welt renoviert. Seine Welterneuerung verhüllt die Sexusdifferenz dadurch, daß „ihm" nun alle Attribute des Gebärens eignen. Eine Aneignungslogik, die nicht als Psychologie des Gebärneids mißverstanden werden darf; die Aneignung betrifft in erster Linie die Komplettierung des abgespaltenen anderen durch die Strategien des Selben. Die Renovation alles Lebendigen im „untoten" Toten transportiert den Mangel, den Fleischlichkeit mindest schon in Krankheit zeigt, in die „Subszendenz" des Weiblich-Höllischen. Die „Angst", über die philosophische Erfahrung handelte, scheint verschwunden in der DisposibUität über die mortal-ewigliche Dingwelt. Jegliche Sterblichkeitsschuld scheint damit in Dinglichkeit entschuldbar zu sein — eine Exkulpation die den Zusammenfall von Wissen und Wahrheit ermöglicht, die Frau aber um so mehr verschuldet, denn sie erscheint als heterogenes anderes der Anthropologie zum einen als das veräußerte Sterbliche selber insofern sie die seduktive Materialitätslastigkeit am Manne vorstellig macht; sie scheint es zu sein, die ihn verführt und zu „schmutzigen" Geschäften animiert. Zum anderen taucht sie als fetischisierte im-

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Reinbek 1983. 21. 59 Ebd. 73.

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mer schon als renoviertes Wesen auf, das gemacht und hervorgebracht ist (Eva, Athene als solche Figuren) vom proteronalen Mann.^ Die Verhältnisse lassen sich dergestalt lesen, daß es sich auf Seiten des knechtischen Bewußtseins um eine Effeminisationsrationalität handelt, die die frauliche Potenz scheinbar restlos auflöst in den männlichen Geist und seine Gefährtin, die Vernunft — beide wohlgeeint im Manne selber. Ein Modell, das nun auf die gesamte dialektische Logik selber angewandt werden müßte: beispielsweise bezüglich der Qualität als ruhende Substanz und Vermögen der Frau und dagegen die Quantität als differenzierende Substanz, die sich zum Subjekt läutere, als Vermögen des Mannes. Als synthetisches Drittes ergebe sich logisch das Maß — nichts anderes als die Requalifikation des Quantums, mithin Ausdruck ebendesselben Effeminisationscrescendos. — Und es bedarf wohl keiner langen Erläuterung, daß dieses Schriftstück eines immerhin männlichen Autors die Verhältnisse in keiner Weise transzendiert.

^ Zur patriarchalen Gleichsetzung von Frau und produziertem Ding, vgl. Luce Irigaray: Zur Geschlechtsdifferenz. Interviews und Vorträge. Wien 1987. 80, 101. — Vgl. Die Eule (wie Anm. 43). Jg. 1 (1979), Nr. 2, pass. Als „Paradigma" dieser Produktion wird die dem väterlichen Kopf (Zeus) entsprungene Tochterfigur (Athene in voller Rüstung) namhaft gemacht. Zurmühl vermag zu zeigen, daß diese Produktionslogik im Rahmen der germanischen Mythologie auch für die Figur der Brünnhilde zutrifft (Sabine Zurmühl: Leuchtende Liebe — lachender Tod. Zum Tochter-Mythos Brünnhilde. München 1984, 54).

AUF HEGEL VERZICHTEN? Die hermeneutische Phänomenologie Paul Ricceurs

Zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart an Paul Ricceur

Mit Beiträgen von Manfred Rommel, Otto Pöggeler und Friedrich Hogemann PAUL RICCEUR hat in seinem letzten großen Werk Temps et re'cit die Grundzüge jener hermeneutischen Phänomenologie gezeichnet, die er in einer lebenslangen Bemühung ausgebildet hat. Das Werk umfaßt vier Teile in drei Bänden (Paris 1983—85); kurz vor dem Abschluß fordert der Titel eines Kapitels, auf Hegel zu verzichten („Renoncer ä Hegel". Bd 3; 280 ff). Wenn Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte die Geschichte als Stufengang sieht, dann scheint er die Spur der Vernunft in der Geschichte festhalten zu wollen; doch beseitigt er gerade jene Restriktionen, wie die phänomenologische Philosophie sie von HEIDEGGER bis zu LEVINAS und DERRIDA mit der Konzeption der Spur verbunden hat: auf etwas hinzuweisen, das für sich und in voller Präsenz nicht gegeben ist. So kann RICCEUR sich auch auf GADAMER berufen, der in Wahrheit und Methode weniger SCHLEIERMACHER als vielmehr Hegel folgen will und doch aus dem „magischen Zirkel" der „absoluten Vermittlung von Geschichte und Wahrheit" herausspringt (Bd 3. 299). Auf Hegel zu verzichten, das heißt freilich nicht: ihm nicht mehr folgen; es heißt vielmehr: ihm folgen im Verzicht auf das, was als bloße „Magie" aufgegeben werden muß. In jedem Fall hatte die Stadt Stuttgart guten Grund, den von ihr gestifteten Hegel-Preis 1985 an PAUL RICCEUR ZU verleihen. Nachdem nunmehr RICCEURS letztes großes Werk abgeschlossen vorliegt, muß auch sein Bezug auf Hegel neu durchdacht werden. Im folgenden soll zunächst der Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, Herr MANFRED ROMMEL, das Wort haben. Es ist bekannt, daß sich die Beziehungen der Stadt Stuttgart zum Erbe ihres großen Sohnes Hegel ständig intensiviert haben. Diese Intensivierung findet ihren Ausdruck nicht nur in der regelmäßigen Verleihung des Hegel-Preises, sondern auch in den Hegel-Kongressen, die in ihren Mauern stattfinden, und der Herrichtung von Hegels Geburtshaus. Dann wird die Laudatio mitgeteilt, die bei der Verleihung des Hegel-Preises vorgetragen wurde (von OTTO PöGGELER). Abschließend folgt eine Besprechung des Werkes Temps et recit (von FRIEDRICH HOGEMANN).

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Oberbürgermeister Manfred Rommel: Einleitungsworte

der Hegel-Schüler und Hegel-Bewunderer, aber auch der Freund und Wahlbürger Frankreichs, bemerkt zu der Einführung von Hegels und SCHELLiNGS Philosophie in den französischen Sprachkreis: „Seitdem klagen die Freunde des klaren Denkens und der Freiheit, daß man aus Deutschland die aberwitzigsten Träumereien und Sophismen einführe, womit man die Geister zu verwirren und jede Lüge und jeden Despotismus mit dem Scheine der Wahrheit und des Rechts zu umkleiden verstünde." HEINE selbst gibt zu, die Vorlesungen von Hegel selten verstanden zu haben und erst durch späteres Nachdenken zum Verständnis seiner Worte gelangt zu sein. Er behauptet sogar, er habe ein Manuskript über die Hegelsche Philosophie schließHch aus Furcht vor göttlicher Strafe in einem Kamin verbrannt, wo es teuflisch knisternd verglüht sei. Professor RICCEUR, einer der führenden Philosophen Frankreichs, der im Jahr 1985 der Stadt Stuttgart die Ehre erwies, den von ihr gestifteten Hegel-Preis anzunehmen, ein profunder Kenner Hegels, findet in seinen Werken natürlich mehr als Träumereien und Sophismen. Mit jener clarte, die sich in Frankreich auf eine große Tradition berufen darf, setzt er sich mit Hegel auseinander und zeigt dabei auf, was das große Werk des großen Mannes für heutiges philosophisches Denken bedeuten kann. Auch ein großer Philosoph kann zum Idol oder zum Symbol werden. Das gilt auch für Hegel. Professor RICCEUR will die Idole töten, um die Symbole zu retten. Hegel mag auch als Symbol für das Bestreben der Menschen herhalten, das Ganze erkennen und begreifen zu wollen. Und Hegel hielt, wie in der Philosophiegeschichte von BERTRAND RUSSELL herausgearbeitet wird, letzten Endes nichts für völlig real, außer dem Ganzen; das Ganze als eine Art Organismus nennt er das Absolute. FRIEDRICH NIETZSCHE meinte in Menschliches, allzu Menschliches, 2. Band, der Philosoph glaube, der Wert seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau, die Nachwelt finde ihn aber im Stein, mit dem er baute und mit dem von da an noch oft und besser gebaut werde: also darin, daß jener Bau zerstört werden kann und doch noch als Material Wert hat. Träfe dies auf Hegel zu, bliebe noch vieles, u. a. eine Fülle höchst geistvoller Aphorismen und Bemerkungen zu fast allen Wissensgebieten. Aber Hegel war eben doch der Philosoph des Ganzen, der Schöpfer eines Weltsystems, in das er alles unterbrachte, einschließlich Gottes und der Dreieinigkeit, ein Weltsystem, das er nicht als Zustand, sondern als Prozeß dachte. Er hatte nicht die Vorsicht von KANT, der die Welt des Scheins oder der Erscheinung, die wir erkennen können, unterscheidet von der Welt an sich, zu der unsere Erkenntnis keinen Zugang hat. Ein Urvertrauen in die Vernunft gab ihm Mut. „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt", erklärte er, „ist der einfache Gedanke der Vernunft, der Gedanke, daß die Vernunft die Welt regiert und daß folglich auch die Weltgeschichte vernunftmäßig abgelaufen ist." Dort, wo Leidenschaften den GeHEINRICH HEINE,

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Schichtsprozeß beeinflußten, sprach er von der List der Vernunft, die die Leidenschaften für sich wirken lasse. Hegel machte es sich unsäglich schwer, und seine Gattin Marie erklärte nach seinem Tod, er habe oft seine Ausführungen eingeleitet mit den Worten: „Wer von Gott dazu verdammt ist, ein Philosoph zu sein." Dieser Mut und die Kraft, das Ganze begreifen zu wollen, sind heute nur noch selten festzustellen. Das Vertrauen in die Weltvernunft ist verschwunden, ohne daß dies die Menschen sonderlich herausgefordert hätte, selber vernünftiger zu werden und in die Welt, an deren Vernunft sie nicht glaubten, wenigstens ihre eigene Vernunft einzubringen. Die großen Fortschritte wurden erzielt durch Arbeitsteilung, durch Zerlegung. Es wurden aber nicht nur die Wissenschaften zerlegt, sondern auch die Moral und die Tugend. Die Tugend wurde zu Teiltugenden gemacht, speziellen Tugenden für den Soldaten, den Beamten, den Ökonomen. Wer wundert sich dabei noch über die Ungeheuerlichkeiten, die im 20. Jahrhundert haben geschehen können und die einen sowjetischen Professor, mit dem ich mich einmal unterhielt, zu dem Ausspruch veranlaßten: Leider weist die Dialektik nicht immer nach oben. Wer das Ganze nicht begreifen will, findet sich mit dem Ganzen ab, ohne in ihm die Weltvernunft zu sehen, dafür aber das Fatum oder, formulieren wir es banaler, den Zufall. Je größere Sorgfalt der moderne Mensch dem Detail zuwendet, um so mehr vernachlässigt er die grundsätzlichen Fragen, zu denen die Frage nach dem Ganzen und seinen inneren Zusammenhängen gehört. Er hat das bequeme Wort von den Sachprozessen erfunden, die aber nicht als die Steuerung des Geschehens durch eine Weltvernunft verstanden werden, sondern, um den nüchternen Kern herauszuarbeiten, als die Folgen unkoordinierter Beschlüsse und nicht korrigierter Irrtümer. So wichtig das Prinzip von trial and error ist, um zu Detailerkenntnissen zu gelangen, so bedeutsam wäre der Mut zu einer großen Hypothese der Vorstellungen vom Ganzen, auch wenn der Optimismus Hegels, die Weltgeschichte als Theodizee, als Rechtfertigung Gottes zu begreifen, heute kaum mehr begründet und dargestellt werden könnte. Es lohnt sich noch, Hegel zu lesen, und es lohnt sich, alle zu lesen, die ihn für die heutige Zeit kritisch erarbeiten und verarbeiten. Wir Schwaben sind stolz darauf, daß wir keinen zweiten brauchen, um uns zu streiten, weil wir uns mit uns selber auseinanderzusetzen gelernt haben. Deshalb ist uns Hegel eher zugänglich. Wir sind auch stolz auf ihn, wie auch auf alle Schwaben, die es fern von der Heimat zu etwas gebracht haben. Hegel hatte ein schwäbisches Aussehen, insbesondere einen breiten Mund. Ein norddeutscher Akademiker ließ 1886 anonym eine Schrift erscheinen, die sich mit den Schwaben auseinandersetzte, ln dieser Schrift, unter dem Titel Kulturbilder aus Württemberg, behauptete er, alle Württemberger hätten einen so auffallend großen und breiten Mund, als wenn sie alle von einem Vater gezeugt worden wären. Dies rühre von dem sogenannten Schlotzer her, auf hochdeutsch Schnuller, der den Kindern gegeben werde, zum Teil bis zum dritten und vierten Jahr. Von dem Schlotzer bis zum Evangelischen Stift des Landes in Tübingen sei es nur ein Schritt.

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Denn die Einrichtungen des Stifts dienten in vielen Fällen nur als Beruhigungsmittel und könnten insofern mit einem Schlotzer verglichen werden. Stiftler würden alle Dinge durch die von ihrem Weltsystem getrübte und geschwärzte Brille betrachten, der richHge Stiftler glaube noch immer, wenn er 14 Tage in Rom gewesen sei, eine Vorlesung über die italienische Sprache halten zu können. Ich weiß nicht, ob jemals Hegel ein Schlotzer verabreicht worden ist. Er war aber auf dem Tübinger Stift, von dem zu seiner Zeit keine beruhigende Wirkung ausging, und er hat viel Unruhe in die Welt gebracht, darunter auch manche heilsame Unruhe. Er hat vor allem die Kraft mitgebracht, große Gedanken denken zu wollen und denken zu können. Die Pflege seines philosophischen Werkes würde sich schon dann lohnen, wenn sie zur Stärkung dieser Kraft führte. Der frühere Bundeskanzler KIESINGER hat in einem Aufsatz über Politik und Geist am Beginn der 60er Jahre, in dem er sich kritisch mit der platonischen Frage, ob Philosophen Politiker oder Politiker Philosophen sein sollten, auseinandersetzte, das Wort von TOCQUEVILLE zitiert: „Der Mensch müsse größer bleiben als seine Werke." Je mehr wir das Ganze dem Geiste entziehen und dem Zufall überliefern, desto mehr tragen wir dazu bei, daß diese Forderung unerfüllt bleibt.

Otto Pöggeler: Konflikt der Interpretationen

Wenn die Landeshauptstadt Stuttgart den Hegel-Preis verleiht, dann setzt sie nicht voraus, daß der Preisträger als Hegelianer dem großen Sohn der Stadt, dem Philosophen Hegel, nachfolge. Sie geht aber davon aus, daß der Preisträger — sei er nun Geisteswissenschaftler oder Philosoph — in Zustimmung oder Widerspruch das Erbe Hegels in unserer Zeit und unter deren Bedingungen neu zur Wirkung gebracht habe. Wie das geschehen sei, fragt sich gerade heute, wo in PAUL RICCEUR ein Philosoph geehrt wird, der in seinem Heimatland Frankreich eine führende Stellung erlangt hat, aber auch durch eine langjährige Lehrtätigkeit und publizistische Wirkung das philosophische Klima in den Vereinigten Staaten von Amerika verändert hat. Kann uns die Philosophie, die uns so vieles sagen soll, auch sagen, was sie selber sei, wie Philosophieren eigentlich geschehe? Kann sie eine Antwort auf diese Frage vielleicht im Anschluß an Hegel geben? Hegel selbst hat jedenfalls klar und bestimmt gesagt, wie er die Philosophie auffaßt, ln der Phänomenologie des Geistes schreibt er im Vorwort, er wolle die Philosophie in die Form der Wissenschaft bringen; so müsse Philosophie schließlich den Namen einer Liebe zum Wissen ablegen und wirkliches Wissen werden. Schon unter den Griechen hat PLATON näher erläutert, warum die Philosophie ihren Namen trägt, den Hegel mit der Formulierung „Liebe zum Wissen" ins Deutsche übersetzt: Die Philosophie ist eines der Werke des Eros, der zwar kein Gott ist, aber ein Dämon, welcher

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zwischen Göttern und Menschen vermittelt. Der Eros treibt die Menschen an, in der Sterblichkeit aller einzelnen durch ständige Zeugung und Geburt doch so etwas wie eine überdauernde Unsterblichkeit zu suchen, dem immer drohenden Verfall der Institutionen der Gemeinschaft durch die normierende Kraft der Gesetzgebung Stabilität und Dauer abzuringen, dafür auch — eben in der Philosophie — ein Maßstab setzendes Wissen zu suchen. Philosophie ist nicht einfach ein Wissen. Der Besifz des Wissens bleibt den Göttern Vorbehalten; unter den Menschen glaubt nur der Sophist, Wissen besitzen und wie eine Ware verkaufen zu können. Philosophie ist vielmehr ein Streben nach Wissen, das aus der Unwissenheit kommt und von der Unwissenheit ständig bedroht bleibt; deshalb muß auch unterschieden werden zwischen dem, was man weiß, und dem, was man nicht weiß. Hegel geht über PLATON hinaus, wenn er die Philosophie aus einer Liebe zum Wissen zur wirklichen Wissenschaft machen will. Aus der PLATONischen Tradition heraus haben Philosophen und Theologen im Okzident geltend gemacht, daß der Mensch teil habe an Gott, der alle Dinge so schaffe, wie er sie erkenne. In der schon genannten Vorrede zur Phänomenologie spielt Hegel auf diese Dinge an. „Sonst", so schreibt er, „hatten sie einen Himmel..." Von allem, was ist, lag die Bedeutung in dem Lichtfaden, durch den es an den Himmel geknüpft war. Philosophieren hieß also, im Irdischen den Bezug zum Ewigen sehen, zu jenem Lichtfunken, den Gott als seinen himmlischen Gedanken in seinen irdischen Geschöpfen investiert hat. Es sei, so sagt Hegel, das spätmittelalterliche und neuzeitliche Drängen auf Erfahrung gewesen, das diese Ausrichtung auf den Lichthimmel aufgelöst habe, — die Naturwissenschaften also, aber auch der Kampf gegen transzendente Begründungen überlieferter Gesellschaftsformen, die Befreiung von orthodoxer Starre in der Religion. Hegel sieht klar, daß dieser Zug der Philosophie, nur Selbsterfahrenes gelten zu lassen, schließlich in den Nihilismus geführt hat, dem nichts mehr gewiß und keine Bindung mehr fest ist. In einem frühen Aufsatz Glauben und Wissen stellt Hegel der Philosophie aber die Aufgabe, ein wahrer Nihilismus, ein Aufheben jeder vorgängigen Bindung, zu sein. Nur so könne Philosophie im Selbsterfahrenen, kritisch Distanzierten schließlich einen Zusammenhang, eine Ordnung, ein System finden; sie müsse dabei auch darauf achten, daß das, was zu einem System zusammentrete, in einer langen Geschichte aufgebaut worden sei. Philosophie, die in diesem Sinne wirkliches Wissen wird, ist Wirklichkeit im Sinne des griechischen Wortes „energeia", ein Prozeß. Wer sich in diesen Prozeß des Philosophierens hineinstellt, darf niemals nur seine eigene Position geltend machen wollen; er muß alle Tendenzen der Zeit zusammenfassen und in ein Ganzes integrieren. Eine solche Integration war denn auch jene Leistung, die so viele Schüler zu Hegel hinzog. Freilich glaubte Hegel, daß dieser Prozeß der Geschichte sich inzwischen so ausdifferenziert habe, daß er uns durchsichtig und klar werde, damit in einem gewissen Sinn auch an ein Ende gekommen sei. Diese Auffassung wurde schon von Hegels Nachfolgern — von MARX, KIERKEGAARD und den großen Historikern — bestritten. Es ist kein Zweifel, daß uns das hegelsche Vertrauen in die Ge-

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schichte unter den Erschütterungen unseres Jahrhunderts verlorengegangen ist. Läßt sich unter diesen Umständen noch das Erbe Hegels zur Geltung bringen? Kann man von einem Philosophen sagen, er habe das Geforderte dennoch geleistet? Erinnern wir uns an die Weise, in der noch vor dreißig Jahren, also in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, philosophiert wurde, dann bleibt festzuhalten, daß sich Frankreich und Deutschland damals in einer Nähe trafen, auf die wir heute nur noch mit Neid zurückblicken können. Es war aber auch viel leichter, mit dem Schiff oder Flugzeug den Kanal zu überqueren, als englisches und kontinentaleuropäisches Philosophieren zu vereinen. Was man hier auf dem Kontinent versuchte — die Fortführung der spekulativen Tradition ä la Hegel, eine Existenzphilosophie in der Nachfolge KIERKEGAARDS —, das galt in England als Marotte, die man besser der Dichtung und Literatur — manchmal sagte man sogar: der Musik — zurechnen sollte. Subtile Überlegungen, die die englischen Seminare beherrschten, galten hier dagegen als Quisquilien, die jedoch — anders als die englischen Kollegen vermuteten — längst in der Tradition in größeren Zusammenhängen thematisiert worden seien. Blickte man dagegen nach Osten, dann sah man dort — schon in Leipzig und Ost-Berlin — einen Marxismus, der offiziell gefordert wurde. Auch das Philosophieren schien sich zu großen Blöcken zu ordnen: eine dialektische Gesamtinterpretation von Welt und Geschichte als offiziell installierte wissenschaftliche Weltanschauung im Osten, hier im Westen einerseits in Kontinentaleuropa der Existentialismus, der auf das Risiko der Entscheidung in Grenzsituationen blickte, und eine spekulative Hermeneutik, die sich den Geisteswissenschaften verband, dann im englischsprechenden Bereich ein verständiges und pragmatisches Philosophieren, das mit der Weltbewältigung in Wissenschaft und Technik in einem engen Zusammenhang stand. Der Dualismus, der die westliche Welt beherrschte, ließ sich durchaus in einen funktionalen Zusammenhang mit der politischen Ordnung dieser Welt bringen, die ja auch die pragmatische Regelung der öffentlichen Angelegenheiten von der privaten Sphäre und den prekären religiösen Optionen unterscheidet. Dieses alte Bild, das auch philosophische Blöcke und deren Ausstrahlungen auf eine Landkarte zeichnet, gilt freilich längst nicht mehr. Es ist zu mannigfachen Vermischungen, Überkreuzungen, Durchdringungen gekommen. Auch in den östlichen Ländern finden wir Pragmatismus und Reformmarxismus, hier im Westen den Marxismus als Protestbewegung und als Ideologiekritik; in Paris konnte der Strukturalismus den Existentialismus ablösen. Amerika wurde in einer Zeit der Krise von Motiven der kontinentaleuropäischen Philosophie durchdrungen, die analytische Philosophie wurde bei uns rezipiert. Mit Bedauern muß man auch die Verluste registrieren — z. B. eine gewisse Entfremdung zwischen dem deutschen und französischen Philosophieren. Wenn die Auflösung der philosophischen Blöcke nicht eine bloße Vermischung sein soll, dann muß man die Einseitigkeiten der einstigen Ansätze auf das Recht ihrer Motive heraussteilen. Solche gemeinsame Anliegen gab es zweifellos. Zum Beispiel ging man an vielen Stellen davon aus, daß wir das kritische Philosophieren der Neuzeit schwerlich

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noch mit dem 19. Jahrhundert von einer abstrakten Erkenntnistheorie her entwickeln können. Wir müssen vielmehr darauf achten, wie zum Beispiel die Sprache konkret die Erkenntnis leitet und trägt. Der Mensch ist eben nicht instinktsicher eingefügt in seine Welt; er holt die Dinge in seine Welt hinein, indem er mannigfache poietische Hervorbringungen — Kunst, Mythos, Institutionen, das Wunder der Sprache — zwischen sich und die Dinge stellt. Wie aber funktioniert eigentlich diese Sprache? Wenn wir in die Alpen kommen, begegnet es uns immer wieder, daß ein bestimmter Berg „Morgenhorn“ genannt wird. Warum prägten die Menschen dieses Wort? Waren sie fasziniert davon, wie die Sonne und mit ihr der Morgen immer wieder hinter dem aufragenden Horn, diesem bestimmten Berg, aufging? Wohnten die Menschen also dichterisch, wie Hölderlin sagte? Oder muß man die Dinge nüchterner sehen, mehr von der technischen, instrumenteilen Vernunft her? Die Leute mußten die Zeit messen, und da sie noch nicht die heutigen Uhren hatten, gebrauchten sie Berg und Sonne als Zeitgeber. Man kann aber auch darauf aufmerksam machen, daß man vom Morgenhorn redete, weil man durch bestimmte Interessen dirigiert war, etwa Kühe im Stall hatte, die morgens auf die Weide mußten. Kann man nun nicht nur dieses eine Wort, sondern die Philosophie, die sprachbewußt werden wollte, im ganzen auf ihre Mohve hin befragen und Recht und Grenzen der Motive bestimmen? Jedenfalls hat man diesen Versuch gemacht. Schlagen wir die Bücher von PAUL RICCEUR auf, dann finden wir alle die Titel, die unterschiedliche philosophische Strömungen bezeichnen — Phänomenologie, Existenzphilosophie, Hermeneutik, Strukturalismus, Marxismus, Ideologiekritik, analytische Philosophie usf. PAUL RICCEUR hat aus der Begegnung mit der deutschen Philosophie heraus philosophiert, dann aber sein eigenes Philosophieren nicht nur in Paris, sondern auch in Chicago vertreten. Die genannten Titel sollen nicht philosophische Strömungen historisch festlegen; vielmehr soll das Recht des jeweiligen Ansatzes erörtert werden. Auch die klassische Überlieferung der Philosophie rückt ein in diese Befragung und mit ihr die großen religiösen Traditionen, etwa die griechische Tragödie und die jüdische Prophetie. Was RICCEUR in dieser Befragung gewinnt, ist aber nicht das hegelsche System als eine große Synthese, sondern ein Konflikt der Interpretationen. Doch in diesem Konflikt oder in diesen Konflikten geht es um das eine, gemeinsame Anliegen heutigen PhUosophierens. Dieses Anliegen in seinen vielfältigen Ausformungen auf sein Recht und seine Grenzen hin zu erörtern, das ist die Leistung RICCEURS, die ihn in die Nachfolge Hegels stellt. Was aber heißt das: Nachfolge Hegels unter den Bedingungen der heutigen Zeit? Um dieser Frage willen muß ich wenigstens einen schnellen Blick auf den Weg PAUL RICCEURS werfen und einige wichtige Schritte nennen, die er mit seinem Denken tat. Noch in der deutschen Kriegsgefangenschaft hat PAUL RICCEUR damit begonnen, ein Hauptwerk EDMUND HUSSERLS, das erste Buch der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, zu übersetzen — in der Zeit der schwersten Entstellung der deutschen Geschichte ein Bekenntnis zu den überdauernden Leistungen deutscher Philosophie, aber auch der Anfang für eine

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immer neue und weitergehende Bemühung um die phänomenologische Philosophie! Dem französischen Protestanten lagen theologische Fragen besonders nahe, und so suchte er die Nähe zur christlich und personahstisch geprägten Existenzphilosophie. Er widmete wichtige Arbeiten GABRIEL MARCEL und KARL JASPERS. Damit kam ein erster Antagonismus auf. HUSSERL hatte immer wieder die Analyse der Wahrnehmung als Modell phänomenologischer Arbeit genommen, ja die Phänomenologie auf die Anschauung verpflichtet, die Evidenz verspricht. Der französische Phänomenologe MERLEAU-PONTY war von der Analyse der Wahrnehmung wenigstens noch ausgegangen, als er in einem neuen Ansatz — auch konträr zu SARTRE — den Menschen von der Leiblichkeit her verstand. Die Freiheit der Existenz im Leib inkarniert sein zu lassen, das war aber auch ein Weg, den der christliche Personalismus gehen konnte, und auf diesem Wege führte RICCEUR die phänomenologische Philosophie in eine neue Dimension, indem er sie exemplarisch von einer Philosophie des Wollens her entwickelte. Das Wollen, das etwas beabsichtigt und zu verwirklichen sucht, dabei auf das Unwillentliche und Unbewußte im Menschen stößt, tritt dem Anschauen entgegen, das sich in der Evidenz erfüllt. RICCEUR hatte seine Philosophie des Wollens von vornherein als ein mehrbändiges Werk geplant; als zum ersten Band von 1950 dann 1960 weitere zwei Bände erschienen, handelten sie von der Fehlbarkeit des Menschen und der Symbolik des Bösen — von Themen also, die uns in den Katastrophen unserer Geschichte besonders naheliegen müssen. Dürfen wir aber ein und dasselbe „Wesen" für die Fehlbarkeit des Menschen und damit die Möglichkeit, zum Bösen verführt zu werden, annehmen? Dürfen wir zum Beispiel der griechischen Rede vom Frevel und der jüdisch-christlichen Rede von der Sünde ein allgemeines Wesen unterlegen, das wir in einer nach innen gewendeten Psychologie und Phänomenologie anzuschauen suchen? Die Themen, um die sich PAUL RICCEUR bemühte, führten ihn von einer naiven Wesensphänomenologie zu einer hermeneuüschen Phänomenologie, die das, was die Fehlbarkeit und das Böse sein können, von den großen Werken, den Mythen und Religionen der Geschichte, her auslegt und interpretiert. Vielleicht können wir in der Tat nur aus unterschiedlichen Erfahrungsstellungen heraus, die sich jeweils in einer langen Geschichte aufbauen, verstehen, wie eine religiöse Dimension zu unserem Leben gehört. Vor welche Schwierigkeiten dieser hermeneutische Weg führt, zeigt sich daran, daß PAUL RICCEUR den abschließenden Band seiner Philosophie des Wollens nicht vorgelegt, sondern sich neuen, dringlich gewordenen Auseinandersetzungen zugewandt hat. Im Jahre 1965 erschien unter dem Titel Die Interpretation ein Buch über SIGMUND FREUD! Die Rede vom Ödipuskomplex ist zu einem Schlagwort geworden; sie zeigt an, daß die Symbole, die in Mythen und Tragödien zur Sprache kamen, noch in den Träumen heutiger Menschen umgehen. Könnte sich in ihnen nicht ein Begehren aussprechen, in dem das Bewußte vom Unbewußten gesteuert ist? Wie aber sind diese Symbole zu interpretieren? Hier gibt es einmal den Weg, die Symbole in einer reflektierten und kritischen Weise aufzuarbeiten und so ihren ursprünglichen Sinn wiederherzustellen. Das versucht die Reli-

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gionsphänomenologie, die seit RUDOLF OTTO ZU einem umfassenden Arbeitsfeld geworden ist, aber auch die Mythendeutung und jene Auseinandersetzung um alte und neue Mythologie, die heute in neuer Aktualität wieder ganze Bücherschränke füllt. Dazu tritt die existentiale Interpretation in der theologischen Exegese, die gelegentlich unter das etwas mißverständliche Schlagwort der „Entmythologisierung" gestellt wurde. Doch zu dieser Hermeneutik, die einen symbolisch entfalteten Sinn reflektiert wiederherstellt, tritt eine andere, nämlich jene Ideologiekritik, die in Symbolen Illusionen aufdeckt, aber auch die Verschleierung der wahren, vielleicht unbewußten Absicht. Solche Entlarvung suchte FREUD, indem er auf die sexuellen Wünsche des Menschen zurückging, aber auch NIETZSCHE, der noch in der Gerechtigkeitsforderung des Ohnmächtigen den Willen zur Macht und zur Rache fand, dann KARL MARX, der in allem Elend und allen Hoffnungen der Menschen das produzierende Gatfungswesen und dessen Verstrickungen am Werke sah. Wenn das Wesen der Fehlbarkeit und des Bösen interpretierend aus der geschichtlichen Selbsterfahrung der Menschen herausgearbeitet werden soll, dann führt die Interpretation in einen Konflikt zwischen der Hermeneutik, die einen Sinn kritisch wiederherstellt, und der Hermeneutik des Verdachts und des Mißtrauens, die Illusionen und Verschleierungen entlarvt. Beiden Ansätzen wUl RICCEUR gerecht werden, indem er die berühmte Forderung auf stellt, daß wir die Idole töten müssen, um die Symbole zu retten. Ein Sammelband von PAUL RICCEUR trägt den bezeichnenden Titel: Der Konflikt der Interpretationen. Dieser Konflikt hat noch weitere Dimensionen; so mußte für RICCEUR wichtig werden, daß in Paris in einem plötzlichen Wechsel jenes Philosophieren, das sich auf Hegel, MARX und KIERKEGAARD und dazu auf HUSSERL, HEIDEGGER und SARTRE stützte, im Blickfeld der Öffenflichkeit abgelösf wurde durch den sogenannten Strukturalismus. Eine Einzelwissenschaft, die Phonologie, wurde zum Modell für eine ganze Reihe von Wissenschaften, nicht nur für die Sprachwissenschaft, sondern auch für Ethnologie, Mythenforschung, Psychoanalyse. Mit unserem Mund können wir eine ganz bestimmte Folge von Lauten bilden, zum Beispiel mit Lippen, Zunge und Gaumen p, t, k. Diese Laute und ihre Gruppierungen können Bedeutung bekommen. In ihrer Unterschiedenheit und Differenzierung schöpfen diese Laute die Elemente einer Struktur aus, so daß es neben den möglichen Lauten keine anderen geben kann. Wird die Geschichte der Sprache überhaupt von diesem Modell her gesehen, dann wird der Blick auf die Geschichte zu einem Blick durch ein Kaleidoskop, in dem eine bestimmte Anzahl von Sternchen in eine Fülle von Kombinationen treten, ohne daß zu den vorgegebenen strukturellen Möglichkeiten neue hinzutreten könnten. PAUL RICCEUR ist dieser Auffassung entgegengetrefen, indem er ihr entgegenkam — nicht nur die lebendig gesprochene Sprache, sondern auch den geschriebenen Text als Modell einer Interpretation von Sprache untersucht hat. Der Text, der schriftlich fixiert ist, löst sich vom Schreiber ab und bekommt so in der Tat eine gewisse Autonomie. Doch diese Autonomie kann keine vollständige sein, wie sich ja auch daran zeigt, daß Texte z. B. in der Beurkundung in eine Situation eingreifen. Das lebendig gesprochene Wort bleibt schon durch den Gebrauch der Personalpronomen

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auf den Sprecher und seine Partner, auf die Kommunikation und ihre Situation bezogen. RICCEUR zeigt nun (vor allem auch in seiner Erörterung der Metapher), daß das Wort zwischen den Elementen einer Struktur und dem Ereignis der Rede in der offenen Situation vermittelt. Die veschiedenen Bedeutungen des Wortes sind nicht nur, wie der Strukturalismus einseitig festhalten möchte, eine Differenzierung im Nebeneinander, sondern auch die vieldeutige Entstehung einer zweiten und neuen Bedeutung im Nacheinander. Auch der szientifischen Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie gegenüber behauptet RICCEUR diese Möglichkeit lebendiger Rede. Das letzte Werk Temps et recit, von dem der erste Band schon im Jahre 1983 erschienen ist, sucht in einem „poetischen" Ansatz und in Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung Zeit von der Struktur des Erzählens her zu erfassen. Die Erfahrung der Zeit, die seit BERGSON und DILTHEY, seit HUSSERL, HEIDEGGER und LEVINAS die Philosophie zu einem Überdenken ihrer Möglichkeit zwingt, wird so in neuer Weise zu einem Problem konkreter Untersuchungen. Weicht PAUL RICCEUR nicht endgültig dadurch von Hegel ab, daß er nicht das System anstrebt, sondern sich in einen Konflikt der Interpretationen stellt? Um eine rhetorische Frage dieser Art zurückzuweisen, braucht man nur an Hegels berühmte Dialektik zu erinnern, die auch eine Konfliktstrategie war. Freilich notierte Hegel sich zu der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaßen, die er in Heidelberg publizierte, auch den Satz: „Alles heraus aus dem verschlossenen Gotte". Die Geschichte kann für ihn deshalb in das System finden, weil sie sich im wesentlichen vollständig ausdiffer nziert hat. Das ist eine Auffassung, die uns in den Umbrüchen und Katastrophen unseres Jahrhunderts endgültig abhandengekommen ist. Trotzdem greift gerade unser Jahrhundert — in Ost und West — immer wieder auf Hegel zurück. Für PAUL RICCEUR ist es bezeichnend, daß er gerade in seinem Buch über FREUD ausführlich von Hegel Gebrauch macht, nämlich von dessen Phänomenologie des Geistes. Die Hermeneutik, die die Symbole unseres Begehrens auslegt, legt mit FREUD archäologisch das Verschüttete frei, sie sammelt aber auch mit Hegels Phänomenologie alles Erfahrene teleologisch auf ein Ziel hin. Doch dieses Ziel kann nicht mehr — wie bei Hegel — das absolute Wissen und sein sich schließendes System sein, es muß als Weg durch die offene Geschichte hindurch aufgefaßt werden. So bleibt als zentrale Frage, ob und wie wir heute noch von einem Sinn der Geschichte sprechen können. Die Philosophie bekommt in der Tat, wie Hegel bemerkt hat, eine andere Gestalt, freilich nicht so, daß sie den Namen einer Liebe zum Wissen ablegen müßte oder auch nur könnte. Wenn RICCEUR sich gerade auf Hegels geniales Frühwerk, die Phänomenologie des Geistes, bezieht, dann steht auch dieser Bezug in größeren Zusammenhängen. Schon Hegels Schüler und Nachfolger haben gesehen, daß die Weise, wie dieses Werk vom Selbstbewußtsein spricht, für Hegels Ansatz exemplarisch ist. Was das Kapitel über das Selbstbewußtsein angeht, so haben sie den Akzent auf verschiedene Aspekte gelegt: BRUNO BAUER auf die religionskritischen Partien über das unglückliche Bewußtsein, KARL MARX auf die Ausführungen über den Kampf um Herrschaft und Knechtschaft, LUDWIG FEUERBACH auf das

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Verhältnis des Selbstbewußtseins zum Leben oder Gattungsleben. Es ist das große Verdienst von 60 oder 70 Jahren französischer Hegelrezeption, daß sie aus den Fragen unserer Zeit heraus diesen Weg kritischer Hegelaneignung noch einmal gegangen ist — durch JEAN WAHL, durch ALEXANDRE KOJ6VE, durch PAUL RICCEUR. Das war so etwas wie eine Heimholung Hegels in unsere Zeit, aber damit auch eine neue Bestimmung der Aufgabe der Philosophie. Wenn Hegel in einer berühmten Formel gesagt hat, die Philosophie müsse die Substanz als Subjekt fassen, dann zeigt sich heute, daß unser Philosophieren weder eine Philosophie der Substanz im klassischen Sinn noch eine Philosophie des Subjekts nach der Auffassung des spekulativen Idealismus sein kann. Wir können nicht mit den Griechen und den mittelalterlichen Philosophen und Theologen erschöpfend sagen, was das Sein von Seiendem sei; wir fragen reflektiert mit der kritischen Tendenz der neuzeitlichen Philosophie, wie das Denken überhaupt in einen gesicherten Bezug zum Seienden kommen kann. Dabei aber können wir einen letzten Fixpunkt gesicherten Selbstbewußtseins nicht mehr finden, sondern müssen uns in das Werden einer ständig neu geforderten Selbstbesinnung stellen, den Konflikt der Interpretationen und die offene Geschichte ausstehen. Im Jahre 1811 schlug der Kurator der Universität Tübingen und spätere Minister VON WANGENHEIM dem Württembergischen König FRIEDRICH in enthusiastischen Worten vor, den Württemberger SCHELLING, der in Jena, Würzburg und München zum berühmtesten Philosophen der Zeit geworden war, nach Württemberg zurückzuholen. Der König begründete sein „Nein" mit dem lapidaren Satz: „Es gibt Vorteile, die respektiert werden müssen". Der König wollte die Vorteile und damit Ruhe und Sicherheit im Lande nicht durch eine unruhige Philosophie aufs Spiel gesetzt sehen. Wir möchten annehmen, der König habe von „Vorurteilen" sprechen wollen, doch sagte er „Vorteile". Das erinnert an einen Satz, den der junge Hegel an den jungen SCHELLING geschrieben hat: in Württemberg könne sich schwerlich etwas ändern, weil Religion und Politik unter einer Decke spielten, Theologen und Politiker sich also ihre Vorteile gegenseitig garantierten. Jemand, der — anders als SCHELLDJG und Hegel — in Stuttgart selbst wirkte, FRIEDRICH THEODOR VISCHER, hat am Beispiel seines Landsmanns DAVID FRIEDRICH STRAUSS gezeigt, wie diese Vorteile mit unangemessenen Restriktionen auf die geistige Arbeit Zurückschlagen können. Doch vielleicht lehrt das Beispiel von Männern wie STRAUSS auch etwas anderes: daß derjenige, der eine neue kritische Sicht wagt, nicht nur aus einem normalen Berufsleben hinausgeworfen werden kann, sondern auch einen zureichenden Bezug zu seinem Thema verlieren kann, und das ist dann die eigentliche Tragik eines solchen gewagten kritischen Weges. Wenn PAUL RICCEUR die Idole töten will, um die Symbole zu retten, dann sieht er beides: die Notwendigkeit einer kritischen reflektierten Übernahme der Traditionen wie auch die Grenzen unserer Kritik und unserer Philosophie. Stuttgart hat sich auf einem langen und mühsamen Weg zur Hauptstadt hier im Südwesten Deutschlands emporgearbeitet; schon zu Hegels Zeit wurde es zum Verlagsort unserer klassischen Schriftsteller. Seit langem sucht man das Erbe

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jener zurückzuholen, die einmal außer Landes gingen (wie SCHILLER, HöLDERLIN, Hegel) oder gar noch mit ihrem Nachlaß außer Landes getrieben wurden (wie HUSSERL). Daß die Landeshauptstadt seit fünfzehn Jahren einen Hegelpreis verleiht, darf wohl als Symptom genommen werden. Die Stadt ehrt mit der Stiftung des Preises ihren großen Sohn Hegel; sie weist auf die Aufgabe hin, das Erbe der Hegelschen Philosophie in der rechten Weise zu wahren in einer Zeit, in der man sich in Ost und West auf Hegel beruft. Die Stadt ehrt mit der Verleihung des Preises den Preisträger. Freilich, dem weithin wirkenden Werk PAUL RICCEURS ist so viel Anerkennung zuteil geworden, daß die heutige Preisverleihung nur ein kleiner Zusatz zur sonstigen Ehrung sein kann; doch kann die Stadt Stuttgart stolz sein, daß sie gegenüber PAUL RICCEUR nicht mehr wie einst die französische Akademie gegenüber MOLIERE sagen muß: „Rien ne manque ä sa gloire, II manquait ä la nötre.“ Durch diese gute Wahl hat die Stadt Stuttgart sich selber geehrt. Sie hat einen Preisträger gefunden, der aus einer besonderen Nähe zur deutschsprachigen Philosophie heraus philosophiert. Damit aber hat die Stadt auch eine Aufgabe sichtbar gemacht: gerade hier vom Südwesten Deutschlands aus französische Sprache und Kultur zu pflegen und einen neuen Brückenschlag zum französischen Philosophieren hin zu versuchen. Jeder sieht sofort, wie gut PAUL RICCEUR als Preisträger sich an die bisherigen Preisträger anschließt, an die Geisteswissenschaftler sowohl wie an die Philosophen JüRGEN HABERMAS und HANS-GEORG GADAMER. PAUL RICCEUR hat die phänomenologische Philosophie in eine hermeneutische Dimension geführt, den hermeneutischen Ansatz bewährt in der Auseinandersetzung mit den ideologiekritischen und szientistischen Strömungen, so aber von unseren heutigen Bemühungen aus die Möglichkeit geschaffen, Hegels Erbe verwandelt zu bewahren. Durch eine lebenslange Bemühung hat PAUL RICCEUR in einer exemplarischen Weise gezeigt, wie Philosophie in unserer Zeit möglich, aber auch nötig ist. Dafür gebührt ihm unser aller Dank.

Friedrich Hogemann: Ricceurs „Zeit und Erzählung"

Paul Ricceur: Temps et recit. Bd 1. Paris 1983. 320 S. Darin: Teil 1: Le cercle entre recit et temporalite (15—129). Teil 2: L'histoire et le recit (131—320). Ins Deutsche übersetzt von Rainer Rochlitz: Zeit und Erzählung. München 1986. — Bd 2. Paris 1984. 234 S. Darin: Teil 3: La configuration du temps dans le recit de fiction. — Bd 3. Paris 1985. 427 S. Darin: Teil 4: Le temps raconte. Erste Sektion: L'aporetique

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de la temporalite (15—144). Zweite Sektion: Poetique du recit: histoire, fiction, temps (145—392).1 Der Titel des Werkes umreißt genau die Thematik, die RICCEUR in ihm abhandelt: Zeitlichkeit läßt sich in dem direkten Diskurs einer Phänomenologie gar nicht darstellen; ihre Darstellung ist nur in dem indirekten Diskurs der Erzählung möglich. „Die Erzählung ist die Hüterin der Zeit" (Bd 3. 349). Diese Thematik entfaltet RICCEUR in einem Gespräch zwischen der Romanliteratur, der Historiographie und den Zeitanalysen der Philosophie. Auf dieser langen Wanderung lernen wir eine Fülle von Literatur und Literaturinterpretationen aus unterschiedlichen Disziplinen kennen, die kritisch gesichtet und oft minutiös analysiert werden. Zeit und Erzählung hat RICCEUR zusammen mit dem früher veröffentlichten Werk La metaphore vive (Paris 1975. Ins Deutsche übersetzt von Rainer Rochlitz: Die lebendige Metapher. München 1986) konzipiert. Was er hier einander annähert, wurde in der Tradition an unterschiedlichen Orten abgehandelt: die Metapher in der Lehre von den Tropen, die Erzählung in der Lehre von den literarischen Genera. Sie im Zusammenhang einer Fragestellung abzuhandeln, ist deshalb möglich, weil sie in einem übereinstimmen, nämlich darin, semantische Innovation zu sein. Damit hat das Denken RICCEURS einen Weg betreten, der es zu neuen Fragestellungen führt; Themen und Leitfäden, die in früheren Arbeiten bestimmend waren, wie etwa die Psychoanalyse, treten nunmehr in den Hintergrund. Am Anfang dieses Weges, im ersten Buch, führt RICCEUR eine Konfrontation zwischen der Zeitanalyse des AUGUSTINUS und der Poetik des ARISTOTELES herbei. Aber wie ist eine Konfrontation zwischen diesen zeitlich und sachlich weit auseinanderliegenden Werken überhaupt möglich? Diese Möglichkeit wird einsichtig, wenn wir auf folgendes achten: Die Zeitanalyse des AUGUSTINUS, in deren Fahrwasser sich nach der Auffassung RICCEURS späterhin HUSSERL, HEIDEGGER und MERLEAU-PONTY begeben werden, reduziert die Extension der Zeit auf die Distension der Seele, eine Distension, die am Ursprung der Kluft steht, die sich im Herzen der dreifachen Gegenwart öffnet: der Gegenwart der Zukunft, der Gegenwart der Vergangenheit und der Gegenwart der Gegenwart. Steht die Zeitanalyse des AUGUSTINUS unter der Spannung der Diskordanz, so triumphiert dagegen in der Poetik des ARISTOTELES die Konkordanz. Dies wird ersichtlich vor allem am Begriff des Mythos, den RICCEUR mit „mise en intrigue" (etwa: Schürzung des Knotens der Fabel) übersetzt. Die ARiSTOTELische Poetik vermittelt RICCEUR wichtige Bausteine für seine eigenen Analysen, freilich erst, nachdem er sie einer tiefgreifenden Veränderung ihrer Bedeutung unterzogen hat. Hierfür ein Beispiel: Während ARISTOTELES in seiner Poetik den Begriff der Tragödie in einer ganz bestimmten Bedeutung festhält und ihm einen Vorrang einräumt, variiert RICCEUR dieses Paradigma so weitgehend, daß es auf den gesamten Bereich des Erzählerischen angewandt werden kann. Er erkennt, daß die Hauptschwierigkeit, die er ' Dieses Werk Ricceurs wurde bereits von Stephan Strasser besprochen: Zeit und Erzählung bei Paul Ricceur. In: Philosophische Rundschau. 34 (1987), 1—14.

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dabei zu überwinden hat, darin besteht, daß ARISTOTELES nicht nur kein Interesse daran hatte, die Zeitstruktur der von ihm analysierten Genera zu untersuchen, sondern eine solche Untersuchung ausdrücklich ausschließt. RICCEUR entnimmt der Poetik noch einen weiteren Begriff, der bei der Bildung seiner eigenen Theorie eine zentrale Rolle spielt: den der Mimesis. Er verleiht diesem Begriff eine dreifache Bedeutung. Mimesis I thematisiert, daß alle poetische Gestaltung, so innovativ sie auch sein mag, auf eine praktische Welt mit ihren Verstehensstrukturen, ihren symbohschen Ressourcen und ihrem temporalen Charakter bezogen ist (vgl. Bd 1. 100). Mimesis II weist hin auf den Bereich der Konfiguration der Zeit im dichterischen Werk. Erstens schafft diese eine Totalität, die dasjenige, das in Form von Episoden vorliegt, der Ordnung der Erzählzeit unterwirft und es so erst dem Verständnis erschließt. Sodann setzt sie der unbegrenzten Abfolge von Ereignissen einen Schlußpunkt, der es ermöglicht, sie als eine Totalität zu erfassen. Und schließlich vermögen wir in der Erzählung die Zeit gleichsam gegen den Strich zu lesen, indem wir vorgreifend nicht nur das Ende vom Anfang, sondern nach vollzogener Lektüre auch den Anfang vom Ende her betrachten können (Bd 1. 105). Mimesis III markiert den Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der Welt des Hörers: Zur Konfiguration der Zeit im Werk des Dichters gesellt sich im Akt des Lesens notwendig ihre Retiguration. Mimesis III thematisiert also dasjenige, was bei GADAMER unter dem Titel Applikation verhandelt wird. — Mimesis II zeichnet die Thematik des dritten, Mimesis III die des vierten Teiles vor. Doch halten wir die Reihenfolge ein, wenn wir nunmehr unsere Betrachtung fortsetzen. Im zweiten Teil seines Werkes wendet sich RICCEUR zwei Positionen zu, die der seinigen diametral entgegengesetzt sind, und zwar deshalb, weil sie die Erzählung aus der Geschichtswissenschaft verbannen wollen, etwa die Strömungen, die er unter dem Titel Neopositivismus zusammenfaßt, sowie in der französischen Geschichtsschreibung die Gruppe um die „Annales". Diese Tendenzen finden eine Parallele in strukturalistischen Theorien der Erzählung, die darauf hinauslaufen, die Erzählung zu dechronologisieren. Freilich haben einige Vertreter der analytischen Philosophie die Erzählung in der Geschichtswissenschaft teilweise rehabilitiert. Der dritte Teil untersucht die Zeitstruktur der fiktionalen Erzählung. Dargestellt und kritisch gesichtet werden die Romantheorien beispielsweise von Vertretern des Strukturalismus und des russischen Formalismus, aber auch diejenigen beispielsweise von HAMBURGER und WEINRICH. RICCEUR beschließt diesen TeU, indem er die Zeitstruktur von drei Romanen analysiert: Mrs. Dalloway von VIRGINIA WooLF, Der Zauberberg von THOMAS MANN sowie A la recherche du temps perdu von MARCEL PROUST.

Die erste Sektion des vierten Buches entfaltet die Aporien, in die sich die von der Philosophie ausgearbeiteten Zeitanalysen verrannt haben und die mithin die Unmöglichkeit einer reinen Phänomenologie der Zeit erweisen. In diesem Zusammenhang bringt RICCEUR die Zeitanalysen von ARISTOTELES, KANT, HUSSERL und HEIDEGGER zur Sprache. — Was wäre eine reine Phänomenologie der Zeit? Sie

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wäre eine anschauliche Erfassung der Zeit, die von der philosophischen Argumentation abgelöst werden könnte, in der ihre Aporienfreiheit erwiesen werden soll, und mit der man sich nicht noch größere Aporien einhandelte, als man gelöst zu haben glaubt. Daß eine solche Erfassung der Zeit nicht möglich ist, belegt in exemplarischer Weise die Zeitanalyse des AUGUSTINUS. Nach RICCEUR gehen alle Zeitanalysen der Philosophie ihren Gegenstand von einem der beiden möglichen Pole an; der Seele — so AUGUSTINUS und HUSSERL — oder der Welt — so KANT und ARISTOTELES. Für das Verhältnis dieser beiden Grundmöglichkeiten der Zeitanalyse, mit den Worten RICCEURS der phänomenologischen und der kosmologischen, ist kennzeichnend, daß keine Vermittlung zwischen ihnen möglich ist, ferner, daß sie sich gegenseitig verdecken. Diese Aporetik sei auch in Sein und Zeit nicht überwunden; mag HEIDEGGER eine Fülle von Scheinproblemen beseitigt haben, — die ererbte Grundaporie der Zeit bricht nach RICCEUR in seiner Unterscheidung von „radikaler" Zeit und Vulgärzeit dennoch wieder auf. Mit dem Verhältnis der gegenseitigen Verdeckung, in dem die beiden Grundmöglichkeiten der Zeitanalyse stehen, ist aber nur eine Zeitaporie genannt. Die zweite übergreift die erste und ist darum radikaler. Sie beruht auf der Voraussetzung der Einheitlichkeit der Zeit, die von allen großen Philosophen, die eine Zeitanalyse vorgelegt haben, geteilt wird. Nur noch ausblickhaft stellt RICCEUR die dritte Aporie dar, die die Unvorstellbarkeit der Zeit zur Sprache bringt. Müssen wir nicht zu Metaphern greifen, wenn wir von der Zeit sprechen? Damit geht RICCEUR einen Schritt über das Ergebnis von Zeit und Erzählung hinaus. So zeigt es sich, daß sein Denken unterwegs bleibt und ihm nichts ferner liegt, als dieses zu Dogmen zu verfestigen. Das heißt aber nicht, daß es sich bei seinem Werk um eine Rhapsodie handelt. Vielmehr ist er um strenge Systematik bemüht; Einleitungen und Schlußbetrachtungen dienen dazu, diese dem Leser einzuschärfen. Was ihn bewegt, ist die Suche nach einer gegründeteren Antwort auf die Frage nach der Zeit, mag dies auch zu einer Konzeption der Philosophie führen, die weitab von allem Gewohnten liegt. „Ein gewisser Ikonoklasmus hinsichtlich der Geschichte, insofern sie uns im Verflossenen einschließt, bildet so eine notwendige Bedingung für ihre Fähigkeit, die Zeit zu refigurieren" (Bd 3. 346). ln der zweiten Sektion des vierten Buches stellt RICCEUR dar, daß der Schlüssel zur Lösung der genannten Aporien in einer Poetik der Erzählung liegt. Deren Grundproblem sei das Erkennen des Überkreuzbezugs zwischen historischer und fiktionaler Erzählung. Damit ist folgendes gemeint: Allein die historische, nicht die fiktionale Erzählung kann beanspruchen, sich auf Geschehnisse zu beziehen, die tatsächlich stattgefunden haben. Sie vermag Spuren des Geschehenen zu entdecken, die zu Dokumenten werden können. Aber auch der Roman beansprucht zu recht, wahrer Roman zu sein. Gewährt die Literatur nicht oft Einblicke ins Leben, die tiefer sind als die der Historie? — Historische und fiktionale Erzählung kommen darin überein, Produkte der Einbildungskraft zu sein. Nicht zufällig erinnert RICCEUR hier an ein Vermögen, das Anschauung und Begriff synthetisiert. Analog dazu müßte die Poetik der Erzählung zusammenfügen, was die philosophische Analyse auseinandergerissen hat. Das Werk schließt ab mit dem Entwurf

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einer Hermeneutik des historischen Bewußtseins, der nicht zuletzt an Überlegungen KOSELLECKS anknüpft. Das sechste Kapitel dieser zweiten Sektion ist betitelt: „Auf Hegel verzichten" (Bd 3. 280—299). Diesem Kapitel wollen wir uns nunmehr zuwenden. Wie ersichtlich, umfaßt das Kapitel nur knapp 20 Seiten in einem Werk, das einen Umfang von fast 1000 Seiten hat. Dokumentiert RJCCEUR nicht schon mit diesem quantitativen Verhältnis, daß die Auseinandersetzung mit Hegel gerade nicht im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht? Zudem versteht es sich, daß auf so engem Raum nur ein Bruchteil des Hegelschen Werkes zur Sprache kommen kann. RICCEUR hat den Text gewählt, den HOFFMEISTER unter dem Titel Die Vernunft in der Geschichte (5. Aufl. Hamburg 1955; VG) veröffentlicht hat. Dieser Text stellt eine Kompilation von Hegelschen Manuskripten und Stücken aus Vorlesungsnachschriften dar, ist also philologisch nicht unproblematisch. Jedoch wollen wir dieses Bedenken hier zurückstellen und vielmehr fragen, ob nicht RICCEUR gerade in diesem Kapitel an einen entscheidenden Punkt seines Denkens gelangt. Um hierin Einsicht zu gewinnen, stellen wir im folgenden zunächst RICCEURS Interpretation dieses Textes, dann seine Kritik an Hegels Konzeption der Weltgeschichte dar. RICCEUR fragt zunächst, woher die Versuchung rührt, die diese Konzeption lange Zeit für so viele dargestellt hat, und antwortet, indem er auf die gescheiterten Zeitanalysen der Vergangenheit verweist, die er selbst im vorliegenden Werk dargestellt hat. Deren Scheitern lag darin begründet, daß sie das Band, das die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft eint, zerschnitten hatten, so daß die Vergangenheit zu einer Abstraktion wurde. Dagegen habe sich Hegel zum Erfassen der Geschichte als der Totalisierung der Zeit in einer ewigen Gegenwart erhoben (280 f). Zeichnen wir mit RICCEUR die Grundbegrifflichkeit dieser Hegelschen Konzeption nach. Geschichte in der Bedeutung, die ihr Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte verleiht, ist qualitativ unterschieden von demjenigen, das Gegenstand der Historie ist. Zwar behandelt Hegel die „dreierlei Weisen des Geschichtsschreibens" (VG 3 f), dies aber nur aus didaktischen Gründen. Das Konzept einer philosophischen Betrachtung der Geschichte muß sich selbst tragen, und darum kann es eine Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte nicht geben. Welches ist das Kriterium, das die denkende Betrachtung der Geschichte von der Historie unterscheidet? Es besteht darin, daß sie den einfachen Gedanken der Vernunft mitbringt, „daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist" (VG 28). Eine solche Philosophie der Weltgeschichte ist unentbehrlich, weil nur sie den Gedanken zu denken vermag, der der Geschichte allein Einheit verleihen kann: den der Freiheit. Dieser Gedanke ist nur von demjenigen zu begreifen, der die Geschichte des Geistes nachvollzieht, wie sie in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaßen dargestellt ist. Da Hegel die Vorlesungen notwendig exoterischer gestalten muß als die Enzyklopädie, stellt er hier den Vulgärbegriff des teleologischen Geschehens in den Mittelpunkt und hebt an diesem Geschehen die

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Momente des Zieles, der Mittel, des Materials und der Wirklichkeit hervor (Bd 3. 283). Insofern die Vernunft in Beziehung auf die Welt gesetzt wird, erscheint sie als deren Endzweck (erstes Moment). Für sich allein genommen ist er aber nichts als eine Abstrakhon. Es kommt darauf an, daß er sich verwirklicht, und dies ist ohne das Dazutreten der drei anderen Momente nicht möglich. Seine Wirklichkeit findet er darin, daß er sich mit dem Geist eines Volkes identifiziert. Damit haben wir aber die Ebene des Abstrakten noch nicht verlassen, da wir Weltgeist und Volksgeister lediglich nebeneinander gestellt haben. Vielmehr gilt es zu begreifen, daß sich der Weltgeist nacheinander in den Volksgeistern verwirklicht, dabei aber Einer bleibt. Mit der Frage nach den Mitteln, durch die der Weltgeist sich verwirklicht, treten die einzelnen als die Träger des geschichtlichen Geschehens vor unseren Blick. Sie sind es, die in ihrem Handeln die Freiheit verwirklichen. So versteht es sich, daß die Frage nach den Mitteln nur im Rahmen einer Theorie des Handelns beantwortet werden kann. Was treibt die Individuen zum Handeln? Nicht so etwas wie Ideale, sondern allein ihre Interessen und die Erwartung, daß sie ihren Interessen durch ihr Handeln Befriedigung verschaffen können. Was ihrer Tätigkeit Stoßkraft verleiht, sind die Leidenschaften: nichts Großes in der Welt ist ohne Leidenschaft vollbracht worden (vgl. VG 85). Nunmehr trifft Hegel eine Unterscheidung, die für seine Theorie der Geschichte von fundamentaler Bedeutung ist: er entdeckt, daß die Leidenschaft nicht ein, sondern zwei Ziele intendiert, eines, das das Individuum kennt, und ein weiteres, das ihm in seinem Tun verborgen ist. Bekannt sind ihm die Interessen, die es verfolgt. Was bleibt ihm dagegen unbekannt? Mit dieser Frage sind wir auf ein weiteres Moment der Hegelschen Theorie verwiesen: das Material, in dem sich die vernünftige Geschichte verwirklicht. Der Ort, an dem sich die Idee und ihre Verwirklichung vereinen, ist der Staat. Indem der einzelne seine partikularen Interessen verfolgt, verrichtet er zugleich das höhere Geschäft des Weltgeistes, der im Staat die Freiheit verwirklicht. Aber tut sich hier nicht ein Abgrund zwischen dem Allgemeinen der Freiheit und dem Partikularen der Leidenschaften auf, der unüberwindlich ist? Diesen Anschein hat es solange, wie man die Antithese von Glück und Unglück an die Weltgeschichte heranträgt. Die Weltgeschichte ist aber nicht die Stätte des Glücks; die Seiten des Glücks im Buch der Weltgeschichte sind leere Seiten. Dies bekundet sich an den großen welthistorischen Individuen, die immer dann in Erscheinung treten, wenn sich eine „schöpferische Idee" Bahn bricht. Sie scheitern, was ihre partikularen Interessen angeht. In ihrem Scheitern wird aber manifest, was sie in Wahrheit getrieben hat: der Weltgeist, der durch sie hindurch seinen Zweck, die Freiheit, realisiert. An dieser Stelle — und nur an dieser — spricht Hegel von der List der Vernunft. Sie besteht darin, daß die Vernunft die partikularen Interessen ohne deren Wissen für sich arbeiten läßt und durch deren Untergang unversehrt bleibt. Damit ist Hegels Darstellung nicht beendet. Erst ein viertes Stadium: Die Wirklichkeit des Geistes, das durch die Einrichtung des Rechtsstaats auf der Grundla-

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ge der Verfassung gekennzeichnet ist, und schließlich Der Gang der Weltgeschichte stellen sein Konzept einer philosophischen Weltgeschichte vollständig dar. Welche Zeitstruktur eignet diesem Konzept? Auf den ersten Bück scheint der Zeitcharakter der sich verwirklichenden Vernunft voll gewahrt zu sein. Bei weiterer Betrachtung stellt sich aber heraus, daß dieser Zeitigungsprozeß die Rückkehr des Geistes in sich selbst ist. Das heißt, daß der Wirklichkeit der Zeitmodus der ewigen Gegenwart zukommt. Damit hat Hegel den Bereich verbaler Zeitlichkeit verlassen, wie es schon vor ihm PARMENIDES und der PLATON des Timaios getan haben. Das bedeutet aber, daß Hegel die Erzählung aus der Darstellung der philosophischen Weltgeschichte ausschließt (vgl. 289). Hat Hegel damit nicht das Problem der Beziehung der geschichtlichen Vergangenheit zur Gegenwart eher aufgelöst als gelöst? Verfolgen wir RICCEURS Kritik an Hegels Konzept weiter. Die intellektuelle Redlichkeit nötigt uns Heutige zu dem Eingeständnis, daß wir uns nicht mehr auf den Boden der Grundannahme Hegels stellen können, die Vernunft regiere die Welt. Die Tatsache, daß das Hegelsche System für uns seine Maßgeblichkeif verloren hat, ist ein Denkereignis, von dem wir nicht wissen, ob es für uns eine Katastrophe oder eine Befreiung ist. Auf jeden Fall entläßt uns das Ende der Hegelschen Philosophie in eine paradoxe Situation. Dies wird um so spürbarer, als unsere Hegel-Exegese immer sorgfältiger geworden ist und wir deshalb erkennen können, daß die Hegel-Auffassung derjenigen, die den Sturz des Hegelschen Systems vollbracht haben, von Mißverständnissen und Böswilligkeiten entstellt und zudem keineswegs von metaphysischen Voraussetzungen frei ist. Das ändert aber nichts daran, daß dieses Denkereignis für uns eine Art Ursprung ist, wobei wir nicht wissen, ob wir es erzeugt haben oder ob es uns widerfahren ist. Eine Kritik, die Hegel gerecht werden will, muß von der Idee der ewigen Gegenwart ausgehen. Durch sie wird die Einheit zwischen dem Vergangenen und den Lebensäußerungen hergestellt, in denen sich inmitten des Verfalls einer Epoche das Kommende schon ankündigt. Aber gerade an diesem Punkt stoßen wir auf die größten Schwierigkeiten. Wir vermögen den Schritt vom Stufengang der Entwicklung zur ewigen Gegenwart nicht mehr nachzuvollziehen. Der Zusammenhang, den Hegel zwischen Geist an sich, Entwicklung und Unterschied hergestellt hat, ist für uns in Stücke gegangen (vgl. 296). Wenn sich aber diese Gleichung auflöst, so lösen sich alle anderen ebenfalls auf. So ist es uns insbesondere seit der Romantik unmöglich, die Volksgeister in einem Weltgeist zu totalisieren. Äußerte sich in diesem Vorgehen nicht ein Europazentrismus, der in den politischen Umwälzungen unseres Jahrhunderts zu Fall gekommen ist? Das nächste Glied der Kette, das sich auflöst, ist die Lehre von der List der Vernunft, mittels derer diese sich verwirklicht. Uns scheint das Interesse der einzelnen solange nicht befriedigt, wie ihnen die Zwecke ihres Handelns nicht voll einsichtig sind. Alle Begriffe, die hiermit im Zusammenhang stehen: Partikularinteresse, höheres Interesse des Staates, Leidenschaften der weltgeschichtlichen Individuen u. a. lösen sich nunmehr aus ihrem Zusammenhang und erscheinen als die membra disiecta einer gescheiterten Totahsierung (vgl. 297).

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Dieses Ergebnis hat für das Selbstverständnis des geschichtlichen Bewußtseins tiefgreifende Folgen. Im Scheitern von Hegels Philosophie des Unendlichen zeigt es sich nämlich, daß jedes Denken Voraussetzungen in sich birgt, die es nicht zu erfassen vermag, das heißt aber, daß es endlich ist. Insofern ist auch Hegels Versuch einer denkenden Erfassung der Geschichte ein hermeneutisches Phänomen. Eine hermeneutische Interpretation ist ja gerade eine solche, die sich der Bedingung der Endlichkeit unterworfen weiß. Dies stellt keine Widerlegung Hegels dar, sondern bekundet, „daß wir nicht mehr Hegel gemäß, sondern nach Hegel denken" (298). Was meint RICCEUR, wenn er davon spricht, Hegels Versuch einer „denkenden Betrachtung der Geschichte" sei ein hermeneutisches Phänomen, also den Bedingungen der Endlichkeit unterworfen? Zum Beleg dafür könnte RICCEUR darauf hinweisen, daß für heutige Versuche der Hegel-Interpretation die Maßstäbe historisch-kritischer Forschung verbindlich sind, während Hegel dieser Betrachtungsart wohl in der Literatur, aber nirgends in der Philosophie ein Recht eingeräumt hat. Das Verbindlich werden dieser Maßstäbe nach dem Ende des Hegelschen Systems, am greifbarsten in den Forschungen DILTHEYS, ist nicht eine Änderung der Form, die den Inhalt unberührt ließe, sondern bekundet einen tiefgreifenden Wandel unseres Verhältnisses zur Geschichte, und zwar insofern, als „die historische Erschließung von Geschichte .. . ihrer ontologischen Struktur nach in der Geschichtlichkeit des Daseins verwurzelt" ist (HEIDEGGER: Sein und Zeit. 392 [§ 76]). Bedeutet dies, daß ein Text Hegels wie ein literarischer Text (etwa ein Text der Heiligen Schrift oder ein Gedicht) interpretiert werden kann? Ja, aber mit einer Einschränkung: der Hegel-Interpret hat die (zumindest dem Programm nach apriorische) Fundamentalwissenschaft des Systems, die „Logik und Metaphysik", mit in Betracht zu ziehen, und diese widersetzt sich als apriorische Wissenschaft einer Auflösung durch historisch-kritische Analyse. Auf diese Seite des Hegelschen Phüosophierens deutet RICCEUR selbst hin, wenn er davon spricht, daß Hegel die Struktur des Erzählens zur ewigen Gegenwart (der absoluten Idee) hin überspringt. Wenn wir uns im vorigen auf Sein und Zeit berufen haben, dann nur in der Absicht, die Verbindlichkeit historisch-kritischen Vorgehens als einen Fingerzeig für einen Paradigmenwechsel in unserem Geschichtsverständnis seit Hegels Tod zu begreifen, nicht aber, um uns auf die Aussagen von Sein und Zeit zu Hermeneutik und Endlichkeit dogmatisch festzulegen, hat doch HEIDEGGER selbst nach Sein und Zeit versucht, beides auf andere Weise zu denken. Dem wollen wir nicht nachgehen, sondern unseren Blick darauf richten, daß sich auch bei RICCEUR zumindest im Ansatz der Entwurf einer Hermeneutik entdecken läßt, der weder von Sein und Zeit aus zu gewinnen ist noch in GADAMERS Konzept der Hermeneutik zu integrieren wäre. Gehen wir diesen Spuren nach. Zu Recht nennt RICCEUR das Ende der Hegelschen Philosophie „gleichsam eine Art Ursprung" (293), ohne den unser Denken nicht denkbar wäre, von dem wir aber nicht wissen, ob er für uns eine Befreiung oder eine Katastrophe ist: eine Befreiung, weü erst mit der Erschütterung des Entwurfs des spekulativen Idealismus der Weg für dasjenige

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frei wurde, was unser Selbst- und Weltverständnis bestimmt — RICCEUR nennt lediglich die Namen von KIERKEGAARD, FEUERBACH, MARX und NIETZSCHE sowie die deutsche Historische Schule —, eine Katastrophe, weil, wie sich gezeigt hat, der Verlust des Traditionshorizonts und unser Ausgesetztsein im Weglosen, das er zur Folge hat, zum Absturz führen kann. RICCEUR macht aber noch auf ein weiteres aufmerksam: Mit dem Ende der Hegelschen Philosophie und damit der abendländischen Metaphysik überhaupt lösen sich die Festlegungen, die diese getroffen hat, nicht in Nichts auf. Enthalten die Lehren derjenigen, die Hegel zu Eall gebracht haben, nicht eine auf den Kopf gestellte metaphysische Theologie, indem sie überall an die Stelle des Hegelschen Geistbegriffs die Wörter Mensch, Menschheit, menschlicher Geist, menschliche Kultur setzen (294 f), und ist nicht eine Historiographie, die ihrem Selbstverständnis nach rein auf Empirie gegründet sein müßte, „schwer von ,Ideen'", die nichts als Hegelsche Gespenster sind, wie etwa Volksgeist, Kultur, Epoche (295)? So hörte die metaphysische Tradition nicht einfach auf, sondern bestimmte uns weiterhin in der Weise des „Man", so wie sie HEIDEGGER in Sein und Zeit analysiert hat. Unsere Erage an RICCEUR wäre nun, ob nicht damit die Ausgangssituation einer Hermeneutik in einem ursprünglichen Sinne Umrissen und ihr die Aufgabe zugewiesen wäre, Erinnerung zu sein, freilich in einem anderen Sinne als bei Hegel —, eine Erinnerung, die im Gegenzug gegen die Ursprungsvergessenheit jeglichem den Ort bestimmte, der ihm gemäß ist und es so in seiner Wahrheit sein läßt.

KLEINE BEITRÄGE

NATORP UND DIE HEGELSCHE DIALEKTIK

Zu Anfang unseres Jahrhunderts hat in der deutschen Philosophie bekanntlich eine „Erneuerung des Hegelianismus" stattgefunden.^ Diese Entwicklung wurde damals zum Teil insofern als konsequent betrachtet, als man vom Neukantianismus ausgegangen war und die Wiederholung der Entwicklung „von KANT bis Hegel" offenbar eine philosophiegeschichtliche Notwendigkeit widerspiegelte, welche man teils als die Bewegung von der psychologischen zur historischen Methode verstand, teils aber auch als den Fortschritt von der Kritik zum System oder schließlich sogar als die allmähliche Entwicklung der dialektischen Methode.^ HANS-GEORG GADAMER hat in seiner Festrede zum 100. Geburtstag NATORPS den Hegelianismus im Neukantianismus bis zu einem gewissen Grad wieder zum Problem gemacht durch seine Betonung der „inneren Zugehörigkeit des Neukantianismus zum spekulativen Idealismus der Nachfolger KANTS"; er nannte es das Verdienst NATORPS, „im konsequentesten Weiterdenken dieses Neukantianismus die systematischen Antriebe FICHTES und Hegels bewußt aufgegriffen zu haben".^ Im folgenden wird versucht, einen Beitrag zur Näherbestimmung von NATORPS Hegelianismus zu liefern, und zwar anhand des Themas der Dialektik. ERNST CASSIRER und HEINRICH LEW haben in den zwanziger Jahren behauptet, NATORP gehe unverkennbar auf Hegels „Selbstbewegung des Begriffes" zurück^ und verwende „ganz im Sinne Hegels" ein „dialektisches Schema"^. Freilich sind diese Behauptungen nicht unbestritten geblieben. Im Rahmen der Stuttgarter He1 Vgl. Wilhelm Windelband: Die Erneuerung des Hegelianismus. In: Präludien. Tübingen 1915. 270—289; Heinrich hevy: Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie. Berlin 1927. 2 Vgl. z. B. W. Windelband: Die Erneuerung. 279 ff; Georg Lasson: Kritischer und spekulativer Idealismus. In; Kant-Studien. 27 (1922), 4; H. Levy: Die Hegel-Renaissance. 91; Arthur Liebert: Geist und Welt der Dialektik. Berlin 1929. 425 und 429; Richard Kroner: Von Kant bis Hegel. Tübingen 1924. Bd 2. 262. 3 Die philosophische Bedeutung Paul Natorps. In: Paul Natorp: Philosophische Systematik. Hamburg 1958. XVI. Vgl. Erich Heintel: Paul Natorps „Philosophische Systematik". Ein Beitrag zum Problem des „Anfangs" in der Philosophie. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Bonn 1974. (Hegel-Studien. Beiheft 11.) 505 ff; Helmut Holzhey: Cohen und Natorp, Ursprung und Einheit. Die Geschichte der ,Marburger Schule' als Auseinandersetzung um die Logik des Denkens. Basel, Stuttgart 1986. 65 ff. Holzhey gibt eine ausführliche Bibliographie der Literatur zu diesem Thema. * Ernst Cassirer: Paul Natorp. In: Kant-Studien. 30 (1925), 292. 5 H. Levy: Die Hegel-Renaissance (Anm. 1). 41.

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gel-Tage im Jahre 1970 hat ERICH HEINTEL eine Rede gehalten über die Frage des „uneingestandenen Hegelianismus" (so das Wort GADAMERS) im Nachlaßwerk NATORPS.^ Er beschränkte sich dabei auf das Problem des Anfangs der Philosophie. HEINTEL warf NATORP eine „Fixierung eines undialektisch verstandenen archimedischen Punktes als Anfang der Philosophie" vor und stellte mehrere kritische Fragen angesichts dieses NATORPschen Hegelianismus. Jahre zuvor schon hatte WERNER MARX behauptet, NATORP befinde sich „in der Problemnähe der Hegelschen Philosophie", aber „er stehe auf dem Boden der Reflexionsphilosophie, immer die methodischen Mittel entbehrend, diese ganz zu verlassen".^ Hatte NATORP ein hinreichendes Verständnis von Hegels Dialektik? Aus der Auseinandersetzung NATORPS mit Hegel geht jedenfalls nicht hervor, daß dies der Fall gewesen wäre. Schon HERMANN COHEN hatte einen Idealismus in der Nachfolge KANTS gelehrt, der zwar insofern mit dem Idealismus Hegels übereinstimmte, als er überhaupt Idealismus war, d. h. im reinen durch das Denken selber produzierten Gedanken das Wahre sah: „Nur das Denken selbst kann erzeugen, was als Sein gelten darf. Und wofern das Denken nicht in sich selbst den letzten Grund des Seins zu graben vermag, kann kein Mittel der Empfindung die Lücke ausfüllen."® Aber das heißt für COHEN nicht, daß es eine Selbstbestimmung des Begriffs gäbe. Die Philosophie reflektiert nur kritisch (im Sinne KANTS) auf die Begriffsbildung in den verschiedenen Wissenschaften und ist nicht anders als die Wissenschaft selber eine unendliche Aufgabe. Außerhalb der Wissenschaften kann es auch gar keine Logik geben, und nur sie liefern den Stoff für die logische Betrachtung. Auch KANT ist laut COHEN in seiner Philosophie von den vorhandenen Naturwissenschaften ausgegangen. Er hat die Prinzipien NEWTONS ZU seinen synthetischen Grundsätzen ausgearbeitet und auf diese Weise seine Kategorien entdeckt.^ Die wissenschafthchen Begriffe werden von COHEN jedenfalls nicht auf eine eventuelle dialektische Natur des Selbstbewußtseins zurückgeführt. Ihm sind die Prinzipien des Unterschieds und der Identität heilig. Es gibt für ihn nur feste Unterschiede und unwandelbare Begriffe. Das Denken verlöre alle Sicherheit, wenn es sich auf flüssige Begriffe einließe: „Die Abenteuer der Romantik richten sich selbst, indem sie den Richtstuhl der Identität Umstürzen, "i® Hegel „spottete nur seiner eigenen Ketten".Die BewegUchkeit des Begriffes war dafür nur „ein schlechter Trost"; „schon die Kühnheit des Ausdrucks enthüllt die falsche Richtung". Der unendliche Progreß, welcher in der „unendlichen Aufgabe" steckt, ist Folge und Merkmal von COHENS Abweisung der Dialektik. Denn die Hegelsche Dialektik zeichnet sich ihm zufolge dadurch aus, daß sie überall ® E. Heintel: Natorps „Philosophische Systematik" (Anm. 3). 505. Zum folgenden: 510. 2 Wolfgang Marx: Die philosophische Entwicklung Paul Natorps im Hinblick auf das System Hermann Cohens. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 18 (1964), 500. ® Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis. 2. Aufl. Berlin 1914. 81. * H. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. 2. Aufl. Berlin 1918. 318. 10 H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis. 113. 11 Ebd. 416. 12 Ebd. 116.

Natorp und die Hegelsche Dialektik

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diesen unendlichen Progreß überwindet. Dieser gehört lediglich der „begrifflichen Reflexion" an.i^ NATORP teilt den Ausgangspunkt des kritischen Idealismus von COHEN. Aber er sucht darüber hinaus nach einem logischen Gesetz, um den Kategorien im Aufbau des kategorialen Gerüsts der Erkenntnis ihre Stelle anweisen zu können. NATORPS Buch Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaßen nimmt vieles aus COHENS Logik der reinen Erkenntnis auf, aber NATORP sah darin hauptsächlich nur Anregungen. Er nennt darum im Vorwort COHENS Werk ein „gewiß nicht abschließendes, aber an entwicklungsfähigen Keimen fast überreiches Grundwerk".'^ Das gesuchte logische Gesetz findet NATORP nun im Prinzip der Synthesis. Denn der Prozeß der Synthesis hat immer einen Anfang, einen Fortgang (die Wiederholung des „Erstgesetzten als Zugesetzen"), und er findet darin seinen Abschluß, daß „die ganze Reihe der bisherigen Setzungen als ein fortan Bestimmtes, ein nunmehr gesicherter Besitz der Erkenntnis zum Bewußtsein gebracht" wird. 15 Zusammen sind diese drei Stufen des Prozesses ein „Kreisgang . .. der sich der Möglichkeit nach ins Unendliche fortsetzt".i* Auf diese Weise reihen sich die kategorialen Bestimmungen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität aneinander. Das Ganze ruht auf dem einen unveränderlichen Grundakt des Bestimmens (A ist B). Dieser Grundakt ist ein zusammenhangstiftendes Verfahren, ein synthetisches Urteil. Sein Prinzip ist die Identität: Verschiedenes wird als identisch gesetzt. Das ist kein Widerspruch, sondern besagt nur, daß A und B im Denken beide „füreinander" sind. Das Denken ist ihre „wurzelhafte Ursprungseinheit"!^. Diese ist selber kein Inhalt für irgendwelche Begriffe, sondern nur die Grundlage eines jeden Zusammenhangs oder jeden „Füreinander": „Das Ursprüngliche ist somit nicht Bejahung noch Verneinung, nicht Identität noch Verschiedenheit (geschweige Widerspruch) . . . sondern Zusammenhang . . . Das lag KANTS Synthesis allerdings zugrunde, "i* Daraus ist ersichtlich, daß es auch für NATORP keine Dialektik im eigentlichen Sinn geben kann. Die Verschiedenheit wird als ein undialektischer Ursprung vorausgesetzt, der niemals Inhalt der verschiedenen Begriffe wird und ihnen also als ein Äußeres gegenübersteht. Das Prinzip des Widerspruchs ist nur ein Kriterium unrichtiger Urteile. Eine dialektische Philosophie erkennt gerade im Treiben des Widerspruchs die „dialektische Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat, durch die es allein Wahres

15 G. W. F. Hegel: Wissenschaß der Logik. Hrsg, von G. Lassen. Leipzig 1923. 11 P. Natorp: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaßen. 2. Aufl. Berlin 1923. V. — Vgl. H. Levy (s. Anm. 1). 34; Wolfgang Marx: Idealität als dialektisch konstruierbare Totalität und als Hypothese der Fundierung wissenschaßlicher Geltung. Überlegungen zur Theorie des Begriffs bei Hegel und Cohen. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Bonn 1974. (Hegel-Studien. Beiheft 11.) 517—520; H. Holzhey: Cohen und Natorp (s. Anm. 3). 65. 15 Natorp: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaßen. 53—56. 16 Ebd. 59. 17 Ebd. 21. 18 Ebd. 18 Ebd. 20 bzw. 11.

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SijMONS

ist".Im dialektischen Denken gibt es keinen die kategorialen Bestimmungen übergreifenden Grundakt des Bestimmens. Subjekt und Prädikat sind nicht nur „füreinander" aufgrund einer immer im Hintergrund schwebenden Kontinuität des Denkens. Das Subjekt ist „nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff".21 Er braucht keinen Grund außer ihm und keinen Akt der Bestimmung. Beides ist mit ihm gegeben, denn jeder Begriff ist „sogleich erstens der Begriff an ihm selbst, und dieser ist nur einer und ist die substantielle Grundlage".22 Jeder bestimmte Begriff zeigt sich als das Andere seiner selbst. Er braucht dazu keinen ihm fremden äußerlichen Akt. Das Denken als eine äußere Grundlage braucht er ebenfalls nicht, denn diese Selbstbeziehung des Begriffs ist das Denken selbst. Wie das Selbstbewußtsein zeigt, ist Selbstbeziehung die eigenste Natur des Denkens. Das Ich, das sich als sein Anderes setzt, d. h. sich sich selbst gegenüberstellt, ist nur die konkreteste und reichste Eorm derselben.23 NATORP nun ignoriert Hegels Alternahve. Gerade die Selbstbeziehung im Selbstbewußtsein wird von NATORP als eine Illusion entlarvt. In seiner Allgemeinen Psychologie nach kritischer Methode führt er dafür folgendes Argument ins Feld.24 Es gibt drei an sich undefinierbare Elemente, „Ich", „Inhalt" und „Bewußtheit", welche zusammen das Fundament der Psychologie ausmachen. Nur durch die RelaHon: „ein Inhalt ist einem Ich bewußt" werden sie wechselseitig bestimmt. Das Ich kann aber kein Inhalt sein, denn das „würde nichts geringeres besagen, als daß das Ich zugleich Gegenstand für es selbst, zugleich Erkennendes und Erkanntes, zugleich Subjekt und Objekt eines und derselben Erkenntnisaktes, oder daß es, als numerisch und inhaltlich dasselbe, doch sich selbst gegenüber, also nicht es selbst sei . . . Ich schließe: also muß wohl das Objekt des Aktes, den wir Selbstbewußtsein nennen, nicht mehr das ursprüngliche Ich, sondern ein abgeleitetes sein."25 Wenn NATORP SO ohne weiteres diesen Schluß zieht, so weist er damit auch ohne weiteres Hegels DialekHk ab. Deren Prinzip ist nämlich eben dieser Widerspruch. Das Ich ist Hegel zufolge tatsächlch für sich selbst da. NATORP dagegen findet es nicht einmal nötig, Hegels Position in diesem Zusammenhang auch nur zu erwähnen. Zur Zeit der Herausgabe der Allgemeinen Psychologie nach kritischer Methode hatte NATORP einen Vortrag über Kant und die Marburger Schule gehalten. Darin heißt es; „Sonst gehen wir mit Hegel in recht vielem zusammen, man könnte fast sagen: er teilt mit dem in unserem Sinne gedeuteten und weiter entwickelten Krihschen Idealismus alles Wesentliche, bis auf das Eine: seinen Absolutismus."2® Hier finHegel: Wissenschaft der Logik. Bd 2. 496. 21 Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg 1952. 49. 22 Hegel: Wissenschaft der Logik. Bd 1. 18. 23 Hegel: Wissenschafl der Logik. Bd 2. 502. 24 Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. 2. Aufl. Tübingen 1921. 24—31. 25 Ebd. 30. 25 Natorp: Kant und die Marburger Schule. In: Kant-Studien. 17 (1912), 213. 20

Natorp und die Hegelsche Dialektik

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det sich also keine Herabsetzung Hegels wie bei COHEN. Aber was kann NATORP mit „alles Wesentliche" meinen, wenn gerade das Wesentliche der Philosophie Hegels, seine Dialektik, nicht dazu gehört? Nur weil das reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein der Grund und Boden seiner Philosophie ist, weil die dialektische Methode (der sich als das Absolute zum Gegenstand habende Begriff) der Grund des Denkens ist, kann man Hegel vorwerfen, er sei Absolutist. Daß NATORP das reine Selbsterkennen und zugleich den Absolutismus ablehnt, ist zwar konsequent, aber dieses „Eine" ist doch schließlich „das Wesentliche"! Einsichtig wird dabei aber auch, warum NATORP sich in der Nähe Hegels zu befinden meint. Er glaubt, daß er mit Hegel in bezug auf den „Dreischritt" übereinstimmt, den Hegel „ersichtlich nur aus den Andeutungen entwickelt, die bei KANT (besonderes bezüglich der allemal drei Kategorien jeder Klasse . . .) gegeben waren".Hegel hat aber bekanntlich für seine Dialektik ganz bestimmt nicht „nur" aus dieser Quelle geschöpft. Sogar die andere von NATORP selber genannte Quelle, PLATONS Sophistes, ist nicht in jener Weise von Hegel benutzt worden, wie NATORP das glaubt. Wenn NATORP sagt: „Wir verknüpfen eben PLATO mit KANT, wie es auch Hegel getan hat"^^, so trifft das für ihn selbst durchaus zu, aber nicht ohne weiteres für Hegel. NATORPS Dreischritt und Kreisgang und diejenigen Hegels ruhen also auf recht verschiedenen Grundlagen. Es gibt allerdings gewisse Ähnlichkeiten, die zu NATORPS Fehldeutungen Anlaß gaben. Mit der gebotenen Skepsis bezüglich des Hegelbilds NATORPS wenden wir uns jetzt seinem Spätwerk zu. Darin wird der Dreischritt zum HERAKLiiischen Satz vom Einen, das sich mit sich entzweien muß, um mit sich selbst in sich wieder zusammenzugehen.30 Der Stufengang wird strenger durchgeführt als vorher. Die neue Systematik enthält jetzt dreimal drei Grundkategorien, gemäß dem logischen Prinzip. Das könnte an Hegels Wissenschaft der Logik erinnern, aber die NATORPschen Kategorien sind allesamt der Kritik der reinen Vernunft entnommen. KANT hatte die Notwendigkeit der Dreiheit der Kategorien unter jedem Titel gesehen, aber das zugrundeliegende logische Prinzip nicht auf die Einteilung der Titel selber angewendet. Diese Inkonsequenz ist die eigentliche Veranlassung für NATORPS Umstellung der Kategorien.3i Daß nun der Dreischritt die ganze Struktur der Systematik von NATORP beherrscht und nach ihm dieser Dreischritt „genau analog"32 dem Dreischlag der dialektischen Methode sei, ist noch nicht Grund genug für die Annahme, NATORP philosophiere nun dialektisch. Das gleiche gilt 27 2* Vgl. Bes.

Ebd. 210. Eine Besprechung dieser Punkte würde im Rahmen dieses Aufsatzes zu weit führen. dagegen Günther Maluschke: Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik. Bonn 1974. Kap. 2, 4 und 5; Klaus Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn 1976; Panajotis Kondylis; Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979. 29 Natorp: Kant und die Marburger Schule. 211. 30 Natorp: Philosophische Systematik (s. Anm. 3). 55. 31 Ebd. 137-147. 32 Ebd. 55.

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auch für seine Anerkennung des Widerspruchs als „treibende(r) Kraft des ganzen Aufbaus des gesetzlichen Zusammenhangs, die Kraft der Gegeneinanderspannung und damit wechselseitigen Erhaltung der Gegensätze". Bestimmen, Begrenzen, Unterscheiden ist Grenzsetzung, und die Grenze ist zugleich scheidend und einend, sie bedeutet Ausschließung und Übergang. Sie hat also einen Widerspruch in sich.Auch jede Beziehung und Synthese, namentlich die Synthese der Kausalität, hat einen sich widersprechenden Charakter. Alle Synthesen beruhen auf einer widerspruchsvollen Vereinheitlichung eines Mannigfaltigen. Der Widerspruch entsteht erst beim Unterschied. Dem Widerspruch geht also die Indifferenz voran, und er löst sich im Ganzen wieder auf. Die Anschauung ist das Erste vor jedem unterscheidenden und beziehenden Denken, und sie ist zugleich das Letzte, mit dem das Denken zusammenfallen soll. Sie ist das Einfachste am Anfang des Denkens und das Höchste, die ursprüngliche Kontinuität, in die das Denken mündet.3* Der Widerspruch ist also nur da auf der Zwischenstufe des bestimmenden Denkens (welches noch immer auf einer undialektischen KANTischen Funktion des Urteilens fußt). Für Hegel dagegen ist der Widerspruch selbst das Höchste. Er tritt zwar im zweiten Moment des Dreischritts hervor (man beachte, daß die Dreizahl für Hegel gar nicht so wesentlich ist), steckt aber schon im Anfang, und er wird nicht gelöst, sondern „aufgehoben". Er ist das Prinzip der Subjektivität und bewirkt den Übergang und Rückgang der Momente. Der Widerspruch ist nur eine abstrakte Form des Begriffs. Die reichste und konkreteste Form des Begriffs, also des Widerspruchs, ist das Selbstbewußtsein.33 NATORP dagegen kennt nicht einmal einen sich widersprechenden Begriff: „Widersprechen kann nur eins dem anderen; nur uneigentlich, nur abgeleiteterweise kann gesagt werden, daß etwas sich selbst widerspricht. Das gibt es, eigentlich an sich genommen, nicht. "3* Am Beispiel der Auseinandersetzung von NATORP mit der Dialektik des Werdens oder des Anfangs soll nun noch gezeigt werden, daß NATORP den Widerspruch im Begriff vermeiden will und seine Problemlösungen somit der Hegelschen Dialektik zuwiderlaufen. NATORP sieht einen Widerspruch in der Zweiseitigkeit der Hegelschen Bestimmung des logischen Anfangs: „einmal als das reine Sein sonst nichts; dann aber als ununterschiedene Einheit von Sein und Nichtsein".37 Seine Lösung ist, „daß Sein und Sein in den verschiedenen Sätzen Hegels nicht durchaus dasselbe besagt ... Es gibt... einen letzten Sinn des Seins, der beides umfaßt: das Sein und dessen Verneinung .. ., beide sind in einem Sinne des Seins, der über die Entge-

33 Vgl. Natorps „Selbstdarstellung" in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Hrsg, von R. Schmidt. Leipzig 1921. 171, 3t Natorp: Philosophische Systematik. 311. 35 Hegel: Wissenschaft der Logik. Bd 2. 502. 3* Natorp: Philosophische Systematik. 308. 37 Natorp: Philosophische Systematik. 60. E. Heintel (s. Anm. 3) erwähnt diese Kritik von Natorp an Hegel nicht; vgl. aber ebd. 509 f.

Natorp und die Hegelsche Dialektik

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gensetzung ... hinaus liegt, in welchem Sinn z. B. auch diese Entgegensetzung selbst ist, d. h. besteht oder stattfindet. "^8 Erstens sei gesagt, daß Hegel gar nicht das Sein einmal als Anfang bestimmt und einmal die Einheit von Sein und Nichtsein, sondern nur das Sein als Anfang bestimmt und nebenher die Vorstellung von einem bloßen Anfang als solchem analysiert, wobei er zeigt, daß die Dialektik von Sein und Nichts auch schon in der Vorstellung des Anfangs selber enthalten ist. Diese Analyse ist keine gleichwertige Alternative zur Deduktion des reinen Seins als Anfangs, denn die Vorstellung des Anfangs wird als bekannt vorausgesetzt,und deshalb wird kein unmittelbarer Anfang gemacht.^9 Die Logik fängt tatsächlich auch nur mit dem reinen Sein an. Zweitens ist es klar, daß NATORP den Widerspruch umgehen wUl. Das aber hat seinen Preis. Er braucht dazu einen Unterschied zwischen dem Sein im Gegensatz zum Nichtsein und dem Sein für sich, wobei Sein und Nichtsein „unterschieden darin vorhanden sind", jedoch nicht „in ihm sind".^ Der Unterschied ist nicht immanent in dialektischem Sinn aus dem Sein entwickelt, sondern von außen zur Lösung des Widerspruchs herangetragen. Der Unterschied findet sich bei Hegel dagegen nur in der Gestalt, daß diese Einheit erst aus dem fortwährenden Übergang vom Sein ins Nichts entsteht und umgekehrt. Diese Einheit des Seins und Nichts heißt bei ihm das Werden (und nicht Sein). NATORP sieht nicht, daß das Sein diese Einheit, das Werden, selber wird. NATORPS Lösung des Problem des Verhältnisses zwischen dem Sein und dieser Einheit des Seins und Nichts vermag das Problem letzten Endes nur zu verschieben. Vor der Gegenüberstellung des Seins und Nichtseins gibt es in gewissem Sinn beides, und andererseits gibt es beides auch wieder nicht. Sie sind also und sind nicht. NATORP setzt also sowohl Sein und Nichtsein beide als auch ihre Einheit und das problematische Verhältnis zwischen beiden zum Verhältnis ihres Verhältnisses voraus. Im Heraustreten der Gegensätze steckt das ganze Problem des Werdens noch einmal. Auf Hegels Dialektik, die jene Aporien nicht entstehen läßt, hat NATORP sich in Wirklichkeit gar nicht eingelassen, und mithin sagt er zu unrecht, Hegels Bestimmungen und seine fielen „der Substanz nach haarscharf zusammen"^!. Es ließe sich noch an weiteren Beispielen zeigen, daß NATORP Hegel öfters mißversteht, wenn auch vieles in seinem Spätwerk ganz nah an Hegels Gedanken heranrückt. Darauf sei indessen hier verzichtet. Denn es sollte hier nur gezeigt werden, daß NATORP keinen scharfen Begriff der dialektischen Methode Hegels hatte (es fehlte ihm dazu die Grundlage) und mithin auch selber gar keine Dialektik betrieben hat. Jaap Sijmons (Utrecht)

^ 39 •*0 «

Natorp: Philosophische Systematik. 61. Hegel: Wissenschaß der Logik. Bd 1. 58 —60. Natorp: Philosophische Systematik. 61.

Ebd. 59.

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GABRIELLA BAPTIST

WEGE UND UMWEGE ZU HEGELS PHÄNOMENOLOGIEN

Neue Wege zur Deutung der Hegelschen Phänomenologie können vielleicht auch durch die Umwege einer Übersetzung eröffnet werden, zumindest wird man veranlaßt zu prüfen, ob die alten Wege immer noch begehbar sind. Da außerdem die Forschung zur Phänomenologie des Geistes, die selbst beansprucht „Weg zur Wissenschaft" zu sein^ immer wieder Gefahr läuft, auf Abwege zu geraten, scheint es nicht vergeblich zu sein, nochmals nach ihren Denkmotiven zu fragen. Den Anlaß dazu bieten zwei italienische Arbeiten, die gleichzeitig erschienen und ein Beweis für die zentrale Stelle der Phänomenologie in der italienischen Hegel-Forschung sind. Die eine ist die Übersetzung der Kritik des Bewußtseyns von GEORG ANDREAS GABLER, einer Art systematisierter Phänomenologie als propädeutischen Kompendiums aus der angeblich orthodoxesten Hegel-Schule; durch die andere wird die Aufsatzsammlung von OTTO PöGGELER: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, inzwischen ein Klassiker der zeitgenössischen Phänomenologie-Forschung, dem italienischen Leser zugänglich gemacht.^ Mehrere Fäden verknüpfen diese zwei Übersetzungen über Raum-, Zeitverbindungen und den gemeinsamen Gegenstand hinaus miteinander. Die italienische Übersetzung von GABLERS Kritik, meines Wissens die erste zeitgenössische überhaupt, verdankt man GIUSEPPE CANTILLO, der in der Hegel-Forschung hauptsächlich durch seine Arbeiten zum jungen Hegel und seine Übersetzung der sogenannten Jenenser Geistesphilosophie Hegels bekannt ist. Weitere Auskünfte über Sinn und Bedeutung der Exhumierung eines Textes, der fast völ’ G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von W. Bonsiepen u. R. Heede. Hamburg 1980. (Gesammelte Werke. Bd 9.) 61. Im folgenden wird die kritische Ausgabe (Hamburg 1968 ff) im Text zitiert als GW, mit Verweis auf Band und Seite. 2 G. A. Gabler: Critica della coscienza. Introduzione alla Fenomenologia di Hegel. A cura di G. Cantillo. Napoli 1986. (La filosofia classica tedesca. Testi e studi. 6.) Im Text werden bloße Seitenzahlen für die Einleitung und den Apparat Cantillos angegeben; wenn es um Gablers Text geht, wird auf die Paragraphen verwiesen. Vgl. G. A. Gabler: Lehrbuch der philosophischen Propädeutik. Erste Abtheilung: Die Kritik des Bewußtseyns. System der theoretischen Philosophie. Erster Band: Die Propädeutik der Philosophie. Erlangen 1827. — O. Pöggeler: Hegel. L'idea di una Fenomenologia dello spirito. A cura di A. De Cieri. Presentazione di V. Verra. Napoli 1986. (Filosofia e sapere storico.) Im Text wird so zitiert: Seitenangabe für die Einleitung de Cieris und das Vorwort Verras, sonst Titel des betreffenden Aufsatzes von Pöggeler, Seitenangabe der italienischen Übersetzung und (nach einem Semikolon) der deutschen Ausgabe. Vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freiburg, München 1973.

Wege und Umwege zu Hegels Phänomenologien

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lig vergessen wurde, wenn man von einem kurzen Echo in dem niederländischen Neuhegelianismus absieht, kann die Reihe geben, in der dieser Text erscheint. Aus ihr läßt sich namhaft machen, wer bei dieser Ausgrabung Pate steht: das Neapolitanische „Istituto Italiano per gli Studi Filosofici", dessen Interesse für Hegel und den Hegelianismus nicht zuletzt auch stadtkulturelle Wurzeln hat; die Reihenleiter CLAUDIO CESA, LUIGI PAREYSON und VALERIO VERRA, deren Studien zum deutschen Idealismus auch außerhalb Italiens bekannt sind. Als ein weiterer, von der bibliographischen Einrahmung des Textes allerdings abwesender Pate kann auch G. J. P. J. HOLLAND gelten, der am Anfang dieses Jahrhunderts GABLERS Text ediert hat, jedoch mit einem verkürzten und zum Teil veränderten Titel, ohne Vorrede und stattdessen mit einer von ihm selbst verfaßten Einleitung.^ Weitere Inspiratoren, die eine Rolle gespielt haben mögen, da sie schon in den ersten Anmerkungen aus den Kulissen treten, sind diejenigen, die mit ihren Forschungen auf GABLER hingewiesen haben, wie zum Beispiel PöGGELER selbst, und so wird man schon von den Präliminarien der einen Übersetzung her auf die andere verwiesen. Blättert man diese letztere durch, wird man in der Tat weitere Informationen zu GABLERS Text finden können: ein mißlungener Versuch, der eine verstümmelte Phänomenologie in „eine ungeschichtliche Kritik des Bewußtseins" verwandelt und „zu einer Propädeutik umgestaltet" {Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes. 187; 178). Im Falle der Übersetzung von PöGGELERS Phänomenologie-Buch, die von ANTONELLA DE CIERI, einer Mitarbeiterin CANTILLOS, herausgegeben worden ist, handelt es sich auch um die bisher einzige vollständige Übertragung in eine Fremdsprache, obwohl PöGGELERS Arbeiten bei Hegel-Forschern der verschiedensten Sprachgebiete allgemein bekannt sind und deswegen hier gar nicht von einer Wiederentdeckung wie im Falle GABLERS gesprochen werden kann. Jedenfalls wird dadurch ein schon vor fünfzehn Jahren veröffentlichter Text der Aufmerksamkeit eines neuen, nicht nur von Spezialisten gebildeten Publikums präsenHert, was in der Tat eine Art Wiederaufführung bedeutet. Die Reihe, in der PöGGELERS Buch erscheint, zeigt ein ausgeprägtes Interesse für die Philosophie des deutschen Sprachraums, bei den Herausgebern der Reihe findet man wieder CANTILLö und als Autor der Vorrede wieder VERRA. üm nun zu GABLERS Werk zurückzukehren, so kann man weitere Informationen aus dem Titel entnehmen, der aber in der italienischen Ausgabe simplifiziert worden und mit einem durch gezielte oder ungewollte BoLLANDsche Nuancierungen geprägten üntertitel versehen ist: aus BöLLANDS Hinzufügung Eine Vorschule zu Hegel’s Wissenschaft der Logik wird hier Einleitung zu Hegels Phänomenologie. Am besten sollte man sich den vollständigen Titel GABLERS vergegenwärtigen, um

3 G. A. Gabler: Kritik des Bewußtseins. Eine Vorschule zu Hegel's Wissenschaft der Logik. Neue Ausgabe. Leiden 1901. Indizien einer versteckten Weiterwirkung von BoUands editorischer Tätigkeit auch bei dieser Übersetzung kann man aus dem auf dem Cover gedruckten Programm der Reihe entnehmen, wo auch Erdmanns Grundriß der Logik und Metaphysik vertreten ist, noch eine Bollandsche Exhumierung aus der Hegelschen Schule.

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GABRIELLA BAFnST

eine erste Orientierung über seine Intentionen gewinnen zu können. Wie CANTILLO in seiner Einleitung erinnert (30) und wie auch PöGGELER zeigt {Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes. 186—7; 177), handelt es sich um einen mehrschichtigen Titel. Rechts liest man: System der theoretischen Philosophie. Erster Band: Die Propädeutik der Philosophie. Links steht: Lehrbuch der philosophischen Propädeutik als Einleitung zur Wissenschaft. Zu akademischen Vorlesungen und zum Selbststudium. Erste Abtheüung: Die Kritik des Bewußtseyns. GABLERS Kritik, eigentlich nur der letzte Teil eines längeren Titels, gliedert sich also in eine Propädeutik ein, die ihrerseits als Einleitung den ersten Teil eines Systems ausmachen soll. Der ganze Plan ist nur Projekt, die erste Abteilung auch die einzige geblieben. Der nicht ausgeführte Entwurf gibt jedenfalls schon Auskunft darüber, daß GABLERS Kritik anscheinend der Problematik der Einleitung in die Wissenschaft entspricht und sich deswegen angeblich in den theoretischen Ort stellt, den Hegels Phänomenologie von 1807 einnehmen wollte. Eine propädeutische Intention könnte man im Grunde genommen schon 1807 in der Idee eines „Weges" zur Wissenschaft ablesen; das von GABLER angestrebte System erinnert schließlich an dasjenige, dessen erster Teil Hegels Phänomenologie des Geistes sein sollte: Die Kritik GABLERS könnte also auf dem Hegelschen Ansatz von 1807 fußen. Eine gründlichere Sondierung des Titels sowie ein erster Blick auf die Inhaltsanzeige und auf den Text selbst wird jedoch leicht zeigen, daß die propädeutischen Absichten vielmehr auf die Gestalt verweisen, die die Hegelsche Phänomenologie in Nürnberg angenommen hatte; das wird zum Beispiel von der Gliederung in Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft und von dem Plan der fehlenden Teile der geplanten Propädeutik bestätigt, die laut Anmerkung zum § 5 noch eine Psychologie und eine Enzyklopädie enthalten sollten. Eine nähere Analyse des angestrebten Systems läßt dann noch vermuten, daß der Blick des Verfassers auf die Enzyklopädie von 1817 gerichtet ist; der LehrbuchstU mit Paragraphen und Anmerkungen mag ein Hinweis darauf sein. Bereits im Titel ist so die Verwirrung und die Täuschung von GABLERS Werk angekündigt, in dem die verschiedenen Hegelschen Ansätze miteinander vermischt werden, wobei das Ganze als vermeintliche orthodoxe Bearbeitung des Ansatzes der Phänomenologie und später als „subjektiver Anfang" der Philosophie präsentiert wird'*, in der Tat aber nichts anderes als eine zusammengeraffte Kompilation ist, „orientiert an der verkürzten propädeutischen und enzyklopädischen Phän. des späteren Hegel", wie PöGGELER betont {Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes. 187; 178). Wie überhaupt der Autor dieses schon vom Titel her verwirrenden Textes, ein unbekannter Gymnasiallehrer, nach mehreren vergeblichen Versuchen, auf eine Universitätsstelle zu gelangen, sich plötzlich auf dem Lehrstuhl Hegels selbst in Berlin befinden konnte, erklärt die bio-bibliographische Anmerkung, mit der CANTILLO seine Einleitung abschließt (49—55) und aus der hervorgeht, daß GABLER ■* G. A. Gabler: Die Hegelsche Philosophie. Beiträge zu ihrer richtigen Beurtheilung und Würdigung. Erstes Heft: Das Absolute und die Lösung der Grundfrage aller Philosophie bei Hegel im Unterschiede von der Fassung anderer Philosophen. Berlin 1843. 111.

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von Anfang an eine Figur ganz im Schatten Hegels war. Seine Korrespondenz mit dem verehrten Meister reduziert sich fast ausschließlich darauf, mit dem Hinweis auf die alte Schülertreue akademische Empfehlungen oder günstige Rezensionen zu erbitten.5 ln einer Antwort, verspätet wie immer, lobt Hegel von GABLERS Kritik die „Gründlichkeit der spekulativen Einsicht mit der Bestimmtheit und Klarheit der Entwicklung und Darstellung", kann dann aber als vortrefflich kaum mehr als die Exposition einer Anmerkung nennen (vgl. Briefe. Bd 3. 224, 225)! Später wird Hegel in einem gescheiterten Vermittlungsversuch für eine Heidelberger Stelle wiederum GABLERS „gründliche philosophische Einsicht ... ohne Schwindelei und Gären" hervorheben {Briefe. Bd 3. 273); trotzdem scheint solches Gelegenheitslob nicht den Einsatz der Witwe Hegels für GABLERS Kandidatur auf den Lehrstuhl in Berlin zu rechtfertigen, und so klingen ihre Worte: „Hegel hätte keinen andern als GABLER erwählt" nur wie ein parteiliches Votum in der mühsamen Nachfolgediplomatie.^ Hegel selber soll nach E. BEUERMANN von GABLER behauptet haben, „er habe ihn am besten verstanden, aber doch mißverstanden".'^ GABLER wurde, wie bekannt, der Kandidat der orthodoxen Hegelianer, die ihn erst vier Jahre nach dem Tod Hegels und nach langwierigen Kämpfen gegen die feindlichen Parteien in der ungünstigen Lage der neuen akademischen Kulturpolitik und der immer heftiger werdenden Kritiken gegen Hegels Philosophie endlich durchsetzten. Mit seiner althegelischen Orthodoxie, mit seiner apologetischen Orientierung und mit dem schon bewiesenen Mangel an Originalität konnte er wahrscheinlich für die Hegelsche Partei die Rolle des unbekannten Pfarrers spielen, der in den schwierigsten Wahlen für die Papstnachfolge aus der Provinz geholt wird. Gerade mit der Schilderung der Rolle GABLERS in der Hegel-Schule als epigonaler Zeuge fängt CANTILLOS Einführung in den Text an (9—24). Mitten in den Wirren eines schwer zu tragenden Erbes, bei der die gezielte Vervollkommnung des Systems gleich die Zerrissenheit der Schule zeigte und wo schon Reformtendenzen in der Suche nach einer Balancierung zwischen Treue und Entwicklung in der Tat Deviationen produzierten, ist GABLER der orthodoxe Verteidiger sowohl gegen die Attacken von außen, wie im Falle TRENDELENBURGS, als auch gegen die internen gefährlichen Abweichungen, zum Beispiel bei BAUER, wobei seine Apologetik hinsichtlich des Systems einem überzeugten Quietismus auf der religiösen wie auf der politischen Ebene entspricht. Was hier mehr Interesse verdient, ist das dritte Kapitel der Einleitung CANTILLOS, das näher auf die Kritik des Bewußtseyns eingeht, und so das „punctum dolens" der ganzen Sache zum Ausdruck kommen läßt (24—42). Wenn möglicherweise die zentrale Stelle der Problematik des Verhältnisses Phänomenologie-Logik bei GABLER auch eine biographische Seite hat und eng mit seinem Kon5 Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister u. F. Nicolin. 3., z. T. völlig neubearbeitete Aufl. Hamburg 1969-1981. Bd 3. 206 ff, 230 f, 234 f, 236 f, 267 ff. Im Text zitiert als: Briefe. * Vgl. den Brief von Marie Hegel an P. G. van Ghert vom 26. 1. 1832 in; Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg, von G. NicoUn. Hamburg 1970. 513. ^ Vgl. Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. 519.

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takt zu Hegel in Jena verbunden ist (1805/6), gerade Ln der Zeit als dies Verhältnis ein Brennpunkt in Hegels Denken war, und wenn so auch eine „innere Genese" von GABLERS Werk mit CANTILLO angenommen werden kann (25), ist die „äußere Genese" der Kritik, verbunden mit GABLERS Lehrtätigkeit in den Gymnasien, mit didaktischen Bestrebungen, ministeriellen Vorschriften und ihren Interpretationen schon das erste Element, das Verwirrung bringt. Bekanntlich war GABLER gerade in der Zeit Hauslehrer in Nürnberg, als Hegel dort am Aegidiengymnasium arbeitete; er war über Hegels Lehrtätigkeit informiert und konnte später ROSENKRANZ für die Edition der Propädeutik Nachschriften aus dieser Zeit liefern.* Hegels Nürnberger Ausarbeitungen haben bestimmt auch aus biographischen Gründen (in der „äußeren Genese" der Kritik) GABLERS Verständnis der Hegelschen Phänomenologie eine eigentümüche Nuancierung verliehen und so einen ersten Kontaminationsprozeß veranlaßt. Auf die Frage, inwiefern Hegels Nürnberger Bearbeitungen der Phänomenologie noch mit der Jenaer Problematik der Einleitung in die Wissenschaft, wie diese sich nach 1804 gestaltete, kompatibel sind, kann PöGGELERS Arbeit mehr Auskunft geben, und zwar dadurch, daß dort die Jenaer Grundlagen der Phänomenologie von 1807 näher untersucht werden und so jede Versuchung zur Vermengung mit den Nürnberger, meistens didaktisch bedingten Ansätzen und mit den noch späteren Heidelberger und Berliner enzyklopädischen Änderungen von vornherein unmöglich gemacht wird (vgl. hauptsächlich: Hegels Jenaer Systemkonzeption und Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes). PöGGELER beweist in seiner Arbeit, wie „das Schicksal der Phänomenologie . .. mit dem Wandel der Systemkonzeption verknüpft" ist {Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins. 262; 272), und wie deswegen die „Änderung im Ansatz und in der Anlage" nicht aus der Sicht verloren werden soll, wenn schon in der Zeitspanne von mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder von einer neuen Phänomenologie die Rede ist. Wenn man sich jetzt mit PöGGELER die Frage vergegenwärtigen will, wie der ursprüngliche phänomenologische Ansatz einzuordnen ist, wird man in einer späteren Jenenser Stufe der Verschmelzung von Logik und Metaphysik die „Geburtsstätte" des Werkes von 1807 finden, das dann als neue Einleitung in die Wissenschaft dienen sollte (vgl. Hegels Jenaer Systemkonzeption. 162 ff; 146 ff). Der logisch-metaphysische Ursprung wird jedoch weiter in der Phänomenologie von 1807 spürbar bleiben, da es dort nicht sosehr oder nicht ausschließlich um realphilosophische Themen, in der Weise eines philosophischen BUdungsromans entfaltet, auch nicht um eine Art Religions- oder Sozialgeschichte oder gar um eine anthropologische Begründung der gesellschaftlich-geschichtlichen Bewegung geht, wie die Sekundärliteratur sie öfters weiter gedeutet hat, sondern vielmehr um die Einübung von spekulahven Bestimmungen von der Seite des natürlichen Bewußtseins, so daß man „an exemplarischen Fällen den rechten Umgang mit den einzelnen Kategoriengruppen und dann mit anderen spekulativen Bestimmungen" lernt und erfährt {Hegels * G. W. F. Hegel: Philosophische Propädeutik. Hrsg, von K. Rosenkranz. Berlin 1840. {Werke. Bd 18.) VI.

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Phänomenologie des Selbstbewußtseins. 250; 257). Eben wegen dieser bleibenden logisch-metaphysischen Komponente ist die Einleitung zugleich auch erster Teil des Systems (vgl. ebd. 262; 272). Auf die umstrittene Frage, welche Logik (und welche Metaphysik) der Phänomenologie von 1807 zugrunde liegt, hat PöGGELER bekanntlich die entscheidende Antwort mit dem Hinweis auf den nicht ausgeführten Logikentwurf von 1805/6 gegeben (vgl. Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins. 257 ff; 266 ff), in dem die zweifache Dreiteilung der spekulativen Philosophie: „absolutes Seyn, das sich andres (Verhältnis wird) Leben und Erkennen — und wissendes Wissen, Geist, Wissen des Geistes von sich" (GW 8. 286) als die Grundlage der zweifachen Vierteilung der Phänomenologie von 1807 erkannt wird.^ Allerdings muß man berücksichtigen, daß der zweite „metaphysische" Teil des Jenaer Logikentwurfes nie als solcher ausgearbeitet wurde (vgl. Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins. 260—1; 270). Wie aus dieser gar nicht palimpsesthaft, sondern systematisch und kohärent aufgebauten Phänomenologie fast die ganze zweite Hälfte in Nürnberg (und später auch bei GABLER) wegfallen konnte, wird nur dann erklärbar, wenn ihr eine neue Funktion beigemessen werden und sie sich demnach in ein neues strukturelles Konzept einpassen mußte. Man muß noch bedenken, daß die Nürnberger Bearbeitungen notwendigerweise auch von den Anforderungen der pädagogischen Vermittlung geprägt sind, und so Kürzungen und Änderungen gleichfalls im Zusammenhang mit dem neuen Publikum (keine Wissenschaftler, sondern Schüler!) verstanden werden müssen. Zurecht erinnert CANTILLO (26 ff) in seiner Schilderung der „äußeren Genese" von GABLERS Kritik an das NiETHAMMERsche Normativ für die bayerischen Gymnasien, das den Unterricht der Philosophie als propädeutische Aufgabe vorschrieb und das die verschiedenen traditionellen Themenkreise auf die vier Klassen verteilte, sowie an Hegels Modifikationen dieser Vorschriften, die auch pädagogische Unfälle vermuten lassen. Einer davon ist wohl gleich im ersten Schuljahr 1808/9 geschehen, als Hegel in der Mittelklasse, statt wie empfohlen Kosmologie, Theologie und Psychologie, eine „Pneumatologie" oder „Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie" — unterteilt in Phänomenologie und Psychologie — und eine Logik anbieten wollte. ^ Der Grund der Änderung mag ein äußerlicher sein, Hegel brachte nach Nürnberg in der Tat nur ein gedrucktes Werk mit, dessen Inhalt er im Unterricht gebrauchen konnte; zugleich ist die Änderung aber auch inhaltlich bedingt: Nach seiner Selbstanzeige sollte die Phänomenologie des Geistes ^ Hierbei ist zu beachten, daß „Verhältnis" sich in dem phänomenologischen Gang in den Kapiteln „Wahrnehmung" (als zusammengenommen Relation und Modalität) und „Kraft und Verstand" (als Idee der Relation) artikuliert, und der Teil „Wissen des Geistes von sich" phänomenologisch sich in die Kapitel „Religion" und „absolutes Wissen" gliedert. Zum Niethammerschen Normativ vgl. K. Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Berlin 1844. 254 —256. Vgl. Bewußtseinslehre und Logik ßr die Mittelklasse 1808/9. In; G. W. F. Hegel: Nürnberger Schrißen. Hrsg, von J. Hoffmeister. Leipzig 1938. 11—50. Vgl. auch G. W. f. Hegel: Nürnberger und Heidelberger Schrißen 1808—1817. Hrsg, von E. Moldenhauer u. K. M. Michel. Frankfurt 1970. (Werke in zwanzig Bänden. Bd 4.) 70—110.

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„an die Stelle der psychologischen Erklärungen" treten (GW 9. 446); dann konnte sie auch zusammen mit der für die Mittelklasse vorgesehenen Psychologie in dem Plan einer Einleitung zur Wissenschaft und zur Logik auftreten. Was aus diesem Plan wurde, wie er verunglückte und wie die schon genügend verwickelte Lage infolge von fehlerhaften Editionen sich fast in eine aussichtslose Unentwirrbarkeit verwandelte und so jahrzehntenlang die Forschung irreleitete, berichtet PöGGELER in einem seiner Aufsätze und erklärt die Intention eines direkten Überganges vom Vemunftkapitel der Phänomenologie zur Logik, was auch die spätere enzyklopädische Fassung und die weitere ,orthodoxe' Bearbeitung der Schule erläutern würde, als eine unbegründete und falsche Annahme (Zur Deutung der Phänomenologie. 202 ff; 196 ff). Die Absicht, die ganze Phänomenologie vorzutragen, die in der Gliederung der einleitenden Paragraphen des Harvard-Manuskriptes klar zum Ausdruck kommt, mußte wahrscheinlich vor der Realität einer nichts verstehenden Schulklasse scheitern. Eine mögliche Antwort auf die Frage, wieso Hegel gleich die Logik und nicht wie geplant die Psychologie angeschlossen hätte, findet CANTILLO in einem späteren Gutachten Hegels von 1812, wo die Logik eben wegen ihrer Abstraktheit im Vergleich zur Psychologie als für die Schüler leichter und einfacher beurteilt wird.i^ Jedenfalls wird aber in den nächsten Jahren immer eine Psychologie der gekürzten und simplifizierten Phänomenologie nach dem Plan von 1808/9 angeschlossen, diese „Pneumatologie" oder „Geisteslehre", auch einfach „Psychologie" genannt, war zusammen mit der Logik abwechselnd Unterrichtsthema in der Mittelklasse, wie die Unterrichtsberichte Hegels beweisen. 13 Die Kürzung und die neue Stellung bedeutete selbstverständlich einen Eingriff in die Struktur des Werkes selbst, der auch theoretische Gründe haben sollte und nicht ohne Folgen bleiben konnte: Als eine dieser Konsequenzen, die Hegel allerdings nicht mehr gesteuert hat, soll GABLERS Kritik gelten. Über die Stellung der Phänomenologie auch im Rahmen der Nürnberger Enzyklopädie, deren Klärung gleichfalls ein besseres Verständnis von GABLERS Werk erlauben würde, ist immer noch kein endgültiges Wort gesagt worden, auch wegen des bedauerlichen Fehlens einer zuverlässigen Edition der Materialien und der Nachschriften, die zum Teil sogar immer noch auf eine Transkription warten.!^ Jedenfalls spiegeln die didaktischen Umarbeitungen Akzentverlagerungen einer neuen Abrundung des Systems wider, wobei zum Beispiel die geschichtliche Vermitteltheit nicht mehr als solche Problem des systematischen Ansatzes ist und eine Einleitung nicht mehr geleistet werden soU, so daß sich die strukturelle Funktion der Phänomenologie gemäß dem neuen Panorama verwandelt. In einer kürzlich erschienenen Bochumer Dissertation hat KUNIO KOZU hinsichtlich dieser 13 Vgl. Über den Vortrag der philosophischen Vorbereitungs-Wissenschaßen auf Gymnasien. In: G. W. F. Hegel: Vermischte Schrißen. Hrsg, von F. Förster u. L. Boumann. Berlin 1835. (Werke. Bd 17.) 337. 13 Vgl. Hegel: Nürnberger Schrißen. 3—10. 1^ Eine erste Information darüber gibt F. Nicolin: Pädagogik — Propädeutik — Enzyklopädie. In: Hegel. Einführung in seine Philosophie. FIrsg. von O. Pöggeler. Freiburg, München 1977. 91-105, bes. 98 ff.

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Frage drei Hauptschritte unterschieden, die Hegels Phänomenologie in der Nürnberger Zeit hat gehen müssen.Eine kurze Schilderung dieses Weges kann auch für ein besseres Verständnis GABLERS hilfreich sein. Die erste Stufe ist die schon umrissene Phase von 1808/9, in der die Phänomenologie zusammen mit der Psychologie in eine Geisteslehre gehört, die als Einleitung in die Philosophie dient. Die Kürzung der Phänomenologie, obwohl zunächst wahrscheinlich nur Folge eines pädagogischen Unfalles, bewirkte jedoch die Beschränkung auf die formelleren und abstrakteren Teile, was möglicherweise dazu beigetragen hat, die einleitende Funktion abzuschwächen, Im allgemeinen blieb aber die Geisteslehre Einleitung in die Philosophie. Vor allem in der Enzyklopädie wurde aber auch eine andere Geisteslehre fortgebildet: diese zweite Geistesphilosophie bestand zuerst aus Psychologie, Staatswissenschaft und Geschichte, Kunst — Religion — Wissenschaft. CANTILLO, der diese Einteilung eigentlich bis 1815/16 für gültig hält (28), erkennt in dieser Gliederung die Reproduktion von Mustern der Jenaer Realphilosophie. In einem zweiten Schritt (1810/11) wird die Phänomenologie in die „Lehre von dem Geiste" eingeordnet, obwohl sie nicht ganz in diese eingegliedert ist. Eine Bestätigung, daß die Eingliederung noch nicht vollzogen ist, kann man in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Wissenschaß der Logik (März 1812) finden, wo die Phänomenologie immer noch die Rolle des „ersten TheU[s] des Systems der Wissenschaft" spielt (GW 11. 8). Eine gewisse Ambiguität charakterisiert die Phänomenologie in dieser Phase, sie kommt eigentlich zweimal im systematischen Raster vor. Erst 1812/13 fängt die Phänomenologie nach Kozu an, ein gleichrangiger Teü einer noch nicht endgültig festgegliederten Philosophie des Geistes zu werden, die von der ursprünglichen Dreiteilung jetzt durch die Voranstellung der Phänomenologie vierteilig und dann sogar fünfteilig wird, indem Hegel eine Anthropologie an die erste Stelle hinzufügt. Erst 1816 kündigt sich in der Wissenschaß der Logik die Gliederung der „concreten Wissenschaften des Geistes" als Anthropologie, Phänomenologie, Psychologie (GW 12. 197) an. Als Titel treten sie jedoch nur in der Enzyklopädie von 1827 auf, die GABLER erst nach Fertigstellung seiner Kritik zur Kenntnis nahm. In der Enzyklopädie von 1817, die GABLER in seiner Fassung der Kritik berücksichtigt hat, ist die Gliederung: Seele, Bewußtsein, Geist, was auch GABLERS Titel erklären kann. Was in diesem experimentellen Platzwechsel geschieht, der den Versuchen der Zusammenfügung eines komplizierten Puzzles ähnelt, ist lücht nur das fortschreitende Aufgeben des ursprünglichen Charakters der Phänomenologie des Geistes als Schritt in die Philosophie von der Seite eines philosophiebedürftigen, aus den Entzweiungen der Zeit hervorgegangenen Bewußtseins, sondern auch die allmähliche Ausscheidung gerade der von PöGGELER herausgestellten Komponente einer „Erfahrung der Geschichte", die „in die Mitte des transzendentalen Ansatzes" und „in die Frage K. Kozu: Das Bedürßtis der Philosophie. Ein Überblick über die Entwicklung des Begriffkomplexes „Bedürfnis", „Trieb", „Streben" und „Begierde" bei Hegel. Bonn 1988. (HegelStudien. Beiheft 30.) ** Vgl. W. Bonsiepen: Phänomenologie des Geistes. In: Hegel (wie Anm. 14). 73.

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nach der Möglichkeit der Metaphysik" hineingetragen worden war (Hegels Jenaer Systemkonzeption. 171, 177; 157, 166). Das heißt: Nach der Entwicklung, die zu einer verstümmelten Phänomenologie führt, bildet diese dann nur noch einen Teü der Philosophie des subjektiven Geistes im Rahmen des neuen teleologischdialektisch begründeten Systems. Dabei wird gerade die eigentliche „Idee" der Phänomenologie aufgegeben, die später vielmehr in die Berliner Besinnung auf die Geschichte eingeht (vgl. Zur Deutung der Phänomenologie. 227; 227. Zu der Problematik Phänomenologie-Geistesphilosophie s. Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins. 262—7S; 272-92). Kehrt man jetzt zur GABLERS Kritik zurück, so muß die wechselseitige Kontamination der verschiedenen Phänomenologie-Ansätze als höchst problematisch erscheinen, zum Beispiel die Beibehaltung der einleitenden und propädeutischen Funktion in der neuen enzyklopädischen Gestalt. Ob GABLER die tiefe Bedeutung dieser kurz geschilderten Verwandlung verstanden habe, bezweifelt auch CANTILLO in seinem Kommentar zu § 35 der Kritik, wo auf die späteren Umgestaltungen von Hegels Phänomenologie des Geistes verwiesen wird; hier weise zwar GABLER auf die Transformation der Phänomenologie bei Hegel hin, „ohne jedoch die tatsächliche Reichweite zu begreifen" (41). Die nähere Analyse eines Textstückes wird leicht zeigen, wie das Mixing-Verfahren GABLERS, wenn auch höchst interessant für die Rezeption und Bearbeitung eines Hegelschen Textes innerhalb der Schule, sich als absolut unbrauchbar für eine Einleitung zu einer Phänomenologie Hegels oder gar zu ihrer „Idee" erweist, da es sich um einen Cocktaü aus Verschiedenen handelt, wobei gerade das Wesentliche verloren geht. Als Beispiel dafür kann der Teil über „Das Selbstbewußtseyn" dienen. Wiederum vermag PöGGELER mit seinem Aufsatz: Die Phänomenologie des Selbstbewußtseins, einer seiner meistrezipierten Arbeiten zur Phänomenologie, den Einstieg in die Problematik zu ermöglichen, wie diese sich 1807 darstellte. Gemäß der schon erwähnten logisch/metaphysischen Struktur von 1805/6 entspricht das Kapitel, das im Inhaltsverzeichnis den Titel „Selbstbewußtseyn" trägt und im Text selber als „Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" vorkommt, dem Teil „Leben und Erkennen", also dem dritten und letzten Abschnitt des mehr logisch orientierten Teils. Diese strategische Position als Schluß der ersten Hälfte des phänomenologisch durchzugehenden, systematischen Programms erklärt die Äußerung Hegels, hier sei der „Wendungspunkt" (GW 9. 109), das heißt „die Wendung vom gegenständlich ausgerichteten Bewußtsein zum Geist" (Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins. 248; 253). Es geht hier tatsächlich um den „Begriff des Geistes" selbst (GW 9. 109), was auch das erstmalige Auftreten von geistesphilosophischen Gestalten und Beispielen verständlich machen würde. Die verschiedenen Verdoppelungen und Entzweiungen, die schon in der Gliederung Vorkommen, sind auch durch die systematische Entsprechung erklärbar, da es ständig um die zwei Seiten des Seins als „Leben" und des Selbst als „Erkennen" geht, um die Spaltung zwischen „der Unmittelbarkeit und der SelbsthafHgkeit oder der Unselbständigkeit mit ihrem Eingelassensein in das Leben und der Selbständigkeit" (Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins. 242; 246). In privile-

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giertet Weise behandelt Hegel hier das Sein und das Wissen darum; so kann PöGin diesem Kapitel den Ansatz des Werkes selbst erkennen: „Die ,Idee' der Phänomenologie liegt letztlich im Prinzip des Selbstbewußtseins" (ebd. 250; 257). Bekanntlich ist eine Pointe von PöGGELERS Lektüre des Selbstbewußtseinskapitels seine Polemik gegen die Versuche, in ihm eine gesellschaftlich-geschichtliche Analyse oder gar eine Sozialphilosophie zu erkennen, was in dieser Phase der systematischen Entwicklung gar nicht am Platz sein kann. Es geht hier vielmehr um die Vermittlung der zwei Seiten von Unmittelbarkeit und Selbsthaftigkeit, die durch logisch-syllogistische Argumentationen dargelegt werden. Jedoch ist es von Bedeutung, daß hier schon Geistesgestalten und dadurch realphilosophische Themen, wenn auch abstrakt und bloß ansatzweise, vorhanden sind, gerade in dem „Wendungspunkt", wo der „Begriff des Geistes" sich ankündigen soll, obwohl diese Motive nicht im engeren Sinne , realphilosophisch' und auch nicht ,anthropologisch' wie bei KojfivE gedeutet werden können. Dieser strukturelle Vorgriff auf die späteren geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, die ihren eigentlichen Platz in den Kapiteln über „Geist" und „Religion" haben, zeugt gerade für die strategische Stelle und für die theoretische zentrale Funktion des Selbstbewußtseinskapitels. Es ist wahrscheinlich nicht von ungefähr, daß diese Verschmelzung zwischen den Bewußtseinsgestalten und ihren logischen Momenten auf der einen Seite und den Geistesgestalten und ihren metaphysischen Momenten auf der anderen Seite dann als erste vom Selbstbewußtseinskapitel ausgeschieden wird, als die Phänomenologie ihre Wandlung erlebt und ihre ursprüngliche „Idee" preisgibt. Es ist leicht einzusehen, daß die Nürnberger Kürzung die systematische Funktion und die strategische Stellung des Selbstbewußtseinskapitels verwischt, in die Vereinfachung für die Schüler mischen sich beachtliche Änderungen, die theoretische Wandlungen in den Jahr für Jahr experimentierenden Verbesserungen reflektieren. Was insbesondere den Teil Selbstbewußtsein betrifft^^, kann man hier vereinfachend, um GABLERS Kontaminationen besser einzuordnen, in dem Harvard-Manuskript von 1808/9 schon die erste große Änderung in der Streichung der geistesgeschichtlichen Beispiele von Stoizismus, Skeptizismus und unglücklichem Bewußtsein und in der neuen dreiteiligen Gliederung — a) Anerkennung, b) Herrschaft und Knechtschaft, c) allgemeines Selbstbewußtsein — verfolgen. Wahrscheinlich ein Jahr später sollte dieses Muster schon nicht mehr gültig sein, da aus den Randbemerkungen Hegels in einer Nachschrift oder Abschrift eines Anonymus aus dem gleichen Schuljahr wiederum eine neue Gliederung ablesbar wird: a) Begierde, ß) das Anerkennen (Herrschaft und Knechtschaft wird ein Teil davon), y) Allgemeinheit des Selbstbewußtseins.i® Trotz der Streichung der geistesgeschichtlichen Gestalten werden neue Elemente und Themen aus dem realGELER

Siehe dazu fC. Kozu: Zur Chronologie von Hegels Nürnberger Fassungen des Selbstbewußtseinskapitels. In: Hegel-Studien. 21 (1986), 27—64. Es wird mit freundlicher Genehmigung von H. Schneider zitiert, der die Nachschrift transkribiert hat und edieren wird.

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philosophischen Bereich aufgenommen, wie zum Beispiel Familie, Erwerb und Besitz unter dem Teü ß), Handeln und Recht unter dem Teil 7). Das geschieht wahrscheinlich in der Phase, als die Phänomenologie immer mehr zu einem bloßen Teil der Geistesphilosophie im Rahmen einer ansatzweise neu konzipierten Enzyklopädie wird, die aber noch nicht fertig gegliedert ist, was die Antizipation von Elementen des objektiven Geistes erlaubt. Für die weitere Entwicklung des Kapitels über das Selbstbewußtsein kann der von ROSENKRANZ edierte Text einer Phänomenologie des Geistes, oder Wissenschaft des Bewußtseins keine Auskünfte geben, da es sich um eine an der späteren Enzyklopädie orientierte Kompilation aus verschiedenen Jahren handelt.!^ Eine erhaltene Nachschrift des Kurses über Phänomenologie und Psychologie vom Jahr 1811/12 (von CHRISTIAN S. MEINEL, Schüler der Mittelklasse) wartet noch auf eine Edition.20 In dem Teil über das Selbstbewußtsein (§§ 25—45) zeigt sie jedenfalls die Stabilisierung der schon in den Randbemerkungen des Anonymus ablesbaren Gliederung; vorsichtiger als vorher wird mit realphilosophischen Themen umgegangen. Die Familie wird jetzt mit einer nicht unbedeutenden Änderung des systematischen Ortes im dritten Teil zusammen mit dem Vaterland erwähnt, sie gilt als Beispiel der „geistigen Allgemeinheit", deren sich das Selbstbewußtsein zugehörig weiß (§ 44); in der Anmerkung dazu gilt als weiteres Beispiel der Bürger, der als solcher im Staat „was Wesentliches" ist. In dem nächsten Schuljahr kommt die Phänomenologie ohne beträchtliche Änderungen in einer sehr kurzen Form innerhalb des dritten Teiles, „Lehre von dem Geiste", der „Philosophischen Encyklopädie 1812—1813" von CHRISTIAN MEINEL — jetzt Schüler der Oberklasse — vor (§ 54 u. Änm.).2i Der Teil über das Selbstbewußtsein gewinnt dabei die größte Äufmerksamkeit und wird ausführlicher als die anderen Teile behandelt, was für seine bleibende, zentrale theoretische Stelle zeugt, wenn auch in systematisch geändertem Kontext. Als nächste Stufe muß die Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1817 angesehen werden, wo die Phänomenologie, unter dem Titel „Das Bewußtseyn", Teü der endgültig gegliederten Philosophie des subjektiven Geistes ist (§§ 329—362). In dem Abschnitt über „Das Selbstbewußtseyn" (§§ 344—359) bleibt die Gliederung die schon bekannte; noch vorsichtiger wird mit den Antizipationen aus dem objektiven Geist umgegangen: In der Anmerkung zum § 355 wird zum Beispiel der Kampf des Anerkennens als „ein Beginnen der Staaten" erklärt, was Hegel sogleich dahingehend einschränkt, daß die Gewalt aber „nicht Grund des Rechts" ist; in gleicher Weise wird bei der Anmerkung zum § 358 in dem allgemeinen Selbst die „Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staates; so wie aller Tugenden, — der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms" eingeführt. Diese verwandelte Phänomenologie, die 1827 und 1830 weiter variiert wird, hat sich nach der Nürnberger Entwicklung

G. W. F. Hegel: Philosophische Propädeutik. (Werke. Bd 18.) 79—90. ^ H. Schneider wird auch diese Nachschrift edieren. 21 Vgl. Anm. 20.

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weit von der Phänomenologie des Geistes entfernt: 1807 ging es im Kapitel über das Selbstbewußtsein zum Beispiel gar nicht um die Familie oder um den Staat. Kehren wir wiederum zu GABLERS Kritik und besonders zu den dem Selbstbewußtsein gewidmeten Paragraphen (131 — 150) zurück, so genügt schon ein erster Blick auf die Anmerkungen CANTILLOS, die die versteckten Zitate entschlüsseln, um gleich den Eindruck zu festigen, wie die Phänomenologie des Geistes, die Wissenschaft der Logik, die Enzyklopädie von 1817, sogar die sogenannte Jenaer Geistesphilosophie von 1805/6 abwechselnd ausgeplündert werden und wie so eine ganz heterogene Mischung entsteht. Die Gliederung ist diejenige, die sich, wie kurz geschildert, ab 1809 stabilisierte, mit der endgültigen Streichung des Teils über „Freyheit des Selbstbewußtseyns; Stoicismus, Skepticismus, und das unglückliche Bewußtseyn", mit der Voranstellung eines Teils über die Begierde und der Hinzufügung eines Teils über das allgemeine Selbstbewußtsein. Analysiert man aber den Text GABLERS näher, so wird man leicht feststellen können, daß er nicht eine bestimmte Phase der Phänomenologie nachahmt und daß sein Text je nach Bedarf früheren oder späteren Stufen bei Hegel entspricht. Der Teil A. Das Selbstbewußtseyn als einzelnes oder als Trieb und Begierde (§§ 134—137) vermengt zum Beispiel die Begriffe „Trieb" und „Begierde", in deren Gebrauch bei Hegel sonst eine sehr komplexe Entwicklung ablesbar wird^2; zudem antizipiert GABLER Themen wie „Arbeit" (§ 136), „Erfindungen und Werkzeuge" (§ 136 Anm.), die man viel eher in dem nächsten Teil erwarten würde, mit Nuancierungen, die allerdings an die Geistesphilosophie von 1805/6 erinnern, wie CANTILLO zurecht heraushebt (328). Der Teil ß. Selbstbewußtseyn gegen ein anderes, oder der Proceß der Anerkennung und das Verhältniß des selbständigen und unselbständigen Selbstbewußtseyns (§§ 138—147) übernimmt, obwohl nur in einer Anmerkung (zum § 147), die später gestrichenen historischen Gestalten des stoischen und skeptischen Selbstbewußtseins von 1807, aber mit der merkwürdigen Auslassung des unglücklichen Bewußtseins; die Schlußbemerkung am Ende derselben Anmerkung („S. hierüber und über die weiteren Entwicklungen HegeTs Phänomenol. S. 129 ff") ersetzt nicht diese Lücke und rechtfertigt auch nicht die schnelle Erledigung der ganzen Problematik. Gleich nach dem Verweis auf die Phänomenologie von 1807 folgt der letzte Teil C. Das allgemeine Selbstbewußtseyn (§§ 148—150), der ganz der enzyklopädischen Phänomenologie von 1817 entspricht und wortwörtliche Übernahmen enthält, wie zum Beispiel die Analyse des allgemeinen Selbstbewußtseins als „Element der ... Substantialität, in welchem allein jede wahrhafte sittliche Substanz, wie Familie, Volk, Vaterland, Staat, so wie alle Tugenden und ethischen Verhältiüsse, wie der Freundschaft, Liebe, Ehre, u. s. w., ihr Bestehen und ihre Wahrheit haben" (§ 149; vgl. Enz. 1817. § 358 Anm., zitiert im vorigen Absatz). Von der zentralen Stelle des Selbstbewußtseinskapitels ist sehr wenig geblieben; auch quantitativ schenkt GABLER dem Teil über das Bewußtsein die größte Aufmerksamkeit (§§ 38—130), das Selbstbewußtsein wird nur in zwanzig Paragraphen behandelt (§§ 131—150), die Vernunft ist noch knapper gefaßt (§§ 151—166). Im Gegensatz ^ Vgl. dazu die oben Anm. 15 zitierte Arbeit von K. Kozu.

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zu Hegel, der die Teile der Phänomenologie des Geistes immer umfangreicher gestaltete, werden bei GABLER, je mehr er sich dem Ende nähert, die entsprechenden Teüe desto kürzer und eiliger behandelt. JOHANNES THYSSEN konnte noch 1960 behaupten, GABLERS Kritik sei „der beste Kommentar zu den grundlegenden Abschnitten der Phänomenologie".^3 Heute dagegen stellt sich die Frage, ob man in GABLERS Kritik trotz der philosophiegeschichtlichen Bedeutung im Rahmen des Hegelianismus noch die eigentlichen Pointen von Hegels Phänomenologie des Geistes erkennen kann. Zurecht kommentiert CANTILLO: „Die Kritik des Bewußtseins läßt gerade jene komplexe Verflechtung von Logik und Geschichte, von Metaphysik und Geschichte aus, die auch in ihren ungelösten Aporien, Schwankungen und Dunkelheiten den faszinierendsten und theoretisch produktivsten Aspekt der Phänomenologie ausmacht" (42). Und wenn überhaupt, zu welcher der oben kurz dargesteUten Phänomenologien kann ein so gestalteter Text als „Einleitung" gelten? Vielleicht das einzige Element, das in der italienischen Ausgabe zweifelhaft bleibt, ist der täuschende Untertitel, der möglicherweise statt „Einleitung zu Hegels Phänomenologie" etwa „Nachwort zu Hegels Phänomenologien" heißen sollte. Das Gebot, die verschiedenen Entwicklungsstufen Hegels nicht miteinander zu vermengen, wie es die Schule in der Suche nach einer systematischen und kohärenten Totalität getan hat, darf man nicht mit einer angeblich blinden philologischen Selbstzweckakribie verwechseln. In der Tat bleiben in den Änderungen und in den Streichungen Spuren eines beweglichen und noch flüssigen Denkens sichtbar, das sich in der Unruhe der ungelösten Fragen als eine Art Entdeckungsreise erweist. Gerade deswegen sucht die zeitgenössische philosophische Sensibilität darin nicht sosehr die von der Schule angestrebte Erfüllung, sondern im Gegensatz dazu die Möglichkeiten neuer Anfänge, die aus den verlassenen Wegen entstehen können. Zeugnis einer solchen Einstellung ist das Buch PöGGELERS mit seinen verschiedenen Aufsätzen; durch seine philologische Genauigkeit repräsentiert es sozusagen das spiegelbildliche Pendant zu GABLERS Vermischungen, und das mag ein Grund der italienischen Wiederaufführung sein. Zusätzlich liegt ein Grund in PöGGELERS philosophischer Aufmerksamkeit für das weiter theoretisch Fruchtbare, das aus der Ausgrabung der verschiedenen Schichtungen von Hegels Denken wieder ans Licht kommen kann. PöGGELER problematisiert den komplexen Weg von einer Hermeneutik des Lebens und des Geistes zu einer Geschichte und Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins als Lehre der Erscheinungsweise des Geistes und deswegen als Phänomenologie mit systematischer Einleitungsfunktion in die Logik/Metaphysik, den Hegel zwischen Frankfurt und Jena geht. Auf diesem Weg, den DE CIERI in ihrer Einleitung zur italienischen Übersetzung erneut nachzeichnet (15—49), finden sich wiederholt Versu-

23 /. Thyssen: Kritische Hauptpunkte in den ersten Abschnitten von Hegels „Phänomenologie des Geistes". In; Festschrift H. J. De Vleeschauwer. Pretoria 1960. (Communications of the University of South Africa. Supplement 1.) 93.

Wege und Umwege zu Hegels Phänomenologien

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che, Wirklichkeit und Wissenschaft miteinander zu verbinden, was die ursprüngliche „Idee" der Phänomenologie ausmacht, die später in den Berliner Bearbeitungen der Vorlesungen weitere, von diesem Ansatz unterschiedene Wege einschlagen wird. Die Beschäftigung mit den verschiedenen Wandlungen kann deswegen für PöGGELER nicht als „philologische Preziosität" angesehen werden; vielmehr wird in dieser Auseinandersetzung „eine Bemühung um die heutige Aufgabe der Philosophie" angestrebt, schließlich wird weiter die Vermittlung gesucht, die Hegels Denken in Jena bestimmt hat (Hegels Jenaer Systemkonzeption. 180; 169). So bleiben auch Forschungen aktuell, die zum Teil inzwischen mehr als fünfundzwanzig Jahre zurückliegen; frühere Interpretationsansätze werden in späteren Aufsätzen desselben Bandes völlig neu durchdacht, so daß man sogar sagen kann, durch die Deutungsnuancierungen, die im Laufe der Lektüre auftauchen, zeigen sich hier nicht nur die Denkwege eines Autors, sondern auch diejenigen seines Interpreten (vgl. zum Beispiel Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes, 215 ff; 212 ff und Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins. 254 ff; 261 ff). In allen Beiträgen geht es jedenfalls um die Verbindung zwischen Deutung und Aufforderung zu philosophischer Auswertung, was auch aus der Themenauswahl leicht erkennbar ist. In den Aufsätzen Philosophie und Revolution beim jungen Hegel, Philosophie und Geschichte, Die Verwirklichung der Philosophie, Hegel und Marx behandelt PöGGELER das Verhältnis von Philosophie und Erfahrung, von Wirklichkeit und Geschichte; so doch findet er bei Hegel, wenn auch nicht mehr die zureichende Lösung, weiter den Hinweis auf die Aufgabe. Die Tragödie der Entzweiung (zum Beispiel zwischen philosophischer Aufgabe und geschichtlicher Bedingtheit) bleibt für PöGGELER immer noch ein Maß, mit dem sich das abendländische Denken messen muß, auch deswegen „kann die Auseinandersetzung mit Hegels Deutung der griechischen Tragödie ein Weg sein, das Hegelsche Denken aufzubrechen, sich zwar nicht seine Resultate, aber die Fragen, von denen es lebt, überliefern zu lassen" (Hegel und die griechische Tragödie. 134; 109). Die interpretatorische Nähe und die philosophische Distanz werden zurecht von VERRA in seinem Vorwort zur italienischen Ausgabe als das Charakteristikum von PöGGELERS Hegel-Lektüre erkannt (7—13). Seine Auseinandersetzung mit Hegel ist hauptsächlich durch phänomenologische und hermeneutische Interessen gefiltert, wie DE CIERI in ihrer Einleitung auch mit Verweis auf PöGGELERS sonstige Arbeiten und auf seine Originalität im Vergleich mit HEIDEGGERS Hegel-Lektüre belegt. Zugleich bestimmt durch Verwandtschaft und Abstand, zielt der Ansatz Pöggelers darauf, die Texte Hegels in ihrer ursprünglichen Problemfülle zu restituieren und ihnen gegen die Vervollkommnungsbestrebungen der Schule (wie z. B. bei GABLER) und eigentlich auch gegen zeitgenössische Kritiken an der dogmatischen Vollendung der abendländischen Metaphysik die Möglichkeit einer fortgesetzten Wirkung auf das gegenwärtige Denken zu eröffnen. Wenn es darum geht, in Hegels Denkweg eine theoretisch fruchtbare Unruhe zu zeigen, die Hegel selbst zunächst in der Abrundung des Systems stillgelegt, die später die Orthodoxie der Schule in ihren Rettungsversuchen versteinert und die die weiteren philosophischen Entwicklungen noch mehr verfremdet hat, dann werden ge-

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rade die Aporien seines Denkens auf die Möglichkeiten sowohl der durchdachten Hauptwege als auch der nicht gegangenen Nebenstraßen verweisen. Die weiter wegweisende „Idee" der Hegelschen Phänomenologie, zu der sich eigentlich die zwei hier präsentierten italienischen Übersetzungen als nochmalige Einleitungen verstehen, lebt gerade in den Deirkschritten ihrer Wege und Umwege.24 Gabriella Baptist (Roma/Bochum)

Hans-Jürgen Gawoll danke ich recht herzlich für die freundliche HUfe bei der sprachlichen Überarbeitung dieses Textes.

Hegel-Rezeption in Korea

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HEGEL-REZEPTION IN KOREA

Vom Universitätswesen in Korea hat man andernorts vermutlich nur sehr undeutliche Vorstellungen, ebenso wie von der allgemeinen sozio-kulturellen Situation in diesem Land. Bezeichnend für die Universitäten ist die viele Jahrhunderte alte Pflege der Erziehungsarbeit — vornehmlich im Sinne der humanistischen Tradition. Daneben gibt es erst in jüngerer Zeit stärkere Tendenzen, die Bildung auch naturwissenschaftlich auszurichten. Auf jeden Fall erhält auf der Basis der geistigen Überlieferung die Beschäftigung mit Hegel und seinem Werk einleuchtenden und unverzichtbaren Sinn. Für die Beschäftigung mit Hegel in den Hochschulen ist natürlich die Situation der Philosophie überhaupt bestimmend. Die koreanische Philosophie ist ursprünglich aus dem Geist des Konfuzianismus hervorgegangen, zusammen mit dem Buddhismus und mit dem Taoismus. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kam diese Jahrtausende alte Mischform dreier Elemente in Berührung mit verschiedenen Systemen der abendländischen Philosophie einschließlich der christlichen Religion. Eine hervorragende Rolle spielte dabei der deutsche Idealismus von KANT bis Hegel, der für die forschende Besinnung vieler koreanischer Philosophen auf eine rationelle Begründung der eigenen Philosophie Pate stand. Für die gegenwärtige Hegel-Rezeption wie für die Philosophie überhaupt ist selbstverständlich auch die politische Situation m Korea bestimmend geworden. Nicht selten ist es hier vorgekommen, daß die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Situation, die Bemühung um die Überwindung der realgeschichtlichen Unterdrückung gerade mit einer ernsthaften, intensiven Aneignung der Hegelschen Philosophie oder der kritischen Auseinandersetzung mit ihr gekoppelt wurde. Hier soll der Blick aber vordringlich auf die Verwandtschaft zwischen der Hegelschen und der koreanischen Philosophie gelenkt werden. Als Gemeinsamkeit oder Berührungspunkt ist vor allem jene Geisteshaltung zu nennen, die die zweiseitig-zwiespältige Ausprägung der Einheit in antagonistische Prinzipien kennzeichnet, und Hegels spezifisch dialektische Behandlungsweise der Antagonismen. Von hierher ergeben sich die Fragen nach dem Wesen der Dialektik bei Hegel, die Überlegung, ob seine Dialektik vorrangig zur Anleitung und zum methodisch spekulativen Begreifen eines Ewig-Metaphysisch-Ontologischen gedacht sei — wie es zeitweise sowohl von liberal-konservativen als auch dogmatisch-engstirnigen marxistisch inspirierten Denkern behauptet wurde - oder ob

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es nicht vielmehr um das Begreifen der geschichtlichen Realität, des diesseitigen Lebens in der konkreten Welt geht. Damit ist zugleich die strittige Frage und der Nerv der Hegel-Aneignung der gegenwärtigen koreanischen Hegelforschung benannt. Ausgehend von dieser generellen Affinität gibt es seit einiger Zeit eine „Pionierarbeit" in der Aneignung der Hegelschen Philosophie in Korea. Der geschichtliche Weg der Hegel-Aneignung in den letzten 60 Jahren in Korea könnte unter ein Motto von Hegel selbst gestellt werden, nämlich: „Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt." Hier entwickelt sich eine mehr praktisch orientierte Hegel-Aneignung zum Zweck der politisch-gesellschaftlichen Anwendung seiner Gedanken. Es versteht sich von selbst, daß diese Ausprägung die Gewichtung der spekulativen Kraft Hegels, seiner ontologischen Grundintention nicht im geringsten schmälert, denn gerade diese Tendenz ist in fernöstlicher Denktradition tief verwurzelt und immer lebendig geblieben. Der zeitliche Ablauf dieser Wirkungsgeschichte Hegelscher Ideen in Korea zeigt vier Stufen der Aneignung seines Werks: eine erste Phase 1920—1947, eine zweite 1948—1960, die dritte 1961 — 1979 und die letzte von 1980 bis in die Gegenwart. Eine erklärtermaßen marxistische Hegel-Rezeption, einseitig am sogenannten „Praxis-Bedürfnis" orientiert, findet sich zuerst in einigen Schriften und Aufsätzen von NAM-CHUL SHIN und CHI-WOO PARK, die während und nach der japanischen Herrschaft gleichsam unter dem Banner dieser kämpferischen Parteilichkeit auftraten und die letztlich doch nicht dem verhängnisvollen politischen Schicksal entrinnen konnten. Neben den eigenständigen Monographien über Geschichtsphilosophie (Seoul 1948) oder Idee und Wirklichkeit (zwei Jahre früher erschienen) sind vor allen Dingen zu nennen: Der 100. Todestag Hegels und die Hegelrenaissance — in besonderem Zusammenhang mit ihrer lebensphilosophischen Prägung kritisch beleuchtet und Kritik der neu-hegelianischen Strömungen, beide 1931 in Seoul erschienen — pünktlich zum Gedenken des 100. Todestages von Hegel also. Nicht minder bedeutungsvoll waren demgegenüber die Antipoden: HO-SANG AN und CHONG-HONG PARK — beide der gleichsam verabsolutierten und dogmatisch festgeschriebenen marxistischen Richtung entgegentretend, von liberal-konservativer Gesinnung der eine, liberal-fortschrittlich der andere. AN, der im Jahre 1929 bei BRUNO BAUCH in Jena über HERMANN LOTZE promovierte, hat gleich nach seiner Rückkehr im Bereich der Hegel-Experten eine rege Tätigkeit entfaltet — wissenschaftlich wie auch gesellschaftlich. Neben dem Lehrbuch der Philosophie (Seoul 1942) und einer Einführung in die Logik, die sechs Jahre später herauskam, hat er vor allem seine denkerische Wirkung mit folgenden Werken begründet: Die objektive und subjektive Logik bei Hegel, erschienen 1933, und ein Jahr darauf: Über den Anfang der Hegelschen Philosophie und den Anfang der Logik überhaupt. Besonders mit seinen didaktischen Arbeiten hat dieser Autor eine neue Ära in der Geschichte der modernen koreanischen Philosophie eingeleitet. Übrigens — doch dies am Rande bemerkt — hat er 1948 unter SYNG-MAN RHEE das Amt des Erziehungsministers bekleidet.

Hegel-Rezeption in Korea

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Diese Linie der Hegel-Rezeption wird besonders von C.-H. PARK weitergeführt. Obwohl er in seinem Studium eher den marxistisch orientierten Philosophen verbunden war, brachte er nach dem zweiten Weltkrieg in Seoul Arbeiten über Dialektische Logik und eine Untersuchung über die Negation heraus, die zu den herausragenden wissenschaftlichen Leistungen innerhalb der Hegelauseinandersetzung gezählt werden dürfen. Dennoch muß man sagen, daß alle bislang genannten Untersuchungen noch zum Vorfeld einer später verstärkt einsetzenden HegelRezeption gerechnet werden müssen. Im Anschluß an die Veröffentlichungen von C.-H. PARK begann eine neue Etappe der Erforschung der deutschen Philosophie mit einer enthusiastischen Aufnahme von Hegels Konzeption der Philosophie. Zu nennen ist hier u. a. die Schrift von SOK-ZIN LIM: Der Begriff der Arbeit bei Hegel — Versuch einer Interpretation der „Phänomenologie des Geistes", die in Bonn (Bouvier) veröffentlicht wurde. Dieses Buch fand nicht nur in Korea, sondern auch im deutschsprachigen Kulturraum Beachtung. GERHARD GöHLER Z. B. wies in seiner Phänomenologie-Ausgabe im Rowohlt-Verlag auf diese Studie von SOK-ZIN LIM (1963) hin als eine idealistische Gegenposition in der Erörterung des Problems der Arbeit zu LUKäCS (1948), MARcusE (1941) und BLOCH (1951). ln Korea hat diese Arbeit Studenten und Hegelforscher ZU einer breiteren Auseinandersetzung mit Hegel angeregt. Ein wichtiger Schritt zur Verbreitung der Hegelschen Gedanken war die von SOK-ZIN LIM besorgte Herausgabe einer koreanischen Übersetzung der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik in ungekürzter Form. Es sei noch darauf hingewiesen, daß von demselben Autor schon bald auch Übersetzungen der Philosophie des Rechts und der Differenz-Schritt herausgegeben werden sollen. Im Dezember 1978 wurden von der Gruppe von Hegel-Forschern der Seoul National üniversity erste Kontakte zur InternaHonalen Hegel-Vereinigung (damals noch mit Sitz in Heidelberg, heute in München) geknüpft. Die Initiative der üniversitätsprofessoren DONG-HIE CHOI, SOK-ZIN LIM, BYUNG-OK SONG, MOON-SOO WHANG und KI-CHUL KWON führte im Jahre 1987 zur Gründung einer „Koreanischen Hegel-Gesellschaft“, die inzwischen an die 100 Mitglieder von 15 verschiedenen Universitäten des Landes zählt. Die Gesellschaft gibt jährlich einen Band koreanischer Hegel-Studien: Hegel-Yeongu heraus und steht in Verbindung mit dem Hegel-Archiv in Bochum sowie mit den Hegel-Studien. Programmgemäß finden achtmal monatlich Seminare statt, dazu in jedem Semester ein wissenschaftlicher Kongreß auf öffentlicher Ebene, der in dem Jahrbuch Hegel-Yeongu dokumentiert wird. Sok-Zin Lim (Seoul)

LITERATURBERICHTE UND KRITIK

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PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES IN GEWANDELTEN PERSPEKTIVEN

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/Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede. Hamburg: Meiner 1980. 526 S. (Hegel: Gesammelte Werke. Bd 9.) Gwendoline Jarczyk/Pierre-Jean Labarriere: Les premiers combats de la reconnaissance. Maitrise et servitude dans la ,Phenomenologie de l'Esprit' de Hegel. Paris: Aubier 1987. 146 S. (Bibliotheque du College International de Philosophie.) Method and Speculation in Hegel's Phenomenology. Ed. by Merold Westphal. New Jersey: Humanities Press; Sussex: Harvester Press 1982. 137 S. Howard P. Kainz: Hegel's Phenomenology, Part I: Analysis and Commentary. Alabama: The University of Alabama Press 1976. 218 S. Howard P. Kainz: Hegel’s Phenomenology, Part II. The Evolution of Ethical and Religious Consciousness to the Absolute Standpoint. Athens, Ohio, London: Ohio University Press 1983. 211 S. C. V. Dudeck: Hegel’s Phenomenology of Mind: Analysis and Commentary. Washington: University Press of America 1981. 286 S. Werner Marx: Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in „Vorrede" und „Einleitung". 2. erw. Aufl. Frankfurt a. M.: Klostermann 1981. 135 S. Jan Beaufort: Die drei Schlüsse. Untersuchungen zur Stellung der Phänomenologie in Hegels System der Wissenschaft. Würzburg: Königshausen und Neumann 1983. 251 S. Reymond William Wilcocks: Zur Erkenntnistheorie Hegels in der Phänomenologie des Geistes. Hildesheim, New York: Olms 1981 (1. Aufl. Halle a. d. Saale 1917). 84 S. Hans-Jürgen Krahl: Erfahrung des Bewußtseins. Kommentare zu Hegels Einleitung der Phänomenologie des Geistes und Exkurse zur materialistischen Erkenntnistheorie. Hrsg, und bearb. von Carl G. Hegemann, Hermann Kocyba, Hans-Bernhard Schlumm und Lothar Wolfstetter. Frankfurt/M: Materialis 1979. 140 S. (Materialismus Programm. Kollektion: Philosophie, Ökonomie, Politik.)

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LITERATURBERICHTE UND KRITIK

Phenomenologie hegdienne et husserlienne. Les classes sociales selon Marx. Travaux des Sessions d'Etudes. Sous la direction de Guy Planty-Bonjour. Paris: Editions du CNRS 1981. 133 S. Donald Phillip Verene: Hegel's Recollection. A study of Images in the Phenomenology of Spirit. Albany: State University of New York Press 1985. 148 S. (SUNY Series in Hegelian Studies.) Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Fenomenologie van de Geest. Übersetzt von Wim van Dooren. Amsterdam: Boom Meppel 1981. 197 S. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Tinin Görüngübilimi. Übersetzt von Aziz Yardimli. Istanbul: Idea 1986. 496 S.

Es gibt zwei wichtige Perspektiven, die für ein Werk wie die Phänomenologie des Geistes bedeutsam werden können; Die eine ist die entstehungs- und entwicklungsgeschichtliche Perspektive des Autors, die vom ersten Entwurf bis zur Neufassung der eigentlichen Idee alle Phasen umfaßt. Die andere ist die Perspektive unserer Lektüre als werdender Leser, als Generationen der Leser, die das Werk potentiell immer von neuen Standpunkten her sehen und interpretieren können. Daß die erste dieser zwei Perspektiven eine besondere Bedeutung für die Phänomenologie hat, weiß man schon; man kann sie aber jetzt besser und konkreter in der Neuausgabe von WOLFGANG BONSIEPEN und REINHARD HEEDE sehen. BONSIEPENS Entstehungsgeschichte sowohl des Haupttextes, als auch der Vorarbeiten, der Selbstanzeige und der Arbeiten für die zweite Auflage der Phänomenologie stellt diese textuelle Entwicklung durch eine reiche Dokumentation zum ersten Mal dar: eine Entwicklung, die Hegel schon 1807 vor der Beendigung des Drucks den Wunsch äußern läßt „das Schiff hier und da noch vom Ballaste säubern und flotter machen zu können" und die bei der Notiz zur Überarbeitung mit der Bemerkung ,,c) Eigenthümliche frühere Arbeit, nicht Umarbeiten ..." endet (474, 448). Einerseits ersetzt der nicht-normalisierte Text mit den Anmerkungen den normalisierten Text von HOFFMEISTER, andererseits geben Beilagen neue Informationen und lassen in concreto den ursprünglichen Zwischentitel verständlich erscheinen: „Erster Theil. Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseyns". Das wichtige Eragment „C. Die Wissenschaft" aus Vorarbeiten, dessen Datiemngsproblematik im Anhang diskutiert wird, steht auch besonders im Hinblick auf seine Betonung der Wichtigkeit des Begriffs „sinnliche Gewißheit" für die Entwicklung des Geistes zur Verfügung. Die Neuheiten in der Perspektive der kommentierenden Lektüre werden uns im folgenden beschäftigen. Daß diese neue Edition des Werkes die Interpretation zu beeinflussen begonnen hat, wird allerdings bei der Besprechung des Buches Les premiers combats de la reconnaissance von GWENDOLINE JARCZYK und PIERRE-JEAN LABARRIERE (S. U.) ersichtlich.

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1. Methodenproblem und Kommentare Ist es bloßer Zufall, daß die amerikanischen Interpreten vorzugsweise die methodologischen Probleme der Phänomenologie hervorheben und texttreue Kommentare aufstellen? Bedeutet dies, daß sie in ihren Interpretationsversuchen in einer bestimmten Ferne zu diesem Werk bleiben und sich trotzdem mit dem Inhalt vertraut machen wollen? Ist aber nicht sehr wahrscheinlich diese aus dem Fernstehen resultierende Vertrautheit eine der Bedingungen, für den Erfolg der kommentierenden Lektüre? Das Buch Method and Speculation in Hegel's Phenomenology, das die Referate des fünften biennial Treffens im Oktober 1978 dokumentiert, belegt auf jeden Fall die pluralistischen Denkansätze und die Bereitschaft der Autoren, sich mit den kontinentalen Deutungen — von KojfevE bis HABERMAS — auseinanderzusetzen. Das besagt nicht, daß die eigenen analytisch-pragmatischen und humanistischen Traditionen nicht berücksichtigt wären; die verschiedenen Interpreten erstellen ihre Analysen gerade umgekehrt unter Berücksichtigung dieser Traditionen. Allerdings bleibt jede Analyse geprägt durch eine analytisch-pragmatisch motivierte Abstraktion von der Sache. So versucht z. B. ARDIS B. COLLINS in ihrer Untersuchung Hegels Redefinition of the Critical Project der Problematik der Phänomenologie mit Hilfe des Drei-Kritiken-Modells von HABERMAS näher zu kommen. Von drei Arten der Kritik, nämlich der radikalen Kritik, der Kritik „that examines knowledge — not at all at once — but a portion at a time" und der Kritik, die nicht auf dem Urteil, sondern auf der Reflexion basiert, sei Hegels Phänomenologie am ehesten dem zweiten Typ zuzuordnen: „Hegelian critique is not a critique of knowledge in general; it is rather a series of reflections on different forms of knowledge and the self-critique [oder „radikale Kritik"] entailed in each" (2 f, 7). Auf die dringende Frage danach, wie die „truth Standards" dieser Reihe der Reflexionen festzulegen sind, findet der Autor die Antwort in dem Begriff der „bestimmten Negation". Endet nicht in dieser Weise die abstraktive Analyse von COLLINS mit einer Vereinfachung, die sich weigert, die dialektische Komplexität der typischen Verhältnisse zwischen dem Gegenstand und dem Begriff auf sich zu nehmen? JOSEPH C. FLAY versucht in einer Analyse von Pragmatic Presuppositions and the Dialectics of Hegel's Phenomenology der Phänomenologie mit einem äußerlichen Methodenapparat, nämlich mit den „pragmatischen Voraussetzungen" und dem Begriff „mögliche Zustände der Dinge" näher zu kommen. Auf die anfängliche Frage „Why do negativity and contradiction have the effect on thought and reaUty that they have?" kann FLAY nur eine Antwort geben, die auf der bekannten „adaequatio" beruht, wobei gleichsam vergessen wird, daß sich bei Hegel nicht nur das Denken dem Sein angleicht, sondern auch das Sein dem Denken (23 ff). KENLEY DOVES' Versuch in: Phenomenology and Systematic Philosophy, die Invarianten der drei Hauptteile der Wissenschaft der Logik herauszuarbeiten ist erhellend. Sein Ergebnis lautet: „Our categories for a comprehension, the structure articulated under the title objective Spirit, are not generated in history, but in pure logic" (37). Insoweit aber seine Untersuchungen auf keiner systematischen Textanalyse beruhen, wird seine These von H. S. HARRIS in seinem Kom-

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mentar durch die Projektion der geschichtlichen Dimension in die Phänomenologie verbessert. STEPHEN CRITES setzt in seiner Untersuchung: The Golgotha of Absolute Spirit das bildhafte Ende der Phänomenologie vergleichend in Verbindung mit Glauben und Wissen, wobei der Begriff „Vorstellung" in den Vordergrund tritt — ein Begriffsbereich, über den es wenige Arbeiten gibt. MARTIN J. DE NYS gibt in: Force and Understanding: the Unity of the Object of Consciousness eine begriff- und worttreue Interpretation des Kapitels „Kraft und Verstand". PETER PREUSS entwikkelt in: Selfhood and the Battle: the Second Beginning of the Phenomenology einen selbständigen Denkansatz, wobei er die Hegelschen Begriffe „Selbstbewußtsein", „Herrschaft und Knechtschaft" interpretierend benutzt. Er führt uns die marxistischen und nicht marxistischen Interpretationen, deren Strukturen auf verschiedenartige Kämpfe eines — von ihm — vorausgesetzten „proto-self" hinweisen, vor Augen. JOHN BURBIDGE versucht in: Language and Recognition anhand des Kapitels „Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit" mit verschiedenen Hinweisen auf die Enzyklopädie und die Nürnberger Schriften die Wichtigkeit der Rolle der Sprache — die von ihm als „conventional speech" verstanden wird — im Rahmen der Anerkennungsproblematik aufzuzeigen. Den Akzent legt er dabei auf die Sprache, i. e. den sozialen Kontext der Anerkennung. ROBERT L. PERKINS vergleicht in The Constitution of the Seif in Hegel's Phenomenology of Spirit and in Kierkegaard's Sickness unto Death das Werk Hegels mit Krankheit zum Tode (im Lichte der Monographie von NIELS THULSTRUP über KIERKEGAARD) im Hinblick auf das Problem der „Konstituierung des Selbst". Er erörtert bisher dunkel gebliebene Punkte: „Hegel's and KIERKEGAARD'S efforts in describing the seif, have many differences in language and in problematic, but there are many instances of KIERKEGAARD rewriting, concretizing, and individualizing Hegel's efforts in his pseudonymous Works." (102) Man kann JAMES L. MARSCH'S Kommentar zu diesem Aufsatz wie eine kritische Ergänzung lesen, die die Anstöße zu weiterem Denken gibt. ERROL HARRIS setzt sich in Marxist Interpretations of Hegel's Phenomenology of Spirit mit den zwei bekannten Thesen über die Beziehung von MARX und Hegel auseinander. Die erste These besagt, daß Hegel, obwohl er die Basis für den historischen Materialismus gestiftet hat, diese einem „transzendentalen Idealismus" preisgegeben hätte (LUKäCS, ADORNO), die zweite, daß die Hegelsche Position in der Phänomenologie quasi-materialistisch, atheistisch sei und das historische Vorbild für den Marxismus darstelle (FEUERBACH, besonders KOJ6VE). HARRIS bezeichnet seine Interpretationsrichtung als „hegelian centralism": Die Natur der Dialektik ist „essentially and inevitably teleological". „Accordingly no dialectic can be materialistic" (118, 125). Im Hinblick auf KOJ6VE schreibt er: „That Hegel identified the concept with time is not wholly false, but we must never forget that identity and difference are for him moment of a single whole, and we may not stress one at the expense of the other." (132) HARRIS nähert sich aber KOJ6VE auch an, wenn er meint: „The transcendent infinite, however, is not, as Hegel constantly insists, a beyond in another world — It is no Jenseits.“ (134) Zusammenfassend kann man sagen, daß sich das Buch Method and Speculation in Hegel's Phenomenology auszeichnet durch die Vielfalt seiner Aspekte, Hegel neu zu interpretieren.

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und seiner Versuche, die bekannten früheren Interpretationen neu zu bewerten. Ebenfalls bemerkenswert sind die Bücher zweier amerikanischer Autoren. Bei beiden geht es um Kommentare zur Phänomenologie als ganzer. HOWARD P. KAINZ'S Buch Hegels Phenomenology, Part II. The Evolution of Ethical and Religious Consciousness to the Absolute Standpoint ist die Fortsetzung des ersten Bandes mit dem Titel Hegels Phenomenology, Part I: Analysis and Commentary. Im Unterschied zum ersten Band, der sich auf die Übersetzung der Phänomenologie von BAILLIE stützt, bezieht sich KAINZ nun auch auf die Übersetzung von MILLER (1977). Nachdem er in seiner einleitenden Anmerkung die Rolle der „Sache selbst" bei der Vorbereitung der Hegelschen Bestimmung der Intersubjektivität, die er schon im ersten Band behandelte, hervorhebt, schreibt er über den zweiten Teil: „Part II of the Phenomenology, which begins now, is thus no longer a phenomenology of consciousness but a phenomenology of the dialectical vicissitudes of what at this point has become the essential thing, the important thing, namely, actual, Spirit' in the sense just adumbrated [d. h. im Sinne der Intersubjektivität]" (12). KAINZ'S Kommentar formt manche Ausdrücke interpretierend um und verwendet Diagramme, um den Inhalt der Phänomenologie zu verbildlichen. Wir werden schon im Vorwort darüber informiert, daß das Wort „Phänomenologie" mit „evolution" zu übersetzen sei, weil der Unterschied der Hegelschen Phänomenologie zu den anderen Phänomenologien im Begriff „movement" (also „evolution") gesehen wird. Ähnlich wird „preisgegeben" mit „transfer" übersetzt, „geistig" mit „intersubjective" (41, 132). Helfen aber die Diagramme wirklich unserem Verständnis? Der Autor, dem vielleicht diese Schwierigkeit bewußt wurde, reduziert im zweiten Band seine Diagramme auf ein Minimum, mit dem Zweck, die zwei Teile der Phänomenologie in ihrer Einheit zu zeigen („Preface", IX). C. V. DUDECK erwähnt schon am Anfang der Einleitung zu seinem Buch Hegels Phenomenology ofMind, daß dieses hauptsächlich für ein anfängliches Studium der Phänomenologie geschrieben sei, und sich darum bemühe, eine „klare Lektüre" zu ermöglichen. Das Buch enthält jedoch auch Kritik, die mit den pädagogischen Zwecken verbunden ist (z. B. eine Kritik des Begriffs „bestimmte Negation", 40 f), sowie textkritische Ansätze, z. B. zur Beziehung zwischen Phänomenologie und Enzyklopädie (59 f, 280).

2. Die Phänomenologie im Kontext der (Hegelschen) Philosophie Das Buch von WERNER MARX Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in „Vorrede" und „Einleitung" (zuerst 1971) liegt in zweiter Auflage vor. Der unveränderte Haupttext wird im Anhang um den Text des Vortrages erweitert, den W. MARX beim X. Internationalen Hegel-Kongreß 1974 in Moskau gehalten hat. MARX schreibt im „Vorwort zur zweiten Auflage": „Der Hauptgedanke des Buches hat sich weitgehend durchgesetzt, wonach die Idee der Phänomenologie des Geistes das dem Ganzen des Werkes einheitgebende Prinzip des Selbstbewußt-

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Seins ist, wie es sich aus deren Begriffsnatur ergibt — nicht mit den im Buche B der Phänomenologie dargestellten Gestalten des Selbstbewußtseins zu verwechseln" (6). Gerade diese Zentralisierung und Instrumentalisierung des Begriffs „Selbsfbewußtsein" dient, laut MARX, zum Ideal der hermeneutischen Interpretation dieses Werkes (13). MARX vollzieht die Selbstverwirklichung des Hegelschen Geistes vermittels des „Selbstbewußtseins": Der „Geist" wird zum absoluten Geist durch die phänomenologische Erfahrung des „objektiven Geistes" (hauptsächlich die These von J. HYPPOLITE). Diese Erfahrung läßf sich bestimmen durch den Widerspruch des objektiven Geistes mit dem „einzelnen Selbst" (als „Entfremdung" in seiner stärksten Form), durch den Widerspruch, der seine Versöhnung in der Religion findet (71 ff). Insoweit aber diese Versöhnung (in der Form der „Menschwerdung des Geistes") sich im „Vorstellen" vollzieht, muß der objektive Geist „von der Form des Vorstellens ... zu der des Begriffs übergehen", um sich zum absoluten Geist zu vollenden. Weil das Begreifen identisch mit dem logischen Verfahren ist, wird dadurch gezeigt, daß der Geist-Begriff in den „reinen Denkbestimmungen" begründet wird (73). Nur, um die Methode dieser Begründung in ihren Ergebnissen konkreter zu zeigen, greift MARX das Problem vom Standpunkt des „Bewußtseins" aus auf: Das Bewußtsein als die Bewegung des „Sichanderswerdens" heißt „der sich vermittelnde Geist". Diese Vermittlung zwischen dem — von Hegel so genannten — „unmittelbaren Dasein des Geistes" und der logifizierten Verwirklichung des Geistes (als absoluter Geist) geschieht dadurch, daß zunächst das Bewußtsein seine Andersheit für sich in der Form der Nicht-Selbstgleichheit setzt, um aus dieser Negativität wieder auf die Selbstgleichheit zu kommen (81 f). Das Ergebnis ist die Gleichheit zwischen der Form der Gegenständlichkeit und dem Gegenstand selbst, kurzum die Objektivierung der Wahrheit (84). Der mögliche Fall der Nichtentsprechung zwischen der Form und dem Inhalt, zwischen dem Wissen und dem Gegenstand benötigt eine Selbstprüfung dieser beiden Seiten, die in einer Wechselwirkung stehen. Bei dieser Wechselwirkung wird nicht nur das Wissen, sondern auch der Gegenstand geändert. Die Veränderung des Gegenstandes impliziert auch die Veränderung der Form der Gegenständlichkeit, die die Gedankenbestimmungen ausmachen, welche aber ihrerseits auch das Wissen betreffen und für dieses Gültigkeit haben. So kommt man zum Ergebnis, „daß die Gedankenbestimmungen die Denkbestimmungen des als Begriff aufgefaßten Selbst sind" (89). In dem Augenblick also, da das Selbstbewußtsein die Gedankenbestimmungen auf sich nimmt, werden wir auf die Beziehung der Phänomenologie zur Logik hingewiesen. Wir müssen aber hier fragen, wie die Gedankenbestimmungen überhaupt den phänomenologischen Prozeß bis zu seinem Ende hin bewirken sollten. Die vorgeschlagene Antwort ist, daß „wir", die Phänomenologen die Träger dieses Prozesses seien, deren Rolle MARX „wesentlich bedeutender" findet, „als die Bestimmungen der ,Einleitung' dies vermuten lassen" (105). Der Phänomenologe ist dann derjenige, der „durch kategoriale Reflexion" das erscheinende Wissen zum Endergebnis des absoluten Wissens bringt. Es entsteht, laut MARX, ein Komplex der Relationen zwischen dem Phänomenologen

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und dem wissenschaftlichen Bewußtsein, dem das Selbstbewußtsein entspricht. Einerseits: . nur weil der Phänomenologe das unwissenschaftliche Bewußtsein zu überzeugen vermag, könnte sich das diesem innewohnende Prinzip des Selbstbewußtseins voll entfalten", andererseits aber: „der Philosoph muß vielmehr zunächst selber das Prinzip des Selbstbewußtseins dialektisch ausgetragen haben, bevor die latente Vernunft zur Realisierung gelangen kann" (115). Die entsprechenden Rollen des Phänomenologen, von denen im ursprünglichen Text fünf angegeben wurden, sind im Anhang in drei Hauptpunkten resümiert: „Er ist erstens derjenige, der das Wissen als ,erscheinendes' zum Thema macht, durch diese Thematisierung seine dialektische Bewegung auslöst. Zweitens ist er derjenige, der den dialektischen Charakter dieser Bewegung nicht nur durchschaut, sondern ihr jeweiliges Resultat als eine Synthese der voraufgegangenen antithetischen Entwicklung auffaßt, die notwendig den Fortgang zu den folgenden Gestalten ermöglicht. . . Drittens ist er derjenige, der durch seine Reflexionen auf kategorialer Ebene die Gesamtbewegung als diejenige des Begriffes steuert und leitet." (132) MARX versucht am Ende, die Phänomenologie in der Perspektive der neueren Philosophie zu überblicken und besonders mit der Philosophie von HEIDEGGER ZU kontrastieren. Nach MARX ist HEIDEGGER zunächst mit der seinen Begriffen „Verborgenheit" und „Entborgenheit" entsprechenden Problematik über Hegel weit hinausgegangen. Gleichzeitig damit wurde die Rolle des Philosophen „am radikalsten der Rolle entgegengesetzt, die der Phänomenologe in der Phänomenologie des Geistes spielt": keine „Rechtfertigung" mehr, keine „exoterisch aufgefaßte Wissenschaft", nur der sich dem Denker „zusprechende Anspruch". Und der letzte Satz von MARX lautet: „Die Idee der Phänomenologie des Geistes hat sich somit als ein Maßstab erwiesen, an dem sich die Entwicklung des Denkens nach Hegel messen läßt, sowohl hinsichtlich der Weitergeltung des Prinzips der Subjektivität wie auch des Versuches seiner Überwindung." (123) Dieser Schluß ist anregend: Man sieht gleichsam „das Prinzip der Subjektivität" als eine Invariante hinter den möglichen Varianten der Entwicklung des heutigen Denkens. Nur fragt man sich, ob die „Subjektivität", von der MARX spricht, nicht eine Abstraktion von der eigentlichen Subjektivität in der Form des „Wir" der Interpreten (besonders im Hinblick auf die zweiten und dritten Rollen des Phänomenologen) sein soll. Wenn die Subjektivität nur eine Abstraktion bleibt, besteht nicht die Gefahr, daß die selbstinterpretierende Stellungnahme des Phänomenologen von der „Sache selbst" (auch im Sinne von den „Sachen selbst") interpretiert wird? Ist nicht diese „Sache selbst" nur die andere Seite des Selbstbewußtseins als der eigentlichen Subjektivität? Dies blieb ein Problem Hegels, dem aber auch HEIDEGGER nicht entgehen kann. Was aber diese „Sache" sein kann, ist für die neuzeitliche Problematik (Hegel, HUSSERL, HEIDEGGER und auch MARX) immer offen und diskutierbar geblieben. Auch das Buch von JAN BEAUFORT: Die drei Schlüsse interpretiert die Phänomenologie im Kontext des hegelschen Systems der Wissenschaft, allerdings ohne die zeitgeschichtliche Fragestellung (wie bei MARX). In der Diskussion des Zusam-

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menhangs der drei Schlüsse am Ende der Enzyklopädie von 1817 und der Enzyklopädie von 1830 wurde bisher die Meinung vertreten, daß sich nur der zweite Schluß auf die Phänomenologie beziehe (LASSON, VAN DER MEULEN). Dagegen stellt BEAUFORT seine These, es bezögen sich alle drei Schlüsse auf die Phänomenologie, genauer betrachtet, es beziehe „sich der erste Schluß auf die Kapitel,Bewußtsein' und ,Selbstbewußtsein', der zweite auf die Teile ,Vernunft', ,Geist', und ,Religion' und der dritte auf das ,absolute Wissen'" (l).i ln der Begründung dieser These wird als erstes auf die „Analyse des Wortlauts der drei enzyklopädischen Schlußparagraphen" verwiesen (2). Aber gerade an der Stelle, wo diese „Analyse des Wortlauts" erfolgt, finden wir keinerlei vergleichende Untersuchung der drei Enzyklopädien. Wie bekannt hat Hegel den Wortlaut des § 472 der Enzyklopädie 1817 in dem ihm entsprechenden § 574 der Enzyklopädie von 1827 und 1830 geändert. Die §§ 475, 476, 477 der Enzyklopädie 1817, in denen die drei Schlüsse behandelt werden, hat er in die Fassung von 1827 nicht aufgenommen, wohl aber in die von 1830 — ein Fall textbiographischer Entwicklung. Alle Referenzen BEAUFORTS beziehen sich jedoch auf die Enzyklopädie von 1830, obwohl er am Anfang alle drei Enzyklopädien als seine Quelle benennt. Prüfen wir einige Beispiele der Argumentationsweise BEAUFORTS, SO finden wir einen Leiffaden für seinen Interpretationsansatz schon in seiner Auseinandersetzung mit FULDA über die Frage, ob die Enzyklopädie die einzige Darstellung des Systems sei. Wenn nun BEAUFORT auf die rhetorische Frage von FULDA: „Was ist dies anderes als eine andere, weitere Darstellung des Ganzen?" die Antwort gibt; „Es ist. . . zwar möglich, daß neue Darstellungen die alte ablösen oder ergänzen, dieses Ablösen mag auch der Beweis des inneren dialektischen Lebens sein, aber es findet doch nur statt, wenn Begriffe ihre Bedeutung geändert haben oder genauer bezeichnet werden müssen", ist es schwer ihm zu folgen (190). Daß die „Begriffe . . . Bedeutung" haben, ist kein glücklicher Ausdruck, entspricht aber der Tatsache, die der Autor versteckt halten wUl, daß eigentlich die Wörter (und auch die Darstellungen, die aus Wörtern bestehen) Bedeutungen haben, die sich nach den Kontexten ändern können, in denen die Begriffe entwickelt werden. Ein Beispiel für die Nichtanerkennung dieser Tatsache finden wir in der Kritik BEAUFORTS an PöGGELER im Bück auf den § 418 der Enzyklopädie (186 f). BEAUFORTS Hauptanliegen bleibt aber auch hier der Nachweis, daß die Phänomenologie eine begriffene Geschichte der Philosophie darstelle (TeüIV, Kapitel 6). Vermittels seiner Beweise im Hinblick auf die drei Schlüsse kommt BEAUFORT auf eine metaphysische Interpretation der Phänomenologie, welche die Begriffe „Geist",„Logos" und „Natur" nach allen ihren möglichen syllogistischen Beziehungen ausschöpft. In diesem Zusammenhang ist auch der Nachdruck einer früheren Arbeit über die Phänomenologie erwähnenswert: R. W. WILCOCKS' Buch Zur Erkenntnistheorie ' Diese These steht deutlich in Kontrast z. B. zur These von Theodore F. Geraets, der behauptet, daß sich alle drei Schlüsse auf die Enzyklopädie beziehen; vgl. Les trois lectures philosophiques de L'Encyclopedie ou la realisation du concept du Philosophie chez Hegel. In: HegelStudien. 10 (1975), 231-254.

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Hegels in der Phänomenologie des Geistes. Die Arbeit ist interessant als Erinnerung an die Diskussionslage über das Werk Hegels in Deutschland, bevor es in den dreißiger Jahren in Frankreich erneut in den Brennpunkt des Interesses tritt. Aus der Auseinandersetzung des Autors mit E. v. HARTMANN, B. ERDMANN, A. PHALSN, J. Mc TAGGART und B. CROCE ergibt sich, daß die Hegelsche Überwindung der KANTischen Kritik des Dogmatismus durch einen erkenntnistheoretisch-dialektischen Ansatz nicht auf der ganzen Linie erfolgreich gewesen ist. Als der beste Teil des Hegelschen Philosophierens erscheint dann derjenige, der KANT nahesteht: eine „apriorische Untersuchung des Subjekts" (83). Die gegenwärtig interessierende Beziehung der Hegelschen Idee der Phänomenologie zu den Wissenschaften, zur Erkenntnis überhaupt, wie sie sich in wissenschaftlichen und literarischen Texten artikuliert, bleibt für WILCOCKS ein ungelöstes Problem und der Nachdruck dieser früheren Interpretationen mag so gesehen die Reflexion auf neue Möglichkeiten des Hegelverständnisses provozieren. Das Buch von GWENDOLINE JARCZYK und PIERRE-JEAN LABARRI6RE Les premiers combats de la reconnaissance behandelt das Kapitel IV A der Phänomenologie als repräsentativ für sein Ganzes, als pars pro toto (23). Es enthält (außer dem „avant-propos") einen einleitenden Teil, welcher der kontextuellen Problematik des ganzen Werkes gewidmet ist, den Text des sogenannten Kapitels in deutscher Sprache zusammen mit einer neuen französischen Übersetzung und einen Kommentar, der genau den Paragraphen des originalen Textes folgt. Wozu benötigen wir diese neue exemplarische Übersetzung, welche ins Französische Neologismen (wie z. B. „auto-conscience") einführt, und diesen grundsätzlichen Kommentar? Die gesamte Bemühung der Koautoren konzentriert sich auf die Kritik der bisher in Frankreich dominierenden Interpretation KOJEVES: „Serait totalement indue une transposition directe de cette dialectique dans le champ des rapports sociaux. Pour etre clair, cette figure Maitrise et Servitude ne peut etre lue valablement comme la matrice de la ,lutte de classes'." (133) Dies mindert nicht die politische Wichtigkeit des Textes von KOJ6VE „comme des prolegomenes ä tonte politique future" (132). Die Autoren mögen wohl hinsichtlich ihrer Kritik KOJEVES recht haben. Nur zwei Bemerkungen zur Kritik seien angefügt. Erstens: Die implizite, aber auch offenkundige Voraussetzung bei der Interpretation von JARCZYK und LABARRIERE ist die Inter Subjektivität als das Ideal des menschlichen Wesens (siehe bes. 12, 26, 134). Glauben die beiden Autoren an die Tragfähigkeit des Interpretationsansatzes der Intersubjektivität für die Erhellung der gesamten Problematik der Phänomenologie? Oder stellt für sie die Intersubjektivität ein kritisches Moment im Blick auf das Zusammenspiel von Leben und Begriff dar? Ein zweiter Punkt, der wiederholt angeführt wird, ist die strenge Zusammengehörigkeit von Phänomenologie und Logik (vgl. GW9. 448); „le concept . . . n'est pas, mais tient dans cette puissance de ,fluidification' par quoi advient ce qui est" (35). Diese Verabsolutierung des Logischen wird aber gleichsam durch eine Umdrehung der strukturalistischen Begriffe wie „absence/presence", „relation", „signifiant" usw. erreicht. Die Autoren nehmen z. B. den Begriff „Unearite du signifiant" von SAUSSURE und setzen ihm „circularite" gegenüber, wobei ein Pseudo-Gegensatz ent-

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steht, weil der eigentliche Gegenbegriff zu „linearite" „simultaneite" (der distinktiven Eigenschaften des „signifiant") wäre. Die „Zirkularität" in ihrer hier gedeuteten Form enthält mehr als eine kritische Überwindung des „caractere linear du signifiant" durch den Begriff der „simultanen Glieder in praesentia" bei R. JAKOBsoN^. Vielleicht reicht auch die bekannte Hegelsche „Spirale" nicht aus, um dieses „Flüssigwerden" zu veranschaulichen, weil es hierbei womöglich gerade um das Flüssigwerden dieser Spirale selbst geht, um eine RelationaUtät ohne Relata, wie die Autoren schon bei der Deutung des ersten Paragraphen des genannten Kapitels über das Subjekt des Anerkennens zum Ausdruck bringen; „un sujet singulier qui n'est lui-meme — singulier — que dans ce doublement Interieur qui le revele comme essentiellement relationnel" (77). Es ist vermutlich dieser Sachverhalt, aus dem der Kommentar seine Anziehungskraft gewinnt und behalten wird. Der Text von HANS-JüRGEN KRAHLS: Erfahrung des Bewußtseins basiert auf der Abschrift einer Tonbandaufnahme (aus dem Jahr 1968) des früh verstorbenen Autors. Die Herausgeber charakterisieren ihr Unternehmen wie folgt: „Der von uns edierte Text ist nicht im konventionellen Sinne originell; in ihm sind die Spuren der Arbeits- und Argumentationsformen sichtbar, die den Philosophiebetrieb in Frankfurt vor dem institutioneilen Ende der ,kritischen Theorie' geprägt haben." (132) Ein Charakteristikum des Denk- und Redestils KRAHLS liegt nicht allein darin, aufzuzeigen, was Hegel gesagt hat, sondern auch, wie er es gemeint haben könnte und was man von ihm lernen kann. Dies ist natürlich ein Ansatz, den KRAHL mit den Theoretikern der Frankfurter Schule teilt. Ersichtlich wird dies vor allem an der Bestimmung der Dialektik: „Materialistische Dialektik ist weder eine bloße Methode des Denkens, noch ist sie die ontologische Beschaffenheit der Dinge, wie sie an sich selber sind. Bei Hegel hingegen fällt beides zusammen; Die Methode ist die Beschaffenheit der Dinge; Dialektik ist die Erfahrung, die ein bestimmter Gegenstand von sich selber machen kann. Derjenige Gegenstand, der, ohne idealistisch zu werden, eine Erfahrung von sich selber machen kann, ist die mit Bewußtsein von endlichen Individuen hergestellte Gesellschaft — wenngleich mit falschem Bewußtsein" (16 f).

3. Eine Phänomenologie im Spiegel der anderen: Hegel und Husserl Die vier Aufsätze, die in Phenomenologies hegelienne et husserlienne. Les classes sociales selon Marx gesammelt sind, gehen kritisch und erhellend auf die Beziehungen der Hegelschen und HussERLschen Phänomenologie ein: ein schöpferisches Thema im Hinblick auf die Diskussionen, die daraus letztlich in Deutschland, Frankreich und Amerika entstanden sind. PAUL RICOEUR, der in der fünften cartesianischen Meditation {via Intersubjektivität) die Problematik des objektiven Geistes und im Kapitel VI der Phänomenologie „eine Phänomenologie im Niveau des Be2 R. Jakobson: Selected Writings I. The Hague, Paris 1971. 307.

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wußtseins" wiederzufinden versucht, schreibt schon am Anfang seines Aufsatzes Hegel et Husserl sur rintersubjectivite: „Le rapport est ainsi un rapport croise entre une phenomenologie de la consience qui se sureleve en phenomenologie de l'esprit — HUSSERL — et une phenomenologie de l'esprit qui demeure une phenomenologie dans la conscience — Hegel" (6). RICOEUR sieht also beide Phänomenologien sozusagen in einem Spiegel-Effekt, in einer Beziehung der asymmetrischen Symmetrie verbunden. Die Phänomenologie HUSSERLS brächte aber die umfassendere Einheit ihrer selbst mit der Hegelschen' zustande. In der Tat gibt RICOEUR auf die von ihm gestellte Frage: „la theorie de l'intersubjectivite de HUSSERL peut-elle tenir lieu d'une theorie hegelienne de l'esprit?" eine bejahende Antwort, und zwar in drei Stufen: 1. Die phänomenologische Konstitution, verstanden nicht als eine Sinnschöpfung, sondern als die Konstitution des Sinnes nach ihrem transzendentalen Leitfaden, bedeutet „Auslegung", die dann aber die Dialektik theoretisch schon beinhalten soU. 2. Die Husserlsche Analogie zwischen dem Ich und dem alter Ego, die als die transzendentale Bedingung „de toutes les relations intersubjectives" fungiert, „peut etre elevee au rang d'instance crihque ä quoi meme le Geist hegelien doit etre soumis" (17). 3. Eine mögliche Ergänzung der HussERLschen Phänomenologie durch die Soziologie MAX WEBERS würde uns, nach RICOEUR, den transzendentalen Inhalt schaffen, der als solcher der Idee der Lebenswelt fehlt: „c'est le contenu empirique, d&rit dans la grille des types-ideaux" (16). In dieser Weise wird die einheitliche Form der Sinnkonstitution auf der analogischen Basis der Ich-Konstitution durch den sozialen Inhalt erfüllt. Da aber das formale Element bloß ideal bleibt und der Inhalt immer nach diesem Ideal definiert werden muß, bringt uns diese Form-Inhalt-Beziehung in die Nähe KANTS. Der Hegelsche Geist verwandelt sich bei RICOEUR gleichsam in die „regulative Idee". D. SOUCHE-DAGUES bringt in: La dialectique de l'intentionnalite das ganze HegelHussERL-Verhältnis in eine andere Perspektive.^ Von dem Standpunkt der „Intentionalität" her gesehen ist die Phänomenologie nach ihrer Möglichkeit der fortschreitenden „sursomption" umfassender als die HussERLsche Phänomenologie des Bewußtseins, die auf der Ebene der intentionalen Analyse bleibt, d. h. das Selbstbewußtsein (den„Begriff") ständig voraussetzt, und sich diesem nach der Logik der „subsomption" unterordnen läßt: „C'est une Logique en un sens nouveau du terme; c'est la Science du Logos, vers laquelle certes HUSSERL lui-meme tendait, mais ä laquelle la logique ARiSTOTfeLicienne en tant que logique de la subsomtion faisait, chez lui comme chez KANT, un obstacle permanent." (36)

Die beiden anderen Aufsätze, nämlich Itineraires phenomenologiques von J. ROLLAND DE RENSVILLE und Essai de Synthese d' une methode phenomenologique von GERHART SCHMIDT führen diese schwierige Gegenüberstellung der phänomenologischen Widerspiegelungen nicht weiter. RENSVILLES Aufsatz demonstriert die immer voraussetzungsbedürftigen zirkulären Bewegungen, die beiden Phänomeno3 Dieser Aufsatz wurde nochmals veröffentlicht in; Revue de Metaphysique et de Morale. 87 (1982), 504-518.

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logien gemeinsam sind (etwa „sursomption" und „subsomption" bei SOUCHEDAGUES). SCHMIDTS Versuch einer „nouvelle phenomenologie", die „se profile comme une philosophie non-idealiste, c'est-ä dire comme une philosophie de la non-identite . . . inseparable de la philosophie pratique" (46, 41), bleibt dunkel, da im Gegensatz zur Versprechung des Titels nicht geklärt wird, was die Methode dieser Philosophie (wenn überhaupt!) sein wird. 4. Die Rede der Bilder über die Phänomenologie selbst Buch Hegels Recollection ist ansprechend geschrieben und bereitet Lesevergnügen. Das Hauptinteresse des Autors hegt in der Dechiffrierung der Metaphern, der Bilder und der Ironie Hegels (wie sie in der Phänomenologie zu finden sind), um das Hegelverständnis zu erleichtern. Man kann seine Hauptthese, daß das „Bild", das durch den Prozeß der Erinnerung in dem absoluten Wissen präsent sein soU, seinen Platz noch im Begriff finde, daß somit die Grenze zwischen dem Bild und dem Begriff getilgt werde, nicht kritisieren, ohne den heuristischen Ansatz des Autors ins Auge zu fassen. Schon im Vorwort schreibt er: „I do not regard the views I express to be exactly what Hegel himself meant. Nor do I intend what I say here to be simply my own phüosophical view imposed upon Hegel's Work. My approach falls between these two. In each chapter I have sought to uncover ideas that are within the text, but which, once uncovered, do not always point to what we have come to expect the text to mean." (Preface, XI) Der Schlüsselbegriff für diese Enthüllung der Ideen ist das „ingenium", das in der Erinnerung geschieht: „ingenium" ist nicht eine Methode des Verstehens, sondern die Selbstschaffung, das Selbstdenken der Methode in jedem gegebenen Moment (20). Wie dieses Methodische, das selber keine Methode sein soll, funktioniert, wird am besten vielleicht anhand der Struktur der „Metapher" erklärt: Der Begriff „Ganzes" ist metaphorisch, weil es eine Übertragung von endlichen Kontexten zu einem unendlichen, d. h. zur offenen Einheit der Metapher voraussetzt. Das Hegelsche „Ganze" kann sich also nur als Metapher begreifen (117 f), d. h. aber, so möchte ich hinzufügen, kann sich nicht mehr begreifen, weil es „open-ended" ist. Im Hinblick auf das letzte Kapitel der Phänomenologie schreibt der Autor: „Recollection is the activity of the true infinite because it is always an activity of bringing forth parts from the whole. The whole of memory itself ist always its beginning point. And the language of memory is the image." (109) DONALD PHILLIP VERENES

5. Zwei neue Übersetzungen Zum Schluß sei auf zwei Übersetzungen der Phänomenologie hingewiesen: eine ins Holländische, die andere ins Türkische. Die holländische Übersetzung von WIM VAN DOREN Fenomenologie van de Geest ist nicht komplett und enthält nur eine Aus-

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wähl aus den wichtigen Kapiteln. Die türkische Übersetzung von Aziz YARDIMLI Titiin Görüngübilimi ist die erste Übersetzung überhaupt. Sie kämpft konsequent gegen die Schwierigkeiten der Terminologie in dieser Sprache. Beide enthalten eine für den Leser hilfreiche Ergänzung; die holländische Übersetzung eine Liste der Termini, die türkische ein Verzeichnis der Begriffe. Önay Sözer (Istanbul)

HEGEL'S PHILOSOPHY OF NATURE; REGENT DEVELOPMENTS

1. Falkenburg, Brigitte: Die Form der Materie. Zur Metaphysik der Natur bei Kant und Hegel. Frankfurt/M.: Athenäum Verlag 1987. 251 S. 2. Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Hrsg, von Reinhard Heckmann, Hermann Krings, Rudolf M. Meyer. Stuttgart-Bad Cannstatt; Frommann 1985. 391 S. 3. Goethe and the Sciences: A Reappraisal. Ed. Frederick Amrine, F. J. Zucker and A. Wheeler. Dordrecht, Boston, Lancaster, Tokyo: D. Reidel 1987. 442 S. 4. Goethe, Johann Wolfgang von: Die Metamorphose der Pflanzen. Mit Erläuterungen und einem Nachwort hrsg. von Dorothea Kuhn. Weinheim: Acta Humaniora 1984. 150 S. 5/Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe I. Das System der spekulativen Philosophie. Hrsg, von K. Düsing und H. Kimmerle. Hamburg: Meiner 1986. 281 S.; Jenaer Systementwürfe II. Logik, Metaphysik, Naturphilosophie. Hrsg, von R.-P. Horstmann. Hamburg: Meiner 1982. 388 S.; Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Hrsg, von R.-P. Horstmann. Hamburg: Meiner 1987. 319 S. (Phil. Bibi. Bd 331-333.) 6. Hegel, G. W. F.: Naturphilosophie. Band 1: Die Vorlesungen von 1819/20. Hrsg, von Manfred Gies. Napoli: Bibliopolis 1982. 152 S. 7. Rosenkranz, Karl: Hegels Naturphilosophie und die Bearbeitung derselben durch den italienischen Philosophen Augusto Vera. Berlin 1868. Nachdr. Hildesheim, New York: Olms 1979. 180 S. 8. Hegel and the Sciences. Ed. by Robert S. Cohen and Marx W. Wartofsky. Dordrecht, Boston, Lancaster: D. Reidel 1984. 374 S. 9. Hegel, G. W. F.: Dissertatio Philosophica de Orbitis Planetarum. Philosophische Erörterungen über die Planetenbahnen. Übersetzt, eingeleitet

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und kommentiert von W. Neuser. Weinheim: Acta Humaniora 1986. 176 S. 10. Wandschneider, Dieter: Raum, Zeit, Relativität. Grundbestimmungen der Physik in der Perspektive der Hegelschen Naturphilosophie. Frankfurt/M.: Klostermann 1982. 232 S. 11. Beyer, Wilhelm Raimund: Gegenwartsbezüge Hegelscher Themen. Mit unbekannten Hegel-Texten zur Farbenlehre. Meisenheim: Hain 1985. 126 S. I. It is a sure sign of the broad base of the present upsurge of interest in Hegel's treatment of the natural Sciences, that it should be so difficult to find any one main reason for it. If one simply takes the matter up superficially, all one seems to be able to say for certain about the present spate of books and articles is that all kinds of Interests and developments seem to be converging on the subject for all kinds of reasons. It is, of course, very encouraging to read, in a recent number of The Owl of Minerva, that most Chinese philosophers no longer consider Hegel's philosophy of nature to be nonsense, but what a Western thinker needs to know is why this momentous revolution has come about. Since the new Chinese translation of the Philosophy of Nature was published at Beijing in 1980, ten thousand five hundred copies of it have been sold. Articles on the subject have been appearing regularly in Chinese phüosophical journals. It would be useful to know what the motivation is, and what sort of link-up there may be with developments now taking place in the West.^ Even the European scene is not easily analyzed. The recent Conferences can probably be regarded as providing a fairly accurate indication of the ways in which the wind is blowing, and they certainly seem to confirm the general Impression that the motivation behind the current interest in the subject is diverse. In 1983 the Istituto Italiano per gli Studi Filosofici in Naples financed an interuniversity research Colloquium on Hegel and natural Science at the University of Tübingen. Among other standpoints, PLATONIC idealism surfaced. Several of the papers created quite a stir by making it evident that there are professional mathematicians who are turning to Hegel on account of the help he can provide in dealing with some of the seemingly intractable problems they now face in respect of the foundations and applicability of their discipline. Interestingly enough, it was also evident that many of the Italian and German research students had come along on account of their being involved in ecological issues. In 1985 the Internationale Hegel-Vereinigung organized a similar meeting in the Netherlands. The objective was to carry out a dose analysis of the relationship between empi' tnformation on Heget Studies and Editions in China. In: The Owl of Minerva. 18 (1986), No 1, 92-95.

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rical and speculative cognition in Hegel's philosophical System, and to explore its relevance to modern problems in the philosophy of sdence.^ The Internationale Hegel-Gesellschaft has now announced that the central theme of its next meeting, which is to be held at the Free University of Berlin in 1988, is to be „Nature and Spirit". Special attention is to be paid to the historical context of Hegel's treatment of the various empirical disciplines and to the relevance of his expositions to an understanding of the inter-connections between the natural and the social Sciences. Hegel put an immense amount of effort into elaborating his philosophy of mathematics and the natural Sciences. He opened his cateer with a thesis on Newtonian mechanics, lectured regularly on a whole ränge of related subjects over a period of thirty years, presented a detailed and constantly revised exposition of the Philosophy of Nature as the central feature of all three editions of his Encyclopxdia. It is, therefore, quite extraordinary that this current preoccupation wifh his philosophy of the natural Sciences should have no counterpart in any previous phase of interest in his work. He failed to arouse any constructive enthusiasm for this aspect of his philosophical System among the general run of his contemporaries. The positivists of the 1840's and ISSlTs, like the logical positivists of our own day, were well aware that those accepted as the authoritative exponents of the Hegelian corpus were almost certain to be non-starters in the fields of mathematics and natural Science. It is curious that the controversies surrounding the development of dialectical materialism did not give rise to more interest in the empirical Content of orthodox Hegelianism. VON ENGELHARDT, who was one of the first to launch out into a thorough investigation of the Philosophy of Nature at the end of the sixties, in the introduction to his Hegel und die Chemie, published in 1976, noted that of the 15,500 courses in philosophy given at West German universities between 1945 and 1970, only two were devoted to Hegel's philosophy of the natural Sciences and no more than twelve involved any reference to it. The present upsurge of interest is, therefore, quite unprecedented. What is more, there is some indication that it may well turn out to be a matter of permanent importan-

II. Since there is not much likelihood of Hegel's Philosophy of Nature ever becoming completely divorced from what is generally regarded as philosophical enquiry, entirely identified with nothing but the history and practice of the natural Sciences, it is a safe bet that the investigation of its philosophical forerunners will always provide one way in to the fruitful study of its general principles. This is, in any case, the fundamental assumption behind a recent study by BRIGITTE FAL2 Hegel und die Naturwissenschaften. Hrsg, von M. J. Petry. Stuttgart 1987; Hegels Philosophie der Natur. Hrsg, von R.-P. Horstmann und M. J. Petry. Stuttgart 1986.

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KENBURG (1) of the ways in which KANT'S attempt to reconstruct the basic concepts

of NEWTON'S scientific accomplishment influenced the opening sections of Hegel's Mechanics (§§ 254-262). NEWTON'S attempt to base natural Science exclusively on Observation and experimental work and LEIBNIZ'S attempt to integrate the findings of the natural Sciences into his metaphysical System, are seen as the parfing of the ways which eventually gave rise to KANT'S drawing a sharp disfincfion between natural Science and natural philosophy. The first part of the book consists of a careful and useful analysis of KANT'S attempt to mediate between NEWTON and LEIBNIZ — through his treatment of space and time, and more parficularly through the attempt to relate the basic concepts of NEwroNian physics to his own theory of knowledge in the Metaphysical Foundations of Natural Science. This is, of course, a worthy undertaking. One wonders, however, whether such an unquesfioning acceptance of KANT'S own concepfion of the historical and philosophical significance of his enterprise can still be regarded as wholly safisfactory. KANT may have been right to point out the limitafions of the psychologizing phüosophies of LOCKE and HUME, but in the light of later developments, both scientific and philosophical, he was certainly wrong to ignore the mathemafics and the field-theory of BOSCOVICH, and to pay so little attention to LINN/EUS and the general principles of biological taxonomy.

In the second part of the book, the themes dealt with in the first part are taken up with regard to the opening sections of Hegel's Mechanics. Since KANT had taken the categorial sequence of quanfity, quality, relafion and modality to be the determining factor in the scientific sequence of phoronomy, dynamics, mechanics and phenomenology, and this, in its turn, to be the reflecfion of the further sequence of movement, force, Connections and presentafion, it is quite understandable that a great deal of attention should be paid to the relafionship between Hegel's treatment of logical categories and the systemafic transifion from Logic to Nature. Recent attempts to elucidate the matter are evaluated and there is some careful textual crificism, but it could hardly be claimed that this part of the book says anything very new, even in respect of the very limited ränge of topics drawn from the Philosophy of Nature. When raising general quesfions such as the nature of Cognition, empiricism, confingency, relafion etc. in respect of Hegel's treatment of the natural Sciences, one wonders if it might not be more advisable, from a didacfic point of view, to begin by leaving aside the abstractions of the Mechanics and concentrafing instead upon a field such as Chemistry, botany or physiology, in which the concrete nature of the subject-matter being dealt with forces one to also give consideration to principles other than abstract logical categories if one is to make any sense at all of what Hegel is attempfing to do. It is worth remembering that in his Lectures on the History of Philosophy, he crificizes KANT'S Metaphysical Foundations for being „scanty and restricted in content". Although Hegel made a point of disfinguishing sharply between his own Philosophy of Nature and SCHELLING'S, it is usual to regard this as nothing more than the pot calling the kettle black. On the surface, at least, there are many simüarifies

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between their two approaches. They were first developed when the two thinkers were still in dose personal contact. They came into and went out of fashion at the same time, and were praised and reviled by practising sdentists in much the same way. From the point of view of the general history of the empirical sdences, the only dear difference between them is that SCHELLING'S was much more influential. The preparation of the new critical edition of SCHELLING'S works is now gethng under way at Munich, and this has tended to attract fresh attention to the early writings on natural philosophy. It is, therefore, most useful to have the proceedings of the Zürich SCHELLING Conference of 1983 published together in one volume: Natur und Subjektivität. (2) Since SCHELLE^G, like Hegel, made a real attempt to acquaint himself with the detaüs as weil as the general conceptions of the natural sdences of the time, it is most encouraging to find one of the three main sections of this book devoted entirely to papers on this subject. His philosophical expositions of electricity, Chemistry and the organic Sciences are investigated with reference to what ordinary working sdentists were doing in these fields at the turn of the Century. Familiarity with such broad issues as the relationship between electridty and Chemical reactions, the nature of heat, the sensibUity of nerves, the origin of the spedes, with such household names as DAVY and BERZELIUS, KIRWAN and CRAWFORD, HALLER and BROWN, BUFFON and LAMARCK, will, perhaps, encourage the ordinary historian of sdence to take a second look at the ways in which SCHELLING made use of such matters in working out a general theoretical framework for the natural sdences. He may well find some of the features of his teleological model congenial and iUuminating, although he will almost certainly also find himself agreeing with Hegel when he condemns much of the detail of SCHELLING'S work in this field as bizarre and chaotic. The second section of the book cpntains five papers devoted to making sense, not of the detaüs, but of the general prindples of SCHELLING'S „speculative physics", by showing how they relate to certain aspects of the other main phUosophical undertakings of German idealism, — KANT'S Critique of Judgement, FICHTE'S transcendental subjectivism and Hegel's early speculations concerning inteUigence. It is notoriously difficult to extract dear issues from this sort of investigation. All four of these thinkers went through various stages of development, interpreted others with varying degrees of accuracy and insight, and are now being expounded by scholars who have their own axes to grind. Such a hall of mirrors necessarüy gives rise to plenty of hUarious distortion, as is fuUy apparent in the discussions evoked by these papers, — that between LAUTH and KIMMERLE on transcendentaüty and sexuaüty in FICHTE and Hegel being a veritable gern in this respect (185—186). The clearest and most constructive contributions to this section are those by DüSING and KRINGS, involving as they do straightforward expositions of the KANxian and ScHELLiNGian positions in respect of nature. It is important to note that DüSING's analysis of the general significance of KANT'S conception of the organism not only helps to make sense of the broad outlines of SCHELLING'S teleology, but also leads easUy and naturally over into an evaluation

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of the mature Hegelian position. Similarly, much of KRING'S reconstruction of the thought behind the somewhat idiosyncratic tenninology in which SCHELLING expresses the central principles of his conception of nature, provides an excellent introduction to the corresponding Hegelian standpoint.

Once one thinks one has got things straight in respect of the past, it is only natural that one should look around for the Contemporary relevance of one's insight. This is what is done in the papers included in the third section of the book, — the fields selected for consideration being the non-empirical presuppositions of the theories employed in physics, cosmology, ecology, evolution and medicine. Much of the argumentation is plausible enough, and much of what is said about the relevance of SCHELLING'S ideas might also be said about Hegel's. As we all know, however, there is a great gap between the business of picking out such points of contact between then and now, and so institutionaUzing the teaching of natural philosophy that it constitutes an integral part of the everyday World of the working scientist.

III.

UnUke so many of the Professional scientists of the time, Hegel thought very highly of GOETHE'S work in the natural Sciences. In four fields in particular, — meteorology, chromatology, plant physiology and osteology, — he went out of his way to defend it against criticism. Although one cannot help suspecting that this involved a certain amount of toadying, and although it is quite clear, at least in respect of chromatology, that from a purely scientific point of view it led him a long way up the garden path, it is possible to find a consistent and rational pattem in his approbation. He observes that although GOETHE applied himself to such minutely meticulous work as the co-ordination of barometrical readings and the exact Classification of cloud-types, he never lost sight of the fact that it is the whole organism of the Earth which gives rise to meteorological phenomena, all of which constitute an integral part of a whole, that no one aspect of the study of them can properly be considered in isolation, and that it is therefore futUe to attempt to interpret them simply in reductionist or mechanical terms (Enc. §§ 288—293). The same line of argument plays an important part in the elaborate defence of GOETHE'S revival of the modification theory of light and colours. The archetypal phenomenon of the basic Opposition between darkness and brightness being overcome in a series of gradations and so giving rise to the various colours, is taken to be central to every aspect of physical chromatics, and GOETHE'S „Superior sense" is said to have enabled him to discover this (§ 320). ^ The treatment of the vegetable organism is one of the most richly documented sections of the Philosophy of Nature, and it begins with an exposition of the general principles of 3 M. /. Petry: Hegels Verteidigung von Goethes Farbenlehre gegenüber Newton. In: Hegel und die Naturwissenschaßen, 323—347.

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Metamorphosis ofPlants. Once again, GOETHE is praised for having forced attention away from a concern with mere details, for having provided a rational conception within which each and every aspect of specialized research into plant life may find its proper place. His „great sense of nature" is said to have enabled him to define the growth of plants as a metamorphosis of one and the same formation, to represent the unity of the plant as a spiritual gradation from the basic feature of the leaf to the calyx and the flower, to frucHfication and the final formation of the fruit (§ 345). It is, therefore, perfectly consistent with Hegel's general conception of GOETHE'S importance as a natural scientist, that he should have credited him with being guided by his „fine organic feeling for nature" into discovering the vertebral analogies of the skuU, With having brought System and Order into osteology by poinhng out that the spinal column is the basic organism of the bone, and that the rest of the osseous System is merely a metamorphosis of it (§354). It would be easy to make too much of the ground shared by Hegel and GOETHE in their work on the natural sdences. In fields to which GOETHE contributed no new synthesizing concepts, Hegel was quite content to take the findings of the most bünkered empiricists precisely as they were, and then to carry out the analytical and synthetic work of eUciting the Notional structure without bothering his head about the organic unity of the subject-matter itself. Nevertheless, those concemed with the Philosophy of Nature will certainly find the following work extremely useful: Goethe and the Sciences: A Reappraisal. (3) It is an anthology of recent articles on the subject, many of them translated from the German. The general lay-out of it is very simUar to that of the SCHELLING voIume, — an opening section on GOETHE in the history of Science, a middle section on his scientific ontology and methodology and a closing section on the Contemporary relevance of his ideas. Most of the interests which he and Hegel had in common are touched upon, and there is a very useful bibUography of recent publica tions. It is certainly worth noting, that despite the multitudinous points of contact between GOETHES work and mainstream science, one of the predominant themes of the book is the question of whether or not he can be regarded as a scientist. Fundamentally, this is a matter of asking whether he can be credited with having made any discovery or developed any technique which has become part of the everyday world of practice or technology. It is, admittedly, difficult to give him the benefit of the doubt. The applied Sciences, however, as history shows only too well, are inseparably bound up with wider issues. KEPLER'S heavenly harmonies echo through his three laws, NEWTON's alchemy and chronology were as near and dear to him as the expositions of the Principia and the Opticks, the sombre Vision of LINN./EUS' Nemesis Divina haunts the laborious detail of his taxonomy. It is idle to imagine that practice and technology might be divorced from the more general logical, methodological, ethical and ideological aspects of the Sciences. GOETHE'S scientific works will always be worth reading. They may do no more than reach out into the world of pragmatic effectiveness, but in respect of the GOETHE'S

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controlled vigour with which they open up the broader issues of the Sciences, it is not easy to find their like in the work of anyone eise. It was almost certainly this that Hegel had in mind when he commented upon GOETHE's „fine organic feeling for nature" etc. Since GOETHE'S ideas on plant morphology played such an important part in determining the systematic treatment of plant physiology in Hegel's Encyclopxdia, it is most useful to have the original edition of his main work on the subject reproduced in facsimile, together with notes, a postscript and an index by DOROTHEA KUHN, and a series of delightfully delicate water-colours of plants and flowers, reproduced in colour: Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen (4). The notes are a great help in identifying GOETHE'S references and relating his ideas to the literature of the time. Their general tone is historical and phUological rather than scientific and philosophical, however, and despite a section of the postscript devoted to tracing the effect of the work, no mention is made of Hegel. This is rather curious, since apart from the extensive references to GOETHE'S work in the Philosophy of Nature, there was a long-standing personal contact between them in respect of botanical matters. It was to GOETHE that Hegel wrote in January 1807, when he first thought of applying for the post of Keeper of the Botanical Gardens and Professor of Botany at the University of Jena. As has already been noted, the treatment of the plant Sciences is one of the most erudite and detailed sections of the whole Philosophy of Nature. What is more, it is not difficult to understand why this should be so, since it was the outcome of a lifelong involvement. We know from Hegel's sister that botany was his main boyhood hobby, and from the library records at Tübingen that he read LINN,«US as a Student. He brought a well-stocked herbarium with him when he retumed from Switzerland, and he continued to botanize regularly with SCHELVER while lecturing at Jena. As is evident from his library and his lectures, he was in dose contact with KARL SCHULTZ, Professor of Botany at the University, during his Berlin years. It is, therefore, high time that the significance of his work on botany was submitted to a thoroughgoing analysis.

IV. However seriously one is obliged to take the empirical content of the Philosophy of Nature, however essential it may be that the work should be universally recognized as an integral part of the general history of mainstream sdence, it has to be admitted that like the thoroughgoing empiridsm of GOETHE'S writings on natural sdence, it is constantly and consdously pointing beyond itself to broader issues. If one looks back over the history of its reception, it becomes apparent that one of the main obstades to opening it up to the ordinary procedures of historical analysis is the fact that it forms part of a greater whole, an overriding philosophical architectonic which also includes a Logic and a Philosophy of Spirit. Instead of being investigated on its own grounds, that is to say, as a systematic re-thinking

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of the findings of the empirical Sciences, there has been a seemingly irresistible tendency to interpret it solely as a sort of analogue or extension, — either of the Logic, or of the phenomenological element in the Philosophy of Spirit. It could be argued with a fair degree of plausibility, that one of the primary purposes and merits of Hegel's manner of thinking is the avoidance of category mistakes, the establishing of the exact systematic context of any given field of enquiry, the eUmination of muddles in the inter-relating of levels of complexity. The Logic, the Philosophy of Nature and the Phenomenology are not only inter-related, they are also quite distinct. When SCHELLING maintained that the Logic was nothing more than an abstraction from the structure of the Philosophy of Nature, he was no nearer the truth than ENGELS when he maintained that the Philosophy of Nature was nothing more than the concretization of the structure of the Logic. This is not to say, of course, that there is no meta-structure basic to all these fields of systematic enquiry. Experience has shown that when this point is simply made in general terms, it is possible to argue it interminably without ever reaching a generally acceptable conclusion. The most effective way of bringing out the intrinsic merits of the Philosophy of Nature, as distinct from those of the Logic or the Phenomenology, is by showing how Hegel actually made use of its general principles in dealing with the detailed subject-matter of the empirical Sciences. We are at a disadvantage here if we simply take up one Version of the work, a series of lectures delivered during one academic session. If we know enough about the world of early nineteenth Century Science, we may be able to grasp the significance of the sequence in which the main topics are dealt with, the point of his attempts to re-structure their sub-discipUnes, even the issues involved in his polemics. We shall, however, have no alternative illustration of the effectiveness of his method in any specific field of empirical enquiry. We may be able to identify certain features of his treatment of mechanics, for example, which re-occur in his treatment of botany, but the differences between the empirical subject-matter being dealt with will tend to make it difficult to say for certain that what we have grasped are indeed general principles. It is, therefore, a matter of very great importance to the raising of the quality of the general reception of the Philosophy of Nature, that the three series of lectures on the subject which Hegel delivered at the University of Jena in 1803/4, 1804/5 and 1805/6, have now been made available in thoroughly reliable populär editions. In one form or another, these lectures have been available for fifty or sixty years. The 1804/5 series was formerly dated 1801/2, however, the deciphering of the manuscripts left much to be deshed, and little attempt was made to identify Hegel's references. Expensive critical editions of them were pubüshed as volumes six, seven and eight of the Gesammelte Werke between 1971 and 1976. The material contained in these majestic tomes has now made its appearance in the famiUar green volumes of MEmER's Philosophische Bibliothek (5). It is most gratifying to be able to repiort that in certain respects the presentation of the material has actually been improved upon. The populär edition contains better introductions, bibUo-

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graphies and Indexes than the critical edition, and in certain cases there are even improvements in the reading of the texts. It is most noticeable that although the general lay-out, and even the detailed expositions of Hegel's Logic remained much the same throughout the whole of his teaching career, the changes in his Philosöphy of Nature, even from one year to the next, were often radical and far-reachlng. The relative stabUity of the one sphere Stands in stark contrast with the evident fluidity of the other. To a great extent, of course, this is due to the difference betweCn their subject-matters. Logical categories are timeless entities, and the sysfematic relationships between them can be investigated and formulated \Vithout direct reference to the various Sciences in which they come into play. The nahitäl Sciences are in a state of constant flux and development, — fresh discoveries are constantly being made, new theories put forward, hitherto unsuspected relationships brought to light. The broad inter-connections between the discipÜnes may remain fairly stable, but their detaüed substructures will certainly bd in need of constant revision, and it is possible for a whole field of enquiry to be revolutionized rapidly and beyond recognition. To the Hegel of the Berlin period, för example, the stars were nothing more than „a plurality within immeasurable spaces, of no significance to reason". The Science with which he had grown Up had known something of actual and apparent stellar motion and had noted the appearance of a few novae, but had not really progressed beyond the drawing up of star-maps. By 1815, however, FRAUNHOFER had pubUshed the results of his revolutionary researches into the precise nature of solar and stellar spectra and so laid the foundations of the physics and the Chemistry of the stars. Had Hegel been aware of the importance of this development, he could hardly have maintained that the study of the stars was of no significance to the reason involved in structuring the second main section of the Philosophy of Nature. Thanks to the reliable dating and the impeccable editing of these Jena texts, we are now in the position of being able to compare in detail three versions of the Phüosophy of Nature worked out within a comparatively short period of time. This provides us with first-rate insight into the way in which the general principles of HegeUanism operate in respect of the material provided by any one of the wide ränge of empirical disdplines dealt with. For example, when one bears in mind NEWTON'S incongruous juxtaposing of universal gravitation and individual atoms, the circularity of argumentation in the definition of mass with which the Principa begins, it is a matter of very great interest to find Hegel, in the 1803/4 lectures, dealing with mass at two widely separated levels, — once as the immediate presupposition of gravity in general, and once again as the immediate presupposition of the motions of the heavenly bodies (op. cit. 8—18). The point of this is, evidently, that if a perpetuation of confusions is to be avoided, the Problem of the circularity of NEWTON'S general definition and that of the use he made of it in providing a rational explication of the motions of the solar System, have to be kept quite distinct, that is to say, given their precise location within their own systematic contexts. ln 1804/5 the whole problem is by-passed by

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developing the grandiose project of treating all the motions of the solar System in purely kinematic terms, and only then progressing to the more concrete issues of the local motions involving mass, which is taken to be the immediate presupposition of the projectile, the pendulum and the lever (op. cit. 247). Hegel quite evidently had second thoughts about this clean sweep, for in the lectures of 1805/6 certain features of the solar System are no longer treated in purely kinematic terms. Mass is now given its systematic placing as the immediate presupposition of axial rotation (op. cit. 23). The significance of the apparent fluidity of the Philosophy of Nature in this parhcular respect, the stability of the general principles motivating these widely diverse attempts to establish a satisfactory systematic context for the central concept of mass, only becomes apparent once one realizes that Hegel is looking for the solution to the specific Problem he has inherited from NEWTON and his eighteenth Century Interpreters. There is no point in attempting to account for the widely varying systematic contexts he allots to mass by treating the whole business as a matter of abstracting from empirically-based structures in Order to establish what are essentially categorial inter-relationships. Hegel is quite clearly doing something other than simply formulating logical Connections. Nor is there any point in attempting to interpret what is going on as nothing but an applpng of categorial relationships, an eUciting of pseudo-empirical sequences. Hegel is quite clearly doing something other than simply developing an a priori logic of the natural Sciences. He places mass in these various systematic contexts because he is attempting to reconstruct the component concepts of the mechanics of his time in a rational sequence, a series of asymmetrical relationships reflecting the real degrees of complexity subsisting between the various levels of enquiry opened up by scientific practice. The basic question he is asking is, therefore, what presupposes what. The central prindple he is employing differs little from the age-old and weU-tried one of resolution and composition, which NEWTON too took to be central to his scientific work.^ The most remarkable feature of the treatment of chemistry in 1803/4 (op. cit. 43—75) and in 1804/5 (op. cit. 282—293) is the use Hegel makes of the four canonical elements. The whole Interpretation centres upon the „real and conceptual" sequence of fire, water, air and earth, which are, of course, conceived of as the combustible, liquid, gaseous and solid States, and not as elements in the LAVOisiERian sense of the term. They are regarded as the general structural principles constituting the physical foundation or presupposition of chemistry, and as making philosophically intelügible, providing the general framework for, the analytical processes and procedures by means of which we ^ I. Newton: Account of the Book entitled Commercium Epistolicum. In: Philosophical Transactions of the Royal Society. 1715. 224; A. R. Hall: Philosophers at Ylar. The Quarrel between Newton and Leibniz. Cambridge 1980. 314; Opticks. Book 3. Part 1. Question 31; 1. B. Cohen: The Newtonian Revolution. Cambridge 1980. 12—13; R. S. Westfall: Neuer at Rest. A Biography of Isaac Newton. Cambridge 1980. 642—643.

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can separate out the various metals, salts and earths. In these two series of lectures, therefore, the emphasis is not upon the new and revolutionary analytical chemistry of LAVOISIER, FOURCROY and VAUQUELIN, but upon structures, affinities and properties, the qualities of whatever has been isolated or analyzed, — the brittleness, hardness and ductUity of metals, the combustibUity and solubility of salts, the texture, friability and crystalUnity of earths. Before he prepared the 1805/6 lectures on chemistry, Hegel must have made a particularly careful study of BERTHOLLET'S Recherches sur les lois de Vaffinite (Paris 1800/1) and Essai de statique chimique (Paris 1803). In these works, the new analytical methods were incorporated into a comprehensive exposition of the subject which brought into consideration the various physical conditions under which Chemical combinations take place. Bulk, pressure, temperature, gaseouseness, liquidity, solidity etc., were taking to be essential factors determining Chemical affinity, and so distinguishing it from the much simpler attractive and repulsive affinities apparent in magnetism for example. In 1805/6, therefore, instead of relying upon the ARiSTOTELian elements in Order to structure the presuppositions of chemistry, he looked more closely at Contemporary physics. Fire, water, air and earth were stiU regarded as important (op. cit. 66—71), but as in the mature Encyclopxdia, they were presented as a level within a much more carefully structured physics. Once again, this change is neither a matter of simply establishing fresh logical Connections, nor is it a matter of merely shifting empirical material around in accordance with an a priori scheme of categorial relations. It is a matter of responding to what is seen to be an advance in the empirical Science of chemistry by reformulating levels of complexity, asymmetrial relationships, within the phUosophical sequence. Evidence that this was in fact the central methodological principle of the Philosoph}/ of Nature as worked out during the Jena period, could be multiplied almost indetinitely from the material contained in these volumes. It is to be hoped, therefore, that now that this material has become so readily accessible, it will give rise to a constructive re-evaluation of Hegel's early work in this tield. There is no point in claiming to see any signiticance at all in the detaUed expositions of these Jena texts if one has no knowledge of the state of the empirical Sciences of the time. Unless one is aware of the problems surrounding the concept of mass in eighteenth Century physics, it is impossible to even begin to talk in meaningful terms about Hegel's attempts to solve them. What is more, if any one of these three blueprints for the rationaUzation of the tindings of the natural Sciences is taken in isolation, if no comparisons are made with the ways in which specific problems or types of problem are tackled in the other versions, there is not much chance of making sense of the methodology Hegel himself is employing. A look at the history of the reception of these lectures, beginning with those who actually heard them, makes this perfectly clear. If they have not been dismissed as either nonsensical or unintelligible, they have been interpreted as either phenomenology or applied logic. They have, in any case, completely failed to arouse the interest, let alone win the contidence of those who have had

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any understanding at all of the history of the science being dealt with. This would not matter, of course, had Hegel really been phenomenologizing or logicizing and not entering into the empirical subject matter of the natural Sciences. It is, therefore, a matter of very great importance; that it is now possible to trace the development of the Philosophy of Nature throughout the Jena period, for it is only by comparing these three versions of the work and examining in detail the differences between them, that it is possible to demonstrate clearly and unequivocally the precise nature of the general principles they embody. Curiously enough, it is still not possible to do this with any satisfactory degree of thoroughness if one is interested in the Berlin lectures on the Philosophy of Nature. Six series were delivered, in 1819/20, 1821/22, 1823/24, 1825/26, 1828 and 1830, and there are extant manuscript notes, 1756 pages of them in aU, on all but the last. In the Standard edition, published by Michelet in 1842, the numbered Paragraphs of the 1830 Ertcyclopaedia are re-printed, together with lengthy Additions, based on a wide ränge of sources dating from as early as 1805 and as late as 1830. The wealth of material presented is most impressive. The MICHELET text surpasses all the extant manuscript notes in comprehensiveness and richness of detail. The trouble is, however, that it presents the multifarious developments which took place in Hegel's conceptions during these years as a monolithic whole. Instead of our being helped to trace the ways in which the specific issues being thrown up by the natural Sciences were assessed and integrated, we are encouraged to regard the Hegelian approach as nothing more than a timeless exercise in the exposition of absolute reason. As in the case of the Jena lectures, therefore, unless we are Ccireful, and unless we know something about the empirical subject matter being dealt with, we shall find ourselves drifting into the arms of the logicians or the phenomenologjsts once we Start looking around for an explanation of what is going on. In the main English edition of the MICHELET text, the attempt was therefore made to break down the 1830 Paragraphs into their chronological constituents by indicating which parts of them are also to be found in the 1817 and 1827 editions of the Encyclopeedia, and to do the same with the Additions in so far as the materials available made this possible. The attempt was also made to relate the subject matter being dealt with to the state of the natural Sciences at the time by providing a detailed commentary.^ Some success has attended the approach adopted in the English edition. What are really required, however, are critical editions of the relevant Paragraphs in the various versions of the Encydopsedia, and separate volumes documenting the separate series of lectures. If there is any question of fbdng priorities in respect of the rest of the manuscript material still awaiting pubUcation, it ought to be pointed out that such comprehensive documentation is not so essential to a thorough understanding of the general principles when one is dealing with any of the other spheres of the Encyclopeedia, since the subject matter was less likely to undergo rapid or radical alteration. One might very well make do with one or 5 Hegel's Philosophy of Nature. Ed. M. J. Petry. 3 vols. London and New York 1970.

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two series of lecture notes on the Logic, the Philosophy of History or the Aesthetics, and still acquire a good grasp of both the general principles and the subject matter involved. ln the case of the natural Sciences, however, fresh information, new insights and theories, were pouring in on all fronts. For thirty years Hegel made a valiant if necessarüy imperfect attempt to keep abreast of it all. He was at the height of his power in this respect during the Berlin period. If we are ever to get fully to grips with the mature Philosophy of Nature, it is therefore essential that the manusciipt material from the Berlin period should now be edited in the same way as that from the Jena period. It is most encouraging to find that a Start has been made on this essential work as the result of the initiative taken by KARL-HEINZ ILTING, in conjunction with the Istituto Itaüano per gli Studi FUosofid. The notes taken during the 1819/20 series by GOTTFRIED BERNHARDT (1800—1875), subsequently Professor of Classical Philology at the University of Halle, have now been pubüshed: Hegel: Naturphilosophie. Band 1. (6) The volume has been beautifuUy produced, and the basic editing has been carried out carefuUy and conscientiously. As in the case of the Jena volumes, a coherent and readable text has been produced, and any revision of the manusciipt this has involved has been noted at the foot of the page. The editor, M. GIES, supplies a short introduction, predominantly phüological in tone, — curious, considering he took his doctorate at Bonn in nuclear physics, and four pages of notes, the primary purpose of which is to identify the sources of Hegel's references. These lectures were based on the 1817 edition of the Encyclopsedia, and the editor notes (xvi) that already in 1819/20 certain changes are apparent, that the BERNHARDT text provides us with some insight into the revisions that were to be incorporated into the second edition of 1827. One of the most striking of these changes is the line Hegel draws between mechanics and physics, or, rather, the precise meaning he attaches to these two words. ln 1817 the first major sphere of the whole Philosophy of Nature is Mathematics (§§ 197—203), in which the abstract presupposifions of matter are brought into a systematic sequence. Matter itself is taken to be the initiation of the second main sphere of Physics (§§ 204—259). ln 1827 and 1830 it is light which is taken to be the initiation of physics, and the kinematic and material presuppositions of it, including the abstract subject matter predominantly susceptible to mathematical exposition, are all included within the first main sphere of Mechanics (§§ 254—271). In this particular respect, the lectures of 1819/20 do not deviate to any appreciable extent from the printed text of 1817 (13—35). It is worth noting, perhaps, that true to the distinction drawn at the beginning of the Jena period, mass is dealt with at the level of the systematic construction of matter (24), and again at the level of celestial mechanics (32). Another interesting respect in which the 1819/20 lectures are closer to the 1817 text than to that of 1827 is that of the treatment of light and colour. As in the Jena period (1.26,55—57; 11.233,267; 111.33,78—82), Hegel provides a defence of GOETHE'S modification theory against that of NEWTON, by treating light as such as a relatively simple phenomenon, closely related to motion (27—44), and coloured

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or modified light at a much more complex level (74—82). He polemicizes against NEWTON and defends GOETHE when deaUng with Ught as such, however, whereas in the later editions of the Encyclopsediü this polemic occurs only in the course of his dealing with modified light (§ 320). GIES is to be congratulated on having taken the first important Step in opening up the Berlin lectures to detaUed analysis. It is to be hoped that he will be able to make rapid progress with the project, for only when it is completed shall we have reaUy firm ground under our feet when generalizing on the merits and demerits of the mature Philosophy of Nature.

V.

For a decade or so at the beginning of the nineteenth Century SCHELLING'S philosophy of the natural Sciences had a widespread influence on those actually engaged in scientific research. This was never the case with Hegel's Philosophy of Nature. One or two of his pupüs, GEORG FRIEDRICH POHL comes to mind, went on to make a name for themselves in the exact Sciences, but by and large the practical effect of his lecturing in this field was minimal. With the one exception of the present upsurge of enthusiasm, which, as we have already observed, is so diverse in its sources of inspiration that it is difficult to assess, most revivals of interest in it have had an extremely narrow base and have not lasted very long. It should not be overlooked, moreover, that even the present movement still has to show that it can link up with üving issues and exercise a constructive influence upon the future of Science and technology. Those who have been drawn to the Hegelian manner of philosophising have not usually had much interest in the exact Sciences. Dipping into the history of the reception of the Philosophy of Nature is not without its interest, however, and two recent pubUcations enable one to get a good grasp of the state of affairs a generation after Hegel's death and just prior to the present renaissance. The first is a reprint of KARL ROSENKRANZ'S Hegels Naturphilosophie und die Bearbeitung derselben durch den italienischen Philosophen Augusto Vera (7). The second is the long delayed publication of the proceedings of an American Conference held in 1970: Hegel and the Sciences. (8)

The immediate occasion for the appearance of ROSENKRANZ'S extended essay on Hegel's Philosophy of Nature was the publication between 1863 and 1866 of AUGUSTO VERA'S French translation of the work. VERA was an Italian, but his French Version was lucid and accurate. He was a rigorously systematic thinker rather than a man of Science, but he was well informed concerning the state of affairs in the various branches of the natural Sciences, and he made a valiant effort at combining System and erudition in producing a detailed and critically constructive commentary on the whole ränge of material dealt with in Hegel's text. From the point of view of Hegel scholarship, the weakness of his work lay in his treating

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the MICHELET edition of 1842 as a definitive Statement of the Hegelian position. He had little idea of the complexity of the philosophical and natural scientific developments that lay behind it. The Science it dealt with was dose enough in character to that of his own day for him to enter into the controversies surrounding spedfic empiiical issues without asking himself how the climate had changed since Hegel had been concemed with them. The Situation was saved by the emphasis he laid upon the primary importance of System, the sharpness, subtlety and clarity with which he sketched in the roles played by empiridsm, mathematics and speculative thought within the whole undertaking of the natural sdences. The verve and elegance of VERA'S intellectual style, the briUiance and indsiveness with which he brought the undoubted merits of the Philosophy of Nature to the notice of the French public, took the German philosophical establishment completely by surprise. ERDMANN and ROSENKRANZ had made a few desultory attempts to show that there was some point in the Hegelian approach to natural sdence, but they had been distinctly half-hearted, and by and large there had been little resistance, in German phüosophical circles, to the crass critidsms levelled at Hegel by the mid-century materialists and positivists. It is not surprising, therefore, that the ageing ROSENKRANZ should have reacted as he did to VERA'S publication, and produced this enthusiastic and elaborate review. ROSENKRANZ had attended Hegel's lectures, knew him personally, and wrote his hfe. He was, therefore, well aware that VERA was right to present the Philosophy of Nature partly as a hardheaded analysis of the findings of empiridsm, and partly as a rigorous and systematic survey of the general subject matter of the natural Sciences. One of the most interesting features of his review is that he should have chosen to ülustrate this point by deaüng in some depth with the Mechanics, the Physics and the Chemistry, and more espedaUy with Hegel's treatment of light and colour. As is the case with VERA, it is never very clear whether or not he is thinking historically, whether he accepts the proposition that the natural sdence Hegel was dealing with is necessarily dated, that a double-think is required if one is to do justice to the intrinsic merits of the way in which the System manages to deal with what is concrete and empirical. He tends to treat Hegel's critidsm of NEWTON and defence of GOETHE as a matter of Contemporary interest, as directly relevant to mid-nineteenth Century controversies conceming the merits and demerits of FRESNEL'S work and later developments in wave-theory. On the other hand, he also brings out the purely systematic significance of Hegel's having treated Ught and colour as two completely distinct levels of physics. He explains, on sdentific grounds, why Hegel took the crystal and refraction to be the immediate presuppositions of colour, and gives a number of well-founded reasons for critidzing him on the point. This approach is valuable, not because it provides us with any wholly authentic insight into the significance of the methodology of the Philosophy of Nature, but because it shows how much of the intrinsic value of this methodology rubbed off on one of the more intelligent and informed of Hegel's pupUs. ROSENKRANZ's conception of the sdentific and philosophical significance of this part of the System cannot be regarded as completely authoritative, but it is

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very much closer to Hegel's own than that of any of the later exponents prior to the present renaissance. Direct knowledge of Hegel's treatment of the natural Sciences passed away with ROSENKRANZ'S generation, and although some important advances in the general understanding of the development of Hegelianism were made between 1870 und 1970, none of them was shown to be relevant in any way whatever to the Philosophy of Nature. When CROCE attempted to distinguish between what was living and what was dead in Hegelianism, he had no hesitation in allowing this part of the System to faU into the second category. This whoUy deplorable state of affairs is clearly reflected in the papers delivered at the American Conference on Hegel and the Sciences held in 1970, and in one way or another, probably accounts for the fourteen-year delay in the publication of the proceedings. The editors should, perhaps, have made some attempt to get some of the articles up-dated. By and large, however, they seem to have been content to present the collection as a sort of period-piece. And this is, after all, what it is, — a rather depressing reminder of the dismal state of Hegel studies in the Anglo-Saxon world a generation ago.

VI. We have already noticed that it is only through making avaUable the manuscript material by means of which the development of Hegel's treatment of the natural Sciences may be fully documented, that we can hope to get a full and rounded idea of the general principles which motivated the extensive revision to which he submitted this part of his encyclopaedic System every time he lectured upon it. The a-historical stabUity of the scientific fields within which he was constantly re-appl)dng these principles is no less marked than their temporal contmgency, however, and there is, therefore, also a need for speciaüzed studies deaUng in depth with his treatment of specific disciplines. It could indeed be argued, that it is only through a healthy proüferation of this genre, that the general reception of the Philosophy of Nature can be raised from the level of blanket praise and condemnation, to that of the informed analysis and evaluation of living issues. Three such spedahzed studies have recently been published: A new edition of Hegel's Dissertatio Philosophica de Orbitis Planetarum (9); Dieter Wandschneider: Raum, Zeit, Relativität (10); Wilhelm Raimund Beyer: Gegenwartsbezüge Hegelscher Themen (11). The physician and antiquary WILLIAM STUKELEY, who knew NEWTON well, observed that he was not only concerned with the large-scale motions of the solar System, but that he was also engaged in, „inquiring very far downwards into the ultimate component parts of matter". The eighteenth Century could not have known this, since STUKELEY'S Memoirs were not published untU 1936, and it is only very recent research into NEWTON'S alchemical papers, nofably by BETTY DOBBS, which has brought out the full significance of the Observation. It is now evident

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that NEWTON, unlike so many of his eighteenth Century followers, was fully aware that the initial definition of the Principia involved a certain drcularity of argumentation. He realized only too well, that to define mass or quantity of matter as arising from density and bulk was simply to throw into relief an unproven premiss, to presuppose at a micro level what one was attempting to estabUsh at a macro level. Since he was never able to estabUsh any general prindples concerning the component parts of matter which conformed to the high Standards he had set himself, however, he had to live with this circularity, accept it as an intractable problem. This is not to say that he did not try to solve it. It is almost certainly the case, for example, that his analytical approach to white Ught constituted part of his attempt to find a solution. As was well-known to the eighteenth Century, however, the Opticks was rounded off with a series of queries, not a clearly defined framework for future enquiry. One can, of course, point to several seventeenth Century anticipations of modern field theory which, if they could have been worked out in an exact manner instead of being simply propounded as general hypotheses, would have enabled NEWTON to make a more satisfactory attempt at bringing out the analogy between micro and macro structures in his mechanics. KEPLER, for example, had spoken of the „carrying power" of the sun in bringing about planetary motion. The Cartesians had imagined showers of particles moving in vortices. The Spinozist ABRAHAM CuFFELER, after distinguishing between the essence of corporeality, which he took to be finite extension, and the natural existence of corporeality, which he took to be nothing but motion, actually went on to maintain that corporaüty and motion are wholly interchangeable terms.^ As is well-known to many twentieth Century historians, however, it was BOSCOVICH who took the first genuine step forward by no longer thinking of the basic particles as being endowed with various forms, masses and sizes, but conceiving of them as being indissolubly connected with forces. In his conception, therefore, NEWTON'S particles and forces are no longer juxtaposed. Each atom is a centre of force, a mathematical not a material point, and both the micro and the macro sphere are seen as explicable in terms of atomic dynamics. Although NEWTON thought carefully about the categorial and methodological presuppositions of his experimental method, it was left to one of the most distinguished of his disciples, the Dutchman 's GRAVESANDE, to produce the first fullscale study of the subject. Since the Standard of this work was high and it was published in Latin, it is curious that it should have remained practically unknown in Germany, that KANT should have regarded himself, and been regarded by most of his fellow-countrymen to this day, as the first to raise the issue.^ * Abraham Joannes Cuffeler (1637—1694); Principiorum Pantosophiae. 3 pts. Hamburg, Amsterdam 1684. Pt. 3. 1-34. ^ Willem Jacob 's Gravesande (1688—1742): Introductio ad philosophiam. Leiden 1736; G. Gori: Lafondazione dell'esperienza in 's Gravesande. Firenze 1972; C. de Pater: Willem Jacob 's Gravesande Welzijn, wijsbegeerte en wetenschap. Baarn 1988.

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There can be little doubl that if it had been the case that when Hegel was preparing the material which he subsequently worked up into the Philosophical Dissertation on the Orbits of the Planets he had known as much about NEWTON as we do today, had had any knowledge at all of the work of BOSCOVICH and s GRAVESANDE, he would not have written as he did. As NEUSER points out in this edition of the work, although he attacks NEWTON himself, he is actuaUy criticizing the facile NEWTONianism of the eighteenth Century. Like so many others at that time, he saw that this superficial way of thinking had to be replaced. He was, however, unable to make the point with regard to any really significant advances in the empirical Sciences of his day. He would have been delighted with the mature work of FARADAY and MAXWELL had he lived to see it published, but had to rest Content with that of FRANCOEUR and BERZELIUS. As we now look back upon this Dissertation, therefore, we can see it as pari of the necessary transition from the weaknesses latent in the NEwroNian synthesis, to the great advances made in field'theory and quantum mechanics since the middle of the last Century. NEUSER does not make this point, and his handling of some of the details of his edition is not very satisfactory, but as an editor he does have the merit of having related Hegel's treatment of specific problems, — the conceptual foundations of NEWTONian physics, the distinction between the centripetal and the centrifugal forces, the differences between pure and applied mathematics, the explanation of the motions of the pendulum, the interpretation of KEPLER'S laws, the discovery of the asteroids etc. — to the state of Professional knowledge and insight at the time. WANDSCHNEIDER's

objective in his book on Space, Time and Relativity is quite different. Although he deals with space, time, motion, matter and light in the same Order in which they are dealt with in the first section of the mature Encyclopeedia, he has very little interest in reconstructing the scientific cUmate of the period in which Hegel was working, and a very great interest in making the point that the Hegelian exposition is directly relevant to certain problems presented by Contemporary physics. It is difficult to deny that this is a perfectly legitimate approach. It requires, however, that a distinction should be drawn between the general principles of the Philosoph]/ of Nature and the historical contingency of its empirical Content. As can be seen from his championing of GOETHE'S anti-NEwroNianism and his outright rejection of biological evolution, Hegel had a certain knack for backing the wrong horse when confronted with rival theories. The universality of his general principles does not preclude their being misapplied. Conversely, no success he may have had in antidpating sdentific advance constitutes proof of the validity of his procedures. It is, therefore, absolutely essential to the proper evaluation of his expositions, that their general structure should not be confused with their subject-matter. His foreshadowings of the advances subsequently brought about by the empirical Sciences, Uke the ways in which KEPLER, the CARTEsians and CUFFELER anticipated modern field theory, cannot be regarded as a fully integral part of scientific progress. They certainly highlight the potential ad-

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vantages of his manner of thinking, but they are essentially neutral in respect of validating it. WANDSCHNEIDER, who had his basic training in modern physics, is well aware of this. He notes at the beginning of his book, that although the extreme efficiency of modern Science has engendered a superabundance of specialized theorizing, it has not, as yet, given rise to any comprehensively systematic phUosophy of nature, and that it is on account of his metaphysics of nature, not his phUosophy of Science, that Hegel is important today. Although he does not emphasize the point, it is evident from many of his incidental observations, that he regards the systematic Classification of universal categories in the Logic as providing the indispensable foundahon for such a metaphysics. The transition from mechanics to physics in the PhUosophy of Nature, for example, is said to have its universal counterpart in that from being to essence in the Science of Logic (195). Consequently, he tends to play down the importance of Hegel's direct involvement in the concrete details of the Sciences. The longest and most original of his chapters is devoted to a discussion of the ways in which the central postulates of modern relativity theory are foreshadowed in Hegel's treatment of absolute motion and light. He follows it up, however, by observing that; „Although it is scarcely possible to avoid the conclusion that the equivalence of light and motion is absolute, and that this accords completely with Hegel's approach, it has to be admitted that he was not particularly interested in this kinematic aspect, which has only become historically important within the perspective of relativity theory. He was concerned with the phUosophy of nature, and therefore had entirely different objectives in mind" (202).

According to WANDSCHNEIDER, therefore, the de-up between modern relativity theory and the treatment of absolute motion and Ught in the PhUosophy of Nature, is very largely incidental to the work's general strategy. Although this is an unusual line to take, and not what one would expect from the title of the book under review, it is undoubtedly justified. It is good to be reminded that Hegel's treatment of the natural Sciences embodies a richness and suggestiveness far surpassing the technicaUties of its basic principles and routine procedures. ln fact its incidental spin-offs in respect of the empirical disciplines it touches upon would appear to be wellnigh inexhaustible. As MICHELET observed when he first pubUshed the full text in 1842, Hegel had been, „able to erect the Sciences into a structure which is unsurpassable in its comprehensiveness, and which has its ILke only in the writings of ARISTOTLE." Given the persuasiveness and originality of this central insight, it is rather disappointing to find that WANDSCHNEIDER's main approach is somewhat pedestrian. Instead of beginning with modern relativity theory, showing how it is anticipated, and then evaluating the systematic sequence Hegel elicits from its presuppositions, he simply plods straight through the Mechanics, faithfully reproducing the frequently specious arguments by means of which Hegel attempted to persuade his students of the plausibUity of his progressions. It was mainly for didactic reasons that he presented synthetically what he had acquired analytically. It is

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therefore essential to draw a clear distinction between bis actual methodology and the sleights of hand forced upon him by the exigencies of the lecture-room. Many of WANDSCHNEIDER'S general observations on the central procedures of the metaphysics involved, though sensible enough, are not quite as satisfactory as might have been wished. Arguing from his assumption of the prescriptive nature of the Logic in the Philosoph}/ of Nature, he characterizes the procedures of the latter Work as in some sense „phenomenological" (36—38). He suggests elsewhere that the heart of the matter in the Hegelian treatment of the subject-matter of the natural Sciences lies in the „development" of the „Nohon" (216). If one is attemphng to bring out the importance of the Philosoph}/ of Nature to the world of modern Science, there is not much point in simply reproducing Hegelian jargon. Nevertheless, he never loses sight of the important distinchon between natural Science and natural philosophy: „Whereas natural Science has as its objechve the theorehcal and technical reconstruchon of objechve reality, dialectic is concerned with the reconstruction of knowledge itself" (221). BEYER'S booklet contains a great deal of curious material of no interest whatever to anyone concerned with Hegel's treatment of the natural Sciences. It is worth making some mention of it here, however, since it contains about hfty pages of informahon, mostly biographical, on GOETHE, SEEBECK, SCHWEIGGER and BOISSERSE and the contacts they had with Hegel on account of their common interest in colour theory, a few pages on related modern themes, notably WITTGENSTEIN'S Bemerkungen über die Farben (1950/51) and JOSEF ALBERS' Interaction of Color (1970), and, most important of all, two hitherto unpublished texts by Hegel, both dahng from 1822. One of these is concäned with colour, more specihcally, with the two experiments by means of which NEWTON undertakes to prove that, „lights which differ in colour, differ also in degrees of refrangibility" (Opticks bk.l pt.l prop.l theor.l. Dover ed. pp. 20—26). GOETHE had crihcized these experiments and the conclusion NEWTON had drawn from them, in the Polemical Part of his Doctrine of Colours (§§34—81). CHRISTOPH HEINRICH PFAFF (1773—1852), in his lieber Newtons Farbentheorie, Herrn von Goethes Farbenlehre und den chemischen Gegensatz der Farben (Leipzig 1813) had undertaken to show experimentally that GOETHE'S crihcism was misguided. Düring the winter of 1821/22 Hegel and a circle of friends had met regularly in Berlin to perform experiments and to discuss GOETHE'S Doctrine of Colours. At one of these sessions, C. F. L. SCHULTZ (1781—1834), the government snooper at the University, attempted to refute PFAFF'S crihcism. Hegel's text is a report on his line of argument. The ofher text is concerned with binocular Vision and is also a report on one of these sessions, at which SCHULTZ had discussed a paper on the subject which he had published anonymously some hve years before, see: „lieber physiologische Gesichts- und Farben Erscheinungen", in J. S. C. SCHWEIGGER'S Journal für Chemie und Physik. 16 (1816), 121—157. Both texts are in the GOETHE and SCHILLER Archive at Weimar in East Germany. They have been known to scholars for some hme, copies of them were made avaUable to me when I first arrived at the Hegel Archive in Bochum in 1970, but this is the first time that they have been published.

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Interestingly enough, explicit mention of the subject matter they deal with is made in the MICHELET edition of the Philosophy of Nature, and is, therefore, commented upon in the English edition of 1970 (11.139,20, note pp. 355—356; 111.140,2, note p. 326). BEYER, who does not appear to have much idea of the scientific and systematic Background to the texts, seems to be under the impression that they are both concerned with colour theory. The vastly different contexts within which their subject matter is discussed in the Philosophy of Nature ought to have put him right on this. The NEWTON-GOETHE-PFAFF problem is mentioned in § 320, where Hegel purports to be deahng with the physics of light and colours. As might have been expected, the problem of binocular vision is raised in the Organics (§ 358), where he is dealing with the assimUative processes of the animal organism, — more specifically, with the five senses. Instead of simply gathering together biographical material concerning those of Hegel's associates who concerned themselves with these problems, BEYER would have done well to say a Word or two about the various systematic contexts within which he deals with the various aspects of light and colours, since it is these, and these alone, which constitute the essence of the particular contribution he has to make to the natural philosophy of these issues. Instead of simply lumping everything together in one treatise, as one might do if one were preparing a practical textbook on optics, the general principles of the Philosophy of Nature require that the diverse disciplines brought together by the practical approach should be analyzed out and assigned to their proper contexts within the whole ränge of the natural Sciences. Doing so involves assessing the relative complexity of their subject matters, indicating the precise asymmetrial relationships subsisting between them. Rightly or wrongly, GOETHE had criticized NEWTON severely for not doing this, for presenting highly complex and doubtful matters as axioms, for example, for introducing new factors into his line of argument without having derived them systematically from previously established premisses („Polemical Part“ §§ 1, 6, 33, 174, 184, 193, 205, 317, 347, 372, 402, 597, 603, 666, 677). In the „Didactic Part" of his Doctrine of Colours, he therefore makes a point of distinguishing clearly between the physiological, physical, Chemical, sensuous and psychological aspects of colour, while also presenting them as inter-related within a systemaHc sequence. What is more, within each one of them, he attempts to present the results of his researches within a corresponding sequence, in which there is an orderly progression from Basic premisses to conclusions. Hegel was bound to find this general approach thoroughly congenial, and there can be little doubt that it was his approval of GOETHE'S methodology which helped to blind him to the shortcomings of his physics. In his own systematic treatment of light and colours, he does not take over the lay-out of the Doctrine of Colours without revising it. The most striking of the changes he makes is the re-classifying of the physiological aspect. GOETHE had regarded this as Basic, on the ground that all enquiry into light and colours presupposes the perception of the same by the investigator. Hegel realized that this manner of thinking creates an unexorcisable witches' circle, which the universality of the com-

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prehending consciousness basic to the whole structure of the Encyclopxdia enabled him to avoid. As we have seen, he classifies enquiry into the physiology of the perception of light and colour as a sub-section of the assimilative processes of the animal organism. Apart from this, the correlation between GOETHE'S systematic approach and Hegel's is fairly dose. GOETHE'S treatment of the psychological response to colour („Didactic Part" §§ 803—920) has its counterpart in Hegel's treatment of the attention involved in intuition, which constitutes a sub-section of his Psychology (Encyclopxdia § 448). GOETHE'S treatment of the sensuous response to colour (§§ 758—802) has its counterpart in Hegel's treatment of Sensation as a component factor of the sub-consdous (§401). The animal organism's physiological response to light (Goethe §§ 1 — 135) is dealt with by Hegel at two levels of assimilation, the practical (§ 362) and the theoretical (§ 358). Like GOETHE (§§ 636—652; 617—635), Hegel deals with the effect of light upon the plant (§ 344) and with phosphorescence and related phenomena (§ 341). Hegel, unlike GOETHE (§§ 486—616), does not treat Chemical colours as a separate field of enquiry, although there are plenty of incidental references to colour in his treatment of Chemistry (§§ 326—336). Within the field of physics proper, Hegel distinguishes between electric light (§§ 323—325), colour as the interaction of light and darkness (§§ 317—320), and Ught as such (§§ 275 —278). ln § 320 he purports to be refuting NEWTON and providing GOETHE'S elaborate exposihon of physical colours with its systematic placing. There is nothing forced or artificial about these fields of enquiry, and it is not at all difficult to trace their present-day equivalents. Modern seientists, though they may not be consdously concemed with the philosophical taxonomy of their disdplines, would be as disturbed as GOETHE and Hegel would have been, if enquiry into the basic nature of light, photons and waves, into optical crystallography, into the electro-magnetic spectrum as a whole, into the chemistry of colour, into the biochemistry of light, the effect of colour and light on organisms, the sensuous and psychological effects of colour etc., were no longer recognized as separate fields of enquiry, each with its specific problems and terms of reference, and between which there subsist some pretty obvious asymmetrical relahonships. One can investigate photons and waves exhaustively without bothering one's head about the biochemistry of the retina, but one cannot carry out any thorough Investigation of the ways in which rhodopsin functions in the rods, without making some reference to photons and waves. Hegel was not above misusing his methodology. Despite the depth and breadth of his knowledge of the empirical Sciences of his day and despite the circumspection and acuteness with which he put it to use, he did occasionally confuse levels of enquiry which he should have disHnguished, and distinguish levels of enquiry which he should have identified. What is more, no methodology provides any guarantee against the misinterpretation of the findings of empiricism. His attempt to refute NEWTON'S theory of colour and defend GOETHE'S is a good example of this. The basic assumption behind the designating of its systematic

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context is that NEWTON had not proved the composite nature of white light. Since he was convinced that GOETHE had successfully vindicated the age-old modification theory, he undertook to back his physics and play down the importance of his Work on the percqjtion of colour. Unfortunately, all the evidence now available points to the fact that GOETHE was radically misguided in his rejection of this particular aspect of NEwroNian physics, and highly successful in indicating the significance of such complicated physiological matters as the awareness of after-images and coloured shadows. It is at the level of colour perception that his work Supplements and complements that of NEWTON. NOW that knowledge of the BEZOLD-BRüCKE effect is common to everyone working in the field, it can be clearly demonstrated that in interpreting one of his key experiments, GOETHE was unwittingly violating one of the central principles of his methodology, confusing physical and physiological factors.® It is worth noting, moreover, that in that section of his Physics in which he professes to be refuting NEWTON and vindicating GOETHE, Hegel draws upon experimental information which in thirteen cases is derived from Chemical and in eight cases from physiological contexts. On the grounds of the basic principles of his own dialectical method, therefore, the empirical basis of this section of the Philosophy of Nature has to be regarded as very largely unsatisfactory. The two texts published by BEYER make an instructive contrast. That concerned with binocular Vision is basically uncontroversial, both in respect of the problem Hegel is attemphng to analyze and in respect of the context to which this problem is ascribed within the whole architectonic of the Philosophy of Nature. When attempting to account for the fusion of the disparate images, Hegel has recourse to the ego and the will where we might talk in terms of stereoscopy, adjustment and inference, but the problem he is tadding is immediately intelligible to a modern optician. The text concerning the attempted discrediting of the two simple experiments by means of which NEWTON undertook to demonstrate that the refractive index of blue is greater than that of red light flies in the face of what is now known of this phenomenon, however, and has a systematic placing in the Physics which has to be regarded as unwarranted. What is more, since Hegel was not prepared to accept that white light is a composite, this section of his Philosophy of Nature is very largely unintelhgible to a modern physicist. It is through the sorting out of problems such as these that we get to the heart of dialectical natural philosophy, and it is only by clarifying the general issues raised in the course of doing so, that we shall be able to demonstrate the relevance of the Philosophy of Nature to the world of modern Science. Michael J. Petry (Rotterdam)

* M. /. Duck: The Bezold-Brticke phenomenon and Goethe’s rejection of Newton's Opticks. In; The American Journal of Physics. 55 (1987), 793 —796.

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Neue Ausgaben und alte Fragen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge. Berlin, New York: de Gruyter. Erste Abteilung: Schriften und Entwürfe. Band 1: Jugendschriften 1787—1796. Hrsg, von Günter Meckenstock. 1984. LXXXIX, 609 S. — Band 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796—1799. Hrsg, von Günter Mekkenstock. 1984. XCI, 430 S. — Band 7: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evanglischen Kirche im Zusammenhänge dargestellt (1821/22). Teilband 1. Hrsg, von Hermann Peiter. 1980. LXV, 357 S. — Teilband 2. Hrsg, von Hermann Peiter. 1980. VII, 409 S. — Teilband 3. Marginalien und Anhang. Unter Verwendung vorbereitender Arbeiten von Hayo Gerdes t und Hermann Peiter hrsg. von Ulrich Barth. 1984. XXV, 672 S. Fünfte Abteilung: Briefwechsel und biographische Dokumente. Band 1: Briefwechsel 1774—1796 (Briefe 1—326). Hrsg, von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. 1985. LXX, 489 S. und 1 Karte. - (Nach Abschluß dieses Berichts erschien:) Band 2: Briefwechsel 1796—1798 (Briefe 327—552). Hrsg, von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. 1988. LVIII, 534 S. Schleiermacher-Archiv. Herausgegeben von Hermann Fischer und HansJoachim Birkner, Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge. Band 4. Friedrich Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß. Hrsg, von Walter Sachs. Mit einem Vorwort von Hans-Joachim Birkner. Berlin, New York: de Gruyter 1987. XL, 256 S.

Das Thema „Hegel und SCHLEIERMACHER" steht seit jeher unter einem ungünstigen Stern. Zum einen fehlt es an Zeugnissen, die die verschiedenen Stadien der gedanklichen und persönlichen Begegnung beider erhellen könnten. Zum anderen haben die — teils wissenschaftlich, teils politisch, teüs persönlich begründeten — Spannungen aus der Zeit ihrer Tätigkeit an der Königlichen Friedrich Wilhelms-Universität in Berlin dazu beigetragen, daß durch die vordergründig sich aufdrängende Polarität beider die vielfältigen Berührungspunkte und Überschneidungen verdeckt wurden, die für das Werk beider nicht weniger charakteristisch sind als die Gegensätzlichkeit. Und auch der Umstand, daß sich für SCHLEIERMACHERS Werk im allgemeinen die Theologen, für Hegels Werk hingegen

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die Philosophen zuständig sehen, begünstigt keineswegs die eigentlich gebotene Form der Thematisierung des Werks der beiden — nicht nur in der Retrospektive eng benachbarten — Kontrahenten. Eine erste, äußere Parallele kennzeichnet schon die Lebensdaten wie auch die werk- und überlieferungsgeschichtlichen Daten. SCHLEIERMACHERS und Hegels Geburts- und Sterbedaten liegen nur zwei bis drei Jahre auseinander (1768/1770 bzw. 1834/1831). In die letzten Lebensjahre SCHLEIERMACHERS fiel der Beginn der Freundesvereinsausgabe des Hegelschen Werks, und unmittelbar nach seinem Tod, in den Jahren 1834 bis 1864, wurde auch sein Werk in einer vergleichbaren Gesamtausgabe, den Sämmtlichen Werken, zusammengestellt — wie bei Hegel unter Einbeziehung sowohl von veröffentlichten Schriften, von Teilen des Nachlasses als auch — damals ein Novum — von Vorlesungsnachschriften. Und nach zwei erfolglosen Vorstößen zur Begründung einer ScHLEiERMACHER-Gesamtausgabe in diesem Jahrhundert ist nun - zwölf Jahre nach dem (zeitlich) ersten - Band der Gesammelten Werke (GW) Hegels - der (zeitlich) erste Band der Kritischen Gesamtausgabe des SCHLEIERMACHERSCHEN Werks (KGA) erschienen. Diesem Band — oder richtiger: den beiden zunächst erschienenen Teilbänden mit dem Text der ersten Auflage der Glaubenslehre — sind in erfreulich kurzer Frist weitere Bände gefolgt: der dritte Teilband der Glaubenslehre mit den Marginalien und einem Anhang, sowie zwei Bände mit frühen Schriften und schließlich der erste Band der Korrespondenz SCHLEIERMACHERS. Doch sind damit die editorischen Bemühungen um SCHLEIERMACHERS Werk noch keineswegs erschöpft: In dem vor drei Jahren begründeten Schleiermacher-Archiv ist inzwischen — neben dem Eröffnungsband mit den Akten des SCHLEIERMACHERKongresses in Berlin 1984 und zwei Monographien — DAVID FRIEDRICH STRAUSS' Nachschrift von SCHLEIERMACHERS Vorlesung über Theologische Enzyklopädie erschienen. Andere Vorlesungsmaterialien — zur Dialektik und Ästhetik — wurden in den letzten Jahren in der Philosophischen Bibliothek veröffentlicht. ^ Und wie nicht anders zu erwarten, werfen diese Neuausgaben des SCHLEiERMACHERSchen und die mit ihnen parallelen Ausgaben des Hegelschen Werks neues Licht auf die auch bisher bekannten — und noch weitere — Berührungspunkte beider.

1. Schleiermacher-Ausgabe und Hegel-Ausgabe KGA ist nicht allein ein dutzend Jahre jünger als Hegels GW. Da es auf editorischem Gebiet glücklicherweise — noch — nicht um Originalität (in der Bedeutung von Einfällen, die noch in keines Menschen Sinn gekommen sind) zu tun ist, sondern um die konsequente Durchführung von ausgefeilten Prinzi-

SCHLEIERMACHERS

' Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ästhetik (1819/1825). Über den Begriff der Kunst (1831/32). Hrsg, von Thomas Lehnerer. Hamburg: Meiner 1984. (Phil. Bibi. Bd 365). — f. D. E. Schleiermacher: Dialektik (1811). Hrsg, von Andreas Arndt. Hamburg 1986. (Phil. Bibi. Bd 386.) — f. D. E. Schleiermacher: Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833). Hrsg, von Andreas Arndt. Hamburg 1988. (Phil. Bibi. Bd 387.)

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pien, und diese am besten im Anschluß an eine erprobte Tradition und gegebenenfalls auch durch deren Weiterentwicklung zu gewinnen sind, so tut man der KGA kein Unrecht mit der Feststellung, daß sie unter allen gegenwärtig veranstalteten kritischen Ausgaben die größte Nähe zu den GW aufweist. Diese Nähe in den Editionsprinzipien wie im Erscheinungsbild der KGA wird ergänzt durch eine Reihe von Abweichungen, die teils auf Grund der anderen Werkstruktur erforderlich waren, teils aber auch verstanden werden können als Resultate einer Einsicht in Eigentümlichkeiten der GW, die man mit Gründen vermeiden wollte. So unterscheidet sich die KGA von den GW insbesondere durch ihre detaillierte Gliederung in Abteilungen. Es ist eine Folge der Vielschichtigkeit des Schleiermacherschen Werks, daß diese Gliederung über die sonst gebräuchliche Vierteilung — Werke, Nachlaß, Vorlesungen, Briefe — hinausgeht. Daneben waren noch SCHLEIERMACHERS Predigten (Abt. 3) und epochemachenden Übersetzungen (Abt. 4) zu berücksichtigen. Daß gleichwohl nicht sechs, sondern lediglich fünf Abteilungen geplant sind, verdankt sich dem Umstand, daß die KGA — wie die GW — die „Schriften und Entwürfe" in einer Abteilung zusammenfaßt, wodurch der entwicklungsgeschichtüche Zusammenhang besser als bei der zumeist üblichen Unterscheidung von Werk und Nachlaß bewahrt bleibt. Anders jedoch als bei den GW bietet die Abteilung „Vorlesungen"die Möglichkeit, SCHLEIERMACHERS Vorlesungsnotizen mit Vorlesungsnachschriften zusammenzuordnen, während in den GW die Vorlesungsmanuskripte bzw. -notizen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Edition der Nachschriften in den künftigen Bänden der GW stehen werden. Noch ein weiterer sachlicher Zusammenhang bleibt durch die Gliederung in Abteilungen zumindest zunächst unangetastet: der Zusammenhang zwischen den theologischen und philosophischen Arbeiten SCHLEIERMACHERS. Mit Ausnahme der unvermeidbaren Ausgliederung der Predigten in Abt. 3 folgen — insbesondere in den ersten Bänden der Abt. 1 — primär als „philosophisch" oder als „theologisch" zu qualifizierende Arbeiten aufeinander. Eine gewisse Differenzierung wird erst in den späteren Bänden der Abt. 1, in den „Schriften aus der Berliner Zeit von 1807—1834"einsetzen, die die Schriften dieser entscheidenden Periode nach sachlichen Gesichtspunkten zusammenstellen. Im Blick auf die Formulierung der Editionsprinzipien wird man vor allem begrüßen, daß die KGA bei deren Veröffentlichung nicht so zurückhaltend verfährt wie die GW: Dem als ersten erschienenen Teilband (Abt. 1, Bd 7/1) sind diese Prinzipien vorangestellt. Sie werden in dem später erschienenen Band 1 ohne Scheu vor Doppelabdruck wiederholt und — ebenso wie im zuletzt erschienenen ersten Briefband — durch die Veröffentlichung von jeweils besonderen Prinzipien für die Edition von Handschriftentexten bzw. von Briefen ergänzt. ^

2 Zu den Prinzipien der Abteilung „Briefwechsel und biographische Dokumente" siehe W. Jaeschke: Ich umarme Sie mit Herz und Seele. . . Zu den Ausgaben der Briefwechsel Jacobis,

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Die editorischen Grandsätze sind wohldurchdacht. Die Behandlung von Schreibweise und Zeichensetzung sowie von offenkundigen Druck- oder Schreibfehlern und Versehen unterscheidet sich nicht von den GW oder anderen historisch-kritischen Ausgaben. Abweichend von den GW verfährt die KGA an den Stellen, an denen sich Konjekturen nahelegen: Sie werden nur im Apparat mitgeteilt, gegebenenfalls „unter Nennung des jeweiligen Urhebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift". Der textkritische Apparat wird — wie in den GW — durch den Zeilenzähler auf den Text bezogen. Auch der Gebrauch der editorischen Zeichen (Kastenklammer, Winkelklammer, doppelte Winkelklammer usf.) entspricht den GW, abweichend von der heute insbesondere in neugermanistischen Editionen überwiegenden Verwendungsweise. Zusätzlich gebraucht die KGA durchgängig halbe Kastenklammern für die Bezeichnung unsicherer Lesarten — sehr naheliegend in Anbetracht der großen Entzifferungsprobleme bei SCHLEIERMACHERS sehr gedrungener, flüchtiger Schrift. Geringfügige Unterschiede weist die Notierung im textkritischen Apparat auf. Die KGA notiert z. B. „als] folgt " statt wie die GW „als] folgt gestr: die"; Winkelklammern verwenden die GW nur innerhalb längerer Zusammenhänge. Autorenkorrekturen notiert die KGA z. B. „Lust] korr. aus Unlust" gegenüber der knapperen Form in den GW; „Lust aus Unlust", wie überhaupt die KGA das Lemmazeichen öfters auch dort setzt, wo es in den GW entfällt — z. B. „gern] über der Zeile mit Einfügungszeichen". Abkürzungen werden in der KGA — wie in den GW — im Text aufgelöst und im Apparat nachgewiesen, sofern die betreffenden Wörter nicht im Abkürzungsverzeichnis erfaßt sind. Abweichend von der ersten Abteilung werden die ergänzten Buchstaben im Briefband kursiv gesetzt. Eigens hervorzuheben ist eine Rarität in der Textdarbietung, die dadurch ermöglicht und erfordert ist, daß die Editoren der KGA über SCHLEIERMACHERS Handexemplar zur ersten Auflage der Glaubenslehre verfügen. Die hochwichtigen Marginalien dieses Exemplars werden auf gut zweihundert Seiten im Teilband 3 zur Glaubenslehre dargeboten. Sie enthalten nicht allein Konkretionen und kleine Kommentare; mit ihrer Hilfe kann man auch einige Schritte auf dem Weg von der ersten zur zweiten Auflage der Glaubenslehre verfolgen. Während somit die Textbehandlung und die Gestaltung des textkritischen Apparats in der KGA und in den GW eng verwandt sind, weicht die KGA mit ihrer Konzeption eines Sachapparats — und gegebenenfalls eines Anhangs mit Texten zum Sachapparat — gänzlich von den GW ab. Die Anordnung des Sachapparats am Fuß der Seiten, unter dem textkritischen Apparat, begünstigt nicht ein ausführliches Zitieren der von Schleiermacher herangezogenen Quellen, sondern lediglich kurze Hinweise. Nach Auskundt der Editorischen Grundsätze werden gegenwärtig schwer zugängliche Texte „auszugsweise in einem Anhang zitiert". Dies ist bisher allerdings nur in der Edition der Glaubenslehre eingelöst worden, hier allerdings sehr umfangreich auf den Seiten 211—654 von Band 713. Leider Reinholds und Schleiermachers. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Tübingen. 2 (1988).

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muß man bestätigen, daß die hier abgedruckten Quellen fast ausnahmslos gegenwärtig schwer zugänglich (und auch weitgehend unbekannt) seien. Oft wirft dies kein günstiges Licht auf den gegenwärtigen Stand der theologiegeschichtlichen Forschung. Allerdings gUt das Kriterium der erschwerten Zugänglichkeit auch für eine Reihe von Quellen, die in den Bänden 1 und 2 der ersten Abteilung nachgewiesen sind. Hierzu scheint hingegen kein derartiger „Anhang" geplant zu sein. Der Herausgeber hat statt dessen die Zitate im Sachapparat gegenüber der Glaubenslehre erheblich ausgeweitet. So ist der von den Editorischen Grundsätzen vorgesehene und beschriebene „Anhang" zumindest bisher eine Spezialität der Edition der Glaubenslehre geblieben. Eigene Wege geht die KGA auch mit der „Historischen Einführung" zu den einzelnen Bänden, während die GW generell auf derartige Einführungen verzichten und sich — im Rahmen des Editorischen Berichts — auf die Darstellung der Textüberlieferung und der Entstehungsgeschichte eines Werks oder Manuskripts beschränken. Zwar geht bei den kleineren Texten in den beiden ersten Bänden der KGA die Historische Einführung nicht wesentlich über die Beschreibung der Entstehungsgeschichte hinaus; mit der Schilderung der Aufnahme der Glaubenslehre durch die Zeitgenossen nähert die KGA sich jedoch der Johann Gottlieb FichteGesamtausgabe an, die den thematischen Rahmen ebenfalls sehr viel weiter zieht als die GW. In beiden Fällen dürfte der Leser im allgemeinen für die gebotenen Hinweise dankbar sein — insbesondere im ersten Briefband für die Kurzbiographien der Briefpartner SCHLEIERMACHERS. Weniger restriktiv als die GW verfährt die KGA schließlich bei den Registern. Hilfreich sind die Literaturverzeichnisse zu den einzelnen Bänden, die im gegebenen Fall auch notieren, welche der genannten Werke im Versteigerungskatalog der Bibliothek SCHLEIERMACHERS aufgeführt sind. Als weniger glücklich mag man ansehen, daß hier nicht — wie etwa in den Bänden 4b oder 9 der Reihe Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschrißen und Manuskripte — die von den Herausgebern herangezogene neuere Literatur im Druckbild von denjenigen Werken abgesetzt ist, auf die sich der Autor selbst nachweislich oder wahrscheinlich gestützt hat. Ausführlicher als in den GW ist auch das Verzeichnis der Namen, da schon in den Bänden der ersten Abteilung der KGA die in der Historischen Einführung oder im Apparat Genannten mit aufgeführt, jedoch durch kursiv gesetzte Seitenzahlen von den im Text Genannten unterschieden werden. Die Abteilung „Briefwechsel und Dokumente" geht noch weit darüber hinaus; sie versteht unter „Namen" nicht nur Personen-, sondern auch Ortsnamen und konzipiert ein „Register der Namen und Werke", das zugleich Erläuterungen sowohl zu den Personen- als auch zu den Ortsnamen enthält. Ferner differenziert sie im erforderlichen Fall bei Ortsnamen — etwa Berlin — nochmals nach unterschiedlichen Stichworten (z. B. Charite, Dreifaltigkeitskirche) bzw. bei den Personennamen nach einzelnen Werken. So lassen sich etwa unter dem Stichwort „KANT" die Bezüge auf die verschiedenen im Briefwechsel erwähnten Werke sehr leicht auffinden.

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Großzügiger als die GW verfährt die KGA schließlich in der Beigabe von Illustrationen. Eindrucksvoll ist etwa das Facsimüe der Marginalien zur Glaubenslehre in Band 7/3; erhellend sind aber auch die Reproduktionen von Titelkupfern im ersten Band des Briefwechsels, die Anspielungen im Text veranschaulichen. Alle Abbildungen bleiben jedoch streng auf den edierten Text bezogen; sie stehen nicht in einer nur lockeren Beziehung zum Text, wie gelegentlich die Illustrationen in der Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe oder in der Jacobi-Briefausgabe. Während in allen diesen Punkten die KGA mehr bietet, verfährt sie in zweierlei Hinsicht restriktiver als die GW. Zum einen differenziert sie nicht zwischen Frakturschrift und Antiqua (bzw. deutscher und lateinischer Handschrift) des Orginals — eine Differenzierung, die zwar oft belanglos sein mag (und in den GW insofern nicht konsequent durchgehalten ist, als etwa die im Original in Antiqua gesetzte Phänomenologie des Geistes keineswegs in dem für die Wiedergabe von Antiqua vorgesehenen Schrifttyp gesetzt ist), gelegentlich aber auch aussagekräftig sein kann — sofern man aus ihr ersehen kann, welche Wörter der Autor als fremdsprachig empfunden und in lateinischer Schrift geschrieben hat usf. Insgesamt wird man der Einebnung dieser Differenz weniger negative als positive Aspekte (Vereinheitlichung eines sonst gelegentlich unruhigen DruckbUds) abgewinnen. Zum anderen kennt die KGA nicht, wie die GW, die Rubrik „Nachrichten über Verschollenes". Freilich verzichtet auch die KGA keineswegs darauf, solche Nachrichten mitzuteilen. Die beiden ersten Bände führen sogar eine Viezahl von Texten an, die als verloren gelten müssen — jedoch im Rahmen der Historischen Einführung. Doch wenn auch die erhaltenen und verschollenen Texte dort schließlich in einer „Tabellarischen Übersicht" zusammengestellt sind (Bd. 1. LXXXIII; Bd 2. LXXXVII), dürfte die Art der Informahon durch die GW vorzuziehen sein — aber dieses Votum mag lediglich durch Gewohnheit veranlaßt sein. Eigentlich überflüssig, aber im Interesse der Vollständigkeit ist schließlich zu erwähnen, daß die KGA nicht allein durch ihre klare Konzeption und wohldurchdachten Editionsprinzipien besticht, sondern daß auch die Durchführung dieser Grundsätze nichts zu wünschen übrig läßt. Die Einheitlichkeit der Gestaltung der Reihen ist hier besonders hervorzuheben, zumal diese an verschiedenen Orten (in Kiel bzw. in Berlin) und unter Förderung durch verschiedene Institutionen erarbeitet werden — beides ist bekanntlich nicht eben eine Garantie für die Sicherung einheitlicher Konzeptionen und Standards. Auch wenn sich also die KGA — als die jüngste der in dieser Generation begonnenen großen historisch-kritischen Gesamtausgaben — zweifellos und ganz zu Recht an Vorbilder angelehnt hat, so ist sie doch in den wenigen Jahren seit ihrem Erscheinen bereits selbst zu einem Vorbild geworden, das man neu beginnenden Editionsunternehmen angelegentlich zur Orientierung empfehlen kann.

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2. Hegel und Schleiermacher Was aber leistet die KGA — neben ihrer editorischen Perfektion — für das heutige Verständnis von SCHLEIERMACHERS Werk, und welche Akzente setzen die Hegelund ScHLEiERMACHER-Ausgaben insbesondere für das Verständnis der Beziehungen beider Autoren? Hier kann nur auf diese letztere Frage eingegangen werden, und auch auf sie nur punktuell. Doch sei zur erstgenannten wenigstens pauschal hervorgehoben, daß etwa die beiden ersten Bände der ersten Abteilung für das Büd dieser Epoche von SCHLEIERMACHERS Leben neue und sehr klare Akzente setzen. Diese Bände lassen eigentlich nicht vermuten, daß es sich hier um die Werkausgabe eines Theologen, und gar des später so genannten „Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts" handelt. Während die Ungunst der Überlieferung aus der frühen Zeit des späteren Philosophen Hegel fast ausschließlich „Theologische Jugendschriften" aufbewahrt hat, könnte man mit besserem Recht im Blick auf die beiden ersten Bände der KGA eher von „Philosophischen Jugendschriften" Schleiermachers sprechen. Seine „Gedanken" wie seine ausgearbeiteten Studien zu ARISTOTELES und PLATO, aber auch zu SPINOZA, LEIBNIZ, KANT und JACOBI — großenteils zum ersten Mal veröffentlicht —, dürfen von der philosophiegeschichtlichen Forschung nicht länger übergangen werden. Sie korrigieren und vervollständigen nicht allein das Bild des jungen SCHLEIERMACHER, sonder sie komplementieren auch unser Bild der philosophisch bewegten Jahre um 1800 überhaupt: der Auseinandersetzungen zwischen der traditionellen Schulphüosophie, der Transzendentalphilosophie, dem Spinozismus und der „Nichtphilosophie" JACOBIS. Daneben lassen diese Arbeiten eine parallele Interessenrichtung SCHLEIERMACHERS und Hegels erkennen — bis hinein in die Schriften, die im Werk des einen wie des anderen als verschollen gelten müssen; SCHLEIERMACHERS „Besprechung von Kants Metaphysik der Sitten" und Hegels Commentar zu Kants Metaphysik der Sitten?

Der junge Hegel und der junge Schleiermacher Hinsichtlich der ersten gedanklichen Begegnung Hegels mit SCHLEIERMACHER ist der Ertrag der KGA gering. Sie präzisiert zwar das Erscheinungsdatum der Reden über die Religion: Michaelismesse 1799 (Abt. 1, Bd 2. LX), kann jedoch die Frage nicht beantworten, die seit DILTHEY gestellt ist und sich nun ohnehin primär an die GWbzw. an die Hegel-Forschung im allgemeinen richtet: die Frage, ob Hegel SCHLEIERMACHERS Reden bereits vor seinen Bemerkungen in der Differenz-Schritt, nämlich schon in seinen letzten Frankfurter Jahren rezipiert habe und sich in seinen Schriften aus dieser Zeit Belege für diese Rezeption fänden. Diejenigen Gedankengänge in Hegels späten Frankfurter Texten, die für seine Bekanntschaft

3 Siehe KGA Abt. 1, Bd 2. LXXXVII bzw. fC. Rosenkranz: C. W. F. Hegeis Leben. Berlin 1844. 87.

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mit den Reden sprechen, hat bereits WILHELM DILTHEY umfassend dargestellt> Sie sind in der neueren Forschung mehrfach rekapituliert und teilweise neu akzentuiert worden — zuletzt in einem Artikel von DIETZ LANGE^ —, doch hat sich bislang kein schlüssiger Beweis für oder gegen Hegels Rezeption der Reden zu diesem frühen Zeitpunkt führen lassen. Dies dürfte sich so lange nicht ändern, als nicht bisher unbekannte, aussagekräftige Zeugnisse eine eindeutige Antwort erlauben. Gleichwohl ist es der Erörterung dieser Frage kaum förderlich, wenn weiterhin von Hegels Hand geschriebene Texte miteinander verwechselt werden — wie von DIETZ LANGE (im Gefolge von GüNTER ROHRMOSER und von diesem im Gefolge von LUDWIG LANDGREBE) Hegels Systemfragment mit dem Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus. Vor allem aber dürfte es nicht hilfreich sein, wenn das bereits von DILTHEY auf gezeigte Spektrum ohne Grund halbiert wird: Zu erwägen ist ja nicht allein, ob der Religionsbegriff und die sprachlichen Wendungen des Systemfragments die Bekanntschaft mit SCHLEIERMACHER voraussetzen. Nicht minder fraglich ist, ob die Vertiefung des Positivitätsbegriffs am Ende von Hegels Frankfurter Jahren im Zusammenhang mit gleichgerichteten Tendenzen der Reden zu sehen sei — übrigens nicht nur der Reden, sondern auch der (gleichzeitig und ebenfalls anonym veröffentlichten) Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter (KGA Abt. 1, Bd 2). Wichtiger als die Entscheidung der Rezeptionsfrage ist letztlich ohnehin die Einsicht, daß die thematischen Gedankengänge SCHLEIERMACHERS wie auch Hegels nur besonders herausragende Anzeichen bilden für einen allgemeinen Wandel des Religionsverständnisses dieser Jahre: für die Absage an den aufklärerischen Gedanken einer allgemeinen Vernunftreligion (die nach Hegels späterem Sprachgebrauch ohnehin bloße Verstandesreligion ist) und nicht minder für die Absage an einen bloß moralischen Religionsbegriff, die ja — mit Ausnahme des Fragments über das Leben Jesu — sämtliche einschlägigen Texte des jungen Hegel durchzieht, ganz unabhängig von den Reden. Man wird deshalb auch weiterhin statt von einer Rezeption der Reden von einer zumindest partiellen und auch nur sehr kurzlebigen Konvergenz des Denkens beider sprechen müssen, die sich, wie auch die Historische Einführung zu KGA Abt. 1, Bd 2 belegt, bereits in Hegels Differenz-Schrilt zu lockern beginnt und in Glauben und Wissen der Polemik Platz macht. Ohnehin ließe sich erst von dieser Konvergenz her eine keineswegs unwahrscheinliche frühe, produktive Rezeption der Reden durch Hegel — im Unterschied zu anderen, die sogar zum Freudeskreis SCHLEIERMACHERS zählen — begreiflich machen.

^ W. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. In: Gesammelte Schrißen. Bd 4. 5. unveränd. Aufl. Göttingen 1959. 148—154. 5 D. Lange: Die Kontroverse Hegels und Schleiermachers um das Verständnis der Religion. In: Hegel-Studien. 18 (1983), 201—224, insbesondere 202—214.

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Hegel und Schleiermacher in Berlin

Die politischen, administrativen und persönlichen Belastungen von Hegels zweiter, nun nicht mehr bloß literarischer, sondern auch persönlicher Begegnung mit SCHLEIERMACHER an der Berliner Universität sind allgemein bekannt und hinlänglich oft wiederholt worden.^ Dennoch hat sich hierzu im Zusammenhang mit der SCHLEIERMACHER- und Hegel-Ausgabe ein neuer und wichtiger Gesichtspunkt ergeben — auch wenn er sich ebensowenig wie die Überlegungen zu Hegels Rezeption der Reden auf sHchhaltige Beweise gründen läßt. SCHLEIERMACHERS Glaubenslehre ist bisher fast ausschließlich in ihrer zweiten Fassung von 1830/31 rezipiert worden; die erste Auflage (1821/22) ist erst jetzt in KGA Abt. 1, Bd 7 erneut zugänglich gemacht worden. Mit der dadurch bedingten Orientierung an der späteren Fassung mag es Zusammenhängen, daß bislang das eigentümliche zeitliche Zusammentreffen von Hegels erster Vorlesung über Religionsphilosophie mit der ersten Auflage der Glaubenslehre (Band 1 erschien, wie die Historische Einführung zu Band 7 der KGA nachweist, in den letzten Juniund ersten Julitagen des Jahres 1821) nie kommentiert worden ist. Doch sprechen drei Gesichtspunkte für die Annahme, daß hier nicht allein der Zufall sein Spiel getrieben habe: die brieflichen Äußerungen Hegels über den Ersten Band der Glaubenslehre, die unmittelbare Rezeption dieses Bandes in den religionsphilosophischen Vorlesungen vom JuH 1821 und schließlich das Faktum dieser Vorlesung selbst. 7 Denn weniger als ein Jahr zuvor, im Mai 1820, hat Hegel die Religionsphilosophie noch nicht als einen selbständigen Lehrgegenstand, sondern nur in Verbindung mit der Ästhetik genannt® — und dies ist keineswegs absonderlich, sondern ist nur ein Ausdruck dessen, daß die Religionsphilosophie damals nicht eine der etablierten Teildisziplinen der Philosophie gewesen ist. Auch wenn man der zweifellos zutreffenden Ansicht ist, daß Hegel die Religionsphilosophie im Interesse der vollständigen Explikation seines Systems ohnehin zum eigenständigen Thema seiner akademischen Lehre gemacht hätte, muß man doch seinen überaus raschen Meinungsumschwung interpretieren, der zur Ansetzung seines ersten Religionsphilosophie-Kollegs geführt hat — und hierzu bietet sich die Hypothese ^ Am umfassendsten unterrichtet hierüber immer noch Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Zweiter Band, erste Hälfte: Ministerium Altenstein. Halle a. d. S. 1910. — Siehe auch R. Crouter: Hegel and Schleiermacher at Berlin: A Many-Sided Debate. In: Journal of the American Academy of Religion. 48, 1 (1980), 19 —43. 7 Zu dieser Hypothese siehe vom Verf.: Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers. In: Schleiermacher-Archiv. Bd 1: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Hrsg, von Kurt-Victor Selge. Berlin, New York 1985. 1157—1169. — Vgl. auch das Vorwort zu Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg, von Walter Jaeschke. Teil 1. Hamburg 1983. (Hegel: Vorlesungen. Bd 3.) X—XII. 8 Hegel: Nürnberger Schriften. Texte, Reden, Berichte und Gutachten zum Nürnberger Gymnasialunterricht 1808—1816. Hrsg, von Johannes Hoffmeister. Leipzig 1938. XXXIII f, Fußnote 1.

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an, daß es sich bei dieser Terminierung um ein „gewissermaßen pränatales Datum der Wirkungsgeschichte der Glaubenslehre“ handle. Hegels unmittelbare Aufnahme wenigstens der Eingangsparagraphen der Glaubenslehre ist erst jetzt, durch die Neuausgabe seiner religionsphilosophischen Vorlesungen, deutlich erkennbar. Zuvor hat man einzelne Bezugnahmen zwar feststellen, aber nicht exakt datieren können.^ Die Anspielungen in Hegels Manuskript zu diesen Vorlesungen lassen erkennen, wie wenig spontan sein bekannter Angriff in der Vorrede zur Religionsphilosophie seines Schülers HINRICHS war, daß in der Perspekhve des ScHLEiERMACHERschen Religionsbegriffs der Hund — wegen seiner intensiven Abhängigkeits- und Erlösungsgefühle — der beste Christ sei.i® Und sie lassen auch noch ein Zweites erkennen; Nicht allein die Rede vom „Gefühl", die Begründung der Religion auf ein „Gefühl" (wenn auch in Wahrheit auf etwas, das mit „Gefühl" im üblichen Sinne wenig gemein hat) hat Hegel zu seiner Polemik gereizt, sondern nicht minder SCHLEIERMACHERS Rede von „Abhängigkeit". Denn Abhängigkeit kann für Hegel nur dort stattfinden, wo der Mensch an seiner Endlichkeit festhält — und dies ist nach ihm der Fall in Stufen der Religion Israels und insbesondere in der Religion Roms. Das Gefühl der Abhängigkeit sieht Hegel hier die Verehrung wenig göttlich erscheinender Mächte hervortreiben — des Kaisers, aber auch des Brandes in Korn. Seinen logischen Kulminationspunkt hat dieses Gefühl für Hegel — wie die „Blätter zur Religionsphilosophie" ausweisen — in der Anbetung des Teufels: „hierin das Abhängigkeitsgefühl am stärksten". Das Christentum jedoch habe ein Gottesverhältnis heraufgeführt, das nicht durch die Vokabel „Abhängigkeit", sondern durch ihr Gegenteil charakterisiert sei: Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. All diesen Äußerungen Hegels kann man entnehmen, daß es ihm keineswegs um eine billige Verunglimpfung eines mißliebigen Kollegen zu tun ist, sondern um eine prinzipielle Kontroverse um den Gottes- und Religionsbegriff. Diese Kontroverse hält sich aber nicht bloß im akademischen Rahmen. Sie sucht auch in die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der damaligen Jahre, in den Streit um die Evangelische Kirche der Preußischen Union und deren theologische Ausrichtung einzugreifen. Hegel erwartet ja von seinem Heidelberger Kollegen CARL DAUB nicht eine akademische Schützenhilfe, sondern „eine offene Erklärung, ob denn das die Dogmatik der unierten evangelischen Kirche sei, was man uns, — freilich in einem erst ersten Teile ... — als solche zu bieten die Unverschämtheit und Plattheit gehabt hat."'^ Auch Hegels Forderung, man müsse „nach und nach lauter werden", seine Erwähnung von Plänen des Ministers VON ALTENSTEIN, DAUB „und Schwarz hieher einzuladen, um über Theologie und Kir^ Zu dieser unmittelbaren Rezeption Hegels siehe jetzt — neben dem in Anm. 7 genannten Vortrag — den Editorischen Bericht zu Hegel: Gesammelte Werke. Bd 17. 353—355, 364. ’O Siehe Hegel: Berliner Schriften. Hrsg, von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1956. 74. " Siehe Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2. Hamburg 1985. (Hegel: Vorlesungen. Bd 4a.). 648. '2 Brief an H. W. F. Hinrichs vom 4. April 1822. ln: Briefe von und an Hegel. Hrsg, von Johannes Hoffmeister. Bd 2. 3. Aufl. Hamburg 1969. 303 f.

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che zu konferieren''^^ und schließlich seine unmittelbare Kontrastierung der Artikel der Badischen Unionskirche mit SCHLEIERMACHERS „Dogmatik der evangelischen Kirche" belegen unwidersprechlich, daß Hegels Kritik an SCHLEIERMACHER zumindest in ihrer Schärfe auch aus diesen kirchenpolitischen Streitigkeiten heraus verstanden werden muß. Dann aber legt es sich nahe, auch Hegels religionsphilosophische Vorlesungen „neben ihrer wissenschaftsimmanenten Bestimmung zugleich als Instrument einer religionspoUtischen Auseinandersetzung um die theologischen Fundamente der Evangelischen Kirche der Preußischen Union" zu leseni'* — ganz unabhängig von etwaigen weiteren Berührungspunkten Hegels mit SCHLEIERMACHER, deren Aufdeckung im Zuge des Fortschreitens beider Ausgaben zu erwarten steht. Hegels und Schleiermachers Wirkungsgeschichte Eine dieser weiteren Berührungen, ja Überschneidungen der Ansätze Hegels und SCHLEIERMACHERS — und vielleicht die wichtigste und folgenreichste — fällt jedoch nicht in die Zeit ihrer gemeinsamen Berliner Wirksamkeit, sondern an den Beginn der frühen, an Knofenpunkten reichen Wirkungsgeschichte beider: in die wenigen Jahre zwischen dem Tod Hegels und dem Tod SCHLEIERMACHERS (1831—1834). In diesen Jahren konzipiert und formuliert DAVID FRIEDRICH STRAUSS seine Kritik der neutestamentlichen Berichte über das Leben Jesu und ihrer theologischen Behandlung. Auch auf dieses Thema haben die editorischen Bemühungen sowohl um Hegels als auch um SCHLEIERMACHERS Werk neues Licht geworfen, genauer: die Edition von D. F. STRAUSS' Auszügen aus Hegels Vorlesungen über Religionsphilosophie sowie seine erst punktuell publizierten Nachschriften von SCHLEIERMACHERS Vorlesungen über das Leben Jesu. Die Textbasis für die neue Erörterung dieser Fragen bilden — vorerst — jedoch nicht die KGA und die GW, sondern die ergänzenden Reihen Hegel: Vorlesungen bzw. Schleiermacher-Archiv, in denen (beim Schleiermacher-Archiv: neben anderen Aufgaben) die Edition wichtiger Vorlesungstexte der späten Jahre vorgezogen und erprobt wird, bevor diese Texte einst zum Gegenstand der jeweiligen historisch-kritischen Ausgabe werden. Von D. F. STRAUSS haben sich mehrere Nachschriften bzw. Auszüge zu Vorlesungen SCHLEIERMACHERS und Hegels erhalten. Nach der Publikation des Komprimats des letzten Hegelschen Religionsphilosophie-Kollegs (1831) im Rahmen der Neuausgabe von Hegels religionsphilosophischen Vorlesungen hat nun WALTER SACHS eine Nachschrift zu SCHLEIERMACHERS Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie (1831/32) veröffentlicht. Doch obgleich dieses Kolleg zu den zentralen theologischen Vorlesungen und das ihr zu Grunde liegende Kompendium^® zu Siehe Siehe '5 Kurze von Dr. F.

ebd. 305. Paralipomena Hegeliana (s. Anm. 7), 1161. Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Entworfen Schleiermacher. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Berlin 1930.

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den wirkungsgeschichtlich wichtigsten Schriften SCHLEIERMACHERS zählt, erörtert die „Einleitung des Herausgebers" nicht so sehr den Inhalt dieser Vorlesungen als ein anderes, theologiegeschichtlich noch brisanteres und auch im Zusammenhang dieser Besprechung vordringliches Thema: eben das Verhältnis STRAUSS' und seines Leben Jesu zu Hegel und SCHLEIERMACHER. Deshalb sei hier nicht auf die eigentliche Edition der Theologischen Enzyklopädie eingegangen, sondern nur auf die ausführliche Einleitung, und auch hier nur auf zwei Punkte, zu denen man eine entgegengesetzte Ansicht vertreten kann: auf die historische These, STRAUSS habe seinen Plan des Leben Jesu ohne Kenntnis von SCHLEIERMACHERS Vorlesungen und im unmittelbaren zeitlichen Anschluß an die Niederschrift seiner Auszüge aus Hegels letztem Kolleg gefaßt (XXI) und auf die philosophische Behauptung, STRAUSS habe sich mit diesem Plan auch inhaltlich von Hegels Philosophie gelöst (XXXI). SACHS' historische These hat zunächst sowohl STRAUSS' Zeugnis als auch die Chronologie für sich. In seinen Streitschriften betont STRAUSS, sein Plan des Leben Jesu habe inhaltlich bereits festgestanden, als er die Nachschriften von SCHLEIERMACHERS Leben Jesu-Vorlesung erhalten habe.i^ Das erste Zeugnis für diesen Plan bildet sein ausführlicher Brief an CHRISTIAN MäRKLIN vom 6. Februar 1832 — und da STRAUSS am Vortag seine Auszüge aus einer Nachschrift des letzten Hegelschen Kollegs über Religionsphilosophie abgeschlossen hat'^, legt sich allerdings der Eindruck nahe, es sei die Kentnnis des Hegelschen ReUgionsphilosophieund nicht des SCHLEIERMACHERSCHEN Leben Jesu-Kollegs gewesen, die seinen Plan gestaltet habe. Dann käme allerdings der Religionsphilosophie Hegels eine Initiativfunktion für STRAUSS' Leben Jesu zu. Zwei Gesichtspunkte allerdings lassen diese Selbstdarstellung bezweifeln. Zum einen schließt STRAUSS ja nur wenige Wochen nach dem genannten Brief vom 6. Februar 1832 seine — sehr umfangreichen — Auszüge aus zwei Nachschriften von SCHLEIERMACHERS Leben Jesu-Vorlesungen ab, am 10. März 1832 — und dies, obgleich das Wintersemester bis zum 31. März 1832 gedauert und STRAUSS daneben noch andere Vorhaben durchgeführt hat, u. a. die Nachschrift der Vorlesung über Theologische Enzyklopädie. Auch wenn STRAUSS mit der Komprimierung seiner Vorlagen und der Niederschrift erst nach dem Abschluß seiner Auszüge aus Hegels Religionsphilosophie und damit nach der Niederschrift seines ersten Leben /esu-Plans begonnen hat, bleibt es doch sehr wahrscheinlich, daß er sich schon zuvor mit den ScHLEiERMACHER-Nachschriften inhaltlich vertraut gemacht habe. Wann und von wem er zwischen Anfang November 1831, dem Beginn seines Aufenthalts in Berlin, und Februar 1832 seine Vorlage erhalten hat, ist jedoch nicht bekannt. Es gibt deshalb keine Begründung für SACHS' Aussage, STRAUSS

D. F. Strauß: Streitschriften zur Vertheidigung meiner Schrifl über das Leben Jesu und zur Charakteristik der gegenwärtigen Theologie. Heft 3. Tübingen 1837. 60. Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3. (Hegel: Vorlesungen.

Bd5.). 289.

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habe „SCHLEIERMACHERS einschlägige Vorlesung . .. erst spät zu Gesicht" bekommen (XXIX). Zu diesen chronologischen Erwägungen tritt ein inhaltliches Moment bestärkend hinzu: Von Hegels Vorlesungen bzw. von STRAUSS' Auszügen aus diesen Vorlesungen her läßt sich kein detaillierter Plan eines Leben Jesu entwickeln. Zweifellos kann man an dem Bild Kritik üben, das Hegel von Jesus entwirft, wie man auch Hegels Methode der Erörterung der christlichen Religion überhaupt verwerfen kann. Doch liegt ein Entwurf eines Leben Jesu nicht in der Kontinuität der Rezeption dieser Vorlesungen — sei sie primär affirmativ, sei sie kritisch. Hingegen läßt STRAUSS' ursprünglicher Leben /es«-Plan — wie vor einiger Zeit festgestellt worden ist — „an mehreren Stellen die Kenntnis der Vorlesungen SCHLEIERMACHERS durchblicken — z. B. in der grundlegenden Kritik der Annahme von Augenzeugen oder in der Alternative , nicht gestorben oder nicht leiblich auferstanden'"'*. Beides sind Probleme, die sich für Hegels Religionsphilosophie in dieser Weise gar nicht stellen, die aber einen hohen Stellenwert in SCHLEIERMACHERS - und in STRAUSS' — Ausführungen haben. Diese beiden Gesichtspunkte berechtigen zu der Annahme, daß STRAUSS den Anstoß zu seinem Leben Jesu doch nicht von Hegels, sondern von SCHLEIERMACHERS Vorlesungen erhalten habe. Darauf deuten schließlich auch noch andere Äußerungen, in denen STRAUSS selbst einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der „mächtigen Anregung" durch SCHLEIERMACHER und seinem Leben JesuPlan herstellt. Tatsächlich folgt die Verwirklichung seines Plans den Leben JesuVorlesungen SCHLEIERMACHERS vielfach bis ins Detail, wenn auch in kontroverser Absicht. So bleibt noch die inhaltliche Frage zu diskuHeren, wie die Einsichten, die STRAUSS' Leben Jesu auszeichnen, wie die Weichenstellungen, die er in diesem Werk vomimmt und die auch heute noch unvermindert gelten, in das Spektrum der Ansätze SCHLEIERMACHERS und Hegels einzuordnen seien. Wenn man, wie der Herausgeber, in den Schriften des späten Hegel primär einen „restaurativen Hegel", ein „Ineinandermengen von philosophischer Interpretation und evangelischen Erzählungen" bis hin zu einer „frömmelnden Überhöhung der Terminologie" findet (XXVIII), so wird die Antwort notwendig die kritische Distanz von STRAUSS' historisch-kritischer Auflösung der biblischen Berichte zu einem so gesehenen Hegel hervorheben. Wenn man hingegen sieht, daß Hegel zwar die „Übereinstimmung seiner Philosophie mit den Evangelien und der kirchlichen Lehre" betont, daß der Maßstab für die Wahrheit dieses übereinstimmenden Inhalts jedoch die Produzierbarkeit eben dieses Inhalts aus dem begreifenden Denken ist, wird man von einer Konvergenz seiner Religionsphilosophie zumindest mit dem Zielpunkt des STRAUSSschen Unternehmens sprechen. Dessen historischkritische Methode zielt ja weder auf eine bloße Destruktion des religiösen Inhalts 18 Siehe Paralipomena Hegeliana (s. Anm. 7), 1163. 1* Siehe das Zitat aus H. Beneckes Vatke-Biographie, das Walter Sachs in seiner Einleitung selbst mitteilt (XXXVI).

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noch auf eine historisch-kritische Fundierung des Dogmas. STRAUSS bedient sich einer komplexen Argumentationsstrategie, die offensichtlich auch heute noch nicht leicht durchschaubar ist.20 Für STRAUSS dient der minutiöse Nachweis des illusionären Charakters der vermeintlichen Harmonie von Historie und Dogma, in deren Annahme auch SCHLEIERMACHER noch befangen bUeb, lediglich dazu, die Notwendigkeit einer ausschließlich spekulativen Fundierung des Inhalts zu demonstrieren oder, mit anderen Worten; die Unausweichlichkeit der von Hegel proklamierten „Flucht in den Begriff" aufzuzeigen. Der Anschein einer Differenz entsteht lediglich durch Hegels wohlüberlegten Verzicht auf die historisch-kritische Methode, die STRAUSS mit so großer Meisterschaft herausbildet. Doch Hegels Verzicht erwächst aus seiner Überzeugung, daß die historische Behandlung die Wahrheit des Inhalts nicht einmal erreichen, geschweige denn verbürgen, aber eben auch nicht destruieren könne. Die daraus entspringende Gleichgültigkeit gegen die historische Behandlung („Macht exegetisch, kritisch, historisch aus Christus, was ihr wollt . . ."^i) griff jedoch in der damaligen Situation in einer wesentlichen Hinsicht zu kurz: Sie war nicht geeignet, diejenigen, die noch in der Illusion einer Harmonie von Dogma und Historie befangen waren, von ihrem Irrtum zu überzeugen und zur Flucht in den Begriff zu veranlassen. Genau diesem Ziel dient aber STRAUSS' Vorgehen. Es ist somit — trotz aller einzelnen Irritationen über Formulierungen der religionsphilosophischen Vorlesungen oder der Phänomenologie des Geistes, die STRAUSS in seinen Streitschrißen offenlegt — nicht gegen Hegels Religionsphilosophie gerichtet, sondern gleichsam ein methodisch eigenständiges Komplement zu ihr: Es ist getragen von der Absicht, im Interesse einer spekulativen Begründung und Formulierung des religiösen Inhalts diejenige Amputation zu vollziehen, die Hegel zwar impUzit, jedoch nicht mit der wissenschaftsgeschichtlich gebotenen Ausführlichkeit vorgenommen hatte. Und bei diesem Schritt konnte STRAUSS sich durchaus an der Seite Hegels wissen, nicht jedoch an der Seite SCHLEIERMACHERS, der seine in den Leben Jesu-Vorlesungen mehrfach aufblitzende Einsicht in den wahren Sachverhalt durch inkonsequentes Festhalten an Schwundstufen einer historischen Absicherung selber verstellt hatte. X-

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Dieser Blick auf drei Themenbereiche sollte, gleichsam in Gestalt einer Stichprobe, veranschaulichen, in welcher Weise die neuen Ausgaben dazu beitragen, unsere Kenntnis von der Stellung Hegels zu SCHLEIERMACHER ZU vertiefen — obschon die editorische Erschließung des- Hegelschen Werks noch längst nicht beendet und die des ScHLEiERMACHERschen Werks gerade erst begonnen worden ist. Deshalb darf man auch erwarten, daß von den kommenden Bänden erneut Licht auf die hier angeschnittenen oder weitere Aspekte des Themas fallen wird — das Siehe hierzu vom Verf.: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart 1986. 386—392, 328—348. 21 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg, von Georg Lasson. 2. Aufl. Hamburg 1923. 737.

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jedoch ohnehin nur ein Spezialthema ist und die von der KGA bewirkte Erweiterung unseres Wissens keineswegs ausschöpfen kann. Aber auch dort, wo nicht nach dem Verhältnis SCHLEIERMACHERS und Hegels im engeren Sinn gefragt werden kann — und insbesondere auf dem bisher erst partiell erschlossenen Feld der jahrzehntelangen Vorlesungstätigkeit SCHLEIERMACHERS —, ist von der KGA ein umfassender sowohl philosophischer als auch theologischer als auch allgemein vwssenschaftsgeschichtlicher Beitrag zur Erschließung derjenigen Epoche der Geistesgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts zu erwarten, die nicht zu Unrecht immer wieder nach dem einen oder dem anderen — nach Hegel oder nach SCHLEIERMACHER — benannt wird. Walter Jaeschke (Bochum)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 17: Vorlesungsmanuskripte I (1816—1831). Hrsg, von Walter Jaeschke. Hamburg; Meiner 1987. VII, 427 S. Wie bekannt hat Hegel, der verhältnismäßig früh und auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft gestorben ist, einigen wichtigen Teilen seiner Philosophie, wie z. B. der Philosophie der Weltgeschichte, der Kunst, der Religion, der Geschichte der Philosophie u. a., die gewünschte Buchform nicht zu geben vermocht; sie sind nur als Vorlesungen überliefert. Deshalb nehmen die Vorlesungen, die er in Jena (1801—1806), aber hauptsächlich in Heidelberg (1816—1818) und Berlin (1818—1831) gehalten hat, in seinem Gesamtwerk einen erstrangigen Platz ein. Die Editionsarbeit an den Vorlesungen Hegels stößt auf große Schwierigkeiten, die nur zum Teil überwunden werden können. Die Materialien, auf die diese Arbeit sich in der Vergangenheit stützen konnte und heute noch stützt, sind von zweierlei Art: eigene, mehr oder weniger ausgeführte Manuskripte Hegels und Nachschriften seiner Zuhörer. Die Hegelschen Manuskripte sind, abgesehen von ihrem Zustand, eine echte und zuverlässige Quelle, während die Nachschriften, die oft Fehler und Lücken aufweisen, nur bedingt als eine solche Quelle betrachtet werden können. Die Editionsarbeit an den Vorlesungen Hegels, die sich auf die beiden genannten Quellen stützt, hat selbst wieder verschiedene Entwicklungsperioden durchlaufen. Zunächst hatten es die Schüler und Freunde Hegels unmittelbar nach seinem Tode auf sich genommen, der Nachwelt eine Gesamtausgabe seiner Werke zu überliefern. Sie haben die Bedeutung der Vorlesungen für die Gegenwart und Zukunft richtig eingeschätzt und ihnen eine eindrucksvolle Form zu geben ver-

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sucht. Zum Teil konnten sie diese Zielsetzung auch realisieren, obwohl sie die vorhandenen Quellen nicht korrekt gewichteten, sondern alle Informationen kompilierten. So werden Stellen aus Hegels eigenen Handschriften und aus den Zuhörernachschriften miteinander verbunden, „ineinandergearbeitet", bzw. auch weiter entwickelt, vervollständigt, korrigiert, usw. Schließlich geht ununterscheidbar alles dies ineinander über, so daß man nicht bestimmt sagen kann, was aus den Handschriften und was aus den Nachschriften stammt, was auf Hegel und was auf seine Herausgeber zurückgeht, was echt und was unecht ist. Der lebendige Charakter der Hegelschen Philosophie geht auf diese Weise verloren, und es entsteht der Anschein, als habe das System seines Denkens in seinen späteren Jahren keine große Veränderung erfahren. Das ist jedoch nicht der Fall. Hegels Denken ist ein lebendiger Organismus, in steter Entwicklung begriffen. Bei einem Editionsverfahren aber, das mit den verschiedenen Jahrgängen der Vorlesungen auch die Änderungen und Fortschritte unterschiedslos miteinander verschmilzt, wird es unmöglich, die Entwicklung des Denkers in der entsprechenden Periode zu verfolgen. Nach dem allgemeinen Plan der Gesammelten Werke Hegels sollen die Bände 17 und 18 die eigenen Vorlesungsmanuskripte Hegels aus seiner Heidelberger und Berliner Zeit (1816—1831) enthalten. Schon diese Tatsache zeugt von einem ganz neuen Editionsverfahren, das in den neueren Ausgaben der Vorlesungen (GEORG LASSON, JOHANNES HOFFMEISTER, KARL-HEINZ ILTING, DIETER HENRICH U. a., am meisten aber in der Reihe des Felix Meiner Verlags Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte) Schritt für Schritt ausgearbeitet worden ist. Die Herausgeber der Hegel-Gesamtausgabe beabsichtigen offensichtlich, zuerst die authentischen Quellen zu Hegels Vorlesungen, über die wir heute noch verfügen, d. h. die eigenen Manuskripte, und erst dann evtl, auch die Nachschriften oder nur einige von ihnen zu edieren. Der von WALTER JAESCHKE herausgegebene Band 17 enthält das Manuskript zu Hegels Vorlesungen über die Religionsphilosophie mit Datum 30. April—25. August 1821 (d. h. Anfang und Ende des Sommersemesters 1821; Hegel hat diese Vorlesungen auch in den Sommersemestem 1824, 1827 und 1831 gehalten; aus diesem Anlaß hat er das Manuskript auch weiter vervollständigt und umgearbeitet) sowie vierzehn Fragmente, die in zeitlicher Nähe zum Hauptmanuskript entstanden sind und in dessen thematischen Zusammenhang gehören. Das vom Herausgeber angewandte Editionsverfahren kann nicht nur als Fortsetzung, sondern auch als Weiterentwicklung der Arbeitsweise in der Hegel-Gesamtausgabe gesehen werden, die in voller Übereinstimmung mit ihrer Bestimmung steht, eine zuverlässige Grundlage der heutigen und zukünftigen Hegelforschung zu geben. JAESCHKE ist ohne Zweifel ein gründlicher Kenner der Philosophie und insbesondere der Religionsphilosophie Hegels. Seine Edition des Manuskripts zur Religionsphilosophie in Band 17 der Hegel-Gesamtausgabe ist in seinem Buch Die Religionsphilosophie Hegels (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983. Erträge der Forschung. Band 21; vgl. die Rezension von V. HöSLE in: Hegel-Stu-

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dien. 21 [1986], 244—246) sowie in seiner umfangreichen Ausgabe der Philosophie der Religion in der Reihe G. W. F. Hegel: Vorlesungen (Bd 3—5. Hamburg 1983—1985; vgl. die Rezension von F. W. GRAF in: Hegel-Studien. 19 [1984], 317—326) vorbereitet. In seinem Editorischen Bericht wird wissenschaftlich fundiert die Entstehung des Manuskripts (und der Fragmente, die als Beilagen erscheinen), seine Ausarbeitung und Vervollständigung während der Berliner Zeit Hegels dargestellt. Die Anmerkungen erschließen das Verhältnis des Manuskripts zur Theologie und Philosophie der Vergangenheit und Gegenwart: zur Theologia naturalis, wie sie Hegel vor allem in der Form der LEiBNiz-WoLFFischen Schulphüosophie des 18. Jahrhunderts bekannt gewesen sein dürfte, zur Gefühlstheologie SCHLEIERMACHERS, zur Philosophie von PARMENIDES, PLATO, ABUSTOTELEs, VANESJI, GROTIUS, SPINOZA, LEIBNIZ, HOLBACH, JACOBI, KANT, FICHTE, F. SCHLEGEL. Überaus wichtig sind aber auch die Bezüge zur orientahschen, griechischen und römischen Mythologie, zur christlichen Lehre in der Bibel, bei LUTHER U. a., zur Literatur (DCHELALEDDIN RUMI, DANTE, SHAKESPEARE, LESSING, GOETHE U. a.), zur Geschichtsschreibung (THUCYDIDES, TACITUS, SUETON, MORITZ U. a.) und zur Mythenforschung (CREUZER U. a.). Das Eigentümliche dieser Anmerkungen ist es, daß sie nicht nur sehr reich, sondern auch ziemlich oft mit Auseinandersetzungen verbunden sind, die eigene Auffassungen des Autors zur Geltung bringen und einen beachtlichen Forschungswert besitzen. Die vorhergehenden Ausgaben der religionsphilosophischen Vorlesungen Hegels (PHILIPP MARHEINEKE, Berlin 1832, zweite Auflage 1840; GEORG LASSON, Leipzig 1925—1929, Nachdruck Hamburg 1974), die bislang die Grundlage der Hegelforschung in diesem Bereich der Philosophie lieferten, sind schon längst veraltet und wenig brauchbar. Heute verdienen sie Aufmerksamkeit vielleicht nur insofern, als die bisherigen Interpretationen der Religionsphilosophie Hegels, die auf ihrer Basis entstanden sind, als ein Bestandteil der Geschichte der Hegeldeutung auch weiterhin Beachtung finden sollten. Die neue, zuverlässige Grundlage, ist ohne Zweifel vor allem das von WALTER JAESCHKE edierte Manuskript selbst, das, zusammen mit den Nachschriften, die in der Reihe Hegel: Vorlesungen erschienen sind oder in der Gesamtausgabe erscheinen sollen, unvermeidlich auch wichtige Korrekturen in die Hegeldeutung und -forschung hineinbringen wird. Es bleibt zwar hier nicht der Raum, diese notwendig gewordenen Korrekturen ausführlich zu behandeln, aber dennoch sollen wenigstens einige angegeben werden. Wie auch von JAESCHKE (in anderen Veröffentlichungen) hervorgehoben wird, ist die Religionsphilosophie Hegels, und zwar hauptsächlich in seiner Berliner Zeit, als seine eigentümliche Antwort auf die Gefühlstheologie SCHLEIERMACHERS und in Auseinandersetzung mit ihr entstanden. Hegel will nicht bei der Bestimmung der Religion als unbefangener Glaube, Gefühl, Anschauung, bei dem unittelbaren Wissen und Bewußtsein stehen bleiben. Seine Religionsphilosophie hebt diese Unmittelbarkeit auf und entwickelt statt dessen eine denkende, begreifende Erkenntnis der Religion, in der der absolute substantielle Inhalt und die absolute Form identisch sind. Im Unterschied zu SCHLEIERMACHER macht Hegel nicht das Recht des Gefühls, d. h. des Unterge-

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ordneten, sondern der Vernunft, des Übergeordneten im Menschen, geltend. Nicht weniger wichHg ist aber auch die Auseinandersetzung Hegels mit der Philosophie KANTS, deren Lehre von der Unmöglichkeit, das Ding an sich und die Wahrheit zu erkennen, er als „die letzte Stufe der Erniedrigung des Menschen" (9) betrachtet. Im Unterschied zu KANT macht Hegel „den Mut des Erkennens, den Mut der Wahrheit und Freiheit" (30) geltend. Die Philosophie Hegels, auch seine Philosophie der Religion, bringt eine neue philosophische Denkweise mit sich, deshalb ist sie nur in ihrer Auseinandersetzung mit den vorhergehenden Denkweisen zu begreifen. Diese Bezüge u. a. werden eindeutig erhellbar aufgrund der neuen Textgrundlage. Der philosophisch interessierte Leser, erst recht derjenige, der die Philosophie Hegels als eine neue Epoche in der Weltgeschichte des philosophischen Denkens begreifen möchte, wird an dieser Neuerschließung der Religionsphilosophie nicht Vorbeigehen können. Gentscho Dontschev (Sofia)

Gwendoline ]arczyk, Pierre-Jean Labarriere: Hegeliana. Paris: Presses Univer-

sitaires de France 1986. 367 S. Der Band Hegeliana (dessen Cover suggeriert, daß man „Hegeliana" als AdjekHv zu einer „summa" liest) faßt eine Reihe nur zum Teil bekannter Arbeiten des französischen Forscherteams unter drei übergreifende Gesichtspunkte zusammen: „Dialectiques", „Les quatre piUers du hegeüanisme" und „La liberte". Hier präsentieren sich siebzehn zwischen 1970 und 1984 erschienene Aufsätze, fünf noch nicht veröffentlichte Vorträge und drei neue Essays, in welchen die beiden Autoren erneut ihre Hegel-Lektüre auswerten. Wegen der Fülle des vorliegenden Materials können im folgenden im wesentlichen nur die neuen Beiträge berücksichtigt werden. Die Einleitung des Bandes (5—31) besteht aus zwei Aufsätzen (P.-J. LABARRI6RE: Hegel aujourd'hui, sowie G. JARCZYK: Reflexion et alterite: peut-on depasser Hegel?) und aktualisiert das Hegelsche Denken im Kontext des zeitgenössischen französischen Differenzdenkens und der Alteiitätsbegeisterung. Obwohl LABARRI6RE gleich zu Anfang in Frage stellt, ob es noch möglich sei, Hegelianer zu sein, beinhalten für ihn Hegels Vorgehensweise und Denkart auch im zeitgenössischen Philosophenstreit ein versöhnendes Wort (vgl. 17). Die in Hegels Denken präfigurierte „,reconciliation‘ du discours et de l'alterite" (18) stellt das damalige wie heutige Dilemma dar und kann Anregung sein, über die „ideologie de la rupture"

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hinaus nicht bloß zur „alterite de difference" sondern zur „alterite de relation" zu gelangen, die den Wert der Einheit und Pluralität zu garantieren wisse (18, 19). In der gleichen Bahn, aber mit umgekehrter Akzentsetzung bewegt sich auch der einleitende Aufsatz von G. JARCZYK. Sie entwickelt als Antwort auf die Frage „peut-on depasser Hegel?" die bleibende Relevanz des Hegelschen Systems auch in seiner enzyklopädischen Gestalt, das als ständige Überwindung seiner selbst und dadurch als Lösung der eigenen wie der gegenwärtigen Probleme erscheint. Darin sind das Selbe und das Andere, die Identität und die Differenz, exemplarisch in jener „cellule rythmique fundamentale" versöhnt, die die Reflexion in ihrem Relationscharakter darstellt (vgl. 24, 25, 31). Angesichts der Aufforderung der „philosophies de la difference" (die JARCZYK unter ausdrücklichem Verweis auf DERRIDA und LfiviNAS anführt; 30) liefert das Hegelsche System mit seiner inneren Plastizität die philosophische Antwort auf Gegenwartsfragen, „puisqu'il est en lui-meme cet acte de s'autodeconstruire" (29). Der erste Teil des Bandes über „Dialectiques" (33—120) zeichnet Richtlinien und Leitfäden der schon in den einleitenden Aufsätzen antizipierten Hegel-Lektüre vor. Hauptsächlich wird die Bedeutung der Vermittlung, der Relation und der Reflexion unter Verweis auf das gegenwärtige Differenzdenken betont, wie besonders in den beiden neuen Beiträgen von G. JARCZYK: Mediation hegelienne, realite de notre culture (35—43) und La mediation reflexive (44—53). Die Auseinandersetzung mit Hegel soll sich "zugleich als Exposition gegenwärtiger Antinomien erweisen, wie etwa derjerugen zwischen Struktur und Sinn (58). Das Festhalten an einer Reflexivität „sans reste" soll ermöglichen, die Frage nach der Alterität gleichermaßen in Distanz zur „rupture alienante" und zur „reduction fusioneile" zu lösen (83, 84). Nimmt man die Alternative zwischen Totalität und Unendlichkeit auf, so erweist sich Hegels Version des PhUosophierens als „totalisation essentiellement inflnie", „totalite d'expansion“ (86), „unite plurieUe" (100). Der Plural des Sektionstitels „Dialectiques" weist auf die Garantie einer theoretischen Widerspruchsfreiheit des Systems zur Differenz (vgl. 93). Es geht um eine „mödiation logique" bzw. eine „logique de la mediation" (93), die in einem abschließenden neuen Beitrag über Sursumer/Sursomption (von beiden Autoren verfaßt; 102—120) anhand der Übersetzungsproblematik in einer Neuinterpretation des Begriffs „aufheben" verteidigt wird. Der zweite TeU, „Les quatre püiers du hegelianisme" (121—313), präsentiert Studien über die Phänomenologie, die Logik, die Philosophie des Rechts und die Enzyklopädie, in denen die beiden Autoren auf ihre schon bekannten Thesen auf der Basis neuer Textinterpretationen zurückgreifen. Die Phänomenologie wird einer internen Lektüre unterzogen (vgl. 132), die darauf zielt, die Einheit von Strukturen und Bewegung aufzuzeigen (vgl. 135). Insbesondere wird das Thema „rapports entre Dieu et l'histoire" analysiert (149 ff), so daß die Phänomenologie die gleichzeitige Historisierung Gottes und Verabsolutierung einer begriffenen Geschichte bietet, die die Verwirklichung des Geistes ist (vgl. 157). In den neuen Beiträgen von P.-J. LABARRI6RE: Systematicite de la logique hegelienne (169—178) und G. JARCZYK: La logique de Hegel, principe du Systeme (205—215) wird hauptsächlich die systema-

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tische Kohärenz und Zentralität der Wissenschaft der Logik hervorgehoben. Die Ganzheit des Systems der Totalität oder des Systems als Totalität (vgl. 206) soll in seiner Selbstvermittlung und Reflexivität doch die „presence active de l'autre dans le meme" ermöglichen (175). So erweist sich der logische Prozeß grundsätzlich als „mediation reflexive, respectant d'un meme mouvement l'identite et les differences" (212). Auch bei den Grundlinien wird vor allem die systematische Funktion und die vermittelnde Stellung im Rahmen der Philosophie des Geistes akzentuiert (so z. B. 258 f). Auch hier charakterisiert eine interne Lektüre die Textannäherung, die prinzipiell andere Quellen außer Acht läßt und z. B. konkrete Interpretationsprobleme, die aus den Vorlesungen entstehen, überspringt. Die gegenwärtige editorische Arbeit an den Nachschriften wird in zwei Anmerkungen bewußt abgetan, da diese Texte nach beiden Autoren lediglich als Texte zweiter Hand charakterisiert werden, die man nicht zu berücksichtigen hat (vgl. 219, 256). In seinem neuen Beitrag Plasticite de la the'orie politique hegelienne (274—284) präsentiert P.-J. LABARRI6RE Hegels politische Theorie als eine aktuelle Anregung möglicher gemäßigter Demokratie. Abschließend wird die Enzyklopädie unter einer „perspective de totaUsation" (294) und unter Auswahl entsprechender Themen gelesen, wie z. B. der drei Syllogismen am Ende der Enzyklopädie (285 ff), des religiösen Absoluten (295 ff) mit seiner „de-construction du Dieu . . . qui n'est pas elimination mais mise en mouvement" (300) sowie der wechselseitigen Entsprechung zwischen absolutem Wissen, absoluter Idee, absolutem Geist (303 ff). Hegels Änderungen im Laufe der drei Editionen der Enzyklopädie werden nicht in Betracht gezogen. Der dritte Teil, „La Uberte" (315—361) enthält eine Rekapitulation der Hauptlinien der Gesamtinterpretation, deren Quintessenz G. JARCZYK in ihrem neuen Beitrag: Monisme oui, monisme non (347—361) zieht. Noch einmal löst die aktuelle Frage nach dem Selben und nach dem Anderen eine Auseinandersetzung mit Hegel aus, die die systematische Einheit seines Denkens zu retten versucht, ohne dabei die Differenz zu tilgen. So wird Hegels Denken charakterisiert als „monisme articule", „dualisme relationnel", „duaUte relationnelle de l'unite" (353), „totalite reflexive", „unite duelle" (361). Das Ziel der hier vorgeschlagenen Re-Lektüre Hegels ist offensichtlich, Hegel sowohl im Sinne des zeitgenössischen französischen Philosophierens zu aktualisieren als auch im Sinne einer zeitlosen Gültigkeit des geglückten Systems zu präsentieren. Ein solcher Versuch ist jedoch ohne Restriktion nicht möglich. So fällt die interpretative Verwandtschaft mit dem Hegelschen Gedankengang auf sowie eine Beschränkung auf bestimmte Texte und Kontexte (der Jenaer Hegel wird allenfalls am Rande der Argumentation berücksichtigt). Schon die methodische Entscheidung, sich nur auf die von Hegel selbst veröffentlichten Bücher zu beschränken (les quatre pUiers) zeigt, daß in der Aktuaüsierung meistens der Hegel einer absolut kohärenten Totalität „sans reste" und einer „prima philosophia" gemeint ist. Obwohl auch vom Versagen des Hegelschen Denkens profitiert werden sollte (8) und Hegels „totalite relationnelle" sowohl als stark wie zerbrechlich, als reichhaltig wie dürftig präsentiert wurde (86), fügt die Interpreta-

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tion eine Summe, in der es hauptsächlich um Gelingen, Kraft und ,grandeur' der Hegelschen Philosophie geht. Gabriella Baptist (Roma/Bochum)

Leo Lugarini: Prospettive hegeliane [Hegelsche Perspektiven]. Roma: lanua

1986. 274 S. Wie der Titel anzeigt, entwickelt LUGARINI im Anschluß an sein Buch Hegel dal mondo storico alla ßlosoßa (Roma 1973) wesentliche Perspektiven des Hegelschen Denkens, die sich an die Überlegungen des genannten Buches anschließen. Die Abhandlungen des Buches sind z. T. umgearbeitete und weiterentwickelte Aufsätze und finden ihre Einheit in der Grundeinstellung LUGARINIS gegenüber der Philosophie Hegels. Im Anhang - der eine Gedächtnisrede wiedergibt — würdigt LUGARINI die philosophischen Verdienste ARTURO MASSOLO insbesondere bezüglich seiner längjährigen Auseinandersetzung mit Hegel. Philosophieren ist nach MASSOLO eine in der wirklich-geschichtlichen Gemeinschaft verwurzelte und auf diese wirkende Tätigkeit. Die Philosophie ist also ihrem Ursprung und ihrer Bestimmung gemäß mit den konkreten Lebensbedingungen des Menschen aufs inrugste verbunden, und die Spannung zwischen dem Leben und dem, was die Vernunft verlangt, ist die immanente Triebfeder des geschichtlichen Werdens. LUGARINI betont insbesondere diese Übereinstimmung MASSOLOS mit Hegel hinsichtlich der Rolle des Philosophierens in der geschichtlichen Welt, weil sie auch seine eigene Position charakterisiert. Deshalb nimmt LUGARINI auch Hegels Behauptung in seinem Brief an SCHELLING vom 2. November 1800 ernst, wo er seine Philosophie als von den untergeordnetesten Bedürfnissen ausgehend charakterisiert und sein Bemühen artikuliert, einen Weg zu finden, damit die Philosophie in das Leben der Menschen wieder eijigreife. Dieses Entstehen der Philosophie aus der Nicht-PhQosophie wird von Hegel in Jena thematisiert, und so stellt sich die Entzweiung als der Boden dar, woraus das Bedürfnis der Philosophie entspringt. Entzweiung benennt dabei bekanntlich nicht eine wirklichkeitsfremde Erfindung des Philosophen, sondern die Gegensätze, die die Menschen in verschiedener Weise und Stärke erfahren und die, solange sie erhalten bleiben, auch den Menschen innerlich zerrissen sein lassen. Wird der Philosophie die Aufgabe der Überwindung der Gegensätze zuerkannt, die Hegel dahingehend definiert, daß sie das Absolute für das Bewußtsein zu konstruieren hat, so erhält die Philosophie dadurch nicht einen rein theoretischen Sinn, sondern beweist ihre Tragweite für die und innerhalb der geschichtlich-sittlichen Wirklichkeit (31). Selbstverständlich kann die Philosophie dies nur ihrer eigenen Weise gemäß leisten, d. h. dadurch, daß sie die begriffliche Grund-

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läge menschlichen Zusammenlebens schafft, die Macht der Vereinigung gegen die Entzweiung setzt (33). LUGARINI versteht Hegels Bemühungen, die Reflexionsphüosophie zu überwinden und das Spekulative zu erreichen, aus dieser Perspektive und gibt damit der Grundüberzeugung erneut Ausdruck, daß selbst die realitätsfern scheinenden Ausführungen Hegels einen konkreten Gehalt haben mögen. Auf diese Weise entwirft das erste Kapitel die allgemeine Perspektive der Hegeldeutung, die im restlichen ersten Teil des Werkes durch eine Skizzierung des Weges ergänzt wird, der zur Gewinnung des Spekulativen in der Philosophie führt. Die Bestimmung des Verhältnisses von Logik und Metaphysik in der Jenaer Periode, sowie Hegels fruchtbare Auseinandersetzung mit SPINOZA und KANT rücken in den Vordergrund. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Kapitel über die Widerlegung der kritischen Philosophie (77—119), in dem dargelegt wird, wie sehr Hegels selbständige Entwicklung mit seinem KANTverständnis verflochten ist. LUGARINI geht von der Unterscheidung zwischen Geist und Buchstabe der KANTischen Philosophie aus, die Hegel — darin FICHTE und SCHELLING folgend — in den Jenaer vorphänomenologischen Schriften aufstellt. Die KANTische Philosophie bleibt zwar durch die Reflexion bestimmt und scheint deswegen nicht imstande, über diesen Standpunkt hinauszugehen, hat aber doch angedeutet, wie die vom Verstand fixierten Gegensätze auf die Einheit zurückgeführt werden können. Die transzendentale Einbildungskraft, so, wie sie im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft eingeführt wird, liefert den naheliegenden Beweis, daß KANT bereits zum Spekulativen durchgedrungen war. Daß er diesen Weg dann nicht hatte weiter gehen wollen, hängt für Hegel von einer kontingenten Entscheidung KANTS ab. Hegel schlägt demgegenüber eine alternative Wahl zugunsten der Identität des Entgegengesetzten vor, gewinnt damit aber eine Position, die der KANTischen zunächst bloß entgegengesetzt und deswegen nicht fähig ist, sie zu überwinden (93). Die ausstehende Begründung wird einige Jahre später in der Phänomenologie geliefert, wo die Aufhebung der Entgegensetzungen in die Identität als Ergebnis eines notwendigen Prozesses: der ständigen Aufhebung der jeweiligen phänomenologischen Gestalten in die nächst höhere bis hin zum absoluten Wissen erscheint. Im Werk von 1807 gilt als das vereinigende Element der Entgegengesetzten allerdings nicht mehr die KANTische transzendentale Einbildungskraft oder die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, sondern der Geist, der sich als Kategorie bereits als Subjekt und Objekt dirimiert (101). Damit hat Hegel die Grundlage für die Entfaltung der spekulativen Philosophie gewonnen, zugleich wird aber eine neue Phase in Hegels KANrdeutung eröffnet, die in der Wissenschaß der Logik endgültige Form gewinnt. Die eigentliche Widerlegung der kritischen Philosophie findet nämlich erst hier statt, weil die transzendentale Logik nicht bloß zurückgewiesen, sondern als Moment der spekulativen integriert wird. Die transzendentale Dialektik im Sinne KANTS hört dann auf, ein Hindernis für das spekulative Denken zu sein, und wird stattdessen als Weg zum spekulativen Denken begreiflich (119).

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Der zweite Teil des Buches ist der Hegelschen Psychologie (147—163), dem Verhältnis von Begriff und Geschichte in der philosophischen Betrachtung der Geschichte (213—246), sowie der Aufgabe und Verfahrensweise des „denkenden Geschichtsforschers" (247—257) gewidmet, enthält überdies ein Kapitel über die religiöse Dialektik (165—186) und im Anschluß daran eine Charakteristik der Erfahrung der schönen Seele (187—212). Die Darstellung der Hegelschen Auffassung der Dialektik der Religion erörtert die zentrale Rolle, die Hegel der Religion zuerkennt, ausgehend von den Jugendschriften zur Phänomenologie. So ist es in der Tat die Religion, die im Systemfragment das endliche Leben zum unendlichen erhöhen soll, da die Philosophie dies nach Hegels damaliger Ansicht nicht vermag. Die in dieser Lösung enthaltenen Schwierigkeiten machen sich bald geltend, und Hegel erörtert sie in den Gedanken der Phänomenologie zum unglücklichen Bewußtsein, näherhin im Nachweis der Unmöglichkeit einer Versöhnung zwischen wandelbarem und unwandelbarem Bewußtsein auf dem Boden des SelbstbewußfSeins. Die Wiederaufnahme der relilgiösen Dialektik im Religionskapitel der Phänomenologie zeigt aber die Negativität des im unglücklichen Bewußtsein enthaltenen Negativen in einer Aufhebung: der Auferstehung Gottes aus seinem Tod. Doch ist auch hier zu bemerken, daß Hegel die Religion immer in ihrem Bezug zum gemeinschaftlichen Leben der Menschen betrachtet, da er, wie LUGARINI darlegt, „das Auferstehen des absoluten Wesens im Diesseits, als Geist des Volkes, d. h. des Ganzen und unmittelbar als Geist der religiösen Gemeinschaft" bestimmt (183). ln der Charakteristik der Erfahrung der schönen Seele, wie Hegel sie in der Phänomenologie darlegf, findet sich einerseits eine Bestätigung der schon in Frankfurt und in den ersten Jenaer Jahren formulierten Ansichten Hegels über dieses Thema, andererseits — was das Neue und Wesentliche ausmacht — wird jene Erfahrung in den phänomenologischen Forfgang eingeschlossen. Dadurch negiert diese Gestalt des Bewußtseins sich als bestandlose Erscheinung selbst und bewirkt damit die Entstehung einer neuen Perspektive. Die Negativität, die das Wesen der schönen Seele konstituiert, da sie unfähig ist, sich selbst einen bestimmten Gehalt zu geben, hat nicht nur den Sinn einer verschwindenden Auflösung der schönen Seele, sondern den, eine konkrete Möglichkeit zu eröffnen, durch die Negation ihrer selbst zum eigentlich Positiven zu gelangen. In dieser Hegelschen Konzeption sieht LUGARINI nicht allein die Wirksamkeit der romantischen Auffassung der schönen Seele, sondern zugleich die des griechisch gedeuteten Zusammenfallens von kalön und agathon: die schöne Seele verweist in ihrer Aufhebung auf den platonischen Eros, den Sohn von Penia und Poros. Sie ist nicht bloße Leerheit, sondern ein Negatives, das Ursprung des Positiven ist (vgl. 208). Die Notwendigkeit der Aufhebung jener Gestalt verweist auf die Offenbarung ihrer positiven Weiterführung: der Anerkennung der verschiedenen Selbstbewußtseine. Abschließend sei auf das wichtige Kapitel über Logik und Reflexionsbewegung (121 — 144) hingewiesen, das den Gang der philosophischen Reflexion aufgrund der diesem Thema gewidmeten Teile der Enzyklopädie und der Wissenschaß der

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Logik untersucht und, wie Logik bietet.

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LUGARINI

erklärt, einen Schlüssel für die Lektüre der Giannino V. Di Tommaso (L'Aquila)

Karl Hielscher: Vernunft und transzendentale Einheit. Zur Genesis des Vernunftbegriffs beim frühen Hegel. Frankfurt, New York. Campus Verlag 1981. 135 S. (Campus Forschung. Bd 218.) Mit dem Verfall des Feudalismus entwickeln sich neue Theorien der Gesellschaft. Dabei handelt es sich um Rechtstheorien oder Theorien zur politischen Ökonomie. Diese entziehen sich einer Integration in das begriffliche Bezugssystem der Philosophie. Damit spaltet sich der ARiSTOTELische Begriff der Praxis derart auf, daß einer unter dem Gesetz der Notwendigkeit stehenden Praxis das von der Philosophie konstraierte transzendentale Prinzip der Freiheit unvermittelt entgegengesetzt ist. Hegel versucht, diesen Zwiespalt zwischen Gesellschaftstheorie und Transzendentalphilosophie zu versöhnen. Während seiner Jenaer Schaffensperiode wird dieser Versuch im System der Sittlichkeit, in dem Aufsatz: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts und in der Phänomenologie greifbar. Diese drei Schriften analysiert HIELSCHER in vorliegender Arbeit. Sein Thema ist Hegels Begriff der Vernunft. In der Vernunft bezieht sich das Individuum gleicherweise negativ auf die objektive Wirklichkeit wie auf sich selbst. Damit unterscheidet sich Vernunft von gesellschaftlicher Arbeit. Im Naturrechts-Aufsatz versucht Hegel, aus der Kritik des Empirismus, dessen Erkenntnisbegriff er der politischen Ökonomie unterstellt, und der Transzendentalphilosophie den Begriff der Einheit zu gewinnen, indem er Einheit und Vielheit als die Einheit Differenter, nämlich von Subjektivem und öbjektivem, aufzeigt. Jedoch verfällt er dem Schwanken zwischen beiden Positionen, so daß es ihm nicht gelingt, den positiven Begriff der Sittlichkeit zu gewinnen. Dagegen versucht er im System der Sittlichkeit, das Absolute aus dem Einzelnen zu entwikkeln. So bildet sich z. B. im Warentausch ein Idelles heraus: der Wert. Dieses Ideelle steht aber in einer uneinholbaren Differenz sowohl zum Individuum als auch zum Gegenstand des Tausches, so daß Sinnlichkeit aus ihm ausgeschlossen ist — eine Feststellung, die für das gesamte damalige System Hegels güt. Gleichwohl bleibt die örganisation der Gesellschaft an die Individuen gebunden, die durch Natürlichkeit bestimmt sind. Die Phänomenologie ist der umfassende Versuch Hegels, den überlieferten Chorismos zwischen Subjekt und öbjekt zu überwinden. Zur Prüfung der Frage, ob sich die Kategorie des individuellen Bewußtseins im Gang der Phänomenologie erhält, unternimmt HIELSCHER eine Analyse der Kategorie des Selbstbewußtseins und ihres Übergangs in die Vernunft im Herrschaft-Knechtschaft-Kapitel (35 ff). — In kein Hegelsches Lehrstück hat sich die

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marxistische Hegel-Interpretation so hartnäckig verbissen wie in dieses, um aufzuzeigen, daß in ihm eine materialistische Tendenz waltet. Dieses Bemühen wird durch die Tatsache ermutigt, daß sich dieses Kapitel offensichtlich nicht gänzlich in die Systematik der Phänomenologie einfügt. In einer minutiösen Textanalyse weist HIELSCHER nach, daß die von Hegel vollzogenen Übergänge unzulässig sind und der wirkliche Konstitutionsprozeß des Selbstbewußtseins nicht der Kampf auf Leben und Tod, sondern die formgebende Tätigkeit der Arbeit ist. Es erscheint ihm — m. E. zu recht — als unmöglich, zwischen dem Hegelschen und dem MARXschen Arbeitsbegriff eine Beziehung herzustellen. Grundsätzlich verneint er die Möglichkeit einer materialistischen Interpretation dieses Kapitels. — Im Folgenden (56 ff) vertieft er die Analyse der drei Texte, insbesondere, indem er sie gegeneinander abhebt. Im System der Sittlichkeit gibt Hegel der objektiven Bestimmtheit des Bewußtseins durch die Gesellschaft den Vorzug vor der Selbstsetzung von Kategorien durch dieses Bewußtsein. Damit wird der Begriff des Individuums freUich zur leeren Hülse. Dagegen will Hegel im Naturrechts-Auisatz den Rückgang zur Sittlichkeit bewußtseinsimmanent vollziehen. Der Bruch in dieser Konzeption wird nicht zuletzt in der Uneinheitlichkeit des Schlusses dieser Schrift manifest. In der Phänomenologie wiederum kommt die Vernunft den Individuen nicht mehr unmittelbar zu, sondern wird ihnen von einer allgemeinen Vernunft angetan, die ihre erste Natur, ihre Begierde, bricht. — Im zweiten Teil wendet sich HIELSCHER noch einmal der Phänomenologie zu, da die Analyse der Entwicklung des Selbstbewußtseins zur Vernunft einen Bruch in dieser Entwicklung sichtbar gemacht hatte. Es stellt sich heraus, daß die Phänomenologie insgesamt mannigfach gebrochen ist. — Es ist unübersehbar, daß die Arbeit HIELSCHERS in Fragestellung und Durchführung der Frankfurter Schule nahesteht. Mit einer solchen Kennzeichnung wäre ihm aber unrecht getan, wenn nicht zugleich darauf hingewiesen würde, daß er sich ebenso wie zu MARX auch zur kritischen Theorie durchaus kritisch verhält (vgl. 89 ff). Ebensogut könnte sein Ansatz als ein bewußtseinsanthropologischer gekennzeichnet werden. „Die Bedingungen der Einheit von Bewußtsein, einem Bewußtsein, das es uns ermöglicht, von seiner Identität über die Jahrtausende hinweg zu sprechen, sind so allgemein, daß sie sich über den Wechsel der Gesellschaftsformationen hinweg erhalten haben" (107). In philosophischen Kategorien sei „eine Synthesis von denkendem Individuum und Gesellschaft vollzogen. . ., die . . . ihren Ausgang und ihr Resultat im individuellen Bewußtsein" habe (14). Behindert nicht ein solcher Ansatz den Zugang zur Hegelschen Philosophie eher, als daß er sie erschließt? Jedoch schmälert ein solcher Einwand nicht das Verdienst HIELSCHERS, Texte, deren hoher Schwierigkeitsgrad bekannt ist, treffend und oft minutiös analysiert zu haben, wobei er, wie das Beispiel der marxistischen Interpretation des Herrschaft-Knechtschaft-Kapitels der Phänomenologie zeigt, sich nicht scheut, Kühe zu schlachten, die manchen heilig sind. Friedrich Hogemann (Bochum)

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Bernard Bourgeois: Le Droit Naturei de Hegel (1802—1803). Commentaire. Contribution ä l'etude de la speculation hegelienne ä lena. Paris: Vrin 1986. 666 S. Hier liegt eines der wenigen Bücher vor, die GADAMERS Forderung erfüllen, man solle erst einmal Hegel buchstabieren lernen. Es handelt sich um einen 666 Seiten langen, wörtlichen Kommentar zu Hegels Naturrechts-Autsatz: nicht nur der erste Kommentar, der über diesen Aufsatz je geschrieben wurde, sondern, meiner Meinung nach, auch der ausführlichste und exakteste der vielen Kommentare, die zu Werken Hegels verfaßt wurden. BOURGEOIS folgt dem Text, den er auch vor ein paar Jahren ins Französische übersetzt hat (Paris 1972), läßt keinen Satz, keinen Ausdruck, ja fast kein Wort unerklärt und bemüht sich, indem er sich auf andere Schliffen Hegels beruft — zeitgenössische, frühere und spätere —, den Gedankengang des Autors völlig durchsichtig zu machen. Dabei wird dieselbe meisterhafte Kenntnis des Hegelschen Denkens sichtbar, die schon seine früheren Arbeifen über Hegel auszeichnete. Es ist wohlbekannt, daß BOURGEOIS' Übersetzung und kritische Edition der drei Fassungen der „Logik" der Enzyklopädie (Paris 1970) eine unumgängliche Grundlage der heutigen Hegel-Rezeption in Frankreich geworden ist. Es ist zu erwarten, daß durch diesen Kommentar auch seine Edition des Naturrechts-Aufsatzes eine ähnliche Stellung und Bedeutung erhalten wird. Hegels Grundintention in diesem Aufsatz ist es, in der damaligen Diskussion zwischen den Anhängern der verschiedenen Naturrechts-Schulen und den Verteidigern einer „positiven" Rechtswissenschaft Stellung zu nehmen, ln seiner Rekonstruktion von Hegels Argumentationsgang hebt BOURGEOIS nicht so sehr den historischen Kontext dieser Diskussion hervor, als ihre Bedeutung für die Entwicklung von Hegels eigenem „spekulativen" System. Dabei setzt er dieselbe entwicklungsgeschichtliche Methode der Interpretation fort, der er schon in seinem Hegel ä Francfort, ou Judai'sme, Christianisme, Hegelianisme (Paris 1970) gefolgt war: er zeigt, wie Hegel seine langjährige Beschäftigung mit dem Problem des Verhältnisses „Natur"-„Positivität", und damit der Bedeutung des Terminus „Positivität" selbst, jetzt mit einem Versuch verbindet, die praktische Philosophie als System zu konstituieren. Für BOURGEOIS ist der Naturrechts-Aufsatz „ein wesentlicher Kernpunkt" (un point nodal essentiel: 7) in der philosophischen Entwicklung Hegels: seiner Meinung nach enthält dieser Aufsatz die erste spekulative Verarbeitung der sittlich-politischen Reflexion, die Hegel schon in Frankfurt angestellt hatte. BOURGEOIS' folgerichtiger Kommentar zu diesem Aufsatz bleibt daher nicht bei der Rekonstruktion eines Entwicklungsstadiums der praktischen Philosophie Hegels stehen, sondern schreitet zu einer gründlichen und umfangreichen Interpretation der Bedeutung der „spekulativen" Idee weiter, die das System Hegels begründet. Freilich stellt BOURGEOIS fest, daß die Formulierung dieser Idee, die der Naturrechts-Aufsatz enthält, sich von der späteren, reiferen Formulierung der Enzyklo-

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pädie unterscheidet. So bemerkt er z. B. daß Hegel in seiner Bestrebung, „Natur" und „Positivität", Vernunft und Geschichte zu versöhnen, 1802—03 zu einer erstaunlichen Gleichsetzung von „Wirklichem" mit „Empirischem" gelangt. Später würde der Philosoph sich anders besinnen — oder, in BOURGEOIS' Worten, seinen „Optimismus" über die Macht der Vernunft, alle „Positivität" aufzulösen, mäßigen. Er würde dann erklären, es sei vernünftig, daß es Positives als solches gäbe. Trotz der unterschiedlichen Eormulierungen der spekulativen Idee betont BOURGEOIS, daß die Bestrebung, das Empirische selbst dem Spekulativen näher zu bringen, ein kontinuierliches Merkmal Hegelscher Philosophie ist: die Hegelsche Konzeption des Absoluten als „einer Identität, die nur insofern Identität ist, als sie auch Selbstdifferenzierung, Selbstnegation ist", würde auch bedeuten, „daß der bestimmte Inhalt einer Wissenschaft in sich selbst, als solcher, vollständig vernünftig ist, und daß die empirische Realität die innere Bestimmung hat, in der Spekulation vollständig wiederaufgenommen zu werden" (74). Genau hier, an diesem Punkt, würde sich die Hegelsche Spekulation schon 1802—03 von der ScHELLiNGschen Konzeption einer philosophischen „Konstruktion" unterscheiden — einer Konzeption, die eher dazu neigen würde, Empirie und Spekulation entgegenzusetzen. Wenn Hegel in der Einleitung des Naturrechts-Aufsatzes darauf besteht, daß die „Einzelheit" einer Erkenntnis sie nicht hindert, „wissenschaftlich" zu sein, so will er sich, laut BOURGEOIS, von SCHELLING distanzieren (73). Im Naturrechts-Auisatz bewertet Hegel die „alte durchaus inconsequente Empirie" höher als die formelle und die empirische Behandlungsart der modernen Naturrechtstheorien (GW 4. 428). BOURGEOIS zufolge bedeutet diese Wertung jedoch nicht, daß Hegel den Eormalismus schärfer verurteilt als den Empirismus. Sein Kommentar betont nachdrücklich, daß der „Formalismus" — in diesem Kontext, der kritische Idealismus von KANT und FICHTE — für Hegel das Prinzip aller Wissenschaftlichkeit entdeckt hat (84 f). Der Naturrechts-Aufsatz enthält bekanntlich eine der detailliertesten Auseinandersetzungen Hegels mit der praktischen Philosophie des kritischen Idealismus. Hegel behauptet, daß KANT und FICHTE in ihrer praktischen Philosophie ihren eigenen Zielen untreu wurden. BOURGEOIS' gründliche und sorgfältige Analyse der „Bedeutungsverschiebungen" {glissements de sens), die Hegel in seiner Darlegung dieser praktischen Philosophie unterlaufen, ermöglicht ihm zu zeigen, daß Hegels Behauptung verfehlt ist, da er KANT und FICHTE von seinen eigenen Begriffen und systematischen Zwecken her kritisiert. BOURGEOIS' Darstellung der Moralphilosophie KANTS mag hier als Beispiel seiner Vorgehensweise dienen. Durch eine vergleichende Analyse der Begriffe „Porm"„Materie" bei KANT und Hegel gelingt es ihm besonders deutlich darzulegen, daß Hegel das KANTische Problem des Bestimmungsgrundes des Willens als solchen, als Sollen, übersieht, bzw. es in sein eigenes Grundproblem verwandelt: das Problem der theoretischen Bestimmung des Inhalts der moralischen Pflichten (183—203). Die Darstellung der Hegelschen Kritik an FICHTES Rechtsphilosophie ist auch bemerkenswert. Da Hegel die „intellektuelle Anschauung" bei FICHTE als „reines Selbst-Bewußtsein oder Ich" bezeichnet, kann er das „reine" dem „realen"

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Bewußtsein als zwei einander völlig äußerliche Formen des Bewußtseins entgegensetzen. Für FICHTE jedoch bleiben sie zwei ideelle Momente eines einheitlichen ursprünglichen Prinzips (246). BOURGEOIS zeigt, wie diese erste Bedeutungsverschiebung sowohl Hegels grundsätzliche Kritik an FICHTES Subjektivismus als auch seine Kritik des Zwangs als FiCHTESches Rechtsprinzip erklärt. Die Einzigartigkeit des „spekulahven", d. h., „konkreten" Projekts Hegels tritt hier offen zutage. Die Originalität des hier vorliegenden Kommentars zeigt sich vor allem in der Darstellung dieses Hegelschen Projekts, worin BOURGEOIS der berühmten Hegelschen Beschreibung der „Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt" (GW 4. 458) eine Schlüsselstellung zuschreibt. Er greift hierbei die These GLöCKNERS auf, derzufolge „diese Philosophie der Tragödie . .. das Tiefste, was Hegel jemals gedacht hat" ist (Hegel. Bd 2. Stuttgart 1940. 333). Statt aber mit GLöCKNER anzuerkennen, daß es das „Schicksal" — im negativen Sinn dieses Wortes — dieser „pantragischen" Weltanschauung Hegels war, sich in einen „Panlogismus" zu verwandeln, will BOURGEOIS in der Art und Weise, in der Hegel im Naturrechts-Autsatz die Tragödie denkt, seine positive Leistung sehen; sie würde Hegels entscheidenden Schritt über SCHELLING hinaus bezeichnen (448). Das Studium der „Schritte auf dem Wege von SCHELLING ZU Hegel" (DIETER HENRICH: Andersheit und Absolutheit des Geistes. In: Selbstverhältnisse. Stuttgart. 1982), das Problem, wann und wie sich Hegel von der ScHELLiNGSchen, noch „Spinozistischen" Substanzmetaphysik distanziert (KLAUS DüSING: Idealistische Substanzmetaphysik. In; Hegel in ]ena. Bonn 1976), ist ein Hauptproblem der heutigen HegelForschung geworden. BOURGEOIS' Behandlung dieses Problems kommt als wichtiger Beitrag zu dessen Klärung große Beachtung zu. In seiner Rekonstruktion des Hegelschen Arguments greift BOURGEOIS ZU einem Vergleich mit SCHELLINGS zeitgenössischen Werken — die Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795) und die Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1802/03) — in denen dieser die griechische Tragödie als Manifestation des Absoluten in der Kunst darstellt. Dieser Vergleich führt BOURGEOIS zu dem Schluß, daß für Hegel die Tragödie nicht nur — wie für SCHELLING und für andere Zeitgenossen — „der Sinn einer höchsten menschlichen Manifestation des Absoluten" ist, sondern vor allem „der absolute Sinn des Absoluten selbst" ist, oder in anderen Worten, daß die Tragödie selbst „göttlich" ist (458). Wenn Hegel schreibt, daß in „der Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt... es sich ewig in die Objektivität gebiert, in dieser seiner Gestalt hiermit sich dem Leiden und dem Tode übergibt und sich aus seiner Asche in die Herrlichkeit erhebt" (GW4. 458 f), behauptet er nach BOURGEOIS, daß „das Negative — die Differenz, die Objektivität, die Realität — im Positiven nicht nur vorausgesetzt ist", sondern „daß das Positive selbst das Negative ist, das Identische selbst das Verschiedene, das Absolute selbst das Unendliche" ist (462): Hegel würde das Absolute nicht mehr wie SCHELLING mit Hilfe der Voraussetzung eines Negativen in ihm konstruieren. Er würde nicht mehr sagen, daß das Positive oder das Substanzielle das Negative, das Subjektive einfach in sich hat. Eher würde er das

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Positive als das Negative, oder — in anderen Worten — die Substanz selbst als Subjekt setzen. Schon hier versucht Hegel die Entwicklung des Absoluten, das sich selbst setzt, zu beschreiben — wie er es in seinen späteren systematischen Schriften leisten wird. Freilich betont BOURGEOIS, daß die Konzeption des Absoluten als Substanz, die Subjekt ist, noch „spinozistisch" geprägt ist. Erst später würde sich Hegel völlig vom „Spinozismus" SCHELLINGS befreien, und das Subjekt als Substanz setzen. BOURGEOIS ist aber der Meinung, daß der Naturrechts-Aulsatz, der die Substanz als Subjekt setzt, die eigentümliche Hegelsche Auffassung des Absoluten zum ersten Mal darstellt (vgl. auch 15 f). Schon in seinen Frankfurter Fragmenten über den Geist des Christentums und sein Schicksal hatte Hegel die „Tragödie" JESU beschrieben, dessen Schicksal es war, sich völlig aufzuopfern, ln Frankfurt hatte er aber dieses Opfer noch keineswegs mit dem „Absoluten" gleichgesetzt, sondern es dem „absoluten Leben" gegenübergestellt. Als Hegel in der Differenz-Schnh die „nothwendige Entzweyung" beschreibt, die „Ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet" (GW 4. 13) sei, verknüpft er das Absolute noch nicht mit dem Gedanken des Opfers. Selbst in den letzten Sätzen des Aufsatzes Glauben und Wissen, in denen er den Tod Gottes als Moment der höchsten Idee bezeichnet (GW 4. 414), entwickelt er noch nicht die These, die im NaturrechtsAufsatz dargeboten wird, und die BOURGEOIS als die „spekulative" These par excellence beschreibt: die These einer „Identifikation des Absoluten mit dem Opfer" (449). Diese These will BOURGEOIS im Zusammenhang einer Entwicklung Hegels von einer „antikisierenden" zu einer christlichen Philosophie interpretieren. Dabei betont er, daß Hegels Spekulation von 1802/03 zwar „schon an sich christlich ist", seine Orientierung zur griechischen Welt aber noch überwiegt (452). Sein ganzes Buch hindurch scheut BOURGEOIS keine Mühe, den grundsätzlichen Unterschied zwischen den griechischen — PLAXONischen und ARisioxELischen — Auffassungen des sittlichen Lebens und Hegels „spekulativer" Aufhebung herauszuarbeiten. Hegel strebt, das sittliche Leben zur Spekulation — aber auch die Philosophie selbst zur „Vereinigung mit der Zeit", d. h. mit dem sittlich-politischen Leben, zu erheben (z. B. 24). Hier legt BOURGEOIS großen Nachdruck darauf, daß die sittlichpolitische Aufgabe für Hegel in den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Jena sowie bereits während seiner Frankfurter Jahre als die „absolute" Aufgabe gilt. Im Einklang mit dieser These erkennt er an, daß unter den drei Bedeutungen der „Tragödie im Sittlichen" — der onto-theologischen, der sittlich-politischen und der künstlerischen — die zweite eine zentrale Vermittlerrolle spielt (459): für BOURGEOIS ist „Hegels tragische Lesart des Göttlichen wesentlich eine sittlich-politische" (470). Schon in seinem Aufsatz Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik (Philosophisches Jahrbuch. 71 [1963/64]) hatte KARL-HEINZ ILTING Hegels erstaunliche Gleichsetzung der ARisioxELischen polis mit der spiNOzistischen „Substanz" hervorgehoben, die im Naturrechts-Auisatz zu einer „Absolutisierung" des Volkes führt. BOURGEOIS' Betonung der christlichen Akzente dieser Gleichsetzung erhellt ihre Bedeutung entscheidend und geht damit weit über

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hinaus. Ob Hegels Gleichsetzung die Lösung der sittlich-politischen Aufgabe bedeutet, die er von der Philosophie fordert, bleibt eine offene Frage. Die Bedenken, die manchem Leser eingangs gegen das Projekt kommen mögen, einer frühen, „kritischen" Schrift Hegels einen eigenen, umfangreichen Kommentar zu widmen, werden durch die Verdienste dieser Arbeit schließlich ausgeräumt, ln der Gestalt eines Kommentares präsentiert BOURGEOIS nämlich einen eigenständigen Beitrag zur Entwicklungsgeschichte und zum systematischen Kern des Hegelschen Denkens. Diese hervorragende Leistung verdient es, in der Hegel-Forschung weitgehende Beachtung zu finden. Myriam Bienenstock (Jerusalem) ILTING

Ludwig Heyde: De Verwerkelijking van de Vrijheid. Een inleiding in Hegels Rechtsfilosofie [Die Verwirklichung der Freiheit. Eine Einführung in Hegels Rechtsphilosophie]. Leuven-Assen: Universitaire Pers. Maastricht: Van Gorcum 1987. 264 S. (Wijsgerige Verkenningen. 3.) L. HEYDE stellt in seinem Buch nach einer einleitenden Behandlung der Hegelschen Idee der Philosophie die gesamte Rechtsphilosophie dar. Er beginnt mit Hegels Begriff des freien Willens, der seine erste Verwirklichung im Eigentum erreicht, geht über zum Vertrag als Explikation des Eigentums, legt im Begriff des Unrechts die Implikation des Vertrags dar. Es zeigt sich, daß das gesamte abstrakte Recht in einer Aporie endet, die den Übergang zur Moralität, zur wesentlichen Bestimmung des Rechts notwendig macht. Auch in der folgenden zuverlässigen inhaltlichen Verlaufszeichnung der Rechtsphilosophie steht und fällt HEYDES Interpretation mit der Deutung der Übergänge: zum Guten als der Grundlage der Moralität, zur Sittlichkeit als dem Grund des abstrakten Rechts wie der Moralität und der lebendigen Wirklichkeit des Rechts usw. bis zur Konzeption des Staates. Dabei differenziert HEYDE bei Hegel zwischen Staat überhaupt und politischem Staat: Der Staat überhaupt ist die vernünftige Ordnung einer Gemeinschaft; der politische Staat ist das Ganze der politischen Strukturen, die aus dem Staat überhaupt folgen. Dieser politische Staat wird nach der Begriffslogik in drei Mächte differenziert; HEYDE betont jedoch, daß der Schwerpunkt des modernen Staates bei der Regierung, Administration, Interessenverbänden und bei der gesetzgebenden Gewalt hegt. Daher kann er beim monarchistischen Moment die Imphkation dieses Moments im Bhck auf die anderen, sowie die Bedeutung des Monarchen in der Souveränität nach außen außer Betracht lassen. Den Abschluß bildet der an Hegel angelehnte Hinweis auf die Faktizität der Vielheit verschiedener Staaten als Ausdruck der begrifflichen Notwendigkeit. Aus der Individualität des organischen Staates folgt die Exklusion anderer, denn

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die innere Einheit gibt es nur, wenn sie gegen andere bewährt wird. So ist die Faktizität der vielen Staaten Ausdruck der begrifflichen Notwendigkeit. Die einzig bleibende Gemeinsamkeit bleibt dann nur noch die Sitte. Über diese vielen Staaten richtet aber letzten Endes die Weltgeschichte. Gegen die wichtigsten Linien dieser Deutung, selbst gegen ihre kluge HegelFreundlichkeit, kann man wenig einwenden. Bedauernswert ist aber das Fehlen einer weiterführenden Bibliographie. Auch bleibt einiges in der Einleitung und in den nachgezeichneten Argumentationen der Rechtsphilosophie erklärungsbedürftig. Zunächst vor allem bleibt Hegels Bestimmung des organischen Charakters der Sittlichkeit und des Staates problematisch. Man könnte zwar auf historische Vorbilder verweisen, aber ein solcher Verweis ersetzt kein Argument. Auch HEYDES Lösung, „Organismus" sei metaphorisch zu nehmen, ist unzureichend, denn erstens kann man mit Metaphern keinen schlüssigen (dialektischen) Fortgang vom individuellen Staat zu einer Vielheit von Staaten begründen; und zweitens hat Hegel eine spekulative Bedeutung des Lebens ausgearbeitet, die wenigstens seiner Meinung nach nicht als metaphorisch sondern als spekulativ zu betrachten ist. Mit diesem ersten Problem sind auch schon die folgenden berührt. Denn schwer nachvollziehbar sind, auch nach HEYDES Darstellung, die Übergänge, insbesondere derjenige von der Moralität zur Sittlichkeit, insofern es hier um eine Transition von einzelnem Geist zur Gemeinschaft geht. Selbst wenn man die faktische Argumentation, Vvie HEYDE sie beim Übergang vom abstrakten Recht zur Moralität ausführt, akzeptieren könnte, ist damit noch nicht ihre Gültigkeit erwiesen. Weder eine Explikation des impliziten Denkens noch eine Ausführung der Extreme für sich gehören zum von Hegel logisch gerechtfertigten Denken. Die philosophische Gültigkeit soll aber, wenigstens nach Hegel, auf dem logischen Geist beruhen. Zusätzlich bilden Status und Stelle der Rechtsphilosophie im Ganzen des Systems ein Problem. HEYDE schwankt zwischen der Übernahme der Hegelschen Behauptung, daß der objektive Geist nicht der absolute Geist sei (255), und der ihn interessierenden Frage, ob es einen eigenständigen absoluten Geist gebe (67). Vielleicht weist die zusätzliche Schwankung zwischen den Begriffen „Geist" und „Mensch" gerade in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der Status des Geistes selbst ungeklärt bleibt. Möglicherweise führen diese Überlegungen nur auf ein einziges Problem, die Bestimmtheit und Tragfähigkeit der logischen Idee. Wenn das Logische oder die Idee nur das rein Denkbare wäre (45, 62), wie kommt dann die Bestimmung des Denkwirklichen hinzu? Oder, wie kommt die an und für sich seiende Idee zu etwas, das mehr (reicher; 64) als an und für sich ist? Lu De Vos (Löwen)

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Egon Schütz: Vernunft und Bildung. Rückfragen an G. W. F. Hegel. (Kippenheim:) Verlag Information Ambs 1981. 134 S. (Nahtstellen. 7.) Wo dieses — hier verspätet angezeigte — kleine Buch eingeordnet sein wUl, ist nicht allein den beiden im Titel verbundenen inhaltlichen Begriffen, sondern ebenso der formalen Aussage des hinzugesetzten Untertitels zu entnehmen: es sollen Anfragen an Hegels Philosophie gerichtet werden, — Anfragen „aus eigenen Betroffenheiten", wie der Verfasser an mehreren Stellen seiner Ausführungen erläutert und betont (vgl. 22; 113). Es geht somit in diesem Buch erklärtermaßen nicht um „Hegel-Philologie", nicht um eine „umfassende Hegel-Exegese"; (der völlige Verzicht auf Anmerkungen und Literaturangaben bestätigt dies indirekt). Die Publikation gibt eine Vorlesung, die 1978/79 in Freiburg gehalten wurde, unverändert wieder. Dieses Kolleg war angeregt durch das Bedürfnis, den für uns zum Problem gewordenen „Zusammenhang von wissenschaftlicher Rationalität und Bildung" zu diskutieren (vgl. Vorwort). Die einleitenden Abschnitte erörtern die vielfach zu beobachtenden Unsicherheiten und kritischen Vorbehalte gegenüber dem Gebrauch des Bildungsbegriffs als leitender pädagogischer Kategorie und setzen dabei folgende Akzente; Sucht man, da sich die „Förderung der Vernunftentfaltung" als ein gewissermaßen „überzeitliches" Ziel pädagogischen Bemühens behaupten läßt, das mit „Bildung" Gemeinte von der Vernunft her zu fundieren, so zeigt sich, daß in dem überall faßbaren Prozeß der Spezialisierung des Wissens und der Wissenschaftler die „unterstellte Einheit der Vernunft" ebenfalls problematisch geworden ist, ja geradezu in Auflösung begriffen zu sein scheint (vgl. 11). Allerdings ist die Bewertung dieses Phänomenkomplexes durchaus offen. Ungeachtet dessen, daß die Gleichung von Fachvemunft und BUdung, von Experten und Gebildeten nicht aufgeht, scheint eine positive Beurteilung des Sachverhalts dann möglich, wenn man in funktionalistischer Betrachtungsweise von den Einzelnen übergeht zum gesellschaftlichen Ganzen, dessen Leistungsfortschritt durch die moderne Arbeitsteiligkeit der Vernunft offensichtlich gesteigert wird. Indessen tritt noch ein weiterer bedrohlicher Riß ins Blickfeld; die gerade den Pädagogen (theoretisch und praktisch) herausfordernde „Trennung von wissenschaftlicher und lebensorientierender Vernunft" (20). Von hier aus stößt der Verfasser vor zu dem Versuch, Bildung in einem tieferen Sinne zu bestimmen: als Prozeß der „Selbstund Welterfahrung in der Spannung zwischen Selbstgegebenheit und Selbstfragwürdigkeit" (29). Die Anfrage an Hegel erfolgt aus dieser Spannung heraus, die sich nicht durch Einbettung in „Grundphänomene der Sozialität" lösen läßt, sondern eine Öffnung auf „die Totalität von Welt und Geschichte" hin verlangt (vgl. 15). Das Gespräch mit Hegel nochmals vorbereitend, erinnert der Autor an unsere Denkgewöhnung, die Vernunft „als anthropologische Gegebenheit" zu fassen, als ein „den Menschen auszeichnendes Vermögen" oder als ein „universelles Le-

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bensinstrument" (29). Solcher Auffassung korrespondiere eine Interpretation des menschlichen Verhältnisses zur Geschichte am Modell von Subjekt und Objekt (vgl. 32). Diese „anthropozentrische Auslegung von Vernunft und Geist, aber auch von Geschichte und Welt" (53) mache es jedoch unmöglich, dem Gang von Hegels Denken zu folgen und „das Wesen der Vernunft als Weltvernunft im Denken" zu erfahren (35). SCHüTZ vertraut sich in erster Linie der Einleitung zu Hegels Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte an. Diesem Text schrittweise folgend, erschließt er Grundbegriffe von Hegels Geschichtsphilosophie und damit seiner Geistphüosophie überhaupt: Vernunft, Geist, Freiheit, Staat, Sittlichkeit. . . Die Erörterung geschieht nicht ohne wiederholte Einschärfung der Notwendigkeit, sich auf die vom Alltagsverständnis oft radikal abweichende Bedeutung der Begriffe bei Hegel einzulassen. Im Durchsprechen der genannten Leitbegriffe konkretisiert sich dem Verfasser zugleich das (nichtsubjektivistische) Verständnis von Bildung. Insbesondere nutzt er die ausführliche Behandlung des Geistbegriffs, um die weltgeschichtliche und die in sie eingelagerte individualgeschichtliche Bewegung des Geistes als Bildungsbewegung darzustellen und die „Legitimation pädagogischausdrücklich betriebener Bildung... im Sinn philosophisch erinnerter Weltgeschichte" zu sehen (65 f): wie der Geist im Prozeß der Geschichte „aus seiner eigenen Verhüllung heraustreten, sich fremd werden, sich entzweien muß, um zu seinem Selbstbewußtsein zu gelangen, so muß die pädagogische Förderung des individuellen Bildungsprozesses darauf angelegt sein, das Sich-Fremdwerden des heranreifenden Geistes" anzubahnen und zu unterstützen, damit dieser am Anderen „die Provokation des Selbstbewußtseins zu erfahren" vermag. Wichtig ist dem Verfasser gerade an dieser Stelle die Betonung der Einsicht, daß „eine Bildungstheorie, die sich auf Hegels spekulative Weltgeistbewegung beruft, nicht personaUstisch als Persönlichkeitskultur verstanden werden darf". Besonders beanspruchen läßt sich SCHüTZ durch zwei Grundgestalten der geschichtlichen Selbstverwirklichung des Geistes: Volksgeist und Staat. Daß die historischen Entwicklungen und Erfahrungen, die uns von Hegel trennen, gerade hier den Zugang zu seinem Denken erschweren, wird dabei nicht überspielt, sondern im Gegenteil als Anstoß genommen, das von Hegel Gemeinte zu ermitteln und von ihm her das Problemfeld „Sittlichkeit — Staatlichkeit — Bildung" für uns zu vertiefen. In letzterer Absicht nimmt der Verfasser im Anschluß an den bei Hegel Vorgefundenen Rückbezug auf die „FamUiensittlichkeit" (vgl. hierzu Kapitel 9 des Buches) auch eine Erweiterung seiner Textbasis vor: er fügt dem geschichtsphilosophischen Gedankengang die Interpretation eines Abschnitts aus der Phänomenologie des Geistes ein: „Die Sittliche Handlung, das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal" (vgl. besonders 107 ff). Auch wenn man berücksichtigt, daß der Verfasser sich bewußt und mit Gründen philologischer Arbeitsweisen enthält (s. o.), wirft eine solche Einblendung gewisse Fragen auf. Zwar bemerkt SCHüTZ, daß die Entfaltung des Geistes als Bewegung der Sittlichkeit in der Phänomenologie einen anderen „Tenor" habe als in der Philosophie der Weltgeschichte; ein orientierender Hinweis auf den Kontext und auf

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die Distanz des Denkweges, der zwischen Hegels Frühwerk und seinen Berliner Vorlesungen liegt, fehlt jedoch ebenso wie ein Blick auf die inzwischen innerhalb der Philosophie des Rechts von Hegel ausgearbeitete Theorie der „Sittlichkeit", die als ihre Stufen Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat umfaßt und in den Begriff der Welfgeschichte einmündet. So ergeben sich für den nichteingeführten Leser unbemerkt Verzerrungen. Es geht SCHüTZ aber gerade um den in der Phänomenologie thematisierten tragischen Begriff der Sittlichkeit, der das Phänomen des Sittlichen aller Instrumentalisierung und subjektiven Veranstaltung, nicht minder auch aller auf bloßer sozialer Absprache beruhenden Normierung zwischenmenschlicher Verkehrsformen entzieht. Von hier aus kann der Autor, seiner eigenen inneren Gedankenbewegung folgend, den Begriff der „Mitwisserschaft" einführen und aufschließen. Dieses (aus dem Denken EUGEN FINKS herübergenommene) Leit-Worf verweist auf ein allem positiven Wissen wesenhaft verbundenes Mitwissen eines unendlichen Horizonts „von positiv Nicht-Gewußtem" (102). Die hier ins Auge gefaßte Dunkelheit und Unergründlichkeit „der Totalität von Geschichte, Dasein und Welt" errichtet auch einen Vorbehalt gegen Hegels teleologische Dialektik des weltgeschichtlichen Prozesses, in dem der am Ende seiner selbst völlig gewisse Geist dominiert. Doch werden damit die unnachgiebig verfolgten Anfragen an Hegel keineswegs im nachhinein der Vergeblichkeit überführt. Blicken wir zurück: Am Anfang des Buches wurde eine „Diffusion" von Vernunft und Bildung, ihre Auflösung „in divergierende Vernunftleistungen und Bildungsqualifikationen" aufgezeigt. Der Mitgang mit Hegels Denken hat in der Sicht des Verfassers keine positive Antwort auf diese Erscheinungen erbracht, wohl aber ein In-Frage-Stellen der ihnen korrespondierenden, strikt anthropologischen Deutung der Vernunft- und Bildungsprozesse: „Bei Hegel leuchtet der Weltcharakter der Vernunft auf und der Weltcharakter der Bildung, den wir kaum mehr bedenken." (126) Weltcharakter bedeutet hier „das Angegangensein, das Angesprochensein menschlicher Vernunft durch das Ganze der Welt" (131). Die Frage nach dem elementaren Sinn von Vernunft und Bildung ist zugleich Besinnung auf diese „Weltverflochtenheit des Menschen" (133), die jenseits von Machbarkeit und Verfügbarkeit liegt. Wissenschaftliche Bildung und wissenschaftliche Rationalität werden damit nicht außer Kurs gesetzt; aber erst dort, wo „Bildung über Qualifikation . . . und Vernunft über ihre Gegenstände und Zwekke" hinausweist, m. a. W. wo ihr Weltcharakter offenbar wird, können beide ihrem vollen Begriff entsprechen. In der Überzeugung, eine Einweisung in diese Perspektive zu finden, wurde der Dialog mit Hegel geführt. Zweierlei ist abschießend noch über dieses Lehr-Buch zu sagen: Einmal demonstriert es auf gelungene Weise an einem Beispiel die „Pädagogik der Philosophie", worunter der Verfasser (vgl. 37 ff) nicht die Applikation philosophischer Lehrmeinung auf die Pädagogik und deren Teilaufgaben versteht, sondern die Auswirkung des der Philosophie eigenen „verunsichernden Denkens" auf ein grundlegendes Bemühen pädagogischer Selbstversfändigung. Zum anderen vermag die Eindringlichkeit, mit der hier der Intention Hegelscher Zentralbegriffe

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nachgefragt wird, unabhängig von der spezifischen Thematik der Abhandlung und ungeachtet der Abstinenz von philologisch-historischer Textarbeit, in wichtigen Einzelaspekten auch einer Einführung in Hegels Philosophie zu dienen. Friedhelm Nicolin (Düsseldorf)

Karen Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit. Eine Strukturanalyse des „und". Systematische Untersuchungen zum Einheits- und Mannigfaltigkeitsbegriff bei Platon, Fichte, Hegel sowie in der Moderne. Berlin, New York 1981. X, 340 S. Vorliegende Abhandlung wird dem philosophierenden Leser schon darum willkommen sein, weil es zu diesem Thema bisher keine umfassende und gründliche Darstellung gab. Das mag in dem Umfang und der Schwierigkeit der Aufgabe begründet sein, die es dem Interpreten stellt. Hat doch die Frage des ev xal jrokXä das Denken PLATONS in Atem gehalten und sich dann in mannigfachen Verwandlungen bis Hegel durchgehalten. Und gilt nicht für das Philosophieren aller Epochen, daß es sich selbst aufgibt, wenn es sich mit der bloßen Konstatation eines Pluralismus begnügt? Bei dem Umfang der Thematik versteht es sich, daß die Verf. sich auf die Darstellung weniger exemplarischer Ausarbeitungen der Problematik von Einheit und Mannigfaltigkeit und die Erörterung der jeweils gestellten Grundfragen beschränken muß. Aber aus dieser Not kann eine Tugend werden, dann nämlich, wenn es gelingt, durch diese Beschränkung die Konturen der Problematik schärfer hervortreten zu lassen, als dies in einer mehrbändigen, alle Details berücksichtigenden Monographie der Fall sein kann. Die Untersuchung setzt ein mit einer Interpretation von PLATONS Parmenides, genauer: der ersten, zweiten, siebten und achten Posihon dieses Dialogs. Diesen Positionen weist K. Gloy eine Leitfadenfunktion für ihre Untersuchung zu. Sie vertritt die These, daß „trotz inverser Ansätze in Altertum und Neuzeit, trotz divergierender Interpretationsmittel und Terminologie Grundzüge und -Schwierigkeiten der PLATONischen Konzepte dieselben geblieben sind" (81). Am Schluß der Arbeit verweist sie wiederum auf diesen Dialog, der somit auch literarisch wie eine Klammer erscheint, die ihrer Untersuchung den Zusammenhalt gibt. Der zweite Teil der Untersuchung wendet sich im ersten Abschnitt dem Einheitsbegriff FICHTES, im zweiten demjenigen Hegels zu. Ihre Untersuchung hat zum Ergebnis, daß sowohl der das All einschließende Einheitsbegriff Hegels als auch der es ausschließende Einheitsbegriff FICHTES in unüberwindliche Aporien führen (vgl. 177). — An diesem Ort sei ein Blick auf ihre Hegel-Interpretationen geworfen. Die Überlegungen zu Hegels Einheitsbegriff nehmen ihren Ausgangspunkt von ausgewählten Texten der Wissenschaft der Logik. Wie kann es auch einen

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anderen Weg geben, wo doch Hegel selbst die Logik als die Fundamentalwissenschaft seines Systems ausgezeichnet hat! Hier einige Bemerkungen zu ihrer hier wie auch sonst sorgfältigen und sachkundigen Darstellung. — Ihre Darstellung der Wandlung der Hegelschen Systemkonzeption im Zeitraum von 1812—1831 ist insbesondere hinsichtlich der Phänomenologie des Geistes nicht ganz präzise (vgl. 130 f). Hegel selbst hat ja in einem Zusatz zur Vorrede zur ersten Ausgabe der Wissenschaft der Logik (siehe GW 21.9) die Phänomenologie aus seinem späteren System ausgeschlossen. — Ein Einwand zu ihrer Darstellung der dialektischen Methode: Trifft es wirklich zu, daß jeder Schritt innerhalb der „DreischrittFormel" „ebenso Teil wie Ganzes ist" (141)? Das hätte zur Folge, daß der Gang der Logik sich in einer Iteration ins Unendliche verliefe (vgl. auch 176). Aber ist die Synthesis innerhalb des Dreischritts nicht dasjenige, das das Vorhergehende in sich aufgehoben und eine höhere Stufe als dieses erreicht hat? Bekanntlich hat Hegel die beiden ersten Momente der Triplizität als abstrakt und unwahr, und nur ihr Resultat als wahr bezeichnet (vgl. GW 12. 248). Es fällt auf, daß GLOY diese Aussage Hegels nicht in ihre Interpretation mit einbezieht. — Nach Hegels Selbstauslegung gibt es eine „reichste Bestimmung im Sinne eines Superlativs": die absolute Idee als die Totalität. Eine „abgründige Schwierigkeit" tut sich hier auf (137); diese setzt GLOY in Beziehung zu den mengentheoretischen Paradoxien. Ich lasse es dahingestellt, ob die Bezugnahme auf diese Paradoxien den Bruch zu verdeutlichen vermag, der an dieser Stelle der Hegelschen Systemkonzeption sicher vorliegt. Zu Recht fragt sie aber (und nimmt damit eine Kritik ScHELLiNGS an Hegel auf), woher ich denn weiß, daß die Bewegung des Progresses und Regresses an einem bestimmten Punkt des Hegelschen Systems zur Ruhe kommt? Gibt sich der Gott Hegels nicht einem Prozeß hin, in den er gleichsam unrettbar verwickelt ist (vgl. SCHELLING: Ausgewählte Werke. Schriften von 1813—1830. Darmstadt 1976. 441 ff)? Sind Endlichkeit und Unendlichkeit bei FICHTE so konfrontiert, daß die Möglichkeit eines Übergangs zwischen ihnen nicht mehr abzusehen ist (130), so vermag sich die Totalität Hegels nicht ihrem Anderen zu entreißen. Mit HEIDEGGER könnte man weiterfragen, ob nicht am Grunde dieser Schwierigkeiten die Doppeldeutigkeit des traditionellen Substanzbegriffs liegt (vgl. Sein und Zeit. 94). GLOY setzt ihre Abhandlung fort mit einer Darstellung der Kontinuumsproblematik. Insbesondere sei auf ihre vorzügliche Darstellung der ZENONischen Paradoxien verwiesen. Das folgende Kapitel stellt den Gestaltbegriff der modernen wissenschaftlichen Psychologie in seiner mehrfachen Bedeutung dar und kommt dann auf die Grundlagenfragen dieser Wissenschaft zu sprechen. Der dritte und letzte Teil der Abhandlung wendet sich der Lösung der Problematik zu, die in ihr bis dahin verfolgt worden ist. Die Lösung wird dadurch eingeleitet, daß Bewegung zum Thema wird (vgl. 278 f). — Wer sich entschließt, vorliegende Abhandlung zu lesen, wird sicherlich reichen Gewinn davontragen. Erstaunlich ist die Weite der Bildung der Verfasserin, die sich in Wissensbereichen auskennt, die im heutigen akademischen Betrieb weit auseinanderliegen. Dazu gesellt sich ihre Gabe, schwierige Zusammenhänge pla-

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stisch darzustellen. Diese Verdienste sollen nicht geschmälert werden, wenn wir uns nunmehr unserer zweiten Frage, der nach der Angemessenheit ihres Vorgriffs, zuwenden und hierbei Kritik zu üben haben. „Einheit und Mannigfaltigkeit" lautet die Aufgabe dieser Abhandlung, bei deren Lösung alles darauf ankommt, das Wörtchen „und", das FICHTE das dunkelste und unverständlichste unserer Sprache genannt hat (vgl. 7), recht zu verstehen. Das Strukturgefüge von Einheit und Mannigfaltigkeit expliziert GLOY in folgenden Alternativen; „im Ausgang von der Einheit 1. Einheit mit Ausschluß und Abstraktion der Mannigfaltigkeit, 2. Einheit mit Einschluß und Integration der Mannigfaltigkeit, im Ausgang von der Mannigfaltigkeit 3. Mannigfaltigkeit mit Ausschluß und Abtrennung der Einheit, 4. Mannigfaltigkeit mit Einschluß und Absorbierung der Einheit". (8) Damit sind alle möglichen Beziehungen zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit wiedergegeben (mit einer Ausnahme, die wir hier vernachlässigen können). Diese Komplexion von Einheit und Mannigfaltigkeit kann nun einer vierfachen Betrachtungsart unterzogen werden: der quantitativen, der qualitativen, der relationalen und der epistemischen (13). Die so gewonnene Struktur durchzieht alle Ebenen des Seienden und hält sich dabei als ein und dieselbe durch. Darum ist für die Verfasserin die ARiSTOTEÜsche Lehre von der vielfältigen Bedeutung des ev als Leitfaden für ihre Untersuchung auch unbrauchbar. Das Gelingen der Untersuchung hängt also in erster Linie davon ab, daß sie ausschließlich auf formale Unterschiede zurückgreift, d. h. ihre Aufgabe kann nur darin bestehen, das Gemeinsame aller Prinzipien aufzusuchen, dasjenige, wovon diese nur „Fälle und Modifikationen" sind (6 f), unter Beiseitesetzung alles Historisch-Doxographischen. Aber fallen die Elemente dieser Systematik nicht auseinander, schon deshalb, weil sie unterschiedlicher Wesensherkunft sind? GLOY versucht diesen Einwand, dessen Möglichkeit sie natürlich erkannt hat, durch Berufung auf NATORPS PLATON-Interpretation zu entgehen (18 ff). Allerdings betritt sie damit einen Weg, den die PLATON-Forschung inzwischen als unbegehbar erwiesen haben dürfte. Damit erweist sich ihr Vorgriff als in sich brüchig. Aber nehmen wir einmal an, dies träfe nicht zu, — bliebe nicht dann der Einwand bestehen, der Vorgriff erschließe seine Thematik nicht in der geforderten Weite und Ursprünglichkeit? So greift er aufgrund seiner metaphysischen Herkunft bei Vorsokratik und PARMENiDES zu kurz, die Verfasserin nicht zufällig geradezu anachronistisch interpretiert (vgl. 4, 182), und wenn sie behauptet, bei BERGSON, HEIDEGGER und SARTRE sei an die Stelle des Denkens die Intuition, die Existenz, das Dasein getreten (5), so wird eine solche Entgegensetzung wohl keinem der drei Denker gerecht. In ihrer kenntnisreichen Darstellung der Gestaltpsychologie vermag sie nicht zu entdekken, daß diese sich allen Möglichkeiten der Explikation anhand der überlieferten Leitfäden entzieht, worauf nicht zuletzt MERLEAU-PONTY hingewiesen hat. Darum stiftet es nur Verwirrung, wenn Beziehung zwischen PLATON und der Gestaltpsy-

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chologie hergestellt und schließlich in die Diskussion um diese Wissenschaft die erkenntniskritische Frage nach den Bedingungen möglicher Gegenstandserkenntnis eingeführt wird (259). Und müssen wir nicht MERLEAU-PONTYS Feststellung auf den gesamten Kanon der zeitgenössischen Wissenschaften erweitern und damit zur Kenntnis nehmen, daß sie sich den Grenzsetzungen der Erkenntniskritik endgültig entzogen und diese also in die Vergangenheit verwiesen haben? Das Aufgeben dieses Vorgriffs wäre also die erste Bedingung dafür, die Thematik von Einheit und Mannigfaltigkeit in ihrer ganzen Breite zu gewinnen und damit erst das zu Denkende unverkürzt zu Gesicht zu bekommen. Im Zuge dieser Revision müßte auch die Geschichte, die GLOY zugunsten des einen Gliedes einer fragwürdigen Alternative, des Systematischen, verdrängt, wieder in ihr Recht eingesetzt werden. Friedrich Hogemann (Bochum)

Antimo Negri: Hegel nel Novecento. Roma, Bari: Laterza 1987. VIII, 244 S. (Universale Laterza.) In dieser historiographischen Abhandlung nimmt sich A. NEGRI vor, dem Leser einen „ausreichenden" Überblick über den Einfluß des Hegelschen Idealismus auf das philosophische und wissenschaftliche Denken des zwanzigsten Jahrhunderts zu verschaffen. Obwohl NEGRI die Verdienste der Hegelschen Philosophie anerkennt und eigens hervorhebt, glaubt er, daß ein bedeutender Einfluß des absoluten Idealismus auf das Denken unseres Jahrhunderts weder in den Versuchen seiner „Erneuerung" in einer streng „orthodoxen" Hegelrenaissance zu suchen sei, noch in einer bloß historisch-philologischen Hegelforschung, die sich im wesentlichen auf eine Exegese der Hegelschen Texte beschränkt. Eine entscheidende Rolle spiele hingegen die Hegelaneignung im italienischen Neuidealismus (CROCE, aber insbesondere GENTILE: 51—60; 64—70), im historischen Materialismus (70—85), phänomenologischen Existentialismus (93—115) und endlich in den zeitgenössischen Natur- und Geisteswissenschaften und der diesbezüglichen Wissenschaftstheorie (Absatz V und VI). NEGRIS Auslegung und Bewertung des italienischen Neuidealismus ist zweifellos interessant und teilbar. Er verweist einerseits auf die Aporien, andererseits auf die Stärke dieser Hegelaneignung. So bleibt z. B. an CROCES Hegelinterpretation problematisch der „schematische Formalismus" (66) seiner „Logik der Unterschiedenen". GENTILES Hegelianismus erscheint — nach NEGRI in Polemik gegen H. MARCUSE (52) — viel folgerichtiger, und ohne weiteres macht er „den ersten wichtigen Abschnitt der europäischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts" aus (59). Das spekulativ bedeutendste Motiv des „aktuellen Idealismus" besteht darin, daß er bis auf ihre letzten Folgen jene idealistisch-transzendentale

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„Dimension" des Hegelschen Systems treibt, die gegen jeden sei es metaphysischen (z. B. thomistischen) sei es materialistischen (z. b. positivistischen) Realismus den grundlegenden Einwand erhebt, daß „jedes Objekt seine Sichselbstgleichheit verliert, denn es gibt ein Subjekt, das es zum Objekte seiner Reflexion macht" (91). So muß sich der Prozeß der Wirklichkeit mit jenem der selbstbewußten menschlichen Subjektivität letztlich decken, und diese mit der immanenten Dialektik des „pensiero pensante", d. h. einer „Vernunft", die sich wegen ihrer innersten Aktivität und schöpferischen Energie auf keine bloß passive Kontemplation beschränken kann, sondern gleichzeitig als ethisch-politischer Willen und Tathandlung auftritt. Deshalb kann NEGRI ZU Recht die „praktischen Aufforderungen des italienischen Neuhegelianismus" (52) als sein eigentümliches Kennzeichen sei es gegenüber der „mystischen Färbung und der skeptischen Neigung des BRADLEYschen Neuidealismus, in welchem man den grundlegenden Hegelschen Begriff der Vermittlung vergebens sucht" (38), sei es gegenüber den mehr oder weniger „irrationalistischen" Hegelinterpretationen von J. E. MCTAGGART, R. KRONER, H. GLöCKNER, N. HARTMANN (34), betonen. NEGRIS Nachdruck auf die entscheidende Rolle, die das idealistisch-transzendentale Prinzip der wesentlichen Relativität und Immanenz jeder wirklichen oder ideellen Gegenständlichkeit zum selbstbewußten Akt des menschlichen Geistes im Hegelschen Denken spielt, veranlaßt ihn offensichtlich, im (alten und neuen) Positivismus eine der wenigen zeitgenössischen Philosophien (zusammen mit dem Neuthomismus) zu sehen, die mit dem Hegelschen „Erbe" gar nichts zu schaffen haben. Die unbestreibar antipositivistische Einstellung des Hegelschen Idealismus, jedenfalls, bringe es keineswegs mit sich, daß sein Einfluß auf die Entwicklung der zeitgenössischen Natur- und Geisteswissenschaften unerheblich gewesen sei. Die am besten gelungenen Abschnitte dieser Abhandlung scheinen gerade diejenigen zu sein, in denen NEGRI mit sorgfältiger Dokumentation zum Vorschein bringt, wie „Hegels kühner wissenschaftlicher Rationalismus eine wichtige Rolle in der Geschichte der zeitgenössischen Wissenschaften gespielt hat" (45). Eine Rolle, die insbesondere beträchtlich geworden ist, als diese Wissenschaften, ihrem innersten Entwicklungstrieb folgend, das von der NEWTONschen (und KANTschen) Physik kodifizierte empirisch-mechanische erkenntnistheoretische Vorbild endlich mehr oder weniger vollständig verließen, und vielmehr eine relativistische, undeterministische und organizistische, wenn nicht geradezu „systematische" und „idealistische" Weltauffassung beförderten. Viel weniger überzeugend, im Gegenteil, scheinen dem Rezensenten die Seiten zu sein, in denen NEGRI versucht, die legitime Hegelsche Urheberschaft des historischen Materialismus zu beanspruchen. Die von MARX, ENGELS, LUKäCS, BLOCH usw. entwickelte kritische Auslegung und Aneignung der Hegelschen Dialektik darf in der Tat für „fortschrittlich" und annehmbar nur unter der selbstverständlichen Bedingung gehalten werden, daß man dazu geneigt ist, die Glaubwürdigkeit ihrer historizistischen Auflösung der ganzen logisch-metaphysischen „Dimension" des Hegelschen Denkens — und insbesondere der Idee der immanenten konkreten Wirklichkeit des „Absoluten", so wie der realen Möglichkeit einer adä-

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quaten „vernünftigen" und „systematischen" Erkenntnis seines Wesens (oder besser des ewigen Prozesses seiner Selbstverwirklichung) durch die notwendige Vermittlung des menschlichen Geistes — anzuerkennen. Aber an keiner Stelle dieser Abhandlung scheint NEGRI wirklich imstande zu sein, irgendeinen eindeutigen und logisch bündigen Schluß beizubringen, um die Legitimität einer solchen Auflösung (die er selbst ausdrücklich für notwendig und wünschenswert erklärt: 28, 62, 78—80) irgendwie zu bestätigen. Giacomo Rinaldi (Lovere)

Andreas Arndt: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie. Bochum: Germinal 1985. 284 S. „Wenn je wieder Zeit für solche Arbeiten kommt", schrieb MARX 1858 an ENGELS, „hätte ich große Lust, in 2 oder 3 Dmckbogen das Rationelle an der Methode, die H(egel) entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen." (MEW 29.260) Die Druckbogen blieben bekanntlich ungeschrieben, was nicht nur für die MARx-Forschung und alle sich auf MARX bemfende Theorie bedauerlich ist, sondern gleichermaßen für die Hegel-Forschung. Und entsprechend waren in der Vergangenheit Hegel-Forscher nicht weniger als MARX-Forscher bemüht, aus dem MARXschen Werk zu erschließen, worin MARX das „Rationelle" der Hegelschen Dialektik gesehen, wie er sie „umgestülpt", „vom Kopf auf die Füße gestellt" und in eine „materialishsche Dialektik" transformiert hat. Zwar läßt sich das bekannte Diktum LENINS, daß MARX' Kapital nicht wirklich verstehen könne, wer Hegels Logik nicht verstanden hat, sicherlich nicht umkehren. Aber mit Recht versprach man sich von solchen Rekonstruktionsversuchen Einsichten, Anhaltspunkte und Kriterien für die Beurteilung der Hegelschen Dialektik selbst: Ist sie unauflösbar mit seiner Philosophie des Absoluten und ihrer systematischen Struktur verwachsen oder läßt sie sich davon ablösen? In welchem Maße ist sie Resultat autonomer spekulativer Philosophie und in welchem wirkte die theoretische Dmchdringung realphilosophischer Inhalte sich auf sie aus? Gehört sie ins philosophiegeschichtliche Museum oder hat sie weiterhin theoretischen Gebrauchswert? Und nicht zuletzt: Ist sie eine Methode, durch die sich die Philosophie spezifisch von den Wissenschaften unterscheidet, oder hat sie auch für die „positiven Wissenschaften" Bedeutung? In diesem Zusammenhang ist das zu besprechende Buch ARNDTS von Interesse. Anders als üblicherweise MARX-Bücher ist es weder eine MARX-Okkupation, -Adaption oder -Verwertung für eine aktuelle Strömung noch eine MARX-Abrechnung, sondern der Versuch einer Gesamtdarstellung seiner Theorie, die als eine vorzügliche Zwischenbilanz des kaum noch zu überblickenden Forschungsstan-

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des zu MARX bezeichnet werden kann, vor allem aber als eine philosophische Zwischenbilanz, die diesen Forschungsstand nicht einfach referiert, sondern reflektiert, was er für unser MARX-Bild und für die prominenten Streitfragen der MARx-Debatte besagt — und so auch für das Dialektik-Problem, dem der abschließende Teil des Buchs (227—267) gewidmet ist. (Den außerordentlichen Gewinn zu würdigen, den das Buch für die MARx-Forschung nach meiner Meinung darstellt, ist hier nicht der Ort.) Um den Ertrag des Buchs für das Dialektik-Problem zu realisieren, reicht es freilich nicht aus, allein den Schlußteil zur Kenntnis zu nehmen . Da MARX' „Dialekhk-Programm", soweit es rekonstruierbar ist, im Zuge der Ausarbeitung der Kritik der Politischen Ökonomie konkrete Gestalt annahm, hängt das Verständnis dieses Programms von dem seiner ökonomischen Theorie ab; diese rekonstruiert der 3. und 4. Teil (125—226). Weiterhin setzt der Dialektik-Teil ARNDTS Interpretation des Resultats voraus, daß sich MARX — in der Deutschen Ideologie — aus seinem „Bruch mit der Spekulation" ergab, den der erste Teil darstellt (15—64). Wesentliches Resultat dieses Bruchs ist nach ARNDT ein Begriff der Wirklichkeit, der sie als eine stets bestimmte, objektiv-reflektorische Struktur gegenständlicher Verhältnisse faßt (56 ff). Zusammen mit den positionellen Entscheidungen, zu denen MARX in Kreuznach bei seiner Kritik der Hegelschen Staatstheorie gelangte — Umkehrung des Fundierungsverhältnisses von Logik und RealphilosophieZ-wissenschaft als elementare Voraussetzung der Objektivität logischer Begriffe, Auffassung des Gegensatzes als realen, als den real existierender Entgegengesetzter und, damit zusammenhängend, wenn auch später, Verwerfung der Auffassung von Totalitäten als „Subjekten" (30 ff) —, bestimmt dieser Wirklichkeitsbegriff den prinzipiellen Rahmen des MARXschen Zugriffs auf Hegels Dialektik. Darüberhinaus aber ist er das Moment an MARX' Verständnis einer „positiven", empirischen Fachwissenschaft, das es vom Positivismus prinzipiell unterscheidet und nicht nur die Möglichkeit eines Rückgriffs auf Hegels Dialektik (in erster Linie der Reflexionskategorien) aus Erfordernissen „positiv"-wissenschaftlicher Forschung enthält, sondern diesen Rückgriff geradezu zwingend macht, wenn diese Forschung ihren Gegenstand als ein — bis zu einem gewissen Grade — sich selbst vermittelndes Ganzes begreifen kann und muß. Die „Hegel-lose" Zeit in MARX' Entwicklung zwischen 1844 und 58 kann ARNDT auf diese Weise plausibel erklären: erst die mit dem Grundrisse-Manuskript erreichte Tiefe der theoretischen Durchdringung des Gegenstands der Ökonomie machte den Rückgriff auf Hegels Dialektik notwendig. Zugleich wird deutlich, daß MARX weder mit der Philosophie „fertig war", als er an die „positiv"-wissenschaftliche Arbeit ging (ALTHUSSER), noch über ein im wesentlichen fertiges Konzept materialistischer Dialektik verfügte, das er in seiner wissenschaftlichen Arbeit einfach anwandte (ROSENTAL U. a.). Damit ist auch für den Dialektik-Teil des Buchs die grundsätzliche Untersuchungsrichtung exponiert: ARNDT versteht MARX' „Operationen mit der Hegelschen Logik" als „ein Ummontieren von Kategorien in realphilosophischen Zusammenhängen" und sieht „die Aufgabe der Rekonstruktion des MARXschen Dia-

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lektik-Programms . . . erfüllt, wenn sie .. . die Voraussetzungen und Richtung seines Umgangs mit der Hegelschen Dialektik verdeutlicht; eine Durchführung dieses Programms könnte sich zwar auf MARX beziehen, sollte aber gerade die materiahstische Position MARX' akzeptieren und auf der Grundlage der erweiterten und veränderten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Voraussetzungen neu ansetzen, statt immer wieder zu versuchen, den , wahren' Sinn der materialistischen MARXschen Diskurse in ewiger Interpretation einzuholen." (259 f) Dies ist in sich konsequent und sicherlich auch dem MARxschen Theorietyp angemessen, weil es sich bei den „Voraussetzungen" des MARxschen „Umgangs mit der Hegelschen Dialektik" eben nicht nur um die positioneilen Entscheidungen der 40er Jahre handelt, sondern nicht minder um den realwissenschaftlichen Problemstand, wie er sich MARX in seinen Forschungen Ende der 50er und in den 60er Jahren darstellte. Und das ist selbstverständlich ein historischer Problemstand, wissenschaftlich wie gesellschaftlich. Die Art und Weise, wie MARX auf der Grundlage dieser Voraussetzungen mit der Hegelschen Dialektik operierte, kann in der Tat interessanter scheinen als eine — ohnehin problematische — Rekonstruktion jener ungeschriebenen „2 oder 3 Druckbogen". Um diese Art und Weise und damit die „Richtung" des MARxschen „Umgangs mit der Hegelschen Dialektik" zu verdeutlichen, erarbeitet ARNDT am Beginn des Dialektik-Teils ein Vorverständnis des MARxschen Dialektik-Programms. Er unterscheidet zunächst die Etappen der Auseinandersetzung mit Hegel nach 1845, vor allem von 1858 bis 68, um aus dem jeweiligen Kontext die theoretischen Erfordernisse zu verdeutlichen, die MARX auf Hegel zurückkommen ließen, und damit in einer ersten Weise den „Gebrauchswert", den Hegels Logik für ihn hatte (229 f). Danach mustert er sorgfältig die vielen, vor allem über die Briefe verstreuten Bemerkungen, Anspielungen und Einlassungen MARX' zu Hegel, Hegelianern und zur Dialektik, wodurch eine ganze Reihe der kursierenden Ansichten über MARX' Dialektik-Programm, insbesondere auch was den Unterschied zu dem ENGELS' angeht, richhg gestellt werden (230—35). Schließlich dient diesem Vorverständnis eine Reflexion der seinerzeit viel diskutierten Verschränkung von Darstellung und Kritik in der MARxschen Politischen Ökonomie in ihrer Relevanz für das Verständnis der Dialektik als Methode seiner ökonomischen Theorie (235-38). „Nach dem intensiven Experimentieren mit Hegel in der Phase der abschließenden Erforschung des systematischen Zusammenhangs der Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft und im ersten Darstellungsversuch (bis 1859) . . . konkretisiert sich das Dialektik-Programm erst durch die Abklärung der Kategorie des Widerspruchs in der direkten Auseinandersetzung mit den Methoden der bürgerlichen Ökonomie." (230) Und dieser Auseinandersetzung ist der 2. Abschnitt des Dialektik-Teils gewidmet (238—50). ARNDT zieht dabei eine — natürlich durch die positioneilen Unterschiede begrenzte — Parallele zwischen Hegels Kritik an Metaphysik und am Empirismus/Kritizismus in den Drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität und MARX' Kritik an Empirismus/Analytik der klassischen und an der „Metaphysik" der nachklassischen Politischen Ökonomie (244 ff).

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Und wie Hegel diese Kritik für geeignet fand, um in die Dialektik einzuleiten, so ist MARX' Kritik auch für sein Dialektik-Programm sehr aufschlußreich, insbesondere für seinen Begriff des Widerspruchs, für seine Unterscheidung zwischen „komischen", d. h. formellen, und realen Widersprüchen und seine Sicht, wie beide in einer nicht-dogmatischen, d. h. den Unterschied zwischen Realität und theoretisch verarbeiteter Realität noch enthaltenden, Theorie Zusammenhängen. Die Auffassung der Dialektik als Methode d^r Politischen Ökonomie, zu der MARX in dieser kritischen Auseinandersetzung gelangte, kommt mit Hegels Verständnis der Dialektik als Methode darin überein, daß auch er die Methode objektiv faßt, als Form der Bewegung des Inhalts; sie ist generell Erfassung der Bewegung realer Widersprüche, gewissermaßen ihrer „Methode", sich zu bewegen (vgl. 248 f). Damit rückt aber ARNDT den MARXschen Widerspruchsbegriff ins Zentrum der Rekonstruktion seines Dialektik-Programms, dem entsprechend der letzte Abschnitt des Dialektik-Teils gewidmet ist (250—67). Dieser Abschnitt ist sehr erhellend sowohl hinsichtlich der positioneilen Voraussetzungen des MARXschen Widerspruchsbegriffs (251 ff) als auch und vor allem hinsichtlich des Marxschen Eingriffs in das Hegelsche Gefüge der reflexionslogischen Kategorien von seiner Theorie der Bewegung der realen Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft aus, insbesondere was die Verwendung der ModalKategorien für die Erfassung der Widerspruchsbewegung angeht (255 ff). Hier löst ARNDT, seinen Rekonstruktionsvorsatz ein, nämlich „Voraussetzungen" und „Richtung" des MARXschen Umgangs mit der Hegelschen Dialektik deutlich zu machen. Hier ist ARNDTS Buch nach meiner Meinung bestechend, selbst wenn man ihm nicht in jedem Detail zu folgen bereit ist, und zwar deswegen, weil es einen Boden für die Rekonstruktion des MARXschen Dialektik-Programms schafft, der ihm das Mysteriöse nimmt, ein Boden, auf dem sich mit klaren Argumenten diskutieren und, wenn nötig, auch streiten läßt. Wenn der MARXsche Widerspruchsbegriff in den bisherigen Versuchen, sein Dialektik-Programm zu rekonstruieren, eine — von wenigen Ausnahmen abgesehen — eher periphere Rolle spielte, so ist das sicherlich kein Zufall, setzt doch ein Verständnis dieses Begriffs Klarheit über zwei schwierige Sachverhalte voraus, über die in der Forschung bisher gerade keine weitgehend akzeptierte Klärung erzielt werden konnte: Klarheit über MARX' Krisentheorie, die seine Theorie der „Methode" ist, wie sich die realen Gegensätze der bürgerlichen Produktionsweise bewegen, und Klarheit über Hegels Dialektik und insbesondere seine Widerspruchstheorie, die für MARX trotz ihrer „mystischen Hülle" der klassische Bezugspunkt ist und mit der er gerade in ihrem umstrittensten Moment kommentarlos übereinstimmt, nämlich, daß der Widerspruch als objektiver zu fassen sei. Hier stößt ARNDTS Rekonstruktionsversuch auf Grenzen des Forschungsstandes, die er im Rahmen einer MARX-Monografie nur hinsichtlich der Krisentheorie überschreiten konnte. Daß ein Defizit der Hegel-Forschung hier Grenzen setzte, sollte diese betroffen machen. ARNDTS MARX-Buch kann einen Impuls geben, sich mit diesem Defizit nicht abzufinden, und vielleicht auch wertvolle konkrete Anhaltspunkte für entsprechende Arbeiten: Denn Hegel war so sehr Realphilosoph,

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daß dem MARxschen Umgang mit der Dialektik im realwissenschaftlichen Kontext einiges für das Verständnis des Hegelschen Umgangs mit der Dialektik sollte entnehmbar sein. Wolfgang Lefevre (Berlin)

David Kolb: The Critique of Pure Modernity: Hegel, Heidegger, and After. Chi-

cago: University of Chicago Press 1986. 316 p. Central to DAVID KOLB'S concern is the „pure" modern seif that is detached, distanced, empty. It is formal without content. However, „purifying the seif is not a pure act". (249, 265) The presuppositions and preconditions (including the subject-object relation) that enable modern subjectivity to be at all must be examined. ln doing so. KOLB finds two distinctions clearly underlying them; form versus content (e. g., formal process of choice distinct from specific content) and universal versus particular (e. g., universal rules distinct from particular person). To avoid the apparent sole alternatives — return to a lack of freedom in traditional, substantive society or continuing the rootlessness and Separation of modern society — one must question the ultimacy of these two distinctions; thereby opening the way to other possibiliües. Hegel and HEIDEGGER do so by (1) placing modernity within a larger, deeper context (2) that modernity's categories and presuppositions cannot explain. For each, modernity is from the Reformation, culminates in his own day, and is a unified occurrence. They agree that modern subjectivity is made possible by something that is not itself modern subjectivity; although they disagree on what this is. Crucially, this discussion is neither to choose one over the other or to synthesize them together (both of which KOLB thinks are impossible). After thorough analyses of each separately and then in comparison, each is allowed to voice his criticism of the other, with KOLB adjudicating between them. Unfortunately, the complexity and subtleties of KOLB'S presentation cannot be captured here. „For Hegel, modernity was the age of civil society and the bourgeois or romantic individual." (143) KOLB'S Interpretation emphasizes the structures of mutual recognition; the mediations of universal, particular, and individual; and their crucial parallels. Civil society's formal rationality, which separates the formal universal from any particular content, cannot solve the problem of how to have values and desires that are neither brutely given nor arbitrarily chosen. The solution lies in the mutual recognition and freedom found in the concrete totality of the rational state, which is the expression of the absolute form of the mediations among all three moments of the concept. The absolute form of freedom is its own content and this content is the structured motion of spirit itself. Therefore, in the rational state, there is content that is: definite, rational, nonarbitrary, nonim-

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posed, and not (simply) of our own creation. KOLB'S main criticism of Hegel here is that there are different versions of the categorial sequence in the different Logic versions. All are insightful, but none is „a recognizably superior presentation of that necessary sequence" (82). This jeopardizes the necessity of the sequence, in favor of a more historically derived sequence. Moreover, vagueness as to which detailed sequence is the „right" one, means that in the Philosophy of Right, there will also be vagueness as to the „right" set of details and institutions. No attempt is made to settle this question with reference to either other writings of Hegel generally or the developmental history of the Logic specifically. In response to such evidence. KOLB would maintain that „it casts doubts on Hegel's Claims when we cannot teil on our own which version is better" (83). Furthermore, it is hard to differentiate between Overall moments and detailed contents and between constancy and variable aspects of the sequence, if one is not to fall back into a formcontent distinction. „Compared to Hegel on modernity, HEIDEGGER is at once more radical and less useful." (200) HEIDEGGER criticizes modernity through his discussions of subjectivity, technology, our epoch as that of universal imposition, and the forgetfulness of the propriative event. Modernity is wrong in its interpretation of reality as neutral factual being or pure available presence and of man as „manipulable manipulating units" (183). Rather, there is a finite mutual belonging of man and things appropriated together, which is the condition for any projects undertaken. Man as a thrown project as weU as modernity's „purity" take place within this more basic inhabitation of the granting of possibUities. Furthermore, modernity is only one possibiüty of being-in-the-world and is ultimately ungrounded. As for specific political ad vice, HEIDEGGER is cautious. By trying to overcome modernity through our actions and mastery, we fall back into the characteristics of modernity's attitude: wUl to power; representation; ordering, Controlling, and making present; modern individuaUsm and subjectivity. However, there is nothing to „understand" about the propriative event nor can it serve as a foundation. KOLB suggests three social and political imphcations. However, KOLB'S disappointingly handles both the „obligatory reference" to HEIDEGGER and the Nazis (only two paragraphs and a note) and the recounting of HEIDEGGER'S 1933 refusal of a chair of philosophy in Berlin due to the old farmer friend's head shake (omitting the date and circumstances and simply giving HEIDEGGER'S 1934 version). With such a limited discussion. KOLB has not yet justified his Claim that in contrast to Hegel, HEIDEGGER lived a withdrawn life, in which „there was no effort at social change ... [or] any specific institutional recommendations" (182, 197, cf. 208). KOLB criticizes HEIDEGGER here for having a general stance of transcendental thinking. Although this stance is in terms neither of necessary structures of subjectivity nor of foundationalism, yet it is a descendant or residue of the KANiian spUt between a priori and empirical (cf. especially 155, 172—7, 228—230, 254). „We can learn from Hegel that HEIDEGGER despite his best intentions still reUes on some oppositions of a kind he is pledged to avoid." (238) This is seen repeatedly in different ways. For example: (1) in the priority of the transcendental condition

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of an epoch's mode of unconcealment (e. g., universal imposition), which is inherently untouchable and protectively insulated from ordinary events and explanations and (2) in the observing thinker's asymmetrical relation to the naive natural consciousness and its presupposed horizon, as when HEIDEGGER says what the scientist is really doing.

The chief issue between Hegel and HEIDEGGER is „whether what makes modernity possible, the Sache for thinking, gives itself or withdraws itself. More precisely, does it give itself as withdrawing and lack of totality or as presence, availability, and self-closure?" (210) However, in neither case is there a search for first principles or ultimate ground. Of HEIDEGGER's two chief criticisms of Hegel, KOLB explains that the first is wrong. Hegel does not have a super-Cartesian philosophy in which an absolute ego or seif is posited as a first entity or ground for which self-enclosure happens. KOLB agrees with HEIDEGGER'S second criticism that Hegel is within the metaphysic tradition, in that his goals are; totality, self-coincidence, and self-transparency. Yet KOLB questions whether Hegel fully fits here. HEIDEGGER is right that Hegel's System cannot mediate into self-transparency some of its conditions for being. Hence, it cannot achieve the self-transparent totality and self-coincidence that Hegel Claims it does. Hegel, due to the metaphysical tradition within which he Works, cannot overcome modernity, since he has forgotten the propriative event. In turn. KOLB criticizes HEIDEGGER'S method of reading portions of a text for its one unified understanding of being. This does not work with Hegel's mulfi-leved texts. This misleads HEIDEGGER into overemphasizing self-consciousness and ego and misinterpreting Hegel's wording that with DESCARTES, philosophy „sights land". Hegel's criticism of HEIDEGGER would force the issue of the „price he pays for avoiding metaphysics" (224) and focus on HEIDEGGER'S general transcendental move. Whereas nothing is immediate or has primacy in Hegel, HEIDEGGER must have immediacy in the content of the unitary granting of being. The given content of the unconcealment of being ruling our epoch, granted by the propriative event, is prior to and unaffected by ordinary events and understanding. It „is immediate; we must just accept the space opened for us in our epoch" (226). This is evidenced also in the numerous inexplicable aspects, left by HEIDEGGER'S „implausible retelling of history" (224) cut off from ordinary history; as compared to the details, tensions, and explanations in Hegel's dialectical Version. HEIDEGGER does not want the propriative event to be purely formal with one general structure, but to illuminate the differences of epochs. Yet, these differences seem to be due in part at least, to the undiscussed workings of ordinary history. KOLB thinks that Hegel would try to situate HEIDEGGER as (1) a Stoic (with the immediate granting playing a similar, but not exact, role as „the beyond") or oscillating between Stoic and Sceptic and (2) in the Science of Logic as not having overcome the formcontent distinction. However, it is not good enough to label his (Hegel's) detaüed way „metaphysics", while not offering an overcoming of the form and content distinction. KOLB points out that these characterizations are not exactly right; yet

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against his intentions, HEIDEGGER retains too much distinction of form from content.

The title's „and after" refers to the last section. Here KOLB gives his suggestions for „deconstructive living". This is based on what can be learned from both — when one maintains the insights, while avoiding the limitations, of each. According to KOLB, both Hegel and HEIDEGGER have too much unity. Further than either would allow, one needs to think „multiplicity ,all the way down'" (240,245). There is no world as a whole; hence, there is neither a single basic shape of spirit nor a unitary granting of presence. There is: multiplicity, various possibihties and fields, interacting tensions, overdetermination, contingency, and groundlessness; but no: unitary deep condition, Overall context, privileged Content, unified totaüty, or self-coincidence. Furthermore, there is neither a unified modernity that ends in a unitary postmodernity nor a foundation for a unified and distanced modern subjectivity. — In chapter three and five. KOLB gives his interpretation of Hegel. Although this is based mainly upon a certain (debatable) reading of the Logic, KOLB seems to hold it for HegeTs whole philosophical endeavor (cf. 43—44, 86—89, 94). Rejecting a „cosmological" interpretation (TAYLOR, INWOOD), he closely supports a categorial one (HARTMANN, WHITE). This is only „transcendental analysis and justification of categories" (92), that makes no metaphysical or ontological Claims (in accordance with one definition of these terms). Rather than accept only HegeTs social and political analyses, while rejecting the rest, especially the Logic, as unfortunate metaphysics (TAYLOR); KOLB wants to keep the first, include the Logic, and then assert that the Logic does not have a metaphysical reading, especially in terms of a „large entity". Using the Philosophy of Right, extensively supported by an analysis of the Logic, has in some ways much to recommend it and is better than the Philosophy of Right alone. At the same time, this strategy skews KOLB'S view of HegeTs philosophy. It allows him to sidestep some issues and too easily reject other interpretations, without full argument. Here only a few examples and critical questions about KOLB'S interpretation can be indicated. First, his interpretation is not helped out by the following: (a) starting from a too onesided KANiian definition of allowable „metaphysics" (41 ff), as if Hegel was not in part reacting against this, and from a questionably limited definition of onfology (87—88), (b) no argument that metaphysics or ontology can only be the (mistaken) cosmology of a large entity outside the overarching unity and encompassing whole, (c) situating it in terms of TAYLOR and HARTMANN, who both object to the metaphysical view, (d) bits of rhetorical excess in characterizing the rejected view (e. g., „meid" and „resignation" into a „wonderous new superentity" (xiv, 44, 43), (e) rather than examining the passages in the Logic that might contradict his position, simply labelling them as metaphorical, vague, and murky (85). Second, there is a real skirting of the issue of what is „absolute spirit." KOLB emphasizes the belonging together of man and thing, steering clear of any hint of HegeTs concerns with respect to religion or theology and the divine conscious-

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ness (cf. 43, 210, 216, and even pages 44, 85, 87). KOLB'S probable response (44), that he does not want to make it too easy for HEIDEGGER'S criticism of metaphysics, is insufficient ground for these exclusions. Third, it is not surprising then that „spirit" is one of the few terms not explicitly defined nor is it listed in the index. It remains unclear what KOLB really thinks it means (for example, cf. 92). KOLB unconvincingly States the following. „Spirit develops on its own and does not need our comprehension to accomplish what will be made transparent through our achieved knowledge." (90—1) (It is not even clear what this means, since it seems contradicted on pages 206 and 207, cf. also 87.) Fourth, the above are some of the ,advantages' of not discussing the Phenomenology of Spirit or later lectures. However, without discussing either the Philosophi/ of Right or the Logic in its systematic context, one can ask whether KOLB has really discussed Hegel's critical context for modernity and „the absolute form of the whole" (207). It is not clear that this larger context should not include one or all of the undiscussed succeeding systematic moments of world history and absolute spirit. Furthermore, one can point out that the Phenomenology's critique is not limited to chapter six, as KOLB frequently implies, but the entire text is a critique of the two distinctions KOLB is concerned with (likewise in terms of Glauben und Wissen and the Differenz-Schxift). Unfortunately, KOLB'S choices and exclusions of Hegel's writings are never argued for. (22) Fifth, KOLB could have argued that Hegel's view is wrong or that Hegel should have thought as the Interpreter does. However, his assertions, that his Interpretation in these chapters is Hegel's view, remain unconvincing. It would be better not to settle systematic questions based solely upon a portion of the System, while simply ignoring other relevant texts. There is a need to sufficiently argue that a rejected interpretation is not Hegel's position, rather than strongly suggest attractive positions that Hegel could have held — but arguably did not. Although KOLB'S discussions are remarkably insightful and helpful, too much of Hegel has been excluded through finesses and assertions. For those unacquainted with Hegel, KOLB can be very misleading as to the amount of support that could be mustered to challenge his interpretation. FinaUy, given KOLB'S concern for and defense of multiplicity, why is there just one task and one reading of the Logic? Since KOLB defines most of their terminology and clarifies many of their typical moves, this book should be of interest and readabUity for those without a specific background in Hegel or HEIDEGGER. Refreshingly, KOLB uses the form-content distinction as his Illustration, rather than the traditionaUy overused example of being-nothing-becoming. This also has the virtue of clarifying issues throughout his whole book. He includes a helpful distinction of Hegehan terms from their Contemporary analytic philosophy usages. KOLB translates all of HEIDEGGER'S terms, maintaining that „I am swom not to use German words . .. we should speak in English, or the term will become something to conjure with rather than think about" (272, 159). These include „propriative event" (from DAVID KRELL) for

Besprechungen

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das Ereignis (159) and „universal imposition" for das Gestell (145). Although one might quibble with bis translations, bis reasons for tbem and several otber possibilities are discussed at considerable lengtb. Tbe HEIDEGGER cbapters also amplify tbe Hegel discussion, tbrougb continual contrast of tbe two. Tbe bigb qualities of tbis book include: a very insigbtful and clear discussion, tbat goes beyond exposition to a vigorous struggling and probing quesboning of tbeir tbougbt; sensitivity to examples tbat do not fit easily on eitber side of disbnctions, tbat must tbemselves be questioned; stout guarding against falling back into eitber tbe pitfalls of modernity's tbinking or into tbe criticized metapbysical tbinking of grounds and causes. KOLB succeeds in all of bis goals of; persuading, informing, reminding, and opening new possibilities for tbougbt, but witbout providing „a knockdown argument" for bis conclusion (xii). Tbat is, often for KOLB, as „for HEIDEGGER it is more a matter of awareness tban of an argumentative conclusion". His cribque and suggestions for „deconstructive living" sbould enricb tbe reader's tbinking and force bim to regrapple witb tbe basic issues at stäke. However, tbose encouraged to furtber tbe critique, sbould do so, according to KOLB witbout turning its ideas into a System, since „it is not clear tbat we need more great Systems just now" (xii). Scott E. Weiner (S. U. N. Y. Stony Brook)

Patricia Jagentowicz Mills: Woman, Nature and Psyche. New Haven and London 1987. 266 S. Die Frage nacb der Beziehung zwischen Naturbeherrschung und Beherrschung der Frau ist das Thema dieses Buches von P. MILLS. Ihre theoretischen Wurzeln hat diese feministische Arbeit in den Untersuchungen der Kritischen Theorie. Deren positive Ansätze zum Verständnis der Entwicklung der modernen Zivilisation aufgreifend will MILL durch das Einbringen spezifisch weiblicher Erfahrungen die Defizite der Frankfurter Schule überwinden — ohne jedoch auf deren kritisches Potential zu verzichten: vor einer erneuten Mythologisierung soll die Kritik falscher UniversaUerung einzelner Erfahrungen bewahren. Die Auseinandersetzung mit Hegel und MARX, deren Denken ebenso wie dasjenige FREUDS (vgl. das dritte Kapitel des Buches) grundlegend für die Entwicklung der Frankfurter Schule wurde, eröffnet die aus fünf Kapiteln bestehende Untersuchung, von denen hier allerdings nur das erste, das Hegels Bestimmung der Rolle der Frau betrifft, Erwähnung finden kann. Es ist vor allem Hegels Neubestimmung der Natur, die dialektische Auffassung des Verhältnisses von Natur und Geschichte, die Unterscheidung zwischen erster und zweiter Natur, die entscheidend sein Büd der Rolle der Frau prägen. Indem Hegel die Familie zum Refugium der bürgerlichen Gesellschaft erklärt.

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vergißt er, daß dieses Refugium nur auf Kosten der Entwicklung der Frau sich erhält. In der Phänomenologie des Geistes und der Rechtsphilosophie verdeutlicht Hegel sein Verständnis der Rolle der Frau in der antiken und der modernen Gesellschaft anhand von SOPHOKLES' Antigone. Hegels Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau setzt allerdings in der Phänomenologie nicht erst im Kapitel „Geist", sondern bereits im Abschnitt „Selbstbewußtsein" ein. Für P. J. MILLS schließt Hegel die Frauen aus dem Prozeß der gegenseitigen Anerkennung der Individuen aus; da ihre Rolle auf die Familie beschränkt ist, können sie sich nicht innerhalb der Herrschaft-Knechtschaft Dialektik bewähren. Sie sind weiterhin zur partikularen Existenz in der Familie verpflichtet, während die erste Natur (Familie) vom Geist in die zweite Natur (Polis) „aufgehoben" wird. Für die antike Welt schließen sich beide Sphären wechselseitig aus, daß eine Versöhnung zwischen ihnen nicht möglich ist, zeigt für Hegel das Schicksal Antigones. Da Hegels Aufnahme der SoPHOKLEischen Antigone in erster Linie der Veranschaulichung ethischer Prinzipien dient, kommt es in Hegels Darstellung, so MILLS, zum einen zu einer Vereinfachung der komplexen Sfruktur der Tragödie, so etwa wenn für Hegel, das Prinzip der Partikularität, die Familie zum Zerstörer der antiken Welt wird. Zum anderen vernachlässigt Hegel entscheidende Aspekte des Stückes; Indem Antigone dem politischen Bereich durch ihre Tat trotzt, transzendiert sie das naturhafte ethische Leben der ersten Natur und tritt durch bewußte Entscheidung in die Sphäre der zweiten Natur ein. Auf der Suche nach derjenigen Beziehung, die „Identität in Differenz" zwischen den Individuen ausdrückt, übersieht Hegel die Schwester-Schwester-Beziehung, auch bleibt Antigones Selbstmord von Hegel unberücksichtigt. Hegels Rückgriff auf die Antigone in der Philosophie des Rechts ist ebenso partiell und inadäquat wie in der Phänomenologie: auch hier dient Antigone als Paradigma für die Gebundenheit der Frau an die Familie. Das Stück repräsentiert hier aber nicht die ideale Beziehung zwischen Bruder und Schwester, sondern Hegel zieht es für die Analyse der Beziehung zwischen Ehepartnern heran. Hegel sucht hier nicht mehr die begierdefreie Beziehung, sondern fragt, wie die Heirat die Begierde und den Standpunkt der Verträge transzendieren kann. In beiden Untersuchungen, so MILLS' Resümee, mißbraucht Hegel Antigone, um ein überzeitliches Ideal der Frau als Mutter und Ehefrau zu entwickeln, ein Ideal, das die Frau auf den Bereich der Familie, die Sphäre des animalischen Lebens einschränkt. Eine wünschenswerte Bereicherung der vorliegenden Untersuchung wäre die Berücksichtigung von Hegels Jenaer Arbeiten; Hätten sie doch Einblick in die Entwicklung jener Argumente gegeben, die Hegel den Verzicht auf eine „natürliche Sittlichkeit", die Aufgabe der materiellen Arbeit als Ausgangspunkt für die praktische Philosophie und damit einhergehend die Veränderung der Stellung der Familie in der Gesellschaft erforderlich erscheinen lassen. Elisabeth Weisser (Bochum)

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Ruggero Morresi: Hegel. Invito al sistema [Hegel. Einladung zum System], Macerata: Antonio Olmi Editore 1984. 94 S. (Universitä degli Studi di Macerata. Facoltä di Lettere e Filosofia. Istituto di Filosofia.) „Einladung" will eine erste Orientierung für diejenigen anbieten, die sich Hegel nähern wollen. Sie liefert einen Überblick über die Texte Hegels, über ihre Weiterwirkung und wichtigsten Interpretationen, sowie über die Sekundärliteratur, die dem italienischen Leser zugänglich ist, und die theoretischen Debatten, die die Hegelsche Philosophie bis in unsere Tage in Italien weiter angeregt hat. Über die einleitende Absicht hinaus ist eine interpretatorische Intention in dem Text MORRESIS vorhanden, dessen geschichtlich-philosophische Perspektiven in dem Vorwort (7—8) kurz präsentiert werden: Es geht um den Hegel des „Systems" und der „Dialektik", also vor allem den Berliner Hegel der Enzyklopädie und denjenigen, der weiter in dem Marxismus gewirkt hat. So kann MORRESI selber seine Lektüre polemischerweise als „unzeitgemäßen Versuch" behaupten, in Hegel die Systematik und die Verflechtung von Geschichte und Philosophie wieder zu suchen, als deren Negation die meisten nachfolgenden Entwicklungen sich im allgemeinen definieren lassen. Gemäß diesem Plan behandelt das erste Kapitel gleich „Das systematische Denken" (9—32) und beabsichtigt, den Einstieg in die Hauptthemen des „systematischen" und „dialektischen" Hegel zu ermöglichen. In einem zweiten Kapitel, „Leben und Werke" (33—52), wird die Entwicklung Hegels mit den wegen der Kürze notgedrungenen Simpüfizierungen vorgelegt. Das dritte Kapitel, „Bibliographische Hinweise" (53—67) ist wahrscheinlich für die „Anfänger", an die sich das Buch MORRESIS wendet, das nützlichste, da dort eine erste Information über die verschiedenen Ausgaben und italienischen Übersetzungen sowie eine erste Orientierung über die Sekundärliteratur und die philosophisch wichtigsten Auseinandersetzungen mit Hegel gegeben werden. In dem Anhang, „Lektüre zu Hegel und zur Dialektik" (68—94), präsentiert MORRESI nochmals einige von ihm schon veröffentlichte Rezensionen bezüglich italienischer Arbeiten und Diskussionen über Hegel (die besprochenen Autoren sind: LUGARINI, LANDUCCI, SICHIROLLO, SEVERINO und COLLETTI). Gabriella Baptist (Roma/Bochum) MORRESIS

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Neuere persische Hegel-Übersetzungen

Der Beschäftigung mit Hegels Philosophie widmen sich bislang nur wenige iranische Akademien, und eine solche Beschäftigung findet bislang auch nur durch sehr wenige Übersetzungen der Hegelschen Werke Unterstützung. Von den Übersetzungen sind besonders die beiden von HAMID ENAYANT hervorzuheben. Es ist zunächst aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte der Einleitungsband Die Vernunft in der Geschichte. Diese Übersetzung, die bei der Scientific Press Institution of Aryamehr Technical üniversity 1976 in Teheran erschienen ist, stützt sich neben der deutschen Vorlage auf die englische Übersetzung von C. }. SiBREE. (New York 1956) sowie auf die Übersetzung von H. B. NisBET (Cambridge 1975) und auf die französische Übersetzung von KOSTAS PAPAOIANNou (Paris 1965). Vom gleichen Verfasser stammt die Übertragung eines Abschnitts der Phänomenologie: Lord and Bondsman. Part of Phenomenology of Mind. Hegel. With a comment by Alexandre Kojeve, 1973 erschienen. H. ENAYANT kann als der berühmteste iranische Wissenschaftler gelten, der sich mit der Philosophie Hegels beschäftigt. Neben den genannten Texten übersetzte er z. B. auch ein Buch über Hegel (V. T. STACE: Philosophi/ of Hegel). Da er im Deutschen, Französischen und Englischen zuhause ist, sind seine Übersetzungen nicht nur zuverlässig sondern glänzend. Von MAHMUD EBADIAN, der sich mit einer Arbeit über die persische klassische Poesie sowie mit einer Hamburger Dissertation über LUKäCS' Ästhetik ausgewiesen hat, liegt eine Übersetzung der Einleitung zu Hegels Ästhetik nach folgender Ausgabe vor: G. W. F. Hegel: Ästhetik. Bd 1. Berlin und Weimar 1976. Dieser persische Text erschien in Teheran 1984. M. E.

G. W. F. Hegel: Fragments de la periode de Berne (1793—1796). Introduction par Robert Legros. Traduction par Robert Legros et Fabienne Verstraeten. Paris: Vrin 1987. 110 S. (Bibliotheque des textes philosophiques.) der 1980 mit einer Studie zum jungen Hegel hervorgetreten ist (Le jeune Hegel et la naissance de la pensee romantique; vgl. dazu: Hegel-Studien. 17 [1982], 229—31), die im Anhang bereits eine Übersetzung eines zentralen Textes, des sog. Tübinger Fragments, enthielt, legt mit dieser Ausgabe eine Übersetzung der Fragmente vor, die im ümkreis des Tübinger Fragments in Bern niedergeschrieben worden sind (Nohl 359—60, 30—71), sowie jener Fragmente, die in den ümkreis der Positivitäts-SchriÜ gehören, hierunter vor allem die bedeutsamen — weil den Kantianismus in Auflösung zeigenden — „Zusätze" (Nohl 214—39, 361—62, 366; Rosenkranz 510—12). In einer ausführlichen und die wichtigsten Probleme würdigenden Einleitung (7—32) zeigt LEGROS, wie Hegel seine eigene philosophiLEGROS,

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sehe Position vor allem in Auseinandersetzung mit der Tübinger Orthodoxie gewonnen hat. C. J.

Martin Bondeli: Hegel in Bern. Bern, Phil. Diss. 1987. 402 S. Die Arbeit vereinigt historische wie philosophisch-systematische Forschungsund Diskussionsansätze zum Berner Hegel in der Absicht, ein möglichst zusammenhängendes, verdichtetes BUd seiner damaligen Denkperiode zu gewinnen. Ein besonderes Anliegen ist dabei, die Berner Fragmente der Theologischen Jugendschriften sowie die Erläuterungen in der „Ersten Druckschrift" vom Berner Kontext her auszuleuchten. Im ersten, vorwiegend historischen Teil der Arbeit werden vorliegende Forschungsansätze zu biographischen, kulturellen und politischen Hintergründen von Hegels Berner Zeit (STRAHM, HASLER, D'HONDT) aufgenommen und weitergeführt. Es wird u. a. gezeigt, daß die gängige Auffassung, wonach diese Zeit unglücklich bzw. die damalige Situation Hegels unwürdig gewesen sein soll (v. a. HAYM, DILTHEY), allzu eingleisig verfährt. Denn beachtenswert ist immerhin: Hegel erhält vom bernischen Staat des Anden regime wichtige Anregungen für die Konkretisierung seiner Kritik der orthodoxen christlichen Religion, deren Spuren deutlich noch in der Phänomenologie des Geistes zu finden sind; und auch das bernische Geistesleben steht in näherem Bezug zu Hegelschen Thematiken — v. a. die Auseinandersetzung mit dem KANTianismus und mit FICHTE betreffend —, als man bisher vermutet hat. Vieles in Hegels Berner Denkversuchen, das sehr oft als Zeichen einer persönlichen Niedergeschlagenheit oder intellektuellen Krise diagnostiziert worden ist, läßt sich zudem mit gutem Recht dem notwendigen Pessimismus seines dezidiert zeitkritischen Standpunktes zuschreiben. Der zweite Teil der Arbeit exemplifiziert Hegels kritische Darstellung der christlichen Religion anhand einer detaillierten Interpretation der Berner Fragmente der Theologischen Jugendschriften. Das Augenmerk liegt hier auf der Verklammerung von vereinigungsphilosophischen Motiven (Versinnlichung der Religion) mit der Kritik der christlichen Religion, die sich allmählich sozialtheoretisch und geschichtsphilosophisch reflektiert und insgesamt als praktisch zu realisierende Theorie konzipiert ist. Das philosophische Programm, das diese Denkwege ausdrückt, kann als Anwendung der KANTischen „praktischen Vernunft" auf verschiedene empirische Gegenstände bezeichnet werden. Dargelegt wird, wie Hegel in der Durchführung dieses Programms in eine — selbst nicht durchwegs explizierte — zwiespältige Konstellation zur KANTischen (z. T. auch FICHTEschen) Auffassung von „praktischer Vernunft" bzw. „Moralität" gerät. Einerseits setzt er sich von ihrer aprioristischen und dualistischen Struktur in Richtung Vereinigungsphilosophie ab, andererseits bleibt er in der Kritik der alten Metaphy-

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sik, die sich nicht zuletzt auch in seiner dosierten Skepsis gegenüber dem Weg der neueren Ich-Spekulation niederschlägt, dem KANxischen Vorbild treu. Demgemäß sind seine eigenen „spekulativen" Denkfiguren am Ende der Berner Zeit unmittelbar mit dem Konkreten des thematisierten Gegenstandes verwoben; sie erscheinen im Rahmen eines — durch SCHILLERS „ästhetische Idee" mitbeeinflußten — neuen moralischen Staatsganzen, das als solches auf ein utopisches Absolutes abhebt. Die Gründe für das verhältnismäßig spekulationsferne Denken des Berner Hegel liegen nicht so sehr in seiner philosophieintemen Entwicklung, als vielmehr in dem in die Zeitumstände involvierten kritischen Standpunkt sowie in der gewonnenen Einsicht in die entzweite soziale Entwicklung im Zuge der Französischen Revolution. Der zweite Teil der Arbeit bezieht auch Stellung zu weiteren zentralen Kontroversen in der Sekundärliteratur zum jungen Hegel, so zur fast schon legendären Streitfrage um die generelle Ausrichtung der Jugendschriften (theologisch versus politisch) und zum Problemkreis „Entstehung der Dialektik". M. B.

Marco de Angelis: Lo sviluppo del pensiero giovanile di G. W. F. Hegel (1788—1803): la nascita ed il significato del suo sistema filosoßco. Napoli,

Phil. Diss. 1983. Die Arbeit versucht nachzuweisen, daß Hegel die theoretische Grundlage einer neuen allgemeinen Gemeinschaft, ihre Gründung auf absolute und allgemeine Werte, durch sein philosophisches System bereitgestellt hat. In einer Rekonstruktion der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens, die sich selbst als „genetisch" und „dialektisch" kennzeichnet, wird diese These erhärtet. In einem ersten Abschnitt rekonstruiert der Verfasser die Tübinger Entwicklung des Hegelschen Denkens. Wichtig wird hier das Ideal einer Religion, in der die für die Gemeinschaft konstitutiven moralischen Werte begründet sind. In einem zweiten Abschnitt wird die Entwicklung in Bern und Frankfurt (1798) nachgezeichnet. Hegel vertritt hier die Meinung, daß JESUS eine solche ideale Religion durch seine Lehre von der Liebe bereits begründet hatte. Mißverständnis und Verzerrung dieser ursprünglichen Lehre Jesu führen zu einer „positiven" Religion, in der die vernünftige Grundlage zu einer autoritären umgewandelt wird. Der dritte Abschnitt der Arbeit stellt die Entwicklung von Frankfurt und Jena (bis 1803) dar. Der Übergang zum System wird so charakterisiert, daß Hegel die Vorstellungen der Lehre JESU, also sein „Ideal", in philosophische Begriffe transponiert: Der Begriff Gottes beispielsweise wird zum Begriff des Absoluten, die moralische Vorstellung der Liebe zum Begriff der Anerkennung. Diese beiden

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Begriffe werden dann auch zu grundlegenden Begriffen des Systems der Philosophie, das Hegel anschließend entwickelt. Vernünftige Religion und Philosophie fallen so gesehen zusammen. Der letzte Teil der Arbeit versucht, in Erhärtung der Eingangsthese, die Philosophie Hegels mit den wichtigsten ethiko-politischen Problemen unserer Zeit (z. B. dem Problem des Friedens) in Beziehung zu setzen. Marco de Angelis (Stuttgart)

Paolo Becchi: Contributi ad uno studio delle ßlosoße del diritto di Hegel. Geno-

va: Ecig 1984. 282 S. Wie BECCHI selbst erklärt, besteht dieses Buch, dem Andenken K.-H. ILTINGS gewidmet, aus einer Sammlung von Aufsätzen und „Entwürfen einer Abhandlung" zur Hegelschen Rechtsphilosophie. Im ersten Kapitel, zum „neuen Zustand der Quellen", optiert BECCHI zugunsten der Wichtigkeit der ersten Hegelschen Rechtsvorlesungen (Heidelberg 1817/18). Sie sind für ihn „die ursprüngliche Fassung der Rechtsphilosophie Hegels" (25; vgl. 26, 43, 175, 184 über die Grundlinien als „Fälschung"). Diese Interpretation wird im zweiten Kapitel fortgeführt, wo BECCHI die Unterschiede zwischen den Grundlinien und den vorigen Vorlesungen (1817/18, 1818/19) hinsichtlich der Stellung Hegels gegenüber dem „Naturrecht" und hinsichtlich der Äußerungen über die Vernünftigkeit des Wirklichen darstellt. Das sechste Kapitel (161—190) enthält einen weiteren Beitrag in derselben Intention: hier handelt es sich um die Entwicklung der Hegelschen Auffassung der „fürstlichen Gewalt". Die „liberale" Stellung Hegels in der Vorlesung von 1817/18 sei im Blick auf seine Kontakte mit COUSIN und das Interesse für die KonsHtutionsdebatte, die in Frankreich stattfand, zu verstehen. Zum Hauptthema des dritten Kapitels („Unterschiede im Begriff ,bürgerliche Gesellschaft'") wählt BECCHI die Darlegung der mehrfachen und umfassenden Bedeutung der „bürgerlichen Gesellschaft" im Rahmen der Grundlinien. Vor allem lehnt er die Reduktion dieses Begriffes auf die „philosophische Rezeption der Inhalte der Nahonalökonomie" (67) ab bzw. deutet die Leistung, die Hegel der „Polizei" zuschreibt, als Korrektiv der selbständigen wirtschaftlichen Abläufe (81 ff). Im vierten Kapitel, dessen Anfang und Ansatz ein polemischer Satz der ersten Rechtsphilosophievorlesungen gegen SAVIGNY ist, hebt BECCHI die Schwäche der Hegelschen Besitzlehre hervor (der „Besitz" werde nicht angemessen vom „Eigentum" unterschieden: 114 ff), aber er zeigt zugleich die politischen Hintergründe des Streites an (117). Das fünfte Kapitel des Textes kehrt zu der ersten Vorlesung zurück, diesmal um die Stellung Hegels im Kodifikationsstreit zu beleuchten; in seiner ersten Rechtsphilosophie habe Hegel den unvermittelten Gegensatz zwischen „Gesetzespositivismus" und „Richterrecht" (also zwischen THIBAUT und SAVIGNY) über-

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wunden und einen eigenen „Mittelweg" gesucht, und zwar einen, „der, ohne dem Richterentschlusse jeden erneuernden Charakter zu verweigern, die Abhängigkeit des Richters vom Gesetz erkennt" (152, vgl. 140 ff). Der Band wird abgeschlossen mit drei kurzen Anhängen, die einige Interpretationen des Hegelschen politischen Denkens enthalten. Vladimiro Giacche (Pisa)

Ken-ichi Iwaki: Die Idee des Schönen in der Geschichte — Hegels Ästhetik. In; Die Schönheit — Kunst — Wahrheit. Deutsche Ästhetik. [Japanisch.JHrsg. von Takao Ohta, Ken-ichi Iwaki und Aritsune Yonezawa. Showado-Verlag 1987, 307 S. Hegels Gedanken über die Kunst wurzeln im deutschen ästhetischen Humanismus (H. KUHN), dessen gemeinsame Intention im sog. „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus" am ausdrücklichsten geäußert wird; der Wunsch, die Zerrissenheit der modernen Welt zu überwinden und eine neue Einheit herzustellen. Dabei werden Kunst und Schönheit als Vermittler der gewünschten Wahrheit (Idee) ausgezeichnet (Einleitung). Der Kunst kommt damit für Hegel von Anfang an eine wichtige gesellschaftliche Funktion zu (wie die 4 ersten Abschnitte des 1. Teils der Arbeit zeigen). Zugleich bestimmt sich mit dieser Auffassung der Kunst das Schicksal der Kunst: ihre höchste Funktion wird an eine Welt der Vergangenheit verwiesen werden müssen, insoweit Hegels philosophische Einsicht in die Geschichte vertieft, sein System des Wissens als vollendet erscheint (so die Abschnitte 5 und 6 des 1. TeUs). In der Darstellung der Entwicklung der Hegelschen Gedanken über die Kunst versucht der Verf. klarzumachen, daß bei Hegel die Ausbildung seines Systems und die Vertiefung der Einsicht in die Geschichte, vor allem in die moderne Gesellschaft, untrennbar verbunden sind. Der Vergangenheitscharakter der Kunst liegt also darin, daß ihre gesellschaftliche Funktion systematisch wie gesellschaftlich durch die christliche Religion überholt wird, und darin, daß die Zerrissenheit der modernen Welt eine Versöhnung durch die Kunst ausschließt (Abschnitte 7 bis 9). Deshalb bleibt für die nachhegelsche Ästhetik die Auseinandersetzung mit der These vom Vergangenheitscharakter der Kunst eine der dringlichen Aufgaben. In diesem Zusammenhang diskutiert der Verf. drei gegenwärtige Interpretationen der Hegelschen Ästhetik von D. HENRICH, R. BUBNER und A. GETHMANN-SIEFERT, die auf verschiedene Weise versuchen, die Aktualität der Hegelschen Ästhetik auch bei fortgeltender These vom Ende der Kunst festzuhalten und auch die Möglichkeit der Kunst in unserer Zeit und damit die der Ästhetik zu begründen. In diesen Interpretationen zeichnen sich zugleich die Hauptprobleme der gegen-

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wärtigen philosophischen Ästhetik ab; die Bestimmung der Beziehung zwischen Philosophie und Gegenwartskunst, mit anderen Worten die Beziehung zwischen Wahrheit, Kunst und Schönheit sowie die Bestimmung des Scheinbegriffs (so im Absatz 1—4 des 2. Teils der Arbeit). Im abschließenden 3. Teil versucht der Verf. die Frage zu erörtern, ob nicht Hegels Lehre von der Komödie, besonders die Konzeption des objektiven Humors eine Möglichkeit der nachklassischen Kunst eröffne. Immerhin kommt dieser Konzeption des Humors eine erhebliche Tragweite zu, vielleicht tiefgreifender als man gemeint hat, wenn man die Eigentümlichkeit der modernen von der alten Kunst im Verlust des substantiellen Gehalts betont hat. K. 1.

'Werner Jung: Schöner Schein der Häßlichkeit oder Häßlichkeit des schönen Scheins. Frankfurt: Athenäum 1987. 406 S. Bemerkenswert ist die ästhetische Zäsur am Ende des 18. Jahrhunderts. Aufgegeben wurde hier die Geschmacksästhetik zugunsten einer Philosophie der Kunst, die die Reflexion über das Schöne ganz in die Sphäre der Kunstwerke verlegt und diese heteronom — gemessen am fortgeschrittenen Stand der Zeit — bestimmt. Erst dem frühen 19. Jahrhundert in Deutschland ist die eigene Zeit auf dem Feld der Ästhetik deutlich ins Bewußtsein getreten. Einheitlich bezogen sind alle Theoretiker, Künstler und Philosophen auf die „Epochensignatur" (HEINE) der französischen Revolution, jene „größte Tendenz des Zeitalters" (FR. SCHLEGEL). Mit ihr beginnt eine neue Zeit, das bürgerliche Zeitalter, an dessen Einschätzung sich sogleich die unterschiedlichen Diskurse, Kunst und Philosophie, das Werk und seine ästhetische Reflexion entzweien. Aus den Abneigungen und Vorurteilen, aus dem, wovor eine Zeit die Augen verschließt und sich ekelt, zeichnen sich die Konturen einer Epoche schließlich schärfer ab als im verklärenden Schein des Schönen. Unter solchen Gesichtspunkten kann in sozialgeschichtlicher Hinsicht eine „Ästhetik des Häßlichen" mehr Interesse beanspruchen als eben jene Form, in deren Zentrum der Begriff des Schönen steht. In der Auseinandersetzung mit den Problemen des Häßlichen lassen sich zudem alle anderen, die ästhetische Diskussion beherrschenden Themenkreise finden: das Verhältnis von Antike und Moderne, von Geschichtsphüosophie und Philosophie der Kunst sowie vor allem die Begründungsproblematik einer spezifisch modernen Kunst. Diese Arbeit fährt den großen Linien der ästhetischen Debatten im 19. Jahrhundert nach. Sie setzt an bei der Poetik der Frühromantiker, die sich erstmals mit Überlegungen zum Phänomen der ästhetischen Häßlichkeit beschäftigen, und gelangt über verschiedene Ausgrenzungen in der Ästhetik des deutschen Idealis-

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mus zur erneuten Annäherung von Kunst und Philosophie bei SCHOPENHAUER, WAGNER und NIETZSCHE. Anhand der beschriebenen Entwürfe liefert die Arbeit eine Phänomenologie der Ausgrenzungen, des ästhetischen Verbots ebenso wie des moralisch Verwerflichen: das, was mit dem Begriff des Häßlichen tabuisiert und aus dem ästhetischen Diskurs des 19. Jahrhunderts verdrängt wurde, verweist darüber hinaus auf die Kunst der Moderne. Die Untersuchung versteht sich als hermeneutisch-kritische Studie, die interdisziplinär in dem Sinne verfährt, daß sie einen Beitrag zur philosophischen Diskussion um ästhetische Theoriebildung leisten und einen Versuch zur Bestimmung der Moderne darstellen wUl. W. J.

Dietmar Voss: Wahrheit und Erfahrung im ästhetischen Diskurs. Studien zu

Hegel, Benjamin, Koeppen. Frankfurt a. M./Bern: Peter Lang 1983. 369 S. Der Zweck dieses Buches liegt, wie Voss im Vorwort erklärt, darin, eine Fixierung der HauptUnien einer „kohärenten materialistischen Theorie" der Kunst zu entwickeln. Erreichbar erscheint dieser Zweck durch eine kritische Konfrontation der ästheHschen Theorie BENJAMINS mit der ästhetischen Philosophie Hegels. Die Resultate dieser Überlegungen sollen an der Analyse dichterischer Prosa erhärtet werden, um zu zeigen, wie weit die Kunst heute noch dem Anspruch genügen kann, „Wahrheitsmittlung" zu sein. Natur und Grenze der in diese Überlegungen integrierten Hegelinterpretation sind damit benannt. Weder eine eingehende Analyse der Texte noch die Diskussion der Literatur über Hegels Ästhetik liegt in der Intention des Verfassers, sondern eine Art „Übersetzung" oder Reformulierung der Hegelschen Begriffe in die Sprache des geschichtlichen Materialismus. Leider wird an den einzelnen Beispielen nicht klar (es sei besonders auf die Reformulierung des Geistbegriffs hingewiesen, vgl. 93), was unter Integration des Idealismus in den Materialismus genau gemeint ist, denn der Materialismus des Verfassers wirkt zeitweise wie eine Mischung aus marxistischen und psychoanalytischen Begriffen, konzipiert etwa im Sinne MARCUSES oder LYOTARDS. Auf dieser Folie bleiben auch die direkten Aussagen über Hegels Ästhetik entweder zu oberflächlich oder gehen an der Sache vorbei, so wenn Hegel vorgeworfen wird, daß er die Kunst nicht als „Diskurs des Unbewußten" im Sinne FREUDS oder LACANS konzipiert. So kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese materialistische Reformulierung ca. 10—15 Jahre zu spät erscheint, wobei die entliehene Aktualisierung der materialistischen Konzeption bei LACAN, FREUD, LYOTARD nicht über

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das Manko hinwegtäuscht, daß die zugrundeliegenden idealistischen Konzeptionen als solche gar nicht zu Wort kommen. Paolo D'Angelo (Rom)

Gerhard Pastermck: Georg Lukdcs. Späte Ästhetik und Literaturtheorie. Königstein/Ts. 1985. 212 S. Eine angemessene Rezeption von LUKäCS' später Ästhetik ist nach Ansicht PASTERNACKS bisher nicht erfolgt — ihr stand gerade auch die Realismusdebatte der dreißiger Jahre, deren nur mangelhafte theoretische Voraussetzung eine konsistente Explikation der Differenzen verhinderte, im Wege. Nicht nur um dem Spätwerk historische Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, sondern wegen seiner Bedeutsamkeit für die Klärung zentraler Probleme der Ästhetik will die vorliegende Monographie das Spätwerk stärker in die Diskussion einbringen. Im ersten Kapitel widmet sich die Studie der Frage der Stellung LUKäCS' im Kontext der philosophischen ästhetischen Tradition (wegen der Bedeutsamkeit der Auseinandersetzung mit dem Werk Hegels für die Ausbildung des Standpunkts der Ästhetik soll dieser TeU in erster Linie vorgestellt werden). Das zweite Kapitel leistet eine systematisch-historische Explikation der Mimesiskonzeption, das abschließende dritte Kapitel rückt das Verhältnis von philosophischer Ästhetik und Einzelwissenschaft (Literaturwissenschaft) ins Zentrum der Betrachtung. Gegenüber bereits vorliegenden Studien zur späten und mittleren Ästhetik (Realismusdebatte) betont PASTERNACK den systematischen Zusammenhang, von dem her die einzelnen Theoreme — hier vor allem die Konzeption der Mimesis — allererst verständlich werden können. Die Ästhetik LUKäCS' ist zum einen der Tradition ästhetischer Reflexion verpflichtet, die seit KANT die Besonderheit der ästhetischen Erkenntnis- bzw. Bewußtseinsleistung zu begründen sucht, zum anderen steht diese Ästhetik aber auch in der Tradition systematisch historischer Explikation, die (seit Hegel) auf eine Einbeziehung der Kunstempirie zielt. So bildet für LUKäCS schon in den frühen Heidelberger Entwürfen die Erkenntnistheorie — hier vor allem die SubjektObjekt-Problematik — den Rahmen für die ästhetischen Reflexionen, ohne daß allerdings die ästhetische Setzung bewußtseinstheoretisch aufgefaßt würde. Die Auseinandersetzung mit der Hegelschen Ästhetik versteht LUKäCS nicht als Weiterentwicklung sondern als einen „Sprung", als das „erstmalige Aufbauen der Ästhetik auf wirklich wissenschaftlichen Grundlagen". Die Auflösung der identitätsphilosophischen Konzeption in Ontologie und Erkenntnistheorie macht es notwendig, die Widerspiegelungstheorie zur „Kerntheorie der Ästhetik" und zur Grundlage der Mimesiskonzeption auszubilden. So ist „trotz Übernahme der Historizität" LUKäCS' Mimesiskonzeption keine Weiterentwicklung der Hegeltradi-

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LITERATURBERICHTE UND KRITIK

tion, sondern „ein neuer theoretischer Ansatz, der in seinen seinstheoretischen . . . Bestimmungen der Subjekt-Objekt-Relation immer auf die erkenntnistheoretische Explikation des Subjekt-Objekt-Verhältnisses angewiesen bleibt" (18). An einzelnen traditionellen Fragestellungen zeigt PASTERNACK, wie LUKäCS diese aufgreift und mit dem veränderten methodischen Verfahren zu lösen sucht: da z. B. für Hegel der Schein selbst dem Wesen wesentlich ist, kommt es zu einer Differenzierung in der Wirklichkeitserfassung (im Gegensatz zu KANTS strikter Trennung zwischen Schein und Wirklichkeit), die LUKäCS im Rahmen seines Ansatzes fruchtbar macht: dieselbe Wirklichkeit wird in Kunst, Wissenschaft und Alltagsleben in unterschiedlichen Formen abgebildet. Der Mimesiskonzeption fällt die Aufgabe zu, den theoretischen und begrifflichen Rahmen für die ExplikaHon der Differenzierung der einzelnen Formen bereitzustellen. PASTERNACK zeigt, wie Mimesis bei LUKäCS sich von einer bloßen Abbildrelation und der PtATONischen imitation abgrenzt, inwiefern sie eine „Strukturierungsoperation" leistet, die zur „Bewältigung der Wirklichkeit in unterschiedlichen Bereichen" befähigt. E. Weisser (Bochum)

Georg Lukäcs and His World. A Reassessment. Ed. by Ernest Joös. New York, Bern, Frankfurt am Main, Paris 1987. 195 S. Der vorliegende Band vereinigt die Beiträge eines LuKÄcs-Symposions (Montreal 1985). Das gemeinsame Anliegen ist, einige zentrale Positionen des Werkes von GEORG LUKäCS — die Stellung zu Hegel und MARX, die Theorie der Entfremdung und die Ästhetische Theorie — einer philosophischen Prüfung zu unterziehen. Hier sollen nur jene Vorträge, die sich mit dem Hegel-BUd LUKäCS' auseinandersetzten, vorgestellt werden. G. L. KEINE geht in seinem Vortrag Lukäcs' use and äbuse of Hegel and Marx den theoretischen Inkonsistenzen von Geschichte und Klassenbewußtsein nach. Diese offenbaren sich für KEINE in Hegelschen und „wissenschaftlichen" Tendenzen, etwa in der Art, wie LUKäCS „Hegel überhegelt", in seiner Fassung des Hegelschen Selbstbewußtseins als Klassenselbstbewußtsein, der eher FicHTEschen als Hegelischen Auffassung des identischen Subjekt-Objekt, das den (nicht dialektischen) Dualismus (ENGEESscher und vor allem LENiNscher Provenienz) überwindet. KEINE zeigt, wie sich selbst in ausgesprochen Hegelschen Begriffen Spuren jener Marxistischen Tradition finden, die von den späten Schriften ENGEES' über DIETZGEN und PEEKHANOV ZU LENINS Materialismus und Empiriokritizismus führen. Zusammenfassend stellt KEINE mehr Mißbrauch als Gebrauch Hegels fest: LUKäCS verdreht und verkürzt Hegels Position und verfällt in seiner Auffassung der welthistorischen Aufgabe der Kommunistischen Partei jener Begriffsmythologie, deren er Hegel anklagt.

Kurzreferate und Selbstanzeigen

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Zweifellos gaben LUKäCS' Auseinandersetzungen mit Hegel den Anstoß für eine neue fruchtbare Diskussion über die Beziehung zwischen MARX und Hegel. Für TOM ROCKMORE (Lukäcs' Marxist Hegel) gibt es trotz der Differenzen in der Hegelauffassung von Geschichte und Klassenbewußtsein, Der junge Hegel und Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins einen konstanten Kritikpunkt LUKäCS' an Hegel: die Antinomie zwischen System und Methode. Obwohl für ROCKMORE die Wurzeln dieser Kritik bei EMIL LASK liegen, dessen Denken für LUKäCS schon vor 1918 bedeutsam wurde, enthält für ihn das (vormarxistische) Frühwerk keinen entscheidenden Beitrag zu Hegel — ein Blick in die Theorie des Romans und die Heidelberger Ästhetik lehrt allerdings anderes. ROCKMORES Auseinandersetzung mit LUKäCS' Hegeldeutung setzt bei Geschichte und Klassenbewußtsein ein und zeigt, welches Hegel-Bild die schematische, den MARxschen Weg als endgültige Lösung voraussetzende Betrachtungsweise zeitigt: die Darstellung des Hegelschen Standpunktes erfolgt von Anfang an mit MARXscher Begrifflichkeit, die die Hegelsche Position verkürzt wiedergibt und die LuKÄcssche Argumentation schließlich zirkulär werden läßt. Der junge Hegel relativiert — trotz des Fanatismus der SxALiNistischen Periode — dieses Hegel-Bild: nun wird die Beziehung zwischen Philosophie und Ökonomie zum zentralen Thema, trotz der Absicht, die Überlegenheit der MARXschen Position zu verdeutlichen, legt LUKäCS hier eine wertvolle Studie zur Philosophie des jungen Hegel vor — die Beschränkung auf das Frühwerk erspart LUKäCS die Überprüfung der eigenen Thesen an der Rechtsphilosophie. Auch in jenem Werk, das den Abschluß seines Denkens bUden sollte, widmet LUKäCS Hegel ein umfangreiches Kapitel, ünter dem Titel „Hegels falsche und echte Ontologie" zeigt er in Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, daß Hegels Ontologie dort falsch ist, wo sie dem KANTischen Standpunkt verpflichtet bleibt, nützlich ist sie für die Gegenwart dort, wo sie sich ARISTOTELES verpflichtet weiß. Trotz der tiefen Einsichten in die Hegelsche Philosophie ist es, so ROCKMORE abschließend, stets das Ziel der Analysen von LUKäCS, den Idealismus gegenüber dem Materialismus herabzusetzen, eine Absicht, die stets die unhegelsche Grundeinstellung der üntersuchungen offenbart. E. Weisser (Bochum)

Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. ,Frankfurter Ausgabe'. Bd 15: Pindar. Nach Vorarb. v. Michael Franz und Michael Knaupp hrsg. v. D. E. Sattler. Frankfurt a. M.: Verlag Roter Stern 1987. 383 S. Pindar-Übersetzungen, besonders die Große Pindar-Übertragung vom Frühjahr 1801 und die im Sommer 1805 entstandenen Pindar-Kommentare (im Übersetzungsband der Stuttgarter Ausgabe unter der irreführenden Überschrift HöLDERLINS

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LITERATURBERICHTE UND KRITIK

„Pindarfragmente" eingereiht), haben in letzter Zeit verstärkt das Interesse der Forschung gefunden (M. FINK; A. SEIFERT). Nahm man die HöLOERLiNschen Kommentare früher mehr als subjektive Umdeutungen PINDARS, SO wissen wir heute, daß sehr subtile und konsequente Deutungen vorliegen, in denen immer auch der Vorgang der Deutung reflektiert wird. Die Textgruppe gehört nicht nur zeitlich, sondern auch thematisch in den Umkreis der späten Hymnen und Hymnenentwürfe und der Sophokles-Arbeiten. Sie bildet die letzte Stufe von HöLDERLINS Auseinandersetzung mit der Antike und ist in ihrer Absage an jeden Klassizismus, wie SATTLER in seinem Vorwort zu Recht bemerkt, „die Geburt der Moderne aus dem Geist der Antike" (11). Die vorliegende Ausgabe enthält vor allem HöLDERLINS Übertragung der Olympischen Oden (sieben Verse aus der 1. Olympischen Ode waren Lieblingsworte der Freunde Hegel, HöLDERLIN und SINCLAIR), der Pythischen Oden und die 9 PindarKommentare. Ein großer Fortschritt gegenüber allen früheren Ausgaben ist, daß wir jetzt den griechischen Text, nach dem HöLDERLIN übersetzt hat, auf der linken Seite der Übersetzung jeweils gegenüber gestellt finden (was besonders bei den Sophokles-Übersetzungen, die demnächst erscheinen sollen, hilfreich sein wird). Problematisch scheint mir das auch innerhalb der Ausgabe lange umstrittene Verfahren, dem griechischen Text eine deutsche Interlinear-Version beizugeben, denn auch für den nicht des Griechischen mächtigen Leser bildet sie eine nur äußerst unzulängliche HUfe bei der Überprüfung der Gesetze von HöLDERLINS Übertragungskunst. „Das Unmittelbare, streng genommen, ist für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen." C. J.

Internationale Hölderlin-Bibliographie (IHB). Hrsg, vom Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Erste Ausgabe 1804—1983. Bearbeitet von Maria Köhler. Stuttgart; Frommann-Holzboog 1985. 756 S. Die langjährige Leiterin des Stuttgarter Hölderlin-Archivs, MARIA KöHLER, hat mit dieser umfassenden Bibliographie der internationalen Sekundärliteratur zu HöLDERLIN (die auf dem Schlagwort-Zettelkatalog des Archivs mit ca. 12 000 Titelkarten fußt) eine Art „Lebensernte" vorgelegt, für die ihr noch Generationen von Forschern Dank schulden werden. Die Bibliographie erschließt zum ersten Male und nahezu lückenlos die HöLDERLiN-Literatur von 1804 (GöRRES' Aufsatz über den Hyperion) bis zum 1. Oktober 1984, und zwar einschließlich ausgewählter Rezensionen, Zeitungsartikel und anderer weniger zugänglicher Beiträge. Für die Hegelforschung ist diese Bibliographie ebenfalls von hohem Wert, erlaubt ihre Anlage nach Schlagwörtern doch auch das rasche Auffinden von Lite-

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ratur zu den für die Erforschung der Geschichte des Frühidealismus zentralen Themen wie „deutscher Idealismus" (147 f), „FICHTE" (197 f), „SCHELLING" (554 f), bzw. „Hegel" (296 ff), „Hegel-Schule" (302) und schließlich „Philosophie" (525 ff). Aber auch Randfiguren wie MOLITOR (491), JOHANNES VON MüLLER (492), C. U. BöHLENDORFF (103 f), ISAAK VON SINCLAIR (574 ff), JACOB ZWILLING (673) oder SIEGFRIED ScHMiD (564 f) sind erschlossen. Für den Philosophen insgesamt wertvoll sind die Nachweise zur HöLDERLINRezeption ADORNOS (51 ff) und HEIDEGGERS (302 ff).' Auch PAUL CELAN ist verzeichnet (118 f). C.J.

Siegfried Gauch: Friedrich Joseph Enterich. Ein deutscher Jakobiner. Studien zu Leben und Werk. Frankfurt a. M., Bern, New York: Peter Lang 1986. 427 S. (Europ. Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur. Bd934.) Die vorliegende Arbeit, eine Mainzer Dissertation bei E. ROTERMUND, behandelt die Gestalt des Dichters und Publizisten EMERICH, der 1773 als Juristensohn in Wetzlar geboren wurde, 1795 am Reichskammergericht „Berufsverbot" erhielt und, enragierter Jakobiner, sich 1796 den französischen Revolutionsarmeen als Kriegsfreiwilliger anschloß, im September 1802 dann als „Wahnsinninger" in ein Würzburger Irrenhaus eingeliefert wurde, wo er im November 1802 nach einem Hungerstreik starb. GAUCH will mit seiner an Dokumenten reichen Darstellung einmal einen Beitrag leisten zu der „kontroversen Diskussion um HöLDERLIN als Jakobiner und als Kranken" (13), zum anderen einen Beitrag zum Verständnis des literarischen Jakobinismus in Deutschland. Für die Hegel-Forschung von Bedeutung ist das Buch, weil es Aufschlüsse erlaubt über die politischen Optionen im Frankfurt/Homburger Freundeskreis um Hegel, HöLDERLIN, SINCLAIR und ZWILLING (dem sich zeitweise auch SIEGFRIED ScHMiD, CASIMIR ULRICH BöEHLENDöRFFF und MUHRBECK anschlossen). Als Beamter im republikanischen Mainz trat EMERICH 1799 in Beziehung zu HöLDERLIN, woraus sich rasch eine Freundschaft entwickelte, auf die erstmals CH. WAAS 1936 hingewiesen hat. Im Kap. 6 (127 ff) zeichnet GAUCH detailliert EMERICHS Verwaltungstätigkeit in Mainz 1798—1801 nach. Wichtig wurden seine Freundschaften u. a. mit F^ W. JUNG. Über JUNG lernte EMERICH wohl „den Freund kennen . . ., dessen Nachruhm auch ihn selbst vor dem völligen Vergessenwerden bewahrte; HöLDERLIN." (130) Mitte 1799 war der Dichter nach Mainz gereist, um Mitarbeiter für sein geplantes Journal Iduna zu finden. Interesse nahm er vor allem an EMERICHS Gedichten. Nach Erscheinen von dessen Gedichtband im Dezember 1799 machte HöLDERLIN den Freund auf Unzulänglichkeiten aufmerksam. Interessant ist die

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LITERATURBERICHTE UND BCRITIK

Vermutung GAUCHS, HöLDERLIN habe EMERICH bereits 1795 in Jena kennengelernt. Während seines Studiums der Jurisprudenz in Marburg hatte sich EMERICH im September 1792 dem freimaurerisch organisierten Studentenorden der „Harmonisten" oder „Schwarzen Brüder" angeschlossen (29); in Wetzlar dann gehörte er zum jakobinischen Bund „Freunde der Wahrheit", einem revolutionären Kreis. In der Folgezeit unternahmen verschiedene Mitglieder Reisen in konspirativer Absicht, u. a. im März 1795 an die Universität Jena. Hier aber studierten im Frühjahr 1795 FRIEDRICH HöLDERLIN und ISAAK VöN SINCLAIR, letzterer war Mitglied im Orden der „Schwarzen Brüder". In der Beschreibung der Unterredung zwischen Hyperion, Alabanda und drei Fremden (Freunden Alabandas), die im ersten Band des Hyperion-Romans geschildert wird, vermutet GAUCH im ersten der Fremden ein Porträt EMERICHS (46), hinter dem zweiten WYTTENBACH, der später an HöLDERLINS Schicksal Anteil nimmt (220 f, Anm. 284). — Dieser intensive Austausch innerhalb der revolutionären Studentengruppen wäre eine eigene Untersuchung wert. Für die Hegel-Forschung von Bedeutung ist auch die Darstellung der politischen Publizistik EMERICHS; wichtig war hier die Mitarbeit an COTTAS Allgemeiner Zeitung, POSSELTS Annalen und ARCHENHOLZ' Minerva — sämtlich Zeitschriften, die der junge Hegel intensiv gelesen hat (vgl. die Bibliographie 309—12). Leider fehlt ein Personenregister, ohne das der informative Band kaum benutzbar ist. Christoph Jamme (Bochum)

Michael Knaupp: Gewißheit und Gegenwart. Das Selbstbegründungsproblem der Philosophie bei Hegel und Heidegger. Kassel, Diss. 1983 [masch. sehr.]. Die Arbeit, die Kasseler Dissertation des heutigen Mitarbeiters an der „Frankfurter HöLDERLiN-Ausgabe" in Bremen, behandelt das Fundierungsproblem der Philosophie am Beispiel der Begründungen philosophischen Wissens bei Hegel und HEIDEGGER. Hegel geht von den Stufen des Bewußtseins aus, HEIDEGGER von einer „Hermeneutik der Faktizität" genannten Daseinsanalytik. Das erste Kapitel („Hegel oder das Er-Innem") gipfelt in der These, „daß Hegels Philosophie als Grund des Wissens die Gewißheit als Gegenwart bestimmen würde und dies nicht, wie gefordert und von Hegel selbst behauptet, unmittelbar ist, sondern in einer Rückversetzung in die Vergegenwärtigung, die der Begriff leistet, geschieht, die als Er-Innern bezeichnet werden kann" (59). Im zweiten Kapitel („Heidegger oder das Er-Warten") zeigt KNAUPP, „daß HEIDEGGERS Philosophie als ihr eigenes Fundament die Gewißheit der Gegenwart bestimmen wolle und daß dies nicht gelingen könne, sich die konstruierte Gegenwart als ihr bloßes Er-Warten erweisen

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würde" (97). Was man der Untersuchung gewünscht hätte, wäre die Erweiterung des Vergleichs zwischen Hegel und HEIDEGGER um HöLDERLIN und die postmoderne Diskussion um die Grenze der Vernunft, wie sie jetzt von ANDRZEJ WARMINSKI {Readings in Interpretation. Hölderlin, Hegel, Heidegger. Minneapolis 1987) exemplarisch in Angriff genommen worden ist. C. J.

BIBLIOGRAPHIE

ABHANDLUNGEN ZUR HEGEL-FORSCHUNG 1986 Zusammenstellung und Redaktion: Elisabeth Weisser (Bochum)

In dieser laufend fortgesetzten Berichterstattung wird versucht, das nicht selbständig erschienene Schrifttum über Hegel, also Abhandlungen aus Zeitschriften, Sammelbänden usw. möglichst breit zu erfassen und im einzelnen durch kurze Inhaltsreferate bekanntzumachen. Die Anordnung geschieht alphabetisch nach den Namen der Autoren. Nachträge aus früheren Berichtszeiträumen sind in einem Anhang gesondert zusammengestellt. Nicht alle vorgesehenen Inhaltsreferate konnten bis zum Redaktionsschluß fertiggestellt werden. Sie werden im nächsten Band nachgeholt. Für diesen Band haben Berichte verfaßt: Edgardo Albizu (Lima, Peru), Georgia Apostolopoulou (Athen), Gabriella Baptist (Roma), Claudia Becker (Bochum), Gentscho Dontschev (Sofija), Felix Duque (Madrid), Istvän Feher (Budapest), Pierre Garniron (Paris), Sok-Zin Lim (Seoul), Eric von der Luft (New York), Mariano de la Maza (Santiago de Chile), Swiatoslaw Florian Nowicki (Warszawa), Lu de Vos (Leuven), Friedhelm NicoUn (Boim), sowie Wolfgang Bonsiepen, Hans-fürgen GawoU, Annemarie Gethmann-Siefert, Friedrich Hogemann, Walter Jaeschke, Christoph Jamme, HansChristian Lucas, Kurt R. Meist, Helmut Schneider und Elisabeth Weisser vom HegelArchiv (Bochum). Die über Hegel arbeitenden Autoren sind freundlich eingeladen, durch Einsendung von Sonderdrucken die Berichterstattung zu erleichtern. AUen, die solche Hilfe bisher schon leisteten, sei besonders gedankt.

The „Conning" of History. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 313—322. ALLAN, GEORGE:

Sowohl H. als auch Whitehead sehen in der Geschichte einen Prozeß einander widerstreitender Unterschiede, die sich nur kurzfristig versöhnen, um dann neuen Unterschieden Platz zu machen. Indem beide versuchen, der diesem Prozeß immanenten Auflösung von Werten zu entgehen, bedienen sie sich einer Gottesvorstellung. Damit nehmen jedoch ihre Philosophien einen anti-historischen Charakter an.

Figure delTestetica hegeliana nel Faustus di Th. Mann [Gestalten der H. sehen Ästhetik im Faustus von Th. Mann]. — In: Paradigmi. Rivista di critica filosofica. Bari. 4 (1986), N. 11, 299—322. ALTAMURA, ALBERTO:

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BIBLICXSRAPHIE

Anläßlich neuerer Arbeiten über die Präsenz von H. s ästhetischer Konzeption im Werk Thomas Manns (hauptsächlich E. De Angelis und R. Puschmann), verfolgt Verf. einige Echos der H. sehen Ästhetik in den Schriften Manns und besonders im Doktor Faustus. Aus direkten und indirekten Bezügen auf Hegel, wobei auch der Einfluß Adornos eine wichtige Rolle spielt, läßt sich schließen, daß in vielen Hinsichten H. s Ästhetik eine begriffliche Grundlage darstellt, so z. B. was die Auffassung des Schönen oder der Musik oder gar der Dialektik als faustischen Motivs betrifft.

Recent writings of R. Dunayevskaja. — In: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 186-188. ANDERSON, KEVIN:

Hegel-Studien in Griechenland. — In: HegelStudien. Bonn. 21 (1986), 189-218.

APOSTOLOPOULOU, GEORGIA:

P.: Hegel on the Nature and Status of Concept in Kant's Critical Philosophy. — In: Kinesis. Carbondale, 111. 15 (1986), N. 2, 88-106. ARVIDSON, SVEN

H. warf Kant vor, er sehe im Begriff nur eine leere Abstraktion, die vom sinnlichen Objekt abhängig ist. Das Ding an sich bleibt ein unerkennbares Jenseits für das Erkennen. H. dagegen sieht im Begriff das Wesen und die Struktur der Wirklichkeit.

The Process of Morality. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 219-238. AUXTER, THOMAS:

Whitehead stimmt mit H. darin überein, daß er qua Geschichte einen Zugang zur moralischen Erfahrung eröffnet, die in der westlichen Tradition als Wechselwirkung von Autonomie und Gemeinschaft verstanden wurde. Über die Tatsache hinaus, daß beide Denker versuchen, die Wandlungen des fortschreitenden moralischen Bewußtseins zu erklären, kritisieren sie zugleich die historischen Voraussetzungen von starren Wahrheiten, die dem Leben gegenüber unsensibel machen. Sie weisen vielmehr auf einen Vermittlungsprozeß hin, in dem sich Werte aufeinander abstimmen, um so das höchste Gut eines Ausgleichs zwischen individuellen und allgemeinen Interessen zu verwirklichen.

Le cas Victor Cousin. Un etrange observateur de la pensee germanique pendant le debut du XIXe siede. — In: Critique. Paris. 42 (1986), N. 473, 981-998.

AZAR, AMINE A. :

A partir de Taneedote du röle (significatif) de V. Cousin dans Teloge de Schelling ä TAcadömie des Sciences Morales et Politiques (1858), Tauteur ävoque sans complaisance la personnalite et la carriere de ce philosophe singulier, ses contacts avec TAllemagne (dont il se fera une aureole politique et philosophique), son amitie avec H. (en qui ü s'obstine pourtant ä ne voir qu'un epigone de Schelling, comme lui en quelque Sorte!), ses ceuvres surtout abondantes par leurs reimpressions, assorties de revisions relevant le plus souvent „d'une Strategie ideologieque tres consciente". Cela am^ne Tauteur ä s'interroger sur „Tetrange

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

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resignation philosophique" d'un auteur eliminant ou edulcorant dans la reimpression suivante les elements de ses ecrits incrimines par ses critiques (clericaux le plus souvent).

Hegel e Tantitetica della Critica della ragion pura [Hegel und die Antithetik der Kritik der reinen Vernunft]. — In: Paradigmi. Rivista di critica filosofica. Bari. 4 (1986), N. 11, 271—297. BAPTIST, GABRIELLA:

Die Verf. in untersucht H. s Auseinandersetzung mit der Kantischen Antinomienlehre, wie jene sich in Nürnberg und besonders in der Wissenschaß der Logik gestaltet. Es werden die Denkschritte rekonstruiert, in denen H. die mathematischen Antinomien und die erste dynamische Antinomie problematisiert. Das Fehlen einer Auseinandersetzung mit der vierten Antinomie erlaubt die „Hypothese einer Apokryphe", die aber nicht beabsichtigt, Lükken zu füllen, sondern den Sinn der Problematik zu erhellen sucht. Eine scheinbare Ambiguität charakterisiert die H. sehe Analyse der Antinomie der reinen Vernunft; Verschiebungen in der Kantischen Begriffsbedeutung ermöglichen eine Kritik, die Neukonzeption der Idee der Totalität gestattet es, das Antinomienproblem nicht mehr kosmologisch oder erkenntnistheoretisch aufzufassen.

Wahrheit bei Kant und Hegel. [Japanisch.] — In: The Annual of Philosophy. Tokyo. 18 (1986), 73—100. BAUM, MANFRED:

Japanische Übersetzung des zuerst 1981 in Stuttgart gehaltenen Vortrages, Vgl. Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981. Stuttgart 1983. 230-244.

Im Schatten der Entscheidung. Hegels unterschiedliche Ansätze in seiner Lehre zur fürstlichen Gewalt. — In: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie. Stuttgart. 72 (1986), N. 2, 238—245. BECCHI, PAOLO:

Verf. bespricht die Unterschiede zwischen H. s Lehre über die fürstliche Gewalt in den Grundlinien und in den ihnen zeitlich nahen Vorlesungen über Rechtsphilosophie, die durch Nachschriften dokumentiert sind. Den Grundlinien, in denen die politisch vorherrschende Rolle des Monarchen Ausdruck der Selbstzensur und der Anpassung an das monarchische Prinzip ist, steht die eigentlich liberale Auffassung der Vorlesungen gegenüber (besonders der Wannenmann-Mitschrift und der anonymen Nachschrift aus den Jahren 1819/20). Die Orientierung am britischen Vorbild einer monarchisch-parlamentarischen Regierungsform sowie der Unterschied zwischen politisch verantwortlicher Regierungsgewalt und fürstlicher, bloß formeller Gewalt zeugen in den Vorlesungen für den Einfluß der konstitutionellen Debatte Frankreichs (Cousin) und für die intellektuelle Nähe zum Liberalismus Constants.

Hegelsche Vorlesungsnachschriften und noch kein Ende? — In: Materiali per una storia della cultura giuridica. Bologna. 16 (1986), N. 1, 251-261. BECCHI, PAOLO:

Verf. berichtet über den Fund einer Nachschrift von H. s Vorlesungen über Rechtsphilosophie (1821/22), deren Edition von Hansgeorg Hoppe vorbereitet wird. Die Wichtigkeit dieses Fundes für die Forschung wird besonders betont, nicht nur weil dadurch eine Lücke gefüllt wird, sondern auch im Hinblick auf einen mutigen „Liberalismus" H. s trotz der angeblichen politischen „Anpassung" der veröffentlichten Grundlinien. Das Festhalten an der Wirklich-

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BIBLIOGRAPHIE

keit des Vernünftigen gegen die Unvernünftigkeit des bloß Existierenden gewinnt in diesem Kontext eine herausragende Bedeutung.

Hegel e le origini del terrorismo in Germania [Hegel und die Ursprünge des Terrorismus in Deutschland], — In: Materiali per una storia della cultura giuridica. Bologna. 16 (1986), N. 2, 341—362. BECCHI, PAOLO:

In der Polenük mit Fries (aber auch mit Sand, Folien, de Wette, Carove, Savigny, Haller) analysiert Verf. H. s Auseinandersetzung mit den politischen Problemen, die die Burschenschaften als Oppositionsgruppen damals gestellt haben, und die weiteren Wirkungen auch in den juristischen Diskussionen dieses Jahrhunderts gehabt haben (etwa bei Radbruch). H. s Kritik an der ,Ethik der Überzeugung' und an dem politischen Morde als Mittel des politischen Kampfes ist nicht bloß Ausdruck eines Servilismus gegenüber der damaligen polizeilichen Repression, sonden auch Ausdruck einer theoretischen Auseinandersetzung mit der allmählichen Subjektivierung der Ethik, welche zum Terrorismus führt, sowie einer politisdien Verteidigung des „Wissens" gegenüber dem „Glauben". Hauptsächlich die Grundlinien werden in Betracht gezogen, abschließend sind auch entsprechende oder mit diesem Thema zusammenhängende Teile aus den Vorlesungsnachschriften erwähnt (Rechtsphilosophie 1817/18, 1818/19, 1819/20; Religionsphilosophie 1821).

Hegel on Metaphilosophy and the „Philosophie Spectator". — In: Idealistic Studies. 16 (1986), N. 3, 205—217. BERTHOLD-BOND, DANIEL:

BERTOMEU, MARIA JULIA: Critica de Hegel al imperativo kantiano [Hegels Kritik am Kantischen Imperativ]. — In: Revista Latinoamericana de Filosofia. Buenos Aires. 12 (1986), N. 1, 81—86.

H. s Deutung der Kantischen Ethik beruht auf einigen Irrtümern; insbesondere, was die Taughehkeit des kategorischen Imperativs als Kriterium zur Beurteilung von besonderen Handlungen betrifft, eine Funktion, die ihm Kant allerdings nicht zuweist. H. hat auch den Unterschied zwischen dem kategorischen Imperativ und dem Imperativ der Pflicht anscheinend nicht beachtet, was ihn zur Verurteilung der Kantischen Ethik als eines leeren Formalismus führt.

Ansichten vom Niederrhein. Zum Verhältnis von Carl Schnaases Niederländischen Briefen zu Georg Förster. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie GethmannSiefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 169-182. BEYRODT, WOLFGANG:

Die Analyse kunsthistorischer Reiseliteratur anhand der Niederländischen Briefe Karl Schnaases und der Ansichten vom Niederrhein Georg Försters erhellt H. s Stellung zu spezifischen Formen der Kunsterfahrung und ihre Wirkung in seinen Vorlesungen zur Ästhetik.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986 BITTER, STEPHAN;

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Ein baltisches Zeugnis zur Frage nach Hegels Totenmas-

ke. — In: Jahrbuch des Baltischen Deutschtums. Lüneburg, München. 23 (1986), 68-70. Verf. prüft die Frage der Echtheit der vielerorts abgebildeten und im Schillermuseum in Marbach verwahrten Totenmaske H. s: mangelnde Bildähnlichkeit, die Todesursache, die fehlenden Hinweise seitens der Familie lassen Zweifel an der Echtheit aufkommen. Ein unveröffentlichter Brief des H.-Schülers Erdmann an den Direktor des Historischen Museums in Dresden KraukHng, in dem Erdmann die Bitte Krauklings um eine Totenmaske von H. zurückweisen muß, da „von H. keine Todtenmaske existiert", unterstützt diese Zweifel.

Hegelianismen im Umfeld von Nietzsches „Geburt der Tragödie". — In: Nietzsche-Studien. Berlin, New York. 15 (1986), 59-71. BLASCHE, SIEGFRIED:

Ausgehend von Nietzsches Selbstdeutungen unternimmt Verf. den Versuch, an H. erinnernde Argumentationsstrukturen und sachliche Übereinstimmungen vor allem in der Geburt der Tragödie zu fixieren. Hegelianismen sind z. B. die Auslegung der ,Idee' des Dionysischen, die Entwicklung der Hauptgedanken in je nach Perspektive voneinander differrierenden Dreischrittmodellen (affirmative oder zersetzende Dialektik) sowie die Überzeugung von der Nachträglichkeit des Erkennens gegenüber dem Leben. Sofern Nietzsche einen spekulativen Perspektivismus vertritt, stammt das spekulative Moment von H., dessen Sprachund Argumentationsgut Nietzsche über Burckhardt, Feuerbach, v. Hartmann, Haym, Heine u. a. kennengelernt hat.

La visione antropologica nello sviluppo del pensiero hegeliano. Coscienza dell'epoca, religione e filosofia tra Tubinga e Jena [Die anthropologische Sicht in der Entwicklung von Hegels Denken. Epochenbewußtsein, Religion und Philosophie zwischen Tübingen und Jena]. — In: Sapienza. Napoli. 39 (1986), 183—211. BONITO OLIVA, ROSSELLA:

In der philosophischen Entwicklung des jungen H. zeigt Verf., wie das frühe Anliegen, die menschliche Natur in ihrer Totalität aufzufassen, sich allmählich in dem Bedürfnis konkretisiert, die Geschichte als ein Bewußtwerden zu verstehen. Besonders in der Thematisierung des Lebens, der Intersubjektivität, der Entzweiung und der Vermittlung gestaltet sich eine philosophische Anthropologie, die das Ontische und das Logische, das Konkrete und das Ideelle miteinander zu verbinden versucht.

Leopold von Hennings Parteinahme in der preußischen Verfassungsfrage. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 353—385. BONSIEPEN, WOLFGANG:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 203.

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BIBLIOGRAPHIE

Hegel und Aischylos. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pögge1er. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 225—244. BREMER, DIETER:

Hegels Bestimmung der antiken Tragödie wird anhand der Vorlesungsnachschriften von 1820/21 bis 1828/29 zu Hegels Berliner Vorlesungen in ihren neuen Aspekten dargestellt.

La mort de Dieu selon Hegel. — In: Revue Theologique de Louvain. Louvain-La-Neuve. 17 (1986), N. 3, 292—306. BRITO, EMILIO:

Verf. thematisiert E. Jüngels Diskussion der Bedeutung des Topos vom Tode Gottes für H. s Philosophie, und zwar in Glauben und Wissen, in der sog. Jenaer Realphilosophie (1805/ 06), in der Phänomenologie des Geistes und in den Berliner religionsphilosophischen Vorlesungen. Er betont, daß Jüngel aus der Vielfalt der Bedeutungen dieses Topos insbesondere die christologische Bedeutung heraushebe, sieht jedoch auch den Zusammenhang zwischen dieser und der kulturdiagnostischen Bedeutung angemessen bedacht. Verf. schließt mit einer theologischen Kritik.

L.: At the crossroads. Inadequacy of Hegel's Familial Paradigm. — In: Kinesis. Carbondale, 111. 15 (1986), N. 2, 107—124. BUCKMAN, KENNETH

Sowohl konservative als auch liberale Auffassungen über die Familie finden sich bei H. Ihre innere Inkonsistenz soll aufgezeigt werden: die Auffassung der Ehe als Vertrag gleichrangiger Partner scheitert an H. s Einschätzung der Frau und ihrer Natur, die es verhindert, daß die Frau ihre Rechte selbst verteidigt. Diese rechtliche Abwertung der Frau ist die Grundlage für die Ungleichheit der Besitzverhältrüsse: nach außen betrachtet ist die Heirat ein Vertrag zwischen Gleichrangigen, innerhalb des Mechanismus der Ehe ist die Beziehung aber höchst ungleich: der Mann gebraucht seine Frau, da sie auf dem Niveau der Dinghaftigkeit verharrt. Da für H. das Kapital zur Basis für die Einheit der Ehe wird, kann der Liebe, die doch einmal das Band der modernen Ehe sein sollte, eine nur untergeordnete Rolle zukommen.

The syllogisms of revealed religion, or the reasonableness of Christianity. — In: The Owl of Minerva. Villanova, Pa. 18 (1986/ 1987), N. 1, 29-42. BURBIDGE, JOHN:

Burbidge compares, retranslates, analyzes, and offers in parallel form the sections on revealed religion in the 1816, 1827, and 1830 editions of H.'s Enzyklopädie. The purpose of this exercise is to demonstrate that H.'s use of the logical language of syllogism to describe the three phases of revealed religion is a quite deUberate addition to the two later editions. Burbidge suggests that H. introduced such language into his treatment of religion in Order to show an implicit rationahty in Christianity and thus to provide his answer to the Enlightenment's perplexing question of the relation between reason and religion.

Wilhelm von Kaulbach — peintre-philosophe und modern painter. Zu Kaulbachs Weltgeschichtszyklus im Berliner Neuen Museum. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von AnBUSCH, WERNER:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

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nemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 117-138. Verf. erörtert die Grundlagen des Streits der Hegelianer um Kaulbachs Weltgeschichtszyklus im Berliner Neuen Museum. Es geht um die Frage, ob der symbolisch-historische Kunststil der „philosophische" KunststU sein soll und ob dieser als Kunststil der Moderne zugleich einen „realistischen Idealismus" (Schasler, Carriere) oder ein „idealistischer Realismus" (Vischer) sei.

L.: Hegel and Whitehead on Aesthetic Symbols. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 313—322. CARTER, CURTIS

Obwohl H. und Whitehead vom Romantizismus beeinflußt worden sind, betonen sie den kognitiven Charakter ästhetischer Symbole, die auf metaphysischer oder sozialer Ebene die Eigenschaften einer Zivilisation erkennen lassen. Während jedoch für H. das Symbol im Medium der sinnlichen Erscheinung auf das Absolute verweist (Reflexivität), hält Whitehead an der radikalen Zufälligkeit und Doppelreferenz der ästhetischen Zeichen fest, daß sie einerseits selbst die Bedeutung von etwas sind und andererseits ihre Bedeutung in einem realen Gegenstand haben. Damit erlaubt Whitehead der Kunst nicht nur einen größeren Gegenstandsbereich als H., sondern er vermag auch ihre kognitive Funktion von einer Metaphysik des Absoluten im Hinblick auf die moderne Semiotik zu lösen.

La „Fenomenologia dello spirito" nell'interpretazione di M. Heidegger [Die Phänomenologie des Geistes in der Interpretation von M. Heidegger]. — In: Verifiche. Trento. 15 (1986), N. 4, 365-393. CHIEREGHIN, FRANCO:

Verf. präsentiert Heideggers Vorlesungen über Hegels Phänomenologie des Geistes (1930-1), die in den Bahnen von Sein und Zeit H. s Begriff der Unendlichkeit als Wesen der Zeit die Zeit selbst als Wesen des Seins entgegenstellen. In dem späteren Aufsatz über Hegels Begriff der Erfahrung ist Heideggers Gesamtkonzeption der modernen Philosophie in ihrem Ursprung und Schicksal maßgebend, und so spielt hauptsächlich das Thema des Wissens bzw. des absoluten Wissens eine zentrale Rolle. Im Grunde genommen zeigt sich aber H. s Absolutes als eine Restitution der Differenz, als Selbstaufhebung, und so geraten beide Denker schließlich in eine Nähe, gerade wenn die Unterschiede pointiert werden.

CoBBEN, PAUL: Het „abstrakte recht" in Hegels Rechtsfilosofie [Das ab-

strakte Recht in Hegels Rechtsphilosophie]. - In: Stoicheia. Tijdschrift voor historische wijsbegeerte. Amsterdam. 1 (1986), 48—58. Das abstrakte Recht sei die gesellschaftliche Verwirklichung der Freiheit. Aus dessen Darstellung soll die Bedeutung der Dialektik hervorgehen.

B. J. DE: Denken over oorlog [Denken über den Krieg]: Kant, Hegel, Clausewitz. — In: Tijdschrift voor Filosofie. Leuven. 48 (1986), 21-48. CLERCQ,

400

BIBLIOGRAPHIE

Denken über den Krieg ist die Ausarbeitung der Friedensbedingungen. Aus dieser Sicht untersucht Verf. das Sollen in Hegels Diktum, daß der Krieg als ein VorübergehensoUendes (Grundlinien § 338) zu betrachten sei. Die Einsicht kann der Philosoph aussprechen, aber Politiker sollen sie bewähren.

CoRDUA, CARLA: El Estado hegeliano y la Moral [Der Hegelsche Staat und

die Moral]. — In: Diälogos. Rio Piedras. 21 (1986), N. 47, 135—149. Besprechung des Buches von M. H. Mitias: The Moral Foundation of the State, Anatomy ofan Argument. Verf. preist gelungene Behandlung der Probleme der Beziehungen von Individuum und Staat, der Strafe als Form von Gerechtigkeit und der Rolle von Gesetzlichkeit in den internationalen Verhältnissen. Der einzige Einwand richtet sich gegen den Gebrauch einiger Termini in einem für H. fremden Zusammenhang, insbesondere im Ealle von „Ethik" und „Moral".

CoRN, TONY: La negativite sans emploi (Derrida, Bataille, Hegel). — In:

The Romanic Review. New York, N. Y. 76 (1986), N. 1, 65 - 75. „BataUle" und „Derrida" markieren in chronologischer wie logischer Hinsicht entscheidende Momente in der Geschichte der Lektüre H. s durch die Moderne. Paradoxerweise ermöglicht Glas erneut eine H.-Lektüre, die den unterschiedlichen Gestalten der Erfahrung des Bewußtseins folgt.

Conciencia y Autoconciencia en Hegel y Husserl. — In: Themata. SevUla. 1986, N. 3, 7-17. CRAMER, KONRAD:

H. s Definition des Bewußtseins in der Einleitung der Phänomenologie impliziert Selbstreferenz. Husserl bestreitet in den Logischen Untersuchungen, daß Selbstbewußtsein notwendig aus der Struktur des Bewußtseins folgt. Doch Husserls These der radikalen Intentionalität kann mit der inneren Wahrnehmung, wie er sie begreift, nicht vereinbart werden. Das bedeutet nicht, daß Husserls These durch H. s Definition ersetzt werden soll, denn ihre Thema tisierung führt zu einem Zirkel. Die Definition aus der Phänomenologie muß deshalb nur als formaler Operator verstanden werden. H. s spekulative Logik bietet dann eine semantische Rekonstruktion, die es ermöglicht, den Zirkel zu überwinden.

Naturaleza e Historia: Aspectos del papel de la naturaleza en la historia del espmtu segün Hegel [Natur und Geschichte: Aspekte der Rolle der Natur in der Geschichte des Geistes nach Hegel]. - In: Diälogos. Rio Piedras. 21 (1986), N. 48, 27-67. CRUZ VERGARA, ELISEO:

Versuch, das enge Verhältnis zwischen Geist und Natur in Bezug auf die Geschichte der Menschheit bei H. zu verdeutlichen. Nach einer Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Natur und der des Begriffes untersucht Verf. H. s Behandlung des Mechanizismus in der Wiss. der Logik und in der Phänomenologie. Die Überwindung der Exteriorität der Natur im organischen Leben wird dann am Leitfaden der Enzyklopädie erläutert. Schließlich stellt Verf. die natürliche Basis des Geistes heraus, indem er in verschiedenen Texten H. s die Funktion der Arbeit für die Konstitution der Geschichte erörtert.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

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Carl Gustav Jochmanns „Rückschritte der Poesie" und Hegels These vom Ende der Kunst. — ln: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 167-175. D'ANGELO, PAOLO:

Venti anni di studi sülla estetica di Hegel (1963—1983) [Zwanzig Jahre Studien zu Hegels Ästhetik]. — ln: Cultura e scuola. N. 100. Roma 1986. 145-155. D'ANGELO, PAOLO:

Bericht über die Literatur zur Ästhetik H. s im Zeitraum von 1963 bis 1983. Die Beiträge werden auf Grund ihrer Thematik in fünf Abteilungen zusammengestellt: Bibliographien und Studien zur Rezeption der H. sehen Ästhetik; allgemeine Studien; Studien über die These vom Ende der Kunst; Studien über die Entwicklungsgeschichte der Ästhetik H. s und Studien über H. s Theorie der einzelnen Künste.

W. R.: Presupuestos filosoficos del metodo dialectico y del metodo cientifico. Sus consecuencias en el metodo didactico [Philosophische Voraussetzungen der dialektischen und der wissenschaftlichen Methode. Ihre Konsequenzen für die didaktische Methode]. — In: Pensamiento. Madrid. 42 (1986), N. 165, 63-86. DAROS,

Verf. vergleicht philosophische Voraussetzungen und didaktische Konsequenzen der H. sehen und Marxistischen Dialektik und der wissenschaftlichen Methode im Sinne Poppers. Letztere sieht er dem pädagogischen Auftrag und der dazugehörigen Auffassung von Freiheit angemessener.

Mediation and Negativity in Hegel's Phenomenology of Christian Consciousness. — In: The Journal of Religion. Chicago. 66 (1986), N. 1, 46-67. DE NYS, MARTIN J.:

Le valet de chambre de l'histoire et l'histoire du valet de chambre [Der Kammerdiener der Geschichte und die Geschichte des Kammerdieners]. — In: Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie Societas Hegeliana. Köln. 2 (1986), 106—119. D'HONDT, JACQUES:

Verf. analysiert das bekannte H.-Zitat: „Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener" in seinen verschiedenen Variationen (Phänomenologie, Propädeutik, Rechtsphilosophie, Geschichtsphilosophie). Dabei vergleicht er den H. sehen Gebrauch dieses Gemeinplatzes mit demjenigen der Moralisten (von Plutarch bis Montaigne oder Rousseau) bzw. der Zeitgenossen H, s (Förster, Vanderbourg). H. s Kammerdiener, der die Helden nicht zu erkennen vermag, erweist sich als Schöpfung des Idealismus, der nur die Unterwerfung der untersten Klassen und nicht z. B. ihre Widerstandsbestrebungen sah; diesem „schlechten" Witz vom Kammerdiener der Geschichte soll deswegen die konkrete Geschichte der Kammerdiener gegenübergestellt werden.

402

BIBLIOGRAPHIE

Hegel et Napoleon. — ln: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 37—67. D'HONDT, JACQUES:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 200.

Hegel und Schinkel. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 103—116. DILLY, HEINRICH:

Die Differenzen zwischen den „Klassizisten" H. und Schinkel werfen ein Licht darauf, daß H. s Ästhetik zu Unrecht als System des „Klassizismus" abgetan wird.

V.: Hegel and the organic state. — In: Political Thinkers. Ed. by David Muschamp. South Melbourne, Australia 1986. 161-176. DONIELA, WILLIAM

This is written for those who have some fanuliarity with political Science but no familiarity with H. It is meant to provide an elementary, sympathetic account of his political thought (with special concentration on the issues of love, freedom, and reason), as well as to dispel the „Hegel-legend" common among H.'s enemies, i. e., some nasty misconceptions about the alleged „march of God", about H.'s relation to totalitarism, conservatism, etc. Nevertheless, Doniela concludes that H. is too sanguine and that pluralistic views of the modern World, such as that of Marx, are more accurate.

Hegel. Hegel und die Menschenrechte der französischen Revolution. — In: Dragona-Monachou: Philosophie und Menschenrechte. Die philosophische Vorgeschichte, die Protohistorie und die Geschichte des Menschenrechtsbegriffs und die gegenwärtige Problematik. [Neugriechisch.] Bd. 1. Athena 1986. 143—158, 262—264. DRAGONA-MONACHOU, MYRTO:

H. s Stellungnahme zu den Menschenrechte ist ambivalent. H. betrachtet den Menschen als freies Wesen, aber zugleich erfaßt er den Staat als die höchste Form der Sittlichkeit; deshalb erscheinen bei ihm die Menschenrechte als ein dringliches Gebot, das jedoch nicht gerechtfertigt wird. Die Verfasserin kommt zu dem Schluß, daß H. „ohne Metaphysik" kritisch — wenn nicht negativ — gegenüber den positiven Menschenrechten ist, während er sie durch seine Metaphysik verteidigt und zugleich durch höhere Synthesen der Sittlichkeit im Bereich des objektiven Geistes dialektisch aufhebt.

Hegel's Politics: Liberal or Democratic? — In: Canadian Journal of Philosophy. Edmonton. 16 (1986), N. 1, 99—122. DRYDYK, JAY:

Verf. entwickelt die These, daß sich ein nicht-ambivalentes Bild von H. s politischer Philosophie ergibt, wenn man die bei H. wichtige Unterscheidung zwischen liberal und demokratisch anerkennt. Aufgrund dieser Unterscheidung gelangt H. zu einer demokratischen Kritik des Liberalismus, den er für unfähig hält, soziale Konflikte zu lösen. Demgegenüber befürwortet H. einen demokratischen Staat, in dem sich die Masse der Bevölkerung außerhalb des Parlaments zu Einheiten organisiert, um so eine berechtigte politische Macht zu werden.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

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Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung. — In; Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 87—128. DüSING, KLAUS:

Can Hegel refer to particulars? — In: The Owl of Minerva. Villanova, Pa. 17 (1985/1986), N. 2, 181—194. DULCKEIT, KATHARINA:

This analysis of the „Sense Certainty" section of the Phenomenology argues, against Soll and Plumer, that H.'s epistemology does not have serious difficulties with using demonstratives as universals and therefore does not preclude full reference to the concrete particulars of experience. On the contrary, H. himself, in his account of empirical knowledge, has actually anticipated such criticism (including that of Russell), and accordingly has provided „a rieh account of how such reference is possible".

Les correspondants allemands de Victor Cousin. — In; Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 65—85. ESPAGNE, MICHEL; WERNER, MICHAEL;

Hegel and the riddle of poverty: the limits of bourgeois political economy. — In; History of Political Economy. Durham. 18 (1986), N. 4, 579-600. FATTON JR., ROBERT:

Nach Verf. war sich H. der vom Kapitalismus generierten Antinomien von Reichtum und Armut bewußt, ohne sie jedoch lösen zu können. Diese Unfähigkeit entstammt H. s Parteinahme für die bürgerliche Politische Ökonomie, seiner Verteidigung eines ausschließlich bürgerlich-aristokratischen Rechts zur Herrschaft sowie seiner Furcht, daß übermäßige staatliche Interventionen das Prinzip der Individualität zerstören. So ist H. s Philosophie nur das Selbstbewußtsein der bürgerlichen Epoche, in der er das Ende der geschichtlichen Entwicklung sieht.

N.: Hegel and Whitehead on Nature. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 155—166. FINDLAY, JOHN

Zahlreiche Analogien herrschen zwischen H. s und Whiteheads Versuch, die Natur in einem metaphysischen Prinzip, das die Natur transzendiert und viele Verbindungen mit dem Gott der Religion hat, zu begründen. Im Zentrum der Betrachtungen steht allerdings weniger Whitehead als H. Seine Naturphilosophie wird aus dem Blickwinkel der Auseinandersetzung mit Platon betrachtet.

Hegel et la Restauration en France. — In; Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 69 -92. FLEISCHMANN, EUGENE:

Vgl. die Besprechung des Bandes in; Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 195.

404

BIBLIOGRAPHIE

R. Z.: Hipocrisy and the Highest Good: Hegel on Kant's Transition from Morality to Religion. — ln: Journal of the History of Philosophy. Berkeley, Calif. 24 (1986), N. 4, 503-522. FRIEDMAN,

Sur la conception hegelienne de la „Religion revelee" selon M. Theunissen, Representation et concept. — ln: Archives de Philosophie. Paris. 49 (1986), N. 4, 619—642. FRUCHON, PIERRE:

Indem Theunissen die Abteilung „Der absolute Geist" der Enzyklopädie im Lichte der Inferenztheorie kommentiert, die H. in der Logik ausarbeitet, zeigt er, wie eine doppelte Lektüre der „religiösen Vorstellung" notwendig wird, und schließlich, daß es die „begriffliche" Lektüre der „religiösen Vorstellung" ist, die diese in ihrem Recht bestätigt.

Geschichte, Weltgeist und Weltgeschichte bei Hegel. — ln: Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie Societas Hegeliana. Köln. 2 (1986), 58—105. FULDA, HANS FRIEDRICH:

H. s Begriff von Geschichte ist bestimmt durch das Subjekt der Geschichte, die Volksgeister, deren äußere Seite die Staaten darstellen. Die Geschichtlichkeit des Volksgeists ergibt sich aus seiner Entwicklung als Besonderung eines Allgemeinen in der Zeit. Der Weltgeist als letztes Subjekt der Weltgeschichte gelangt in der bürgerlichen Gesellschaft zum Selbstbewußtsein. Sinn des Weltgeistkonzepts ist eine Relativierung der beschränkten Sittlichkeit der Volksgeister. Im Weltgeist als dem allgemeinen Gattungsprozeß besondem die Volksgeister das Allgemeine. Die Geschichte der Selbstverwirklichung des Weltgeists erreicht ein Ende, die Bewegung seiner Selbstverwirklichung geht unendlich weiter. H. s Gliederung der Weltgeschichte in vier welthistorische Reiche nach ihren inneren logischen Prinzipien wird vor allem an den entsprechenden Paragraphen der Grundlinien der Philosophie des Rechts erläutert. Den vier Weltreichen entsprechen die vier Stufen der Befreiungsbewegung des Weltgeists in seiner Entwicklung vom ^wußtsein zum Selbstbewußtsein.

Die Stellung der Poesie im System der Hegelschen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 213-223. GADAMER, HANS-GEORG:

Im Blick auf die neuen Quellen zu H. s Vorlesungen zur Ästhetik (Nachschriften der Vorlesungen von 1820/21 bis 1828/29) stellt Verf. neue Aspekte der Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst heraus.

Gilbert Gerard: Critique et Dialectique. - In: HegelStudien. Bonn. 21 (1986), 219-230. GARNIRON, PIERRE:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

405

Nontotalization without Spuriousness; Hegel and Derrida on the Infinite. — In: Journal of the British Society of Phenomenology. Manchester. 17 (1986), N. 3, 289—307. GASCHF,

RODOLPHE:

The Dialectic and its Aesthetic Other: Hegel and Diderot. — In: Modern Language Notes. Baltimore. 101 (1986), N. 5, 1042-1066. GEARHART, SUZANNE:

F.: Hegel: L'esprit absolu comme ouverture du Systeme. — In: Laval Theologique et PhUosophique. Quebec. 42 (1986), N. 1, 3-13. GERAETS, THSODORE

Dieser Artikel versucht zu zeigen, wie die wesentliche Öffnung des H. sehen Systems sich von seinem fundamentalsten Prinzip herleitet: der unreduzierbaren Prozessualität der Wirklichkeit und des Denkens. Diese Öffnung bekundet sich vor allem in der H. sehen Konzeption des absoluten Geistes, in der die „weltliche" (für sich) und die religiöse Seite (an sich) in einem philosophischen Begreifen (an und für sich) versöhnt sind und die jede endgültige Schließung und jedes erschöpfende Erfassen unmöglich macht.

La fin du droit naturel hegelien d'Iena selon les comptes rendus de Karl Rosenkranz et de Rudolf Haym. — In: Revue philosophique de Louvain. Louvain. 84 (1986), 460—501. GERARD, GILBERT:

Anhand der Berichte von Karl Rosenkranz und Rudolf Haym sucht Verf. die H. sehen Naturrechtsvorlesungen zu rekonstruieren, die dieser zwischen 1802 und 1805 in Jena gehalten hat. „L'interSt de ces textes tient essentiellement aux eclaircissements qu'ils apportent ä propos de la fin du Systeme tel que H. en concevait ä ce moment la structure et le plan. Ils attestent en particulier la position culminante qui, dans cette preiiuere figure du Systeme hegölien, revenait au droit naturel et, en lui, ä la reügion confue comme religion publique ou populaire, ceUe-ci entretenant avec la spöculation une relation tout ä fait specifique et originale que l'on peut caracteriser comme une relation de complementarite mutuelle." (Zusammenfassung des Verf. s.)

Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Ännemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) V-XLVI. GETHMANN-SIEEERT, ANNEMARIE:

Aus der Konfrontation der von Hotho edierten Druckfassung der Hegelschen Ästhetik und der Vorlesungszeugnisse (Nachschriften der Berliner Vorlesungen zwischen 1820/21 und 1828/29) wird die Intention und die Wirkung von H. s Ästhetik dargestellt. Während H. selbst versucht, die kulturelle Funktion der Kunst in der modernen Welt in seinen Vorlesungen zu erörtern, stellt die Rezeption seiner Ästhetik durch seine Schüler ein Beispiel der spätromantischen Überbewertung der Rolle der Kunst im Staat dar.

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BIBLIOGRAPHIE

Die Rolle der Kunst im Staat. Kontroverses zwischen Hegel und den Hegelianern. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 65—102. GETHMANN-SIEFERT, ANNEMARIE:

Die Beziehung der Funktion der Kunst im modernen Staat schwankt zwischen H. s These vom Ende der Kunst und der Gegenthese der Hegelianer, die Kunst habe eine unabschließbare Zukunft. Verf. zeigt, daß in H. s Stellungnahme eine differenziertere Bestimmung der Rolle der Kunst vorliegt, als in den national und religiös, mithin ideologisch fixierten Konzeptionen seiner Schüler.

Hegels Erörterung eines Einwandes gegen die These von der Selbstprüfung des Bewußtseins. — In: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 182-186. GRAESER, ANDREAS: ZU

Verfassungsfrage und Gesetzgebung in Preußen. Ein Vergleich der vormärzlichen Staatspraxis mit Hegels rechtsphilosophischem Konzept. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 257—309. GRAWERT, ROLF:

Vgl. die Besprechung des Bandes in; Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 201.

From an Ontological Point of View: Hegel's Critique of the Common Logic. — In: The Review of Metaphysics. New Haven, Conn. 40 (1986), N. 158, 305-338. HANNA, ROBERT:

Hegel and the Gnostic Tradition. — In: Philosophical Studies. Dublin. 31 (1986-1987), 301-325. HANRATTY, GERALD:

Den Einfluß gnostischer Tradition auf die Philosophie H. s verfolgt Verf., indem er die Verwurzelungen der schwäbischen Pietisten in den Lehren Brunos, Paracelsus, der Kabbala und Boehme aufzeigt. Eine andere Quelle gnostischen Einflusses war der Illuminatenorden. Gerade das Ziel H. s, die Versöhnung der Ideale der Aufklärung mit denen der Romantik, machte ihn offen für das Denken der Gnostiker, das einireites Spektrum des Einflusses in seinem Denken hinterließ.

The Contemporary Significance of Hegel and Whitehead. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 17—28. HARRIS, ERROL E.:

Verf. fragt nach der Rolle der Negativität in den beiden Philosophien von H. und Whitehead. Dabei berührt er ebenso die Frage von H. s Spinoza-Kritik (als Substanzmetaphysik) wie Whiteheads Gedanken von „God's primordial nature". Im Mittelpunkt steht die Methode des Prozesses in beiden Theorien.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

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Types of Explanation in Hegel and Whitehead. — In; Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 61—85. HARTMANN, KLAUS:

Drei Gemeinsamkeiten werden zwischen H. und Whitehead zuerst hervorgehoben; „both philosophers are concemed with organic wholes . ..; they both consider process crucial; they both defend a teleological scheme ordering levels of items of the universe". Die Differenzen zwischen beiden Positionen werden durch die Stichworte „Metaphysik" (Whitehead) und „Ontologie" (H.) deutlich gemacht.

Lacan en Kojeve: het imaginaire en de dialectiek van meester en slaaf [L. und K.: das Imaginäre und die Dialektik von Herr und Knecht]. — In: Tijdschrift voor Filosofie. Leuven. 48 (1986), 391-415. HAUTE, PHILIPPE VAN;

Der Einfluß der Hegel-Darstellung Kojöves wird für Lacans Theorie des Imaginären hervorgehoben. Lacan hegelianisiert die Freudsche Libido-Theorie. Wichtig wird dabei Hegels Phänomenologie des Selbstbewußtseins in der Deutung Kojeves.

G.: Dialectical Logics and Their Relation to Philosophical Logics. — In: Logique et Analyse. Louvain. 29 (1986), N. 116, 459—470. HAVAS, KATALIN

E. J.: A Satire of Self-Disclosure: from Hegel through Rameau to the Augustans. — In: Journal of the History of Ideas. Philadelphia. 47 (1986), N. 2, 235-248.

HUNDERT,

Verf. erläutert H. s Deutung von Diderots Satire Le neveu de Rameau in der Phänomenologie, wo er — entgegen der Intention des Autors — den gespaltenen, amoralischen Charakter des Neffen als notwendige Stufe des zu sich selbst kommenden autoreflexiven Selbstbewußtseins evaluiert. Indem Verf. die moralisierenden Ideen Diderots einordnet in die aufklärerische Strömung des 18. Jahrhunderts, weist er nach, daß H. dieses Umfeld ignoriert habe und so „an Augustan moment in thought and feeling" bei seiner Interpretation transparent wird, da dieser als erster die Moral der bürgerlichen Gesellschaft entmystifizierte.

Liberale Demokratie und „sittlicher" Staat. — In; Archiv für Geschichte der Philosophie. Berlin, New York. 68 (1986), N. 1, 2-21. ILTING, KARL-HEINZ:

Verf. sieht in H. s Rechtsphilosophie eine Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit, die über die Stufen von Recht und Moralität schließlich im sittlichen Staat mündet, für den der Weltbezug ein letztes Handlungsziel darstellt. Der sittliche Staat bei H. ist nach Verf. nüt der modernen, liberalen Demokratie vereinbar, deren Prinzip der Volkssouveränität H. trotz seiner Orientierung am Monarchen implizit bereits zugestimmt hat. Wenn H. allerdings die Bestimmung des Individuums dahin legt, ein allgemeines Leben zu führen, kritisiert er eine liberalistische Staatsauffassung, für die das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck ist.

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BIBLIOGRAPHIE

Die Vernünftigkeit des Gesetzes. Hegel und die Restauration im Streit um Zivilrecht und Verfassungsrecht. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 221-256. JAESCHKE, WALTER:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 196 f.

Die Erziehung der Stände durch sich selbst. Hegels Konzeption der neuständisch-bürgerlichen Repräsentation in Heidelberg 1817/18. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 149-173.

JAMME, CHRISTOPH:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 198 f.

Hegel and Hölderlin. — In: Clio. Kenosha, Wisc. 15 (1986), N. 4, 359-377.

JAMME, CHRISTOPH:

Dargestellt wird das — unter der Leitidee der „Volkserziehung" stehende — gemeinsame Projekt einer Umgestaltung Deutschlands mithilfe einer neuen Religion bei H. und Hölderlin während ihrer gemeinsamen Tübinger und Frankfurter Jahre. Dabei geht es auch um die von D. Henrich aufgeworfene Frage der Entstehung der Dialektik.

Aufklärung via Mythologie. Zum Zusammenhang von Naturbeherrschung und Naturfrömmigkeit. — In: Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und Mythologie. Baden-Baden. 19 (1986), 5-25.

JAMME, CHRISTOPH:

Verf. beobachtet an den Jugendschriften H. s, des späteren Schöpfers des historisch-systematischen Aufklärungsbegriffs, den Versuch, die Aufklärung wahrhaft allgemein zu machen, d. h. sie (paradoxerweise mit Hilfe der Mythologie) auch jenen Schichten zugänglich zu machen, die von der traditionellen Aufklärung vernachlässigt worden waren.

La Statut logique de l'alterite chez Hegel. — In: Philosophie. N. 13. Paris 1986. 68—81.

JARCZYK, GWENDOLINE; LABARRIERE, PIERRE-JEAN:

L.: Recognition and self-knowledge. — In: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 143-150.

JURIST, ELLIOT

P.: Some problems with the English translation of Hegels „Phänomenologie des Geistes". — In: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 175-182. KAINZ, HOWARD

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

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Überwindung des Moralismus. Über „Der Geist des Christentums und sein Schicksal". — ln: Überwindung der aufklärerischen politischen Philosophie. [Japanisch.] Tokio 1986. 59—97. KANEKO, KENICHI:

Verf. geht der Überwindung des Moralismus in H. s „Der Geist des Christentums und sein Schicksal" nach: Der Geist der Liebe und die Überwindung der Gesetzesfrömmigkeit und Moralität: Die Religion, die Liebe und das Individuum; Die Gemeinde und die Verbildlichung Gottes; Jesus und die Verwirklichung des „Reichs Gottes".

De la democratie ä la representation. A Propos de la politique hegelienne. — ln: Philosophie. N. 13. Paris 1986. 38—67.

KERVäGAN, JEAN-FRANGOIS:

Individuelle Selbstverwirklichung und produktive Anerkennung des staatlich-gesellschaftlich Allgemeinen. — ln: Kongreß Junge Kulturwissenschaft und Praxis. Kreativität und Leistung — Wege und Irrwege der Selbstverwirklichung. Hrsg, von K. Adam. Köln 1986. 306- 309. KIESSLING, BERND:

Die heute vielfach geforderte individuelle Selbstverwirklichung ohne Rücksicht auf Staat und Gesellschaft führt nach H. zur Selbstzerstörung. Der Einzelne kann sich mit dem Allgemeinen nur im modernen Rechtsstaat vermitteln, der individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung garantiert.

Die Staatsverfassung als „Konstituierung der absoluten sittlichen Identität" in der Jenaer Konzeption des „Naturrechts". Der spekulative Charakter von Hegels politischer Philosophie. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 129-147. KIMMERLE, HEINZ:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 197.

L.: Concept and Concrescence: An Essay in Hegelian — Whiteheadian Ontology. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 133-154. KEINE, GEORGE

In insgesamt acht Abschnitten sucht Verf., Schlüsselpunkte der H. sehen Ontologie in Whiteheads technischen Begriffen sowie Schlüsselpunkte der Whiteheadschen Ontologie irüt H. scher Begrifflichkeit neu zu formulieren. Die subjektiven H. sehen Begriffe Idee, Geist, Begriff und die objektiven Whiteheadschen Begriffe Ereignis, Prozeß, Fortschritt, sind für diese Untersuchung leitend. Trotz der großen Bedeutung, die die „Nacht der Negativität" für beide Theoretiker hatte, sind die letzten Worte ihrer spekulativen Systeme „Harmonie" und „Versöhnung".

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BiBLICXiRAPHIE

The Jewish response to Hegel: Samuel Hirsch and Hermann Cohen. — In: The Owl of Minerva. Villanova, Pa. 18 (1986/ 1987), N. 1, 5-12. KLUBACK, WILLIAM:

Kluback's aim is to show how and why these two Jewish thinkers carefully studied and consciously rejected the Christian world-view inherent in H.'s philosophy. Hirsch, reacting against what he perceived in H.'s Christianity as a retum to „Promethean paganism", argued that true human freedom is possible only if, through the God of Israel, a human victory over sin is possible. Cohen, though less polemical than Hirsch, saw a pantheism in H., and tried to develop, against H.'s logic of the concept, a logic of the infinitesimal in which the neo-Kantian „Idea of Humanity" would stand forth as ultimately incommensurable with any idea of God. Thus Cohen served Judaism by affimung „Israel's uniqueness as the witness to God's radical Separation from nature".

Kozu, KUNIO: Zur Chronologie von Hegels Nürnberger Fassungen des Selbstbewußtseinskapitels. — ln: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 27-64. G.: The Limits of Contradiction: Irony and History in Hegel and Henry Adams. — ln: Clio. Kenosha, Wisc. 15 (1986), N. 4, 391-410. KRONICK, JOSEPH

LABARRifeRE, PIERRE-JEAN: Le Dieu de Hegel. — In: Laval Theologique et

Philosophique. Quebec. 42 (1986), N. 2, 235—245. Im Blick insbesondere auf die Phänomenologie des Geistes, aber auch im Rückgriff auf die Wissenschaß der Logik skizziert Verf. eirüge wesentliche Züge des H. sehen Gottesbegriffs, angedeutet in den Überschriften: Critique du Dieu-substance; La Uberte la plus sereine de sa figure; Dieu n'est pas jaloux; Dieu n'est pas une ,belle äme'; L'esprit est comme esprit dans sa communaute.

La Science la plus difficile de toutes. Mattere et mesure. Dans la critique hegelienne de Newton. — In: Philosophie. N. 13. Paris 1986. 15-37. LACROIX, ALAIN:

Hegel on civil disobedience. — ln: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 151-166.

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„The Life of Consciousness and the World come alive": Nature and Self-Consciousness in Hegel's Phenomenology. - In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 186—206. LAUER, QUENTIN:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

411

Der Beginn des IV. Kapitels; „Die Wahrheit der Gewißheit seiner Selbst", das H. unter dem Titel „Das Selbstbewußtsein", in der Phänomenologie des Geistes abhandelt, zählt Verf. zu den wichtigsten Passagen nicht nur für das Verständnis der Phänomenologie, sondern für das gesamte H. sehe System. Zur Interpretation dieses Abschnittes zieht Verf. die §§ 424—430 und 377—386 der Enzyklopädie heran.

Hegel et les enfants sans histoire. — In: Critique. Paris. 17 (1986), N. 464 -465, 75-92. LEFEBVRE, JEAN PIERRE:

Melant Tauthentique ä la fiction, Tauteur rapproche — et cela dans Tarne meme de H. — la destinee douloureuse et tragique du fils naturel plus ou moins retif du philosophe, Ludwig Fischer, trop souvent tue par les Hvres d'histoire, et celle de Tenigmatique enfant trouve, „Sans histoire", retif lui aussi ä Tintegration sociale, Kaspar Hauser. H., imagine Tauteur, va voir Kaspar ä Nuremberg en 1829, mais ce qui le fascine alors, ce n'est pas Tadolescent luimeme, mais la fascination que celui-ci exerce autour de lui, „sujet sans reperes" susceptible de nous decouviir le foisonnement des desirs, „le grouülement violet du futur anterieur" „SOUS le present de Tindicatif", sous les manifestations du sujet libre et absolu, oü Thoimne ne dit que son desir de mort; il en est particulier ainsi des „grands gestes heroiques", tel le depart du fils Ludwig pour Sumatra . . . Ainsi dans Tangoisse qui le gagne, H. entrevoit-il Tavenir de liberation de toutes les paroles, et fait-il plus que soup^onner T„absence" et le „vide" du „sujet absolu de la Science philosophique" . . .

God and the World in Hegel and Whitehead. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 257—267. LEFTOW, BRIAN:

Verf. vertritt die These, daß H. und Whitehead den klassischen Theismus bestreiten, demzufolge Gott ein einfaches Wesen darstellt. Gehen bei H. die notwendigen Eigenschaften Gottes der Welt als dem Medium seiner geschichtlichen Verwirklichung vorher, so ist laut Whitehead die Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit Gottes relativ auf die Welt: Gott bildet nicht einen Zweck an sich selbst, für den die Welt existiert, sondern er hängt von dem schöpferischen Prozeß der Welt ab, womit Whitehead im Gegensatz zu H. die klassische Bestimmung göttlicher Transzendenz verfehlt.

Hegel. — In: Löwith: Gott, Mensch und Welt in der Philosophie der Neuzeit — G. B. Vico — Paul Valery. Stuttgart 1986. 87—104.

LöWITH, KARL:

Mit der „fundamentalen Voraussetzung, daß wahres Sein nur ein sich wissendes ist, steht H. nicht nur in der Tradition der Cartesischen Philosophie und der ihr folgenden idealistischen Ontologie des Bewußt-Seins, sondern innerhalb des christlichen Vorurteils, daß nur der von Gott und sich selber wissende Mensch Gottes Ebenbild ist und Gott selbst weder Welt noch Natur". Vf. macht diesen Ansatz für bedenkliche Konsequenzen haftbar: für die Potenzierung des Menschen als Geistwesen, aber auch für die Depotenzierung des eigentlich Menschlichen, da H. die eigentlich moderne Problematik der Humanität noch nicht im Blick habe, und schließlich für die Abwertung der Natur zum bloßen Anderen des Geistes, die mit Darwins Gedanken der Evolution unvereinbar sei.

412

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Obwohl Whitehead selber jeden Einfluß H. s energisch bestritten hat, werden hier doch Parallelen aufgewiesen. H. und Whitehead „provide the two most important modern and widely influential Ulustrations of post-Kantian synoptic philosophy".

Spinoza, Hegel, Whitehead: Substance, Subject, and Superject. In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 39-57. LUCAS, HANS-CHRISTIAN:

Die Rezeption und Kritik der Substanzkonzeption des Aristoteles, besonders aber Spinozas im systematischen Denken H. s und Whiteheads wird als Ausgangspunkt eines möglichen Vergleichs dieser beiden philosophischen Positionen aufgezeigt. Die durch „Entzweiung" bzw. „bifurcation" gekennzeichnete Ausgangssituation wird bei H. und Whitehead durch ein jeweils organizistisches Systemkonzept beantwortet, das dem Bewegungs- bzw. Prozeßcharakter des Seienden gegenüber der Auffassung von der Beständigkeit des wahren Seins Geltung verschafft. Der Aristotelische Zusammenhang von Energeia, Dynamis und Entelecheia wird bei beiden Philosophen zum leitenden Kriterium für die Kritik an der spinozanischen Substanzmetaphysik, wobei Whitehead mit seinem Pluralismus auch eine Abgrenzung von H. anstrebt.

„Wer hat die Verfassung zu machen, das Volk oder wer anders?" Zu Hegels Verständnis der konstitutionellen Monarchie zwischen Heidelberg und Berlin. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 175 —220. LUCAS, HANS-CHRISTIAN:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 202.

La Historia Universal como Juicio Universal [Die Weltgeschichte als Weltgericht]. — In: La crisis de la razon. Hrsg, von F. Jarauta. Murcia 1986. 25—45. LUCAS, HANS-CHRISTIAN:

Aufsatz zeigt H. s Auffassung der Geschichte in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza und dem Problem der Beziehung zwischen Macht und Recht. Verf. hält den mittleren Weg für richtiger, der zwischen der Haymschen Anklage über den vermeintlichen Konservatismus H. s und der zweifelhaften Lobpreisung eines verborgenen, politisch sich anpassenden H. läuft. Zahlreiche Dokumente unterstützen entschieden die These von H. s Furcht vor der

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Revolution und die Erweiterung der politischen Geschichte bis zu ihrer Verabsolutierung als Gott. Die These Theunissens (der sich Verf. anschließt) — die Geschichte umfaßt den objektiven und den absoluten Geist — bleibt fraglich. Logisch enthält der Übergang nämlich niemals die bezogene Region. Die zitierten H. sehen Andeutungen über die „Ohnmächtigkeit des Lebens" und die resignierte Klage über den „Mißton" weisen klar auf die Gefahr der Erstarrung eines mächtigen phüosophischen Systems vor dem Reichtum und der Veränderung der besonderen (bzw. politischen) Geschehnisse hin.

Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis der historischen Grundlagen des Hegelschen Staatsbegriffs. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 421—446. LüBBE-WOLFF, GERTRUDE:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 194.

Contradiction and Resolution in the State: Hegel's Covert View. — In: Clio. Kenosha, Wisc. 15 (1986), N. 4, 379—390.

MACCUMBER, JOHN:

Hegel, Lutero e la scolastica. In margine ad alcuni aspetti dell'esegesi hegeliana di E. De Negri [Hegel, Luther und die Scholastik. Randbemerkungen zu einigen Aspekten der Hegel-Exegese von E. De Negri]. — In: Rivista di Filosofia Neo-scolastica. Milano. 78 (1986), N. 1, 112-126. MANGIAGALLI, MAURIZIO:

Aufgrund der Arbeiten von E. De Negri, dem Übersetzer der Phänomenologie und einem der ersten italienischen Interpreten, der die theologischen Aspekte des Denkens H. s hervorhob, untersucht Verf. Verwandtschaft und Abstand der philosophischen Terminologie H. s zum begrifflichen Wortschatz der reformierten Religion, der deutschen Mystik und der Scholastik. Begriffe wie fieri/werden, incarnaho/Menschwerdung, facere/tun, perficere/vollbringen, sentire/fühlen, experiri/erfahren, cognoscere/kennen, agnoscere/erkennen werden in diesen Rahmen gestellt.

L'idealismo politico e il diritto della natura [Der politische Idealismus und das Recht der Natur]. — In: Rivista di Filosofia. Torino. 77 (1986), N. 1, 141-171. MARINO, LUIGI:

Angeregt durch E. Blochs Bemerkung, bei Kant und Fichte gäbe es ein Naturrecht ohne Natur, stellt Verf. zunächst die Ambiguitäten der Naturauffassungen von Kant, Fichte und Schelling dar. Bei H. sei der Naturbegriff von den polemischen Intentionen gegenüber den Reflexionsphilosophien, der Romantik und dem reaktionären Naturalismus bestimmt. Von der Tragödie der Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz durch die schöne Sittlichkeit und den revolutionären Schrecken der Phänomenologie bis zum Verhältnis Natur — geistige Welt (als zweite Natur) der Grundlinien analysiert Verf. die unterschiedlichen Weisen, in denen H. den Bezug zwischen Natur und Freiheit thematisiert: H. s Begriff der Natur zeige dabei die doppelte Intention, die Willkür der Subjektivität sowie die Willkürlichkeit der Natur einzudämmen.

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BIBLIOGRAPHIE

Differenzen in Hegels Deutung der „Neuesten Zeit" innerhalb seiner Konzeption der Weltgeschichte. — ln: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 465—501. MEIST, KURT RAINER:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 197.

Geschichte im Konflikt. Bemerkungen zu einer Kontroverse J. V. Müllers mit der Geschichtsphilosophie Fr. J. Molitors. — ln: Johannes von Müller — Geschichtsschreiber der Goethezeit. Hrsg, von Christoph Jamme und Otto Pöggeler. Schaffhausen 1986, 265-276. MEIST, KURT RAINER:

Im Zusammenhang des methodischen und strukturellen Wandels der Geschichtswissenschaft, dem das Bewußtsein eines durch die Französische Revolution verschärften krisenhaften Prozesses des historischen Interesses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsprach, analysiert Verf. die Verwicklung J. von Müllers in den Jahren 1806/7, über den Anhang zur Rezension von Molitors Ideen zu einer künftigen Dynamik der Geschichte, in einer Konfrontation mit Schellings Ansatz einer neuen idealistischen Philosophie.

Das indische Altertum in der Sicht Wilhelm von Humboldts und Hegels. — ln: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 245—294. MENZE, CLEMENS:

Im Kontrast zur Sicht Wilhelm von Humboldts erscheint H. s Charakteristik des indischen Altertums in weiten Teilen als unzureichend, weil das System der Philosophie den Blick auf die Geschichte beeinträchtigt.

Hegel's Antigone. — ln: The Owl of Minerva. Villanova, Pa. 17 (1985/1986), N. 2, 131-152. MILLS, PATRICIA JAGENTOWICZ:

MiUs Claims that in H.'s political/ethical System, a woman can never achieve either individuaUty or concrete universality, but instead is forever bound to the particularity of her role in the family and her non-role in the state, because her self-consciousness as a woman is not intelligible for H. in any other terms. This restriction on the self-conscious development of women thus constitutes a serious defect in H.'s System, for if only one half of humankind is capable of universality while the other half is not, then humankind as a whole cannot be held to be capable of universality.

K.: The Trinity and the Incarnation: Hegel and Classical Approaches. — ln: The Journal of Religion. Chicago. 66 (1986), N. 2, 173-193. MIN, ANSELM

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K. : Hegel on Capitalism and the Common Good. — In: Philosophy and Social Criticism. Chestnut Hill, Mass. 11 (1986), N. 2, 39-61. MIN, ANSELM

Die Entstehung und die Idee von Hegels Rechtsphilosophie (I). Kritik an Iltings These. [Japanisch.] — In: Studies in Philosophy. Sukuramuna. 1986, N. 12, 19—40.

MIZUNO, TATSUO:

Aufgrund neu veröffentlichter Vorlesungsnachschriften zur H. sehen Rechtsphilosophie hält Verf. es für notwendig, die These von Ilting — Umarbeitung der Rechtsphilosophie durch Akkomodation — neu zu überprüfen und zu diskutieren.

Hegel e il „calcolo logico" [Hegel und das „logische Kalkül"]. — In: Verifiche. Trento. 15 (1986), 3—42. MORETTO, ANTONIO:

Verf. untersucht H. s Kritik an der formalen und mathematischen Logik sowie an den mechanizistischen Implikationen einer „characteristica universalis", wie diese vor allem in der Wissenschaß der Logik in der Lehre vom Begriff, Urteil und Schluß mit Bezug auf Leibniz, Ploucquet, Lambert und Euler zum Ausdruck kommt. Die damalige Diskussion über das logische Kalkül, das nicht nur von philosophischer Aktualität (z. B. bei Bardili), sondern auch als Pflichtthema in den Gymnasien allgemein verbreitet war, wird von H. in seine spekulative Logik aufgenommen, deren Dialektik in jener Verstandeslogik ihr unzulängliches Moment hat.

Symbolic and Classical art according to Hegel. — In: Diotima. Athenai. 14 (1986), 154-163.

MOUKANOS, DEMETRIOS:

Englische Übersetzung des zuerst in neugriechischer Sprache erschienenen Aufsatzes. Vgl. dazu Hegel-Studien. 22 (1987), 279.

Essere nulla divenire. Sülle prime categorie della Logica di Hegel [Sein Nichts Werden. Über die ersten Kategorien der Logik Hegels]. — In: Rivista di FUosofia Neo-scolastica. Milano. 78 (1986), N. 4, 513-544. MOVIA, GIANCARLO:

In diesem ersten Teil einer ausführlicheren Arbeit über die Anfangsparhen der Wissenschafl der Logik gibt Verf. einen exegeüsch orienüerten und krihschen Kommentar des H. sehen Textes, wobei er auch die Diskussion der sich darauf beziehenden Sekundärliteratur berücksichhgt. Besonders H. s Begriff des Seins wird in seiner Verwandtschaft und in seinem Unterschied zum Parmenideischen eon untersucht.

Maritain lettore di Hegel [Maritain als Leser Hegels]. — In: Filosofia politica e societä in Jacques Maritain. Atti del convegno nazionale di studi tenuto nei gg. 22—23 marzo 1985 presso il Valentinum di Vibo Valentia. Vibo Valentia 1986. 59—72. NEGRI, ANTIMO:

416

BIBLIOGRAPHIE

In H. erkennt Maritain die brillianten und verführerischen Fehler, die verbreitet und anonym auch dieses Jahrhundert charakterisieren: eine anthropozentrische und immanentistische Philosophie, die vor der Geschichte kniet, die menschliche und göttliche Vernunft in dem VemünftigenAVirklichen gleichstellt und so die Transzendenz Gottes sowie die Freiheit und Würde der einzelnen Person unbeachtet läßt. Verf. hält die Maritainsche Lektüre H. s für parteiisch und ideologisch. Maritains thonüstische bzw. neothomistische Prägung sowie das geschichtliche Szenario der dreißiger Jahre, wo die Macht des Staates sich in grausamer Weise zeigte, bedinge Maritains Versuch, die Unschuldigkeit Gottes in seiner Transzendenz zu bewahren, sowie die Freiheit des Einzelnen zu behaupten. Jedoch führe seine Alternative zu H. zu einem gleichgültigen Gott, des Bösen nichtschuldig, aber dann auch des Guten nicht wert, zu einem Gott, der im Gegensatz zur Hegelschen Auffassung die Wege der Menschen nicht geht, des weiteren zu einer neuen gesellschaftlichen Atomisierung, für die Überwindung von deren bürgerlichen, individualistischen Zügen H. eigentlich plädiert.

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Schelling und Hegels Habilitationsthesen. — In; Philosophia Naturalis. Meisenheim/Glan. 23 (1986), N. 2, 288—292. NEUSER, WOLFGANG;

Im Berliner Exemplar von Hegels Habilitationsschrift de orbitis planetarum finden sich in dem beigebundenen Thesenblatt handschriftliche Eintragungen SchelUngs, der an Hegels Habilitationsvorgang als Opponent beteiligt war. ScheUings Notizen bieten der Entzifferung und Deutung große Schwierigkeiten. Bedeutsam an diesen Notizen scheint dem Verf. zu sein, daß bereits hier die Diskussion zwischen Schelling und Hegel über die Erkenntnis des Absoluten einsetzt, die später zum Bruch zwischen beiden führte.

C.; Hegel and Whitehead on Totality; the Failure of a Conception of System. — In; Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 86-108. NEVILLE, ROBERT

Im Mittelpunkt der Überlegungen steht das Konzept der Totalität bei H. und Whitehead. „Like H., Whitehead conceived the processive structure of reality to be continuous with the experiential structure of cognition and philosophy." Allerdings ist die hier vorgeschlagene Sicht systematischer Philosophie näher an der Konzeption Whiteheads als an der H.s.

Moralität — Sittlichkeit — Liebe. — In; Wiener Jahrbuch für Philosophie. Wien. 18 (1986), 135—146. NIKOLAUS, WOLFGANG;

Verf. zeigt, daß die Anwendung des kategorischen Imperativs qua Typus eine Gehaltserweiterung bedeutet, deren Probleme H. in Sicht brachte. Die Konkretisierung des kategorischen Imperativs kann nach H. nur so über den natürlichen Willen vollzogen werden, daß er sich gegen sich selbst richtet; er muß sich in diejenigen Antriebe hineinversetzen, die gerade nicht die seinen sind. Aufgrund der widersprüchlichen Momente des Willens, urteilende Instanz und Vertreter der je eigenen Natürlichkeit zu sein, besteht die Gefahr des Scheiterns am Anspruch des kategorischen Imperativs, und zwar durch das Umschlagen der

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

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moralischen Entscheidung ins Böse. Obgleich H. das Konkretisierungsproblem des kategorischen Imperativs im koirununikativ vermittelten Urteil der Sittlichkeit lösen will, bricht wegen der Individualität der Handlungsentscheidung die gleiche Gefahr erneut auf. Eine endgültige Auflösung geschieht für Verf. erst durch das Handeln im Zeichen der Liebe, die allerdings den Motivationshorizont des kategorischen Imperativs teilt.

J. R. : La Crftica a la „Mediadön" en la Negatividad Dialectica. — In; Revista Venezolana de Filosofia. N. 21. Caracas 1986. 39-52. NUNEZ TENORIO,

Verf. untersucht in den Schriften, die den Manuskripten von 1844 vorhergehen, die Art und Weise, wie Marx sich dem Besonderen und Konkreten des Gegenstandes zuwendet. Diese Zuwendung mündet im sogenannten vierten Manuskript in einer Kritik der H. sehen Philosophie als mystisch und unkritisch, wobei diese Kritik vor allem H. s Behandlung der Vermittlung und Aufhebung der Gegensätze gUt. Von besonderer Wichtigkeit sollen für Marx dabei die von Trendelenburg angeregten Studien zur Logik des Aristoteles gewesen sein.

C.: Logic and the Metaphysics of Hegel and Whitehead. — In: Process Studies. Claremont. 15 (1986), N. 1, 32—52.

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H. und Whitehead, für die der Begriff Gottes eine zentrale Rolle spielt, versuchen, die letztverbindliche Struktur der Wirklichkeit in dem Sinn zu identifizieren, daß alle Ereignisse intelligibel werden. Daher geben beide metaphysische Erzählungen, die, entweder von historischen Untersuchungen oder den Naturwissenschaften beeinflußt, die Möglichkeit eröffnen, Richtung und Zweck der Wirklichkeit zu erkennen. Auf diese Weise erscheint die Wirklichkeit als ein kreativer Prozeß, der der Werthaftigkeit immer neuen Ausdruck verleiht.

Die dialektische Methode der Philosophiegeschichte Hegels am Beispiel seiner Darstellung der altgriechischen Philosophie. — In: Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie Societas Hegeliana. Köln. 2 (1986), 187—192. PAPADIMITRIU, EUTHYMIOS:

Die Geschichte der Philosophie als historische Konkretisierung des Logischen vollzieht sich in der notwendigen Entwicklung der dialektischen Kategorien. Neben einer positiven Würdigung der Leistung Hegels bei der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Philosophiegeschichte wird kritisch darauf hingewiesen, daß manchmal die wirklichen historischen Verhältnisse, z. B. die Abfolge der frühgriechischen Philosophien, der Konstruktion zum Opfer fallen.

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Auf der Grundlage der Differenzschrift und von Glauben und Wissen untersucht Verfasserin die „wahre Philosophie", die H. in dieser Epoche im Gegensatz zur sog. Reflexionsphilosophie entwickelt. Sie verfolgt dabei die Schritte: Spekulative Interpretation der kritischen Philosophie, ICritik des unmittelbaren Wissens, Implikahonen der theoretischen Bedeutung des Idealismus, um in H. s Kritik an Kant, Jacobi und Fichte die Umbewertung der Reflexion aufzuzeigen. In seiner ersten Metaphysik des Absoluten könne H. zwar die Identität von Denken und Sein aufweisen, jedoch ihre philosophische Operativität noch nicht ausweisen.

A. : Hegel and British Parliamentarism. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 93-110. PELCZYNSKI, ZBIGNIEW

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 201.

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H. s Enzyklopädie als Ganzes kann als eine Philosophie der modernen abendländischen Kultur und als eine begriffliche Zusammenfassung der Zivilisation gedeutet werden, deren Krise wir heute erleben. In seiner Analyse dieser Kultur verbindet Hegel eine intellektuelle Deutung der Verhältnisse zwischen Theorie und Praxis mit einem nicht gelungenen Versuch, den politischen Partikularismus der souveränen Nationalstaaten zu rechtfertigen. Deswegen gleicht er dem Porträt von Plato, das er in der Philosophie des Rechts umreißt: H. selbst ist der geniale Denker, der sowohl die Größe als auch das radikale Böse einer zum Ende verurteilten Epoche ausdrückt.

Moralische Aspekte der Hegelschen Rechtsphilosophie. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 447—463. PEPERZAK, ADRIAAN:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 196.

regime representatif selon Sieyes ä la monarchie constitutionnelle selon Hegel. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 13—35. PLANTY-BONJOUR, GUY: DU

Vgl. die Besprechung des Bandes in; Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 198.

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PöGGELER, OTTO: Der Geschichtsschreiber Johannes von Müller im Blick-

feld Hegels. — In: Johannes von Müller — Geschichtsschreiber der Goethezeit. Hrsg, von Christoph Jamme und Otto Pöggeler. Schaffhausen 1986. 277-307. H. s Blick auf den Geschichtsschreiber Johannes von Müller ist geeignet, jenes durch A. Müller, Gentz, Dilthey und schließlich durch Meinecke geprägte Bild des Historikers zu korrigieren und nach einem neuen und anderen Bild des Historikers zu suchen: dies geschieht 1. anhand der Erkenntnisse, die H. aus dem Studium der Schweizergeschichte Müllers in seinen Berner, Frankfurter und Jenaer Jahren gewonnen hat; 2. über die Korrekturen und Ergänzungen, zu denen Müllers Allgemeine Geschichte Hegel in Heidelberg und Berlin veranlaßte. Die H. sehen Exzerpte aus Müllers Schriften (zwischen 1812 und 1820 entstanden) machen deutlich, daß H. bei Müller „Formulierungen zu bestimmten sachlichen Fragen für den eigenen Gebrauch zu gewinnen suchte", ein unmittelbarer Einfluß auf die Ausarbeitung der späteren geschichtsphilosophischen Vorlesungen läßt sich aus ihnen nicht herleiten.

Kontingenz und Rationalität in der phänomenologischen Wissenschaftstheorie. — In: Phänomenologische Forschungen. Bd. 19: Vernunft und Kontingenz. Freiburg, München 1986. 10—34. PöGGELER, OTTO:

H. s Philosophieren bewährt sich darin, daß es Kontingenz als rationales Moment der Wirklichkeit nachweist. Dieses Problem wird in der Wissenschaftstheorie der Phänomenologie neu formuliert. Dies zeigt vorliegender Aufsatz am Beispiel der Theologie bzw. einer Phänomenologie der Religion. Es zeigt sich einerseits, daß „der Schirm der Rationalität durchlöchert" ist, andererseits, daß das Bedürfnis nach Erweiterung der Rationalität besteht. Diese Sachlage reflektiert sich darin, daß es einen letzten transzendentalen Fixpunkt nicht mehr geben kann, die Mitte des Philosophierens sich vielmehr derart gewandelt hat, daß sie nur noch von unterschiedlichen Orten einer Peripherie aus erreicht werden kann.

System und Geschichte der Künste bei Hegel. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 1-26. PöGGELER, OTTO:

Verf. liefert neue Aspekte zu H. s These vom Ende der Kunst aus der Konfrontation von systematischer Beurteilung der Kunst bei H. und ihrer geschichtlichen Charakteristik. H. s Interesse an der Kunst und seine umfangreiche Kenntnis der zeitgenössischen Kunst wird maßgeblich für seine geschichtliche Betrachtung.

Politik aus dem Abseits. Hegel und der Homburger Freundeskreis. [Japanisch.] — In: Homburg v. d. Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. [Japanisch.] Tokyo 1986. 31—85. PöGGELER, OTTO:

Japaiüsche Übersetzung des zuerst 1981 erschienenen Aufsatzes, vgl. Hegel-Studien. Bonn. 18 (1983), 486.

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Vgl. die Besprechung des Bandes in; Hegel-Studien. 22 (1987). 191—204; dort 202.

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RIEDEL,

MANFRED:

Im Mittelpunkt steht Humboldts Gespräch mit H., das „wenig dialogisch" verläuft. Dazu untersucht Verf. H. s Sprach- und Zeichentheorie und zeigt, daß seine Dialektik des spekulativen Satzes sich mit Humboldts grammatischen Analysen berührt. Im Mittelpunkt beider Reflexionen steht der Begriff der „Zweiheit". Verf. schließt mit einem Blick auf Heideggers Sein und Zeit.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

421

Intentionality and dialectical reason. — In: The Monist. La Salle, III. 69 (1986), N. 4, 567-583. RINALDI, GIACOMO:

Nach einer kurzen Schilderung der Geschichte des Begriffs „Intentionalität" (§ 1) erörtert Verf. die Grundhnien der Lehre von der „intentio", die nach seiner Meinung von der vollkommensten Form scholastischer Philosophie, dem Thomismus, entwickelt wurde, unterzieht sie dann einer kritischen Prüfung, die ihre „naive" erkenntnistheoretische Grundeinstellung hervorhebt (§2—3). Auch der Husserlsche Bögriff der Intentionalität kann die aufgezeigten Antinomien nicht vermeiden (§4—5). § 6 entwickelt den H. sehen Vernunftbegriff, mit dem eine kohärente Lösung der Widersprüche des Thomistischen und Husserlschen Denkens grundsätzlich möglich sei.

Realism, Idealism, and Speculative Philosophy. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 29—38. ROCKMORE, TOM:

Verf. beschäftigt sich mit „the relation between systematic thought and a reading of the history of philosophy". Das Verhältnis zwischen H. und Whitehead wird hier einmal nicht unter systematischen Gesichtspunkten gesehen, sondern verglichen in Bezug auf beider Lektüre der Geschichte der Philosophie. (Kant, Descartes, Reinhold).

Consideration of Reciprocity: the Kantian and Hegelian Treatments. — In: Auslegung. Lawrence. 12 (1986), N. 2, 152-173. RODEN, ALLEN R. VAN: A

Bei Kant kann man in der Kategorie der Wechselwirkung die Spitze und das Zentrum des ganzen Kategoriensystems sehen. Bei H. ist diese herausgehobene Stellung in der Entwicklung der Kategorien relativiert, indem die Wechselwirkung in der Wissenschaß der Logik nur den Übergang vom Wesen zum Begriff bildet. Erst hier beginnt „das Reich der Subjektivität oder der Freiheit".

A.: Theories of Nature from Hegel to Marx. — In: British Journal of Aesthetics. London. 26 (1986), N. 2, 150—160. ROSE, MARGARET

Anhand der Erörterung von Landschaftsmalerei und Gartenbaukunst in der Ästhetik zeigt Verf., daß die Natur nach H. bloß eine Objektivation des Geistes ist. Wenn bei Marx dagegen bereits in den Aufzeichnungen zu der 1842 geplanten Abhandlung über H. s Haß der christlichen und romantischen Kunst die Natur als Grundlage der ökonomischen Interessen des tätigen Menschen erscheint, dann bricht er mit der idealistischen Ästhetik, ohne jedoch für die materialistische oder realistische Kunst seiner Zeit zu optieren.

A.: Technology and Alienation. — In: Ultimate Reality and Meaning. Assen. 9 (1986), N. 1, 4—16. ROTSTEIN,

V.: Essence, ground, and first philosophy in Hegel's „Science of Logic". — In: The Owl of Minerva. Villanova, Pa. 18 (1986/ 1987), N. 1, 43-56. ROWE,

WILLIAM

422

BIBLIOGRAPHIE

An attempt to see the first section of the Wesenslehre as first philosophy, and thus to see the whole logic as metaphysics. Rowe concentrates his analysis on being and essence as developmental phases of the concept, on the concept as an ontological power to produce self-differentiation, and on ground as „determinate essence", i. e., essence as the Aufhebung of all its own determinafions, both mediated and unmediated, both positive and negative. Yet Rowe admits (55) that to regard H.'s logic as metaphysics is to detect an extremity for the concept.

Interioritä e forma. Hegel e il romanticismo [Innerlichkeit und Form. Hegel und die Romantik]. — In: Nuovo Romanticismo. Palermo 1986. 79—108. SAMONä, LEONARDO:

ln der romantischen Kunst, wo der Schein der Innigkeit selbst zur Darstellung gebracht wird, erfährt die Kunst für H. ihre Beschränktheit und Inadäquatheit, dem Geist und der Idee äußerlichen Ausdruck zu geben. In dem Zurückdeuten der romantischen Kunst auf das Innere, in ihrem Versuch einer Überschreitung der sinnlichen Gestalt und in dem Sich-Entziehen der Äußerlichkeit der Form kündigt sich die Krisis der schönen Einheit von Idee, Form und Gestalt sowie das „Ende der Kunst" an. Jedoch ist die „äußerlichkeitslose Äußerung" der romantischen Kunst, ihre Gestaltlosigkeit sowie ihre innere Zerrissenheit zwischen Streben nach Gestaltung und Inadäquatheit jeder Form der Philosophie nahe, was auch H. s Auffassung der Überwindung der Kunst in der denkenden Betrachtung bedingt. Diese übernimmt das Erbe der Kunst und bestimmt zugleich den Sinn ihrer Krisis.

Neue Stammbuchbiätter von Hölderlin und Hegel. — In: In Wahrheit und Freiheit. 450 Jahre Evangelisches Stift in Tübingen. Hrsg, von Friedrich Hertel. Stuttgart 1986. 177—204. SCHäFER, VOLKER:

„Das Stammbuch hat als Forschungsobjekt in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen." Davon legt der vorliegende Beitrag wieder einmal Zeugnis ab. Er präsentiert Hölderlins Stammbuchblatt für Joh. Philipp Weigelin vom Mai 1791 und für Süskind von 1793, außerdem Hegels Stammbuchblätter für Weigelin, Leypold, Buttersack (u. a. aus Rousseau) und für einen Unbekannten. Viele neue Details der Tübinger Studienzeit des Freundespaares werden so deutlich.

ScHEiER, CLAUS-ARTUR: Hegel und der geschichtliche Abschied des speku-

lativen Wissens. — In: Theorie-Technik-Praxis. Philosophische Beiträge. Hrsg, von Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Claus-Artur Scheier, u. a. Schwerte 1986. 17—29. Die Verabschiedung vom spekulativen Wissen der H. sehen Philosophie darf nach Auffassung des Verf. s rucht als bloßer Wechsel eines philosophischen Paradigmas angesehen werden. In der Philosophie H. s hat sich vielmehr das spekulative Wissen selbst verabschiedet und dadurch eine Kritik von geschichtlicher Gewalt (Schopenhauer, Feuerbach, Kierkegaard, Marx) hervorgerufen, „die allerdings nicht es selbst, sondern nur den leeren Ort seiner vormaligen Gegenwart" trifft. ScHLiTT, DALE M. : Hegel on Religion and Identity. — In: Eglise et Theolo-

gie. Ottawa. 17 (1986), N. 2, 195-221.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

423

Verf. erörtert in Teil I den Begriff der Identität in H. s Logik, in der Natur- und in der Geistesphilosophie unter Absehen von der Religionsphilosophie. In Teil II untersucht er die besonders enge Beziehung zwischen Religion und Identität in der Phänomenologie des Geistes sowie in den Berliner religionsphilosophischen Vorlesungen und schließt; „it becomes clear that the relationship between religion and identity in H. s overall uniserially developed movement of self-determining absolute spirit can in no way be conceived of as an extrinsic relationship. Rather, religion itself forms the penultimate self-realization of absolute spirit. .. . Any historical realization of spirit chosen to replace religion would have to meet such conditions that it would itself fit H. s philosophically informed description of religion. Given H. s systematic dialectic, religion is indispensable in the achievement of identity."

der Ästhetikvorlesung Hegels 1820—1821. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 27-38. SCHNEIDER, HELMUT: AUS

Verf. interpretiert Texte aus der Neuen Berliner Monatsschrift für Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst aus dem Jahre 1821 als Hinweise auf H. s Ästhetikvorlesung von 1820/21. Es sind a) der Zug des Bacchus aus Indien nach Griechenland; b) der Carneval zu Berlin 1821 sowie c) die romantische Kunst.

Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Berlin, New York. 1986. 16—22. SCHöNBERGER, ROLF:

16—22: Hegel. — Nach Verf. hat H. als erster, in der Einleitung seiner Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, Interpretationsprinzipien für philosophische Texte unter dem Aspekt ihres geschichtlichen Zusammenhangs entwickelt. Die Einheit der Philosophiegeschichte gründet in der Einheit von System und Geschichte überhaupt, die sich gegenseitig belegen. Somit ergibt sich ein veränderter Status des Interesses der Philosophie an ihrer eigenen Geschichte, das weder bloß historisch noch bloß apologetisch ist. ScHüTTAUF, KONRAD: Melos und Drama. Hegels Begriff der Oper. — In:

Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 183-194. H. s Bestimmung der Oper in den Vorlesungen zur Ästhetik wird dargestellt als Wiederaufnahme eines Prinzips der antiken Tragödie; der Verknüpfung von Musik und Poesie.

Bemerkungen zu G. W. F. Hegels Interpretation von Aristoteles' ,De Anima' III 4—5 und ,Metaphysica' XII 7 und 9. — In: Perspektiven der Philosophie. Amsterdam, Würzburg. 12 (1986), 209—236. SEIDL, HORST:

H. s Verweise auf Äristoteles beziehen sich auf relativ wenige Stellen in De anima und Metaphysica. Hier findet H. Ansatzpunkte für sein eigenes Denken, vor allem in den Begriffen dynamis/energeia, telos/entelecheia, ousia kata ton logon, psyche, nous und noesis. H. s Übersetzungen und Deutungen von Aristotelestexten sind stark von seiner eigenen Auslegung überlagert und entsprechen nicht dem Verständnis der heutigen Aristotelesforschung. H. versucht eine Vermittlung der Gegensätze von Subjekt und Objekt, Allgemeinem und

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BIBLIOGRAPHIE

Einzelnem, Möglichkeit und Wirklichkeit, Natur und Geist. H. s Übersetzungen sind sogar teilweise als falsch zu bezeichnen, wie an Beispielen gezeigt wird. Seine Interpretationen bewegen sich vorwiegend in den Bahnen der stoischen und neuplatonischen Aristotelesdeutung.

II superamento dialettico del male radicale nella filosofia della religione di Hegel [Die dialektische Aufhebung des radikalen Bösen in der Religionsphilosophie Hegels], — In: Rivista di Filosofia Neo-scolastica. Milano. 78 (1986), N. 4, 595—605. SEMPLICI, STEFANO;

Verf. stellt Kants Auffassung des Bösen und H. s Überwindung einer Entgegensetzung zwischen Gutem und Bösem dar, wie diese hauptsächlich in den Vorlesungen über Religionsphilosophie entwickelt wird. Das Böse ist für H. die felix culpa der Erkenntnis, die im Prozeß der Selbsterkenntnis des Absoluten aufgehoben und versöhnt wird.

Sull'architettonica „trinitaria" delle lezioni sulla religione assoluta di Hegel [Über die „trinitarische" Architektonik von H. s Vorlesungen über die absolute Religion], — In: Archivio di filosofia. Roma. 54 (1986), 799-810. SEMFLICI, STEFANO:

Von der These ausgehend, daß die spekulative Interpretation der Dreieinigkeit das wesentliche und konstitutive Moment in H. s Vorlesungen über die absolute Religion darstellt, untersucht Verf. anhand der Ausgabe von W. Jaeschke die Gliederungsunterschiede zwischen den Fassungen von 1821, 1824 und 1827. Das allmähhche Aufgeben des noch 1821 angewandten logischen Schemas, in welchem die Religion der Enzyklopädie gemäß gegliedert ist, führt 1824 zu einer neuen Hervorhebung des christologischen Elementes und 1827 zu einer neuen trinitarischen Architektur, wobei nur das erste Moment eigentlich noch logisch ist (und umgekehrt die Logik dem Reich des Vaters entspricht), das zweite dagegen dasjenige der Sünde und der Erlösung darstellt, das dritte schließlich das Selbstbewußtsein der Erlösung und also das Moment des Geistes in der Gemeinschaft ausdrückt.

An ancient quarre! in Hegel's „Phenomenology". — In; The Owl of Minerva. Villanova, Pa. 17 (1985/1986), N. 2, 165-180. SHAPIRO, GARY:

The „ancient quarrel" is between poetry and philosophy. Shapiro does not deal with the relative pros and cons of imaginative, exhuberant language vs. rational, sober language, but instead gives us an Impression of H. taking „the challenge of art seriously" in Order to overcome this dichotomy and intimately involve various literary styles and levels within the actual text of the Phenomenology, not just within its subject matter. However, for all H.'s effort to merge literature with philosophy in this text, finally his „poetry is of a second Order which has been purged of its unruly poetic element and is now obedient to a victorious philosophy. This is the way the poetic world ends, not with a bang, but with an editorial re Vision".

Hegels Theorie der Gewaltenteilung. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 387—420. SIEP, LUDWIG:

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987), 191—204; dort 199.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

425

E.: The Meaning of Religious Experience in Hegel and Whitehead. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 285-312. SMITH, JOHN

Verf. erörtert den unterschiedlichen Stellenwert, den H. und Whitehead der religiösen Erfahrung zuerkennen. Obwohl H. phänomenologische Beschreibungen von Religion gibt, ist sie für ihn lediglich eine Phase innerhalb der dialektischen Entwicklung, deren Wahrheit allein das absolute Wissen enthält. Whitehead hingegen, auch wenn er einzelne Stufen der historischen Entwicklung von Religion herausarbeitet, betont die Autonomie der Religion; er trägt somit keine systematische Forderung an die Konstituierung von Erfahrung heran, deren ganzes Spektrum eine Prozeßphilosophie zu deuten hat. SoBREViLLA, DAVID: La filosofia de la historia de Hegel [Hegels Philoso-

phie der Geschichte]. — In: Sobrevilla: Repensando la tradiciön Occidental. Lima 1986. 71-98. Darstellung der H. sehen Theorie der Geschichte, besonders anhand der diesem Thema gewidmeten Vorlesungen. Der Verf. übt auch Kritik an dieser Theorie: Vereinfachung und aprioristische Darstellung der Gegebenheiten, unsachgemäße Periodisierung, unbefriedigender Volksbegriff und Eurozentrismus sind die Hauptpunkte seiner Kritik. SöRiNG, JüRGEN: Hegel und die Romantheorie Richard Wagners. — In:

Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 195-212. H. s Bestimmung des Romans als des neuen Epos der modernen Welt rückt seine ästhetischen Vorstellungen in die Nähe der Romantheorie Wagners.

Spaventa nella riforma della dialettica hegeliana di Gentile e nel guidizio di Croce [Spaventa in Gentiles Reform der Hegelschen Dialektik und im Urteil Croces]. — In: Bertrando Spaventa. Dalla scienza della logica alla logica della scienza. A cura di Raffaello Franchini. Napoli 1986. 41-69. STELLA, VITTORIO:

Aufgrund der Resonanz Spaventas in den zwei philosophischen .Reformen' des Hegelianismus durch Gentile und Croce analysiert Verf. Spaventas Denken zunächst in seiner Originalität, dann hinsichtlich der späteren philosophischen Reflexionen um H. s Dialektik in den Beurteilungen Gentiles und Croces.

Von Hammer, Goethe und Hegel über Firdausi. Literaturkritik, Geschichtsbild und kulturpolitische Implikation der Ästhetik. — In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 295—325. STEMMRICH-KöHLER, BARBARA; GETHMANN-SIEFERT, ANNEMARIE:

426

BIBLIOGRAPHIE

Am Beispiel der Firdausibeurteilung bei von Hammer, Goethe und H. wird die romantische Forderung nach einer Erneuerung der gegenwärtigen Poesie aus ihren Ursprüngen kritisch geprüft. Gegen von Hammer stimmt H. mit Goethe darin überein, daß die persische Poesie als Phänomen mittelalterlicher Poesie zum Vorbild eines „modernen Epos" untauglich sei.

Hegels Kügelgen-Rezension und die Auseinandersetzung um den „eigentlichen historischen Stil" in der Malerei. — ln: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 139—168. STEMMRICH, GREGOR; GETHMANN-SIEFERT, ANNEMARIE:

Anhand von H. s Kügelgen-Rezension wird die Frage erörtert, ob die Kunst dadurch wieder umfassende Bedeutung erlangen könne, daß die Geschichte selbst zum Gegenstand der Kunst wird. H. s Argumente zum „eigentlich historischen Stil" in der Malerei erhellen die Schwierigkeiten einer solchen Konzeption.

Hegel and the Lutheran Eucharist. — ln: The Heythrop Journal. Oxford. 27 (1986), 262 —274. STEPELEVICH, LAWRENCE S.:

„. . .this paper intends to examine an often neglected but critical point bearing upon any debate about Hegel's theism, or his Christianity; his doctrines regarding his own nominal religion, Lutheranism. This paper will argue that despite the prima fade case that can be made for Hegel's Lutheranism by reason of his own direct and presumably honest declarations to that effect, Hegel actually viewed Lutheranism, and particularly its Eucharistie doctrine, as but an imperfect prefiguration of his own philosophy, which was intended — as Hegelian thought was assirmlated — to finally and totally replace Lutheranism. "(263)

Malerei und Literatur der italienischen Renaissance in Hegels Ästhetik. — ln: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn 1986. (Hegel-Studien. Beiheft 27.) 327—340. STIERLE, KARLHEINZ:

Malerei und Literatur der italienischen Renaissance werden analysiert als ausgezeichnete Anknüpfungspunkte für H. s Ästhetik. Der Beitrag läßt den Unterschied der Beurteilung sowohl der Beispiele aus der Malerei als auch der literarischen Beispiele, der zwischen H. s Vorlesungen in Berlin und der gedruckten Ästhetik besteht, außer acht.

Spaventa e la logica di Hegel [Spaventa und die Logik Hegels]. — ln: Bertrando Spaventa. Dalla scienza della logica alla Logica della scienza. A cxira di Raffaello Franchini. Napoli 1986. 13—21. VALENTINI, FRANCESCO:

In Spaventas Lektüre des Anfangs von H. s Logik als Vemüttlung zwischen Gedachtem, Denken und Denken der Bestimmtheit und der Konkretheit zeigt die von ihm angestrebte Reform des H. sehen Denkens gegen die Attacken von Trendelenburg eindeutig subjektivistische Züge. Diese findet man auch in seiner Interpretation des Verhältnisses zwischen Logik und Phänomenologie wieder, wo nicht zufällig nur die ersten vier Kapitel der Phänomenologie berücksichtigt werden. Da Spaventa aber H. s Polemik an der Reflexionsphilosophie

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

427

sonst gründlich akzeptiert und in anderen Schriften H. s Gedankengang ohne subjektivistische Wendungen nachdenkt, kann man schließlich seine in Die ersten Kategorien der Logik Hegels vorgelegte Reform fast aus seinem Hegelianismus ausklammern.

A Plea for an Open, Humble Hegelianism. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 109—120. VAN DER VEKEN, JAN:

Verf. sucht die Beziehung zwischen H. und Whitehead zu klären anhand einer Interpretation der Rolle, die Religion und Wissenschaft im systematischen Denken beider Philosophen spielen. Am Ende sieht Verf. „a common motive for the development of a universal theory" in beider Systeme.

Skeptizismus und Dialektik. Zu den entwicklungsgeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Aspekten der Hegelschen Deutung. — In: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 129—141. VARNIER, GIUSEPPE:

Reflexiones sobre la Dialectica. — In: Revista Venezolana de Filosofia. N. 21. Caracas 1986. 107—129. VASQUEZ, EDUARDO:

Gegenüber Interpretationen, die sich auf Nicolai Hartmann beziehen und nach Verf. s Ansicht der Dialektik H. s nicht gerecht werden, unterstreicht er die Aspekte, die nach seiner eigenen Deutung wesentlich für das Verständnis sind: Das ganze Geheimnis der Dialektik ist im Prinzip des Nicht-Seins des Endlichen als Sein des Absoluten enthalten; die Versöhnung der Gegensätze löst nicht die entgegengesetzten Bestimmungen, sondern ihren Gegensatz auf; die Dialektik der Logik und die der Phänomenologie ist eine und dieselbe. Am Abschnitt über die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins in der Phänomenologie versucht der Verf. seine Interpretation zu verdeutlichen.

Que es la dialectica? Contra la interpretaciön de Nicolai Hartmann. — In: Revista Venezolana de Filosofia. N. 22. Caracas 1986. 153-162. VASQUEZ, EDUARDO:

Hartmanns Behauptung, die H. sehe Dialektik könne alles auffassen, doch keine Klarheit über sich selbst erreichen, wird von Verf. bestritten, indem er Texte H. s zitiert, die nach seiner Auffassung dieser These widersprechen. Ohne ein Verständnis der Dialektik sei außerdem keine richtige Deutung seiner Philosophie möglich.

C. G.: Subject, Object, and Representation: A Critique of Hegel's EHalectic of Perception. — In: International Philosophical Quarterly. New York, Namur. 26 (1986), N. 102, 117-129. VAUGHT,

VoLKMANN-ScHLUCK, KARL-HEINZ: Theoretische, praktische und absolute

Idee. Hegels Verhältnisbestimmung von Theorie, Praxis und Philoso-

428

BIBLICXSRAPHIE

phie. — In: Theorie-Technik-Praxis. Philosophische Beiträge. Hrsg, von Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Claus Artur Scheier, u. a. Schwerte 1986. 7-15. Das oft diskutierte Verhältnis von Theorie und Praxis wird heute zumeist zugunsten der Praxis, d. h. des gesellschaftlichen Seins aufgelöst (Marx, Habermas). Zu erinnern ist an Aristoteles' gegenteilige Auffassung, aber auch an H. s dialektische Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die er in seiner Wissenschaß der Logik entwickelt hat. Dort wird die absolute Idee als Einheit von Begriff und Objektivität, von Theorie und Praxis bestimmt. Die Erkenntnis der absoluten Idee ist Aufgabe der Philosophie und gründet in einem freien Entschluß. Philosophieren ist so eine Tätigkeit, die von noch höherem Rang als alle gesellschaftliche Praxis ist. Nach Auffassung des Verf. s ist uns eine Rückkehr zu H. lücht möglich, „wohl aber ist eine Zukehr zu seinem Denken nötig".

D.: When love of knowing becomes actual knowing; Heidegger and Gadamer on Hegel's „die Sache selbst". — In: The Owl of Minerva. Vülanova, Pa. 17 (1985/1986), N. 2, 153-164. WALSH, ROBERT

One must live philosophy before one can do philosophy. Such is the view of all who dehne die Sache selbst as the „dialechcal unity of subject and object" or as that living reality and/or lived Situation with which one is immediately confronted. Among the major Problems of philosophy, according to Heidegger and Gadamer, is how to arhculate die Sache selbst in a way which will be true to the living immediacy of the matter at hand. Walsh argues (in full view of Gadamer's crihcism of H. on this point) that both Heraclitus and H. are allies of Heidegger and Gadamer with regard to die Sache selbst, and that the ulhmate self-consciousness of the achvity of Hegelian absolute knowing guarantees this alliance, especially because of the hermeneuücally inclined „openness, Ustening and recephvity" which underlies Hegelian Wissenschaft.

und Pitt. Spannungsfeld britischer Politik im Spiegel des Hegelschen Denkens. — In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 111—128. WASZEK, NORBERT: FOX

Vgl. die Besprechung des Bandes in: Hegel-Studien. 22 (1987); dort 203.

Die Hegelsche Schule. — In: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Hrsg, von Iring Fetscher und Herfried Münkler. Bd 4. München, Zürich 1986. 232-246, 252-254. WASZEK, NORBERT:

Ideengeschichtliche Gesamtdarstellung der Hegelschen Schule, die sich besonders mit den religionsphilosophischen und politischen Thesen der Hegelianer beschäftigt. David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Eduard Gans, Karl Rosenkranz werden in Kurzbiographien dargestellt. Eifi kurzer Überblick über die Forschungsgeschichte und eine umfangreiche Bibliographie beschließen den Beitrag.

Hegels Exzerpte aus der ,Quarterly Review'. — In: Hegel-Studien. Bonn. 21 (1986), 9—25.

WASZEK, NORBERT:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1986

429

Hegel and Whitehead; Why Develop a Universal Theory? — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 121-132. WELKER,

MICHAEL:

Sind die Theorien von H. und Whitehead Quellen unerschöpflichen Wissens oder Irrwege schlechter Spekulation? Der Auseinandersetzung mit H. und Whitehead darf es nicht darum gehen, Probleme der H. sehen Theorie in Whiteheadsche Begrifflichkeit zu transponieren und umgekehrt, sondern sie muß ein sprachliches und theoretisches Niveau formulieren, von dem aus beide Theorien thematisierbar sind. Zunächst diskutiert Verf. jene Versuche, die einen direkten Vergleich beider Theorien vollziehen, um dann zu zeigen, daß der gewählte Zugang einer weiterenfwickelten Logik H. s und der Theorie Whiteheads entspricht. Schließlich geht Verf. den Motiven nach, die beide Theoretiker zu universalen Theorien veranlaßten.

WiEGELOvÄ, MARIA: Rationale Anregungen der Entwicklung wissen-

schaftlicher Ethik im Werk von Hegel. [Slovakisch.] — In: Filosofia. Bratislava. 41 (1986), N. 2, 156-166. H. s Beitrag zur Geschichte ethischer Lehren besteht darin, daß er die bloß normative deduktive Ethik (die Ethik des Sollens), wie sie Kant und Fichte vorlegten, destruierte. H. s Ziel ist die Zurückgewinnung einer konkreten Sittlichkeit. Moral ist für H. von bestinunten gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. Von methodologischer Relevanz ist der Gedanke, daß das gesellschaftliche Gesetz nicht auf eine Moral- oder Rechtsnorm reduzierbar ist. Marx und Engels formulierten das Verhältnis von Sein und Bewußtsein richtig, was ihnen ermöglichte, die realen Triebkräfte der Entwicklung auch von Moralphänomenen zu erfassen.

WiNFiELD, RICHARD DIEN: Conceiving something without any conceptual

scheme. — In: The OwI of Minerva. Villanova, Pa. 18 (1986/1987), N. 1, 13-28. What is „something"? — or, more specifically, what is „something" when considered as a category of either logic or being? Even though it is indeed self-evident that „something" exists, it is not at all clear what „something" is. Winfield approaches H.'s logic hoping to find a non-circular, non-trivial, and non-contradictory way to answer these questions. After rejecting both substance and privileged determiners, he argues that „something" is still reducible to the indeterminate and that H.'s treatment (in terms of becoming, otherness, and relation) of the progress of the indeterminate to the determinate is on the right track.

Negation and Contrast: The Origins of Self-Consciousness in Hegel and Whitehead. — In: Hegel and Whitehead. Contemporary Perspectives on systematic Philosophy. Ed. by George R. Lucas, Jr. New York 1986. 207—218.

WOLF-GAZO, ERNEST:

Verf. parallelisiert H. s und Whiteheads Versuche, die Genese von Selbstbewußtsein bzw. von Bewußtsein zu erklären. Während bei H. ausschließlich das Selbstbewußtsein durch Negation konstituiert wird, findet sie Whitehead bereits in der einfachen, nicht-begrifflichen Perzeption, die in der Form von „differentiation, configuration and contrasting" wirksam ist. Sowohl H. als auch Whitehead entdeckten die Widersprüchlichkeit der Welt: der eine im

430

BIBLIOGRAPHIE

Sinn der Negation, die schließlich zu einer notwendig vernünftigen Realität führt; der andere im Siim des Gegensatzes, durch den das Reale die Möglichkeit hat, vernünftig zu sein. ZiZEK, SLAVOJ: . .. Quelle coinddence! — ln: L'Ane, N. 27. Paris 1986.

16-17. Verf. geht es darum, zwei Triaden von Entgegensetzungen zu denken, die er im Ausgang von der Entgegensetzung des Realen und seiner Symbolisierung gewinnt. Hierfür katm er sich nur auf einen Präzedenzfall aus der Geschichte der Philosophie stützen: H. s BCritik am EHng an sich Kants. In dieser Kritik zeigt H., daß das E)ing an sich unmittelbar mit dem Gedankending zusammenfällt. ZucAL, SILVANO; L'interpretazione teologica di Hegel nel primo Balthasar

[Die theologische Hegel-Interpretation beim frühen Balthasar]. — ln: Filosofia oggi. Genova. 9 (1986), 267—304. Verf. präsentiert Balthasars Hegel-Interpretation unter eingehender Berücksichtigung von Apokalypse der deutschen Seele (1937) und Prometheus (1947). Besonders diese zwei Werke bieten eine Analyse der deutschen Philosophie von der Romantik bis zu H.: Kant, Fichte, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin, Novalis und Schelling sind zusammen mit H. deren Hauptfiguren. In diesem Kontext erweist sich H. s spekulative „Geduld" lücht als das Gegenteil des romantischen Enthusiasmus, sondern als dessen Metamorphose, die, auf ein „positives Denken" gegründet, eine Lebensphilosophie intendiert.

J.; Die Philosophie des Bewußtseins in der „Phänomenologie des Geistes" unter zeitgenössischer Perspektive. [Polnisch.] — ln: Studia Filozoficzne. N. 248. Warszawa 1986. 63—76. ZYCHOWICZ,

Nachträge aus früheren Berichtszeiträumen (1983—1985)

La idea hegeliana de libertad y el significado de los fenömenos econömicos [Die Hegelsche Idee der Freiheit und die Bedeutung der ökonomischen Phänomene]. — In: Archivos de la Sociedad Peruana de Filosofia. Lima. 5 (1985), 21—46. ALBIZU, EDGARDO:

Versuch, die spekulative Bedeutung des Verhältnisses zwischen Ökonomie und Freiheit im Denken H. s herauszuarbeiten. Dabei unterscheidet der Verf. mehrere semantische Ebenen, deren Verwechslung viele Kritiken an H. s Philosophie ausgelöst hat. Verf. setzt sich mit diesen Kritiken auseinander und kommt zum Schluß, daß H. s soziopolitisches und ökonomisches Denken eine Theorie ist, deren Logik seiner historischen Gegenwart entspricht und nur noch als Grundlage unserer Gegenwart gültig ist.

Lukäcs' Theorie der „Verdinglichung" und die Hegelsche Metaphysik. — In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Meisenheim a. Gl. 39 (1985), N. 2, 273-288. ALEKSANDROWICZ, DARIUSZ:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

431

H. gründet die Fähigkeit wahrer Erkenntiüs nicht auf rein epistemologische Voraussetzungen, stützt sie vielmehr auf das Vorhandensein bestimmter ontologisch definierter Eigenschaften des Subjekts; diese sind für H. Ursprung des Falschen und Bösen. Lukäcs übernimmt dieses Schema in erweiterter Form (Proletariat u. Bourgoisie als Subjekte des „notwendigen Seins" u. der „zufälligen Existenz"). Es zeigt sich auch eine Verwandtschaft zwischen H. s Begriff des konkreten Subjekts der Befreiung (Christ-Menschen) u. Lukäcs' Klasse der Proletarier sowie in der Auffassung der Geschichte: diese ist nicht so sehr ein Prozeß der Veränderung in der Welt der Gegenstände, als vielmehr ein Prozeß, in dem die „Dinghaftigkeit" als eine besondere ontologische Form der Gegenständlichkeit abgeschafft wird.

Hegel und das „Ende der Kunst". [Neugrie— In: Chronika Aisthetikes. Athenai. 21/22 (1982—1983),

APOSTOLOPOULOU, GEORGIA:

chisch.] 90-112.

Die Formel vom Ende der Kunst erhält ihren spezifischen Sinn durch H. s Verständnis des Begriffs des Endes; als ein Moment der Aufhebung in dialektischer Verbindung mit dem Moment der Aufbewahrung. H. s Begriff des Endes behält seine spezifische Bedeutung nur im Rahmen seines philosophischen Systems, in dem mit dem Stellenwert der Kunst auch der von Religion und Philosophie bestimmt wird. Die Geschichte der Kunst spiegelt ihre nachlassende Bedeutung als Ausdruck der „Wahrheit des absoluten Geistes". In dem Maße, wie die Kunst sich von der Religion als ihrem Ideal trennt, übenümmt die christliche Religion die Repräsentation des Geistes, in der Form der Entfaltung des subjektiven Bewußtseins. Nach Hegel bleibt die Kunst in ihrer höchsten Bestimmung „für uns" etwas Vergangenes. „Für sich" aber behält die große Kunst der Vergangenheit ihre höchste Bestimmung und ihren Stellenwert in der Entwicklung des Selbstbewußtseins des Geistes; dies wird jetzt durch die Vermittlung des Begriffs gewußt.

Hegel e a questao do niilismo. Uma Introducao [Hegel und die Frage des Nihilismus. Eine Einführung]. — In: Cademos. N. 19. Säo Paulo 1985. 73 -91. ARANTES, PAULO EDUARDO:

Zur Herkunft und Funktion des Arbeitsbegriffs in Hegels Geistesphilosophie. — In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bonn. 29 (1985), 99-115. ARNDT, ANDREAS:

Verf. stellt die These auf, „daß H. seit der Übersiedlung nach Frankfurt Anfang 1797 nüt dem Hölderlinschen Konzept der ,Vereinigungsphilosophie' ein Konzept übernimmt, das eine Theorie der Arbeit als Poiesis enthält, wobei der Begriff der Arbeit von vornherein mit dem der Reflexion verbunden ist". Zunächst verdeutlicht er diesen Zusaiiunenhang, um dann zu zeigen, „wie H. s von Hölderlin abweichender Weg bei der Lösung der nüt dem Konzept der , Vereinigungsphilosophie' aufgeworfenen Probleme in Jena zur Herausbildung eines eigenen Arbeitsbegriffs führt, der abschließend in seiner Entwicklung und systematischen Funktion zusammenfassend charakterisiert" wird.

Einige Aspekte der Hegelschen Auffassung der Gegenwart. — In: Reports on Philosophy. N. 9. Warszawa, Krakow 1985. 21—32.

BAL, KAROL:

432

BIBLIOGRAPHIE

In Bern huldigt H. wie viele seiner Zeitgenossen dem Staatsideal des griechischen Altertums. Späterhin erkennt er, daß dieses Ideal der heutigen Zeit unerreichbar geworden ist. Im Unterschied zu Fichte räumt er in seiner historiosophischen Periodisierung nunmehr der Gegenwart eine zentrale Stellung ein. Damit stellt er sich in entschiedenen Widerspruch zu denjenigen, die die gesellschaftlichen Erfolge der Französischen Revolution negieren wollen.

Del Individuo y del Estado (Anotaciones a unas lecciones de Norberto Bobbio sobre „Hegel y el Estado") [Von Individuum und Staat. Anmerkungen zu einigen Vorlesungen von N. Bobbio über „Hegel und der Staat"]. — In: Revista de Estudios Politicos (Nueva Epoca). Madrid. 44 (1985), 125-135. BECCHI, PAOLO:

Kritische Auseinandersetzung mit Bobbios 1982 in Neapel vorgetragener Interpretation von H. s Verhältnis zum Staat. Auf die neuen Editionen von H. s Vorlesungen über Rechtsphilosophie sich stützend (Ilting, Henrich), bestreitet der Verf. vor allem, daß H. als antiliberal oder als politisch konservativ verstanden werden kann.

Le filosofie del diritto di Hegel. La nuova situazione delle fonti [Hegels Rechtsphilosophien. Die neue Quellenlage]. — In: Material! per una storia della cultura giuridica. Bologna. 14 (1984), N. 1, 111-124. BECCHI, PAOLO:

Verf. stellt die Quellenlage zu H. s Rechtsphilosophien mit Berücksichtigung der von H. veröffentlichten Texte (hauptsächlich die erste Auflage der Enzyklopädie und die Grundlinien) sowie der jetzt zugänglichen Vorlesungsnachschriften dar. Die ersten drei Kurse über Rechtsphilosophie (1817/18, 1818/19, 1819/20) erweisen sich in ihren Diskontinuitäten besonders ergiebig für eine Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte der Grundlinien und verweisen auf ein vermutlich verlorengegangenes Manuskript, das veröffentlicht werden sollte, als die Karlsbader Beschlüsse das politische Szenarium verändert haben.

„Hegel est mort noye", ou l'horizon litteraire. — In: Chemin de Ronde. Marseille. 5 (1984), o. S. BESNIER, JEAN-MICHEL:

Sich orientierend an einer Vielzahl zeitgenössischer Autoren, besonders an Blanchot und Derrida, untersucht Verf., inwiefern das Ende der Philosophie einen Raum für Literatur eröffne, die erst das sagen könne, was dem Logos unzugänglich bleibe. H. ist der Prüfstein und Wendepunkt, in seinem Werk werden Paradoxien offenbart (Sterben ohne Tod, Bedeutung auf dem Boden von Bedeutungslosigkeit), das Denken kann jedoch ein maschinell funktionierendes Nicht-Denken nicht als sein Anderes (an-)erkennen. Als ein solches Anderes tritt die hier angesprochene Literatur ein.

La transition de l'esprit objectif ä l'esprit absolu chez Hegel. — In: Hegel. L'esprit absolu. Ed. Theodore F. Geraets. Ottawa 1984. (Philosophica. 26.) 39—54.

BODEI, REMO:

Abdruck des zuerst 1982 erschienenen Aufsatzes. Vgl. Hegel-Studien. 19 (1984), 401.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

433

Die Lehre von der Opposition bei Hegel und Gans. — In: Rechtstheorie. Berlin. 15 (1984), 343—383. BRAUN, JOHANNES:

Die Brisanz der H. sehen Aussagen zur Opposition in den Grundlinien der Philosophie des Rechts überprüft Verf. vor dem zeitgenössischen Hintergrund. Der zweite Teil zeigt, wie E. Gans' Anknüpfung an die H. sehe Logik allmählich zu einem „tiefgreifenden Umbau" des inneren Staatsrechts von H. führt.

J.: Hegel in America. — In: Reports on Philosophy. N. 9. Warszawa, Krakow 1985. 83—92. BRAZIL, WILLIAM

Der stärkste Einfluß H. s auf das Geistesleben in den USA ging nicht von amerikanischen Studenten aus, die bei H. in BerUn studiert hatten, sondern von deutschen Einwanderern. Ihr Weg führte nicht über die Universitäten, sondern über kleine Zirkel von Amateurphilosophen in den Städten des Westens (St. Louis, Cincinnati, Milwaukee, Chicago). Vor allem sind hier zu nennen Johann Stallo, Peter Kaufmann und August Willich. Dazu kommen noch die Gründer der St. Louis Philosophical Society (Henry Brokmeyer und William Torry Harris) mit ihrem Journal of Speculative Philosophy. Obwohl H. s Einfluß in Amerika überwiegend diffus bUeb, diente er doch der Verstärkung der kulturellen und politischen Ideen Amerikas.

The first Encyclopedia article on Hegel (1824, 1827). — In: Clio. Kenosha, Wisc. 13 (1984), N. 4, 369 -376.

BUTLER, CLARK:

Übersetzung des ersten Lexikonartikels über Hegel (1824) in der etwas gekürzten Fassung von 1827. Der anonyme Verfasser war Johann Amadeus Wendt. Vgl. F. Nicolin: Der erste Lexikon-Artikel über H. (1824). In: Hegel-Studien 7 (1972), 113—122.

Privatleben e senso dello Stato negli scritti giovanili di Hegel [Privatleben und Sinn für den Staat in Hegels Jugendschriften]. — In: Atti dell'Accademia di Scienze Morali e Politiche. Napoli. 95 (1984), 343-385. CANTILLO, GIUSEPPE:

Verf. untersucht H. s Thematisierung der politischen Entzweiung in der nachklassischen Welt besonders anhand von H. s frühen Schriften (Volksreligion und Christentum, Positivitätsschrift, Systemfragment, Kommentar zu Kants Metaphysik der Sitten, Württembergschrift, Verfassungsschrift). Von der anfänglichen Entgegensetzung zwischen Moralität und Legalität (als Spaltung von Tugend und Gesetz, Egoismus und öffentlichem Interesse), die in der Polarität „Kant und die Griechen" als Repräsentanten der Moderne und der Antike ihren Ausdruck findet, führt die Entwicklung von H. s politischem Denken zum Versuch einer Versöhnung zwischen dem Sinn für den Staat und der Privatisierung des Lebens, was ab Jena H. s Rechtsphilosophie besonders in der Behandlung der bürgerlichen Gesellschaft charakterisieren wird und was auf einer neuen Auffassung der politischen Entwicklung von der orientalischen zur germanischen Welt basiert. Innerhalb dieser Wandlung, die mit dem Kommentar zu Kants Metaphysik der Sitten einsetzt, bilden H. s Konzeption des Staates als Maschine sowie H. s komplexer Bezug auf die naturrechtliche, spätaufldärerische und neuklassische Traditionen besonders aufschlußreiche Leitfäden.

434

BIBLICäRAPHIE

J.: The Linguistic Tum in Kierkegaard's Attack on Hegel. — In: International Stiidies in Philosophy. Torino. 17 (1985), N. 3, 1-13. CLOEREN, HERMANN

CoRN, TONY: La negativite sans emploi (Derrida, Bataille, Hegel). — In:

The Romanic Review. New York, N. Y. 76 (1985), N. 1, 65 —75. La logique du concret: idealisme et materialisme. — In: Etudier Marx. Edition dü CNRS. Hrsg, von G. Labica und M. Delbraccio. Paris 1985. 11—30. COLLIOT-TH£L£NE, CATHERINE:

„Dialektischer Materialismus" ist der Name für eine Konzeption der Prozesse, die für den Akt des Erkennens konstitutiv sind. Seine Existenz wurde vorausgesetzt; die widersprüchlichen Diskussionen, die um ihn geführt worden sind, drehten sich allein um die Definition seines Inhalts. Die vielfachen Versuche, diesen Inhalt zu präzisieren, haben indessen zu keiner Übereinstimmung geführt. Verf. will zeigen: 1. Diese Versuche waren über ihre Verschiedenheit hinweg in ihrem Prinzip fehlerhaft. 2. Als Marx gezwungen war, die Form zu bestimmen, die ein wahrer philosophischer Diskurs haben muß, nahm er ungeachtet seiner Kritik an H. oft die Deduktionen der Wissenschaft der Logik zum Leitfaden. CouRTOis, GERARD: Le droit penal est-U en soi historique au sens de He-

gel? — In: Droit et Cultures. Paris. 1985, N. 9—10, 3—13. Wenn man die juristischen Formen und Lösungen darstellen will, indem man ihre Bewegtheit in der Zeit berücksichtigt, scheinen nur zwei Wege offen zu sein. Entweder behauptet man, daß dem Recht die Veränderung von außen zukomme, oder daß sie ihm konsubstantieU ist. Letzteren Weg ist H. gegangen. Dies stellt Verf. am Beispiel der Fortentwicklung der Rache zur gerichtlichen Verfolgung dar. ln allen Kulturen hat sie die gleiche Entwicklung genommen. In der Kontingenz der geschichtlichen Entwicklung müssen also zwingende logische Momente am Werke sein. H. s Grundliiüen mit ihrer Idee einer autonomen und notwendigen Entwicklung der Idee des Rechts behalten also für die heutige Rechtsphilosophie ihre Bedeutung.

Hegel as Deconstructor. — In: Clio. Kenosha, Wisc. 14 (1985), N. 4, 407-422.

CRESAP, STEVEN:

Verf. versucht H. in Bezug zur Methode der „deconstruction" zu bringen, ausgehend von Baibus' Marxismus und Herrschaß. Er analysiert — im Gefolge von Paul de Man — Kants und H. s Anschauungen über das Erhabene und leitet von dort über zu H. s „Dekonstruktion der individuellen Autonomie".

Marxist Ideology and Feuerbach's Critique of Hegel. — In: The Philosophical Forum. Boston, Mass. 15 (1984), N. 3, 234-238. DAHLSTROM, DANIEL:

Verf. analysiert Feuerbachs Kritik der H. sehen Philosophie aus dem Jahr 1839 vor dem Hintergrund einer Interpretation, wie sie insbesondere Wartofsky gegeben hat. Wenn Feuer-

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

435

hach sich gegen die Absolutheit, die Voraussetzungslosigkeit des Anfangs, den Systemanspruch und die Deutung der sinnlichen Gewißheit innerhalb der H. sehen Philosophie wendet, so basieren diese Einwände auf einem Mißverständnis, demzufolge H. das Absolute mit der absoluten Idee in der Wissenschaft der Logik identifiziert hat. Obwohl Marx das gleiche Mißverständnis teilt, erkannte er doch, daß Feuerbachs Kritik zu einer Dichotomie zwischen Sinnlichkeit und Vernunft führt, wodurch man der sozialen Struktur menschlicher Praxis nicht gerecht werden kann.

Schöpfung, Trinität und Modernität bei Hegel. Ein Denkexperiment. — In: Zeitschrift für Katholische Theologie. Wien. 107 (1985), N. 3-4, 287-298. DECLEVE,

HENRI:

Seine Gedanken zu H. s Lehre von Schöpfung und Trinität beschließt Verf. mit der Bemerkung, es sei ihm „fast peinlich deutlich, daß das vorliegende Denkexperiment in mancher Hinsicht methodologisch und theologisch gerechtfertigt werden sollte. Hier sei nur folgendes bemerkt: Indem dieses Experiment als Philosophieren in der Kirche geschieht, treibt es nicht so sehr H. forschung als Phänomenologie der modernen Lebenserfahrung; mit H. ein Stück Weges mitgehend, versucht es, das eigene Denken für seine heutigen Aufgaben wach zu halten, und es kann so daran mitarbeiten, das Denken von einer eventuellen hegelianischen Versuchung zu befreien."

Analyse der Entdeckung der wirklichen Triebkraft in der Geschichte durch Marx. [Bulgarisch.] — In: Filosofska missal. Sofia. 41 (1985), N. 2, 26-34. DELTSCHEV, KRASSIMIR:

Die Triebkraft der Geschichte nach H. s Auffassung ist die Idee, der Geist. Marx betont dagegen die RoUe der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse. Seine im Grunde genommen materialistische Geschichtsauffassung ist in einer steten Auseinandersetzung mit der idealistischen Auffassung H. s entstanden und widerlegt sie.

Hegel on the sublime. — In: Displacement. Derrida and after. Ed. by Mark Krupnick. Bloomington 1983. 139—153. DE MAN, PAUL:

Der späte Paul de Man plante eine größere Darstellung über H., die aber wegen seines Todes nicht fertiggestellt werden konnte. Nur einige Aufsätze liegen dazu vor, wozu der vorliegende gehört. De Man interpretiert hier H. s Vorlesungen über die Ästhetik unter dem Aspekt seiner Rezeption Kants, wobei die Sektion über „Die Kunst der Erhabenheit" im Zentrum der Betrachtung steht. Letztlich geht es aber um das alte de Man'sche Problem des „literal and figural discourse".

El concepto en Hegel. — In: Revista Venezolana de Filosofia. N. 19. Caracas 1985. 63—87.

DIAZ, A., JORGE AURELIO:

Verf. setzt sich mit Thesen, die Eduardo Väsquez in seinem Buch Ensayos sobre la dialectica vertritt, auseinander. Was Väsquez „Dialektik des Begriffs" nennt, sei nur ein allgemeines Schema der Dialektik. Dieser vermeintliche „Schlüssel" der Interpretation H. s werde zwar von allen wichtigen Kommentatoren H. s vorausgesetzt, doch es genüge nicht, um den Reichtum und die Grenzen seines Denkens zu begreifen. Die Phänomenologie folge zudem nicht der Dialektik des Begriffs, sondern der des Wesens. Schließlich versucht Verf., die Vieldeutigkeit des Begriffs bei H. darzustellen.

436

BIBLIOGRAPHIE

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Art and Absolute Spirit, or, The Anatomy of Aesthetics. — In: Hegel. L'esprit absolu. Ed. Theodore F. Geraets. Ottawa 1984. (PhUosophica. 26.) 55 - 70. DONOUGHO, MARTIN:

Abdruck des zuerst 1982 erschienenen Aufsatzes. Vgl. Hegel-Studien. 19 (1984), 409.

Hegel's Critique of Hellenic Virtue. — In: Dionysius. Halifax. 9 (1985), 3-17. DOULL, JAMES;

Hegel's Absolute Spirit: A Religious Justification of Secular Culture. — In; Hegel. L'esprit absolu. Ed. Theodore F. Geraets. Ottawa 1984. (PhUosophica. 26.) 127-147. DUPRä, LOUIS:

Abdruck des zuerst 1982 erschienenen Aufsatzes, Vgl. Hegel-Studien. 19 (1984), 410.

Hegel: Rapport entre „Phenomenologie de l'Esprit" et „Science de la Logique". — In: Philosophie. N. 11. Paris 1985. 143—153. FERRARI, OWARD:

Popper and Dialectics. I. Dialectical Elements in Popper's Criticism of Dialectics. II. Dialectics and Historical Knowledge. — In: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös nominatae. Sectio PhUosophica et Sociologica. Budapest. 17 (1983), 251-272 und 18 (1984), 67-92. FEH£R, ISTVäN:

Daß Popper inmitten seiner vernichtenden Dialektik- und Historismus-Kritik eine der Grundvoraussetzungen jedweder dialektischer Epistemologie — daß nämlich das erkennende Subjekt sowie der Wissensakt das zu erkennende Objekt nicht unmodifiziert lassen — in Anspruch nimmt; daß der Rekurs auf sie seine Kritik am Marxismus allererst möglich macht: diese These wird im ersten Teil herausgearbeitet, wobei sich die Tatsache, daß Popper selbst dies überhaupt nicht bewußt wird, daraus erklärt, daß Poppers Dialektikkritik einen landläufigen und historisch unhaltbaren Begriff von Dialektik vor Augen hat. — Da Dialektik kraft ihres Charakters, das erkennende Subjekt im erkannten Gegenstand mitzudenken, den Anspruch auf Wissen der Totalität erhebt (wozu Wissen der Geschichte notwendigerweise zukommt), werden im zweiten Teil Möglichkeiten und Grenzen eines abgeschlossenen und letztbegründeten philosophischen Systems untersucht von Hegel bis Lukäcs, Heidegger und die Sprechakttheorie.

Notas sobre la razön histörica: dos intentos de fundamentaciön [Anmerkungen über die historische Vernunft. Zwei Be-

FERRER SANTOS, URBANO:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

437

gründungsversuche]. — In: Anuario Filosöfico de la Universidad de Navarra. Pamplona. 18 (1985), N. 1, 157—168. Verf. gibt einen Umriß der Geschichtsphilosophie von Ortega y Gasset und H. in ihrem Gegensatz zu allen naturalistischen Erklärungsversuchen. Ortega hat den Protagonismus des Einzelnen im historischen Geschehen betont und „lebendige Vernunft" (razön vital) mit historischer Vernunft verbunden. Von diesem Ansatz her wäre eine neue Lektüre dessen, was H. „objektiver Geist" nennt, möglich, wobei zugleich Ortegas Begriff des „Umstandes" (circunstancia) in einem umfassenderen Rahmen behandelt werden könnte, aus dem der Begriff der „Entscheidung" (decisiön) nicht ausschließbar wäre.

FERRONI, LORENZO:

La critico di Rosmini al Hegel nella „Teosofia" [Die

Kritik Rosminis an Hegel in der „Theosophie"]. — In: Rivista Rosminiana di Filosofia e di Cultura. Stresa. 79 (1985), N. 1, 51—76. Freiheit, Schönheit und Leben. Zur Entwicklung des Hegelschen Denkens in Frankfurt. [Japanisch.] — In: Journal of religious studies. N. 256. Tokyo 1983. 27-54. FUJITA, MASAKATSU:

Insuficiencia y necesidad de la intuiciön en Hegel [Unzulänglichkeit und Notwendigkeit der Anschauung bei Hegel]. — In: Anales des Seminario de Metaffsica. Universidad Complutense. Madrid. 19 (1984), 110-147. GABILONDO, ANGEL:

Versuch einer skizzenhaften Rekonstruktion der Stellung der Anschauung in H. s System. Eine Analyse von Texten um 1802, vor allem des Systems der Sittlichkeit und des Naturrechtsaufsatzes, die eine Achse in H. s Verfahrensweise darsfellen, läßf darauf schließen, daß in ihnen die Anschauung als eine Art Vorahnung der Idee fungierl. Danach wird am Leitfaden des enzyklopädischen „Vorbegriffs" H. s Haltung gegenüber der philosophischen Tradition vom Empirismus bis Schelling kritisch untersucht. Durch diese Lektüre wird die Abhandlung zum Problem des Anfangs der Wissenschaft als das reine, unmittelbare Sein geführt. Die Rückkehr der Logik zu dieser Unmittelbarkeit als ein Resultat begründet die Rede von einer begriffenen und begreifenden Anschauung, wobei die Distanz zwischen der ersten und zweiten Unmittelbarkeit durch eine Vertilgung der Zeit aufgehoben wird, und die aktive Erinnerung an der Unzulänglichkeit und gleichzeitiger Notwendigkeit der Anschauung eine wichtige Rolle spielt.

Hegel's Sermons. Translation and annotation. — In: Clio. Kenosha, Wisc. 13 (1984), N. 4, 377-399. GEORGE, MICHAEL:

Die vier erhalten gebliebenen Predigten H. s — entstanden in den Jahren 1792—1793 — werden hier erstmals übersetzt und, mit einer kommentierenden Einleitung versehen, den englischsprechenden Interessenten zugänglich gemacht. Drei der Predigten basieren auf einem Bibelzitat, während die vierte die „Vorsehung" thematisiert. Nicht nur als ein Zeugnis aus der Tübinger Zeit H. s, sondern aufgrund der in ihnen dokumentierten Eigenständigkeit und der durch sie nachvollziehbaren ständigen Fortschritte des H. sehen Denkens über das Christentum, sind diese Predigten für die Forschung von besonderem Wert.

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BIBLICXIRAPHIE

Bemerkungen zum Kapitel „Herrschaft und Knechtschaft" in Hegels Phänomenologie des Geistes. — In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Meisenheim a. Gl. 39 (1985), N. 2, 187—213. GLOY, KAREN:

Durch die Vielzahl und Diversität der Interpretationen zum genannten Kapitel der Phänomenologie sieht Verf. den direkten Zugang zum Text versperrt. Ziel der Abhandlung ist die Decouvrierung der vorliegenden Interpretationen und Methoden, um den Boden für neue Interpretationen zu bereiten. Innerhalb der materialen Interpretation unterscheidet Verf. zwischen 1. den historischen (Kojeve, Fetscher, Ottmann), 2. den soziologischen 0ahnke) und 3. den psychologischen Auslegungen (Kelly). Von den inhaltlichen/materialen Interpretationen hebt Verf. die formalen (strukturellen) ab, die die Phänomenologie als idealtypische Konstruktion betrachten, „die von den diversen Applikationen unabhängig, ja denselben transzendent ist": in dieser Grundthese decken sich die beiden einzigen strukturellen Interpretationen von Gadamer und W. Becker. Zwei Problemkomplexe stehen nach der kritischen Durchmusterung dieser Lesarten zur Entscheidung an: 1) liegt dem H. sehen Kapitel eine Subjektivitäts- oder eine Intersubjektivitätstheorie zugrunde und 2) welches Verhältnis herrscht zwischen idealtypischer Struktur und konkreter Anwendung? Verf. widmet sich diesen Fragen und trägt eine „ontotheologische" Deutung dieses Abschnittes vor.

Der Begriff der Entfremdung im klassischen deutschen Idealismus (II). — In: Hitotsubashi Journal of Arts and Sciences. Tokio. 26 (1985), 15-45. HABERMEIER, RAINER:

Verf. versteht die von den von der Phänomenologie des Geistes beschriebenen Erfahrungsprozeß als die Erscheinung der spekulativen Logik in den Formen des Bewußtseins. Obwohl es sich bei H. um ein Programm der Aufklärung handelt, die Selbst-Entfremdung auch kognitiv aufzuheben, endet er bei einem dogmatischen Idealismus der reinen Determiniertheit durch transzendentale und logisch-strukturelle Bedingungen. Die Phänomenologie folgt einem triadischen Geschichtsmodell, das das moderne Subjekt-Objekt-Schema in eine evolutionäre Gestaltenreihe projeziert. So ist die Phänomenologie eine indirekte Gegenwartstheorie, die sich vornehmlich mit den zeitgenössischen Formen der Entfremdung (Pluralismus, Relativismus, Skeptizismus, romantischer Irrationalismus) auseinandersetzt. Hierbei zeigt H., wie der Geist als Kultur die antagonistisch entzweite Moralität versöhnt. Mit einer solchen Lösung scheut H. zwar vor der Revolution zurück, aber die von ihm betonte Freiheit in der Kultur impliziert nicht nur die Sanktion des Status quo, sondern sie bringt gleichfalls die philosophischen Grundlagen einer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft hervor, die dieser evolutionär überlegen ist.

Phenomenology and Self-Reflection. — In: Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie. Wiesbaden, Stuttgart. 16 (1985), N. 1, 25-46. HAGA, ÄNUND:

Verf. will eine elementare und einführende Diskussion einiger Gesichtspunkte der H. sehen Theorie des Absoluten geben. Teil I unternimmt es, eine bestimmte Interpretation von H. s eigener Einleitung in die Phänomenologie zu kritisieren. Teil II bietet eine Begründung der Idee H. s vom Absoluten als Selbstbewußtsein. Teil III diskutiert Probleme, die sich aus dem phänomenologischen Versuch, das absolute Wissen zu rechtfertigen, ergeben.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

439

S. „And the darkness comprehended it not." (The origin and significance of Hegel's concept of Absolute Spirit). — In; Hegel. L'esprit absolu. Ed. Theodore F. Geraets. Ottawa 1984. (Philosophica. 26.) 15-37.

HARRIS^ HENRY

Abdruck des zuerst 1982 erschienenen Aufsatzes. Vgl. Hegel-Studien. 19 (1984), 416.

Handlungstheorien im Politischen. II. TeU. — In: Perspektiven der Philosophie. Amsterdam, Würzburg, 11 (1985), 339—347. HARTMANN, KLAUS:

Gegenüber modernen Handlungstheorien (Sartre, Arendt, Habermas, Buber) macht Verf. die ontologische Theorie H. s geltend, die es erlaubt, den Staat im Sinne eines wirklich gewordenen Allgemeinen als Prius auszugeben. Während der moderne Ansatz bei einer Kommunikation von Gleichen bloß zum partikularen Modell freiwilliger Zusammenschlüsse gelangt, enthält die veritative Theorieanlage H. s das Potential zur Ausbildung einer normativen Institutionenlehre, die der individualistische Universalismus der Handlungstheorien weitgehend ausklammern muß.

L.: The Logic of Commadity Circuits. — In: Philosophical Forum. Boston, Mass. 15 (1984), N. 3, 280—322. HARVEY, DAVID

Die vorliegende Studie setzt sich zum Ziel, im Anschluß an entsprechende neuere Forschungen die Beziehungen zwischen Marx' Kapital (Bd 2) und H. s Wissenschaft der Logik zu untersuchen. Verf. unterzieht die H. sehe Syllogistik und die Marxsche Theorie des Warenaustausches einer detaillierten Analyse, die deutlich machen soll, daß die H. sehe Dialektik die gesamte Präsentation des zweiten Bandes des Kapitals bestimmt. Es wird allerdings nicht ein hegelianisierter oder strukturalistischer Marx sichtbar, sondern vielmehr ein Marx, der entscheidend durch die materialistische, Feuerbachsche Antwort auf H. s Philosophie bestimmt ist.

Guidelines for the Journal of German Literature (1807). — In: Clio. Kenosha, Wisc. 14 (1984), N. 4, 407—414. HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH:

Englische Übersetzung der 1807 in Jena (ev. auch in Bamberg) entstandenen Schrift „Maximen des Journals der deutschen Literatur"; in ihrer Einleitung stellen die Herausgeber die „Maximen" in ihrem zeitgenössischen Kontext dar und stellen die Unterschiede zum späten Hegel (1821) heraus.

L'idee absolue dans la „Science de la Logique" de Hegel. — In: Hegel. L'esprit absolu. Ed. Theodore F. Geraets. Ottawa 1984. (PhUosophica. 26.) 109-126. HOGEMANN, FRIEDRICH:

Abdruck des zuerst 1982 erschienenen Aufsatzes. Vgl. Hegel-Studien. 19 (1984), 419.

Hinweise zur Überwindung der defizitären Anthropologie der Neuzeit. — In: Wiener Jahrbuch für Philosophie. Wien. 17 (1985), 15-27. HORN, JOACHIM CHRISTIAN:

440

BIBLIOGRAPHIE

Ausgehend von dem geschichtlichen Befund, daß die vom Körper-Geist-Dualismus bestimmte Neuzeit bei Kant an ihr Ende gelangte, sieht Verf. den Anfang einer nicht defizitären Anthropologie im idealistischen Rückgriff auf Leibniz. Obwohl sich H. nicht vehement auf Leibniz berief, teilt er mit ihm die Ansicht von einem ontologischen Prinzip, auf das die gesamte Welt der Erscheinung gegründet ist. Die Entdeckung Leibnizens, daß individuelle Abläufe einer Gesetzmäßigkeit unterliegen, habe H. zur Theorie eines in sich widerständigen dialektischen Prozesses ausgebildet. Er vollzog damit einen Paradigmawechsel ,vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein', wobei das impUzierte Selbst ebenso subjektabhängig ■wie subjektunabhängig gedacht werden muß. Auf diese Weise erneuerte H. eine rationale Weltanschauung, die auf der Basis von Leibniz auch für das Moralische und Ästhetische eine prozessuale Einheit systematisch geklärt hat.

Four Early Poems By Hegel. — In: Clio. Kenosha, Wisc. 13 (1984), N. 4, 401-405. HOFFHEIMER, MICHAEL H.:

Verf. analysiert die Frankfurter Jugendgedichte H. s. Sie seien zwar literarisch von nur geringem Wert, dafür aber unter anderer Hinsicht bedeutsam, „ln the first place, these concrete artistic efforts confirm H. most definitively as a partisan of Classicism in the arts and demonstrate his distance from the Romantic movement. . . Second .. . these poems are of direct value for understanding H. s theoretical perspective in Frankfort." In einem Anhang werden die Gedichte in englischer Übersetzung präsentiert.

IwAKi, KEN-ICHI: Das moderne Ideal als Wunschbild. Fr. Th. Vischers

Ästhetik. - In: Bigaku. Tokio. 32 (1981), Nr. 3, 14-25. Nach H. ist die Kunst in der modernen Welt ,tabula rasa' geworden, weil sie nicht mehr auf die bestimmte Weltanschauung und deren Gehalt und Darstellungsweise beschränkt worden ist. Verf. will die positive Bedeutung dieses Satzes für die Kunst unserer Zeit klären. Auch die Ästhetik Vischers versucht die Kunst zu begründen, obwohl sie auf das H.sche System aufbaut, ln seiner Ästhetik finden sich deshalb einander widersprechende Richtungen, nämlich die hegelsche und die nachhegelsche, widergespiegelt in den Schwierigkeiten der H.sehen Gehaltsästhetik und deren Schwierigkeiten in der ,Grundlosigkeit' (Oelmüller) der modernen Welt. Die Wesenszüge der Vischerschen Ästhetik werden von drei Gesichtspurdeten aus beleuchtet; 1) das negative Verhältnis zur Religion, 2) der Auffassung der neueren Idee als ,Persönlichkeit' und 3) dem Versuch, das moderne Ideal auf Grund dieser Idee zu begründen.

Kirche und Staat bei Hegel. — In: Reports on Philosophy. N. 9, Warszawa, Krakow 1985. 5—19.

JAESCHKE, WALTER:

Verf. exponiert das in H. s Philosophie ungelöste Dilemma, „wie einerseits - in Übereinstimmung mit der als vernünftig sanktionierten historischen Entwicklung — die Religion zur Privatsache herabgesetzt und deshalb, explizit oder nicht, der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft zugewiesen werden kann, andererseits gleichwohl an der Überordnung der Religion über die Sphäre des Staates festgehalten werden kann, die sich doch unvermeidlich aus H. s Systemarchitektur ergibt." Zur Auflösung dieses Dilemmas von historisch-vernünftiger Einsicht und systematischer Konzeption schlägt Verf. eine historische Differenzierung im Verhältnis von Religion und Staat vor, die es erlaubt, die institutioneile Gestalt der Religion durch die Privatheit zu ersetzen und gleichwohl an der Absolutheit der Religion festzuhalten.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

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Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers. — In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Teil 2. Hrsg, von Kurt-Victor Selge. Berlin, New York 1985. 1157-1169.

JAESCHKE,

WALTER:

Die Nachträge des Verf. zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers umfassen la) wenig bekannte Parallelen zu H. s Kritik, daß nach Schleiermachers Religionsbegriff der Hund der beste Christ sei; Ib) die These, daß der Zeitpunkt von.H. s religionsphilosophischen Vorlesungen durch Schleiermachers Publikation der Glaubenslehre angeregt sei; Ic) den Hinweis auf den kirchenpolitischen Hintergrund der Kontroverse zwischen H. und Schleiermacher; 2) eine Analyse des Verhältnisses zwischen Schleiermachers Vorlesungen und D. F. Strauß' kritischer Behandlung des Leben Jesu; 3) Erwägungen zu Feuerbachs Anknüpfung an Schleiermachers Religionsbegriff.

Denken und Erkennen. Das Hegelsche Paradigma der Vernünftigkeit. — In: Reports on Philosophy. Warszawa, Krakow. 9 (1985), 41-47.

JEZIOROWSKI ARTUR:

Aus H. s Lehre von der Vernünftigkeit des Wirklichen folgt das Postulat, die unterschiedlichen Gebiete der Erkenntnis in einem logischen System zusammenzufassen. Damit steht der Hegelianismus in Opposition zu einer Wissenschaftskonzeption, deren Standards auf der Grundlage von Experiment und Beobachtung ausgearbeitet worden sind.

Kant und Hegel zur Bestimmung einer philosophischen Geschichte der Philosophie. — In: Studia Leibnitiana. Wiesbaden. 14 (1982), 25-47. KAEHLER, KLAUS ERICH:

Daß eine jede Philosophie, weil sie in die Zeit fällt, später ein historisches Faktum darstellt, führt zu dem Problem, wie eine philosophische Betrachtung beschaffen sein müsse, die dem Doppelcharakter von Philosophischem und Historischem gerecht werden könne. Voraussetzung dafür ist einerseits eine philosophische Konzeption von Geschichte, andererseits eine Konzeption der eigenen Historizität der Philosophie selbst. Verf. geht den Lösungsversuchen Kants und H. s zu diesem Problemzusammenhang nach (die ja ihrerseits für uns historisch sind), wobei er betont, daß Kants Ansatz eher programmatisch bleibe, während H. die Geschichtlichkeit der Philosophie zu ihrer Wahrheit gehörig behaupte.

Schein im Vor-Schein der Kunst. Grenzüberschreitungen zur Identität und zur Nicht-Identität. — In: Tijdschrift voor Filosofie. Leuven. 47 (1985), N. 3, 473-392. KIMMERLE, HEINZ:

Verf. will zum einen einen Beitrag zur kritischen Theorie der Kunst leisten. Zum anderen soll das Werk Ernst Blochs für die aktuelle philosophische Arbeit fruchtbar gemacht werden. Die Frage, was ist Kunst und welchen Platz nimmt sie innerhalb des kulturellen Prozesses ein, gewinnt grundlegende Bedeutung und wird durch eine kritische Aktualisierung der Philosophie H. s geklärt.

L.: Hegel et Shakespeare: le probleme de l'activite individuelle. [Russisch.] — In: Voprosy Filosofii. Moskva. 1985, N. 6, 97—106.

KOGAN,

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Natur und Freiheit. Zwei konkurrierende Traditionen. — In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Meisenheim a. Glan. 39 (1985), N. 1, 3-20.

KRINGS, HERMANN:

Ausgehend von dem kulturkritischen Dilemma, daß das neuzeitliche Denken in ein Bewußtsein rationaler Gesetzlichkeit und in ein Bewußtsein progressiver Freiheit gespalten ist, untersucht Verf. die Philosophie des deutschen Idealismus daraufhin, wie das Verhältnis von Natur und Freiheit bestimmt wurde. Hierbei konzipierte H. einen Prozeß dialektischer Vermittlung, wo in der absoluten Idee das Ansichsein der Natur wie das Fürsichsein der Freiheit aufgehoben sind. Aber auch wenn Geschichte als ein permanenter Prozeß der Aufhebung gedacht wird, bleibt bei H. die Spaltung bis zum Ende der Geschichte erhalten.

Die Entstehung von Hegels „Geist des Judentums". Das Problem von Nohls Edition (1). [Japanisch.] — In: Bulletin der literarischen Fakultät der Komazawa-Universität Tokyo. Tokyo. 1985, N. 1, 60-88. KUBO, YOICHI:

Adam Zöltowski und sein Erneuerungsversuch des Hegelianismus. — In: Reports on Philosophy. N. 9. Warszawa, Krakow 1985. 71-81. KUDEROWICZ, ZBIGNIEW:

Adam Zöltowski (1881-1958) trat zu Beginn dieses Jahrhunderts entgegen den neukantianischen und positivistischen Strömungen für eine Erneuerung des Hegelianismus in Polen ein. Im Anschluß an Cieszkowskis Philosophie der Tat, über die er promovierte, und dessen Prolegomem zur Historiosophie sah er in H. den Gipfelpunkt der neuzeitlichen Philosophie. Zöltowski stellte die Wissenschaft der Logik als Theorie der Dialektik in den Mittelpunkt seiner H. rezeption. Vor allem die Identiät von Denken und Sein, die nicht als Widerspiegelung bestimmt wird, das Prinzip der Negation als Werkzeug zur Erfassung der logischen Struktur der Wirklichkeit, die Idee hinter den Erscheinungen als Unendlichkeit und Ganzheit bestimmten sein Denken. Hervorzuheben ist seine Auseinandersetzung iiüt dem englischen Hegelianismus (Bradley, Stirling, McTaggart), die zu einer teilweisen Übereinstimmung führte.

Das Eigentum als eschatologische Potenz. Zur Eigentumskonzeption von Karl Marx. — In: Eigentum und seine Gründe. La Propriete et ses fondements. Hrsg, von H. Holzhey u. G. Köhler. Studia Philosophica. Supplement 12. Stuttgart 1983. 87—128. KUENZLI, ARNOLD:

ln seinem Überblicksartikel zur Entwicklung der Eigentumskonzeption bei Marx und zu dessen Kritik von Eigentumsbegriffen widmet Verf. S. 90—93 der Auseinandersetzung mit H. s Eigentumsbegriff.

LABARRifeRE, PIERRE-JEAN: Le savorr absolu de l'esprit. — In: Hegel. L'esprit

absolu. Ed. Theodore F. Geraets. Ottawa 1984. (Philosophica. 26.) 71-88. Abdruck des zuerst 1982 erschienenen Aufsatzes. Vgl. Hegel-Studien. 19 (1984), 425.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

443

Absolute Spirit God? - Hegel. L'esprit absolu. Ed. Theodore F. Geraets. Ottawa 1984. (Philosophica. 26.) 98—107. LAUER, QUENTIN: IS

Abdruck des zuerst 1982 erschienenen Aufsatzes. Vgl. Hegel-Studien. 19 (1984), 425.

Bemerkungen zum Begriff des „objektiven Geistes" bei Hegel, Lazarus und Dilthey. — In: Reports on Philosophy. N. 9. Warszawa, Krakow 1985. 49—62. LESSING, HANS-ULRICH:

Bereits ein halbes Jahrhundert vor Dilthey hat Moritz Lazarus (1824—1903) eine Lehre vom objektiven Geist skizziert. Lazarus psychologisiert diesen auf H. zurückgehenden Begriff und erweitert ihn inhaltlich, so daß er dasjenige umfaßt, was H. unter den Titeln objektiver und absoluter Geist abhandelt. Auch Dilthey löst den Begriff des objektiven Geistes aus dem Kontext der spekulativen Philosophie H. s und nimmt ihn ebenfalls so umfassend, daß er den Gesamtbereich des geistigen Lebens umgreift.

HegeTs Phenomenology as a Philosophy of Culture. — In: Journal of the History of Philosophy. La Jolla, Calif. 22 (1984), N. 4, 445-470. LEVI, ALBERT WILLIAM:

Verf. stellt H. s Phänomenologie in den Zusammenhang jener Tradition der Philosophie der Kultur, die mit Voltaire und Kant beginnt. Für die Phänomenologie ist Kultur eine Hierarchie von aufsteigenden Formen — die als epistemische und historische Dialektik aufgefaßt werden muß. Subjektiver Geist, objektiver Geist, absoluter Geist oder „culture of attitude", „culture of institutions" und „culture of ultimate value" sind die einzelnen Stufen dieses Aufstiegs, den Verf. nachzeichnet.

Jenseits der „schönen Mitte". Zum Verhältnis von Poesie und Sprache in Hegels Ästhetik. — In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart. 59 (1985), N. 4, 635-650. LOHSE, NIKOLAUS:

Nachdem bereits in der Phänomenologie des Geistes Sprachreflexion in fundamentaler Weise angebahnt war, wird dieser Ansatz mit der Einordnung der Poesie in die Ästhetik faktisch zurückgenommen. Dies läßt sich nur aus einem inneren Zwang der gesamten Systemphilosophie erklären, mit der eine komplexere Dimension von poetischer Sprache und Reflexion aus guten Gründen inkompatibel erscheinen mußte.

G.: The problem of Presentation in the Philosophy of Absolute Spirit. — In: Hegel. L'esprit absolu. Ed. Theodore F. Geraets. Ottawa 1984. (Philosophica. 26.) 149—166. MCRAE, ROBERT

Abdruck des zuerst 1982 erschienenen Aufsatzes. Vgl. Hegel-Studien. 19 (1984), 428.

G.: Philosophy and the Absolute. The Modes of Hegel's Speculation. — In: Archives internationales d'Histoire des Idees. La Haye. 109 (1985), 1-188. MCRAE, ROBERT

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BIBLIOGRAPHIE

Descartes, Newton y Hegel sobre el metodo de änälisis y sintesis [Descartes, Newton und Hegel über die Methode der Analysis und Synthesis]. — In: Pensamiento. Madrid. 41 (1985), N. 164, 393-429. MARRADES MILLET, JULIAN:

Verf. versucht die Bedeutung von Analyse und Synthese bei H. herauszustellen und dessen Stellungnahme zur Anwendung dieser Methode in der modernen Metaphysik und in der experimentellen Physik Newtons zu klären. H. bricht mit der von Descartes bis Kant vertretenen Auffassung der Einheit des Wissens zugunsten eines Dualismus, in dem Verstand und Vernunft zwei verschiedene epistemologische Sphären bilden. Dabei sollen sich die Wissenschaften der Philosophie unterordnen. Diese Position verkennt die Bedeutung der modernen wissenschaftlichen Revolution, deren Gipfel Newton darstellt.

Dialectica e Idealismo en Hegel [Dialektik und Idealismus bei Hegel]. — In: Anales del Seminario de Metafisica. Madrid. 20 (1985), 141-169. MARRADES MILLET, JULIAN:

Die Abhandlung soll einen Beitrag zur Erklärung der H, sehen Begründung der Metaphysik leisten. Verf. setzt an der Kritik der traditionellen Metaphysik an, wie sie H. in der Enzyklopädie (Vorbegriff der Logik) geübt hat. Danach werden die ontologischen und epistemologischen Prinzipien, auf die sich der absolute Idealismus stützt, dargestellt, mit der Absicht, die Kohärenz zwischen H. s metaphysischem System und der spezifischen Methode der Konstruktion dieses Systems — der Dialektik — aufzuweisen.

Hegels Begriff des Werdens und Goethes Urphänomen. — In: Reports on Philosophy. N. 9. Warszawa, Krakow 1985. 123-128. MIKOö, KAZIMIERA:

Die Bedeutung des Goetheschen Urphänomens für H. s Denken eruiert Verf. zum einen anhand eines Briefes H. s an Goethe aus dem Jahre 1821, in dem H. das Urphänomen als „Fensterstelle", als Übergang vom Absoluten zum erscheinenden Dasein versteht; zum anderen anhand der H. sehen Bestimmung des Seins, des Nichts bzw. des Werdens in der Wissenschaß der Logik.

Hegel on the Source of Political Authority. — In: Interpretation. A Journal of Political Philosophy. Flushing, New York. 12 (1984), N. 1, 29-48. MITIAS, MICHAEL:

Verf. analysiert H. s Kritik an der direkten Demokratie, wie sie aus Rousseaus Theorie des allgemeinen Willens folgt. Davon ausgehend, daß eine solche Regierungsform, bei der Rousseau faktisch den allgemeinen Willen auf den Willen aller reduziert, nicht praktikabel ist, entwickelt H. die politischen Rahmenbedingungen eines funktionierenden Staates: 1. Die Substanz der Legislative bilden die wirklichen und allgemeinen Interessen des Volkes; 2. an legislativen Verfahren nimmt das Volk indirekt durch die Wahl von Abgeordneten teil, die die Interessen öffentlich machen; 3. der König als das konkrete Element der Souveränität des Staates entscheidet nach den Empfehlungen der Legislative und der beratenden Versammlung über die Annahme bzw. Ablehnung einzelner Gesetze.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

445

Hegel und die Neuere Philosophie. Kritik an Bubner, Habermas und Henrich. — ln: Concordia. Revue Internationale de Philosophie. Paris. 8 (1985), 2—12. NEUMANN, WALTER;

Verf. analysiert das H,-Verständnis von Bubner, Habermas und Henrich, in deren Versuchen, das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft zu klären, in der er zugleich eine Abrechnung mit der kritischen Theorie sieht. Henpchs subjekttheoretische Interpretation H. s, Bubners Betonung der Reflexionstätigkeit wollen ebenso wie Habermas' Erkenntnis und Interesse die Abhängigkeit des Bewußtseins von einem ökonomischen oder psychologischen Sein nicht wahrhaben; sie begreifen die Philosophie H. s nicht als daseiende Metaphysik, die die bürgerliche Gesellschaft auf den Begriff bringt. Damit werde die Krise der Philosophie nicht zu deren Verwirklichung/Abschaffung genutzt, so daß ein Denken in Sicht käme, das über die Philosophie hinausginge.

Hegel's approach to Euclid's Theorem of Parallels. — In: Explorations in Knowledge. Manchester. 3 (1985), 35—39. NEUSER, WOLFGANG:

H. setzt sich mit dem Parallelenaxiom in einer frühen Studie zu Euklids Elemente auseinander (vgl.: Geometrische Studien aus der Frankfurter Hauslehrer-Zeit). Verf. vergleicht H. s und J. H. Lamberts Vorgehen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß H. im Unterschied zu Lambert nicht an einem mathematischen Beweis des Parallelenaxioms, sondern an der Art und Weise des geometrischen Beweises interessiert ist.

OiSERMAN, TEODOR I.: Über die erkenntnistheoretische Interpretation der

Kategorien. [Bulgarisch.] — In: Filosofska missal. Sofia. 41 (1985), N. 2, 3-14. Der Autor (UdSSR) behandelt wichtige Punkte der marxistischen Erkenntnistheorie, die die Entwicklung der Erkenntnis, d. h. einen bestimmten, spezifischen Prozeß zum Gegenstand hat. Die Kategorien sind gleichsam die Knoten in der Entwicklung der Erkenntnis, die sowohl von ihrer subjektiven als auch von ihrer objektiven Seite betrachtet werden können. Kant beschränkt sich auf ihre subjektive Seite, H. kritisiert die kan tische Auffassung, er betont die objektive Seite, wobei er aber die subjektive vernachlässigt. Die marxistische Erkenntnistheorie dagegen behandelt die objektive und die subjektive Seite der Kategorien in ihrer dialektischen Einheit, und zwar so, daß die objektive die primäre und die subjektive die sekundäre ist.

G.: Contemporary Art and Hegel's Thesis of the death of Art. — In; South African Journal of Philosophie. Pretoria. 2 (1983), N. 1, 1—7. OLIVIER,

ln einer Konfrontation von H. s berühmtem Satz vom „Ende der Kunst" mit zeitgenössischer Kunst klärt Verf. zunächsf H. s Diagnose vor dem Hintergrund seiner Philosophie, vor welcher diese ,Todeserklärung' nur eine folgerichtige Behauptung ist, insofern die Kunst seit dem Christentum und der damit einhergehenden Interiorisierung nicht länger Ausdruck des absoluten Geistes ist. H. s Analyse der modernen d. h. post-antiken Kunst als einer rein subjektiven, sich in ästhetischem Selbstzweck erschöpfende, trifft in der Tat auch auf Erscheinungsformen zeitgenössischer Kunst zu, die in der H. sehen Nachfolge konsequenterweise als , Nicht-Kunst' firmieren, insofern sie — in absoluter Freisetzung — weder metaphysischen noch ontologischen oder humanistischen Konzepten Rechnung tragen. Andererseits nimmt gerade — und das zeigt Verf. mif Beispielen aus der modernen Bildenden Kunst (Klee, Kandinsky, Marc) gegen H. — diese antinaturalistische, auf Deformation zielende

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BIBLIOGRAPHIE

Kunst des 20. Jahrhunderts erneut einen ontologischen Status ein, da sie ein Mehr an Wahrheit transparent macht als eine Kunst, die sich in den Dienst von Weltanschauungen stellt und dem Mimesis-Postulat verpflichtet.

Das Bild des jungen Hegel bei Dilthey. — In: Reports on PhUosophy. N. 9. Warszawa, Krakow 1985. 111—121.

PACZKOWSKA’LAGOWSKA, EL^BIETA:

Verf. fragt nach den Motiven, die den damals 72jährigen Dilthey bewogen haben, sich des handschriftlichen Nachlasses von H. anzunehmen. Außerdem versucht sie das Bild des jungen H. nachzuzeichnen, das uns Diltheys Abhandlung Die Jugendgeschichte Hegels vermittelt. „Die Jugendzeit H. s wird hier von einem Lebensphilosophen gesehen und gedeutet, der mit besonderer psychologischer Feinheit und dem Sinn für das Geschichtliche die wahren Quellen eines der abstraktesten philosophischen Systeme aufzudecken vermochte." Besonderes Schwergewicht legt Verf. auf die historischen Analysen der religiösen Phänomene durch H., die DUthey zu dem begeisterten Ausruf verlockten: „H. hat nichts schöneres geschrieben... In ihnen offenbart sich die ganze historische Genialität H. s in ihrer ersten Frische und noch frei von den Fesseln des Systems."

Das Hegelsche Erbe bei E. Dembowski. — In: Reports on Philosophy. N. 9. Warszawa, Krakow 1985. 63 — 70. PANASIUK, RYSZARD:

Edward Dembowski gehörte zu einem Kreis von polnischen Theoretikern und Publizisten, die den Hegelianismus in der Praxis, d. h. im politisch-gesellschaftlichen Leben verwirklichen wollten. Das hatte wiederum Rückwirkungen auf die Hegelauffassung zur Folge. Das Streben nach Gestaltung der Praxis in der Zukunft ist nur möglich, wenn der kontemplative, auf Vergangenheit und Gegenwart gerichtete Philosophiebegriff Hegels modifiziert wird. Das die Praxis gestaltende Subjekt tritt in den Mittelpunkt. Die Geistesphilosophie Hegels wird ergänzt durch die Kategorie des Schöpferischen, wodurch die Kunst, anders als bei Hegel, in den höchsten Rang erhoben wird. Dembowski versteht das Schöpferische aber nicht nur als anthropologische Funktion, sondern als die Struktur des Absoluten, die in der Logik Hegels zur Entfaltung kommt.

L'epique et le dramatique, l'epos et le drame. — In: Revue de Metaphysique et de Morale. Paris. 90 (1985), N. 2, 172—182. PATOCKA, JAN:

Bestimmte H. das antike Epos als objektive Kunstform, da es repräsentativ für die moralischen Vorstellungen des heroischen Zeitalters war, und unterschied er davon das antike Drama, das seinen Schauplatz nicht in der Geschichte, sondern der Seele des Helden hat, als subjektive Kunstform, so wendet sich Verf. mit Aristoteles gegen diese Opposition. Für diesen waren das Homerische Epos wie die griechische Tragödie sowohl subjektiv als auch objektiv, weil beide Gattungen die Sphäre des Menschen und der Götter amalgamieren. Auch für, die moderne Literatur macht Verf. die Aufhebung der Gleichung episch-objektiv und dramatisch-subjektiv geltend. Das Epische schöpft oftmals aus den (subjektiven) Tiefenschichten der Seele, das moderne Drama dagegen präsentiere im extrem Subjektiven objektive Erkermtnis.

J.: Telos in Hegel's Differenz des Fichte'sehen und Schelling'sehen ... — In: Philosophy Research Archives. Bowling Green, Ohio. 10 (1985), 393-439. PERCESEPE,

GARY

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

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Ernst Gombrich: la recherche d'une histoire culturelle et la decouverte de la logique des situations. — In: Revue de Synthese. Paris. 106 (1985), N. 117, 61-80. PiNTO, EVELINE:

Der Terminus ,Kulturgeschichte' impliziert einen in sich kohärenten Gesamtzusammenhang, der „la Science des productions de Tesprit, de l'art et de la litterature" umfaßt. Verf. untersucht die dazu kritische Stellungnahme E. Gombrichs, der sich einmal gegen die „Habitus"-These von Panofsky wendet, vor allem aber seine Anschauungen in Opposition zum metaphysischen Geschichtsdenken H. s formuliert, der die kulturellen Erscheinungen wie alle anderen gesellschaftlich-politischen Entwicklungen stets nur als eine bestimmte Periode der Geschichte des zu sich selbst kommenden Geistes deute. Gombrich geht es dagegen um ein Aufbrechen dieser Periodisierung und der symptomatischen Kunstbetrachtung. Gegen H. s Historiographie setzt er eine — dem einzelnen Kunstwerk gerecht werdende — deskriptive Methodologie.

Jakob Böhme als Vorläufer der Hegelschen Absoluteslehre. — In: Reports on Philosophy. N. 9. Warszawa, Krakow 1985. 33-39. PiöRCZYNSKi, JöZEF:

Böhme, der als Mystiker gelte, sei der Urheber der rationalistischen Denkweise, die in der Zukunft eine bedeutende Rolle zu spielen hatte. Vf. stellt eine Reihe von Parallelen zwischen Böhme und H. heraus (u. a. in der Auffassung der Funktion des Widerspruchs, insgesamt der Dialektik, der Schöpfung, der Rede von der Natur Gottes) und schließt daraus auf Böhmes „ungeheure Bedeutung für die Gestaltung der größten dialektischen Konstruktion, der Konstruktion H. s"; sie bestehe darin, daß Böhme „das Widerspruchsprinzip als ontologische Kategorie auf das Absolute anwendete". Da Vf. H. ganz in der Tradition Böhmes sieht, betont er den Gegensatz zwischen den von Kant und von H. vertretenen philosophischen Traditionen. PsiMMENOS, NIKOS: Der Begriff der Objektivität in Hegels Auffassung der

vorsokratischen Philosophie. — In: Philosophische Tradition im Dialog der Gegenwart. Hrsg, von Andreas Cesana und Olga Rubitschon. Basel, Boston, Stuttgart 1985. 231—242. I. A.: L'esoterisme dans la methodologie de la recherche historicophilosophique (exemple des travaux sur Hegel). [Russisch.] — In: Filosofskie Nauki. Moskva. 1985, N. 1, 108—117. RAU,

Hegel and the emerging world: The Jena lectures on Naturphilosophie (1805—06). — In: The Owl of Minerva. Villanova, Pa. 16 (1984/1985), N. 2, 175-181. RAUCH, LEO:

H. beginnt seine Jenaer Naturphilosophie (1805—06) mit der Idee als absolute Materie bzw. Äther, der eine reine Potentialität für alle Formen darstellt. Der Äther als die allumfassende Kontinuität determiniert sich im einfachen Raumpunkt. H. s Raumverständnis unterscheidet sich von dem Newtons und Kants. Raum bedeutet Objektivität, Zeit Subjektivität. Mit dem Übergang vom Raum zur Zeit und der Einheit der beiden ist die Bewegung gesetzt.

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BIBLIOGRAPHIE

Die so ermöglichte Rekonstruktion aller Existenzweisen der Natur geht von der Idee als Grund, Ziel und Kontinuum des Naturprozesses aus.

Themes metaphysiques chez Marcel Proust. — In: Revue de Metaphysique et de Morale. Paris. 90 (1985), N. 2, 218—229. RENEVILLE, ROLLAND DE:

Ein Grund für die Einschätzung Prousts als bedeutendster französischer Autor des 20. Jahrhunderts liegt darin, daß dieser alleine „a ose porter l'ecriture jusqu'ä l'incandescence metaphysique". Sein Romanwerk ist als Dokument der Erinnerung, die im subjektiv Verdrängten objektive Wahrheit zu Tage fördert, ein ,Buch des Geistes'. Verf. vergleicht es insofern mit H. s Phänomenologie des Geistes, als auch die Struktur der Suche nach der verlorenen Zeit ebenso von Anfang an bestimmt ist von der im Schlußkapitel erörterten „Wiedergefundenen Zeit" wie die Idee des absoluten Wissens bestimmend und strukturierend der gesamten Phänomenologie zugrundeliegt.

Irrationality and the Plurality of Philosophical Systems. — In: Dialectica. Lausanne. 39 (1985), N. 4, 297—319. RICOEÜR, PAUL:

Angesichts der paradoxen Situation der Pluralität von philosophischen Systemen wird die Irrationalität dieser Situation untersucht zunächst vom Gesichtspunkt zweier Lösungen — nämlich der Lösung H. s und derjenigen, die die Unvereinbarkeit der Systeme leugnet —, beide werden als inadäquat verworfen; dann von einem Standpunkt aus, der zwischen den Ansprüchen echter Philosophie und deren tatsächlicher historischer Praxis unterscheidet. Der Begriff des Systems wird aus der Perspektive von Spinozas Ethik untersucht und schließlich wird M. Gueroults integraler Idealismus als Führer verwendet, um das Ergebnis einer Unterwerfung historischer Züge philosophischer Tätigkeit unter ihre systematischen Züge zu durchleuchten.

Identite, difference et contradiction dialectiques selon Hegel. — In: Journal of the History of Philosophy. Berkeley, Calif. 23 (1985), N. 4, 515-535. ROSEN, MENAHEM:

Der dialektische Widerspruch bei H. wird manifest, wenn wir zugleich und vom selben Gesichtspunkt her die Identität der Unterschiedenen und den Unterschied der Identischen erfassen. Diese paradoxe Aktivität erzeugt eine Spannung, die eine Beruhigung, eine Versöhnung erheischt; genau in diesem Sinne ist der dialektische Widerspruch schöpferisch und nicht annullierend.

Rorty's Interpretation of Hegel. — In: The Review of Metaphysics. Washington. 39 (1985), N. 154, 321—333. ROTENSTREICH, NATHAN:

La signification de la critique marxienne en vue de la maitrise des dangers courus par l'humanite. [Polnisch.] — In: Studia Filozoficzne. N. 240—242. Warszawa 1985. 36—53.

SCHMIED-KOWARZIK, WOLFDIETRICH:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

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„Stimmung äußerst democratisch". Die Studienzeit des Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Tübinger Stift. — In: Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte. Hrsg, von Wolfgang Schäfer. Tübingen 1984. 81—105. ScHOELLKOPF, WoLFGANG:

Dieser Aufsatz ist die umgearbeitete Fassung eines Vortrags, mit dem eine Ausstellung zum 150. Todestag von H. im Evangelischen Stift Tübingen eröffnet wurde. Dargestellt wird die historische Situation der Studienzeit H. s, wobei einige besondere Themen (wie H. s Theologiestudium und der Tanz um den Freiheitsbaum) herausgehoben werden.

Der Weltgeist und die „Rede des Geistes" als das Problem der Bildung. — In: Hegel-Jahrbuch 1981/82. Rom 1986. 97—107. SOzER, ÖNAY:

Der Verfasser stellt im Hinblick auf das Bildungsproblem in der Phänomenologie die Frage, inwieweit sich die individuelle Seite und die „geschichtliche Ganzheit der Substanz" auf dem Weg zur Verwirklichung des Weltgeistes decken. Die entfremdete Form dieses SichDeckens wird in den Redeformen, in der Sprache der Schmeichelei und in der Sprache der Zerrissenheit, anhand der sprachphilosophischen Begriffe „innere Rede", „Dialog" von Vologinov/Bachtin analysiert, wobei die „Rede des Geistes" mit der Rede von Rameaus Neffen in Diderots Werk verglichen wird. Abschließend stellt sich die Frage, ob die „Rede des Geistes" als Modell für die Sprache Hegels verstanden werden kann.

Confessione e razionalitä della sentenza nella filosofia di Hegel [Geständnis und Vernünftigkeit des Rechtsspruchs in der Philosophie Hegels]. — In: Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto. Roma. 62 (1985), N. 2, 252-278. TERRINONI, LUCA:

Hauptsächlich anhand der Grundlinien, der Vorlesungen und der Enzyklopädie (aber auch unter Berücksichtigung der Jugendschriften und der Phänomenologie) zeigt Verf., wie H. s Intention, Strafe und Freiheit des Schuldigen miteinander zu versöhnen, in seiner Theorie des Geständnisses, das auch durch Dritte (Geschwomengericht) vermittelt werden kann, eine Schwachstelle hat. Der Anspruch, den Gegensatz zwischen Einzelnem und Gesetz aufzuheben, basiere eigentlich auf einer religiösen, moralischen, sogar mystischen Auffassung der Schuld, und deswegen sei H. s Theorie des Geständnisses eher ideologisch als juristisch bedingt. Die Bestrebung nach einer Befreiung des Schuldigen durch die Strafe gebe, wahrscheinlich selbst gegen H. s eigene Intentionen, den Weg für die Rechtfertigung von fast jedem Mißbrauch in der Rechtspflege frei.

Beyond Hegel's Ontological Claim. — In: Dialogue. Kingston. 23 (1984), N. 2, 305-314.

VAN RODEN, ALLEN R.:

Kritische Auseinandersetzung mit dem Hegel-Buch von Charles Taylor (1975) und dessen These, die H. sehe Logik biete eine Ontologie. Für Verf. ist das Bewußtsein, das das Wesen des absoluten Wissen kennzeichnet, die wahre Dimension der H. sehen Logik. Dies wird anhand von Phänomenologie und Logik und ihrem Verhältiüs zueinander verdeutlicht.

De Nuevo sobre el Concepto como Clave de Interpretaeiön de la Filosofia de Hegel [Nochmals über den Begriff als Schlüssel

VASQUEZ, EDUARDO:

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BIBUOGRAPHIE

zur Interpretation der Philosophie Hegels], — In: Revista Venezolana de Filosofia. N. 20. Caracas 1985. 51—85. Die Abhandlung ist eine Antwort auf eine Kritik, die Jorge A. Diaz an Verf. s Interpretation der H. sehen Dialektik geübt hat. Diaz orientiere sich zu sehr an Nicolai Hartmanns Deutung, berücksichtige aber lücht Marx und Feuerbach, die einzigen, die H. s Dialektik richtig verstanden und dargestellt hätten. Diaz' Behauptung, nach welcher die Phänomenologie H. s nicht der Dialektik des Begriffs, sondern der des Wesens folge, verkenne die Bewegung der Phänomenologie und lasse sie auf der Ebene des Verstandes erstarren.

V. A.: Das System der Logik bei Hegel und im „Kapital" von Marx. [Russisch.] — In: Vestnik Moskovskogo Universiteta. Füosofija. Moskva. 1985, N. 6, 14-24. VAZJULIN,

Heglowska analiza dialekt ysczna Rewolueji Francuskiej [Hegels dialektische Analyse der Französischen Revolution]. [Polnische Übersetzung von Janusz Stawineski.] — In: Studia Filozoficzne. Warzsawa. 1983, N. 10, 77—83. VER HECKE, WILFRIED:

„Höchstes Exemplar des utopischen Menschen": Emst Bloch und Goethes Faust. — In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart. 59 (1985), N. 4, 676-687. VOSSKAMP, WILHELM:

Emst Blochs FuMsf-Interpretation beruht in wesentlichen Punkten auf einer Parallelisierung des Lebenswegs Fausts mit H. s Phänomenologie des Geistes. Das Hauptinteresse Blochs richtet sich auf die Analyse der Augenblickskonzeption im Faust II.

Die Absolutheit des Logischen und das Sein der Natur. Systematische Überlegungen zum absolut-idealistischen Ansatz Hegels. — In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Meisenheim am Glan. 39 (1985), N. 3, 331-351.

WANDSCHNEIDER, DIETER:

Mit Hinblick auf H. entwickelt Verf. die These, daß die Absolutheit des Logischen lücht nur als das schlechthin unhintergehbare Prinzip der Philosophie, sondern ebenso als die universelle Gmndlage alles Seienden zu begreifen ist. Insofern bei H. die logische Idee allein in der Triade von Idee, Natur und Geist ihre realisierte Form besitzt, wird die Existenz der Natur von der Absolutheit des Logischen her verstehbar. Dcimit eröffnet H. s absoluter Idealismus die bislang tücht genutzte Perspektive einer aus dem Begriff zu rekonstruierenden Natur, die für aktuelle Problemstellungen (z. B. das Problem der Kraft, den Evolutionsgedanken) fruchtbar gemacht werden kaim.

Reading Parentheses: Hegel by Heidegger. — In: Genre. New York. 16 (1983), N. 4, 389-403. WARMINSKI, ANDRZEJ:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge 1983—1985

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Wiederabgedruckt in; Warminski: Readings in Interpretation. Minneap>olis 1987. Vgl. dazu im vorliegenden Band oben .. .

Dreadful Reading: Blanchot on Hegel. — In: The Lesson of Paul de Man. Yale French Studies. N. 69. New York 1985. 267-275. WARMINSKI, ANDRZEJ:

Vgl. die Besprechung in diesem Band.

Schopenhauer und Hegels Logik. Einführung in eine noch ausstehende Kontroverse. — In: Schopenhauer. Hrsg, von Jörg Salaquarda. Darmstadt 1985. (Wege der Forschung. Bd 602.) 314-347. WEIMER, WOLFGANG:

Verf. zeigt, daß Schopenhauers „Verdikt H. s Theorie und Bedeutung, aber auch seine Relevanz für Schopenhauers eigenes Denken verkennt und eine eigentliche, fruchtbare Auseinandersetzung noch aussteht." Er führt diese Auseinandersetzung im Blick auf H. s Seinslogik und entkräftet dabei Schopenhauers Einwände. Für weitere Themen — „die Theorie des Willens, die Einschätzimg der Theologie sowie die Bewertung desjenigen Prozesses, den wir als Geschichte erleben und gestalten", stünden jedoch entsprechende Analysen weiterhin aus.

Ibsen, Hegel, and Nietzsche. — In: Clio. Kenosha, Wisc. 14 (1985), N. 4, 395-406. WESTPHAL, MEROLD:

Verf. beschäftigt sich mit H. s Theorie des Dramas in der Phänomenologie des Geistes, um H. s „phenomenological dialectic" zu analysieren. In diesem Zusammenhang konstatiert er Parallelen wie Differenzen mit Ibsens Dramen (exemplifiziert vor allem an Nora oder ein Puppenheim). Ibsen stehe mehr auf der Seite Nietzsches und dessen Lehre vom „Tod Gottes".

Hegel's Concept of Spirit. — In: Prudentia. Auckland, New Zealand 1985. 174—185. WILLIAMSON, RAYMOND: