Handlungstheorie und Freiheitsantinomie [1 ed.] 9783428412457, 9783428012459

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Handlungstheorie und Freiheitsantinomie [1 ed.]
 9783428412457, 9783428012459

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JORGEN RITSERT

Handlungstheorie und Freiheitsantinomie

Soziologische Abhandlungen Suzialwissenschaftliche Schriftenreihe der Wirtschafts· und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin herausgegeben von

Prof. Dr. L. von Friedeburg und Prof. Dr. 0. Stammer Heft 6

Handlungstheorie und Freiheitsantinomie

Von

Dr. J ürgen Ri tsert

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten @ 1966 Duncker & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1966 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany 0188

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel I: Homo Sociologicus- Moralität und Moralisieren . . . . . . . . . . . .

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Kapitel II: Moral Obligation and Instrumental Interest - Zur Theorie der normativen Integration der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Kapitel III: Die Idee einer transzendentalen Theorie der Gesellschaft und der transzendente Begriff von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Literaturverzeichnis ............................ .. . . ........... . . ... ... 140

Abkürzungsverzeichnis HS

Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus- Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 4. erw. Auflage 1964

GuF

Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Freiheit - Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, Sammlung Piper, München 1962

KRV

lmmanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Band II, Darmstadt 1963

KPV

lmmanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Werke Band IV, a.a.O. lmmanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke Band IV, a.a.O.

GMS SSA

Talcott Parsons: The Structure of Social Action, A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, Glencoe, 2nd Printing, 1961

TGA

Talcott Parsons, Edward A. Shils (Hrsg.) : Toward a General Theory of Action, Cambridge Mass. 1951

ss

Talcott Parsons: The Social System, Glencoe, 3rd Printing, 1959

OdS

Helmut Schelsky: Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, 1. Aufl. Düsseldorf/Köln 1959

ASW

Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit- Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965

Einleitung Die große idealistische Philosophie, die in deutlichen Problemzusammenhängen über Kant, Maimon, Fichte, Schelling und Hegel bis an die Schwelle des Umschlags in eine materialistische Geschichtsdialektik und Theorie der Gesellschaft führt, gilt heute auch der Soziologie, wo diese sich mit nur wenigen Ausnahmen den Standards "analytischer Erfahrungswissenschaften" unterwirft, meist als der Inbegriff erfahrungstranszendenter Spekulation. Themen, Problemstellungen, Interessen, die jenen Systemen zugehören, welche schließlich beanspruchten, den Gang des Geistes bis zu seiner Versöhnung mit sich selbst nachzuzeichnen oder im historischen Prozeß der menschlichen Selbstproduktion durch die Arbeit das Potential zu einer konkreten Befreiung von blindem Naturzwang und menschlicher Herrschaft, zur vernünftigen Selbstbestimmung gesellschaftlicher Subjekte zu entdecken, gelten sehr oft geradezu als der Ausgangspunkt von theoretischen und praktischen Verwirrungen, die von den heutigen Erfahrungswissenschaften überwunden sein sollen, mögen ihre Exempel auch nie ganz aussterben: "In diesem Anspruch (i. e. in den etwa an Dilthey anschließenden Versuchen, die Eigenständigkeit der sogenannten Geisteswissenschaften zu begründen- J . R.) wirkt noch die metaphysische Unterscheidung zwischen dem Reich der Notwendigkeit, in dem die Gesetze der Natur gelten, und dem Reich der Freiheit nach, in dem das Sittengesetz herrsche und das daher nicht mit kausalen, sondern nur mit moralischen Kategorien behandelt werden könne. Die analytischen Richtungen der Philosophie, denen vor allem die Entwicklung der modernen Wissenschaftslehre zu danken ist, haben die methodologische Relevanz derartiger Unterscheidungen und die Berechtigung des damit zusammenhängenden Anspruchs auf methodologische Autonomie der Geisteswissenschaften von jeher bestritten und zu zeigen versucht, daß ihnen eine falsche Auffassung über die naturwissenschaftliche Methode zugrundeliegtt." Die Verurteilung der spekulativen Philosophie bei den Methodologen der Erfahrungswissenschaften ist aber keineswegs allenthalben so ein1 Hans Albert: Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, hrsg. v. R. König, Band I, Stuttgart 1962, S. 39.

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Einleitung

heilig, wie dieses Zitat vermuten läßt. Gerade der analytischen Theorie verpflichtete Kritiker haben gezeigt, daß selbst der perhorreszierten Philosophie der angeblich "absoluten" Spekulation, der Hegels, in ihrer Gesamtheit, also nicht bloß in einigen Details, Einsichten zu entnehmen sind, die auch der analytischen Wissenschaftstheorie des herrschenden Positivismus sehr wohl anstünden. Dafür mögen vor allem Gotthard Günthersauf die Hegeische Logik gestützte Arbeiten Zeugnis ablegen2 , wie überhaupt in einer Reihe von neueren, zur empiristischen Wissenschaftslogik nicht unbedingt konträr stehenden Untersuchungen der Postulate analytischer Theorie3 Motive der großen Systeme den Maßstab der Kritik abgeben. Paradigmatisch läßt sich an dieser Stelle die Studie von Bella K. Milmed4 anführen, in der bestimmten Richtungen der amerikanischen Philosophie vorgehalten wird, was sie an Problemstellungen der Kantischen Transzendentalphilosophie in einer Weise aus dem Auge verloren haben, die eine kritische Besinnung auf die "Kritik der reinen Vernunft" um der theoretischen Vernunftwillen als äußerst sinnvoll erscheinen läßt. Gerade die von Milmed aufgeworfene spezifische Frage, ob denn die modernen Erfahrungswissenschaften überall vor dem Kantischen Problemniveau, ja, vor materiellen Einsichten der Kantischen Philosophie standzuhalten vermögen, hat bei modernen deutschen Soziologen ein interessantes Gewicht bekommen. Die Tradition einer kritischen Theorie der Gesellschaft allerdings war von jeher bemüht, sich ihrer Thesen im bewußten Durchgang auch durch die Kantische Kritik hindurch zu versichern5 • Für die empirische Sozialforschung hat in diesem Sinne H.-J. Lieber vor kurzem noch einmal die Frage aufgeworfen, ob nicht die herrschende sozialwissenschaftliche Empirie, "im Banne eines naiven unkritischen Begriffes von Empirie und Gegenstand" 6 stehend, sich des "erkenntnistheoretischen Fundierungsverhältnis(ses) zwischen Erfahrung und Gegenstand" 7 und damit ihrer eigenen Leistungsfähigkeit nur dann 1 s. vor allem Gotthard Günther: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, 1. Band: Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen, .Hamburg 1959; und ders.: Das Bewußtsein der Maschinen - eine Metaphysik der Kybernetik, Krefeld und Baden-Baden 1963. 3 s. dazu z. B. Peter K. Schneider: Die wissenschaftsbegründende Funktion der Transzendentalphilosophie, Freiburg/Breisgau 1965, oder Morton White: Toward Reunion in Philosophy, Cambridge 1956. 4 Bella K. Milmed: Kant & Current Philosophical Issues: Some Modern Developments of his Theory of Knowledge, New York 1961. 5 · Vgl. Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, VI, S. 245-292. 8 Hans-Joachim Lieber: Der Erfahrungsbegriff in der empirischen Sozialforschung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Band XLIII (1957), S. 487-503, Zit. S. 492. 7 Lieber, a.a.O., S. 493.

Einleitung

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adäquat versichern kann, wenn sie sich auf die Höhe eines kritischen Erfahrungsbegriffes begibt, wie ihn Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" diskutiert hat. Aber auch bei einer Reihe von deutschen Soziologen, die ihren Arbeiten ausdrücklich eine positivistische Logik der Forschung zugrundelegen, scheint sich die Auffassung abzuzeichnen, daß noch ein Rückgriff auf die transzendentalen Kritiken Kants dazu verhelfen könnte, wieder ein Stück in der Selbstreflexion moderner Sozialforschung voranzuschreiten. Das spricht sich ebenso in der Forderung nach einer "transzendentalen Kategorienlehre der Soziologie" (R. König) wie in der gleichermaßen nur in ihren Umrissen gefaßten "transzendentalen Theorie der Gesellschaft" (H. Schelsky)8 aus. Daß hier wie auch bei Milmed Kant vorherrschend als der Bezugspunkt erfahrungskritischer Auseinandersetzungen mit einer ihren brüchigen erkenntnistheoretischen Zustand in der Behandlung der Validierungsproblematik offenbarenden Sozialforschung erscheint, hat gewiß unter anderem damit zu tun, daß die Kantische Erkenntnistheorie die traditionelle Metaphysik in ihre Grenzen verweisen wollte. Damit scheint sie sich ja in einen "lobenswerten" Gegensatz zur "absoluten Spekulation" zu stellen. Die Ahnung, daß die Entwicklung der spekulativen Philosophie bis ins Innerste hinein mit dem Kantischen Denken vermittelt ist9, daß Marx nicht zufällig von einer "Kritik der politischen Ökonomie" sprach, aber auch die Probleme des idealistischen Neu-Kantianismus, zählen auf der anderen Seite ohne Zweifel zu den Ursachen, die die erwähnten Versuche innerhalb des Empirismus bisher ohne breitere Wirkung ließen. Die Askese wird in der zitierten Stellungnahme Alberts zu der für das Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie bei Kant zentralen Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter zur Ablehnung. Ausgerechnet dieses Motiv, in dem nach Albert eine methodologisch irrelevante Unterscheidung ihren Ausdruck finden soll, bringt Dahrendorf mit der sogenannten "Rollentheorie" 10 - einem Kernstück der 8 Vgl. Rene König: "Einleitung" zum Handbuch der empirischen Sozialforschung, a .a.O., S. 3-17, bes. S. 4. s. auch R. König: Grundlagenprobleme der soziologischen Forschungsmethoden (Modelle, Theorien, Kategorien), in: Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Festschrift für Gerhard Weisser, S. 23-44, bes. S. 35 ff. und Helmut Schelsky: Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf-Köln Hl59, s. 93 ff. 8 Adorno nennt Hegel den "zu sich selbst gekommenen Kant". Vgl. Theodor W. Adorno: Aspekte der Regelsehen Philosophie, Frankfurt/Main 1957, S. 12. 10 Dem üblichen Sprachgebrauch folgend, soll weiter von "Rollentheorie" oder "Rollenanalyse" die Rede sein. Im Grunde handelt es sich hierbei nicht

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Einleitung

modernen Erfahrungswissenschaft "Soziologie" - in einen inneren Zusammenhang11. Die Kritik, soweit sie sich unter Anerkennung der Bedeutung von Dahrendorfs Versuch, Grundbegriffe der amerikanischen Handlungstheorie zu rezipieren und reflektieren, auf seine Kant-Rezeption bezieht, ist zwar nicht durchgängig von der im positivistischen Denken oft zu konstatierenden Ablehnung der kritischen Philosophie motiviert; dennoch wird dem ohne Zweifel problematischen Dahrendorfschen Rekurs auf Kant und die 3. transzendentale Antinomie kaum eine besondere Bedeutung zugemessen. Es bleibt zumindest offen, ob damit nicht die gleichen Konsequenzen stabilisiert werden wie bei der strikten Ablehnung. Dieter Claessens etwa weist auf einige der zahlreichen Unstimmigkeiten bei der Übernahme der Kantischen Lehre in die Rollenanalyse hin und schließt seine Notiz zu Dahrendorfs Kaut-Verständnis mit der Bemerkung ab: "Es bleibt also offen, ob Dahrendorfs Rückgriff auf Kant als glücklich bezeichnet werden kann, handelt es sich doch bei Kant um eine Auseinandersetzung gleichsam ,nach rückwärts', mit Leibniz und Newton, um Begriffe wie Phainomenon und Noumenon; eine Auseinandersetzung, die wohl für eine philosophische Antropologie, in der der Mensch als reines Rollenwesen angesehen würde, Bedeutung haben könnte, aber nicht für die Frage nach der analytischen Fruchtbarkeit eines soziologischen Rollenbegriffes12." Claessens weitere Behandlung des Rollenkonzepts und dessen Verhältnis zu einem Begriff von Verantwortung -, der bei Kant unabdingbar mit der Lehre vom intelligiblen Charakter verbunden ist, bei Claessens weitgehend im später noch zu behandelnden Sinne der voluntaristischen Theorie Parsans gefaßt bleibt, - mündet in die These aus, Dahrendorf habe diesen Begriff vernachlässigt1 3 • Uns scheint es hingegen eine sinnvolle Frage, ob ein mit der Rollentheorie vermittelter Rekurs auf Kants 3. Antinomie14 nicht noch die voluntaristische Moralium eine Theorie, sondern um einen kategorialen Apparat, der Grundlage einer Theorie sein könnte bzw. in der weiterreichenden "strukturell-funktionalen Theorie" eine hervorragende Bedeutung hat. 11 Vgl. Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus- Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 4. erw. Auflage, Köln und Opladen 1964. u Dieter Claessens: Rolle und Verantwortung, in: Soziale Welt, 14. Jg., 1963, Heft 1, S. 1-13, zit. S. 5. Das wird allerdings im folgenden Satz eingeschränkt: "Allerdings wäre es leichtfertig, zu behaupten, daß hier die Frage nach dem ,reinen' Mens·c hen überhaupt keine Rolle spiele." 13 a.a.O., S. 13. 14 Die 3. Antinomie aus der "Kritik der reinen Vernunft" enthält bekanntlich die Grundlagen jener Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter.

Einleitung

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täts- und Freiheitslehre in ein kritisches Licht zu rücken vermöchte. Das hieße aber, Dahrendorfs Rückgriff auf die Transzendentalphilosophie sehr wohl als ein bei aller Problematik "glückliches" Unterfangen zu verstehen. Tenbruck, der schärfste Kritiker des Essays über "Homo Sociologicus" erklärt den Rekurs schlechthin als "mißlich" 15• Sein Gestus ist dem bei Claessens sehr ähnlich: Dahrendorfs Koketterie mit Kant ist etwas, was gegenüber den "eigentlichen" Problemen der Rollentheorie am Rande behandelt, wenn nicht abgetan werden kann. Judith Janoska-Bendl hingegen zählt zu den wenigen, die in der Auseinandersetzung mit "Homo Sociologicus" eine über den Hinweis auf die "Mißlichkeit" des Kantianisierens bei Dahrendorf hinausgehende Kritik unternehmen. Ihr Interesse richtet sich auf den Begriff der Freiheit, der in Dahrendorfs Essay eine bedeutsame Rolle spielt und seiner Rezeption transzendentalphilosopischer Themen letztlich zugrunde liegt. Dabei kritisiert sie Kant und Dahrendorfs Rückgriff auf Kant gleichermaßen über einen Freiheitsbegriff, der gleichsam die Quintessenz der kritischen Entwicklung von Hegel zu Marx und Freud darstellen soll: "Der dritte Freiheitsbegriff16 würde im Hinblick auf die Rollenanalyse bedeuten, daß der Mensch dann frei sein kann, wenn er seine Determination durch Rollenerwartungen als solche zum Bewußtsein bringt, akzeptiert und seiner ganzen Persönlichkeit einverleibt. Auf Grund dieser Einsicht ist er als reifes soziales Ich imstande, auf die Rolle zurückzuwirken, seine Determination selbst zu determinieren und dadurch - dialektisch aufzuheben17." "Freiheit als Selbstbestimmung" bedeutet ihr also die Anerkennung einer vorgegebenen Notwendigkeit, die "durch das vernünftige, reife Ich eine zusätzliche Determination erfährt; Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit (Hegel, Marx, Freud)18." Wir wollen hier nicht ausdiskutieren, ob dieser Freiheitsbegriff sich tatsächlich so ohne weiteres auf die Entwicklung über Hegel zu Marx und Freud berufen kann. Die Rolle, die Hegel und Marx bei der Aufhebung der Kantischen Thematik spielen, ist für die Soziologie zum 15 Friedrich H. Tenbruck: Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 13. Jg., 1961, S. 1-40, Zit. S. 34. 10 Janoska-Bendl unterscheidet 1. "Freiheit als Abwesenheit vom Zwang", 2. "Freiheit als Indetermination, die man auch als Wahlfreiheit bezeichnet hat", von 3. "Freiheit als Selbstbestimmung". Judith Janoska-Bendl: Probleme der Freiheit in der Rollenanalyse, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 14. Jg., 1962, S. 459-475, Zit. S. 467. 17 a.a.O., S. 469. 18 a.a.O., S. 467.

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Einleitung

Beispiel von Habermas in einer Weise dargestellt worden19, die die Stimmigkeit dieses Freiheitsbegriffes erheblich in Frage stellt. Außer Zweifel steht jedoch, daß die Kantische Freiheitslehre, damit auch die Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter, sehr wohl einer immanenten Kritik bedürftig ist und zugängig gemacht wurde. Zuzustimmen ist Janoska-Bendl auch darin, daß bei einer Untersuchung der soziologischen Probleme, die hinter dem Rekurs auf Kant in Dahrendorfs rollenanalytischem Entwurf stehen, Schritte im Prozeß der Aufhebung von Thesen der Transzendentalphilosophie nicht völlig außer acht gelassen werden können. Für eine immanente Kritik der expliziten Aufnahme kritizistischer Motive in die Rollenanalyse scheint es aber wenig sinnvoll, an einer jeden Stelle das problematische Fazit einer Entwicklung des Denkens zu bemühen, sondern primär erforderlich, den Rückgriff auf die transzendentale Kritik im Gegensatz zu den erwähnten Stellungnahmen ernstzunehmen. Das erfordert nach unserer Auffassung nicht nur die Rücksicht auf die soziologische Problematik, die zum Anlaß wird, Themen der Transzendentalphilosophie aufzugreifen, sondern wirft darüber hinaus die Frage auf, in welchem Maße die ausdrücklich auf den Kritizismus bezogenen soziologischen Ansätze tatsächlich substantielle Implikationen der Kautischen Lehre in sich aufgenommen haben, schließlich, ob ein Abweichen von den intendierten transzendentalphilosophischen Motiven sich allenthalben in diesen Ansätzen dem Fortschritt über Kant hinaus verdankt. Nicht einer unvermittelten Kaut-Renaissance oder einem Neo-Neukantianismus wird das Wort geredet, sondern es scheint uns einer Betrachtung wert, ob nicht auch für die Rollen- und Handlungstheorie gilt, daß noch ein konsequenter Bezug auf Kautische Fragestellungen und Einsichten mehr bedeuten könnte als die bloße Verzerrung progressiv-analytischer Theorien. Die Problematik des angeführten Stillsteliens des soziologischen Gedankens vor einem Problemniveau, das zweifellos über Kant hinausgehend, aber immanent-kritisch und damit aufhebend diskutiert werden kann und diskutiert wurde, erscheint als die zentrale Frage. Wenn einem Rekurs auf die Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter ein Sinn zugesprochen wird, ist damit gleichzeitig unterstellt, daß auch die praktische Philosophie Kants ein Licht auf Aporien modernen Denkens werfen könnte. 11 Vgl. Jürgen Habermas: Über das Verhältnis von Politik und Moral, in: Das Problem der Ordnung, hrsg. von H. Kuhn und F. Wiedemann, Meisenheim 1962, S. 94-124, und ders.: Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: J . Habermas: Theorie und Praxis, S. 162-214, s. bes. S. 206 ff.

Einleitung

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Daß hier mehr als nur eine Unterstellung vorliegt, ist im Zusammenhang mit der Kantischen Moralphilosophie von Paton20 und von Beck2 1 hervorgehoben worden. Paton fragt sich, was es bedeute, "daß (heute) über die Vernünftigkeit des Willens nicht gebührend diskutiert wird" 22, daß also bestimmte Probleme, die für die gesamte Philosophie Kants konstitutiv sind, aus weiten Bereichen des wissenschaftlichen Gesprächs verdrängt wurden. Ihm ist dieses Verdrängen oder Verwerfen alles andere als eine Selbstverständlichkeit wie es analytischer Philosophie sehr oft erscheint, sondern gibt ihm Anlaß zur Besorgnis um die Folgen, die sich für menschliches Handeln ergäben, würde die Reflexion auf ein vernunftgeleitetes Handeln tatsächlich konsequent bei den heute vorherrschenden Begriffen von Praxis angehalten, denen das irrationalistische Modell der Dezision für weiter nicht hinterfragbare und in weitem Maße gegeneinander gleichgültige ("konkurrierende") 23 Maximen als das letzte Wort erscheint24. 2o H. J. Paton: Der kategorische Imperativ- Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin 1962. 21 Lewis White Beck: A Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, Chicago 1960. 22 Paton, a.a.O., S. 327. 23 Habermas hat dieses Modell auf den Begriff gebracht: .,In letzter Instanz kann sich das politische Handeln nicht rational begründen, es realisiert vielmehr eine Entscheidung zwischen konkurrierenden Wertordnungen und Glaubensmächten, die zwingender Argumente entraten und einer verbindlichen Diskussion unzugänglich bleiben." Habermas: Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung, in: Humanität und politische Verantwortung, Festschrift für Hans Barth, hrsg. von Richard Reich, Zürich 1964, S. 54-73, zit. S. 55, Oder: .,Jeder einzelne Wert erscheint als die sinnlose Zusammenballung von Sinn, einzig mit dem Stigma der Irrationalität gezeichnet, daß der Vorrang des einen Wertes vor dem anderen, also die Verbindlichkeit, die er fürs Handeln beansprucht, schlechterdings nicht begründet werden kann. So führt denn auf dieser Stufe Ideologiekritik unfreiwillig den Beweis, daß das Fortschreiten einer auf technische Verfügung erfahrungswissenschaftlich-beschränkten Rationalisierung erkauft wird mit dem proportionalen Anwachsen einer Masse von Irrationalität im Bereich der Praxis selber. Denn Orientierung verlangt Handeln nach wie vor. Aber nun wird sie zerteilt in eine rationale Vermittlung von Techniken und in eine irrationale Wahl sogenannterWertsysteme. Der Preis für die Ökonomie der Mittelwahl ist ein freigesetzter Dezisionismus in der Wahl der obersten Ziele. Ein weltanschaulicher Dezisionismus scheut sich nicht länger, Normen ganz und gar auf Entscheidungen zurückzuführen. In der sprachanalytischen Form einer nicht-kognitiven Ethik ist die dezisionistische Ergänzung zu einer positivistisch beschränkten Wissenschaft selber noch positivistisch konzipiert (R. M. Hare)." Habermas, Theorie und Praxis, a.a.O., s. 242-243. u Vgl. z. B. R. Mayntz: Soziologie in der Eremitage?- Kritische Bemerkungen zum Vorwurf des Konservativismus der Soziologie, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. v. E. Topitsch, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, KölnBerUn 1965, S. 526-541: .,Ein solcher Wertpluralismus schließt eine normative Funktion der Wissenschaft aus und fordert gleichzeitig die persönliche Stellungnahme in der individuell zu treffenden Entscheidung zwischen den gegen-

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Einleitung

An dieser Stelle liegt für Paton die Bedeutung des Kantischen Begriffs der reinen praktischen Vernunft; denn es kann- wie Paton betontgeradezu als eine Kardinalfrage der Transzendentalphilosophie angesehen werden, ob eine "Maxime nur ein Prinzip (ist), für das wir uns entschieden haben, oder (ob) ... sie ein Prinzip (ist), das wir zugleich als gültig für ein vernünftiges Wesen überhaupt ansehen können" 25? Erklären wir uns außerstande, über vernünftiges Handeln mehr auszusagen, als es das Modell des Entscheids für unhinterfragbare Glaubenssysteme gestattet, glauben wir tatsächlich, die Reflexion bei einem im Kern irrationalistischen Praxisbegriff Stillstellen zu müssen, dann kann nach Paton nur allzu leicht der Irrationalismus in der Gesellschaft selbst vorherrschend werden: "Wenn wir nicht das Ideal objektiver Prinzipien der praktischen Vernunft akzeptieren, so wird das Ergebnis auf lange Sicht krimineller Wahnsinn sein; und Ereignisse aus jüngster Zeit (Anm.: Dem könnte man hinzufügen, auch Möglichkeiten der Zukunft- J . R.) legen den Gedanken nahe, daß der Weg dahin gar nicht sehr weit zu sein braucht26." Die Untersuchungen, die Paton und Beck über die Kantische Moralphilosophie anstellen, haben zu einem ihrer wichtigsten Resultate, daß nicht dogmatisch bei letztlich irrationalistischen Modellen des Zusammenhangs von Reflexion und Handeln Halt geboten werden kann; es sei denn, man wolle Vernunft tatsächlich dazu benutzen, ihr zugunsten der Barbarei die Bedeutung für menschliche Praxis abzusprechen. Für Paton und Beck hat Kant nicht nur den Weg in Richtung auf ein Frohlernniveau gewiesen, das sehr voreilig, zu Unrecht und zu Schaden aus dem Blickfeld eines großen Teils moderner szientifischer Betriebsamkeit verbannt wird, sondern sie verweisen zugleich darauf, daß Methoden und Einsichten des Kritizismus in kritischen Modellen praktischer Vernunft festzuhalten seien. Die Erfahrung rigid gezogener und einer kritischen Befragung würdiger Schranken im akzeptierten Wissenschaftsideal, zumindest ein "Gefühl des Mangels" (Hegel), scheint sich auch in Dahrendorfs philosophischen Überlegungen zur Rollenanalyse durchzusetzen. Es ist demnach zu fragen, in welchem Grad die Kantische Einsicht, daß Irrationalität in der Vorstellung von Praxis und damit ein Potential sätzlichen Werten. Diese Position ist alles andere als ein extremer Subjektivismus, dem jeder Wert unverbindlich ist. Die Haltung des Wertpluralismus befreit nicht von der Notwendigkeit verantwortlicher (?) eigener Entscheidung und kann doch nicht die Beruhigung ,absoluter' Gültigkeit des eigenen Standpunktes geben: es ist eine Haltung, die den Sprung des Glaubens fordert (sie), diesem Glauben aber verbietet, sich jemals als absolut gültige Erkenntnis zu fühlen"; a.a.O., S. 538. 25 Paton, a.a.O., S. 65. 28 a.a.O., S. 33.

Einleitung

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für irrationalistische Praxis selbst keineswegs das letzte Wort zu sein braucht, sich im Rekurs auf Kants Freiheitsantinomie durchgesetzt hat. Die an der Kantischen Philosophie zu begreifende Möglichkeit und Notwendigkeit, auf Praxis noch jenseits der irrationalistischen Schranken, die der Dezisionismus zieht, zu reflektieren, ist für die Soziologie von J. Habermas in seiner Kritik positivistischer Positionen deutlich gemacht worden. Auch bei Habermas setzt sich ähnlich wie bei Paton, in vielem allerdings weitertreibend, der Gedanke durch, daß "positivistischen Verbotsnormen" zufolge "ganze Problembereiche aus der Diskussion ausgeschlossen und irrationalen Einstellungen überlassen werden" müßten, die dennoch einer rationalen Diskussion fähig und würdig sind27• "Ja, wenn jene Probleme, die mit der Wahl vonstandardsund dem Einfluß von Argumenten auf Einstellungen zusammenhängen, kritischer Erörterung unzugänglich wären und bloßen Dezisionen überlassen bleiben müßten, dann wäre die Methodologie der Erfahrungswissenschaften selber um nichts weniger irrational28." Solche kritischen Fragen müßten heute - wie es bei Habermas konsequent geschieht - auch in eine Diskussion der die "Rationalität der Mittelwahl" begleitenden "erklärten Irrationalität der Stellungnahme zu Werten, Zielen und Bedürfnissen" 28 überleiten, die nur im Bewußtsein von der Bedeutung gern abgewiesener Kantischer Fragestellungen und Antworten vorankommen kann30 wie sehr auch das abschließende Urteil durch die immanent-kritische Auseinandersetzung mit Kant hindurchgegangen sein mag. Habermas Begriff der "Praxis im genuinen Sinn" meint denn auch "die praktische Wirkung einer Theorie, die nicht Dinge und Verdinglichtes besser manipuliert, die vielmehr durch die penetranten Vorstellungen einer beharrlichen Kritik das Interesse der Vernunft an Mündigkeit, an Autonomie des Handeins und Befreiung von Dogmatismus vorantreibt"31. Daß hier ein Interesse kritisch diskutiert und aufgehoben werden soll, das Kant in seiner Notwendigkeit begreifen und verteidigen wollte, dürfte schon nach diesen Anmerkungen offenkundig sein. Wenn Dahrendorfs Rekurs auf die Transzendentalphilosophie tatsächlich mehr darstellt als das bloße Beiwerk und den Versuchen der Selbstreflexion konstitutiver positivistischer Prinzipien innerhalb des 27 Jürgen Habermas: Gegen einen positivistisch halbierten RationalismusErwiderung eines Pamphlöts, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 16. Jg., 1964, S. 635-659, Zit. S. 635. !8 ibd. ' 28 Habermas: Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung, a.a.O.,

s. 55. 30 31

s. dazu Habermas, Über das Verhältnis von Politik und Moral, a.a.O. Ders., Theorie und Praxis, a.a.O., S. 233.

2 Rltaert

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Einleitung

Positivismus selbst zuzurechnen ist, dann kommt es für unsere Untersuchung nicht so sehr darauf an, akribi~;~ch zu zeigen, ob oder daß bestimmte Aspekte modernen soziologischen Denkens mit Details der Kantischen Philosophie verglichen werden können bzw. diesen gegenüber weitertreibende Elemente enthalten. Vielmehr wird es wichtig, darzutun, wo der Anlaß zur ausdrücklich intendierten Vermittlung soziologischer Thematik mit dem Kritizismus liegt; vor allem aber zu zeigen, ob die Vermittlung tatsächlich gelingt. Das erste Kapitel soll sich in diesem Sinne vorwiegend mit dem Verhältnis der Konzeption des "Homo Sociologicus" bei Dahrendorf zur 3. Antinomie bei Kant, der Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter, befassen, die Dahrendorf mit der Rollenanalyse in Verbindung bringt. Angesichts der Tatsache, daß die Rollentheorie nur einen Teil handlungstheoretischer Kategorienapparate in der Soziologie darstellt, muß es als ein sehr gewichtiges Argument erscheinen, bei Dahrendorf seien die seinem Rückgriff auf die Kantische Antinomienlehre zugrundeliegenden Probleme gleichsam als die äußerliche Zutat spezifisch deutsch-spekulativer Denkhaltung anzusehen32, während sie für die "breiteren" amerikanischen Ansätze konsequenzlos blieben. Es ist also zu untersuchen, ob nicht das in der Antinomienlehre Angesprochene und von Dahrendorf zur Identifikation und Lösung soziologischer Fragen Benutzte zusammen mit diesen Fragen seine Relevanz auch für jene "breiteren Ansätze" (Tenbruck) bewahrt. Da wohl Einverständnis darüber bestehen wird, daß Talcott Parsons der zur Zeit bedeutendste, zumindest aber bekannteste angelsächsische Theoretiker der Soziologie ist, bietet sich ein Eingehen auf Aspekte seines Werkes an. Das zweite Kapitel beschäftigt sich also mit den Grundzügen seiner Theorie der normativen Integration der Gesellschaft und dem Begriff von "moral obligation", der an Moralität zu erinnern scheint. Im dritten Kapitel soll Helmut Schelskys Programm einer auf Kant bezogenen "transzendentalen Theorie der Gesellschaft" unter dem Aspekt seiner Beziehung zu den bei Dahrendorf wirksamen Motiven und Widersprüchen betrachtet werden. 32 Vgl. F. H. Tenbruck, a.a.O., S. 35: ,.Das Unbehagen, von dem Dahrendorfs Schrift spricht und lebt, ist in der deutschen Soziologie, wenngleich in milderer Form, verbreitet. Die Auffassung, daß die Soziologie eine zweite, erschrekkende Wirklichkeit errichte oder offenbare, deren Grenzen es zu bestimmen gälte, tritt uns von verschiedenen Seiten entgegen. Nur bei Dahrendorf allerdings wird die Aufgabe einer solchen Grenzziehung als aussichtslos beiseitegeschoben. Für ihn liegt die Hoffnung erst jenseits von Soziologie und Wissenschaft bei einer intelligiblen Freiheit."

Kapitel I

Homo Sociologicus - Moralität und Moralisieren Soziologische Theoretiker, auch heute manchmal noch mit dem Problem befaßt, ob nicht ein der Soziologie eigener, von anderen säuberlich abgehobener Gegenstandsbereich aufgedeckt werden könne, sind zwar der Lösung nicht viel nähergekommen, doch scheint ihnen dafür ein wesentlich aus amerikanischen Arbeiten stammender handlungstheoretischer Begriffsapparat zur Verfügung gestellt, der allgemeine Anerkennung und einen allgemeinen Gebrauch gefunden hat. Daß heute bei vielen Soziologen ein identifizierbarer Konsensus über seine Brauchbarkeit bei der Beschreibung und Analyse menschlichen Verhaltens besteht, gilt als offenkundig, wenn auch die Diskussion um eine präzise Bestimmung dieser Begriffe und die Reichweite ihrer Verwendung keineswegs als abgeschlossen angesehen werden kann1 • Eine solche Übereinstimmung in elementaren Kategorien soziologischer Forschung wird bei Talcott Parsons, dem Hauptrepräsentanten jener Theoretiker, deren Arbeiten als grundlegend behauptete Begriffe wie Rolle, Erwartung, Sanktion, Position (Status), Rollensegment, Bezugsgruppe, Struktur und Funktion entstammen, zur Grundbedingung sozialwissenschaftlicher Analyse erklärt, die erst danach in das von allen "erfahrungswissenschaftlichen" Soziologen als das Ideal anerkannte empirisch-theoretische System analytischer Observanz soll übergehen können1 • 1 Nach Dahrendorf bahnt "sich in der neueren Soziologie unverkennbar ein gewisser Consensus über die Frage an, in welcher Weise menschliches Verhalten in Theorien figuriert, die allgemein als soziologisch bezeichnet werden, Symptom dieses Consensus ist die zunehmende Verwendung eines bestimmten Satzes von Kategorien, zu denen vor allem gehören: Position, Rolle, Rollenerwartung und Sanktion". R. Dahrendorf, Homo Sociologicus (im Folgenden zitiert als HS), a.a.O., S. 76. 1 Vgl. Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hrsg.): Toward a General Theory of Action (im Folgenden zitiert als TGA), Cambridge (Mass.), 1951, S. 50 ff. Parsons konstruiert 4 Stadien der theoretischen Entwicklung soziologischer Forschung, die vom "ad hoc klassifikatorischen System" (bloß klassifizierende Kategorien) über das "kategoriale System" (in das schon Beziehungen zwischen den Klassen eingegangen sind) und das "theoretische System" (ein theoretisches System wie die klassische Mechanik, das über das Verhalten

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Kap. I: Homo Sociologicus- Moralität und Moralisieren

Dieses "kategorialanalytische System der allgemeinen Soziologie" (H. Schelsky) würde nach der Auffassung analytischer Theorie dann auch Fragen wie die nach "dem Gegenstand" der Soziologie als müßig erscheinen lassen. Ralf Dahrendorf kann für sich den Ruhm in Anspruch nehmen, den Rollenbegriff und die mit ihm zusammenhängenden Kategorien in einer systematischen Form in die deutsche Soziologie eingeführt und dazu beigetragen zu haben, daß sich auch hierzulande der erwähnte Konsensus abzeichnet. Darüber hinaus scheint er auch Probleme mit der Rollentheorie in einem Zusammenhange sehen und festhalten zu wollen, bei denen es im Gegensatz zur Frage nach dem klar abgehobenen Gegenstandsbereich vielleicht weniger gleichgültig ist, daß sie vor den analytischen Theorien vergehen und in Vergessenheit geraten. Nach Dahrendorf ist der durchgängigen Rezeption des Rollenbegriffes und den an ihn sich anschließenden weiteren Kategorien der Rollenanalyse deswegen eine solche Bedeutung beizumessen, weil mit ihnen analytische Elementarbegriffe für die Soziologie als die Wissenschaft gefunden seien, deren Probleme sich "im Schnittbereich der beiden Tatsachen des Einzelnen und der Gesellschaft . . ."3 konstituieren. Mit der rollenanalytischen Apparatur scheinen ihm endlich die Kategorien zur Verfügung gestellt, die am ehesten und fruchtbarsten gestatten, den "Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft"' adäquat zu begreifen. Der Begriff der "Rolle" ruft natürlich sofort Assoziationen an das Theater wach, aber Dahrendorf weist mit Recht darauf hin, daß die Probleme der "Überschneidung" oder "Vermittlung" von Individuum und Gesellschaft sehr viel ernster sind, als es die Metapher des Schauspielers vermuten läßt. Die Agenten eines Bühnenstückes treten zwar in Masken, Rollen auf, die ihnen ein Handeln nach den im Text aufgehobenen Verhaltensvorschriften nahelegen ähnlich heißt es ja, "Rolle" bedeute, das gesellschaftliche Subjekt habe bestimmten, nicht selten kodifizierten Verhaltenserwartungen zu entsprechen-, doch ist von Gegenständen unter "idealen Bedingungen "Auskunft gibt) bis hin zum "empirisch-theoretischen System" führen. "We speak of an empirical-theoretical system whenever a sufficient nurober of relevant variables can be brought together in a single (theoretical) system of interdependence adequate for a high level of precision in predicting changes in empirical systems outside special experimental conditions", TGA, a.a.O., S. 51. 3 DahrencJorf, HS, a.a.O., S. 15. ' a.a.O., S. 17. Vgl.: "Der Einzelne und die Gesellschaft sind vermittelt, indem der Einzelne a 1 s Träger gesellschaftlich vorgeformter Attribute und Verhaltensweisen erscheint." (S. 21)- "Durch Positionen und Rollen werden die beiden Tatsachen des Einzelnen und der Gesellschaft vermittelt; dieses Begriffspaar bezeichnet homo sociologicus, den Menschen der Soziologie, und es bildet daher das Element soziologischer Analyse" (S. 26).

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ein Ablegen der Maske beim gesellschaftlichen Rollenspieler meist nur in seltenen Fällen oder unter großen Schwierigkeiten möglich. Überdies kann das gesellschaftlich Erwartete bis in die innerste Struktur der Person hineingreifen. Selbst Einstellungen, Gefühle, können zum Gegenstand gesellschaftlicher Präzepte werden (Parsons). "Der Terminus ,Rolle' darf also nicht dazu verführen, in der rollen-,spielenden' Sozialpersönlichkeit gewissermaßen einen uneigentlichen Menschen zu sehen, der seine ,Maske' nur fallenzulassen braucht, um in seiner wahren Natur zu erscheinen ... Daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen sei, ist mehr als eine Metapher, seine Rollen sind mehr als ablegbare Masken, sein Sozialverhalten mehr als eine Komödie oder Tragödie, aus der auch der Schauspieler in die ,eigentliche' Wirklichkeit entlassen wird5." Schaut man sich die überindividuellen Eigenschaften eines Individuums an, also das, was z. B. in den mit vielen anderen Subjekten geteilten Merkmalen "Staatsbürger", "Berufsausübender eines speziellen Berufs", "Vater", "Parteivorsitzender" usf. zum Ausdruck kommt, dann bezeichnen diese Charakteristika nach Dahrendorf sämtlich Positionen (im Amerikanischen oft auch status genannt), die das Individuum in der Gesellschaft einnehmen kann und die keineswegs nur ihm vorbehalten sind8 • Dabei kann keine dieser Positionen losgelöst von anderen, in der Gesellschaft vorhandenen beschrieben werden, so daß diese unter einer bestimmten Perspektive in der Rollenanalyse als kompliziertes Muster arbeitsteilig ausgegliederter Positionen erscheint7. Je komplexer der gesellschaftliche Prozeß ist, desto mannigfaltiger und differenzierter werden die Positionen, die die Individuen einnehmen müssen, wollen sie sich, damit aber auch das Leben dieses arbeitsteiligen Ganzen erhalten. Eine Position, die ein Individuum in Beziehung zu den Inhabern anderer (aber auch gleicher) Positionen bringt, kann nach Dahrendorf selbst ein komplexes Gebilde sein: Im "Homo Sociologicus" wird die Position des Lehrers beschrieben, die sich in verschiedene Beziehungsteile, Positionssegmente gliedert - etwa in die Segmente Lehrer-Schüler, Lehrer-Elternbeirat, Lehrer-Schulrat usf. Daß diese Begriffe am "Schnittpunkt von Einzelnem und Gesellschaft" angesiedelt sind, soll sich darin offenbaren, daß Positionen unabhängig von ihren konkreten Inhabern gedacht werden können, umgekehrt aber 5

a.a.O., S. 22.

• Vgl., a.a.O., S. 23 f. 7 "Positionen sind unabhängig von Einzelnen denkbar und lokalisierbar; das Sozialgefüge der Gesellschaft könnte als ein riesiger Organisationsplan erscheinen, in dem Abertausende von Positionen in ihren Feldern wie Sonnen mit einem Planetensystem verzeichnet sind", a.a.O., S. 41/42.

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ohne ihre - gewiß von Fall zu Fall varüerende - konkrete Ausfüllung nur abstrakte Hülse blieben. Mit der Kenntnis der Positionen eines Individuums verbindet sich nach Dahrendorf auch die mehr oder minder detaillierte Kenntnis dessen, was der Inhaber dieser Position "tut - oder zumindest, was er tun sollte und daher wahrscheinlich tut- ..." 8 • Zu einer jeden Position gehören, "gewisse Verhaltensweisen, die man von dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Dinge, die er tut und hat; zu jeder sozialen Position gehört eine soziale Rolle"'· Die Erwartungen, die sich auf den Inhaber einer Position richten, können sowohl sein Verhalten (Rollenverhalten) als auch Eigenschaften und Einstellungen (Rollenattribute) betreffen. "Obwohl die soziale Rolle, die zu einer Position gehört, uns nicht verraten kann, wie ein Träger dieser Position sich tatsächlich verhält, wissen wir doch, wenn wir mit der Gesellschaft, die diese Rolle definiert, vertraut sind, was von ihrem Spieler erwartet wird. Soziale Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen10." Positionssegmenten entsprechen demnach Rollensegmente. Auf der Begegnung des Individuums mit solchen quasi-objektiven, "außer ihm bestehenden Ansprüchen" (Erwartungen an sein Handeln und seine Eigenschaften) liegt für Dahrendorf der Focus soziologischer Analyse. Sie betrachtet den Menschen "im Angesicht der ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft" 11 • Als "ärgerlich" mutet ihm die Tatsache der Gesellschaft deswegen an, weil soziale Rollen, die Bündel von Erwartungen, nach seiner Auffassung eine Art zwingender Forderung ausdrücken, die auf den Einzelnen gerichtet ist, auch wenn das Geforderte dem Individuum in vielen Fällen als Bedingung von Verhaltenssicherheit erscheinen mag12• Das könnte auch so interpretiert werden, daß der Einzelne, dem das Gesellschaftliche nicht als das Selbstverständliche erscheint, in einer so vergesellschafteten Gesellschaft, wie sie uns durch die Konzeption des arbeitsteiligen Netzes von Positionen und korrespondierenden Rollen vor ' a.a.O., S. 25. • a.a.O., S. 26. 11 ibd. n a.a.O., S. 14. 11 "Es ist also zu zeigen, daß Gesellschaft nicht nur eine Tatsache, sondern eine ärgerliche Tatsache ist, der wir uns nicht ungestraft entziehen können. Soziale Rollen sind ein Zwang, der auf den Einzelnen ausgeübt wird - mag dieser als eine Fessel seiner privaten Wünsche oder als ein Halt, der ihm Sicherheit gibt, erlebt werden.", a.a.O., S. 28.

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Augen geführt wird13, nur eine erheblich reduzierte Chance hat, gegen das Selbstverständliche, gegen das, was von ihm erwartet wird, anzugehen. Diese "Härte", das determinierend Widerstehende, das im Erwartungsbegriff aufgehoben ist, offenbart sich für Dahrendorf an der gesellschaftlichen Bedeutung von Sanktionen. Eine Bereitschaft, den Erwartungen tatsächlich zu entsprechen, wird durch positive und negative Sanktionen in der Gesellschaft stabilisiert. {Wenn nicht, so müßte man im Anschluß an Parsons sagen, die in den Erwartungen artikulierten Präzepte, Normen, über Internalisierung zum unbefragten Bestandteil der Persönlichkeitsstruktur selbst geworden sind.) "Die Gesellschaft prägt nicht nur für jede Position, die in ihr verfügbar ist, eine Form, sondern sie wacht auch darüber, daß der Träger dieser Position die Form, die er vorfindet, nicht achtlos oder absichtlich beiseite schiebt und sich seine eigenen Formen zu schaffen versucht14." Sanktionen sind für Dahrendorf ein wesentliches, für die Gesellschaft charakteristisches Mittel, diese Kontrolle effektiv zu machen. Je nach dem Grad der Sanktionierung können nach Dahrendorf MußErwartungen {juristisch kodifizierte und vorwiegend negativ sanktionierte Erwartungen), Soll-ETwaTtungen {auch hier herrschen negative Sanktionen wie zum Beispiel Ächtung, Ausschluß, Beförderungshemmung in Institutionen usf. vor) und Kann-ETwaTtungen {bei ihnen dominieren die positiven Sanktionen, Wer diesen Erwartungen entspricht, tut ein Mehr, das ihm zusätzliche Wertschätzung einbringt) unterschieden werden. Sanktionierung, vor allem negative Sanktionierung, bedeutet aber nicht, die gesellschaftlichen Normen ließen keine Verhaltensspielräume oder Handlungsalternativen offen. Die sich unmittelbar ergebende Frage nach dem Ursprung der Erwartungen . und der konkreten Gestalt der sanktionierenden "Überwachungsinstanz" beantwortet Dahrendorf im Rückgriff auf die Lehre von den Positions- und Rollensegmenten. Nicht der voreilige Bezug auf "die Gesellschaft", sondern die Rücksicht auf die Tatsache, daß die bestimmten Beziehungen, in die der Inhaber einer Position gestellt ist, zugleich auf die in diesen bestimmten Beziehungen wirksamen Erwartungen verweisen, verbürgt ihm die angemessene Antwort. "Der Studienrat ist als solcher mit Schülern, Eltern, Kollegen und Vorgesetzten verknüpft und er kennt für jede dieser Gruppen einen eigenen, isolierbaren Satz von Erwartungen. Er soll den Schülern, nicht aber den Vorgesetzten Wissen vermitteln, mit den Kollegen, nicht aber mit den 11 Zum wissenssoziologischen Status der Rollentheorie, s. J. Habermas, Theorie und Praxis, a.a.O., S. 173 ff. 1• a.a.O., S. 29.

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Eltern über Zensuren entscheiden. Wenn er zu Kollegen unfreundlich ist, treffen ihn deren Sanktionen, nicht die der Schüler; ob er seinen Vorgesetzten Respekt erweist, ist den Eltern gleichgültig. Der Versuch bietet sich an, in solchen Gruppen die das Beziehungsfeld des Trägers einer Position ausmachen, ,die Gesellschaft' im Hinblick auf diese Position zu suchen, d. h. den Zusammenhang zwischen den Normen dieser Gruppen und den Rollenerwartungen der durch sie bestimmten Positionen zu erkundents." Zu einem jeden Positionssegment gehört demnach eine dieser von Dahrendorf im Anschluß an amerikanische sozialpsychologische Arbeiten sogenannten Bezugsgruppen, die als Urheber und Kontrollinstanz der in den spezifischen Beziehungen wirksamen Erwartungen gelten können18• "Gesellschaft" in einem umfassenden Sinn kann- als eigene Bezugsgruppe genommen - nach dieser Konzeption allein das in den übergreifenden Gesetzen Erwartete bezeichnen. (Vgl. Muß-Erwartungen.) Der sehr stark juridisch gefärbte Erwartungsbegriff soll Dahrendorf vor den Gefahren bewahren, die sich auftun, wenn man glaubt, einer Meinungsbefragung in den Bezugsgruppen Information über die wirksamen Erwartungen entnehmen zu können. Neal Gross17 ist mit diesem Versuch gescheitert; denn ein Konsensus der Mitglieder einer Bezugsgruppe über das vom Inhaber einer korrelierenden Position zu Erwartende wird in signifikanter Form kaum jemals festzustellen sein. Mit Recht betont daher Dahrendorf: "Der Begriff der Rolle bezeichnet nicht Verhaltensweisen, über deren Wünschbarkeit ein mehr oder minder eindrucksvoller Consensus der Meinungen besteht, sondern solche, die für den Einzelnen verbindlich sind und deren Verbindlichkeit institutionalisiert ist, also unabhängig von seiner oder irgend eines anderen Meinung giJtiB." In diesem Satz ist das zentrale Problem der über die Elementarbegriffe Position, Rolle, Erwartung, Sanktion, Bezugsgruppe aufgebauten Rollenanalyse bei Dahrendorf wiederum ausgesprochen: Rollenanalyse meint menschliches Verhalten im Angesicht der "ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft", das Individuum als Inhaber einer Posis a.a.O., S. 35. "So verstanden, läßt das Positionsfeld des Studienrates Schmidt, sich als Aggregat von Bezugsgruppen präzisieren, deren jede ihm Vorschriften auferlegt und sein Verhalten positiv oder negativ zu sanktionieren vermag. Die Frage nach dem Wesen ,der Gesellschaft' im Hinblick auf soziale Rollen wird zur Frage nach der Art, in der Bezugsgruppen die Erwartungen der durch sie lokalisierten Positionen bestimmen und sanktionieren.", a.a.O., S. 36. 17 Neal Gross, Ward S. Mason, Alexander W. McEachern: Explorations in Role Analysis: Studies of the School Superintency Role, New York 1958. 1& Dahrendorf, HS, a.a.O., S. 37. 1

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tion, welchem ein durch Sanktionen gestütztes Verhalten angesonnen wird, aus dem es sich nicht so leicht herausbegeben kann wie der Schauspieler aus seiner Rolle. Das in der Gesellschaft Selbstverständliche, das gesellschaftlich Erwartete reicht ohnehin bis in seine innerste Struktur hinein: "Der Einzelne und die Gesellschaft sind vermittelt, indem der Einzelne als Träger gesellschaftlich vorgeformter Attribute und Verhaltensweisen erscheint19." Mit anderen Worten: Die rollenanalytischen Elementarbegriffe konstituieren das Phänomen "menschliches Handeln" so, daß der Einzelne als durch angehbare gesellschaftliche Bestimmungsgründe determiniert und in Bezüge gestellt erscheint, die seinem Zugriff weitgehend entzogen bleiben. Wenn er aber "gestaltend" auf die gesellschaftlichen Kräfte, die ihn nach der Vorstellung der Rollenanalyse als quasi-objektive Erwartungen zu einem bestimmten Verhalten zwingen (bei allem vorhandenen Spielraum), einwirkt, kann dieses Einwirken selbst noch aus der objektiven gesellschaftlichen Dynamik heraus begriffen werden (Tenbruck). Vorwiegend - unbeschadet dieses Einwirkens - aber erscheint der Mensch "als Spieler von Rollen, die ihm so wenig gehören wie die Gesetze des Landes, in dem er lebt. Die Rollen werden ihm aufgebürdet; er wird durch sie geprägt; aber wenn er stirbt, nimmt die unpersönliche Kraft der Gesellschaft seine Rollen von ihm, um sie in neuer Verbindung einem anderen aufzuladen. Der Mensch ist von Einmaligen zum Exemplar, vom Einzelnen zum Mitglied, von der freien und autonomen Kreatur zum Produkt seiner entfremdeten Charaktere geworden" 20• Das meint: Die rollenanalytischen Grundbegriffe führen uns jederzeit menschliches Handeln in einer Gestalt vor Augen, die dieses in objektiven, bestimmenden sozialen Zusammenhängen stehend, als "berechenbar und kontrollierbar" 21 erscheinen läßt. Nicht etwa vom Interesse an der "Freiheit und Integrität des Einzelnen", an seiner "moralischen Qualität" (n. Dahrendorf) und deren gesellschaftlicher Möglichkeit, sondern von dem an rationaler, die entscheidenden Bestimmungsgründe erfassenden Erfahrung und damit auch an seiner praktischen Kontrollierbarkeit, seiner Öffnung für technologische Rationalität, läßt sich Rollenanalyse offenkundig leiten. Dahrendorf spricht dies an einer Stelle ganz klar aus: " ,Ho m o S o c i o 1 o g i c u s' ist zunächst und vor allem a.a.O., S. 21. a.a.O., S. 63. u Vgl.: "In ihrem erschreckendsten Aspekt ist die Welt des homo sociologicus eine ,Brave New World' oder ein ,1984', worin alles menschliche Verhalten berechenbar, verläßlich und ständiger Kontrolle unterworfen ist.", a.a.O., S. 46. 18

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ein Mittel zum Zweck der Rationalisierung, Erklärung und Kontrolle eines Ausschnittes der Welt, in der wir leben"." Für Dahrendorf entsteht damit das Paradoxon von "moralischem" und "entfremdetem" (d. h. durchgängig in den gesellschaftlichen Bestimmungszusammenhängen stehendem und "kontrollierbarem") Menschen. Rollenanalyse muß - wie Dahrendorf betont - zur Konstruktion des "künstlichen Menschen" Homo Sociologicus übergehen, will sie den erfahrungswissenschaftliehen Gesetzen gehorchen, nach denen sie antritt. Damit hat sie aber auch alle Fragen nach Freiheit und verantwortlichem Handeln, nach einer verantwortlichen Selbsttätigkeit der Subjekte, der wir uns doch alle innebleiben23, aus sich herauszustellen. Es konstituiert sich das "moralische Problem des gedoppelten Menschen" (Dahrendorf) : "Das moralische Problem des H o m o S o c i o I o g i c u s , der in jeder seiner Ausdrucksformen nur Rollen spielt, die dem Menschen von der unpersönlichen Instanz der Gesellschaft auferlegt sind, wird um so bedrohlicher, je schärfer wir die Kategorie der sozialen Rolle zu fassen suchen. Ist H o m o S o c i o I o g i c u s der sich gänzlich entfremdete Mensch, in die Hand von Mächten gegeben, die Menschenwerk sind, und doch ohne Chance, diesen Mächten zu entweichen24?" Das läßt sich noch deutlicher in Thesis und Antithesis einer Art "soziologischer Antinomie" formulieren: "Ist der Mensch ein in seinem Verhalten vorgeprägtes, daher berechenbares und kontrollierbares gesellschaftliches Wesen? Oder ist er ein je einmaliges, zur Autonomie und Freiheit fähiges Wesen? ... Besteht ein notwendiger Widerspruch zwischen dem moralischen Bild des Menschen als einem ganzen, einmaligen, freien Wesen und seinem wissenschaftlichen Bild als zerstückeltem, exemplarischem, determiniertem Aggregat von Rollen? Müssen wir annehmen, daß der Mensch entweder das eine oder das andere ist, daß also entweder die Erfahrung unserer moralischen Existenz oder der Versuch der wissenschaftlichen Rekonstruktion des Menschen irrt25?" Es dürfte offenkundig sein, daß dieses bei Dahrendorf als Disjunktion formulierte und aus seinem rollentheoretischen Begriffssystem hervorgehende Problem unmittelbar Kantische Überlegungen ins Gedächtnis ruft. "Das Problem der Freiheit des Menschen als gesellschaftlichen Wesens ist ein Problem des Gleichgewichts zwischen rollenbestimmten Verhalten und Autonomie und die Analyse des Homo So c i o I o g ic u s scheint zumindest in diesem Punkt das dialektische Paradox von Freiheit und Notwendigkeit zu bewähren•e." a.a.O., S. 55. n Vgl. a.a.O., S. 63. 14 a.a.O., S. 33. 15 a.a.O., S. 65. 18 a.a.O., S. 33. 11

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Sieht man sich bestimmte Beispiele aus Kants kritischen Schriften an27 , dann verstärkt sich noch der Eindruck von einer Gleichartigkeit der Problemstellung, wie sie in der 3. kosmologischen Antinomie und der nach Dahrendorf korrespondierenden soziologischen aufgehoben ist. In beiden Fällen geht es um die Frage, ob die mit Thesis und Antithesis gesetzte Disjunktion von Freiheit und Notwendigkeit als eine echte oder eine unechte anzusehen sei. Kant hat in der "Transzendentalen Dialektik", der Analyse der Vernunft (im engeren Sinne) als dem "Vermögen der Ideen", welche uns die Einheit des Wissens als ein in unendlicher Annäherung zu erreichendes Ziel vorschreiben (regulative Prinzipien), die Widersprüche zu klären versucht, in die sich Vernunft notwendig verstrickt, weil sie stets ihre Prinzipien auf mögliche Erfahrung Übersteigendes anzuwenden geneigt ist28• n Vgl.: "In der ersten Absicht geht man seinen (i. e. eines Menschen- J. R.) empirischen Charakter bis zu den Quellen desselben durch, die man in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Teil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells, aufsucht, zum Teil, auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt; wobei man denn die veranlassenden Gelegenheitsursachen nicht aus der Acht läßt. I n a 11 e m d i e s e m v e r fährt man, wie überhaupt in Untersuchung der Reihe bestimender Ursachen zu einer gegebenen Naturwirkung ." (Hervorh. v. mir- J. R.) Zit. Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Band II: Kritik der reinen Vernunft (im Folgenden zitiert als KRV), Darmstadt 1963, S. 503 (B 582- A 554). Vgl. auch Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (im Folgenden zitiert als KPV), Werke Bd. IV, a.a.O., S. 108 ff. 18 Vgl.: "So bezieht sich demnach die Vernunft nur auf den Verstandesgebrauch, und zwar nicht sofern dieser den Grund möglicher Erfahrung enthält (denn die absolute Totalität der Bedingungen ist kein in einer Erfahrung brauchbarer Begriff, weil keine Erfahrung unbedingt ist), sondern um ihm die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat, und die darauf hinaus geht, alle Verstandeshandlungen, in Ansehung eines jeden Gegenstandes, in ein ab so 1 u t es Ganzes zusammen zu fassen.", KRV, a.a.O., S. 330/331 (B 383- A 326/27). Vernunft (im engeren Sinne) schreibt also bei Kant dem Verstand, der mit Hilfe der Kategorien das raum-zeitlich geordnete Sinnesmaterial zur Einheit der Apperception erhebt, bestimmte Zielpunkte vor. Ihr Gebrauch ist "regulativ", nicht "konstitutiv": "Ich behaupte demnach, die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich-notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen." KRV, a.a.O., S. 565 (B 672- A 644). Der Schein, in den sich Vernunft beim "konstitutiven" Gebrauch ihrer Prinzipien verstrickt, gilt Kant als unaufhebbar: "Der transzendentale Schein da-

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Solche Widersprüche offenbaren sich auch in den Antinomien der Vernunft, die daher rühren, daß von den vier kosmologischen Ideen20 ein konstitutiver Gebrauch gemacht wird, - daß sie also so verwandt werden, als gäben sie uns bestimmte Objekte zu erkennen. Die Thesis der mit gleich guten Argumenten zu stützenden Pole der 3. Antinomie lautet nach Kant: "Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig." Die Antithesis, für die ebenfalls von der Vernunft gute Gründe vorgebracht werden können, lautet: "Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur30." Die Auflösung sämtlicher Antinomien, die aus dem Fehlgebrauch der "Weltbegriffe"3t, der Modi jener "transzendentalen Idee" stammen, welche "die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheigegen (i. e. im Gegensatz zum logischen Schein - J. R.) hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transzendentale Kritik deutlich eingesehen hat. (z. B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben.) Die Ursache hievon ist diese: daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird. Eine I 11 u s i o n , die gar nicht zu vermeiden ist, ..." KRV, a.a.O., S. 310/311 (B 353- A 297). u Analog dem Verfahren, die Stammbegriffe des reinen Verstandes am Leitfaden der klassischen Urteilsformen aufzuspüren, will Kant orientiert am "logischen Gebrauch" (KRV, a.a.O., S. 312- B 355/A 299) der Vernunft (im engeren Sinne), d. h. dem Vermögen des mittelbaren Schließens (Syllogistik), Begriffe und Grundsätze aufdecken (KRV ibd.), die der Vernunft (im engeren Sinne) genau so zugehören wie die Kategorien ':lern reinen Verstand und die Anschauungsformen von Raum und Zeit der rei·len Sinnlichkeit (Receptivität) (vgl. KRV, a.a.O., S. 327, B 377/78- A 321). Mit Hilfe dieses "logischen Leitfadens" stellt Kant drei Klassen der Vernunftsprinzipien auf: "davon die erste die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts, die zweite die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, die dritte die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt enthält. Das denkende Subjekt ist der Gegenstand der Psychologie, der Inbegriff aller Erscheinungen (die Welt) der Gegenstand der Kosmologie, und das Ding, welches die oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann, enthält (das Wesen aller Wesen) der Gegenstand der Theologie". (KRV, a.a.O., S. 336, B 391/A 334). Am "Faden der Kategorien fortlaufend" (nach KRV, ibd.)- um uns hier weiter an den mehr formalen Aspekten der kantischen Argumentation zu orientieren - werden auch die Modi der "Idee der Welt" (des o. a. 2. Prinzips) abgeleitet, von denen nach Kant 4 aufgedeckt werden können (vgl. KRV, a.a.O., S. 401 ff.- B 435 ff.!A 408/409 ff.). 81 Vgl. KRV, a.a.O., S. 426 ff. (B 472 ff./A 444 ff.). 31 Vgl.: "Ich nenne alle transzendentale Ideen, sofern sie die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen betreffen, Weltbegriffe .. .", KRV, a.a.O., S. 401 (B 434- A 408).

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nung .. . enthält"32, geschieht nach Kant generell durch den Nachweis, daß mit einem gegebenen Bedingten nicht die absolute Reihe der Bedingungen gegeben (konstitutiv - das wäre nur möglich, wenn wir unmittelbar Ansich-Seiendes erkennten), sondern bloß zu suchen aufgegeben ist. (Regulativ - wir können nach der Kantischen Lehre die Dinge nur als Erscheinungen fassen33.) Für die Auflösung der aus der Idee "von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen" entspringenden Antinomie, welche Kausalität "nach der Natur" mit Kausalität "aus Freiheit" 34 konfrontiert und uns vor das Problem stellt, "ob es ein richtigdisjunktiver Satz sei, daß eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur oder aus Freiheit entspringen müsse, oder ob nicht vielmehr beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden könne" 35 , ist die Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter ein spezifisches Kennzeichen. In der Sinneswelt, der Welt unserer Erfahrung, erscheint uns ein "Zustand" (Ereignis) stets wieder als durch einen anderen (oder mehrere andere) provoziert, der selbst wieder verursacht ist usf., während Freiheit eine Kausalität bezeichnen müßte, die nicht selbst wieder "unter einer anderen Ursache" (Kant), in dieser Kette auch wieder bestimmter Bestimmungsfaktoren, steht. Wenn man, so verläuft in Umrissen die Kantische Argumentation, behaupten wollte, die Dinge seien für uns in 12 KRV, a.a.O., S. 336 (B 391 - A 334). Generell gilt für die kosmologischen Ideen: "Es werden hier also Erscheinungen als gegeben betrachtet, und die Vernunft fordert die absolute Vollständigkeit der Bedingungen ihrer Möglichkeit, sofern diese eine Reihe ausmachen, mithin eine schlechthin (d. i. in aller Absicht) vollständige Synthesis, wodurch die Erscheinung nach Verstandesgesetzen exponiert werden könne." KRV, a.a.O., S. 406 (B 443- A 415). 83 Vgl.: "So wird demnach die Antinomie der reinen Vernunft bei ihren kosmologischen Ideen gehoben, dadurch, daß gezeigt wird, sie sei bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins, der daher entspringt, daß man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung, und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im sukzessiven Regressus, sonst aber gar nicht existieren." KRV, a.a.O., S. 470 (B 534-A 506). 84 "Freiheit", um vorerst bei der Fassung dieses Begriffs in der 3. Antinomie zu bleiben, bezeichnet an diesen Stellen "das Vermögen, einen Zustand von seLbst anzufangen, deren (sie) Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze, wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte". (KRV, a.a.O., S. 488- B 561/A 533). In dieser Bedeutung ist Freiheit eine "transzendentale Idee", weil sie nichts enthält, was aus der Erfahrung entnommen wäre, und auch in keiner Erfahrung gegeben werden kann, da es nach Kant ein die Erfahrung erst ermöglichendes Gesetz ist, daß alles Geschehene eine Ursache hat, die selbst wiederum hervorgerufen ist. In der Erfahrungswelt ist jede Wirkung ein Ereignis in der Zeit, dem ein anderes als seine Ursache zugeordnet ist, das wäre es "jederzeit gewesen" ("zeitlos"), "auch keine Wirkung, die allererst in der Zeit entspringt, hervorgebracht hätte" (KRV, a.a.O., S. 488, B 560/61 - A 532/33). 35 KRV, a.a.O., S. 491 (B 564 A 535).

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ihrem Ansichsein gegeben, wenn also den Erscheinungen "absolute Realität" (Kant) zuerkannt würde, wäre selbstverständlich nur der Gedanke an durchgängige Naturgesetzlichkeit zu halten. Das (wiederum bestimmte) Bestimmende und das Bestimmte wären als Glieder einer identischen Reihe (Kette) anzunehmen. Erkennt man aber - wie es die gesamte Kritik der reinen Vernunft beweisen soll - , daß die Gegenstände unserer Erfahrung Dinge qua Erscheinung sind, also über die Formen unserer Sinnlichkeit und unseres Verstandes geordnete Sinnesdaten darstellen, dann können ihnen zweifellos Ursachen zugerechnet werden, die nicht selbst Erscheinungen sind: "Eine solche intelligibele Ursache aber wird in Ansehung ihrer Kausalität nicht durch Erscheinungen bestimmt, obzwar ihre Wirkungen erscheinen, und so durch andere Erscheinungen bestimmt werden können. Sie ist also samt ihrer Kausalität außer der Reihe; dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden. Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden30." Anders ausgedrückt: Wenn jede "wirkende Ursache" einen Charakter hat, "d. i. ein Gesetz ihrer Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde", so müßte man "einem Subjekte der Sinneswelt erstlieh einen empirischen Charakter" zuerkennen, "wodurch seine Handlungen, als Erscheinungen, durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen, und von ihnen, als ihren Bedingungen, abgeleitet werden könnten, und also, mit diesen in Verbindung, Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung ausmachten" 37 • Daneben wäre ihm aber noch ein intelligibler Charakter zuzuschreiben, "dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und nicht selbst Erscheinung ist" 38• Dieser intelligible Charakter kann somit niemals unmittelbar erkannt werden, müßte aber doch dem empirischen Charakter korrespondierend gedacht werden3a. Nach seinem empirischen Charakter steht dieses Subjekt im Nexus der Kausalität, der Determination - wir erkennen es nur als von selbst wieder produzierten Faktoren bestimmt-, zugleich ist dasselbe Subjekt vom Einfluß aller Bestimmungen frei zu denken, seine Wirkungen in der Sinnenwelt selbst setzend (intelligibler Charakter). Auf der Grundlage der durch die gesamten erkenntnistheoretischen Überlegungen gewonnenen Einsichten in der Kritik der reinen Vernunft, as a.a.O., S. 491 (B 565 - A 537). a.a.O., S. 493 (B 567 - A 539).

17 38

ibd.

so Vgl., a.a.O., S. 493 (B 568 -

A 540).

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welche uns die Konstitution der Erfahrungswelt durch kategoriale Synthesis der in den Anschauungsformen Raum und Zeit gegebenen Sinnesdaten vor Augen führt und unter anderem die Lehre von den vom bloßen Schein streng abzuhebenden Erscheinungen als eben dieser raum-zeitlich geordneten und durch reine Stammbegriffe der Vernunft in einem "Bewußtsein überhaupt" allgemeinverbindlich verknüpften Sinnesdaten führt40, kann Kant somit die Disjunktion als eine Unechte begreifen. Freiheit und Notwendigkeit können sehr wohl "zugleich stattfinden". Kant beansprucht bei seiner Auflösung der 3. Antinomie nicht mehr, als gezeigt zu haben, "daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite ...", dies ist für ihn "das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war" 41 • Es ist unter anderem auf die zentrale Schwierigkeit hingewiesen worden, daß in der 3. Antinomie der Begriff der Freiheit von nahezu un:brauchbarer Allgemeinheit sei: "Freedom as a universal predicate is of no interest. The concept of noumenal causation is empty unless we could know either (a} the substance in question or (b} a noumenal law of its activity. In the case of a stone, for instance, we know neither, and therefore we have tobe content- and are easily contented- with knowledge of the phenomenal relations of phenomenal stones. In the case of one's own self, however, though we do not know ourselves except as appearances, we do know the law of the noumenal action, for that is nothing other than the morallaw42." In der Tat deutet alles darauf hin, daß Kant bei seiner Lehre von der intelligiblen Ursache auch in der Kritik der reinen Vernunft letztlich •• Vgl.: "Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen, von Dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind. Als bloße Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt. Nun ist das, was das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung verknüpft, Einbildungskraft, die vom Verstande der Einheit ihrer intellektuellen Synthesis, und von der Sinnlichkeit der Mannigfaltigkeit der Apprehension nach abhängt. Da nun von der Synthesis der Apprehension alle mögliche Wahrnehmung, sie selbst aber, diese empirische Synthesis, v o n der transzendentalen Synthesis, mithin den Kategorien abhängt, so müssen alle mögliche Wahrnehmungen, mithin auch alles, was zum empirischen Bewußtsein immer gelangen kann, d. i. alle Erscheinungen der Natur, ihrer Verbindung nach, unter den Kategorien stehen, von welchen die Natur (bloß als Natur überhaupt betrachtet), als dem ursprünglichen Grunde ihrer notwendigen Gesetzmäßigkeit (als natura formaliter spectata), abhängt." KRV, a.a.O., S. 156/157 (B 164/165). 41 a.a.O., S. 506 (B 586 A 558). 41 Vgl. Lewis White Beck: A Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, Chicago 1960, S. 188/189. Vgl. Kant: "Bei der leblosen, oder bloß tierisch belebten Natur, finden wir keinen Grund, irgendein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken." KRV, a.a.O., S. 498 (B 575- A 547).

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den Menschen und seine Sittlichkeit vor Augen hatte. So bezieht sich die Illustration der Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter denn auch auf die menschlichen Vernunftsvermögen. Der Mensch ist sich nach Kant einerseits Phänomen, eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt, die nach dem Prinzip der Kausalität von selbst wieder bedingten Ursachen her begriffen werden kann (empirischer Charakter), zum andern aber ist er sich "in Ansehung gewisser Vermögen" (des Verstandes, vor allem aber der Vernunft), ein intelligibler Gegenstand43 • Daß wir uns an der Vernunft eine andere denn die empirische Kausalität zumindest vorstellen können, zeigt sich nach Kant an den Imperativen, dem Sollen, das eine Art von Notwendigkeit ausdrückt, die in der Natur sonst nicht zu finden ist44 • Diese Problemstellung findet Dahrendorf im Ansatz der Rollenanalyse wieder: "Homo sociologicus ist, in der Sprache Kants, der Mensch im Bann der ,Natur'gesetzlichkeit, dessen jeder Schritt nur Glied in einer Kette erkennbarer Bezüge ist; der ganze Einzelne dagegen läßt sich keiner solchen Kette eingliedern, er ist frei. Jeder dieser beiden Menschen kann zu seiner Rechtfertigung ein logisch schlüssiges Argument vorbringen; sie sind Thesis und Antithesis eines immanent nicht lösbaren Widerstreites45 ." Die in ihren Grundzügen identische Fragestellung verbürgt ihm gleichzeitig auch die volle Übertragbarkeit des skizzierten Kantischen Beweisgangs bei der Auflösung der soziologischen (rollenanalytischen) Antinomie48• Die Rücksicht auf Kants Schlußfolgerungen, die an der Freiheitsantinomie eine unechte Disjunktion aufzeigten, vermag nach Dahrendorf auch bei der theoretischen Auflösung der rollenanalytisch formulierten Freiheitsantinomie zu helfen. Mit anderen Worten: Der Rückgriff auf Kant führt nach der Dahrendorfschen Interpretation der Rollenanalyse einerseits dazu, ein dieser entspringendes Problem in präziser Gestalt identifizierbar zu machen. Da zum anderen in der Übernahme der kritizistischen Analysen deren Grundzüge weiterhin ihre Relevanz behalten und die Rollenanalyse das "dialektische Paradox von Freiheit und Notwendigkeit" (Dahrendorf) bewährt und als Problem so bewahrt wie es in der Transzendentalphilosophie vor Augen geführt wird, kann nach Dahrendorf auch die im Kern stichhaltige kritische Auflösung der Antinomien bei den rollentheoretischen Paradoxien weiterhelfen. Vgl. KRV, a.a.O., S. 497 ff. (B 574 ff. - A 546 ff.). Vgl. KRV, a.a.O., S. 498 (B 575- A 547). 45 Dahrendorf, HS, a.a.O., S. 66. 48 Vgl. "Kants Argumente gleiten in voller Schärfe für unseren Zusammenhang", Dahrendorf, HS, a.a.O., S. 68. 41

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Es steht außer Zweifel, daß die von Dahrendorf in aller Schärfe gefaßte "rollenanalytische Antinomie" folgerichtig aus einem vom Interesse an "Rationalisierung und Berechnung" menschlichen Handeins geleiteten Begriffssystem deduziert wird und daß sie uns tatsächlich auf die Frage nach dem Verhältnis zurückverweist, in dem sich durchgängig gesellschaftlich bestimmtes Handeln zu einem solchen befindet, das sich einem kritisch reflektierten Begriff von Freiheit und Verantwortung verpflichtet weiß. Ein solcher plausibler Versuch, die rollentheoretischen Paradoxien als ein Paradigma der in der 3. Antinomie bei Kant diskutierten Konstellationen zu begreifen, würde natürlich immer noch die detaillierte Untersuchung verlangen, wo trotz aller identisch konstruierten Fragestellungen gewichtige Differenzen liegen (könnten). Aber wenn tatsächlich Kant bei der Aufhellung eines von Dahrendorf ins Zentrum der Rollenanalyse gerückten Problems helfen kann, fragt es sich auch, in welcher Form Dahrendorf mit Hilfe des Kritizismus über die konstatierte Antinomie hinauskommen will; vor allem jedoch, ob seine Argumentation noch im möglichen Loslösen vom Kritizismus der mit dem Rekurs auf Kant gesetzten Intention auf eine kritisch-rationale Analyse des Verhältnisses von gesellschaftlicher Bestimmtheit und Autonomie verbunden bleibt. Das wird vor allem deswegen so wichtig, weil Dahrendorf eine kritische Analyse des Begriffs versucht, den die herrschende Soziologie von solchen Relationen heute gemeinhin gibt47. Verlangt ist damit auch eine kritische Betrachtung bestimmter Überlegungen zur Konstruktion des "Homo Sociologicus", dieja-wie gezeigt wurde- bei Dahrendorf dem erkenntnistheoretischen Konzept des empirischen Charakters weitgehend gleichgesetzt wurde sowie der moralphilosophischen Erwägungen, welche im Rekurs auf den intelligiblen Charakter impliziert sind. Wie schwierig es auch sein mag, die bei Dahrendorf nicht allzu weit getriebenen erkenntnistheoretischen Analysen mit dem Gewicht transzendentalphilosophischer Einsichten zu belasten, die zur Konstatierung einer "soziologischen Antinomie" führende Argumentation stützt sich auf eine allgemeine Diskussion des Verhältnisses von rollentheoretischer Begriffsstruktur und zu Begreifendem. Sie steht damit im Zentrum von Konstitutionsfragen. Das hatte sich schon da abgezeichnet, wo von der spezifischen Weise ausgegangen wurde, in der die Rollenanalyse menschliches Handeln vorstellt oder konstituiert4s. 47

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Vgl., a.a.O., S. 64/65 und S. 69 ff. - Zur Bedeutung dieses Aspekts s. u. Vgl. oben, S. 25/26.

3 Rilaert

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Noch deutlicher läßt sich dies an den Stellen ablesen, wo Dahrendorf versucht, die Beziehung zwischen Rollentheorie und philosophischer Anthropologie zu erläutern. Von der philosophischen Anthropologie, als deren Aufgabe er offenbar die Ergründung des "menschlichen Wesens" ansieht, will Dahrendorf die Rollenanalyse, generell die Soziologie, strikt getrennt wissen: "Die Soziologie ist nicht nur als Wissenschaft vom Menschen ganz unzulänglich bestimmt, sondern ,der Mensch' ist ihr im Grunde gleichgültig, weil sie mit homo sociologicus sehr viel mehr anfangen kann als mit Aussagen, die das Wesen des Menschen richtig zu treffen suchen4P. " Homo Sociologicus ist ihm keine Philosophie der menschlichen Natur". Die Grenzziehung zwischen Soziologie und Anthropologie dispensiert aber auch für Dahrendorf nicht von der Frage nach dem Verhältnis, in welchem die Rollenanalyse zur Wirklichkeit der gesellschaftlichen Subjekte steht. Im Gegenteil: Die Dahrendorfsche Analyse der Relation von Rollenkonzept bzw. der Figur des über sanktionsgestützte Erwartungen in die gesellschaftlichen Bestimmungszusammenhänge gestellte Homo Sociologicus zum "wirklichen, integren Einzelnen unserer Erfahrung" muß als eine der Beziehung von Identität (i. e. begrifflich vorgängiger Apparatur des erkennenden Subjekts) und Nicht-Identität (Gegenstand, Realität, die bei Dahrendorf vorwiegend als Verhaltenstotalität des "wirklichen" gesellschaftlichen Subjekts erscheint) angesehen werden. Das heißt auch, daß es nicht ausreicht, bei der Auseinandersetzung mit Homo Sociologicus auf die gesamte Diskussion um formale Konstruktion und Brauchbarkeit wissenschaftlicher Modelle, wie sie Homo Sociologicus und Homo Oeconomicus darstellen, hinzuweisen; denn diesen liegen selbst wieder - wie sich auch noch an Dahrendorf zeigen wird bestimmte, ohne Zweifel einer Beachtung bedürftige erkenntnistheoretische und "moralphilosophische" 50 Auffassungen zugrunde. Hinter den Hinweisen auf die Bedeutung von Modellen in den modernen Wissenschaften stehen spezifische erkenntnistheoretische Grundauffassungen, Ansichten über das "Fundierungsverhältnis zwischen Erfahrung und Gegenstand" (Lieber), ebenso wie in ihnen bestimmte praktische Interessen aufgehoben sind51 • Dahrendorf, HS, a.a.O., S. 81. Das meint, daß sie in ihrer Struktur mitbestimmt sind durch Auffassungen über die Weise, in der Probleme der Praxis zu behandeln sind. 51 Zu den erkenntnistheoretischen und metaphysischen Schwächen und Konfusionen in den heute nicht mehr wegzudenkenden Modell und Kalkültechniken s. G. Günther, Idee und Grundriß .. . , a.a .O., z. B. S. 53 ff. et passim. Zu dem dominierenden technischen Erkenntnisinteresse in den modernen Erfahrungswissenschaften und dessen Rolle in Entscheidungskalkülen s. Jürgen Habermas: Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung- Zu Theorie und 49

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Dahrendorf geht also demgegenüber ein Stück weiter, wenn er die mit der Durchsetzung des rollenanalytischen Erkenntnisinteresses verbundenen "moralphilosophischen" Fragen und die vorgeordneten nach dem Verhältnis von rollentheoretischem Begriff und Gegenstand diskutiert - wie problematisch die Konsequenzen der Identifikation von "Gegenstand" mit der Verhaltenstotalität gesellschaftlicher Subjekte bei Dahrendorf auch sein mögen. Die allgemeine Bemühung um die Fundierungsproblematik von Wissen und Objekt stellt Dahrendorfs Konzeption sofort in den Zusammenhang eines zwar ebenso allgemeinen, dennoch auch in seiner abstrakten Gestalt wichtigen Aspekts am "neuzeitlichen" Philosophieren, der nur unter Rücksicht auf Schritte immanent-kritischer Aufhebung der Transzendentalphilosophie skizziert werden kann. In einer groben Unterscheidung könnte man neuzeitliches, etwas willkürlich meist mit Descartes angesetzes Denken, vom antiken und mittelalterlichen dadurch abheben, daß für die Philosophie bis an die Schwelle der Neuzeit, Einheit vorwiegend- wenn auch beileibe nicht ausschließlich - in der Ordnung des Seienden selbst begründet liegt, während "modernes" Philosophieren diese Einheit im Durchgang durch das Subjekt hindurch zu begründen sucht und sich schließlich auch zu den Systemen der konstituierenden Vernunft auslegt. So ließe sich etwa die Kantische Ideenlehre als eine bewahrende Wendung gegen die Platons begreüen, indem sie Dialektik, die Logik des notwendigen Scheins, der Identifikation transzendentaler Ideen mit dem Ansich-Seienden (Wesen- Platon) entstammend kritisiert, während sie gleichzeitig die Bedeutung der Ideen als oberste regulative Prinzipien der die Erfahrung konstituierenden Vernunft anerkennt. Trotz aller Kontinuitäten in Problemen und Einsichten - stimmiges Denken steht in der gesellschaftlichen Geschichte, geht aber nicht im historisch-relativen Punkt auf- bleibt als ein entscheidendes Merkmal spezifisch neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaftslehre bis heute52 erhalten, daß sie die Objektivität des Gegenständlichen nicht ohne die begriffliche, schließlich auch praktische (Marx) Vermittlung des SubPraxis in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: Theorie und Praxis, a.a.O.,

s. 231-257.

Vgl.: "Weil in der Methodologie der Erfahrungswissenschaften ein alle übrigen Interessen ausschließendes technisches Erkenntnisinteresse ebenso stillschweigend wie zuverlässig begründet ist, können unter dem Titel der Wertfreiheit alle anderen Bezüge zur Lebenspraxis abgeblendet werden." a.a.O., S.241.

61 Damit soll natürlich nicht behauptet sein, die Subjekt-Objekt-Dialektik sei rein durchgesetzt. Die verbreiteten Fundamentalonologien versuchen ja den Sprung ins Sein des Seienden; jedoch auch sie können ihre Herkunft aus dem modernen Nominalismus der Vernunft nicht ganz ableugnen.

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jekts begreifen will. Nicht mehr werden die Ideen dem Seienden gleichgesetzt und die unbefangenen, unvermittelten Urteile über Seiendes gewagt, sondern Sein, Objektivität, ist ohne "die Idee", das nach seinen Prinzipien erkennende und praktisch tätige Subjekt nicht mehr zu fassen. Die Korrelation von Subjekt und Objekt (Identität und Nichtidentität) wird zum erkenntnistheoretischen Grundverhältnis53• In ihm sind zentrale Probleme aufgehoben, die von Kant, vor allem aber den nachkantischen Denkern bewußt ins Zentrum des Philosophierens gerückt wurden, heute jedoch- trotz aller immensen Fortschritte in Logik, Hypothesenbildung, Modell- und Kalkülkonstruktion - erkenntnistheoretische Konfusionen provozieren, weil sie oft naiv unbedacht bleibens'. G. Günther hat eine der grundlegenden, mit der modernen Subjektwendung verbundenen Fragen hervorgehoben: "Mit Descartes ist der Begriff des Gegenstandes grundsätzlich zweideutig geworden: Erstens steht er dem Denken ,entgegen'. Ist also transzendent; und zweitens tritt dieses Entgegenstehen n u r im Denken auf. Gegenstände haben, ist die Weise, wie sich das Denken auf sich selbst bezieht. Der Gegenstand ist also immanent. Indem er auf diese doppelte Weise auftritt, ist er positiv doppeldeutig. Er ist zweierlei: Ding und Denkmotiv55 ." 53 "Die mittelalterliche Philosophie kannte keine Erkenntnistheorie im modernen Sinne des Wortes. Gott war die absolute Identität von Essenz und Existenz, von Denken und Sein, reinste Wirklichkeit und actus purus. Er garantierte deshalb die eindeutige Korrespondenz zwischen Glaube und Objekt." Günther, Idee und Grundriß ... , a.a.O., S. 46. "Alle antike und mittelalterliche Reflexion richtet sich selbstvergessen auf das andere, den Gegenstand, - und niemals auf die eigene Beziehung zum Objekt" - a.a.O., S. 48. Gott, der in Descartes' Subjektwendung letztlich doch noch die Korrespondenz von Denken und Realität verbürgen sollte, wird immer mehr im Säkularisierungsprozeß der Aufklärung in die weltkonstituierende Vernunft hineingenommen: "Und Fichte zieht Gott völlig in das ,absolute' Ich hinein. Damit hat das ursprüngliche kartesische Ich die ganze theologische Substanz der Vergangenheit in sich aufgesaugt. Von dem ursprünglich trinitarischen Schema: Gott, Subjekt, Objekt ist nur der einfache Gegenstand von Subjekt und Objekt übriggeblieben", a.a.O., S. 49/50. Daß die Auffassung vom einheitlichen, dem Sein gegenüberstehenden Ich (Subjekt, identische Apperception) als Kennzeichen der aristotelischen Logik sowohl als auch der modernen formalen Logik angesehen werden muß, stellt Günther klar vor Augen. 54 Der Demonstration dieser Tatsache ist das Buch von Milmed (a.a.O.) gewidmet. Ihr hilft ein selbst positivistisch interpretierter Kant dazu, positivistischem Denken an ihm selbst die Relevanz der Transzendentalphilosophie aufzuzeigen. Bei Günther (a.a.O.), ähnlich auch bei P. K. Schneider (P. K. Schneider: Die wissenschaftsbegründende Funktion der Transzendentalphilosophie, Freiburg/München 1965) wird an positivistischen Denkmotiven aufgezeigt, wie sehr sie in ihrer Erkenntnistheorie und ihrem Verständnis von Metaphysik hinter dem transzendentalen Problemniveau zurückbleiben. Günther will überdies zeigen, daß das abendländische Denken mit der Transzendentalphilosophie eine logische und metaphysische Problemschicht erreicht hat, die eine erkenntnistheoretisch fundierte 3-wertige Logik vorbereitet und fordert. 55 Günther, a.a.O., S. 48.

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D. h. die Wendung aufs Subjekt führt notwendig zu einer merkwürdigen Spaltung im Begriff des Gegenstandes, der einerseits ohne die (kategorial) konstituierende Tätigkeit des Subjekts gar nicht das wäre, was er ist, zum andern doch gleichzeitig als das Nicht-Identische, "Realität" in ihrem Eigensein, besser noch: in ihrem Eigensinn gegen die kategoriale Veranstaltung (das meint das gegebenenfalls korrigierend und damit die Apparatur mitbedingende Widerstehende, das wir etwa erfahren, wenn unsere Methoden vor der Sache versagen), begriffen werden muß, wenn wir uns nicht bei Tautologien (aber selbst "leere Formen" verraten ihren Bezug zu Gehalten) oder Wahnsystemen beruhigen wollen. Das ist kein Problem, das in objekt- und metasprachlicher Konstruktion aufgeht, sondern ein weiterhin zentrales der Konstitution, wie es Kant diskutierte: "It is rather to find out, ... , what contribution Kant can still make to the solution of the problern which he hirnself introduced and which is even more acute in philosophy today - the problern of bridging the gap between the analytic and the synthetic, between logic and existence, to such an extent that the application of logic to the empirical world is possible." Und es gilt "to understand Kant's proposed solution of the second pressing problern which his own contributions to current philosophy have created - the problern of locating independent, existential reality in a world of conceptualized experience. If the world of physical objects, as objects of knowledge, is in some sense created by our knowledge of it; if it is in some sense an abstraction, a conceptual construct, with no existential content apart from the occurrence of the sense data which it organizes; what is there independently of our sensations and our constructions alike? If it is not apparant, at first glance, that this question presents a problern for Kant's successors as it did for him, if they are not themselves conscious of any difficulties in this connection, we shall see that they do nevertheless run into such a problern - and into considerable confusion because of their reluctance to recognize it. And I think we shall find that here, too, Kant can make sense; that the thing in itself is neither an irrelevancy best overlooked nor a constituent of a mental world separate and different from the physical, but rather the thing of our world, the experienced world, as it exists independently of being experienced" 56• (Herv. v. mir.) Milmed hebt in diesem Zitat mit Recht hervor, daß die Kantische Philosophie einen entscheidenden Versuch darstellt, die Problematik von Gedachtem, subjektiv Vermitteltem und gleichzeitig in Subjektivität, in kategorialer Veranstaltung nicht Aufzulösendem zu bewältigen. Daß der Lehre von den für "antispekulative" Wissenschaftler so leidigen sa

Milmed, a.a.O., S. 22.

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"Dingen an sich" dabei eine zentrale Bedeutung zukommt, ist ebenso unbestreitbar; denn sie sollen nach Kant gerade dafür garantieren, daß der transzendentale Idealismus, dem Natur der Inbegriff der über die Stammbegriffe der Vernunft in einem Bewußtsein überhaupt objektiv (allgemeinverbindlich) verknüpften Erscheinungen ist, nicht in den unmittelbar-absoluten Idealismus Berkeleys übergeht. Die Kategorien sind für Kant Organisationsformen für eine Mannigfaltigkeit von (raum-zeitlichen) Sinnesdaten, denen eine nichtsubjektive Dingwelt korrespondierend gedacht werden muß. Erfahrung ist aus den von außen empfangenen Eindrücken und dem zusammengesetzt, was unser "Erkenntnisvermögen aus sich hergibt" (Kant). Wenn nun tatsächlich so in aller gegenständlichen Erfahrung die Prinzipien unseres Erkenntnisvermögens wirksam sind, können wir die Dinge nicht erkennen, wie sie an sich sein mögen, sondern nur so, wie sie uns in den Formen der Rezeptivität (Raum und Zeit) und des Verstandes (Kategorien) erscheinen51• Dieser Versuch der Grenzziehung treibt aus immanenter Notwendigkeit heraus in die Konzeption des Subjekt-Objekt-Verhältnisses als eines Prozesses der wechselseitigen Konstitution beider Pole. Das hat schon Fichte am Kantischen System ablesen können. Fichte zeigt, daß jenes unerkennbare Nicht-Identische selbst die Doppelung am Dingbegriff erneut aufbrechen läßt, weil das Ansieh-Seiende, das nicht in der Subjektivität Aufgehende, bei Kant gleichzeitig doch auch Gedachtes, mit unserer Begriffsapparatur Gefaßtes, zumindest in die Immanenz Hineingenommenes ist: "Dies, daß der endliche Geist notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muß (ein Ding an sich) und dennoch von der andern Seite anerkennen muß, daß dasselbe nur für ihn da sei (ein notwendiges Noumen sei), ist derjenige Zirkel, den er in das Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann. Ein System, das 57 Dies wird besonders deutlich an Kants Lehre von der "empirischen Realität" und ,.transzendentalen Idealität" von Raum und Zeit, den Formen, in denen Gegenstände unserer "Sinnlichkeit" allein gegeben sein können. Die empirische Realität der beiden reinen Formen der Anschauung bedeutet ihre "objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unsern Sinnen gegeben werden mögen." (KRV, a.a.O., S. 82, B 52 - A 35). In der Anschauung kann nach Kant uns niemals ein Gegenstand entgegentreten, der nicht in Raum und Zeit wäre. Die Formen der sinnlichen Anschauung stellen die Bedingungen dar, unter denen das Mannigfaltige der Empfindungen für uns in der Anschauung ist. Sie können aber, wenn sie den Dingen gleichsam in ihrem "Ansichsein", ohne Bezug auf unsere Sinnlichkeit zugeordnet werden sollen, nicht als deren Eigenschaften oder Bedingungen angesehen werden. Im Hinblick auf einen von unserer Rezeptivität völlig unabhängigen "Gegenstand an sich" sind Raum und Zeit völlig nichtig, besitzen sie "transzendentale Idealität". Will man die Welt aber nicht aus dem individuellen Bewußtsein herausspinnen, muß man ein den Empfindungen korrespondierendes X annehmen.

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auf diesen Zirkel gar nicht Rücksicht nimmt, ist ein dogmatischer Idealismus; denn eigentlich ist es nur der angezeigte Zirkel, der uns begrenzt und zu endlichen Wesen macht; ein System, das aus demselben herausgegangen zu sein wähnt, ist ein transzendenter realistischer Dogmatismus58." Die ständige Bewegung (vgl. Fichtes "ins Unendliche erweiterten" Zirkel) des konstruierenden Denkens gegen den in der Konstruktion immer wieder erfahrenen Eigensinn des Objekts, der für das Konstruieren selbst nicht gleichgültig ist, charakterisiert den an Kant gewonnenen Begriff der Erfahrung, welchen die Nachfolger Kants trotzaller Hybris des sich als Subjekt demaskierenden Subjekt-Objekts59 festhielten, ohne ihn jedoch empiristisch zu hypostasieren. Auf die bewußte Reflexion der sich ändernden, aber nicht ohne weiteres aufzulösenden Spannung von Subjekt und Objekt, kann sich die Interpretation berufen, die Hegel als den "zu sich selbst gekommenen Kant" bezeichnet: "Gerade die äußerste idealistische Spitze seines Denkens, die Konstruktion des Subjekt-Objekts, ist keineswegs als Übermut des losgelassenen Begriffs abzutun:. Bereits bei Kant bildet die geheime Kraftquelle die Idee, daß die in Subjekt und Objekt entzweite Welt, in der wir gleichsam als Gefangene unserer eigenen Konstitution nur mit Phänomena zu tun haben, nicht das Letzte sei. Dem fügt Hegel ein Unkantisches hinzu: Daß wir, indem wir den Block, die Grenze be,grifflich fassen, die der Subjektivität gesetzt ist; indem wir diese als ,bloße' Subjektivität durchschauen, bereits über die Grenze hinaus sind ... Hegel hat den Kantischen Kritizismus zu seinem Recht gebracht, indem er den Kantischen Dualismus von Form und Inhalt selber kritisierte, die starren Differenzbestimmungen von Kanf und, Hegels InterJohann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre Die Zahlen in Klammern geben die Seitenzahlen der Ausgabe des Gesamtwerkes von 1834 (-1846) an. . . Vgl. auch J. G. Fichte: Erste und Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre und Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Hrsg. F. Medicus, Phil. Bibl. Meiner, 1961, s. z. B. S. 66 ff. Besonders deutlich wird die Relevanz der Fichte'schen Kritik an einem Versuch, der beansprucht, "die volle, das heißt ganz und gar geglückte, Einheitlichkeit der Kritik d. R. V. zu beweisen, unter Ablehnung selbst jeder vermittelnden Ansicht". (Felix Grayeff: Deutung und Darstellung der Theoretischen Philosophie Kants - Ein Kommentar zu den grundlegenden Teilen der Kritik der reinen Vernunft", Harnburg 1951). Da heißt es: "Obwohl eine absolute Realität die letzte Quelle und Grundlage aller Erscheinungen und allen Denkens ist, so besteht doch keine uns erkennbare Verknüpfung zwischen dem unbekannten Absoluten einerseits und unserer Welt der verschiedenartigen, doch zur Einheit verknüpfbaren Erscheinungen, bzw. unserem unterscheidenden und einigenden Denken, andererseits." (Grayeff, a.a.O., S. 208.) Es besteht keine Verknüpfung, dennoch ist das Absolute die Quelle aller Erscheinungen? 50 Vgl. Theodor W. . Adorno: Aspekte der Hegeischen Philosophie, Berlin und Frankfurt/M. 1957: "Das Hegeische Subjekt-Objekt ist Subjekt." 58

(1794), Phil. Bibl. Meiner, 1961, S. 198 (I, 281) -

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4,0

pretation zufolge, auch noch von Fichte in die Dynamik hineinzog, ohne doch die Unauflöslichkeit der Momente einer unmittelbaren planen Identität zu opfern80." Ohne Zweifel hat auch Regel in der Lehre von den drei "Stellungen des Gedankens zur Objektivität" aus der "Enzyklopädie" und in der "Phänomenologie des Geistes" die bewußte Reflexion im Angesicht der Doppelung des modernen Dingbegriffs thematisch gemacht. Die "Phänomenologie" beschreibt den Fichteschen Zirkel als Dialektik von Wissen und Wahrheit: "Dieses (i. e. das Bewußtsein- J. R.) unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: Es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens oder des Seins von etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen. Von diesem Sein für ein anderes unterscheiden wir aber das Ansichsein; das auf das Wissen Bezogene wird ebenso von ihm unterschieden und gesetzt als seiend auch außer dieser Beziehung; die Seite dieses Ansich heißt Wahrheite1." Hegels Phänomenologie öffnet darüberhinaus das Denken für die Frage nach seiner Stellung in der Geschichte, die mit Marx als Prozeß der menschlichen Selbstproduktion durch die Arbeit begriffen werden muß. Einige moderne Theorien halten sich tatsächlich methodisch die wechselfältige Negation und Produktion der subjektiven und objektiven Momente" (Adorno) so bewußt, wie es die skizzierte Konstitutionsproblematik verlangt62 • Andere geraten in die erkenntnistheoretische "Konfusion" (Milmed), weil sie sie vergessen. Nur zögernd - wenn überhaupt - findet z. B. das Denken aus diesen Problemen heraus, das - auf das transzendentale Problemniveau und die Fortschritte der Wissenschaftstheorie gleichermaßen bezogen- die eo a.a.O., S. 12 bzw. S. 15.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Phil. Bibi. Meiner, Harnburg 1952, S. 70. ez Vgl. Adornos Bestimmungen von Dialektik, die ihre Herkunft aus der transzendentalphilosophischen Tradition offenlegen: "Die statische Zerlegung der Erkenntnis in Subjekt und Objekt, die der heute akzeptierten Wissenschaftslogik selbstverständlich dünkt; jene Residualkategorie der Wahrheit, derzufolge objektiv ist, was nach Durchstreichung der sogenannten subjektiven Faktoren übrig bleibt, wird von der Hegeischen Kritik ins leere Zentrum getroffen; darum so tödlich, weil er ihr keine irrationale Einheit von Subjekt und Objekt entgegengesetzt, sondern die je voneinander sich unterscheidenden Momente des Subjektiven und Objektiven festhält und doch wiederum als durcheinander vermittelte begreift." (Aspekte, a.a.O., S. 14.) Demzufolge ist Dialektik "das unbeirrte Bemühen, kritisches Bewußtsein der Vernunft von sich selbst mit der kritischen Erfahrung der Gegenstände zusammenzuzwingen." (Aspekte, a.a.O., S. 16). Vgl. auch Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie - Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Stuttgart 1956, passim. · 61

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Annahme einer der in sich ruhenden Objektivität im Reflexionsprozeß als einheitliche gegenüberstehenden Subjektivität (identische Apperception) problematisiert, ohne die Verbindlichkeit der Erkenntnis aufzugeben. (Vgl. G. Günther, P. K. Schneider.) So vielläßt sich doch schon dieser Skizze entnehmen, daß heute hinter den Fichteschen Zirkel wohl kaum zurückgegangen werden darf63 • Dahrendorf scheint an einigen Stellen den Ausgangspunkt von Überlegungen zum erkenntnistheoretischen Status der rollenanalytischen Begriffe durchaus im Sinne des skizzierten Vermittlungsverhältnisses von subjektiven und objektiven Momenten bestimmen zu wollen: "In einem wichtigen Sinn sind das Atom oder die soziale Rolle, obschon erfunden, nicht bloß erfunden. Sie sind Kategorien, die sich mit einer schwer explizierbaren Notwendigkeit - wenngleich natürlich häufig unter verschiedenen Namen - zu vielen Zeiten und an vielen Orten all denen aufdrängen, die den Gegenstand der Natur oder des Menschen in Gesellschaft in den Griff zu bekommen versuchen. Einmal erfunden, sind sie überdies nicht nur sinnvolle, d. h. operationell brauchbare, sondern auch plausible, in einem gewissen Sinn evidente Kategorien84 ." Das kann nach unserer Auffassung nur heißen, daß es mit ihnen als auch nach den selbständigen Gesetzen des verselbständigten und doch von der Objektivität nicht abzulösenden Geistes gebildeten Prinzipien (Dahrendorf: "erfundenen") gelungen sei, den Gegenstand zu konstituieren, zu "konstruieren", der umgekehrt sich in den konstituierenden Formen durchgesetzt hat ("aufgedrängt"). Mit anderen Worten: Die rollenanalytische Apparatur ist für Dahrendorf hier Ergebnis einer genuinen Vermittlung von Begriff und Gegenstand. Überdies scheint er auch bereit zu sein, ein für die tatsächliche Entfaltung der erkenntnistheoretischen Fundierungsproblematik in den Sozialwissenschaften ebenso wichtiges weiteres Moment zu berücksichtigen: "Wenn es eine Erklärung für die späte Geburt einer Wissenschaft von der Gesellschaft gibt, so liegt es nahe, diese in der Allgegenwart ihres Gegenstandes zu suchen, der selbst seine Beschreibung und Analyse noch in sich einbezieht85." Das erkennende Subjekt, das sich im Akt der Erkenntnis von der Gesellschaft "distanziert", um sie zu seinem Gegenstand zu machen, bleibt in der Tat beim Erkennen in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden, den es begreifen will. Noch die reine Kontemplation, die ea Habermas begreift die von ihm sog. .,positivistische Restproblematik" bei Popper offensichtlich als der mangelnden Rücksicht auf die skizzierte Konstitutionsproblematik entstammend. Vgl. : Gegen einen positivistisch . .. , a.a.O., S . 639. 84

85

Dahrendorf, HS, a.a.O., S. 17. a.a.O., S. 14.

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Ideologie des Enthobenseins, die sich dem konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Verlauf rein betrachtend gegenübergestellt wähnt, decouvriert ihre Erhabenheit als die eines vor sich selbst verstellten Bewußtseins, das die gesellschaftliche Abhängigkeit und gleichzeitige praktische Wirksamkeit wissenschaftlicher Esoterik aus seinem Wesen ausgeschlossen wähnt. Vermittlung meint also nicht das bloß äußerliche Aufeinanderbeziehen der Getrennten, sondern auch die Reflexion der Einheit, in der sie stehen. Soziologie begreift diese Einheit als den Gesamtzusammenhang der historisch sich verändernden Gesellschaft. Im Hinblick auf die Stellung zu Aspekten des transzendentalphilosophischen Problemniveaus scheint man jedenfalls vermuten zu dürfen, daß Dahrendorf bei einer möglichen Entfaltung der erkenntnistheoretischen Diskussion Grundstrukturen des Konstitutionsverhältnisses ·nicht übersehen würde. Um so merkwürdiger muß es anmuten, daß da, wo die Argumentation im Verlauf der Anthropologiediskussion wirklich ein Stück weitergetrieben wird, eigentümliche Fluchtlinien auftreten: Im Zentrum der Dahrendorfschen Anthropologiedebatte steht der Versuch, nachzuweisen, daß "Homo Sociologicus" weder mit philosophischer Anthropologie zu konfundieren sei, - daß ihm also keine Aussagen über das "Wesen des Menschen" entnommen werden könnten- noch die Fülle der Merkmale konkreter Menschen "realistisch" wiedergäbe. Vor allem zwischen Rollenanalyse und dem "wirklichen Menschen unserer Erfahrung", dem "ganzen Menschen", "integren, ganzen Einzelnen" usf. tut sich für Dahrendorf eine so tiefe Kluft auf, daß er glaubt, eine Paradoxie zu erkennen, die ernste moralische Probleme aufwirft. Dahrendorf reißt ob der Besorgnis, man könne der Soziologie unterstellen, sie liefere ein "Menschenbild" 66, die Pole noch weiter ausein.,. ander, wenn er betont, "Homo Sociologicus" sei eine "empirisch beinahe willkürliche Konstruktion" 87, eine "Fiktion". In diesem Zusammenhang gelten ihm die Kategorien, Thesen und Konstruktionen der Rollenanalyse gar als "unrealistisch" und "empirisch falsch": "Es ist klar, daß die Annahme, alle Menschen verhielten sich stets rollengemäß, empirisch falsch ist: Es gibt kaum einen Menschen, der nicht mehr oder minder häufig gegen die Erwartungen verstößt, die sich seine sozialen Posi-

an

•• Im Begriff des "Menschenbildes" gehen bei Dahrendorf Assoziationen an eine Art Humanontologie und den konkret erfahrenen MensChen in seiner Verhaltenstotalität ineinander über. In beiden Erscheinungsweisen soll die Soziologie auch nicht die Spur eines "Menschenbildes" enthalten: Homo Sociologicus "impliziert ... in keinem Sinne auch nur die Andeutung eines Menschenbildes". (a.a.O., S. 80.) 17 a.a.O., S. 80.

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tionen knüpfen. Man könnte also schließen, daß alle soziologischen Theorien, insoweit sie mit dieser Annahme operieren, auf falschen Voraussetzungen beruhenes." Dahrendorf weiß natürlich sehr genau, welches Schicksal eine Theorie erleidet, deren Voraussetzungen empirisch falsch sind. Ihm kommt es in diesen Sätzen vermutlich wieder darauf an, die Soziologie von allen "Menschenbildern" befreit zu sehen. Gleichzeitig offenbart sich jedoch mit der These, "Homo Sociologicus" seieine "Fiktion", "bloße Konstruktion des Verstandes", "willkürliche Konstruktion" usf. ein tiefer Graben zwischen Begriffsstruktur und Gegenstand, in dem dann gar ein moralisch bedrängendes "Mißverhältnis" erblickt wird89• An solchen Stellen scheint sich das Wissen vom Gegenstand bei Dahrendorf zu einer Esoterik des Begriffs zu verdünnen, dem das NichtIdentische allenfalls als gleichgültiges Substrat kategorialer Verfügung erscheint. Die betonten und zahlreichen Hinweise auf Homo Sociologicus qua Fiktion und Sätze wie der, wissenschaftliche Aussagen wollten oft nicht wörtlich genommen werden70 , bringen die DarstellUilg in ihrem Bemühen, Anthropologie aus der Rollenanalyse zu verbannen, in die äußerste Nähe einer Konzeption, die die kategoriale Veranstaltung gegen die Sache hypostasiert und sich den Blick davor verstellt, daß das Objekt im Begriff aufgehoben wird. Die Rollenanalyse liefert sehr wohl ein greifbares, kategorial vermitteltes "Bild" vom Gegenstand, hat - wie der gesamte Dahrendorfsche Sprachgebrauch belegt- vermutlich71 "wesentliche" (nicht belanglose) Merkmale der über die Rollenanalyse begriffenen Gesellschaft in sich aufgenommen - es sei denn, man wolle behaupten, das in der Konstellation der rollenanalytischen Begriffe Ausgesprochene und in sie Aufgenommene sei tatsächlich die reine Fiktion, reine Willkür des Verstandes, wobei immer noch gilt, daß selbst im Mythos, dem Wahnsystem und den allerformalsten Kalkülen stets noch die Vermittlungen mit der Realität aufgespürt werden können72 • 18 a.a.O., S. 78/'J9. Dahrendorf beziehtsich an diesen Stellen auf Popper und spricht von den "einschränkungslosen Prognosen". Es fragt sich sehr, ob seine Thesen, von der "ganz anderen" Realität so ohne weiteres mit dem Poppersehen Falsifizierungsschema vereinbar· sind! 10 Vgl. dazu, a.a.O., z. B. S. 17, 62 ff., 80. 70 a.a.O., S. 83. 11 Selbstverständlich könnte sich der gesamte Apparat der Rollentheorie in einer weiterreichenden Konfrontation mit seinem Gegenstand weiter verändern. So wie ja Dahrendorf den Begriff der Erwartung über Neal Gross' Problematik präziser gefaßt hat. 71 s. dazu Theodor W. Adorno: "Zur Metakritik der Erkenntnistheorie", a.a.O.

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Die Fluchtlinie, die an diesen Stellen die Gefahr eines Heraustretens aus dem skizzierten Konstitutionsverhältnis erkennen läßt und Denken in die Verstellung zu treiben scheint, gewinnt an Dahrendorfs Begriff der Reifikation, der Verdinglichung, weiter Gestalt: Für Dahrendorf scheint es selbstverständlich, daß "Reifikation" im Zusammenhang mit der Rollenanalyse bedeutet, daß die "bewußt unrealistische Annahme für Zwecke guter Theorien als philosophisch-anthropologische Aussage umgedeutet oder mißverstanden wird" 73 • Der Stachel seines Arguments richtet sich also wiederum gegen die Versuche, Homo Sociologicus mit dem menschlichen "Wesen", zumindest aber mit dem "ganzen Menschen der Wirklichkeit" gleichzusetzen. Die Polemik wider Tenbruck, der allerdings unter Reiftkation jenen Sprachgebrauch versteht, welcher Begriffe unmittelbar mit einer Sache in eins setzt, ist von der gleichen Intention bestimmt: "Die Tatsache, daß die Kategorie der Rolle sich in Soziologie und Sozialpsychologie zur Erklärung menschlichen Verhaltens als nützlich erweist, besagt schlechterdings nichts über die Realexistenz von rollenhaften oder rollenlosen Menschen; sie ist daher auch prinzipiell völlig irrelevant für die Ausgangspunkte und Schlüsse einer philosophischen Anthropologie74." Daß die Kategorie der sozialen Rolle sich in verschiedenen Situationen als "nützlich" (für Erklärung und Prognose) erwiesen hat, soll schlechterdings nichts über die Realexistenz von rollenhaftem und rollenlosem Menschen sagen, ist doch - nach Dahrendorf - das Modell des Homo Sociologicus eine "reine Konstruktion des Verstandes". Hier zeichnet sich erneut die Gefahr ab, in der Wendung gegen ein Denken, das mit den soziologischen Befunden das "eigentliche Wesen" des Menschen zu erfahren glaubt, noch den Gedanken daran abzuwehren, daß die zu begreifende Sache selbst durch die kategoriale Konstruktion hindurch zu Wort kommt. Das Moment, das für das konkrete Verhalten der Menschen einer Gesellschaft Wesentliches in der rollentheoretischen Apparatur zu erscheinen vermag, wird zugunsten des verbreiteten pragmatistischen Arguments von der Oberinstanz der Brauchbarkeit tendenziell aus dem Auge verloren. Man kann aber bei der Polarisierung von Verhaltenstotalität und "willkürlicher Verstandeskonstruktion" nur allzu leicht übersehen, daß dann, wenn die Kategorie der Rolle sich innerhalb gewisser Grenzen "bewährt" hat, wenn es also möglich ist, eine Gesellschaft als ein System von Rollenerwartungen an Positionsinhaber zu beschreiben, ohne Zweifel zugleich etwas über die Menschen dieser Gesellschaft ausgesagt ist 73 74

Dahrendorf, HS, a.a.O., S. 81. a.a.O., S. 88/89.

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und nicht bloß über die pragmatische Bedeutung der Kategorie der Rolle. Vergessen wird, daß noch der extremistischste Nominalismus an seinen vorgeblich willkürlichen Konstruktionen jederzeit den Widerschein der Nicht-Identität erfährt, den er nie ganz tilgen kann75• Die formale Brauchbarkeit der rollentheoretischen Apparatur erspart und ersetzt nicht die Reflexion darauf, was es ist, das an der Realität der Menschen einer historischen Gesellschaft diesem Gebrauch entgegenkommt und wie somit - gewiß über das Medium der begrifflichen Arbeit vermittelt- sich diese Realität etwa in der vorgeblichen "Fiktion" des Homo Sociologicus niedergeschlagen hat. Der Begriff der Verdinglichung und der mit ihm verbundene Entfremdungsbegriff bei Dahrendorf zeigt zugleich auch, daß hier in der Tat mehr zur Diskussion steht als nur ein Sprachgebrauch, der über das Fiktionsargument Subjekt und Objekt zu einem "Mißverhältnis" auseinandergerissen erscheinen und die Vermittlungen in den Hintergrund treten läßt. "Entfremdung" verweist bei Dahrendorf ein weiteres Mal auf das "Mißverhältnis" von kategorialer Konstruktion und Verhaltenstotalität: " . .. Das Verhältnis des Einzelnen zu seinen sozialen Rollen birgt ja in sich die Geburt des h o m o s o c i o 1 o g i c u s aus dem ganzen Menschen, die Entfremdung des Menschen zum Schauspieler auf der Bühne der Gesellschaft76." Während die Kritik der Entfremdung in der soziologischen Tradition ein historisch-konkretes Verhältnis von Menschen untereinander und zu ihren Arbeitsprodukten betraf, wird Entfremdung bei Dahrendorf sehr oft zu einer Frage der Disproportionalität begrifflicher Rekonstruktionen gegenüber der Verhaltens- und Merkmalsgesamtheit der empirischen Subjekte, von "künstlichem" zu "wirklichem" Menschen. Folgerichtig wird das in der "rollenanalytischen Antinomie" aufgehobene "moralische" Problem auch an diesem Konzept einer kategorialen Denaturierung angesiedelt: "Indem soziologische Analyse so den Menschen als homo sociologicus rekonstruiert, schafft sie aber für sich aufs neue das moralische und philosophische Problem, wie denn der künstliche 75 Vgl. Th. W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, a.a.O., bes. Kap. 1: Kritik des logischen Absolutismus, S. 50 ff. Im Zusammenhang mit Problemen der prima philosophia wird dies wie folgt formuliert: "Die Bestimmung des absolut Ersten in subjektiver Immanenz scheitert, weil diese das nicht-identische Moment niemals ganz in sich aufzulösen vermag, und weil zugleich Subjektivität, das Organ von Reflexion, der Idee eines absolut Ersten als purer Unmittelbarkeit widerstreitet." Adorno, a.a.O., S. 31. 78 Dahrendorf, HS, a.a.O., S. 41.

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Mensch der Soziologie sich zu dem wirklichen Menschen unserer Alltagserfahrung verhält77 ." Der kritische Gehalt der Kategorie der Entfremdung findet zwar mit der Rede vom "moralischen Problem" einen blassen Widerschein, aber auf dem Boden des Fiktions- und Reiftkationsargumentes kann Dahrendorf Entfremdung nicht länger als reale begreifen und der Soziolgie zutrauen, sie vermöchte noch über das Konzept des Homo Sociologicus reale Entfremdung zu erfahren. Die von Dahrendorf behauptete Kluft zwischen Subjekt und Objekt muß zwangsläufig in die These ausmünden, Homo Sociologicus, der von sanktionsgestützten Erwartungen "umstellte" Einzelne (Tenbruck), das in gesellschaftlichen Bezügen, über die es nichts vermag, aufgehende Subjekt, sei nichts, was für die Realität von Menschen Wesentliches ausdrücke, sondern sei eine "empirisch beinahe willkürliche Konstruktion". Die These, Homo Sociologicus vermöchte einem in seinen Umrissen in der Wirklichkeit zu begegnen, muß tendenziell noch unter das Verdikt der Reiftkation fallen. Diese Denkweise, die der kritisch-nominalistischen Epistemologie entstammen solF8 , sieht sich aber nicht nur mit ihrem eigenen sprachlichen Ausdruck konfrontiert, der an zahllosen Stellen die rollentheoretischen Postulate und Begriffe sehr unmittelbar auf Gegenständliches, auf Gesellschaft als konkretes System projiziert, um sie gleichzeitig als die reine Fiktion zu behaupten, sondern sie geht vor allem hinter das Vermittlungsverhältnis von Subjekt und Objekt zurück wie es im Anschluß an die transzendental-philosophische Entwicklung diskutiert werden muß. Daß die "wechselfältige Negation und Produktion der subjektiven un