Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung [1. Aufl. 2019] 978-3-658-06507-2, 978-3-658-06508-9

Das Handbuch liefert einen umfassenden Einblick in zentrale Theorien, Forschungsfelder, Methoden und aktuelle Herausford

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German Pages XIII, 749 [740] Year 2019

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Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-06507-2, 978-3-658-06508-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Visuelle Kommunikationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsfeld (Katharina Lobinger, Rebecca Venema)....Pages 1-19
Front Matter ....Pages 21-21
Bilder zwischen Zeichen, Handlungen und Praktiken (Daniel Pfurtscheller)....Pages 23-43
Digitalisierung, Mediatisierung und die vielen offenen Fragen nach dem Wandel visueller Alltagskultur (Wolfgang Reißmann)....Pages 45-61
Bilder von Emotionen – Emotionen durch Bilder Eine interdisziplinäre Perspektive (Katrin Döveling)....Pages 63-82
Retro, Vintage, Nostalgie (Manuel Menke, Katharina Niemeyer)....Pages 83-100
Visuelle Authentizitäten und die Rolle kontextspezifischer Authentizitätsmarker in der visuellen Kommunikation (Benjamin Krämer, Katharina Lobinger)....Pages 101-121
Front Matter ....Pages 123-123
Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära (Elke Grittmann)....Pages 125-143
Terror der Bilder – Visuelle Kommunikation in Krieg und Terrorismus (Marion G. Müller, Thomas Knieper)....Pages 145-179
Das Bild in der politischen Kommunikation (Christian von Sikorski, Cornelia Brantner)....Pages 181-204
Werbebilder in der Kommunikationsforschung (Mira Mayrhofer, Alice Binder, Jörg Matthes)....Pages 205-226
Visuelle Unternehmenskommunikation (Alexander Berzler)....Pages 227-248
Bilder in medial vermittelter Alltagskommunikation (Ulla Patricia Autenrieth)....Pages 249-268
Photo Sharing (Katharina Lobinger, Maria Schreiber)....Pages 269-290
Visuelle Wissenschaftskommunikation (Julia Metag)....Pages 291-312
Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten (Stephanie Geise)....Pages 313-333
Multidisziplinäre Forschungsperspektiven auf Infografiken und Datenvisualisierungen (Wibke Weber)....Pages 335-359
Visual Storytelling in der Kommunikationsforschung (Cigdem Bozdag, Sigrid Kannengießer)....Pages 361-376
Comics und Karikaturen in der Kommunikationsforschung (Clemens Schwender, Doreen Grahl, Thomas Knieper)....Pages 377-402
Theoretische Perspektiven auf mediale Geschlechterbilder (Tanja Maier, Martina Thiele)....Pages 403-419
Körperbilder in der Kommunikationsforschung (Dagmar Hoffmann)....Pages 421-439
Visuelle Stereotype in der Kommunikationsforschung (Clemens Schwender, Thomas Petersen)....Pages 441-463
Von Geovisualisierung bis zur verorteten Bildlichkeit (Cornelia Brantner)....Pages 465-488
Front Matter ....Pages 489-489
Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung (Patrick Rössler, Konrad Dussel)....Pages 491-513
Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen für die Analyse visueller Kommunikation (Thomas Knieper, Marion G. Müller)....Pages 515-526
Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung (Elke Grittmann)....Pages 527-546
Qualitative Methoden der Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung (Wolfgang Reißmann, Dagmar Hoffmann)....Pages 547-569
Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung (Stephanie Geise)....Pages 571-596
Visuelle Methoden (Katharina Lobinger, Jeanne Mengis)....Pages 597-620
Ansätze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung (Markus Gamper, Michael Schönhuth)....Pages 621-647
Front Matter ....Pages 649-649
Multimodalität als Herausforderung für die Visuelle Kommunikationsforschung (H.-J. Bucher)....Pages 651-677
Rechtliche Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Bildverwendung (Louisa Specht-Riemenschneider, Anna-Maria Volpers, Vera Eickhoff)....Pages 679-702
Ethische Aspekte der Visuellen Kommunikationsforschung (Alexander Godulla)....Pages 703-721
Theoretische, thematische, forschungsethische und methodologische Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung (Katharina Lobinger, Wolfgang Reißmann, Daniel Pfurtscheller, Cornelia Brantner, Rebecca Venema, Elena Marchiori)....Pages 723-749

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Katharina Lobinger  Hrsg.

Handbuch Visuelle Kommunikations­ forschung

Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung

Katharina Lobinger Hrsg.

Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung Mit 89 Abbildungen und 7 Tabellen

Hrsg. Katharina Lobinger Faculty of Communication Sciences Institute of Digital Technologies for Communication (ITDxC) USI Università della Svizzera italiana Lugano, Schweiz

ISBN 978-3-658-06507-2 ISBN 978-3-658-06508-9 (eBook) ISBN 978-3-658-06524-9 (Bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Das vorliegende Handbuch versammelt vielfältige theoretische, empirische sowie kritische Ansätze und Perspektiven der Visuellen Kommunikationsforschung aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive. Dieser Überblick ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung visueller Kommunikation in Medienkontexten, der allgegenwärtigen Verfügbarkeit und Nutzung visueller Technologien und der damit einhergehenden Visualisierung unserer alltäglichen Lebenswelten dringend erforderlich. Das Handbuch bündelt einerseits die vielfältigen Aktivitäten der Fachgruppe Visuelle Kommunikation in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK), die sich bereits seit ihrer Gründung im Jahr 2000 theoretisch wie empirisch mit Medienbildern und visueller Kommunikation beschäftigt. Andererseits soll damit an visueller Forschung interessierten Forscherinnen und Forschern ein einfacherer Einstieg in das Verständnis der Eigenheiten visueller Kommunikation und deren Analyse ermöglicht werden. Die Fachgruppe Visuelle Kommunikation steht kurz vor ihrem 20-jährigen Jubiläum – ein guter Zeitpunkt für das Erscheinen eines Handbuchs. Den vielen „visuellen“ Forscherinnen und Forschern, die an diesem Handbuch mitgearbeitet haben, gilt der besondere Dank der Herausgeberin für ihre Beiträge und für den freundschaftlichen fachlichen Austausch. Lugano im April 2019

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Inhaltsverzeichnis

Visuelle Kommunikationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Lobinger und Rebecca Venema Teil I Visuelle Kommunikationsforschung: Theoretische Grundlagen und Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bilder zwischen Zeichen, Handlungen und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . Daniel Pfurtscheller

1

21 23

Digitalisierung, Mediatisierung und die vielen offenen Fragen nach dem Wandel visueller Alltagskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Reißmann

45

Bilder von Emotionen – Emotionen durch Bilder Eine interdisziplinäre Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Döveling

63

Retro, Vintage, Nostalgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Menke und Katharina Niemeyer

83

Visuelle Authentizitäten und die Rolle kontextspezifischer Authentizitätsmarker in der visuellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . Benjamin Krämer und Katharina Lobinger

101

Teil II

Themenfelder der Visuellen Kommunikationsforschung . . .

123

Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Grittmann

125

Terror der Bilder – Visuelle Kommunikation in Krieg und Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion G. Müller und Thomas Knieper

145

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

.....................

181

Werbebilder in der Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mira Mayrhofer, Alice Binder und Jörg Matthes

205

Visuelle Unternehmenskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Berzler

227

..............

249

Photo Sharing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Lobinger und Maria Schreiber

269

Visuelle Wissenschaftskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Metag

291

Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten . . . . Stephanie Geise

313

Das Bild in der politischen Kommunikation Christian von Sikorski und Cornelia Brantner

Bilder in medial vermittelter Alltagskommunikation Ulla Patricia Autenrieth

Multidisziplinäre Forschungsperspektiven auf Infografiken und Datenvisualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wibke Weber

335

Visual Storytelling in der Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . Cigdem Bozdag und Sigrid Kannengießer

361

........

377

Theoretische Perspektiven auf mediale Geschlechterbilder . . . . . . . . . . Tanja Maier und Martina Thiele

403

Körperbilder in der Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Hoffmann

421

.............

441

Von Geovisualisierung bis zur verorteten Bildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Brantner

465

Teil III

489

Comics und Karikaturen in der Kommunikationsforschung Clemens Schwender, Doreen Grahl und Thomas Knieper

Visuelle Stereotype in der Kommunikationsforschung Clemens Schwender und Thomas Petersen

Methoden der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . .

Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . Patrick Rössler und Konrad Dussel Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen für die Analyse visueller Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Knieper und Marion G. Müller

491

515

Inhaltsverzeichnis

IX

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Grittmann

527

Qualitative Methoden der Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann

547

.........

571

Visuelle Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Lobinger und Jeanne Mengis

597

..........

621

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung Stephanie Geise

Ansätze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung Markus Gamper und Michael Schönhuth

Teil IV Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

649

Multimodalität als Herausforderung für die Visuelle Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Bucher

651

Rechtliche Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Bildverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Louisa Specht-Riemenschneider, Vera Eickhoff und Anna-Maria Volpers

679

Ethische Aspekte der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . . . . . . Alexander Godulla Theoretische, thematische, forschungsethische und methodologische Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Lobinger, Wolfgang Reißmann, Daniel Pfurtscheller, Cornelia Brantner, Rebecca Venema und Elena Marchiori

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AutorInnenverzeichnis

Ulla Patricia Autenrieth Seminar für Medienwissenschaft, Universität Basel, Basel, Schweiz Alexander Berzler Agentur Berzler, Lochau bei Bregenz, Österreich Alice Binder Advertising and Media Effects Research Group, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich Cigdem Bozdag New Media, Kadir Has University, Istanbul, Türkei Cornelia Brantner IWAF – Institut für Wissenskommunikation und angewandte Forschung, Wien, Österreich H.-J. Bucher Universität Trier, Trier, Deutschland Katrin Döveling Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, h_da, Hochschule Darmstadt, University of Applied Sciences, Darmstadt, Deutschland Konrad Dussel Seminar für Neuere Geschichte, Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland Vera Eickhoff Köln, Deutschland Markus Gamper Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften, Universität Köln, Köln, Deutschland Stephanie Geise Institut für Kommunikationswissenschaft, Universität Münster, Münster, Deutschland Alexander Godulla Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Doreen Grahl Universitätsbibliothek, Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Elke Grittmann Institut für Journalismus, Hochschule Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Deutschland

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AutorInnenverzeichnis

Dagmar Hoffmann Medienwissenschaftliches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland Sigrid Kannengießer ZeMKI, Universität Bremen, Bremen, Deutschland Thomas Knieper Lehrstuhl für Computervermittelte Kommunikation, Universität Passau, Passau, Deutschland Benjamin Krämer Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland Katharina Lobinger Faculty of Communication Sciences, Institute of Digital Technologies for Communication (ITDxC), USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz Tanja Maier Freie Universität Berlin, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Berlin, Deutschland Elena Marchiori Faculty of Communication Sciences, USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz Jörg Matthes Advertising and Media Effects Research Group, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich Mira Mayrhofer Advertising and Media Effects Research Group, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich Jeanne Mengis Faculty of Communication Sciences, Institute of Marketing and Communication Management, USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz Manuel Menke Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland Julia Metag Universität Freiburg, Fribourg, Schweiz Marion G. Müller Medienwissenschaft, Universität Trier, Trier, Deutschland Katharina Niemeyer Faculté de communication – École des médias, Université du Québec à Montréal, Montréal, Kanada Thomas Petersen Institut für Demoskopie Allensbach, Allensbach, Deutschland Daniel Pfurtscheller Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich Wolfgang Reißmann DFG-Sonderforschungsbereich 1187 „Medien der Kooperation“, Projekt B07, Universität Siegen, Siegen, Deutschland Patrick Rössler Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland Michael Schönhuth Universität Trier, Trier, Deutschland Maria Schreiber Institut für Soziologie, Universität Wien, Wien, Österreich

AutorInnenverzeichnis

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Clemens Schwender SRH Hochschule der populären Künste (hdpk), Berlin, Deutschland Christian von Sikorski Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik, Department für Psychologie, Universität Koblenz-Landau, Landau, Deutschland Louisa Specht-Riemenschneider Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Informationsund Datenrecht, Universität Bonn, Bonn, Deutschland Martina Thiele Fachbereich Kommunikationswissenschaft, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich Rebecca Venema Faculty of Communication Sciences, USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz Anna-Maria Volpers Institut für Kommunikationswissenschaft, Westfälische-Wilhelms Universität Münster, Münster, Deutschland Wibke Weber IAM Institute of Applied Media Studies, ZHAW Zurich University of Applied Sciences, Winterthur, Schweiz

Visuelle Kommunikationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsfeld Einleitung in das Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung Katharina Lobinger und Rebecca Venema

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 Aufbau des Handbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Zusammenfassung

In gegenwärtigen, stark visualisierten Gesellschaften spielen Bilder nicht nur in der massenmedialen, sondern auch in der interpersonalen Kommunikation (ob nun medial vermittelt oder nicht) eine besondere Rolle. Gerade der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Erforschung von medial vermittelter visueller Kommunikation und ihrer Produktion, Aneignung, Rezeption und Wirkungen kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Dieser einleitende Beitrag skizziert die Forschungstradition und Geschichte der Visuellen Kommunikationsforschung und gibt einen Überblick über die einzelnen Kapitel des Handbuchs Visuelle Kommunikationsforschung. Schlüsselwörter

Visuelle Kommunikationsforschung · Medienbild · Visualität · Visualisierung · Sichtbarkeit · Visual Studies

K. Lobinger (*) Faculty of Communication Sciences, Institute of Digital Technologies for Communication (ITDxC), USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz E-Mail: [email protected] R. Venema Faculty of Communication Sciences, USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_1

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K. Lobinger und R. Venema

Einleitung

In mediatisierten und stark visualisierten gegenwärtigen Gesellschaften (u. a. Krotz 2015) spielen Bilder nicht nur in der massenmedialen sondern auch in der interpersonalen Kommunikation (ob nun medial vermittelt oder nicht) eine besondere Rolle. Dies ist keine rezente Entwicklung. Im Gegenteil, die Forschung betont seit geraumer Zeit die zunehmende Visualisierung verschiedenster Kommunikationskontexte, mit der zum einen eine zunehmende Quantität von Bildern einhergeht – man denke hier an oftmals leitfertig gebrauchte Metaphern wie jener der Bilderflut. Gleichzeitig sind auch die Qualitäten von Bildern, also etwa deren Bedeutungen und Eigenschaften selbst einem Wandel unterworfen und gehen mit unterschiedlichen Anforderungen und Herausforderungen an Bildkompetenzen einher. So sind etwa Augmented Reality-Bilderwelten mit anderen Rezeptions- und Wirkungsweisen verbunden als gedruckte Pressefotografien. Und auch die Kompetenzen zur „Entschlüsselung“ der jeweiligen Bildarten sind sicherlich sehr unterschiedlich. Um diese Veränderungen im Bereich der Visualität adäquat zu adressieren, forderte die Bildforschung bereits in den 1990er-Jahren einen pictorial turn (Mitchell 1992) beziehungsweise einen iconic turn (Boehm 1994), das heißt eine verstärkte Betrachtung des Visuellen und seiner Rolle für Wissens- und Sinnkonstruktionen (Boehm 2005). Gerade der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Erforschung von medial vermittelter visueller Kommunikation und ihrer Produktion, Aneignung, Rezeption und Wirkungen kommt in mediatisierten Gesellschaften eine besondere Bedeutung zu. Eine solche Visuelle Kommunikationsforschung, kann als spezifische „disziplinäre Bildforschung“ verstanden werden (siehe dazu ausführlich Lobinger 2012). Demgegenüber stehen breiter gefasste Ansätze einer allgemeinen Bildwissenschaft; so zum Beispiel die auf den Cultural Studies und Kritischer Theorie basierenden Visual Studies (siehe beispielhaft Mitchell 2008, für einen Überblick auch Rose 2016, S. 17–23) und die Interdisziplinäre Bildwissenschaft, wie sie in Deutschland beispielsweise prominent von Klaus Sachs-Hombach vertreten wird.1 Die Visuelle Kommunikationsforschung zeichnet sich u. a. durch ihren Fokus auf „Medienbilder“ bzw. medial vermittelte Bilder sowie auf visuelle Aspekte kommunikativer Prozesse aus (Lobinger 2012, S. 68–70). Diese „Engführung“ bedeutet jedoch keinesfalls Uniformität. Vielmehr ist auch die Visuelle Kommunikationsforschung stark interdisziplinär ausgerichtet. Im Konferenzband zur Gründungstagung der Fachgruppe Visuelle Kommunikation charakterisierten Müller und Knieper (2001, S. 8) Visuelle Kommunikationsforschung als „ein sich dynamisch entwickelndes Forschungsfeld, das vom Austausch zwischen den Disziplinen lebt“. Diese Aussage lässt sich noch weiter zuspitzen: Wie kaum ein anderes Forschungsfeld sind die Visuelle Kommunikationsforschung und die Dynamik des Forschungsfeldes durch Inter- und Transdisziplinarität (Barnhurst et al. 2004; Müller 2007) und die Bandbreite unterschiedlicher theoretischer, methodischer und inhaltlicher

Einen umfassenden Überblick zu den bildwissenschaftlichen Ansätzen findet sich bei Lobinger (2012).

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Visuelle Kommunikationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsfeld

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Zugänge charakterisiert. Diese Bandbreite ist nicht zuletzt Ausdruck der Geschichte des Forschungsfeldes. Die ursprünglichen Ansätze zur Auseinandersetzung mit Bildlichkeit und visueller Kommunikation sind hochgradig divers; sie stammen insbesondere aus der Kunstgeschichte, der Philosophie und Anthropologie (siehe für einen detaillierten Überblick zum Beispiel Müller 2007). Treffend veranschaulicht werden diese vielfältigen Ursprünge und Einflüsse mit der Metapher des Rhizoms beziehungsweise eines rhizomartigen Netzwerks. Diese verwenden Moriarty und Barbatsis (2005), um Visuelle Kommunikation disziplinär zu verorten. In der Botanik bezeichnet der Begriff Rhizom ein weit verästelt und verflochten wachsendes, horizontales Sprossachsensystem, das beispielsweise Maiglöckchen, Efeu oder Bambus ausbilden. Ebenso kann die Visuelle Kommunikation als komplexes, dynamisches „emerging field“ (Moriarty und Barbatsis 2005) charakterisiert werden, das auf einem dezentralen Netzwerk von Theorien und Disziplinen aufbaut, nicht aber auf einem zentralen Stamm, der das für das Feld grundlegende Denkmuster und Wissenschaftsverständnis repräsentiert. Die Beiträge in dem hier vorliegenden Handbuch spiegeln dies eindrücklich wider. Als Teilbereich innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft ist Visuelle Kommunikation im deutschsprachigen Raum ein noch relativ junges Forschungsfeld, das sich insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten, seit Ende der 1990er-Jahre, stark entwickeln und institutionell etablieren konnte. Ihre offizielle Institutionalisierung erfuhr die Visuelle Kommunikation in Deutschland mit dem Erlangen des Fachgruppenstatus innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) im Jahr 2000.2 Die Forschungsund Publikationsaktivität in der Fachgruppe war seitdem äußerst rege.3 Die Rolle von Bildern, Bildlichkeit und visuellen Praktiken wurde auf vielfältige Weise diskutiert und reflektiert, wie der folgende kurze Überblick über einige Fachgruppenbände und Forschungsthemen der Fachgruppentagungen zeigen soll. Der erste Band „Kommunikation visuell“ (Knieper und Müller 2001) diente einer Bestandsaufnahme und „Inventur“ zu Forschungsprojekten und theoretischen Zugängen im Bereich der bildhaften Kommunikation. Die weiteren Tagungen und Tagungsbände rückten u. a. die Themenfelder Authentizität und Inszenierung (Knieper und Müller 2003), Visuelle Wahlkampfkommunikation (Knieper und Müller 2004), Bildkommunikation und Krieg (Knieper und Müller 2005), Visuelle Stereotype (Petersen und Schwender 2009), Visual Framing (Geise und Lobinger 2013) und historische Perspektiven auf den iconic turn (Geise et al. 2016) in den Mittelpunkt. Zudem entstand ein Handbuch zu Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation und der „Entschlüs-

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Im anglo-amerikanischen Raum wurde Visuelle Kommunikation bereits seit den 1970er-Jahren als relevantes Forschungsfeld innerhalb der Kommunikationswissenschaft wahrgenommen und ab Beginn der 1980er-Jahre zunehmend in kommunikationswissenschaftlichen Fachorganisationen institutionalisiert. Diese „Fachgeschichte“ beziehungsweise die Geschichte dieses Forschungsfeldes beschrieben eine Reihe von Publikationen (u. a. Barnhurst et al. 2004; Griffin 2001; Lobinger 2012; Müller 2007). 3 Ein umfassender meta-analytischen Überblick zur Entwicklung der Visuellen Kommunikationsforschung in internationalen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Publikationen bis einschließlich 2009 ist an anderer Stelle veröffentlicht (Lobinger 2012).

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K. Lobinger und R. Venema

selung der Bilder“ (Petersen und Schwender 2011). Dieser Überblick illustriert auch, dass sich die Visuelle Kommunikationsforschung im deutschsprachigen Raum zunächst weitestgehend auf professionell produzierte visuelle Inhalte, beispielsweise im Feld der Politik oder auf journalistische Bilder konzentrierte. In den letzten Jahren wurden verstärkt auch Wechselwirkungen zwischen Bildern, Kulturen und Identitäten (Geise und Lobinger 2012) sowie die Verschränkungen von Visualisierung und Mediatisierung, visuelle Alltagskommunikation sowie bildliches und bildbezogenes Handeln in den Blick genommen (Lobinger und Geise 2015). Dies sind Aspekte, die lange Zeit eher selten bearbeitet worden waren (siehe dazu auch Lobinger 2012). Mit den vergangenen Tagungen wurden dann vor allem kritische Themen, wie die Visualisierung und Vergeschlechtlichung von Körpern (Grittmann et al. 2018) oder Fragen nach Ethik und Verantwortung visueller Kommunikation (Schwender et al. 2019) in den Blick genommen. Jüngst, im Dezember 2018, wurde digital „vernetzte“ visuelle Kommunikation in Online- und Social-Media-Kontexten diskutiert. Diese hier kurz skizzierten Themen bilden einen wichtigen Hintergrund für das hier vorliegende Handbuch, in dem diese Themenfelder an vielen Stellen wieder aufgegriffen werden. Die Vielfalt, Transdisziplinarität und rhizomartige „Wurzelstruktur“ wurde von Müller (2007) als „beauty“ und zugleich auch als „beast“ des Forschungsfeldes bezeichnet. Denn sie führten beispielsweise einerseits zu spannenden und gewinnbringenden integrativen methodischen Verfahren, die den Eigenheiten von Medienbildern Rechnung tragen, wie beispielsweise der quantitativen Bildtypenanalyse (siehe dazu auch Lobinger 2014, S. 307–310; Grittmann 2007 sowie den Beitrag von Grittmann in diesem Band). Die vielfältigen Zugänge erschweren es aber auch, ein klares Forschungsprofil des Feldes zu entwickeln, dieses innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft zu positionieren und vor allem auch sichtbar zu machen (siehe dazu Lobinger 2012, 2014). Bis heute ist visuelle Forschung zwar ein lebhaftes, gleichzeitig aber auch verstreut publizierendes Forschungsfeld, dessen Sichtbarkeit innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft vergleichsweise gering bleibt (Lobinger 2014, S. 307). Sichtbarkeit herstellen, zentrale Theorien, Forschungsfelder, Methoden und aktuelle Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung darstellen und den aktuellen Forschungs- und Diskussionsstand im Feld der Visuellen Kommunikationsforschung bündeln sind daher auch die Ziele dieses Handbuchs. Es soll einen state-of-the-art Überblick über das Forschungsfeld geben, traditionelle wie innovative Themenbereiche darstellen, methodische Anleitungen und Hilfestellungen geben und für kritische Aspekte der visuellen Forschung sensibilisieren.4

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Die Herausgeberin möchte sich an dieser Stelle ganz herzlich bei Nina Wicke, Jana Praßke und Rebecca Venema für die unverzichtbare Unterstützung bei der Bearbeitung der Beiträge bedanken. Ohne diese Mitarbeit wäre die Herausgabe des Handbuchs in dieser Form nicht möglich gewesen. Herzlichen Dank!

Visuelle Kommunikationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsfeld

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Aufbau des Handbuchs

Die Inhalte des Handbuchs Visuelle Kommunikationsforschung sind in mehrere Abschnitte gebündelt. Visuelle Kommunikationsforschung: Theoretische Grundlagen und Ansätze Der erste Abschnitt des Handbuchs führt in theoretische Grundlagen und Ansätze der Visuellen Kommunikationsforschung ein. Besprochen werden semiotische, handlungstheoretische und mediatisierungstheoretische Konzepte und Zugänge zu Visueller Kommunikation und Visueller Kommunikationsforschung. Beiträge in diesem Teil widmen sich auch den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Implikationen visueller Kommunikation und visueller Kultur und diskutieren zentrale Aspekte wie die Authentizität und das Emotionalisierungspotenzial von Bildern. Daniel Pfurtscheller führt im Kap. ▶ „Bilder zwischen Zeichen, Handlungen und Praktiken“ in zeichentheoretische Grundlagen ein. Er skizziert dann Grundzüge und gemeinsame Anknüpfungspunkte sowie Spannungsfelder von Zeichentheorie, Handlungstheorie und Praxistheorie. Der Beitrag liefert so einen Überblick über Grundbegriffe und einflussreiche Theorieansätze, mit denen man sich dem alltäglichen Umgang mit Bildern und unterschiedlichen bildbezogenen Praktiken nähern kann. Daniel Pfurtscheller unterstreicht dabei, dass der Praktikenansatz ein fruchtbares Paradigma sein kann, mit dem sich handlungsorientierte Zugänge auf verschiedenen Betrachtungsebenen integrieren lassen. Gleichzeitig verweist er aber auch auf wichtige Desiderate für die Visuelle Kommunikationsforschung: Diese ist zum einen gefordert, grundlegende theoretische Begriffsarbeit weiter zu vertiefen, um Bildern und dem, was „Menschen mit Bildern tun“ begrifflich und analytisch gerecht werden zu können. Zum anderen betont er für die empirische Analyse auch, dass bildbezogenen Praktiken gerade im Kontext von Social-Media-Interaktionen eine multimodale Perspektive und ein Verständnis der spezifischen Affordanzen von Plattformen nötig machen. Ästhetiken, Bildflüsse, Medienumgebungen und Kommunikationspraktiken wandeln sich, sind im Fluss. Wolfgang Reißmann setzt mit Digitalisierung und Mediatisierung an zwei viel diskutierten gesellschaftlichen Gegenwartsdiagnosen und Metaprozessen an, die diese Veränderungen bedingen und zu erklären versuchen. Sein Kap. ▶ „Digitalisierung, Mediatisierung und die vielen offenen Fragen nach dem Wandel visueller Alltagskultur“ beleuchtet ausgewählte Tendenzen im Bereich der visuellen Kommunikation und Alltagskultur aus Perspektive der Mediatisierungsforschung. Besprochen werden dazu beispielsweise veränderte Kommunikations- und Medienumgebungen und mediale Infrastrukturen, in denen Bilder zirkulieren, gebraucht und bearbeitetet werden, oder, am Bildinhalt und seiner Gestaltung ansetzend, ob und inwiefern Digitalisierung und Mediatisierung Bildästhetiken verändern. Auch dies sind künftige Fragestellungen, denen sich die Visuelle Kommunikationsforschung widmen sollte. Im Sinne der Mediatisierungsperspektive gilt es, so plädiert Reißmann, die komplexen Wechselverhältnisse von Subjekten, ihren sozialen und medialen Umgebungen, gesellschaftlichen Strukturen sowie Bildern und visuellen Medien in den Blick zu nehmen. Der nächste Beitrag widmet sich dem emotionalen Potenzial von Bildern, die sowohl Emotionen darstellen als auch auslösen können. Wie sich die Visuelle Kom-

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K. Lobinger und R. Venema

munikationsforschung dem Themenfeld Emotionen und Bilder gewidmet hat und künftig widmen kann, zeigt Katrin Döveling im Kap. ▶ „Bilder von Emotionen – Emotionen durch Bilder Eine interdisziplinäre Perspektive“. Interdisziplinär informiert führt die Autorin zunächst in psychologische und soziologische Emotionstheorien ein und zeigt dann, wie diese für die kommunikations- und medienwissenschaftliche Analyse genutzt werden können. Gezeigt wird, wie Bilder in direkten Interaktionen und in der medialen Berichterstattung Emotionen transportieren können. Für ein umfassendes Verständnis des Zusammenspiels von Emotionen und Bildern schlägt Katrin Döveling eine integrative Perspektive vor, die psychologische Bewertungszuschreibungen, emotionssoziologisch relevante Interpretationsleistungen und Gefühlsregeln sowie Darstellungsweisen von Text-Bild-Botschaften zusammenführt. Manuel Menke und Katharina Niemeyer leiten ihr Kap. ▶ „Retro, Vintage, Nostalgie“ mit der Feststellung ein, dass Erinnerungen und Erinnerungskulturen maßgeblich durch visuelle Medien geprägt und konstruiert sind. Vergangenes wird einerseits insbesondere über Bilder vermittelt, zudem werden Bilder oft verwendet, um wichtige Ereignisse und Momente festzuhalten, um sich später an sie zu erinnern oder sie mit anderen zu teilen zu können. Manuel Menke und Katharina Niemeyer diskutieren unterschiedliche Vergangenheitszugänge von Bildern (Archivfunktion/ Akkumulation, die (Re)Konstruktion des Vergangenen durch Archivbilder, die formal-ästhetische Imitation des Vergangenen sowie fiktive Bilder als Imagination der Vergangenheit), um die Vielseitigkeit des gesellschaftlichen Erinnerns und des Einsatzes von visuellen Medien zu strukturieren. Der Beitrag fokussiert insbesondere Nostalgie, die affektive Zuwendung zur Vergangenheit. Im Rückgriff auf die Konzepte „Vintage“ und „Retro“ beschreiben die AutorInnen dann, wie sich Nostalgie bildästhetisch äußern kann. In ihrer Auseinandersetzung mit Erinnerungspraktiken konstatieren Manuel Menke und Katharina Niemeyer schließlich ein wichtiges Desiderat für künftige Forschung: Bisherige Arbeiten zu Nostalgie haben die Bedeutung von Bildern insbesondere anhand von analogen Bildern oder Filmen untersucht. Digitale visuelle Medien und visuelle Online-Kommunikation gilt es dagegen noch weiter in die Erinnerungs- und Nostalgieforschung einzubetten. In Kap. ▶ „Visuelle Authentizitäten und die Rolle kontextspezifischer Authentizitätsmarker in der visuellen Kommunikation“ widmen sich Benjamin Krämer und Katharina Lobinger einem spezifischen Spannungsfeld in Bezug auf Bilder: Fotografien gelten als besonders authentisch, ihnen wird die Fähigkeit zugeschrieben, eine präzise, natürliche und wahrheitsgetreue Repräsentation der Wirklichkeit zu vermitteln. Sie eignen sich aber auch sehr gut dazu, einen authentischen Eindruck zu erwecken, auch wenn sie inszeniert und manipuliert sind. Der Beitrag diskutiert unterschiedliche theoretische Konzepte und Marker von Authentizität und ihre Anwendbarkeit auf visuelle Kommunikation. Authentizität wird dabei als soziales und veränderbares Konstrukt charakterisiert, das kommunikativ hergestellt und von Vorstellungen und Konventionen von „normalen“ und „wünschenswerten“ Repräsentationsweisen mitbestimmt wird. Herausfordernde Fragen von authentischen und authentisierenden Repräsentationsweisen und wie diese hergestellt und analysiert werden können, sehen Benjamin Krämer und Katharina Lobinger u. a. im Kontext von Datenvisualisierungen und Bewegtbildern.

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Themenfelder der Visuellen Kommunikationsforschung Der zweite Abschnitt des Handbuchs widmet sich Themenfeldern der Visuellen Kommunikationsforschung. Dieser Abschnitt setzt sich zunächst näher mit visueller Kommunikation in traditionellen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsfeldern (wie etwa mit Bildern in Journalismus, Werbung, Politischer Kommunikation, Werbung und PR) auseinander. Daran anknüpfend werden auch klassische „visuelle Themen“, denen in der Visuellen Kommunikationsforschung schon immer besondere Bedeutung zugesprochen wurde (wie etwa Kriegs- und Terrorbilder) behandelt. Schließlich trägt dieser Abschnitt auch neueren Entwicklungen im Bereich visueller Medien und visueller Technologien Rechnung. Mit Geomedien und kartografischen Praktiken, Photo-Sharing-Praktiken oder Storytelling, werden damit Themen aufgegriffen, die in der deutschsprachigen Visuellen Kommunikationsforschung bisher noch vergleichsweise wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren haben. Das Kap. ▶ „Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära“ von Elke Grittmann eröffnet den Abschnitt zu Forschungsfeldern der Visuellen Kommunikationsforschung. Bildjournalismus und das journalistische Bild stellen seit jeher ein zentrales und an sich gut beforschtes Forschungsfeld dar, vor allem was bildjournalistische Produkte und deren Repräsentationstechniken und -konventionen betrifft. Jedoch ergeben sich noch Forschungsdefizite bei der Erforschung (foto-)journalistischer Produktion und Distribution. Und gerade diese Bereiche sind aktuell starken Veränderungen unterworfen, die es noch entsprechend theoretisch zu fassen und empirisch zu beleuchten gilt. Elke Grittmann liefert dafür die erforderlichen theoretischen Grundlagen und diskutiert einige zentrale Veränderungsprozesse, die den Bildjournalismus aktuell bewegen. Hierzu gehören der Trend zum Bewegtbild und zu hybriden Bildformen, das Spannungsfeld zwischen Amateurfotografie und fotojournalistischer Bildproduktion, das Entstehen neuer Berufs- und Kompetenzanforderungen im Hinblick auf Visuelles Storytelling und Datenvisualisierung sowie die zunehmende Bedeutung von Stock Photography und eines globalen Bildermarkts. Daran anschließend befassen sich Marion G. Müller und Thomas Knieper mit dem Thema visueller Kommunikation in Kriegen, Terror und Konflikten. Ausgangspunkt des Kap. ▶ „Terror der Bilder – Visuelle Kommunikation in Krieg und Terrorismus“ ist die Feststellung, dass die (Visuelle) Kommunikationsforschung trotz einer langen Tradition der Analyse von Kriegs- und Krisenbildern, nur sehr langsam beginnt, sich neueren visuellen Formen der Propagierung, Vermittlung und Kritik gewaltsamer Akte zu widmen. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Bildern des Terrors und der zentralen Rolle, die dabei Prozesse der Sichtbarkeit haben, ist noch ausständig. Die AutorInnen widmen sich deshalb ausführlich den verschiedenen Kommunikationsformen und Bildfunktionen in Krieg und Terrorismus und beziehen dabei sowohl historische als auch aktuelle Entwicklungen mit ein. So sind etwa der Zusammenhang von visueller Kriegsberichterstattung und Empathie vor dem Hintergrund sich wandelnder Bildproduktions- und Bildzirkulationskontexte (u. a. „Knipserbilder“ und visuelle Social-Media-Kommunikation) neu zu reflektieren. Auch die Rolle von Bildern als strategisch eingesetzte Waffe

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sowie visuelle Selbstinszenierungen im Terrorismus müssen, wie der Beitrag klar aufzeigt, zukünftig noch stärker erforscht werden. Es folgt der Beitrag von Christian von Sikorski und Cornelia Brantner mit dem Kap. ▶ „Das Bild in der politischen Kommunikation“. Die AutorInnen heben die Bedeutung von visueller Kommunikation für die Vermittlung von Wissen über politische Akteure, Prozesse und über Gesellschaft generell hervor. Generell lässt sich in der politischen Kommunikation seit geraumer Zeit ein Trend zum Bild beobachten, der jedoch sehr ambivalent bewertet wird. Oftmals werden dem Bild – in einer verkürzten Sichtweise – negative Implikationen für politische Kommunikation unterstellt, wogegen die bildspezifischen (und oftmals durchaus positiven) Leistungen in politischen Kommunikationsprozessen nicht adäquat anerkannt werden. Um der Komplexität der Visualisierung in der politischen Kommunikation gerecht zu werden, konzentrieren sich die beiden AutorInnen vor allem auf visuelle Personendarstellungen und beleuchten diese aus vielfältigen Blickwinkeln vor dem Hintergrund der visuellen Framingforschung. Sie nutzen dabei das Beispiel der visuellen Skandalberichterstattung, um beispielhaft die verschiedensten Facetten aktueller visueller politischer Kommunikation aufzuzeigen. Christian von Sikorski und Cornelia Brantner besprechen Personendarstellungen ausführlich und aus einer Prozessperspektiven, die u. a. den Einfluss der PolitikerInnen und Medienschaffenden auf die Produktion von Personendarstellungen miteinschließt und es erlaubt, die entsprechenden Effekte der bildbezogenen Entscheidungen und Darstellungen auf die Rezipierenden zu beleuchten. Im anschließenden Kap. ▶ „Werbebilder in der Kommunikationsforschung“ setzen sich Mira Mayrhofer, Alice Binder und Jörg Matthes mit den ästhetischen und rhetorischen Eigenheiten von Werbebildern sowie deren Effekten auf Rezipierende auseinander. Die AutorInnen heben insbesondere die bedeutende Rolle von Bildern und visueller Kommunikation für Persuasionsprozesse hervor, die u. a. durch den theoretischen Ansatz des Picture Superiority Effekts und durch die besondere visuelle Rhetorik des Bildes erklärt wird. Anhand theoretischer Ansätze an der Schnittstelle von Werbeforschung und Visueller Kommunikationsforschung werden visuelle Hinweisreize, Wirkweisen und Wirkungsmodelle vorgestellt. Allerdings heben die VerfasserInnen auch die Kultur- und Kontextabhängigkeit der Interpretation von visuellen Inhalten hervor, die es in der Werbekommunikation dringend zu berücksichtigen gilt. Der Beitrag schließt mit einer kritischen Reflexion von Werbebildern, da diese sich oftmals stereotyper Darstellungsweisen bedienen oder aufgrund ihrer assoziativen Bildlogik irreführende Aussagen implizieren. Damit zeigen die VerfasserInnen auf, dass gerade weil Bildern eine zentrale Bedeutung für Persuasionsprozesse zukommt, sie auch unbedingt kritisch in Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Implikationen zu beleuchten sind. Im Kap. ▶ „Visuelle Unternehmenskommunikation“ greift Alexander Berzler viele der in den Kapiteln davor genannten Bildleistungen auf und skizziert die Rolle von Bildern und visueller Kommunikation als strategische Instrumente der Markenund Unternehmenskommunikation. Der Verfasser präsentiert ein Modell der Visuellen Unternehmenskommunikation, demzufolge visuelle Kommunikation auf strategische Weise zum Erreichen eines langfristigen Zieles – der Etablierung einer

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visuellen Marke – eingesetzt werden soll. Dies bedeutet, dass ein Unternehmen alle zur Verfügung stehenden visuellen Kommunikationsformen (z. B. von grafischen Zeichen, über Social Media-Kommunikation, bis zur Architektur) nutzen sollte, um eine integrierte visuelle Kommunikation aufzubauen. Das Modell überwindet damit Grenzen zwischen Branding, Corporate Identity, Corporate Design, Werbung und Public Relations, die sich bisher noch in unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Berufskontexten äußern. Um dieses Argument zu untermauern, werden die Ziele und Strategien visueller Unternehmenskommunikation ausführlich beleuchtet und zueinander in Beziehung gesetzt. Während bisher visuelle Kommunikation in den kommunikations- und medienwissenschaftlich traditionell gut erforschten Feldern des Journalismus, der politischen Kommunikation, der Werbung und der Public Relations besprochen wurde, widmen sich die folgenden beiden Beiträge der visuellen Alltagskommunikation, die durch die zunehmende Mediatisierung gegenwärtiger Lebenswelten nun ebenfalls stärker in den Forschungsfokus gerückt ist. Zunächst betrachtet Ulla Autenrieth „everyday images“ im Kap. ▶ „Bilder in medial vermittelter Alltagskommunikation“. Als Einstieg in den Beitrag werden die rasanten Entwicklungen im Bereich fotografischer Technik erläutert, die schließlich zur Omnipräsenz digitaler bzw. vernetzter fotografischer Praktiken geführt haben. Dies führt, wie die Autorin zeigt, u. a. dazu, dass Bilder zunehmend kommunikative Funktionen erfüllen, die zuvor text- bzw. sprachbasiert erfolgten. Außerdem kommen Bilder auf sehr vielfältige Weisen in sehr unterschiedlichen Phasen des Lebens (u. a. bereits biografisch sehr früh) zum Einsatz. Dies ist verbunden mit veränderten Möglichkeiten der Selbstdarstellung, der Selbstinszenierung oder des „picturing oneself into being“ vor dem Kontext einer Theatralisierung der Gesellschaft. In einer differenzierten theoretischen Betrachtung und Einordnung dieser Entwicklungen beschäftigt sich die Verfasserin mit Funktionen und Problematiken im Bereich der Selbstvisualisierung, die aktuell vor allem in einer besonders prominent und kontrovers diskutierten Form der Fotografie sichtbar werden: dem Selfie. Insgesamt zeigt Ulla Autenrieth auch die Bedeutung der Bildkontexte, die zunehmend durch Photo Sharing- Apps und Social Media-Applikationen gebildet werden auf. Katharina Lobinger und Maria Schreiber greifen in Kap. ▶ „Photo Sharing“ die Bedeutungen von Apps und Plattformen für bildliche Distributions- und Austauschprozesse auf. Der Beitrag weist auf Veränderungen im Bereich der alltäglichen und vernetzten Fotografie hin, die gerne als eine Funktionsverschiebung von Bildern der Erinnerung hin zu Bildern der Live-Kommunikation gesehen werden. Allerdings gilt es hier, eine ahistorische Überhöhung aktueller Photo Sharing-Praktiken zu vermeiden, die vielmehr in einem längeren historischen Prozess voller Kontinuitäten – nicht nur von Veränderungen – zu situieren sind. Um die Komplexität von Photo Sharing-Praktiken zu illustrieren, präsentieren die Verfasserinnen eine Systematisierung, die Photo Sharing hinsichtlich des räumlichen Bezugs, des zeitlichen Bezugs, der Publika bzw. AdressatInnen und der Modi des Photo Sharing unterscheidet. Es folgen drei Kapitel die sich mit der Rolle von Bildern für die Produktion und Kommunikation von Wissen beschäftigen und sich insbesondere der Wissenschaftskommunikation, der Sichtbarmachung des Wissens im Zuge von Forschung sowie

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der Visualisierung von Daten in Form von Infografiken und komplexen Datenvisualisierungen widmen. Mit dem Kap. ▶ „Visuelle Wissenschaftskommunikation“ gibt Julia Metag einen Überblick über die verschiedensten Bereiche von Wissenschaftskommunikation. Etwa wird zwischen Wissenschaftsbildern, die sich im Sinne einer visual scholarly communication an die Wissenschaftsgemeinschaft richten und jenen Wissenschaftsbildern, die sich an ein breiteres (Laien-)Publikum richten, unterschieden. Bei ersteren ist eine besonders relevante Frage, wie Bilder zur Gewinnung von wissenschaftlichem Wissen und der Vermittlung an FachkollegInnen eingesetzt werden können. Bei letzteren ist u. a. vor dem Hintergrund des Public Understanding of Science-Paradigmas interessant zu erforschen, welche Rolle Bilder für die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens haben können. Mit den beiden genannten Bereichen der Wissenschaftskommunikation sind jeweils unterschiedliche Arten von Bildern, unterschiedliche BildproduzentInnen und unterschiedliche Bildfunktionen verbunden. Nicht vergessen werden darf zudem, dass ähnlich der Personendarstellung in der visuellen politischen Kommunikation auch die Darstellung von WissenschaftlerInnen in verschiedensten medialen (auch fiktionalen) Kontexten dazu beiträgt, wie das Feld der Wissenschaft gesellschaftlich konstruiert und interpretiert wird. Stephanie Geise vertieft im Kap. ▶ „Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten“ jenen Bereich der Wissenschaftskommunikation, der sich damit beschäftigt, wie Bilder in der wissenschaftlichen Forschung zur Generierung von Wissen eingesetzt werden. Dabei stehen Fragen danach, wie Wissen sichtbar gemacht wird und wie wissenschaftliche Bilder produziert, präsentiert und vermittelt werden, im Zentrum des Beitrags. Stephanie Geise skizziert zunächst die Charakteristika und Funktionen wissenschaftlicher Bilder, die häufig mittels apparativer Visualisierungstechniken bzw. auf Basis technisch-apparativer Messdaten „virtuell“ erzeugt werden. Anschließend werden verschiedene Typen wissenschaftlicher Bilder unterschieden. Im Fokus der Reflexionen steht die Rolle des Bildes als Instrument, wobei diese Instrumente nicht neutral oder „gegeben“ sind, sondern aufgrund vielfältiger je nach wissenschaftlichem Feld unterschiedlicher Konventionen und Seh- bzw. Sichtbarkeitstraditionen erzeugt werden. Auch vermeintlich „objektive“ Wissenschaftsbilder basieren demnach immer auf Visualisierungstraditionen, für deren Interpretation und Entschlüsselung spezifische visuelle Kompetenzen erforderlich sind. Dass Visualisierungen komplexer Daten auch außerhalb wissenschaftlicher Anwendungsbereiche zunehmend wichtig sind, zeigt das Kap. ▶ „Multidisziplinäre Forschungsperspektiven auf Infografiken und Datenvisualisierungen“ von Wibke Weber. Nicht zuletzt mit Entwicklungen im Bereich Open oder Big Data, der Datafizierung der Gesellschaft sowie mit neuen Technologien der Erfassung und Generierung von (visuellen) Daten wird die visuelle Aufbereitung von Daten und deren Transfer in (leicht) verständliche Informationen essenziell. Wibke Weber zeigt in ihrem Beitrag auf, dass Infografiken und Datenvisualisierungen seit jeher wichtige Forschungsgegenstände vielfältiger Disziplinen sind und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden müssen. So bieten, je nach Anwendungsbereich und

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Forschungsfrage, Ansätze aus Kommunikations- und Medienwissenschaft, Informationsdesign, Diagrammatik, Kognitionspsychologie, Kartografie und vielen mehr, wichtiges Basiswissen zum Verständnis aktueller Datenvisualisierungen. Wibke Weber gibt in ihrem Beitrag einen Überblick über diese verschiedenen Traditionen und bettet die Entwicklung von Infografiken und Datenvisualisierungen zudem historisch ein. Çiğdem Bozdağ und Sigrid Kannengießer zeigen in Kap. ▶ „Visual Storytelling in der Kommunikationsforschung“ insbesondere auf, dass – obwohl Bilder und visuelle Kommunikation zentrale Komponenten von Geschichten und Narrationen sind – die Forschung zu Storytelling sich bisher nur wenig mit visuellen Aspekten beschäftigt hat. Die beiden Autorinnen präsentieren daher den aktuellen Forschungsstand zu digitalem Geschichtenerzählen, um dabei explizit visuelle Aspekte herauszuarbeiten und zu fokussieren. Im Fokus des Beitrags stehen v. a. in nichtprofessionellen Medienproduktionskontexten entstandene Geschichten, d. h. von ProduserInnen produzierte und erzählte Stories. Der Beitrag spannt dabei einen Bogen vom „klassischen digitalen Geschichtenerzählen“ (vor allem im Kurzfilmformat) zu digitalen Geschichten in Foren, Blogs und auf Sozialen Netzwerkseiten und illustriert die Potenziale von Storytelling dabei, ihren ProduserInnen eine „visuelle Stimme“ zu verleihen. Im Kap. ▶ „Comics und Karikaturen in der Kommunikationsforschung“ zeichnen Clemens Schwender, Doreen Grahl und Thomas Knieper die Geschichte von Comics und Karikaturen nach und setzen diese dabei in Bezug zur Geschichte ihrer Beforschung. Die AutorInnen zeigen die unterschiedlichen Charakteristika der visuellen Darstellungsformen Comic und Karikatur sowie die Ähnlichkeiten, die zwischen ihnen bestehen, auf. Ein Unterschied liegt, so die AutorInnen darin, dass Comics primär erzählen wollen, während Karikaturen kommentieren. Beide Darstellungsformen wurden zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich kontrovers diskutiert. So folgten auf eine Zeit der moralischen Kritik an Comics, Zeiten in der sie zu didaktischen Zwecken eingesetzt wurden sowie eine Zeit der Wertschätzung ihres Werkcharakters. Ähnlich werden auch Karikaturen immer wieder in juristischen und gesellschaftlichen Debatten hinsichtlich ihrer Funktionen, Leistungen und vor allem der Frage, was Karikaturen ausdrücken dürfen, diskutiert. Dies zeigte sich etwa 2006 an der besonders intensiven Debatte um die umstrittenen MohammedKarikaturen in Jyllands-Posten. Die AutorInnen diskutieren das Spannungsfeld aus Humor, Kritik, Beleidigung, politischer Positionierung und künstlerischer Ausdrucksform, das Comics und Karikaturen aufspannen. Tanja Maier und Martina Thiele widmen sich in Kap. ▶ „Theoretische Perspektiven auf mediale Geschlechterbilder“ einem höchst relevanten Forschungsfeld: der Erforschung von medialen Geschlechterbildern und von vergeschlechtlichten Sichtbarkeitsverhältnissen. Die Autorinnen fassen zunächst zentrale erkenntnistheoretische Positionen zusammen, die bedeutsame Konsequenzen für die Erforschung von Sichtbarkeits- und Repräsentationsverhältnissen an der Schnittstelle von Gender Media Studies und Visueller Kommunikation haben. Insbesondere unterscheiden sie realistische und konstruktivistische Perspektiven auf Geschlechterbilder. In den Fokus der Ausführungen rücken die Autorinnen vor allem die Rolle von Geschlech-

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terstereotypen und ihre sozialen und individuellen Folgen. Am Ende des Beitrags werden rezente Ausdifferenzierungen der theoretischen Überlegungen zur Erforschung von Bildlichkeit und Medialität von Geschlechterbildern, vergeschlechtlichten Seh- und Sichtbarkeitsordnungen und deren Konstruktion vorgestellt. Tanja Maier und Martina Thiele plädieren für eine stärker transdisziplinär ausgerichtete Perspektive, insbesondere für eine Verbindung von sozial- und kulturwissenschaftlichen theoretischen und empirischen Ansätzen, die u. a. diskurstheoretische Ansätze oder Ansätze der Queer Theory und der Visual Culture Studies (mit ihrem Fokus auf Sichtbarkeitsordnungen und Sehtechniken) einbindet. Dies wäre, so die Autorinnen, wichtig für eine Dekonstruktion noch immer bestehender essenzialistischer Dualismen und Identitätspolitiken. An die Auseinandersetzung mit Geschlechterbildern schließt Dagmar Hoffmanns Kap. ▶ „Körperbilder in der Kommunikationsforschung“ an. Der Beitrag systematisiert zunächst unterschiedliche Ansätze der Körperbildforschung. Dabei werden insbesondere Theorien und Konzeptualisierungen von Körpern, Körperbild und Körperlichkeit aus psychologischer und soziologischer Forschung diskutiert und für die Körperbilderforschung aus Perspektive visueller Forschung nutzbar gemacht. Der Beitrag stellt zentrale Forschungsansätze vor, die sich dem Zusammenhang Mensch-Körperbild-Medien widmen und präsentiert Erkenntnisse u. a. aus Bildinhaltsforschung, Rezeptions- und Involvementforschung, Kultivierungsforschung, sozialer Vergleichstheorie sowie Handlungstheorie. Der Beitrag schließt mit beispielhaften aktuellen Forschungsfeldern der Visuellen Kommunikationsforschung, die sich höchst aktuellen Fragen, wie etwa der Ästhetisierung und Idealisierung von Körpern in medialen Kontexten, Körperbildern in Selbstinszenierungen v. a. in Online-Kontexten sowie der Präsentation und Repräsentation von älteren Menschen und deren Körperbildern widmen. Das Thema Altersbilder greifen auch Clemens Schwender und Thomas Petersen in Kap. ▶ „Visuelle Stereotype in der Kommunikationsforschung“ auf. Sie leisten zuerst definitorische Grundlagenarbeit, zeichnen den Ursprung des Begriffs „Stereotyp“ nach und besprechen die Funktionen und Eigenschaften von Stereotypen, um schließlich die genuinen Charakteristika visueller Stereotype zu erläutern. Das Kapitel konzentriert sich anschließend auf das Thema Altersstereotype und deren Repräsentation und Konstruktion durch visuelle Inhalte und Gestaltungsaspekte. Es werden stereotype visuelle Darstellungen und Darstellungstechniken in unterschiedlichen Kontexten, etwa in der Karikatur, in Filmen, der Werbung und im Journalismus ausführlich diskutiert sowie deren Wirkungen erläutert. Den Abschluss des Abschnitts zu den Themenfeldern der Visuellen Kommunikationsforschung bildet Cornelia Brantners Kap. ▶ „Von Geovisualisierung bis zur verorteten Bildlichkeit“, in dem sie sich mit lokativen Medien und Geomedien beschäftigt. Da immer mehr Kommunikationsdevices des alltäglichen Lebens sowohl mit Kameras als auch mit Lokalisierungstechniken ausgestattet sind, wird die Rolle vernetzter und verorteter Kommunikation auch für die Visuelle Kommunikationsforschung zu einem zunehmend relevanten Forschungsfeld. Nach einer ausführlichen Definition von lokativen Medien und Geomedien diskutiert Cornelia Brantner die Mediatisierung von Räumlichkeit in Geomedien vor dem Hintergrund

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des visual algorithmic turn. Diese theoretischen Ansätze werden abschließend anhand vielfältiger konkreter Praktiken illustriert. So diskutiert der Beitrag Geovisualisierungen, die auf mit geografischen Informationen angereicherten Fotografien bzw. auf Twitter-Kommunikation basieren, oder setzt sich mit partizipatorischen Karten auseinander. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen im Bereich von Augmented Reality und der zunehmenden Verschmelzung räumlicher und visueller Praktiken muss sich die Visuelle Kommunikationsforschung dringend mit Veränderungen von Ortsvorstellungen und der Entstehung hybrider (hochgradig visueller) Räume beschäftigen, so ein Plädoyer von Cornelia Brantner. Methoden der Visuellen Kommunikationsforschung Der dritte Abschnitt des Handbuchs gibt dann einen Überblick über Methoden der Visuellen Kommunikationsforschung. Da das Handbuch nicht einzeln auf die Methoden eingehen kann, werden die methodischen Besonderheiten der Analyse von Medienbildern in den einzelnen Teilbereichen der Kommunikations- und Medienwissenschaft (Produktion – Inhalt – Rezeption/Nutzung/Aneignung – Wirkung) besprochen. Diese Reihenfolge soll dabei jedoch keinesfalls eine lineare Abfolge suggerieren. Zusätzlich zu den genannten Forschungsbereichen werden partizipative visuelle Methoden und der Quellencharakter von Bildern behandelt. Bilder und ihre Kontexte werden hier somit einerseits als Quellen und Forschungsgegenstände besprochen, für deren „Entschlüsselung“ es eine Reihe von methodischen Zugängen und Instrumentarien gibt. Zudem wird auch die Forschung mit Bildern, das heißt der Einsatz von Bildern und visuellen Methoden und ihr Potenzial beispielsweise als Gesprächsstimuli oder zur Visualisierung von komplexen Zusammenhängen in Interviewsettings diskutiert. Patrick Rössler und Konrad Dussel diskutieren in Kap. ▶ „Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung“ den besonderen Quellenwert von Bildern für die historische Kommunikationsforschung. Sie halten aber auch fest, dass ForscherInnen bisher höchstens ansatzweise über die theoretischen und methodischen Werkzeuge verfügen, um diese Ressourcen auch tatsächlich zu nutzen. Sie zeigen anhand des Feldes der historischen Bildberichterstattung und Pressefotografie wichtige Potenziale, aber auch Herausforderungen, u. a. bei der Korpuskonstruktion und Stichprobenziehung, bei der Analyse von veröffentlichen Bildern, ihren medialen Kontexten und Verwertungsprozessen, oder auch bei der Untersuchung von FotografInnen als BildurheberInnen auf. Den Aspekt von Bildkontexten rücken Thomas Knieper und Marion G. Müller im Kap. ▶ „Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen für die Analyse visueller Kommunikation“ in den Mittelpunkt. Sie betonen die Notwendigkeit, bei der Analyse von Bildern neben deren manifesten und latenten Bildinhalten auch die strukturellen Kontexte einzubeziehen, um Bilder und ihre Bedeutungsdimensionen tatsächlich adäquat analysieren zu können. Relevant sind hier Strategie-, Ereignis-, Produktions-, Medien-, Rezeptions- und Kognitionskontext. Diese Auflistung verdeutlicht die Vielschichtigkeit von Ikonologischen Kontextanalysen wie sie Thomas Knieper und Marion G. Müller vorstellen und lässt auch erahnen, dass es sich um sehr zeitintensive Verfahren handelt. Diese sind, so zeigen die AutorInnen

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anhand ihrer Beispielanalyse eines Fotos zur „Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung“ von Jitzchak Rabin, Jassir Arafat und Bill Clinton im September 1993, aber auch besonders lohnenswerte Analysen, die sonst verborgen bleibende Sachverhalte und zentrale Bedeutungsdimensionen von Bildern aufzeigen können. Wie lassen sich visuelle Bedeutungsangebote analysieren? Dieser Frage geht Elke Grittmann im Kap. ▶ „Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung“ nach. Die Arbeit an Methoden zur Medienbildanalyse hat sich in den letzten Jahren deutlich intensiviert. Elke Grittmann geht zunächst von der Frage aus, was unter Bildern und Medienbildern überhaupt zu verstehen ist. Ihr Beitrag bietet dann einen Überblick zu ikonografisch-ikonologisch und semiotisch orientierten Verfahren sowie zu standardisierten, quantitativen Verfahren der Bildinhaltsanalyse und führt zudem in die Bildtypenanalyse ein. Schließlich werden Perspektiven der Methodenentwicklung zur Medienbildanalyse besprochen. Wesentlich ist hier die weiterhin bestehende analytische Herausforderung, die die assoziative Qualität und die Polysemie von Medienbildern mit sich bringen. Die Diskussion zu hieraus folgenden Konsequenzen für die Bildanalyse steht aber, so Elke Grittmann, noch am Anfang. Gleiches gilt für die Entwicklung von theoretischmethodisch fundierten Zugängen, die multimodalen medialen Angeboten und Bewegtbildern analytisch gerecht werden. Die Analyse von visuellen Bedeutungsangeboten vertiefen Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann aus Sicht der qualitativen Sozialforschung. Insbesondere besprechen sie in ihrem Beitrag, wie ForscherInnen das, „was Menschen mit Bildern wie machen“ analysieren können. Im Kap. ▶ „Qualitative Methoden der Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung“ plädieren sie dabei für handlungstheoretische, wissenssoziologische und praxeologische informierte Herangehensweisen. Ausgangspunkt ist eine Reflexion und Bestimmung, was bildzentrierte Forschung eigentlich sein kann. Ähnlich wie Elke Grittmann setzen sie sich also zunächst definitorisch mit dem Analysegegenstand auseinander. Sie führen dann Grundbegriffe einer lebensweltorientierten Bildforschung wie bildbezogenes und bildliches Handeln oder Bildaneignung ein. Sie erläutern dann, wie „klassisches“ sozialwissenschaftliches Erhebungs-Handwerkszeug wie Interviews, Gruppendiskussionen, Fokusgruppen, Ethnografie und Beobachtung genutzt und angepasst werden können. Veränderte Einbindungen des Handelns mit und in Bezug auf Bilder müssen, so eine zentrale Forderung von Reißmann und Hoffmann, auch methodisch Niederschlag finden. Um visuellen Kommunikationspraktiken heutzutage gerecht werden zu können, ist es ihrer Ansicht nach z. B. nötig, die Komplexität digitaler Medien und Plattformen und ihrer Affordanzen zu verstehen. Hierzu sollte die Visuelle Kommunikations- und Medienaneignungsforschung, so Reißmann und Hoffmann, in Zukunft verstärkt auch Kooperationen mit Platform und Software Studies suchen. Der Beitrag von Stephanie Geise im Kap. ▶ „Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung“ unterstreicht zu Beginn einmal mehr die Besonderheiten der Encodierung und Decodierung bildlicher Informationen. Daraus ergibt sich, dass Rezeptions- und Wirkungsprozesse von Bildern nur dann adäquat adressiert werden

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können, wenn eben auch das spezifische Kommunikationsprinzip von Bildern und ihre ganzheitlich-assoziative Präsentationslogik – kurzum: dass Bild und Text verschiedenartige Rezeptions- und Wirkungsprozesse aktivieren können – berücksichtigt werden. Für die Bildrezeptionsforschung besprochen werden Verfahren, die direkte, gegebenenfalls auch physiologische Reaktionen auf Bilder messen (RealTime-Response-Measurement und rezeptionsbegleitende physiologische Messmethoden) oder solche, die aufzeichnen, welche visuellen oder multimodalen Inhalte wie selektiert oder wie lange betrachtet werden (Eye-Tracking und Web-Tracking). Zudem besprochen werden auch die Erfassung von mimischen Reaktionen, um auf erlebte Emotionen zu schließen (Facial Action Coding) sowie Ansätze, bei denen die RezipientInnen gebeten werden, ihre Gedanken beim Blick auf ein Bild oder eine Videosequenz direkt zu verbalisieren (Thinking Aloud). Die Bildwirkungsforschung zielt darauf ab, kausale Einflüsse der Bildrezeption zu ermitteln. Sie versucht also zu verstehen, was geschieht, wenn bestimmte visuelle Medienangebote von bestimmten Personen(gruppen) rezipiert werden. Hierzu diskutiert der Beitrag, wie Wirkungsanalysen mittels Befragungen und Experimentaldesigns in der Visuellen Kommunikationsforschung durchgeführt werden können. Ihren Überblick zu den Methoden und ihren jeweiligen Leistungspotenzialen beschließend, merkt Stephanie Geise auch an, dass die Betrachtung visueller Kommunikation innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptions- und Wirkungsforschungsforschung bisher kaum erfolgt ist und die Visuelle Kommunikationsforschung bisher keine zusammenfassende Betrachtung der spezifischen theoretischen und empirischen Befunde der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung vorgelegt habe. Hier besteht noch Entwicklungspotenzial. Während bislang die Erforschung von Bildern und bildlichem Handeln im Vordergrund standen, betonen nun zwei Beiträge das Potenzial der Forschung mit Bildern. Im Kap. ▶ „Visuelle Methoden“ stellen Katharina Lobinger und Jeanne Mengis heraus, dass visuelle Methoden und Verfahren einen anderen Zugang zu Wissen, Erfahrungen und Beurteilungen als verbale Zugänge erlauben. Visuelle Methoden und Verfahren bergen, so zeigen die Autorinnen, Potenziale für die Visuelle Kommunikationsforschung, aber auch für Arbeiten in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung generell. Anhand von Beispielstudien zeigen sie exemplarisch auf, wie Bilder und visuelle Elemente z. B. als Gesprächsstimuli, zur Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge, zur Erfassung von Rankings und Typenbildungen oder zur ethnografischen Beobachtung eingesetzt werden können. Dabei zeigen sie auch die Implikationen verschiedener methodologischer Entscheidungen beim Einsatz von visuellen Methoden und Verfahren auf, um einen präzisen und reflexiven Umgang mit visuellen Methoden zu ermöglichen. Markus Gamper und Michael Schönhuth diskutieren im Kap. ▶ „Ansätze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung“ unterschiedliche Möglichkeiten, wie relationale Strukturen visualisiert und wie und wofür Visualisierungen sozialer Netzwerke in den verschiedenen Etappen im Forschungsprozess eingesetzt werden können. Zudem stellen sie Verfahren zur visuellen Datenerhebung vor und diskutieren deren Möglichkeiten und Grenzen. Hier kommt Visualisierungen, seien es Netzwerkzeichnungen oder -karten, die händisch und digital erhoben werden kön-

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nen, eine zentrale Rolle zu, da der Erhebungsprozess manchmal sogar mit der Netzwerkerhebung beginnt und eine partizipative oder sogar eine dialogischkollaborative Komponente aufweist. Insgesamt machen Markus Gamper und Michael Schönhuth auf die vielfältigen Potenziale und Anwendungsfelder der Visuellen Netzwerkforschung aufmerksam. Sie besprechen aber auch Herausforderungen und bestehende Desiderate. So betonen sie beispielsweise, dass die Informationsdichte der Darstellung von Netzwerken InterviewpartnerInnen auch überfordern kann und ForscherInnen geeignete Wege finden müssen, um Interview-Audiodaten und visuelle Daten analytisch gewinnbringend zusammenzuführen. Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung Viele der Beiträge im gesamten Handbuch weisen auf je themenspezifische Forschungsdesiderate und Herausforderungen hin, die es künftig zu adressieren gilt. Der vierte und letzte Abschnitt ist speziell den Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung gewidmet. Versammelt sind hier Beiträge, die aktuelle Herausforderungen ethischer, rechtlicher, thematischer und methodischer Natur besprechen; u. a. Fragen der Multimodalität, Herausforderungen der OnlineKommunikation und der Bewegtbildforschung. Den Abschluss des Handbuchs bildet ein programmatischer Ausblick auf künftige Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung. Eine der größten und meistdiskutierten Herausforderungen, die sich der Visuellen Kommunikationsforschung stellen, ist die Analyse multimodaler Medientexte. Medienkommunikation ist so gut wie immer multimodal, da Abbildungen, Texte oder gesprochene Sprache zumeist nicht isoliert, sondern stets miteinander kombiniert auftreten. Zudem sind, wie vielfach in den verschiedenen Kapiteln des vorliegenden Bands betont wurde, Bilder systematisch mehrdeutig beziehungsweise deutungsoffen. Ihre Bedeutung ist somit auch stark abhängig von u. a. ihrem Verwendungskontext, ihrer Größe und Platzierung, von beigefügten Kontextinformationen oder, im Fall von Bewegtbildern, Schnitt und Sound. Dies muss Visuelle Forschung berücksichtigen. Von dieser Prämisse ausgehend stellt Hans-Jürgen Bucher im Kap. ▶ „Multimodalität als Herausforderung für die Visuelle Kommunikationsforschung“ zunächst zentrale Ansätze zur Multimodalität dar. Hieran anschließend zeigt er auf, wie multimodale Forschungsansätze wertvolle Anschlussstellen für bisherige Ansätze visueller Forschung anbieten. So betont Hans-Jürgen Bucher u. a. den Mehrwert, statt Bildtypen allein auch ihre typologisch relevante Verwendung in Diskursen und Diskursmustern erfassen zu können. Gewinnbringend kann auch, so der Autor, eine Erweiterung von bildzentrierten Analyseperspektive um zeichen- und diskurstheoretische Ansätze sein. Sowohl der Zugang zu Bildern, ihre Speicherung, Bearbeitung und Veröffentlichung sowie das eigene Anfertigen von Bild- und Videomaterial ist dank fortgeschrittener Digitalisierung sehr viel unkomplizierter geworden. Gleichzeitig bergen aber der komfortable und schnelle Zugang zu Bildern und die Möglichkeit der einfachen Weiterverwendung, so Louisa Specht-Riemenschneider, Vera Eickhoff und Anna-Maria Volpers, auch die Gefahr der Missachtung von gesetzlichen Regelungen zur Bildverwendung, die auch in der Forschung und Lehre beachtet werden

Visuelle Kommunikationsforschung – ein interdisziplinäres Forschungsfeld

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müssen. Wie Bilder im wissenschaftlichen Bereich verwendet werden dürfen, ist gerade dann in der Visuellen Kommunikationsforschung eine grundlegende Frage und Herausforderung. In ihrem Überblick des Kap. ▶ „Rechtliche Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Bildverwendung“ gehen die Autorinnen auf zwei wesentliche Rechtsbereiche ein: das Urheberrecht sowie das Recht am eigenen Bild. Angewandt auf die empirische Visuelle Kommunikationsforschung zeigen sie dann auf, welche rechtliche Fragen, Problemstellungen und mögliche Rechtsfolgen z. B. in Bezug auf Verwertungs- und Nutzungsrechte, notwendige Einwilligungen von abgebildeten Personen, Vervielfältigungen und Änderungen von Bildmaterial bei der Datenerhebung und -analyse und bei der Veröffentlichung von Bildern zu beachten sind. Eng verzahnt mit dem juristischen Rahmen für die Bildverwendung sind auch ethische Fragen. Diese bringen den Aspekt des moralisch-normativ Verantwortbaren und Wünschenswerten in den Spielraum von rechtlich Erlaubtem ein. Welche ethischen Fragestellungen und Herausforderungen sich gerade bei der Erforschung, Produktion und Rezeption von Bildinhalten ergeben, beschreibt Alexander Godulla im Kap. ▶ „Ethische Aspekte der Visuellen Kommunikationsforschung“. Die zentrale Herausforderung, die er für die Visuelle Kommunikationsforschung heraushebt, ist sehr grundsätzlicher Natur: dem Bild gerecht werden. Das impliziert, die Kontexte seiner Entstehung und mögliche Annahmen zu diesen kritisch-distanziert zu reflektieren, vermeintliche „Bedeutungen“ nicht zu verabsolutieren, die Einbettung des Bildes in multimodale Medientexte zu berücksichtigen und nicht zuletzt auch mögliche Reaktionen verschiedener Publika auf ein Bild mitzudenken. Alexander Godulla fokussiert im Weiteren vor allem ethische Fragen im Feld der journalistischen Fotografie: Wer fotografiert, in welchem Kontext? Wie beispielsweise können Fotojournalisten dem journalistischen Qualitätsanspruch, über Ereignisse richtig und vollständig zu berichten, auch ethisch gerecht werden? (Wie) sind menschliches Leid und Tod darzustellen? Wie verschieben sich ethische Grenzen und Ansprüche an Authentizität als bildethischer Standard im Kontext der Publikation und Rezeption visueller Inhalte in digitalen und Social Media-Kontexten? Hier erreichen journalistische Berufsnormen längst nicht mehr alle jene Akteure, die Bilder machen und veröffentlichen. Deshalb ist, so Godulla, die Ethik Visueller Kommunikationsforschung hier besonders als Beobachter, aber auch als kritischnormative Stimme gefordert. Der letzte Beitrag dieses Handbuchs ist schließlich programmatischer und kollaborativer Natur. Katharina Lobinger, Wolfgang Reißmann, Daniel Pfurtscheller, Cornelia Brantner, Rebecca Venema und Elena Marchiori wagen mit dem Kap. ▶ „Theoretische, thematische, forschungsethische und methodologische Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung“ eine Prognose zu einigen besonders brennenden Themen und Herausforderungen, mit denen die Visuelle Kommunikationsforschung künftig konfrontiert sein wird. Von Wolfgang Reißmann werden dabei die Anforderungen an die Erforschung von komplexen Seh- und Sichtbarkeitsverhältnissen auf theoretischer Ebene angesprochen. Daniel Pfurtscheller betont die große Notwendigkeit, adäquate Ansätze zur Erforschung von Bewegtbildern zu entwickeln. Von Elena Marchiori werden neue Kommunikationsformen-

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K. Lobinger und R. Venema

und Kommunikationsumgebungen, wie sie durch Augmented und Virtual Reality ermöglicht werden, und ihre Implikationen, Chancen und Herausforderungen diskutiert. Auf methodischer Ebene beleuchtet Cornelia Brantner die Fortschritte der Computer Vision, das heißt, bei automatisierten Verfahren zur Analyse großer Bildmengen und Bilddaten. Diese können für die Visuelle Kommunikationsforschung gewinnbringend sein, müssen aber auch kritisch reflektiert werden. Des Weiteren diskutiert Rebecca Venema die Vielschichtigkeit forschungsethischer Fragen in der Visuellen Kommunikationsforschung. Sie betont die besonderen forschungsethischen Herausforderungen, die digital „vernetzte“ Bilder mit sich bringen und plädiert für weitere diskursive wie empirische Auseinandersetzungen mit forschungsethischer Praxis in der Visuellen Kommunikationsforschung. Schließlich verweist Katharina Lobinger auf die vielfältigen Funktionen von Bildern im gesamten Forschungs- und Publikationsprozess und plädiert gerade für die Visuelle Kommunikationswissenschaft für das verstärkte Zeigen von den im Forschungsprozess genutzten, analysierten und generierten Bildern auch in Publikationen. Das Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung ist selbstverständlich als eine Momentaufnahme der aktuellen Forschungsthemen und -bestrebungen im Feld der kommunikations- und medienwissenschaftlichen visuellen Forschung zu verstehen. Dementsprechend bleibt zu wünschen, dass insbesondere die hier angesprochenen Herausforderungen und Desiderate, die als Baustellen des Forschungsgebietes zu verstehen sind, bald Geschichte sind. Auf geschlossene Baustellen werden jedoch bestimmt neue folgen. Der Visuellen Kommunikationsforschung ist zu wünschen, dass sie ihre Dynamik und ihre rhizomartige Struktur auch in Zukunft behalten bzw. diese sogar zelebrieren wird und weitere Schritte in Richtung einer Erweiterung des Forschungsfeldes „Visualität“ nicht zulasten der eigenen Sichtbarkeit erfolgen. Denn, wie die einzelnen Beiträge des Handbuchs zeigen, ist Sichtbarkeit eine wichtige Maßzahl im Deutungskampf um Anerkennung – in allen Bereichen, auch in der Forschung!

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Teil I Visuelle Kommunikationsforschung: Theoretische Grundlagen und Ansätze

Bilder zwischen Zeichen, Handlungen und Praktiken Grundbegriffe einer handlungsorientierten visuellen Kommunikationsforschung Daniel Pfurtscheller

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Bilder und Zeichentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Bilder und kommunikatives Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Bilder und soziale Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fallbeispiel: Alltägliche Bildpraktiken im Handlungsfeld Twitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag skizziert einen theoretischen Rahmen für die handlungsorientierte Betrachtung und die empirische Analyse visueller Kommunikation. Zuerst werden eine Bestandsaufnahme handlungsorientierter Zugänge sowie zeichen-, handlungs- und praxistheoretische Grundlagen im interdisziplinären Forschungsfeld vorgestellt. Die handlungsorientierte Betrachtung von Bildpraktiken wird anschließend am Beispiel bildbezogener Social-Media-Interaktionen auf Twitter veranschaulicht. Damit wird exemplarisch verdeutlicht, dass eine handlungsorientierte Betrachtung visueller Alltagskommunikation multimodal ausgerichtet sein muss.

Schlüsselwörter

Bildpragmatik · Bildhandeln · Bildpraktiken · Zeichentheorie · Bildkommunikation

D. Pfurtscheller (*) Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_2

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D. Pfurtscheller

Einleitung

In unserer von Technik und digitalen Medien durchdrungenen Welt gehört der Umgang mit Bildern zum Alltag. Hinter allgemeinen Formulierungen wie Umgang mit Bildern stecken eine ganze Reihe von unterschiedlichen Handlungen und Praktiken, bei denen Bilder die Hauptrolle spielen: Wir stellen täglich neue Bilder her, bearbeiten und verändern Bilder, teilen Bilder mit anderen, sprechen über Bilder und verständigen uns mit Bildern. Die Beschäftigung mit diesen vielfältigen „sozialen Praktiken der Herstellung, der Wahrnehmung und des Gebrauchs von Bildern“ (Burri 2008a, S. 345) bildet den gemeinsamen Bezugsrahmen für handlungsorientierte Ansätze der Visuellen Kommunikationsforschung. In der gegenwärtigen Kommunikationsforschung hat man diesen vielfältigen visuellen Praktiken vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt und erste Schritte zu einer terminologischen Systematisierung bildbezogenen Handelns gemacht (Lobinger 2015; Reißmann 2012). Im Umfeld bildtheoretischer Arbeiten kann man ebenso von einer „handlungsorientierten Wende“ (Seja 2009, S. 9) sprechen, wobei sich die einzelnen Ansätze in Ausrichtung, Handlungsbegriff und theoretischer Fundierung stark unterscheiden. Angesichts der Disparität unterschiedlicher Fragestellungen und Begriffsauffassungen versucht der vorliegende Beitrag eine Bestandsaufnahme handlungsorientierter Ansätze in der Visuellen Kommunikationsforschung. Zu diesem Zweck werden einige Überlegungen und Ansätze vorgestellt, mit denen man sich dem Umgang mit Bildern im Spannungsfeld von Zeichentheorie, kommunikativem Handeln und sozialen Praktiken begrifflich nähern kann. Dabei werden Begriffe fokussiert, die von verschiedenen Traditionen der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung aufgegriffen und auf vielfältige Weise konzipiert wurden. Die folgenden Abschnitte sind daher nicht als systematischer oder gar umfassender Überblick der Theoriegeschichte zu verstehen, sondern als Versuch, einige einflussreiche Ansätze exemplarisch vorzustellen und auf klassische sowie neuere Arbeiten der Theoriebildung hinzuweisen: Zuerst werden Anknüpfungspunkte, Gemeinsamkeiten und Spannungsfelder im Zusammenhang von Zeichentheorie (Abschn. 2), Handlungstheorie (Abschn. 3) und Praxistheorie (Abschn. 4) identifiziert. Nach dieser theoretischen Annäherung wird der handlungsorientierte Zugriff anhand alltäglicher Bildpraktiken auf Twitter veranschaulicht (Abschn. 5). Damit soll abschließend die Einsicht verdeutlicht werden, dass der Umgang mit Bildern selten isoliert betrachtet werden kann (siehe auch den Beitrag von Bucher in diesem Band) und die Untersuchung visueller Praktiken eine multimodale Forschungsperspektive fordert.

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Bilder und Zeichentheorie

Ob Bilder als Zeichen gelten können, bleibt in der Bildtheorie umstritten (Böhme 1999; Nöth 2005; Sachs-Hombach 2003, S. 82–85). Außer Frage steht jedoch, dass zeichentheoretische Ansätze die Visuelle Kommunikationsforschung nachhaltig geprägt haben (Lobinger 2012, S. 55–62).

Bilder zwischen Zeichen, Handlungen und Praktiken

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In der Semiotik, wie die Zeichentheorie meist genannt wird, geht es traditionell weniger um die Fragen des kommunikativen Handelns (und damit um das Verhältnis Mensch-Mensch). Vielmehr dominiert eine erkenntnistheoretische Herangehensweise, bei der die Beziehung Mensch-Welt im Vordergrund steht (Trabant 1976, S. 15). Einführungen in die Semiotik bieten die klassischen Arbeiten von Eco (1972), Trabant (1976) und Chandler (2007). Über die Hintergründe von soziosemiotischen Ansätzen, die auch für die Multimodalitätsforschung maßgeblich sind, informiert die Überblicksdarstellung von Cobley und Randviir (2009). Mit Fragen der Bildsemiotik hat sich zuletzt Nöth (2009, 2016) befasst. Als allgemeines Merkmal von Zeichen gilt der Aspekt des Verweisens: Alles kann zu einem Zeichen werden, „wenn es über sich selbst hinaus auf etwas anderes verweisend verstanden wird“ (Sachs-Hombach 2003, S. 78). In der Geschichte der Semiotik wurden unterschiedliche Konzepte entwickelt, um den Zusammenhang zwischen den Zeichen, Aspekten ihres Ausdrucks, der Bedeutung und dem Bezug zu den Dingen zu klären (Nöth 2000, S. 136). Einflussreich war ein zweigliedriges Zeichenmodell, das auf studentische Mitschriften der Vorlesungen von Ferdinand de Saussure zurückgeht und nach der Veröffentlichung 1916 die Grundlage für die weitere Entwicklung des Strukturalismus bildete (de Saussure 2001). Nach de Saussure hat ein Zeichen zwei Seiten: Zum Ausdrucksaspekt der Zeichenform (signifiant) gehört der Inhaltsaspekt des Bezeichneten (signifié). Heute ist in der Semiotik ein dreistelliges Zeichenmodell gebräuchlich, das meist auf den einflussreichen Denker Charles S. Pierce zurückgeführt wird, und auch den außersprachlichen Bezug des Zeichens berücksichtigt (Atkin 2013; Nagl 1992). Hier gibt es drei Eckpunkte: die Ausdrucksseite der Zeichenträger, die Bedeutungsseite der Begriffe und die Welt der Gegenstände. Diese begriffliche Triade lässt sich in der Form des sogenannten semiotischen Dreiecks veranschaulichen (Ogden und Richards 1923, S. 11), wobei je nach Tradition unterschiedliche Bezeichnungen verwendet werden (Eco 1977, S. 30; Nöth 2000, S. 141; Sachs-Hombach 2003, S. 80). Eine weitere Grundidee der Semiotik ist, dass sich Zeichen in der Art ihres Bezugs auf den durch sie bezeichneten Gegenstand unterscheiden. Bekannt ist die Einteilung in indexikalische, symbolische und ikonische Zeichentypen, mit der Charles S. Pierce die Relation zwischen Zeichenträger und Bezeichnetem nach Kausalität, Konventionalität und Ähnlichkeit aufgliedert (Keller 1995, S. 114; Nagl 1992, S. 43). Bei indexikalischen Zeichen besteht ein direkt physikalischer, raumzeitlicher Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichneten (z. B. kann Rauch ein Hinweis auf Feuer sein oder ein Lesezeichen eine Stelle in einem Buch anzeigen). Bei symbolischen Zeichen ist die Verweisbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichneten über Konventionen geregelt (um z. B. zu verstehen, dass mit den Ausdrücken tree, albero oder drzewo ein Baum bezeichnet werden kann, muss man die Regeln kennen, auf die sich die englische, italienische oder polnische Sprachgemeinschaft verständigt hat). Bei ikonischen Zeichen besteht zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine wahrnehmbare Ähnlichkeit. Als typische Beispiel werden in erster Linie Bilder (im weitesten Sinn) angeführt, die Ähnlichkeiten können aber auch akustisch wahrnehmbar sein (z. B. im Fall von lautmalerischen Ausdrücken wie Kickeriki oder wenn in einem Musikstück ein Paukenwirbel ein Donnergrollen nachbilden soll) oder auf eine andere Art feststellbar sein (taktil, olfaktorisch, etc.).

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D. Pfurtscheller

Für die Visuelle Kommunikationsforschung sind diese typologischen Überlegungen aus mehrerer Hinsicht relevant und folgenreich geworden. Bezüge gibt es etwa für die Frage, was ein Bild ausmacht und was Bilder leisten können. Bilder wurden vorrangig als ikonische Zeichen bestimmt, für die ein besonders hoher Grad der Ähnlichkeit (Ikonizität) zu veranschlagen ist. Insbesondere Fotografien wurden so als „Abbilder“ von Wirklichkeit verstanden. Die theoretischen Auseinandersetzungen, die im Anklang an die Symboltheorie von Goodmann (1976) über das AbbildVerhältnis und die Frage der Ähnlichkeit als Merkmal geführt wurden, sind als Ikonizitätsstreit bekannt geworden (Blanke 2003). Die Frage nach der Leistung von Bildern betrifft ihr semiotisches Potenzial. Um die Semiotik zu systematisieren, hat Morris (1938) drei unabhängige Untersuchungsebenen vorgeschlagen, in denen Aspekte der Zeichenträger (Syntaktik), Zeichenbedeutung (Semantik) und Zeichenverwendung (Pragmatik) weitestgehend für sich erforscht werden sollten. Vergleicht man Bilder auf diesen semiotischen Dimensionen zeigen sich in allen drei Bereichen Besonderheiten: Im Vergleich zu anderen Zeichenmodalitäten folgen Bilder einer anderen internen Logik, haben ein eigenes semantisches Potenzial und ermöglichen spezifische kommunikative Funktionen. Einen ausführlichen Vergleich dazu bietet Stöckl (2016, S. 9–19). Ein elaborierter Versuch, der die Dimensionen Bildsyntax, Bildsemantik und Bildpragmatik als eigene Elemente der Bildanalyse differenziert, stammt von SachsHombach (2003). Ziel seiner Arbeit liegt vor allem in einer philosophischen Fundierung einer allgemeinen Bildwissenschaft, weniger in der Analyse konkreter Formen visueller Kommunikation. Die dabei vorgenommene analytische Trennung von semantischen Fragen der Bildbedeutung und der Verwendung von Bildern wurde zurecht kritisch gesehen (z. B. Schmitz 2007, S. 421). Pragmatische Fragen der Zeichenverwendung wurden in der Semiotik lange als eine Art zeichentheoretisches Anhängsel gesehen. Seit der sogenannten pragmatischen Wende (Sandbothe 2000) haben sich die Dominanzverhältnisse jedoch umgedreht. Für die Erforschung von unterschiedlichen Formen zwischenmenschlicher Verständigung hat sich seither die Einsicht durchgesetzt, dass sich die entscheidenden Fragen der Bedeutung grundsätzlich nur innerhalb eines kommunikativen Rahmens betrachten lassen (siehe auch den Beitrag zur Bedeutung des Bildkontextes von Knieper und Müller in diesem Band). In der Visuellen Kommunikationsforschung wird die Annahme der Kontextabhängigkeit des Bildverstehens (Lobinger 2012, S. 66–68) beispielsweise auch im Zusammenhang mit Framing-Ansätzen deutlich (Geise und Lobinger 2013), die Verfahren der Reduktion von Komplexität und Zuschreibung von Bedeutung im sozialen Gebrauch fokussieren (Meier 2012, S. 126).

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Bilder und kommunikatives Handeln

Das Interesse verlagert sich damit von internen Aspekten der Zeichen auf die Funktionen von Bildern und Sprache im kommunikativen Gefüge der Gesellschaft. Der Zeichenbegriff muss dabei nicht aufgegeben, sondern vielmehr handlungstheoretisch

Bilder zwischen Zeichen, Handlungen und Praktiken

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gewendet werden: „[D]er relevante Ort des Geschehens von Zeichengenese und -wandel ist nicht das Innere des Kopfs, sondern die Gebrauchssituation. Zeichen entstehen und verändern sich im Zuge ihres kommunikativen Einsatzes.“ (Keller 1995, S. 104) Im Zentrum von handlungsorientierten Zeichentheorien steht demnach die pragmatische Ebene des Zeichengebrauchs. Diese soziale Verankerung kommunikativen Handelns macht dynamische Aspekte der Bedeutungskonstruktion und des Bedeutungswandels zum Untersuchungsgegenstand der Visuellen Kommunikationswissenschaft. Damit einher geht eine funktionale Untersuchungsperspektive, die Bilder und Sprache als Kommunikationsinstrumente sieht. Während eine repräsentative Zeichenauffassung den Stellvertreter-Aspekt von Zeichen betont – ein Zeichen ist etwas, das für etwas Anderes steht (aliquid stat pro aliquo) – wird bei einer instrumentalistischen Zeichenauffassung der Werkzeugaspekt in den Vordergrund gestellt (Keller 1995, S. 36). Diese Vorstellung lässt sich bis zu Platon zurückverfolgen, der die Werkzeugmetapher im Dialog Kratylos einführt: So wie die Weberlade ein Werkzeug ist, um zu weben, so ist auch das Wort ein Werkzeug um Dinge zu benennen, zu unterscheiden und anderen etwas über die Dinge mitzuteilen (Sedley 2013). Analog dazu sind auch Bilder als äußerst flexible Werkzeuge verstanden worden (Horak 2006; Seja 2009, S. 114), die ebenso wie Sprache eine Vielzahl von Funktionen haben können (Doelker 2001). Platons Metapher des Werkzeugs (gr. ὄργανoν, organon) ist auch für Karl Bühler der Ausgangspunkt für sein 1934 publiziertes Organon-Modell, das Ausdruck, Appell und Darstellung als drei Leistungen von Zeichen herausstellt, die als Funktionen in konkreten Kommunikationssituationen immer vorhanden sind (Bühler 1999). Das Organon-Modell wurde nicht nur in der Semiotik aufgegriffen und erweitert (Jakobson 1960), sondern auch in soziologischen Theorien rezipiert (prominent z. B. von Habermas 1981, S. 372).

3.1

Handlungstheoretische Ausgangspunkte

Am Anfang einer handlungstheoretisch begründeten Auffassung von Kommunikation steht keine Zeichendefinition, „sondern die Frage, welche Rolle Texte, Bilder und Töne als Mittel der Verständigung spielen. Der Gebrauch der unterschiedlichen Kommunikationsmittel wird aus funktionaler Perspektive als kommunikatives Handeln beschrieben (z. B. als Berichten, Beschreiben, Erzählen, Kommentieren usw.)“ (Muckenhaupt 1999, S. 28). Bereits früh wurde dabei reflektiert, dass auch die Herstellung und das Zeigen von Bildern Teil dieses sozialen Handelns ist (Gombrich 1984, S. 135–158; Muckenhaupt 1986, S. 156–202; Novitz 1977). Im größeren wissenschaftlichen Umfeld lässt sich eine Orientierung am sozialen Handeln bei unterschiedlichen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen ausmachen, die am Begriff der Handlung ansetzen, um menschliche Aktivitäten in Gesellschaft und Kultur verstehen zu können. Als Teilbereich der Philosophie befassen sich Handlungstheorien mit der Frage, was Handlungen sind, wie sie sich beschreiben und erklären lassen (Janich 2014). In der Soziologie gilt die Grundannahme, dass soziale Wirklichkeit erst durch menschliches Handeln hervorgebracht wird. Beschreibungen, Modelle und Theorien des Handelns sowie die Frage, wie

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D. Pfurtscheller

soziales Handeln als wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln von Individuen mit größeren gesellschaftlichen Strukturen zusammenhängt, gehören daher zum Kern soziologischer Theorien (Balog und Gabriel 1988; Bonss et al. 2013; Etzrodt 2003; Hollis 1996; Horn und Löhrer 2010; Lüdtke und Matsuzaki 2011; Miebach 2006; Straub und Jürgen 1999). In der Kommunikations- und Medienwissenschaft hat die Perspektive des sozialen Handelns ebenso von Beginn eine Rolle gespielt, vor allem im Bereich der Mediennutzungsforschung (Renckstorf et al. 2004). Theorien des kommunikativen Handelns wurden aber auch explizit für Bereiche visueller Kommunikation entworfen (z. B. Renner 2007). Handlungsorientierte Ansätze, die auch die spezifischen Bedingungen von Medienkommunikation berücksichtigen und damit für die Visuelle Kommunikationsforschung anschlussfähig sind, bilden eine verstreute und lose Theoriefamilie, die einige gemeinsame Grundannahmen teilen (Pfurtscheller 2017, S. 87–90). Eine kompakte Überblicksdarstellung der handlungstheoretischen Grundlagen im Bereich der Medienwissenschaft bieten Muckenhaupt (1999) und Bucher (2004, S. 269–275). Eine Gemeinsamkeit von handlungsorientierten Zugängen ist, dass sie von konkreten Kommunikationssituationen ausgehen. Dabei interessiert man sich weniger für die Absichten oder Einstellungen der Akteure, sondern versucht die Dynamik visueller Kommunikation zu rekonstruieren, indem man den kontextsensitiven Gebrauch von Fotografien, Texten, Animationen etc. untersucht. Eine derart kommunikativ verstandene Handlungstheorie kann als Ergänzung zur systemtheoretischen und konstruktivistischen Ansätzen gesehen werden (Bucher 2004, S. 284). Dass dabei Kommunikation und Verstehen als dynamischer Prozess konzipiert wird, macht handlungstheoretische Konzeptionen unverträglich mit naiven Transportmodellen von „Bedeutung“. Statische Vorstellungen von Medienkommunikation als „Ansammlung quantitativ messbarer Informationseinheiten“ (Bucher 2004, S. 285) werden ebenso abgelehnt wie kausale Modelle der Medienwirkung. Das gilt insbesondere für visuelle Kommunikation: „Bedeutung ist im Bild [. . .] nicht wie Wasser im Eimer“ (Fellmann 1998, S. 91). Die inhaltsanalytische Erfassung der Bedeutungsebene von Bildern mit standardisierten Mitteln (Geise und Rössler 2012, S. 357) gilt daher als problematisch. Charakteristisch ist zudem ein integratives Vorgehen (Bucher 2004, S. 285), das durch eine Handlungsorientierung erleichtert wird. Kommunikationsdynamische Analysen versuchen die traditionell getrennten Bereiche Medienproduktion, Medienprodukte und Medienrezeption aufeinander zu beziehen, indem beispielsweise die Zusammenhänge zwischen materiellen Rahmenbedingungen visueller Gestaltung und Form und Funktion multimodaler Medienangebote (Pfurtscheller 2017) oder zwischen den multimodalen Beiträgen und ihrer Rezeption (Bucher und Schumacher 2012) zum Gegenstand der Analyse gemacht werden.

3.2

Bildhandlungen, Bildakte, Bildspiele

Eine ausgebaute Handlungstheorie der visuellen Kommunikation, die über Einzeluntersuchungen hinausgeht, liegt noch nicht vor. Bildhandlungstheorien wurden mit

Bilder zwischen Zeichen, Handlungen und Praktiken

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unterschiedlichen theoretischen Ausrichtungen entwickelt. Eine Bestandsaufnahme aus einer bildphilosophischen Perspektive bietet Seja (2009). Für viele Ansätze sind sprachphilosophische Arbeiten wichtige Bezugspunkte. Zum einen ist die Sprechhandlungstheorie zu nennen, die auf Austin (1962) zurückgeht und von seinem Schüler Searle (1969) modifiziert wurde. Grundidee dabei ist, dass man mit Reden nicht nur Sachverhalte beschreiben oder Behauptungen aufstellen, sondern auch Handlungen (Sprechakte) vollziehen kann, die Konsequenzen in der (sozialen) Wirklichkeit haben. Mit der Konzeption von „Bildakten“ oder „piktoralen Sprechakten“ (Stöckl 2004, S. 54) knüpfen handlungsorientierte Ansätze der philosophischen Bildtheorie (Kjørup 1974, 1978; Stoellger 2011) und der kommunikationsorientierten Linguistik (Klemm 2011; Schmitz 2007) an diese Überlegungen an. Eng damit verwandt ist der Ansatz der „Bildspiele“ (Scholz 2011): Damit wird das Konzept des Sprachspiels von Ludwig Wittgenstein aufgegriffen, der sich insbesondere in seiner späten Sozialphilosophie intensiv mit der Thematik der Bildlichkeit beschäftigt hat (Hölscher 1998; Nyíri 2011). Sprachspiele sind, wie andere Spiele auch, sozial geteilte Praktiken, in der kommunikative und anderer Tätigkeiten verwoben sind. Sprachspiele werden als offene Praktiken konzipiert, die erweiterbar sind und wie anderen kulturelle Praktiken erlernt werden (Schneider 2011, S. 49–50). Die gegenwärtig diskutierten Praktikenansätze teilen diese Grundannahmen und stehen in dieser Hinsicht in der Tradition Wittgensteins (Schatzki 1996). Mit einer ganz anderen Bedeutung ist in kunstwissenschaftlichen Ansätzen von „Bildakt“ die Rede, wenn Bildern selbst eine aktive Rolle im Kommunikationsprozess zugesprochen wird. Bredekamp (2010, S. 52) bezieht den Begriff Bildakt auf die Wirkung, „die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht“. Bilder werden als Handelnde in einem Aktionszusammenhang verstanden. Aus kunsttheoretischer Sicht betont Boehm (2008) das bedeutungsstiftende Prinzip des Zeigens, das den Bildern „innewohnt“. Aus performativer Sicht spricht Krämer (2011) von „Blickakt“ und auch Mitchell (2008, S. 66) sieht Bilder zumindest als „quasi-Akteure“.

3.3

Bild, Bildverwendung und Bildverstehen

Abschließend soll in diesem Abschnitt noch genauer auf eine wichtige Unterscheidung der handlungsorientierten Bildanalyse eingegangen werden: die Differenzierung zwischen Bild und kommunikativer Verwendung, dem Bildgebrauch. Diese Unterscheidung lässt sich anhand eines berühmten Beispiels von Wittgenstein illustrieren (Muckenhaupt 1986, S. 158; Nöth 2016, S. 149), der in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ folgendes bemerkt: „Denken wir uns ein Bild, einen Boxer in bestimmter Kampfstellung darstellend. Dieses Bild kann nun dazu gebraucht werden, um jemand mitzuteilen, wie er stehen, sich halten soll; oder, wie er sich nicht halten soll; oder, wie ein bestimmter Mann dort und dort gestanden hat; oder etc. etc.“ (Wittgenstein 2001, S. 757–758).

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Das Beispiel macht deutlich, dass man ein und dasselbe Bild bei verschiedenen Gelegenheiten auf unterschiedliche Weise kommunikativ verwenden kann. Ausgehend von dieser Einsicht hat Manfred Muckenhaupt darauf hingewiesen, dass bei den Verwendungsmöglichkeiten des Boxer-Bildes nur von unterschiedlichen Mitteilungshandlungen die Rede ist: Wittgenstein zählt auf, was man mit dem Boxer-Bild alles mitteilen kann. „Bei diesen Verwendungsmöglichkeiten des Bildes bleibt die Handlungsform des Mitteilens konstant. Was sich ändert, ist der Inhalt der Mitteilungen.“ (Muckenhaupt 1986, S. 159). Muckenhaupt erweitert nun das Beispiel vom BoxerBild, indem er nicht nur die propositionalen Inhalte, sondern auch die Handlungsformen variiert: Neben dem Mitteilen wären auch andere Handlungsmöglichkeiten denkbar, beispielsweise kann man mit dem Boxer-Bild für eine Box-Veranstaltung werben oder vor den Gefahren dieses Sports warnen. Im Rahmen (konstruierter) Beispiele ließen sich so eine Reihe unterschiedlicher Typen von Handlungsmöglichkeiten aufzählen, die mit einem Bild vollzogen werden können (Scholz 2011, S. 373). Für Muckenhaupt (1986, S. 162) zeigt gerade die Möglichkeit einer solchen Konstruktion, dass der Gebrauch des Bildes nicht aus dem Bild selbst hervorgeht. Die Nicht-Eindeutigkeit zwischen Bild und Bildverwendung betrifft nicht nur die erweiterten Handlungsformen, die mit Bildern vollzogen werden können (also das Werben, Belegen, Warnen etc.), sondern auch die grundlegende Handlungsform des Zeigens selbst. „Was zeigt das Bild des Boxers? Lädt es zu einem Wettkampf ein, wirbt es für den Verkauf der Eintrittskarten? Oder fordert es uns auf, den Namen des Sportlers zu erraten? Das Bild selbst kann dies oder jenes nur unbestimmt suggerieren“ (Nöth 2016, S. 209). Umgekehrt folgt aus dem offenen Zusammenhang zwischen Bild und Bildgebrauch aber nicht, dass ein Bild völlig beliebig verwendbar wäre. Der Spielraum der Verwendungsmöglichkeiten ist vielmehr an die spezifischen Eigenschaften des Bildes und der Handlungsform sowie an die situativen Bedingungen der Kommunikationssituation geknüpft (Muckenhaupt 1986, S. 172). An dieser Stelle ist es wichtig, eine weitere terminologische Unterscheidung zu erwähnen: In Bildhandlungstheorien wird zwischen einem Herstellungs- und Verwendungszusammenhang unterschieden (Scholz 2004, S. 154; Seja 2009, S. 52). Traditionell verläuft bei Bildkommunikation Herstellung, Verwendung und Verstehen in der Regel zeitlich und räumlich getrennt (Scholz 2011, S. 372), worin man eine Parallele zur Schriftsprache sehen kann (Schneider 2011, S. 61). Im Fall von visueller Ad-hoc-Kommunikation (z. B. im Rahmen eines live geführten SkypeGesprächs) besteht ein enger Zusammenhang zwischen Bildherstellung und Bildverwendung: Die Person, die das Bild hergestellt, ist identisch mit der Person, die das Bild in einer Kommunikation ins Spiel bringt, und der Herstellungszweck entspricht dem Bildgebrauch. In vielen anderen Fällen der Bildherstellung und Bildverwendung müssen diese Identitäten aber nicht gelten: Ein Bild kann losgelöst vom Herstellungszusammenhang von anderen Personen als dem Hersteller oder der Herstellerin des Bildes als Mittel der Kommunikation verwendet werden (Muckenhaupt 1986, S. 179–180). Mit einem Bild lässt sich etwas anderes zeigen als das, was ursprünglich intendiert wurde. Die Eigenschaften des Bildes bestimmen zwar den möglichen Verwendungsspielraum, nicht aber den Gebrauch (siehe auch den Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band).

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Für die Frage des Bildverstehens ist daher die Bildverwendung zentral (Scholz 2011, S. 372). Die kommunikativen Handlungen zu erkennen, die mit Bildern vollzogen werden, ist ein wichtiger Schritt um zu verstehen, wie Bilder gemeint sind: „Ein Bild verstehen bedeutet deshalb nicht nur zu verstehen, was das Bild zeigt, sondern auch, was mit dem Bild gezeigt werden soll.“ (Bucher 2011, S. 149) Beim Bildverstehen kann man auf verschiedene Hinweise zurückgreifen, die sich aus dem Verwendungszusammenhang rekonstruieren lassen. Muckenhaupt (1986, S. 162–163) nennt als verstehensleitende Indizien den sprachlichen Kontext des Bildes, die Situation, in der das Bild verwendet wird, die Kenntnis gängiger Verwendungsweisen und der Vor- und Nachgeschichte eines Bildes sowie andere Hinweise auf der multimodalen Ebene (z. B. bildbegleitende Musik oder Geräusche).

4

Bilder und soziale Praktiken

Im vorangegangenen Abschnitt wurde erwähnt, dass hinter der Übertragung von Wittgensteins Sprachspielkonzeption auf Bilder die Annahme steht, dass Bilder in weitläufige kulturelle Zusammenhänge und soziale Praktiken eingebettet sind (Scholz 2011, S. 365). Hier darf man sich fragen, was mit „soziale Praktiken“ konkret gemeint ist, und wodurch sie sich von anderen „sozialen Handlungen“ unterscheiden – zumal von Praktiken zu reden gegenwärtig in vielen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen selbst zu einer gern gepflegten Praxis geworden ist: „Dabei wird nicht immer deutlich, inwiefern die in Mode gekommenen Begriffe von Performanz und Performativität, Praxen und Praktiken synonym zu anderen Handlungsbegriffen gehen, oder ob damit weitergreifende Annahmen zur Konstitution sozialer Ordnung einhergehen.“ (Pentzold 2016, S. 22) Analog zum Diskursbegriff kann man sich daher fragen, wie sich der heuristisch reizvolle, jedoch methodisch und theoretisch offene Praxisbegriff präziser fassen und für die Analysearbeit operationalisieren lässt. Die Visuelle Kommunikationsforschung kann dabei an die Diskussion praxistheoretischer Ansätze anschließen, die vor allem in der Soziologie breit geführt werden. Einführungen finden sich bei Schatzki (2001), Reckwitz (2003), Rouse (2007), Nicolini (2012) und Hillebrandt (2014). Ein Zwischenstand der Theoriebildung ist in Schäfer (2016) dokumentiert. Über mikrosoziologische Grundlagen der Praxistheorie informiert Hirschauer (2016). Folgende Kurzdarstellung stützt sich auf die von Deppermann et al. (2016) ausgearbeitete Überblicksdarstellung. Hinter dem „practice turn“ (Schatzki et al. 2001) steht die Idee, soziale und kulturelle Phänomene ausgehend von körperlich ausgeführten Praktiken zu verstehen; auf Bilder bezogen also als etwas, das im Alltag mit Bildern gemacht wird: ein „doing images“ (Burri 2008b). Im Zentrum dieser häufig ethnografisch angelegten Arbeiten steht die Frage nach der Herstellung, Interpretation und Verwendung von Bildern sowie nach der Bedeutung, die Bilder in alltäglichen und institutionellen Zusammenhängen haben. Die Ausrichtung an sozialen Praktiken hat ihre Wurzeln in verschiedenen Traditionen (Reckwitz 2003, S. 282–284). Wichtige Anstöße für die

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Praxistheorie lieferten unter anderem die Überlegungen von Bourdieu (2009), der Praktiken auf die Frage bezieht, wie soziale Konventionen sich in den habituellen Dispositionen der Menschen verfestigen, aber auch die Sozialphilosophie in Wittgensteins Spätwerk (Wittgenstein 2001), die Ethnomethodologie im Anschluss an die Arbeiten von Garfinkel (1967) und Arbeiten im Rahmen des Poststrukturalismus (z. B. Foucault 1981) wurden in unterschiedlichem Ausmaß rezipiert.

4.1

Grundelemente von praxistheoretischen Zugängen

Man kann den Praktikenansatz als eine Theoriefamilie verstehen, deren Mitglieder einige Grundelemente teilen (Reckwitz 2003). Auf diesem Weg lassen sich „Bestimmungsstücke“ (Deppermann et al. 2016, S. 3–11) differenzieren, die das Konzept der Praktiken kennzeichnen und gleichzeitig auch als Kriterien für die Beschreibung einzelner kommunikativer Praktiken nutzbar sind. Ein Grundelement ist die Materialität der Praktiken (Reckwitz 2003, S. 290): Praxistheoretische Ansätze untersuchen kommunikative Aktivitäten in ihren beobachtbaren, konkreten Formen als „bodily doings and sayings“ (Schatzki 2001, S. 56). Damit rücken Körper als „semiotische Anzeigetafeln“ (Deppermann et al. 2016, S. 4), räumliche Konstellationen und die kommunikative Verwendung von Objekten (Streeck 1996) ins Zentrum der Betrachtung. Eine wichtige Rolle spielen die technischen und medialen Rahmenbedingungen, die objektbezogene Praktiken ermöglichen oder einschränken und dabei festlegen, welche modalen Ressourcen genutzt werden können (Pfurtscheller 2016). Praktiken sind immer an bestimmte Akteure gebunden, die in einem „participation framework“ (Goffman 1981) mit spezifischen Rechten und sozialen Positionen ausgestattet sind. Ein Kennzeichen von Praktiken ist ihr Vollzugscharakter. Praktiken sind raumzeitlich und historisch gebunden. Dabei haben Praktiken auch einen sozialsymbolisch aufgeladenen Verweischarakter (Deppermann et al. 2016, S. 9). Die Realisierung einer bestimmten Praktik kann beispielsweise einen Beitrag zur Identität der Akteure oder zur sozialsemiotischen Prägung der Kommunikationssituation leisten und in bestimmten „visuellen Stilen“ (Meier 2014) manifest werden. Eine weitere Grundposition der Praxistheorie ist dabei die Annahme eines sogenannten impliziten Bewusstseins (Reckwitz 2003, S. 291): Für den Praktikenansatz ist eine Skepsis gegenüber rationaltheoretischen Überlegungen charakteristisch (Schulz-Schaeffer 2010). Im Fokus steht weniger die (vorgebliche) Intentionalität der Akteure, sondern deren implizites Wissen (Polanyi 1985), das Handeln in Aktivitätenbündeln anleitet und das als solches auch in Bildpraktiken rekonstruierbar wird. Dieser Idee folgt auch die dokumentarische Methode der Bildinterpretation (Bohnsack 2006). Das implizite, praktische Wissen und Können ist in einem hohen Maß domänenspezifisch konzipiert. Es wird in bestimmten Handlungsfeldern mobilisiert und ist bezogen auf lokale Gruppen, die als „communities of practice“ (Lave und Wenger 1991) spezifische Routinen etabliert haben. In dieser Routinisierung und Musterbildung liegt auch für die Visuelle Kommunikationsforschung ein wichtiger Ansatzpunkt zur Untersuchung von Bildpraktiken, beispielsweise wenn es

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darum geht, Bildtypen in der Bildberichterstattung zu bestimmen (Grittmann und Ammann 2009, siehe dazu auch den Beitrag von Grittmann zu journalistischen Bildern in diesem Band) oder alltägliche Bildpraktiken auf Social-Media-Sites zu untersuchen (Autenrieth 2014; Reißmann 2014).

4.2

Bezugsebenen des Praktikenansatzes: visuelle Aktivitäten, Handlungen, Handlungsfelder

Der Praktikenansatz ist ein integrativer und zum Teil auch eklektischer Zugang. Dabei ist nicht immer deutlich, wodurch sich einzelne Begriffe wie Aktivitäten, Handlungen und Praktiken voneinander unterscheiden und in welchem analytischen Verhältnis sie zueinanderstehen. Eine Möglichkeit ist, Bildhandlungen als Aktivitätenbündel zu verstehen, deren Vollzug visuelle Praktiken konstituiert bzw. in Praktiken eingebunden ist. Um für die Analyse visueller Kommunikation wirklich brauchbar zu sein, wird man aber nicht umhinkommen, die Terminologie im Einzelfall klarzustellen. Dabei kann eine erste Orientierung helfen, die verschiedene Bezugsebenen des Praktikenbegriffs unterscheidet. Das Konzept der Praktiken lässt sich auf mindestens drei unterschiedliche Betrachtungsebenen beziehen (Deppermann et al. 2016, S. 11–13), die auch als Kontexte Visueller Kommunikationsforschung relevant sind: Ein superstrukturell verstandener Praktikenbegriff ist weit gefasst und bezieht sich auf ganze Handlungsfelder oder „Praxisformationen“ (Hillebrandt 2014, S. 103–109). Zu denken ist hier auch an das Habitus-Konzept von Bourdieu oder das LebensformKonzept von Wittgenstein, an das sowohl Schatzki (1996) anschließt, das aber auch Scholz (2004) im Rahmen seiner gebrauchsorientierten Bildtheorie aufgreift: „Bilder sind in Bildspiele, Bildspiele in Lebensformen eingebettet.“ (Scholz 2004, S. 158). In diesem großen Verständnis sind visuelle Praktiken eng an handlungsleitenden Wertvorstellungen und Ideologien geknüpft. Es gibt dabei eine Nähe zu diskursanalytischen Ansätzen, die auch mit dem Praktiken-Begriff operieren, wie etwa der NexusAnsatz (Scollon 2001; Scollon und Scollon 2004). In einem makrostrukturellen Kontext beziehen sich Praktiken auf kommunikative Großformen, die je nach Theorietradition begrifflich als Genres (Bakhtin 1986) oder auf handlungstheoretischer Grundlage als „kommunikative Gattungen“ (Günthner und Knoblauch 1994; Luckmann 1986) gefasst werden. Soziale Praktiken in diesem Sinn basieren auf emergenten, im Vollzug entstehenden Ordnungen und Ethnokategorien und bestehen aus mehreren Handlungszügen. Einzelne Bildhandlungen gewinnen ihren Sinn aus den sozialen Praktiken, in die sie eingebettet sind. Für die Visuelle Kommunikationsforschung ist diese mittlere Bezugsebene des Praktikenbegriffs beispielsweise besonders relevant, wenn es um die Verwendung von Bildern als materielle „Dinge“ geht (Lobinger 2015, S. 477; Pfurtscheller 2016, S. 40). Im mikrostrukturellen Bereich wird der Praktikenbegriff auf semiotische Ressourcen bezogen, die für sich noch keine Handlungen oder Praktiken sind, sondern Teil von Handlungen. Praktiken sind hier weniger als Gegenentwurf des Handlungsbegriffs zu sehen, sondern als Teil der „Infrastruktur des Handelns, auf der erst

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bewusste Handlungsintentionen aufsetzen können und die zur situierten Realisierung des Handelns in konkreter Gestalt notwendig sind“ (Deppermann et al. 2016, S. 13). Auf dieser Bezugsebene des Praktikenbegriffs sind für die Visuelle Kommunikationsforschung beispielsweise Fragen danach relevant, wie die Affordanzen mobiler Foto-Sharing-Apps wie Instagram und Snapchat bildbezogene Aktivitäten der visuellen (Um-)Gestaltung und Verfremdung von Bildern ermöglichen und anleiten und damit Bildhandeln (sowie in weiterer Folge visuelle Praktiken) bedingen und vorstrukturieren (Schreiber 2018).

4.3

Formen visueller Praktiken

Neben der Differenzierung unterschiedlicher Dimensionen lassen sich auch verschieden Formen visueller Praktiken unterscheiden, die visuelle Praktiken bezogen auf ganze Handlungsfelder, Bildhandlungen oder einzelne bildbezogene Aktivitäten ausmachen. Katharina Lobinger hat zuletzt darauf hingewiesen, „dass die Kommunikation mit Bildern nur ein Bereich aus der breiten Palette von im Rahmen der Alltagskommunikation bedeutsamen visuellen Praktiken ist.“ (Lobinger 2015, S. 52) Im Rahmen eines systematischen Überblicks unterscheidet sie nicht weiter zwischen Bildhandlungen und Bildpraktiken, sondern differenziert unterschiedliche Formen, wie mit Bildern im Rahmen bildbezogener Praktiken umgegangen werden kann (Lobinger 2015, S. 43–51, 2016, S. 479–482): Eine erste Gruppe umfasst objektbezogene und prä-kommunikative Bildhandlungen. Damit sind „instrumentelle Tätigkeiten am Bild“ (Reißmann 2015, S. 59) gemeint, die beispielsweise das Sammeln, Verwalten, Kategorisieren, Taggen von Bildern (photo work) ebenso wie betreffen wie das Zerstören oder Verfremden von Bildern. Eine zweite Gruppe bilden Praktiken, die im Zusammenhang mit der Weitergabe sowie dem Vorzeigen von Bildern stehen und damit gewissermaßen Voraussetzung für eine anschließende Bildkommunikation schaffen. Formen von Bildhandlungen beziehen sich auf das Teilen von Bildern (photo sharing, siehe den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band), mit den Bilder ins Spiel gebracht und für bildbezogene Anschlusskommunikation freigegeben werden. Neben der Kommunikation mit Bildern lassen sich Bildpraktiken beobachten, bei denen Bilder zum Gegenstand der Kommunikation gemacht werden. In dieser Gruppe bildbezogener Kommunikationspraktiken ist das Sprechen über Bilder der Bezugspunkt. Bilder können in Gesprächen gezeigt und als kommunikative Ressourcen in Alltagserzählungen genutzt werden. (Sprachliche) Kommunikation über Bilder hat dabei häufig den Charakter von Anschlusskommunikation.

5

Fallbeispiel: Alltägliche Bildpraktiken im Handlungsfeld Twitter

Die skizzierte handlungsorientierte Betrachtung visueller Kommunikation soll in diesem Abschnitt exemplarisch anhand alltäglicher Bildpraktiken im Handlungsfeld der Social-Media-Plattform Twitter veranschaulicht werden. Ziel ist es, an einem

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Beispiel aufzuzeigen, wie mit Bildern im Rahmen der Social-Media-Interaktion umgegangen wird und inwiefern Bildhandlungen durch technische Rahmenbedingungen vorstrukturiert werden. Der ausgewählte Tweet stammt vom Account @DrOetkerPizzaDE, der von dem Social-Media-Team von Dr. Oetker betrieben wird – einem deutschen Unternehmen, das unter anderem für Tiefkühlprodukte bekannt ist und Twitter in erster Linie im Rahmen des Marketing nutzt. Die Präsentation der Analyse erfolgt in zwei Schritten: Zuerst geht es bei der handlungsbezogenen Betrachtung des Tweet-Beitrags um die Bestimmung von funktionalen und thematischen Einheiten. Anschließend wird auf die Anschlusskommunikation in den Kommentaren fokussiert. Der Tweet wurde am 8. März 2018 veröffentlicht, dem internationalen Weltfrauentag (Abb. 1). Dieser größere Diskurszusammenhang, der für das Verstehen des einzelnen Tweet-Beitrags (und der Anschlusskommunikation) grundlegend ist, wird explizit durch die Verwendung eines Hashtags rekonstruierbar gemacht. Der Tweet (und das eingebundene Bild) wird durch Hashtag-Verwendung gleichzeitig in den Twitter-Diskurs eingebunden und auffindbar gemacht. An dieser Stelle wäre im Rahmen einer handlungsorientierten Analyse genauer auf die kommunikativen Möglichkeiten und Rahmenbedingungen einzugehen. Im Abb. 1 Tweet von @DrOetkerPizzaDE: „Auch beim Essen spielt die Gleichberechtigung eine wichtige Rolle. #Welfrauentag“. (Quelle: https://twitter.com/ DrOetkerPizzaDE/status/ 971752766472376325. Zugegriffen am 26.03.2018, 17:33)

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Handlungsfeld von Social Media werden die Möglichkeiten, (kommunikativ) zu handeln, durch das Design der Plattformen vorgeben. Zu den Affordanzen (Ermöglichungen) von Twitter gehört beispielswiese die Möglichkeit, öffentliche Textbeiträge (tweets) zu verfassen (seit 2017 dürfen 240 Zeichen verwendet werden, davor waren es 140 Zeichen), auf Tweets zu antworten (reply) oder diese mit einem Herz zu markieren (like). Nicht alle Aktivitäten der NutzerInnen sind in gleichem Maße im Design der Plattform berücksichtigt bzw. durch Gestaltung angeleitet. So war die Verwendung von Hashtags auf Twitter zu Beginn eine Praktik der NutzerInnen, die aus anderen Bereichen der Internetkommunikation übernommen und erst später von Twitter in die Plattformlogik integriert wurde (z. B. durch hashtagbezogene Verlinkung und Suchmöglichkeiten). Diese allgemeinen Möglichkeiten auf der Ebene der Plattform strukturieren und regeln auch die (visuellen) Praktiken in den Beiträgen. Im vorliegenden Fall besteht der Tweet neben dem Text aus einer eingebundenen Bilddatei. Im Detail lassen sich unterschiedliche sprachliche und bildbezogene Handlungen identifizieren. Die dafür verwendeten semiotischen Ressourcen bzw. Zeichentypen kann man genauer beschreiben und klassifizieren (lexikalische und grammatikalische Mittel ebenso wie Aspekte der Farbgestaltung, Komposition und des visuellen Designs etc.). Aus handlungsorientierter Sicht geht es aber hauptsächlich um die pragmatische Dimension, die situierte Verwendung der semiotischen Ressourcen: Der Zusammenhang zwischen Bild und dem Diskurszusammenhang Weltfrauentag wird im eröffnenden (und einzigen) Satz des Tweets hergestellt. Die thematische Angabe (beim Essen) wird durch die Verwendung des Pizza-Bildes aufgegriffen und konkretisiert (beim Pizzaessen). Die initiale Verwendung von auch ist dabei ein Hinweis auf eine Nebenordnung dieses Themas im übergeordneten Diskurs. Der im Text angesprochenen Gleichberechtigung entspricht einerseits die gerechte visuelle Aufteilung der Pizza (und des Holzhintergrundes) in zwei gleich große Hälften durch die weiße Linie, andererseits die sichtbare Tatsache, dass die mit den Schriftelementen Frauenpizza (links) und Männerpizza (rechts) beschrifteten Hälften Teil derselben Pizza sind. Angezeigt wird dieser „statistische“ Verteilungszusammenhang auch durch die stilisierte Darstellung der Pizza außerhalb einer realistischen Verzehrsituation, d. h. ohne Teller, Besteck etc. Kurz gesagt wird im Kontext von Weltfrauentag und Gleichberechtigung mit dem multimodalen Arrangement des Bildes die gerechte Aufteilung einer Pizza zwischen Mann und Frau gezeigt, um für eine Tiefkühlpizza zu werben. An diesen Tweet wird in der Anschlusskommunikation der Kommentare auf sehr unterschiedliche Weise angeknüpft, beispielsweise indem der Werbeaspekt kritisiert wird („Ach Gott. Bleibt doch bei euren Scheiß Pizzas. Unternehmen, die solche Themen aufgreifen, um lediglich ein besseres Image zu bekommen, ist ätzend“). Es gibt aber auch Kommentare anderer Art. Unabhängig von dem Diskurszusammenhang Weltfrauentag wird mit der Verwendung des Pizzabildes ein Exemplar einer Pizza gezeigt. Dass diese Art der Bildverwendung kommunikativ anschlussfähig ist, wird in Kommentaren deutlich, die nach der Pizzasorte fragen („Welches Model ist das? Habe es noch nie gesehen.“), was den Werbetreibenden im nächsten Schritt dankbarerweise die Möglichkeit bietet, das Produkt namentlich zu bewerben („Ristorante Salame Mo-

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zarella [sic] Pesto. Gutes Gerät“). Neben bildbezogenen Kommentaren finden sich auch mehrere Kommentare mit Bildern, die in Abb. 2 in einer Übersicht dargestellt werden. Im Rahmen dieser Kommunikationsverläufe ließen sich die (bildbezogenen) Kommentare aus handlungsorientierter Sicht genauer als Formen des Nachfragens, Einhakens, Kritisierens, Scherzens etc. beschreiben. Für die Visuelle Kommunikationsforschung ist dabei die Verwendung sogenannter Reaction GIFs ein interessantes Phänomen: Diese Animationen bestehen aus kurzen Bewegbildschleifen (ohne Ton), die als semiotische Ressourcen genutzt werden können, um eine bestimmte (emotionale) Reaktion auf eine Situation zu vermitteln oder einen Kommentar zu veranschaulichen. Häufig sind in den Bildern bewegte Körper zu sehen, die aus popkulturellen Zusammenhängen entnommen sind. Im vorliegenden Fall reagiert beispielsweise in (c) der ursprüngliche Poster @DrOetkerPizAbb. 2 Übersicht über die Anschlusskommunikation unter dem Tweet von @DrOetkerPizzaDE. Eingezeichnet sind die Verwendung von Reaction GIFs (a-d) und Ad-HocModifikationen des Ausgangsbildes (e-g)

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zaDE auf einen (tendenziell sexistischen) Kommentar mit einem bekannten Meme, das Patrick Stewart als Star-Trek-Captain Jean-Luc Picard dabei zeigt, wie er die Facepalm-Geste ausführt (eine nonverbale Geste, bei der eine Hand Teile des Gesichts verdeckt und die Ärger, Fassungslosigkeit und „Fremdschämen“ über das Verhalten einer anderen Person ausdrückt). Auch an dieser Stelle wird die Bedeutung medialer Rahmenbedingungen für visuelle Praktiken deutlich: Durch die Integration einer eigenen GIF-Suchmaschine (giphy.com) in das User-Interface von Twitter wird eine leichte und komfortable Nutzung von GIFs ermöglicht. Gleichzeitig wird die GIF-Kommunikation durch Vorschläge typischer Reaktion-Formen von Interfaceseite vorstrukturiert, was man als einen Schritt in Richtung einer „Lexikalisierung“ bildbasierter Reaktionsformen werten könnte. Im konkreten Fall knüpfen mehrere Kommentare an die visuelle Inszenierung einer fairen Aufteilung der Pizza an, indem sie die sichtbaren Pizzabestandteile einer genauen Prüfung der visuellen „Gleichverteilung“ unterziehen („Die eine Seite hat ganz klar mehr Käse als die andere!“, „Sexismus! Da ist ganz klar zu wenig Tomate auf der Frauenpizza!!!“ etc.). Innerhalb dieses Bildspiels können Twitter-User auch die Affordanzen digitaler Bilder nutzen und Bildbearbeitungen vornehmen. Insgesamt finden sich im Material drei Beispiele, in denen das ursprüngliche Pizzabild verändert und in abgewandelter Formen in Antwort-Tweets verwendet wird. Diese bildbezogenen Bildveränderungen greifen Affordanzen des veröffentlichen Werbebildes auf und nutzen diese Ressourcen für eigene kommunikative Züge. Auf diese bildorientierten Kommentare, die der fairen Verteilung des Ursprungsbilds widersprechen, folgen weitere Kommentare, in denen beispielsweise der Aspekt der Modalität (ernst gemeint oder nicht?) thematisiert werden. Die Untersuchung dieser Interaktionsverläufe wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Zusammenfassend konnten im Kontext dieses Beispiels eine Reihe von bildbezogenen Handlungen identifiziert werden. Auf der Makroebene sind alle im Abschn. 4.3 erwähnten Formen visueller Praktiken beobachtbar: Dazu zählen Handlungen am Bild (die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Bearbeitung und Verfremdung des Pizza-Bildes sowie Verfahren der Verschlagwortung über Hashtags) sowie Praktiken des Vorzeigens und Teilens von Bildern. Zum einen werden Bilder dabei als Mittel der Kommunikation genutzt (das Pizza-Bild, seine Verfremdungen ebenso wie die GIF-Animationen), um bestimmte Dinge zu tun (zu werben, zu kritisieren, zu provozieren, wortlos/gestisch zu reagieren etc.). Bilder werden zum anderen auch Gegenstand von Anschlusskommunikation (und z. B. genauer hinsichtlich der gerechten Verteilung von Käse und Salami untersucht). Auf Mikroebene werden für diese Handlungen unterschiedliche semiotische Ressourcen genutzt, die im Rahmen dieser Beispielanalyse nur gestreift werden konnten. Eine handlungsorientierte Visuelle Kommunikationsforschung steht vor der lohnenswerten Aufgabe, diese visuellen und bildbezogenen Praktiken im Handlungsvollzug zu rekonstruieren: eingebunden in größere lebensweltliche und technologische Zusammenhänge, bestehend aus mehreren Handlungszügen und mit der multimodalen Verschränkung unterschiedlicher semiotische Ressourcen.

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Fazit

Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Frage, wie sich die Visuelle Kommunikationsforschung dem alltäglichen „Umgang mit Bildern“ nähern kann. Bei der Betrachtung von Bildern zwischen Zeichenverwendung (Abschn. 2), kommunikativem Handeln (Abschn. 3) und sozialer Praktiken (Abschn. 4) wurden theoretische Grundelemente, Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten erörtert. Dabei wurde deutlich, dass der Praktikenansatz ein vielversprechendes und flexibles Paradigma ist, mit dem sich handlungsorientierte Zugänge auf verschiedenen Betrachtungsebenen integrieren lassen. Es hat sich aber auch gezeigt, dass die Visuelle Kommunikationsforschung in Zukunft noch mehr gefordert ist, an der Trennschärfe der Begrifflichkeiten zu arbeiten, um die Bilder zwischen Aktivitäten, Handlungen und Praktiken nicht aus dem Blick zu verlieren. Mit der exemplarischen Betrachtung eines Fallbeispiels wurde abschließend versucht, die Anwendbarkeit einer handlungsorientierten Betrachtung exemplarisch zu verdeutlichen (Abschn. 5). Die Rekonstruktion der vorzufindenden Strukturmuster in der Social-Media-Interaktion konnte ansatzweise zeigen, wie vielfältig (und einfach) Bilder auf Twitter hergestellt, verwendet und verstanden werden und wie Text, Bild und Design dabei zusammenspielen. Viele Aspekte dieser bildbezogenen Praktiken erfordern eine multimodale Perspektive, um die funktionale Verwendung unterschiedlicher semiotischer Ressourcen und Handlungsoptionen, die Technologien und Plattformen möglich machen bzw. begrenzen, berücksichtigen zu können. Eine handlungsbezogene Perspektive kann helfen, dieses Zusammenspiel im Rahmen Visueller Kommunikationsforschung analytisch zu fassen und zu untersuchen.

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Digitalisierung, Mediatisierung und die vielen offenen Fragen nach dem Wandel visueller Alltagskultur Wolfgang Reißmann

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Digitalisierung und Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Plastizität digitaler Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Medienökologische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ästhetik digitaler Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Digitale Visualität und Aisthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Eine zentrale Rahmenbedingung gegenwärtiger visueller Kultur ist zweifelsohne die Digitalisierung. Angesichts des Stellenwerts von Bildlichkeit in nahezu allen Bereichen von Kultur und Gesellschaft liegt es nahe, von einem „visuellen Zeitalter“ zu sprechen. Vor diesem Hintergrund führt der Beitrag zunächst die Mediatisierungsperspektive ein, um einen realistischen Blick für Fragen von Kontinuität und Wandel bildlicher und bildbezogener Alltagskultur im Kontext von Digitalisierung zu entwickeln. Vorgestellt und erläutert werden im Anschluss ausgewählte Tendenzen und Forschungsfelder, die es weiter zu erschließen und zu kartografieren gilt. Schlüsselwörter

Mediatisierung · Digitalisierung · Remixkultur · Ästhetik · Aisthesis

W. Reißmann (*) DFG-Sonderforschungsbereich 1187 „Medien der Kooperation“, Projekt B07, Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_4

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W. Reißmann

Einleitung

Wir leben in einer Zeit, die in starkem Maße von Visualisierungen jeglicher Art geprägt ist. Nur folgerichtig beginnen Einführungen in Visual Culture, Visual Studies oder Visuelle Kommunikation häufig mit Aussagen wie diesen: Menschliche Erfahrung sei heute „more visual and visualized than ever before“ (Mirzoeff 1999, zit. nach Poster 2002, S. 67) und die moderne Welt „very much a ‚seen‘ phenomenon“ (Jenks 1995, S. 2). Solche Aussagen sind trügerisch, wenn sie plakativ und aus dem Kontext gerissen Pate dafür stehen sollen, dass Kulturtechniken z. B. des Sprechens und Schreibens an Relevanz verlieren – was zu beweisen wäre;1 und im Falle des Gelingens auch nicht „mehr“ hieße, als dass eine menschheitsgeschichtlich eher kurze Phase der Alphabetisierung im okzidentalen Kulturkreis zum Ende käme, was wiederum noch nichts über die Zukunft des mündlichen Wortes und neuer Hybride der Basismedien aussagt. Schon der touristische Blick in eine mittelalterliche Kathedrale verrät zudem, dass es bereits ganz andere „visuelle Zeitalter“ gegeben hat, in denen Menschen über das Bild belehrt wurden. Gänzlich in Schieflage gerät die Diagnose schließlich, wenn vergessen wird, dass visuelle Wahrnehmung und Orientierung zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehören und also alle Zeitalter ebenso visuell wie akustisch, olfaktorisch und taktil waren. In der ersten Ausgabe des Journal of Visual Culture stellt Poster (2002, S. 67) ähnliche Fragen und kontert die eingangs zitierte Aussage von Mirzoeff mit: „Does it mean that we use our eyes more than in the past? I think not.“ Zugleich sollten wir uns trotzdem für die gegenwärtige visuelle (Alltags-) Kultur und unser visuelles Zeitalter interessieren. Ein Unterschied zu früheren Epochen liegt in der enormen Bedeutung, die technische Bildmedien heute haben. Auch diese sekundäre Sensualisierung der Umwelt ist zwar nicht neu. Bilderfluten werden seit langem konstatiert. Zahlreiche kommunikations- und medienwissenschaftliche Denkfiguren basieren – etwa im Anschluss an Baudrillards (1982) Simulakra-Theoreme – auf der Unterstellung, dass (Bild-) Medien Surrogate der Wirklichkeit produzieren. Gleichwohl ist ebenso zu konstatieren, dass medial und bildlich konstituierte (visuelle) Umwelten als Horizonte des Handelns und Bilder als Vermittlungen kommunikativen Handelns sich heute, vor allem auch auf der Digitalisierung aufbauend, überall in den Alltag „eingeschlichen“ haben. Vor diesem Hintergrund geht der Beitrag der Frage nach, ob und inwiefern die Digitalisierung als technologische Grundlage aktueller Mediatisierungsprozesse die Produktion, Verbreitung und Nutzung bzw. Aneignung von Bildern verändert (hat). In einem ersten Schritt wird hierzu das theoretische Verhältnis von Digitalisierung und Mediatisierung als zwei prägende und miteinander verknüpfte Gegenwartsdia-

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AutorInnen wie Jenks geht es freilich nicht um derart verkürzte Narrationen. Der zitierte Aufsatz behandelt im Gegenteil die komplexen Relationen von Visualität und Wissen und dekonstruiert moderne Mythen des „unschuldigen Auges“, die über positivistische Ideen nicht zuletzt Eingang in die Wissenschaftstheorie fanden.

Digitalisierung, Mediatisierung und der Wandel visueller Alltagskultur

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gnosen skizziert. In einem zweiten Schritt werden die Plastizität des Bildlichen und die Transformation der Medienökologien als Bedingungen und Kontexte des Handelns und Interagierens mit und in Bezug auf Bilder herausgestellt. In einem dritten Schritt beschäftigt sich der Beitrag auf dieser Basis mit Phänomenen einer „digitalen“ bzw. „digitalisierten“ Ästhetik und Aisthesis. Ziel ist es, vor dem Hintergrund mediatisierungstheoretischen Denkens für die mannigfachen Fragen nach dem Wandel visueller (Alltags-) Kultur zu sensibilisieren.

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Digitalisierung und Mediatisierung

In akademischen wie öffentlichen Diskursen wird häufig unterstellt, dass Digitalität als Eigenschaft medialer Technik einen Unterschied markiert, durch den sich über kürzere oder längere Vermittlungsketten spezifische kulturelle und gesellschaftliche Konsequenzen argumentieren lassen. Jedenfalls wiese die Rede von digitaler Revolution, digitaler Identität, digitaler Demokratie, digitaler Jugendkultur, digitaler Sozialität, digitaler Medienkultur oder digitaler Gesellschaft ohne diese Unterstellung keinen semantischen Mehrwert auf. Insofern wir es gewohnt sind, in begrifflichen Oppositionen zu denken, ergibt sich der Sinngehalt des Digitalen zunächst in Relation zu seinem Gegenteil, dem Analogen. Spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre ist das Begriffspaar analog/digital ein Dauerbrenner der medienwissenschaftlichen Diskussion (Schröter und Böhnke 2004). Naheliegende Bezüge reichen zum (Denk-) Modell der Turingmaschine und kybernetischen Visionen. Kulturgeschichtlich weiter ausgeholt kann aber auch die „Einführung der Null durch die Araber ins Abendland im 12. Jahrhundert“ (Schröter 2004, S. 8) als Voraussetzung für die Binärkodierung gedeutet werden. Gegenwartsbezogen lässt sich die Unterscheidung analog/digital auf die informationstheoretische Differenz herunterbrechen, die zwischen nicht diskreten bzw. diskreten Darstellungen von Daten besteht. Aus medientechnologischer Perspektive hat Manovich (2001) fünf „general tendencies of a culture undergoing computerization“ (Manovich 2001, S. 49) formuliert: • „numerical representation“, d. h. digitaler Rechencode und Programmierung als Basis, • „modularity“ als quasi-atomarer Aufbau komplexer Medienobjekte, in denen Elemente via Programmkonvention vereint sind, aber als Einzelelemente erhalten bleiben, • „automation“ als Fähigkeit von Programmen, Operationen eigenständig auszuführen, • „variability“, d. h. Kopier- und Veränderbarkeit der Medienobjekte, sowie • „transcoding“ als die Übersetzung von „cultural layers“ (z. B. kartesische Raumvorstellung) in „computer layers“ und die damit verbundene Prognose, dass Computerlogiken umgekehrt Einfluss nehmen auf „cultural layers“. (Manovich 2001, S. 49–65)

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W. Reißmann

In analogen Zeiten war es Medientheorie gewohnt, sich an Einzelmedien abzuarbeiten und diese möglichst trennscharf zueinander in Stellung zu bringen. Eine wichtige Einsicht ist, dass mit der digitalen Repräsentation, Verarbeitung und Vernetzung von Daten und Informationen Einzelmedien (und ihre Theorien) über kurz oder lang obsolet werden. Zwar gab und gibt es Ansätze, die etwa von einem Computer- oder Internetdispositiv sprechen und/oder die Eigenschaften wie Multimedialität als Charakteristika herausstellen. Wenigstens im starken Wortsinn unterläuft digitale Medientechnik jedoch fixe strukturelle (An-)Ordnungen, Funktionalitäten und Wahrnehmungskonfigurationen, wie man sie noch bei einem Dispositiv Kino oder Radio plausibel machen kann. Die Universalmaschine Computer ist im Verbund mit (globalen/lokalen) Datennetzen in der Lage, alle vorangegangenen Einzelmedien in sich aufzunehmen, sie zu reproduzieren und neue Ligaturen, Hybride und Legierungen zu produzieren. In kommunikations- und medienwissenschaftlichen Debatten spiegelt sich diese Entgrenzung z. B. in Begriffen wie dem der Medienkonvergenz wider. Digitale Medientechnik scheint in besonderem Maße plastisch und gestaltbar zu sein. Ihre Digitalisierung (allein) bedeutet jedoch nicht, dass historisch eingespielte Medien- und Kommunikationspraktiken notwendig ihre kulturelle Stabilität oder Formkonstanz verlieren. Ein potenzieller Wandel sowohl der Medienlandschaft als auch von Kommunikations- und Medienpraktiken lässt sich nicht einfach aus den zugeschriebenen oder aus rein analytisch gewonnenen Charakteristika digitaler Medialität ableiten, sondern ist das Produkt der sozialen und kulturellen Aneignung von Medien sowie ihrer gesellschaftlichen Institutionalisierung (z. B. durch Standardisierung und Verrechtlichung). Deren jeweiliger Stand bildet wiederum den Hintergrund für die weitere Produktion und Entwicklung bestehender (digitaler) Medien und Infrastrukturen. Für den Nachvollzug dieses spiralartigen Wechselverhältnisses von medialem, sozialem und kulturellem Wandel hat sich in den vergangenen ca. 20 Jahren die Mediatisierungsperspektive etabliert (Lundby 2009, 2014). Allgemein steht diese für den Fokus auf Fragen nach Prozessen, Entwicklungen und Veränderungen. So gesehen liefert sie einen Interpretationsrahmen, mit dem Ergebnisse und Ansätze aus unterschiedlichen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsfeldern gesammelt, verortet und gedeutet werden können (z. B. der Nutzungs-, Aneignungs- und Kohortenforschung, der Diffusions- und Innovationsforschung oder der Mediengeschichte). Verstanden als eigenständiges Forschungsfeld lassen sich unterhalb dieser Globalperspektive verkürzt zwei Linien identifizieren (im Überblick Hepp 2014): • eine institutionalistische Linie, die primär nach der Bedeutung von Massenmedien fragt und argumentiert, dass diese in funktional differenzierten Gesellschaften als zentrale Vermittlungsinstanzen spezifische Medienlogiken als Standards setzen, an denen sich andere individuelle und kollektive Akteure, Institutionen und soziale Systeme anpassen (müssen) bzw. über die sich systemische Interdependenzen verändern (z. B. Hjarvard 2013; Meyen 2009), sowie • eine sozialkonstruktivistische Linie, die an der alltäglichen Lebenswelt, dem situativ gebundenen (kommunikativen) Handeln und den pluralen Lebensfüh-

Digitalisierung, Mediatisierung und der Wandel visueller Alltagskultur

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rungsmustern und sozialen Welten ansetzt und argumentiert, dass sich diese über den medienbedingten Wandel von Kommunikation bzw. kommunikativer Praktiken verändern (z. B. Couldry 2012; Krotz 2001; Hepp und Hasebrink 2014). Digitalisierung ist in beiden Forschungsfeldern ein Thema, da sie sowohl die produktions- und distributionstechnologischen Grundlagen von Massenmedien betrifft (inkl. der Konkurrenz, die über netzbasierte Kommunikations- und Medienstrukturen entsteht); als auch die alltäglichen Kommunikations- und Medienpraktiken (inkl. derer, über die Akteure in und in Bezug auf Medieninstitutionen deren „Logiken“ am Laufen halten) technologisch auf eine neue Basis stellt. Daraus ergeben sich veränderte Potenziale, Ressourcen und Begrenzungen hinsichtlich der Produktion, Darstellung, Verbreitung, Nutzung, Rezeption, Aneignung und Archivierung von Medien sowie der kommunikativen Interaktion mit Medien. Krotz (2009, S. 24–28) fasst Mediatisierung als historischen Metaprozess, der – bei ihm ausgehend vom Wandel des kommunikativen Handelns – gegenwartsbezogen in Interdependenz zu Individualisierung, Globalisierung und Kommerzialisierung/ Ökonomisierung zu untersuchen sei. Hieraus folgt ein Interesse nicht nur für Massenmedien und soziale Systeme (wie Politik), sondern auch für die Mediatisierung interpersonaler Kommunikation, von Beziehungen sowie für Formen der interaktiven Medienkommunikation, für Fragen transkultureller und translokaler Medienkommunikation sowie generell für die Entgrenzung von Massenkommunikation und die Emergenz neuer Hybride. Eine Basisdiagnose besteht darin, dass Medien „in immer größerer Anzahl zu allen Zeitpunkten zur Verfügung“ stehen, sie sich räumlich „an immer mehr Orten“ finden und „zu immer mehr Orten – potenziell oder tatsächlich“ verbinden, sowie „sozial und in ihrem Sinnbezug (. . .) mit immer mehr Absichten und Motiven verwendet werden, und zwar sowohl kommunikator- als auch rezeptionsseitig.“ (Krotz 2001, S. 22) Gleichwohl ist das Produkt von Mediatisierungsprozessen nicht einfach nur ein „more-and-more“. Kommunikations- und Medienpraxis ist als lokalisierte resp. situierte sowie sozio- und populärkulturell ungleiche und spannungsvolle Praxis zu verstehen, die sich linearen Argumentationen entzieht. Die Mediatisierungsperspektive stellt die Frage, ob und inwiefern sich bedingt durch den medialen Wandel von Kommunikation Ausdruck und Interaktion sowie darauf aufbauend Identitäten und soziale Beziehungen, aber auch Institutionen, Kulturen und Gesellschaften verändern. Die Antwort darauf kann auch „negativ“ ausfallen und soziale und kulturelle Praxis beharrlich sein (Hepp und Röser 2014). Gegenüber eher makrologisch-systemischem Denken ist anzumerken, dass die Anerkennung von Pluralität und Heterogenität nicht ausschließt, dass soziale Institutionen und mediale Infrastrukturen der Kommunikation qua Akkumulation von Macht und Ressourcen inhaltliche, ästhetisch-formale und kommunikationspraktische Standardisierungskräfte entfalten. Mit Blick auf digitale Kommunikations- und Medienpraktiken lassen sich diese sicher nicht auf ein überschaubares Set an Darstellungs- und Inszenierungsformen herunterbrechen. Freilich aber können netzbasierte Infrastrukturen und global operierende Medienunternehmen mit zunehmender Marktmacht, oder politisch-administrative und rechtliche Regulierungen Optionen

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medialen Handelns und Kommunizierens begrenzen und vorstrukturieren. So kann etwa die praktische Notwendigkeit für bestimmte private und kollektive Akteure, in Netz und Social Media sichtbar und präsent sein zu müssen, dazu führen, dass z. B. Zwänge und Routinen der Aufmerksamkeitsevokation zu logikartigen Mustern und Praktiken kondensieren. Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich innerhalb der Mediatisierungsforschung gegenwärtig in der Diskussion des Institutionen- bzw. Institutionalisierungsbegriffs, der zumindest in der Vergangenheit zu stark an die Existenz von (Massen-)Medien als abgrenzbare Organisationen gebunden war (Hjarvard 2014, v. a. S. 130–132). Im Lichte der Mediatisierungsperspektive wird im Folgenden der Versuch unternommen, einige Tendenzen im Bereich der visuellen Kommunikation und AlltagsKultur zu benennen. Einbezogen werden Material, Überlegungen und Ergebnisse aus unterschiedlichen Forschungsfeldern und Disziplinen. Trotz des Anspruchs, Vielfalt widerzuspiegeln, bleiben diese notgedrungen selektiv. Gleichfalls ist zu bedenken, dass Fragen nach langfristigen Folgen gegenwärtig prägender Mediatisierungsschübe noch weitgehend unbeantwortet bleiben müssen und es einer Verzahnung der Visuellen Mediatisierungs- und Kommunikationsforschung mit einer praxeologisch-historisch orientierten Visual Culture(s)/Bildkulturforschung bedarf, um Trajektorien aufzuzeigen und reduktionistischen „tabula-rasa“-Argumentationen Vorschub zu leisten. Alle Techniken und Praktiken, die gegenwärtig als „digital“ apostrophiert werden, haben ihre Vorläufer und Ausgangspunkte.

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Plastizität digitaler Bilder

Digitale Bilder liegen, wenngleich sie in ihrer Erscheinung auf andere Medien wie Bildschirm, Display oder Printausdruck angewiesen sind, in datenbasierter Form vor. Eine damit zusammenhängende Affordanz des digitalen Bildes besteht darin, in besonderem Maße plastisch zu sein. Zwar sind mimetisch-gestaltende Formen der Weltaneignung anthropologische Konstanten und auch als kulturelles und künstlerisches Prinzip hat das Neu- und Rearrangement von „Rohmaterialien“ eine lange Geschichte (z. B. von Gehlen 20112). Selbst die Fotografie, die historisch gewachsen wie kaum ein zweites Bildmedium für pseudo-objektive, indexikal-ikonische Beweis- und Abbildungsleistungen steht, wurde von Beginn an und auch außerhalb der Kunst von „Manipulationen“ und Überformungen begleitet (Ritchin 1990/1999; Newton 2007). Merklich geändert hat sich jedoch der Zugang zu Bildgestaltungstechniken durch digitale Werkzeuge (zur Entwicklung fotografischer Technik und Praxis im Kontext des Digitalisierungsprozesses siehe auch den Beitrag von Autenrieth in diesem Band). Digitale Bildbearbeitung vereinfacht und potenziert die Möglichkeiten, über Editoren (z. B. Photoshop), Apps (z. B. Instagram) oder vorinstallierte Kamerafilter und andere Tools, Bildinhalte in situ (z. B. Snapchat) oder 2

Dadaismus, literarischer Cut-up, Appropriation Art oder Culture Jamming sind hierfür nur einige Beispiele.

Digitalisierung, Mediatisierung und der Wandel visueller Alltagskultur

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nachträglich zu rearrangieren, kollagieren und zu (über-)formen. Damit verbunden ist eine partielle Fusionierung und Neuformierung von zuvor eher getrennten (Alltags-) Bereichen des „Abbildens“ (z. B. Fotografieren) und des „Entwerfens“ (z. B. Zeichnen/Malen) (zu diesen beiden Grundmodi Scholz 2009). Visuelle Kommunikations- und Mediatisierungsforschung kann dazu beitragen, solche Entwicklungen zu beobachten und zu verschiedenen Zeitpunkten in unterschiedlichen Teilkulturen und sozialen Welten vergleichend zu erforschen. Auf lange Sicht stellt sich mediatisierungstheoretisch beispielsweise die Frage, ob und inwiefern Plastizität als basales Kennzeichen einer auf digitaler Medientechnologie basierenden visuellen Kultur unsere Vorstellungen von bildlicher Authentizität verändert (zu Authentizität siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band), insbesondere der vermeintlich „nur“ reproduzierender Bildgenres. Bildtheorie dekonstruiert freilich seit langem die Selbstnegation des Bildes als ein Kennzeichen seiner „realistischen“ Spielarten. Was aber macht ein möglicherweise zunehmendes, hintergründiges Plastizitätsbewusstsein mit alltäglichen Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern, etwa mit dem Vertrauen in bildliche Abbildungsleistungen? Noch ist nicht absehbar, inwiefern und für wen sich z. B. Alltagsverständnisse „fotorealistischer“ Authentizität angesichts geänderter Spielregeln und Erfahrungen mit digitalen Bildern verschieben – und in welcher Hinsicht sie aber auch bestehen bleiben (vertiefend zu dieser Grundsatzfrage u. a. Wheeler 2002). Gleichfalls zu verfolgen sind die Konsequenzen von veränderten Ausdrucks- und Darstellungspotenzialen im Hinblick etwa auf die Plastizität von Körper(bilder)n und das Verhältnis von „Vorbild“ und „Abbild“.

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Medienökologische Transformationen

Die Plastizität des Bildes ist nur ein Phänomen, das mit der Digitalisierung als technologischem Mediatisierungsschub in Verbindung steht. Verändert haben sich auch die Kommunikations- und Medienumgebungen bzw. die medialen Infrastrukturen, in denen (digitale) Bilder gebraucht werden, zirkulieren und eingebettet sind. Im Bereich der Internet- und Onlineforschung sind seit ca. 2005 Begriffe wie Web 2.0, Social Web und Social Media zu Leitmetaphern avanciert (Anastasiadis und Thimm 2011; Hunsinger und Senft 2013; Schmidt 2013). Sie sollen anzeigen, dass die aktuelle Vernetzung von Mensch und Artefakt Differenzen genauso zu früherer massenmedialer und interpersonaler (Medien-) Kommunikation wie zur „ersten“ Phase der Internetaneignung (durch größere Bevölkerungssegmente) aufweist, welche neben der Emergenz medial konstituierter Erlebnis- und Sozialräume primär durch den Abruf und die Distribution fremder Medieninhalte geprägt gewesen sein soll. Entstanden sind diese Metaphern in Reaktion auf die zunehmende Bedeutung nutzergenerierter Inhalte, von Produsage-Praktiken (Bruns 2013) und medialer Genres wie Blogs, Messenger- und Microbloggingdienste, Social Network(ing) Sites und Sharing-Plattformen. Hinzu kamen in den letzten Jahren das Zusammenwachsen der vormals getrennten Bereiche der Mobil- und Social Media-Kommunikation (Katz

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und Lai 2014) und immer ausgeklügelter und leistungsfähiger werdende Datenerhebungs- und Datenauswertungsmechanismen („Big Data“). Mit diesen Entwicklungen haben sich auch die Bildlandschaften sowie die Präsenz und der Umgang mit Bildern im Alltag verändert. Lebenswelten und Lebensführungsmuster der Menschen waren, sind und bleiben heterogen, Aneignungsprozesse partiell. Wohl aber darf angenommen werden, dass, eingebettet in digitale und digitalisierte Ökologien, heute zahlreiche Menschen mit einer Vielzahl an Bildern in Berührung kommen und insgesamt auch mehr Menschen in mehr Kontexten und Situationen als BildproduzentInnen und BilddistribuentInnen in Erscheinung treten. Die Grenzen zwischen den ehemals stärker abgezirkelten Bereichen der massenmedialen und privaten Bildpraxis sind in der „convergence culture“ (Jenkins 2006) in Bewegung geraten. Massenmediale Institutionen sowie der institutionalisierte Kunst- und Kulturbetrieb sind nicht mehr die einzigen Akteure, die Bilder (teil-) öffentlich verbreiten und zirkulieren lassen können. Social Media-Technologien sind an der Emergenz „persönlicher Öffentlichkeiten“ (Schmidt 2012) bzw. „networked publics“ (boyd 2010) beteiligt.3 Vor diesem Hintergrund erhalten Bild- und Fotoamateurismus neue Bühnen, Ausspiel- und Verhandlungsräume (Regener 2009). Die bereits in der so genannten Kodak Culture bestehende „mass production“ privater Bilder wird ergänzt durch ihre „mass dissemination“ (Richter und Schadler 2009). Die neuen Kontexte und Ausspielorte sind ebenso Mediatoren und Träger historisch gewachsener Bildpraktiken wie sie private Bildpraxis verändern (Autenrieth 2014; Lobinger 2015; Reißmann 2015). Im Zusammenspiel mit der multioptionalen Implementierbarkeit und Plastizität des digitalen Bildes sind digitale Infrastrukturen auch eine Bedingung dafür, dass sich alltägliche kommunikative Artikulation und Interaktion selbst zunehmend im Modus des Bildes vollziehen. (Produktions-) Technische Grundlagen liegen u. a. in der Verbilligung digitaler Kameras und ihre um 2000 einsetzende Integration in das Mobiltelefon (allg. dazu Sarvas und Frohlich 2011). In diachroner Hinsicht ist das fortlaufende Präsentieren und Archivieren von kommunikativen Inhalten und Artefakten ein Kennzeichen digitaler Medienumgebungen. Allein durch den erweiterten und raum-zeitlich nicht genau absehbaren Zugriff durch Dritte sowie durch kooperative Praktiken des Herstellens, Ordnens und Bearbeitens verändern sich private und öffentliche Bildarchive. Mit thematischem Fokus bieten spezielle Bildplattformen wie Flickr Amateuren und (Semi-) Professionellen der Kreativwirtschaft beispielsweise neue Wege, sich mit ihren Bildern zu präsentieren, bildbezogen zu interagieren oder interessebezogen zu vernetzen. Nicht zuletzt dafür hat sich der Terminus „networked image“ (Rubinstein und Sluis 2008) etabliert. Über Tagging- bzw. Verschlagwortungspraktiken entstehen umfangreiche und dynamische Bildarchive und -sammlungen zu den verschie3

Obgleich Netzwerkmetaphorik die Literatur zur Digitalisierung und ihren vermeintlichen Folgen durchzieht, sind weder utopische und dystopische Mythen des globalen Dorfes, globaler Nähe oder der Homogenisierung von Kultur (Hepp 2004) verallgemeinerungsfähig noch formal-funktionale Netzwerkkonzepte mit alltags- und lebensweltlich situierter Medienpraxis zu verwechseln (Krotz 2006).

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densten Themen und Kategorien. Das Prinzip des Archivierens prägt digitale Bildpraxis aber noch auf andere, nicht-intentionale Weisen: Beispielhaft hierfür steht die automatische Sedimentierung von Bildposts via Newsfeed- und Timeline-Funktionen. Konsequenz all dieser Entwicklungen sind Bildflüsse, die viele verschiedene Wege nehmen, einander kreuzen, sich bedingen und die in Mikro- ebenso wie in Makroskalierungen zu denken sind. Unter den Bedingungen einer zunehmend translokalen Beziehungspflege dienen bspw. situative Fotografien dazu, in Beziehungen, Gruppen oder Bekanntschaftsnetzwerken Kontakt zu halten und andere – mittlerweile oft instantan – am Alltag und Erleben teilhaben zu lassen. Andere Bilder wie „Memes“ stehen für Artefakte, die es mit Blick auf die Konstitution großer Publika durchaus mit der Reichweite traditioneller Massenmedien aufnehmen können. Immer wieder erlangen bestimmte Bilder, gleich welchen Entstehungskontextes, ikonischen Status und damit eine Präsenz über heterogene soziale Welten und mediale Kanäle hinweg. Auch entstehen neue Verzahnungen bildlicher Alltagspraxis mit der massenmedialen Verwertung, etwa im Kontext des so genannten „partizipativen“ Journalismus (z. B. Ammann et al. 2010, siehe auch Grittmanns Beitrag zum journalistischen Bild in diesem Band).4 Weiterhin stimuliert die Verbindung von Internet und Smartphone neue Muster, Sozialraum und Mobilität zu erfahren, kontinuierlich bzw. situativ Räume und Orte zu dokumentieren/hervorzubringen und über diese Praxis in Interaktion mit Anderen Präsenz herzustellen. Hjorth und Pink (2014, S. 46–48) sprechen in der Verkettung von Mobilität, location-based Services und Fotografiepraxis von einer „emplaced visuality“ (siehe auch den Beitrag von Brantner in diesem Band). Digitale Infrastrukturen der Information, Interaktion und Kommunikation wollen und müssen als quasi-physische Lebensräume aber auch selbst „zum Leben erweckt werden“. Dies geschieht unter anderem über ihre Bebilderung. Ob private Seiten und Profile, Onlinejournalismus oder die unzähligen Webauftritte von Unternehmen und Organisationen: der Bedarf an kontextadäquaten Bildern und Visualisierungen von Informationen jeglicher Couleur ist gestiegen. Mit global verfügbaren Onlinebildarchiven und Mikrostock-Agenturen haben sich diesbezüglich Wertschöpfungsketten und Angebotsstrukturen verändert (Frosh 2003; Grittmann et al. 2008; Machin 2004).5 Diese Aufzählung an Phänomenen kann fortgeführt werden. Digitalisierung als eine Abfolge von technologischen Entwicklungsschüben und Mediatisierung als Prozess 4

Bei Katastrophen, Krisen, Kriegen und Unruhen sind die Bild- und Videoquellen von Laien, Privatpersonen und Involvierten mittlerweile oft das zuerst verfügbare Material. In temporaler Hinsicht fallen Bildproduktion und Bildverwendung nicht mehr notwendig auseinander, sondern erlauben eine sofortige Verbreitung. Angesichts der netzbasierten Beschleunigung spricht Perlmutter (2007) in Bezug auf Nachrichtenfotos von „hypericons“. Neben die traditionelle Bildikone tritt die schnelle Folge wechselnder, über verschiedenste Kanäle augenblicklich an Massenpublika herangetragener Bilder. 5 Noch 1998 wurden gerade einmal 1,8 % der Jobs von Werbefotografen überhaupt in digitalen Formaten produziert (Frosh 2003, S. 189). Heute vertreiben Bildagenturen wie Getty Images ihr Angebot nicht nur nahezu ausschließlich digital und netzbasiert, sondern beziehen es aus unterschiedlichsten Quellen: von individuellen professionellen FotografInnen, Bildpartnern (Zusammenschlüsse verschiedener Akteure), Mikrostock-Plattformen (wie iStockphoto) sowie aus OnlinePhoto-Sharing-Plattformen wie Flickr (DeFillippi et al. 2014, S. 235 ff. in Bezug auf Getty Images).

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der Aneignung und Integration (freilich nicht nur, s. den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band) digitaler Medien verändern die Umgebungen, in denen Bilder gebraucht werden ebenso, wie diese Umgebungen von Prozessen der Visualisierung geprägt werden. Mediatisierungstheoretisch stellen sich beispielsweise Fragen danach, wie die bildlich-medialen Erscheinungsräume von Individuen, Gruppen und Teilkulturen beschaffen sind, durch die sie andere, sich selbst und die Welt erfahren; wie sich Individuen, Gruppen und Teilkulturen präsentieren, inszenieren und visuell kommunizieren; wie Bildflüsse entstehen, versiegen, ineinandergreifen und (Un)Sichtbarkeiten produzieren; und wie die „Logiken“ digitaler Infrastrukturen und Plattformen Bildhandeln und Bildkommunikation beeinflussen et vice versa (z. B. hinsichtlich aufmerksamkeitsökonomischer Prädispositionen, algorithmischer Ordnungs- und Anzeigepraktiken, Datenpersistenz oder der Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit).

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Ästhetik digitaler Bilder

Stärker am Bildinhalt und seiner Gestaltung ansetzend, ist der Frage nachzugehen, ob und inwiefern Digitalisierung und Mediatisierung Bildästhetiken verändern, sei es stimuliert durch Plastizitätspotenziale, durch veränderte Nutzungs- und Anwendungskontexte oder schlichtweg durch die Kontingenz sozialer und medialer Praxis. Zwar gibt es weder eine genuin „digitale“ Ästhetik, schon gar nicht im Singular, noch ist es möglich, einen Kanon zu formulieren. Denn zum einen bedienen sich Stilsprache und Darstellungsformen immer aus dem bestehenden Reservoir kultureller Symbolik und Formen. Zum anderen ist es heute, wie Stalder (2014, S. 57) zuspitzt, „weniger ungewöhnlich, dass sich ein neuer Stil bildet, als dass er sich über längere Zeit halten kann“. Dennoch lassen sich mediale Praktiken, Formen und ästhetische Konstellationen ausmachen, die als typisch für „digitale“ Bild- und Medienkultur gelten dürfen. Augenfällig sind hier zunächst spezifische Bildgattungen und Bildgenres. So können etwa Mashups (Mundhenke et al. 2015) und Memes (Davison 2012) in ihren bild-textlichen und audiovisuellen Spielarten als Insignien einer auf digitaler Medientechnik fußenden Remixkultur betrachtet werden. Bildzentrierte Varianten sind hierbei vornehmlich im Bereich des Netzhumors sowie der Fan Art zu finden. „Digital fantasy“, „digital painting“ oder „photo fiction“ sind andere Beispiele für die (Re-)Mediatisierung des Zeichnens und Abbildens und auch für die Verwischung von Grenzen zwischen reproduzierend-abbildenden und entwerfenden Bildgenres. Weiterhin produzieren Jugendkulturen bzw. populärkulturelle Szenen je eigene Ästhetiken und Selbstinszenierungen (zur allg. historischen Entwicklung von Fan-Kulturen im Umbruch analog/digital Coppa 2013). In Abwandlung des seit Jahrzehnten etablierten Begriffs der Jugendmusikkultur spricht Richard (2010, S. 322–324) von Jugendbildkulturen. Diese werden zunehmend selbst zu thematischen Kristallisationspunkten (z. B. Emo, Visual Kei) und kultivieren in SpecialInterest-Portalen wie deviantArt eigene Ausdrucksformen (z. B. von Gross 2010; Richard et al. 2010).

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Veränderte Nutzungs- und Aneignungsmöglichkeiten führen aber auch in weiteren Hinsichten zu einem ästhetischen Wandel. Mit dem Aufkommen der Digitalfotografie und der Handykamera wurde im Bereich der privaten Bildpraxis u. a. eine Veralltäglichung von Fotografiemotiven festgestellt (z. B. Gye 2007; Murray 2008; Villi 2010). Fotografien dienen demnach nicht mehr nur dazu, wie Bourdieu (1965/ 1983, S. 31) in seiner Pionierstudie herausstellte, um die „hohen Zeitpunkte des kollektiven Lebens einzufangen und auf Dauer zu stellen“, sondern vergegenständlichen zunehmend Alltägliches, vermeintlich Banales und „bloß“ Situatives (siehe auch den Beitrag von Autenrieth in diesem Band). Neben der Veränderung so genannter „snapshot practices“ bieten Filter, Bildoptimierungstechniken und Effekttools (z. B. „Airbrushing“) zudem Möglichkeiten, spezifische Bildstile und -atmosphären zu erzeugen und (re-)inszenieren. In diesem Sinne ist Teil digitaler Ästhetik auch die Reproduktion zuvor bestehender Stile (z. B. Retro- und Vintage-Ästhetiken, Polaroidoptik, siehe auch den Beitrag von Menke und Niemeyer in diesem Band). Die vernetzten Medienökologien der Individuen liefern die Bedingungen dafür, dass sich Bildästhetiken, Stile und (Selbst-)Darstellungsmodi rasch verbreiten und adaptiert werden können. Für Individuen, Gruppen, Teilkulturen und soziale Bewegungen sind sie ästhetische Werkzeuge, um sich auszudrücken, um visuell „zu argumentieren“ und um Aufmerksamkeit zu generieren. Mit ihrer Hilfe artikulieren sich lokale und kulturelle (Teil-)Identitäten, werden soziale und kulturelle Konflikte angezeigt, bahnen sich Protest und Subversion den Weg (Lehmuskallio 2012, S. 232–282), oder erfährt massenmediale Kultur eine Kommentierung. Umgekehrt ist zu konstatieren, dass der generell gestiegene Bedarf an Visualisierung in digitalen Ökologien zur Folge hat, dass (Online-)Visualisierung in weiten Teilen von der funktionalen Ästhetik der „stock photography“ (Ullrich 2008) geprägt ist. Zur Erhöhung ihrer Einsetzbarkeit in pluralen Anwendungskontexten sind diese oft generisch gehalten, d. h. stellen allgemein und kontextarm prototypische Themen, Stimmungen, Ereignisse, Handlungen usw. dar. Weiterhin erfahren im Kontext von Digitalisierung und Mediatisierung Bildgattungen und Bildformen einen Aufschwung, die bislang nicht im Mittelpunkt der Visuellen Kommunikationsforschung standen. Ein Beispiel hierfür sind diagrammatische Bilder, deren hybride Stellung zwischen „Bild“ und „Sprache/Begriff“ auf epistemische Basisprinzipien der Organisation von Wissen verweist (zu Diagrammatik Bauer und Ernst 2010; Krämer 2009). Als Medien und mediale Formen haben diese freilich eine lange Geschichte. Auffällig ist jedoch die gestiegene Präsenz von Schaubildern, Grafiken und anderen Informationsvisualisierungen in Medien- und Kommunikationsumgebungen, die auf digitaler Medientechnik basieren (siehe auch den Beitrag von Gamper und Schönhuth sowie von Weber in diesem Band). Ein Grund dafür liegt darin, dass in digitalen Medienökologien alles auf Daten beruht und zu Daten wird, mithin nahezu alle Aktionen vermessen und gemessen werden (Passoth und Wehner 2013, S. 10–12), und diese Daten dann auch entsprechend leicht verarbeitet und visualisiert werden können. Andere Beispiele sind der Aufschwung, den parallelperspektivisch gestaltete Bilder erfahren haben sowie digitale Karten, die über Dienste wie google maps angeboten werden. Erstere schließen an die Ästhetik von Entwurfszeichnungen an

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und legen z. B. Überblicks- und God-View-Perspektiven nahe (Beil und Schröter 2011, S. 135–136 in Bezug auf Computerspiele). Letztere repräsentieren und produzieren sozialgeografische Räume, wobei hier „ungewohnte“ Ansichten in der gestiegenen Sichtbarkeit von Subjektivität (etwa durch die Einbindung von UserDaten wie Bewertungen und Fotos), in egoperspektivischer Darstellung („street view“) sowie in einem veränderten Verhältnis von mimetischem und navigatorischem Kartengebrauch (Thielmann 2013) zu suchen sind. Kooperative Praktiken der Bildkonstruktion sind in der partizipativen Kartografierung und Geovisualisierung zu beobachten (im Überblick z. B. Caquard 2014, siehe auch den Beitrag von Brantner in diesem Band). Auf einer reflexiven Ebene schließlich macht sich die Medien- und Netzkunst die gegenwärtige Medien- und Bildkultur zu ihrem Gegenstand. Sie hinterfragt die gesellschaftliche Bedeutung digitaler Medien und entwirft utopische wie dystopische Imaginationen der Zukunft (z. B. Giannetti et al. 2004). In Alltagspraxis, Journalismus und Wissenschaft sind Icons wie Apfel (Apple) und Daumen (Facebook) zu Symbolen avanciert, die als „Visiotype“ (Pörksen 1997) stellvertretend für Digitalisierung und ihre Folgen stehen. Auch in Bezug auf die Frage nach bildästhetischem Wandel kann es hier nur darum gehen, beispielhaft Entwicklungen aufzuzeigen und Phänomene zu benennen, die weiter zu verfolgen sind. Mediatisierungstheoretisch relevant ist ein Monitoring etwaiger Verschiebungen deshalb, weil ästhetische Dispositionen vorgeben, wie Menschen sich und ihre Umwelt überhaupt wahrnehmen und erfahren können. Welche Folgen hat z. B. die Veralltäglichung von Ästhetiken, die mit der fotografisch-fluchtpunktperspektivischen „Subjektsicht“ brechen? Wie nimmt die Ästhetik der Daten (Grafen, Diagramme usw.), die auch in den „stats“ der persönlichen, privaten Profile omnipräsent geworden sind, Einfluss auf Selbst- und Fremdwahrnehmungen? Gewinnen angesichts des gestiegenen Bedarfs an Bildern, allein zur Visualisierung und zur (Pseudo-)Rematerialisierung digitaler Ökologien, Fähigkeiten im Bereich der Bildproduktion an kulturellem Stellenwert? Inwiefern ist eine Professionalisierung von Amateurpraxis auszumachen?

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Digitale Visualität und Aisthesis

In der Grundbedeutung des Wortes „aisthesis“ sind Überformungen des visuellen Wahrnehmungsfeldes auszumachen, die sich nicht auf die Transformation von Bildern im traditionellen Verständnis einer durch Kadrierung abgeschlossenen, zweidimensionalen Fläche beziehen. Einen Pol bilden hierbei digital simulierte Bildräume, die nicht nur im GamesBereich (u. a. Günzel 2009), sondern z. B. auch als Stadtsimulationen von Bedeutung sind. Sie transzendieren das bildliche Prinzip der Kadrierung, indem sie (abgesehen vom Bildschirm) die Illusion von „Bildern ohne Ränder“ erzeugen, den Bildraum in Abhängigkeit zur Aktion in situ neu berechnen, und so im Wortsinn Umwelten produzieren, innerhalb derer sich Akteure (ggf. vermittelt über Avatare) in verschiedenen Ansichten und Perspektiven bewegen.

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Den zweiten Pol der Überformung des „natürlichen“ Wahrnehmungsfeldes bilden Entwicklungen im Bereich (visueller) Augmented bzw. Mixed Reality-Anwendungen. Über Helmet-mounted- bzw. Head-up-Displays, aber auch über mobile Geräte wie Handhelds, Smartphones oder Datenbrillen (Google Glass) wird das „reallokale“ Sichtfeld im Kontext von Tourismus, Straßenverkehr, Medizin oder Militär mit Text, Bild, Zahl, Audio, Video und Grafik angereichert (allg. dazu MehlerBicher et al. 2011). Die teils simultane (Live)Vernetzung von stehenden und bewegten Bildern mit textlichen, numerischen oder grafischen Informationen führt zu veränderten Wahrnehmungsdispositionen. Es ist davon auszugehen, dass einige der daraus resultierenden Synthesen sich als mediale Formen stabilisieren, verselbstständigen und ihren Platz in heterogenen Anwendungsbereichen und Alltagskontexten finden.6 Zwischen diesen beiden Polen gibt es eine Vielzahl an Phänomenen, in denen Bilder oder bildliche (Quasi-)Räume die „natürliche“ Wahrnehmung mitbestimmen. Zahlreiche soziale Situationen sind im Zuge ihrer translokalen Vermitteltheit und im Hinblick auf ihre Verquickung mit skopischen Medien in zunehmendem Maße als synthetische Situationen (Knorr Cetina 2009) zu charakterisieren, die raum-zeitlich entfernte Akteure über Bildschirmmedien und kontinuierlichen Informationsfluss aufrechterhalten. Darüber hinaus müssen aber auch Interface- und Onlinedesign (z. B. Drucker 2011; Meier 2008) zu den Bereichen gezählt werden, die Visuelle Kommunikationsforschung über den Fokus auf abgeschlossene Bilder hinaus in den Blick zu nehmen hat, weil sie die Alltagswahrnehmung der Menschen (an-)leiten (siehe auch den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band).

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Fazit

Die panoramaartige Zusammenschau verdeutlicht, dass Ästhetiken, visuelle Umgebungen, Bildflüsse, -netzwerke und -archive und damit die Art und Weise, wie wir heute kommunizieren, Erfahrungen machen und die Welt an uns herangetragen wird, in Bewegung sind. Viele der genannten Phänomene sind ohne digitale Medientechnologie in ihrem Hintergrund nicht denkbar, ohne dass daraus folgt, dass sie sich aus der Technik allein heraus erklären ließen. Visuelle Medien und Bilder sind in entscheidender Hinsicht an der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit sowie dem Erleben von Umwelt beteiligt. Im Verbund mit digitalen Kommunikations- und Medienstrukturen, in die sie eingebettet sind, erzeugen sie komplexe Sichtbarkeitsfigurationen. Im Sinne der Mediatisierungsperspektive gilt es, musterhaften und verfestigten, aber nicht starr, sondern kontextvariabel und prinzipiell veränderbar gedachten Kopplungen zwischen Subjekten und ihren materiell-physischen, sozia6

Beispielsweise ist von einer Normalisierung von Isotopiebrüchen auszugehen, d. h. die Veralltäglichung der Erfahrung, dass die „primäre Ontologie“ mit zusätzlichen Daten angereichert wird und sich als Synthese unterschiedlicher Elemente darstellt (z. B. Leschke 2008, S. 39–40).

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len und/oder medialen Umgebungen nachzugehen und zu erkunden, wie Bilder und visuelle Medien Einfluss darauf nehmen, was diese wie sehen und präsentiert bekommen, und wie diese selbst Sichtbarkeiten produzieren (können), und schließlich, was dies über Macht- und Herrschaftsverhältnisse aussagt.

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Bilder von Emotionen – Emotionen durch Bilder Eine interdisziplinäre Perspektive Katrin Döveling

Inhalt 1 Einleitung. Zur Relevanz der Erforschung von Emotionen und Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Emotionen. Eine interdisziplinäre Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Eine erweiterte, integrative Perspektive auf visuelle Emotionskommunikation . . . . . . . . . . . . 4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Emotionen in Bildern, sich visuell manifestierende Emotionen, stellen ein komplexes, interdisziplinäres Forschungsfeld dar. Der folgende Beitrag trägt dieser Komplexität Rechnung und gibt einen Überblick über die relevanten Forschungsperspektiven zum Thema visuelle Darstellung von Emotionen, um Erkenntnisse zur Entstehung von Emotionen und zur Bedeutung visueller Kommunikation im Kontext medial evozierter Emotionen darzulegen. Die psychologische Perspektive wird um die soziologische erweitert, um emotionale Darstellungen in Massenmedien und ihr Einflusspotenzial zu erkunden. Hierzu werden aktuelle Ansätze zum komplexen Wechselverhältnis der Darstellung von Emotionen und Wirkung von Bildern auf Emotionen in der kommunikationswissenschaftlichen Analyse diskutiert. Schlüsselwörter

Emotionen · Gefühle · Visuelle Kommunikation · Emotionspsychologie · Emotionssoziologie

K. Döveling (*) Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, h_da, Hochschule Darmstadt, University of Applied Sciences, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_5

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Einleitung. Zur Relevanz der Erforschung von Emotionen und Bildern

Emotionen sind in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft mittlerweile als wesentlicher Forschungsgegenstand etabliert. Der folgende Beitrag diskutiert vor diesem Hintergrund den Stand der Erforschung des komplexen Verhältnisses von Emotionen und Bildern, denn einerseits können Emotionen in Bildern dargestellt und andererseits durch sie ausgelöst werden. Die Implikationen für mediatisierte Kommunikation sind somit weitreichend. Der Beitrag ist entlang zweier Stränge gegliedert. Zum einen: Was wissen wir über die Darstellung von Emotionen? Zum anderen: Wie kann die Kommunikationswissenschaft von anderen, fachverwandten Perspektiven profitieren, um die emotionale Wirkung von Bildern adäquat zu erfassen? Fest steht: Emotionen selbst sind als nonverbale Kommunikate, in Form von Gesichtsausdrücken (Ekman und Friesen 1969), wesentlicher Bestandteil (all) täglicher Kommunikation. Ihr Ausdruck ist nicht nur in der Gesichtssprache, sondern ebenso in der Körperhaltung in kommunikativen Prozessen zwischen Individuen – in der direkten Interaktion ebenso wie in der medial-vermittelten (Massen-)Kommunikation – essenziell. Emotionen werden in Bildern zum Ausdruck gebracht, durch Bilder vermittelt und sind so in der interpersonalen und medialen Kommunikation von grundsätzlicher Bedeutung. Müller und Kappas (2011) halten fest: „[E]motional visuals and visual emotions should be considered complementary dimensions of interpersonal, group, as well as mass communication processes.“ (Müller und Kappas 2011, S. 310)

Emotionen in Bildern und visuell manifestierte Emotionen stellen ein komplexes und interdisziplinäres Forschungsfeld dar. Bereits Darwin (1872) erkannte die evolutionären Hintergründe und damit zentrale Funktionen der emotionalen Kommunikation. Zugleich sind Emotionen aber auch kulturell tradiert, kulturell vermittelt und ihr Ausdruck ist kulturellen Einflüssen unterworfen (Hochschild 1979; Döveling 2005). Dieser Komplexität soll im Folgenden Rechnung getragen werden. Dabei gibt dieser Beitrag zunächst einen Überblick über die relevanten Forschungsperspektiven zum Themenbereich der visuellen Darstellung von Emotionen, um hiernach grundlegende Erkenntnisse zur Entstehung von Emotionen und speziell die damit verbundene Bedeutung von visueller Kommunikation darzulegen. Die psychologische Perspektive auf Emotionen wird dabei um eine soziologische Perspektive erweitert, um darauf basierend emotionale Darstellungen in den Medien und ihr Einflusspotenzial zu erkunden. Dabei werden aktuelle Zugänge zur Thematik innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Analyse diskutiert. Das Kapitel schließt mit einem Ausblick und dem Argument für mehr interdisziplinäre Forschung auf dem Gebiet der visualisierten emotionalen Kommunikation.

Bilder von Emotionen – Emotionen durch Bilder

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Emotionen. Eine interdisziplinäre Verortung

Der Begriff „Emotion“ lässt sich vom Lateinischen „movere“ (bewegen) herleiten, wobei das Präfix „e“ eine Richtung (aus, hinaus) anzeigt (siehe etwa Goleman 1997, S. 22). Dies deutet bereits die Eigenart von Emotionen an, Handlungen zu veranlassen (Döveling 2005). Zu den Handlungsweisen des Menschen – hierzu zählen interpersonale, aber auch gesellschaftlich-massenmedialen Beziehungen – gehören somit auch diejenigen, die durch emotionalen Antrieb geleitet werden (Döveling 2005, S. 15). Jedoch wurden Emotionen lange Zeit mit Irrationalismus verwechselt und als subjektiv, privat und von kurzfristiger Dauer dargestellt. Diese Tatsache erschwerte die Entwicklung einer sinnvollen Terminologie für Emotionen. Der Terminus „Emotion“ hat somit viele Definitionsversuche erfahren. Aufgrund der zunächst hohen Heterogenität von Emotionstheorien (Kleinginna und Kleinginna 1981) könnte man den Eindruck mangelnder Einsicht oder zumindest Systematik für das Thema vermuten. Doch erfreulicherweise hat sich diese Problematik in den letzten Jahrzehnten zugunsten interdisziplinärer Einsichten auf dem Gebiet gelöst. Es herrscht mittlerweile ein Konsens in Bezug auf: • die Tragweite von Bewertungsprozessen, sogenannter Appraisals, bei der Entstehung von Emotionen (Scherer et al. 2001), • die durch Emotionen ausgelösten Veränderungen in einer Vielzahl von körperlichen Systemen, und • die Relevanz des Zusammenspiels mehrerer Faktoren von Kognition, Physiologie und Verhalten dabei (Kappas und Müller 2011; Kappas 2003; Döveling 2005, S. 36). Die Erforschung des Phänomens Emotion kann folglich nur im Rahmen einer interdisziplinären Orientierung erfolgen.

2.1

Evolutionäre Emotionstheorien

Evolutionäre Emotionstheorien heben hervor, dass sich bestimmte emotionale Handlungsmuster im Laufe der Evolutionsgeschichte des Menschen bewährt haben. Sie betonen sodann die Funktionalität von Emotionen. Die emotionalen Eigenschaften des Menschen sind in dieser Sicht rückgekoppelt an biologische Strukturen des Gehirns, die sich in Millionen von Jahren menschlicher Evolutionsgeschichte entwickelt haben. Jede Emotion bewirkt eine spezifische Handlungsbereitschaft, die den Menschen in eine Richtung weist. Hiernach sind Emotionen Reaktionen auf angenehme, also positive Umweltreize oder negative, potenziell gefährliche Situationen. Je nachdem wird der Mensch zu Handlungen veranlasst, die sich im Laufe der Evolutionsgeschichte für sein Überleben als zweckdienlich erwiesen haben. Die Befähigung zur Anpassung an kulturelle Verschiedenartigkeiten und das „Lesen“ der Emotionen in der interpersonalen Kommunikation ist dabei unzweifelhaft ein Produkt der biologischen Evolution der Spezies des „Homo Sapiens“. Aus diesem Grund stellt die

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evolutionswissenschaftliche Betrachtung der Emotionen einen zentralen Teil des unentbehrlichen Hintergrunds für das Verständnis medialer und sozialer Prozesse dar (Schwab und Schwender 2011). Emotionen dienen dabei der Beurteilung von Reizen im Hinblick auf die Bedürfnisse des Einzelnen. In The Expression of Emotions in Man and Animals führt Darwin (1872, S. 15–19, S. 56–62) Beispiele für emotionale Gesten von Tierarten und Menschen an. Emotionen fungieren als Signale, die den sozialen Akteuren die Intentionen der InteraktionspartnerInnen mitteilen (siehe auch Goleman 1997, S. 20 ff.). Auch wenn sich der Mensch im Verlauf seiner Evolution maßgeblich verändert hat, so haben sich die grundlegenden emotionalen Merkmale doch als konstant erwiesen (Schwab und Schwender 2011; Tooby und Cosmides 2008). „Thus human emotions, with respect to both psychological make-up and behavioral consequences, are also the result of evolutionary processes of adaptation. The human genetic configuration, physiology, and brain have all developed in adaptation to the environment.“ (Schwab und Schwender 2011, S. 21)

Für Paul Ekman ist das Gesicht am besten dafür geeignet, nonverbale Kommunikation auszuüben. Es kann Informationen ausdrücken, sie aber auch zurückhalten. Ekman (1971, 1973) hebt in Anlehnung an die evolutionären Sichtweisen hervor, dass bestimmte, unterschiedliche Bewegungen der Gesichtsmuskeln mit einzelnen Primäremotionen korrespondieren, und dass dies für alle Menschen gleich sei, womit er eine überkulturelle Komponente von universalen, emotionalen Gesichtsausdrücken der Emotionen Freude, Niedergeschlagenheit, Wut, Furcht, Erstaunen und Abscheu identifiziert. Paul Ekman entwickelte zusammen mit Wallace Friesen das Facial Affect Coding System (FACS) zur Analyse des Gesichtsausdrucks (Ekman und Friesen 1978, siehe auch den Überblick bei Döveling 2005, S. 311, siehe auch den Beitrag von Geise zu Methoden der Bildrezeptions- und Wirkungsforschung in diesem Band). Das FACS stellt ein Kategoriensystem dar, welches die visuell unterscheidbaren Gesichtsbewegungen erfasst, die in der Folge kodiert werden können. Die Beobachtungseinheiten stellen insgesamt 44 Action Units (AUs) dar. Diese Kategorien resultieren aus der Klassifizierung von Muskeln, die unabhängig voneinander aktiviert werden können. Die Action Units werden mit Nummern gekennzeichnet, sodass mimisches Verhalten intersubjektiv erfasst werden kann, ohne dass bereits bei der Codierung eine implizite Bedeutungszuordnung einfließt. Die Systematisierung erfolgt in einem zweiten Schritt. Hieraus konnten sechs, nach Ekman und Friesen (1969, 1978) angeborene und damit kulturunabhängige, mimische Basisausdrücke aufgezeigt werden: Angst, Zorn, Trauer, Abscheu, Freude und Überraschung (Abb. 1). Paul Ekman hebt zudem hervor, dass Darstellungsregeln von Emotionen „von klein auf erlernte Techniken [sind, die] das Mienenspiel ausführen und kontrollieren (. . .) können“ (Ekman 1981, S. 179). Diese beeinflussen, welche Gesichtsausdrücke unter welchen Gegebenheiten gezeigt werden. Sie regulieren damit die emotionalen Gesichtsausdrücke. Ekman (1981) beschreibt, dass zwar die Bewegung bestimmter Gesichtsmuskeln die gleiche ist, aber die Stimuli, die eine Emotion hervorrufen, die Darstellungsregeln und die Verhaltenskonsequenz kulturell variabel sein können.

Bilder von Emotionen – Emotionen durch Bilder

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Abb. 1 Sechs mimische Basisausdrücke nach Ekman und Friesen (1978)

2.2

Kognitiv-orientierte psychologische Emotionstheorien

Magda B. Arnold (1960) und Richard S. Lazarus (1991, 2001) verstehen Emotionen als Ausdruck eines kognitiven Akts der Bewertung situativer Bedingungen und als Ausgangspunkt für die Einleitung von Anpassungsreaktionen an diese. Menschen wie auch Tiere, so Lazarus (1991, 2001), bewerten bzw. beurteilen ihre Umwelt in Bezug auf eigene Wünsche und Bedürfnisse. Dies führt zu den kognitiv orientierten Emotionstheorien wie das Stimulus-Evaluation-Check-Modell von Scherer (Scherer 1984; Lazarus 1991; Winterhoff-Spurk 2004; siehe hierzu auch Döveling 2005). Für AnhängerInnen dieser Perspektive sind Emotionen „an episode of interrelated, synchronized changes in the states of all or most of the five organismic subsystems in response to the evaluation of an external or internal stimulus event as relevant to major concerns of the organism.“ (Scherer 2001, S. 93).

Demzufolge durchlaufen Individuen verschiedene Phasen der Bewertung (Appraisals) einer momentanen Situation. Im Verlauf dieser Bewertungsphasen werden die Neuheit, die Angenehmheit, der Zielbezug, die Ursache, die Bewältigungsfähigkeit sowie die Normverträglichkeit des Ereignisses mit Emotionen wie u. a. Freude, Angst, Traurigkeit oder Ärger in Verbindung gebracht (Döveling und Sommer 2008, S. 174). So hebt auch Scherer hervor: „Specifically, the positive/negative evaluation dimension was seen to result from the intrinsic or inherent pleasantness or unpleasantness of a stimulus, the activity dimension from a mismatch between goal-/planrelated expectations and the actual state (requiring action), and the potency dimension from the organism’s estimate of how well it would be able to cope with the particular stimulus event and its consequences.“ (Scherer 1984, S. 38)

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Die sequential evaluation checks, (also die Bewertungen, die eine Person vornimmt) die nicht hintereinander, sondern auch teilweise parallel zueinander verlaufen können, gliedern sich hierbei in folgende appraisal objectives, also Bewertungsgrundsätze (Scherer 2001, S. 94): 1. Wie relevant ist dieses Ereignis für mich? Beeinflusst es mich oder meine soziale Bezugsgruppe direkt? (relevance) 2. Was sind die Implikationen oder Konsequenzen dieses Ereignisses und inwiefern beeinflussen diese mein Wohlergehen und meine mittel- oder langfristigen Ziele? (implicatios) 3. Wie gut komme ich mit diesen Konsequenzen zurecht oder wie gut kann ich mich auf sie einstellen? (coping potential) 4. Was bedeutet dieses Ereignis in Bezug auf mein Selbstverständnis und auf soziale Normen und Werte? (normative significance) (Scherer 2001, S. 94) Innerhalb der Forschung auf diesem Gebiet gilt die Introspektion, also die Beobachtung der eigenen seelischen Vorgänge, als grundlegend. So fasst auch Angela Schorr zusammen: „Major appraisal theorists agree that introspection, or, more generally, self-observation, presently is the most important approach providing access to emotional experience.“ (Schorr 2001, S. 332)

Dieser Ansatz trennt somit nicht die Perspektive der evolutionär begründeten Funktionalität von Emotionen wie Angst, Schmerz oder Freude von biologisch determinierten Prozessen, sondern integriert diese. Innerhalb von Bewertungen (Appraisals) werden also gute oder nützliche von schlechten, potenziell gefährlichen Situationen unterschieden (Leventhal und Scherer 1987; LeDoux 1996). Emotionen sind zudem Teil fast jeden Aspekts des menschlichen Lebens und zugleich selbst Bestandteil und Ergebnis sozialer Prozesse (Gerhards 1988, S. 11–12; Döveling 2005, S. 118). Dies heben sodann in der Weiterentwicklung des Appraisal-Ansatzes auch Manstead und Fischer heraus, wobei sie die Antizipation der Verhaltensweisen anderer ebenso betonen: „What is crucial is that individuals anticipate others’ definitions of the situation and how they are likely to respond to the situation and to our behaviors. This anticipation is needed in order to coordinate social activity: if we act without any consideration of the implications for how we are evaluated by others, we risk losing their esteem and ultimately our social bonds with them.“ (Manstead und Fischer 2001, S. 224)

Auch wenn sie es nicht explizit hervorheben, ist dies hinsichtlich der nonverbalen Vermittlung von Bewertungen durch visuelle Signale und damit bei der Entstehung von Emotionen von entscheidender Bedeutung. Emotionen sind jedoch weder allein als Phänomene der evolutionär bedingten Natur zu klassifizieren, noch ausschließlich kulturell verursacht. Einerseits hält also Ekman mit seiner richtungsweisenden Arbeit Basisemotionen fest, die kulturüber-

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greifend in Gesichtern gelesen werden können – er bezeichnet das Gesicht als fähigsten, „nicht-verbale[n] Lügner“ (Ekman 1981, S. 179). Zudem ist für ihn ebenso bedeutsam, auf die „dahinter liegenden Regeln der Darstellung“ zu achten (Ekman 1981, S. 180). Mit den „Display Rules“ (Ebd.), also den Regeln des Ausdrucks, berücksichtigt er somit andererseits den kulturellen Einfluss auf Emotionen. Emotionen weisen daher einen Zwischenstatus auf, da zwischen kulturellen und biologischen Faktoren und Moderatoren auf emotionale Prozesse kein Widerspruch existiert (Müller und Kappas 2011, S. 311). Stattdessen beeinflussen sowohl kulturelle als auch evolutionär verankerte biologische Einflussfaktoren das Verhalten und Handeln von Menschen.

2.3

Soziologische Emotionsperspektiven

Während die ersten hier vorgestellten Forschungsansätze vor allem auf individueller und interpersonaler Ebene argumentieren, betrachten soziologische Emotionsperspektiven die Entstehungsbedingungen und Wirkungen von Emotionen im gesellschaftlichen Zusammenhang. In den letzten Jahrzehnten hat sich innerhalb der Soziologie ein breites Spektrum an Forschung im Bereich der Emotionen entwickelt. Dabei zeigen verschiedene „Schulen“ unterschiedliche Schwerpunkte auf und beantworten somit unterschiedliche Fragen. Diese Perspektiven schließen sich jedoch nicht aus, sondern stehen in einem Komplementärverhältnis zueinander. Randall Collins (1981) zeigt auf, dass die soziale Wirklichkeit auf Sozialstrukturen basiert, wobei er eine spezifisch emotionale Konstruktion von Wirklichkeit herausarbeitet, die sich von den anderen Formen, dem Instinkt und der Sprache, unterscheidet. Entscheidend für Collins ist dabei die sozial gesellschaftlichstrukturierende Funktion von Emotionen. Überträgt man seine Perspektive auf visuell-vermittelte Emotionen, so lässt sich schlussfolgern, dass visuell vermittelte Emotionen wie die oben genannten, im FACS erkennbaren, nonverbalen Zeichen, 1. das Soziale nicht nur in der horizontalen Dimension von innen nach außen, von System und Umwelt, sondern auch in der Vertikalen, strukturieren und 2. gleichzeitig wichtige Ressourcen in der direkten Interaktion wie auch in der medial vermittelten Information sind. Sie werden direkt oder über Medien ausgetauscht. Das ist eine weitere wichtige Tatsache für das Verständnis des Zusammenhangs von Emotionen und Bildern, wie nachfolgend dargelegt wird und weist interpersonale wie gesellschaftliche Implikationen auf. Medial-visuell vermittelte Emotionen können Menschen verbinden und trennen. Das Thema der Inklusion und Exklusion beschäftigt vor allem auch diejenigen Theoretiker, die Gefühle als Produkt sozialer Verhältnisse betrachten. Hierzu zählen Theodore D. Kemper (1984), Thomas J. Scheff (1988) und im deutschsprachigen Raum Sighard Neckel (1991). In ihren Analysen betonen sie, dass Zusammenkünfte zwischen Personen durch Macht und Status strukturiert werden. Diese zwei zentra-

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len Kategorien ermöglichen in der sozialen Interaktion die wechselseitige Orientierung des Handelns. Die sozialen Ungleichheiten sichern im wesentlichen Maße durch die vermittelten Gefühle, besonders durch eine Art der sozialen Bedrohung, ihren Bestand (siehe hierzu auch Flam 1999, S. 179–199). Emotionssoziologen, die die Verknüpfung zwischen Emotionen und Hierarchie in spezifischen Kontexten untersuchen, betonen dabei, dass Menschen mit höheren Statuspositionen und -charakteristiken im emotionalen Handlungsspielraum freier sind als Individuen, die niedrigere Statuspositionen oder -eigenschaften besitzen. Kritisiert wurde diese sozialstrukturelle Theorie der Emotionen von den AnhängerInnen einer symbolisch-interaktionistisch orientierten Emotionssoziologie. Hierzu zählen vor allem Arlie Hochschild (1979) und Susan Shott (1979). Während die oben genannten, sozialstrukturell ausgerichtete Emotionssoziologen verschiedenartige soziale Konstruktionen als Auslöser spezifischer Emotionen verstehen, fokussiert die interaktionistische Perspektive die in der Interaktion beteiligten Akteure und untersucht ihre Interpretationsleistungen, die zu Emotionen führen. Der Schwerpunkt und der Blickwinkel ist dabei ein anderer. Im Rahmen der symbolisch-interaktionistisch orientierten Emotionssoziologie strukturieren nicht Status und Macht emotionale und soziale Zusammenhänge, sondern die Interpretationsleistungen der beteiligten Akteure. Hinsichtlich der Tragweite von visuellen Emotionen gilt es somit, die Interpretation der einzelnen zu erfassen und mögliche Strukturen und Gemeinsamkeiten in der Bedeutungszuschreibung zu erkennen. Die interaktionistische Auffassung Hochschilds (1979, 1983, 1990), Shotts (1979) und Zurchers (1982) liefert einen Erkenntnisgewinn, der sich für die Analyse der visuellen Kommunikation als entscheidend herausstellt. Emotionen resultieren hiernach aus den Bedeutungszuschreibungen der Akteure (Shott 1979, S. 1330). Durch die wechselseitige Bezugnahme und Interaktion, die eine reziproke Interpretationsleistung der Akteure beinhaltet, entstehen Bedeutungszuweisungen, die dann zu entsprechenden Emotionen der Akteure führen. Dies gilt es, in der direkten Interaktion zu berücksichtigen, aber ebenso in der Bedeutungszuschreibung von Bildern. Folgende Grundgedanken sind in dieser Betrachtungsweise ausschlaggebend: 1. Das Konzept der Emotionsarbeit: Hochschild (1990, S. 30) definiert diese als „das Zeigen oder Unterdrücken von Gefühlen, damit die äußere Haltung bewahrt bleibt, die bei anderen die erwünschte Wirkung hat.“ Und weiter: „Gefühlsarbeit wird (. . .) verkauft und besitzt daher Tauschwertcharakter“ (Hochschild 1990, S. 30–31). 2. Feeling Rules: Aus dieser Prämisse folgt, dass Menschen entsprechende Emotionsregeln, sogenannte „feeling rules“ (Hochschild 1979, S. 551), befolgen müssen. 3. Das Gefühlsmanagement: Der „Ausdruck Gefühlsmanagement (emotion management)“, so Hochschild, „bezieht sich auf (. . .) Handlungen der Gefühlsbeeinflussung (. . .), in dem ihnen ein Gebrauchswertcharakter zukommt“ (Hochschild 1990, S. 30). Sie meint hierbei das Hervorrufen oder die Unterdrückung

Bilder von Emotionen – Emotionen durch Bilder

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bestimmter Gefühle als „the type of work it takes to cope with feeling rules“ (Hochschild 1979, S. 551). Hochschilds Ansatz betont somit die Bedeutung von Emotionsregeln für die Entstehung von Emotionen und berücksichtigt hierbei die sozialen Entstehungsbedingungen von Emotionen und ihre „kulturelle Dimension“ (Gerhards 1988, S. 179). Setzt man nun dieses Konzept mit der Lesart der Emotionen als Handlungsantriebe in Verbindung, die sich 1. einerseits als eine strukturierende Konstruktionsform innerhalb der sozialen Umwelt (Collins 1984a, b) und 2. andererseits als ein Ergebnis der sozialen Wirklichkeit offenbaren (Kemper 1978a, b; Gerhards 1988, S. 61, 124; auch Flam 1999), so müssen die diesen Prozess verbindenden, medial und insbesondere visuell initiierten Wechselwirkungen analysiert werden. Denn: Einerseits werden Emotionen als strukturierende Merkmale in Bildern eingesetzt; andererseits sind sie zugleich Ergebnis der Bedeutungszuschreibung und Interpretation der Akteure.

3

Eine erweiterte, integrative Perspektive auf visuelle Emotionskommunikation

Nach der theoretischen Verortung innerhalb der verschiedenen Teildisziplinen gilt es, diese für die kommunikationswissenschaftliche Analyse nutzbar zu machen. Dies kann nur im Kontext einer integrativen und interdisziplinären Grundorientierung erfolgen. Hinsichtlich der Tragweite von Bildern gilt es der Frage nachzugehen: Wirken einige Bilder eher als andere? Wenn ja, warum? In der Beantwortung dieser Frage argumentieren auch Müller und Kappas (2011, S. 312), dass das Verständnis der Reaktionsprozesse auf emotionale Bilder von einer breiten Palette von interdisziplinären Kooperationen profitiert. Im Folgenden soll dieser Gewinn einer interdisziplinären Perspektive für weitere Forschungen dargelegt werden. Wenn es stimmt, dass Bilder in besonderer Weise emotionale Erfahrungen auslösen und zudem „eine Flucht in imaginäre Welten begünstigen“ (Sachs-Hombach 2003, S. 268), dann erscheint es nicht nur nahe liegend, sondern sogar zwingend erforderlich, diese Aspekte zu konkretisieren. Die Appraisal-Theorie als Zweig der kognitiv orientierten Emotionspsychologie konzentriert sich auf die persönliche Bedeutung von Ereignissen und Objekten in der Entstehung von Emotionen. Dies ist für die Entstehung von Emotionen, ausgelöst durch Bilder von zentraler Bedeutung. So heben auch Müller und Kappas die Notwendigkeit der Verbindung des Appraisal-Ansatzes mit der Analyse von Bildern hervor: „Combining both approaches could lead to disclosing the meanings of visual emotions and emotional visuals.“ (Müller und Kappas 2011, S. 314). Im Hinblick auf die Bedeutung von Emotionen heben die Autoren zwei Erzeuger von Bedeutungszuschreibungen hervor:

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1. ProduzentInnen von Bildern weisen diesen eine bestimmte Bedeutung zu. 2. Bedeutungen entstehen auf der Seite der RezipientInnen. Es liegt auf der Hand, dass nicht jede intendierte Bedeutungszuschreibung aufseiten der ProduzentInnen auch eine entsprechende Bedeutungszuweisung durch die Rezipierenden erfährt. Frühere Erfahrungen, Wissen und situative Faktoren werden hier wirksam. Zudem sind auch hierbei kulturelle Einflüsse und die oben genannten Interpretationsleistungen der Akteure von entscheidender Bedeutung. Die integrative Analyse des Zusammenhangs von z. B. visueller Berichterstattung und Emotionen, muss, um Validität beanspruchen zu können, in einen kultursoziologischen Rahmen gefasst werden. Zum Verständnis des komplexen Verhältnisses von kollektiv-emotionalen Ereignissen und (massen)medial, visuell-emotionalisierenden Darstellungen erweisen sich die zuvor skizzierten Erkenntnisse zeitgenössischer Emotionssoziologen als hilfreich. Kommunikationswissenschaftlich relevant ist: Bilder in den (Massen-)Medien stellen immer eine Auswahl aus dem tatsächlichen Geschehen dar, die unter anderem vom Journalisten oder der Journalistin getroffen wird. Soziologisch betrachtet, dienen medial distribuierte Bilder, einer kommunikativen und gesellschaftlichen Orientierung und vermitteln somit bestimmte Konstruktionen einer sozialen Realität (Müller 1997, S. 17–25). Untersuchungen belegen, dass visuelle Informationen grundsätzlich salienter sind als verbale (Scheufele 2001, S. 146–147). Bilder bewirken mehr Aufmerksamkeit als Texte. Sie suggerieren direktes Miterleben und steigern die emotionale Beteiligung (Müller 2003, S. 72, 189; Scheufele 2001, S. 148). In der Kommunikationsund Medienwissenschaft wurde jedoch bis dato noch keine einheitliche Methodik der Bildanalyse entwickelt. Einzelne Ansätze sind vorhanden, jedoch wurde noch keines als umfassendes Standardinstrument angenommen. Dies liegt sicherlich daran, dass je nach Fragestellung unterschiedliche Methoden Anwendung finden (etwa Knieper 2003; Sachs-Hombach 2003; Grittmann 2001; Van Leeuwen und Jewitt 2001; Rössler 2001; Emmison und Smith 2000; Müller 1997; Geise und Rössler 2012). Aufgrund der Heterogenität der Bilder, ihrer verschiedenen Erscheinungsarten und der Vielfalt an empirischen Zugängen erscheint es zunächst schwer, das „Gemeinsame“ in der Bildsprache herauszuarbeiten. Howard Becker betont zudem, dass Fotografien immer in den entsprechenden Kontext gestellt werden müssen. „[P]hotographs get their meaning from the way the people involved with them understand them, use them, and thereby attribute meaning to them.“ (Becker 1995, S. 5; auch Chaplin 1994, S. 159; Dorsch-Jungsberger 2003; Knieper 2003, 2005). Zur Entwicklung eines Analyseinstrumentariums für Bilder und deren emotionalen Wirkpotenzials wird daher nun ein Blick in drei Richtungen geworfen. Dabei sind eine Untersuchung von Werbeabbildungen durch Williamson (1978), die Analyse Sachs-Hombachs zur Bildwissenschaft (2003) und der symboltheoretische Ansatz Goodmans (1968, 1973) ergiebig. Wie sich nachfolgend herausstellt, ergänzen sie die zuvor dargelegten Ansätze, wodurch ein möglicher Schlüssel für die Analyse von Bildern von Emotionen sowie von Emotionen durch Bilder angeboten

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wird. Diesen Perspektiven ist gemein, dass sie die mit den Bildern verbundenen semiotischen Bedeutungszuschreibungen ergründen. Für Williamson stellen Werbeanzeigen Ansammlungen von Zeichen dar, die eine bestimmte Bedeutung produzieren. Das Zeichen besteht aus zwei Elementen dem „Signifier“, dem materiellen Objekt, Wort oder Foto, und dem „Signified“, der Bedeutung, die mit dem materiellen Objekt, Wort oder Foto verbunden wird (auch Ball und Smith 1992, S. 48, siehe auch den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band). Sachs-Hombach (2003) unterstützt diese Auffassung und differenziert zwischen „Bilderträger“, „Bildinhalt“ und „Bildreferenten“. Während der Bildträger den „physische[n] Gegenstand, dem wir aufgrund einer internen Struktur einen Inhalt zuweisen“, meint, umfasst der Bildinhalt, „das, was wir im Bild sehen, also die interpretierten repräsentationsrelevanten Eigenschaften“, und der Bildreferent „ist schließlich das, worauf wir uns mit dem Bild beziehen“ (Sachs-Hombach 2003, S. 80–81). Hiermit rückt zugleich die Bildverwendung als ein „kommunikativer Akt“ in den Vordergrund (Sachs-Hombach 2003, S. 82). Legt man dieses Verständnis von Bildsprache zugrunde, dann werden Bilder als intentionale Handlungen erfasst, die bestimmten Regeln im Rahmen eines Zeichenkontextes folgen. Demzufolge entspricht das Symbol einer „Gesetzmäßigkeit oder einer Gewohnheit“, „wie sie bei Konventionen oder aber sozialen Gebräuchen vorliegen“ (Sachs-Hombach 2003, S. 42). Die Komplexität der emotional-visuellen Kommunikation durch Bilder kann somit analytisch reduziert werden, indem die gemeinsame Kodierung des Abbildcharakters eines Bildes fokussiert wird. „Die Wahrnehmungssteuerung mittels Legende“ (Doelker 1997, S. 59) rückt hiermit in den Vordergrund. Diese fixiert eine bestimmte Lesart und den Interpretationsrahmen. Die Analyse der in den Bildmedien immanenten symbolhaften Zeichen in Kombination mit der textlichen Rahmengebung stellt so eine gewinnbringende Möglichkeit dar, die visuelle Darstellung von Menschen in den (Massen-)Medien zu verstehen. Diese Überlegungen lassen sich mit dem von Hochschild vorgestellten Konzept des Emotionsmanagements (Hochschild 1979) verbinden und hier um die visuelle Komponente erweitern. Grundlegend ist zunächst, dass Bilder eine „korrelative Zeichenarbeit“ offerieren (Döveling 2005, S. 218; Williamson 1978; auch Ball und Smith 1992, S. 48). Die interpretativ zugeschriebene Bedeutung, die der bzw. die Betrachtende mit einer Person oder einer Situation assoziiert, wird dabei auf das Bild übertragen. Diese Assoziation findet in Referenzsystemen statt, die ein Gefüge von Unterschieden darstellen. Das Bild greift sodann die Bedeutungen von Personen auf und setzt diese mit bestimmten Merkmalen in Verbindung. Hierdurch werden die Assoziationen und Bedeutungen, die mit bestimmten Personen verbunden werden, anschaulich. In der visuellen Darstellung wird so eine interaktive, visuelle Bedeutungszuweisung geschaffen. Durch die dargestellte Systematisierung wird eine interaktionistische Bedeutungszuweisung innerhalb der Bilder fokussiert, die einen Interpretationsrahmen anbietet. Durch die Verbindung der Darstellung von Referenzen wird ein Rahmen offeriert, der dann zu Emotionen führen kann.

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Bezieht man diese Sichtweise nun auf das dargelegte emotionssoziologische Konzept der Emotionsarbeit, so stellt sich die Frage, wie Bildmedien in einem visuellen Frame bestimmte Bewertungsmuster, die zu Emotionen führen, nahe legen und so die Wahrnehmung von der „Welt“ beeinflussen. • Leisten Bilder innerhalb ihrer korrelativen Zeichenarbeit durch die Bezugnahme auf Referenzsysteme visuelles Emotionsmanagement? • Und wenn, ja inwiefern? In Anlehnung an das von Hochschild entwickelte Konzept des Emotion Management (Hochschild 1979) wird hier visuelles Emotionsmanagement als intra- und interpersonale Aushandlung von Bewertungen verstanden, die durch kulturell tradierte Bilder, auf Seiten der ProduzentInnen und RezipientInnen eine wechselseitige Bedeutungs- und Interpretationsleistung, vor dem Hintergrund kulturell normierter Gefühlsregeln, Gefühle initiiert, modifiziert, potenziert oder hindert. Durch die wechselseitige Bezugnahme und damit der reziproken Interpretationsleistung der Akteure wird schließlich zusammen mit dem Konzept der korrelativen Zeichenarbeit in einem Bezugssystem eine Entschlüsselung der visuellen Kodierung ermöglicht. Im Sinne einer interaktionistischen Methodik der Bildanalyse werden die in diesem Bedeutungskontext vermittelten visuellen Bedeutungszuweisungen fokussiert und ergründet, wie diese in ihrer Gesamtheit ein „visuelles Emotionsmanagement“ darlegen (Hochschild 1979, S. 555; Shott 1979, S. 1318). Legt man das hier aufgeführte Verständnis von Emotionen zugrunde, so lässt sich schlussfolgern, dass die visuelle Darstellung und Rezeption bestimmten Gefühlsregeln folgt und somit eine En-und Dekodierung von Emotionen in einer dargebotenen visuellen Gefühlskultur erkennen lässt. In der visuellen Verbindung der Referenzsysteme werden so Bedeutungsträger von Emotionen offenbar und soziale Sinnzusammenhänge emotional innerhalb eines visuellen Gefühlsmanagements strukturiert. Vor allem vor dem Hintergrund einer Erörterung der medialen Darstellung von Personen und der mit ihnen verbundenen Emotionen liegen die hieraus folgenden Implikationen nahe: 1. Einerseits ermöglichen die dargebotenen visuellen Informationen Gedächtnisinhalte, die eine Entwicklung der Enkodierung von Informationen bedingen (Kanning 1999, S. 66–67). Döveling und Grittmann (2009) konnten inhaltsanalytisch aufzeigen, dass sich das Bildangebot von Spiegel Online von der Visualisierung der Spiegel Printausgabe vor allem in Hinblick auf die Darlegung von Emotionen, speziell der Dramatisierung und Intimisierung nicht wesentlich unterscheidet. 2. Andererseits werden in einem interpretativen Prozess die hervorstechenden Attribute einer Person oder jene, die bestimmte Erwartungen und Bedürfnisse der BeobachterInnen erfüllen, begünstigt (Kanning 1999, S. 222). Durch diese integrative Perspektive kann aufgezeigt werden, in welchem Kontext eine Person dargestellt wird und welche möglichen Assoziationen durch korrelative

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Zeichenarbeit hervorgehoben werden. Hiermit zeigt sich ein unmittelbarer Bezug zum Konzept der parasozialen Interaktion und Beziehung. Gemeinsamkeiten mit dargestellten Personen können die Konstruktion einer „gemeinsamen Welt“ eine „parasoziale Interaktion“ fördern (Fabian 1993, S. 147). Zudem werden im Kontext mit der Gratifikationsforschung die „affektiven Bedürfnisse“ (Schenk 2002, S. 652) berücksichtigt und untersucht, inwiefern in den Bildmedien ein Angebot des Vertrautseins in der Darlegung des Menschlichen auffällig wird. Visuelle Kommunikation in Form von Bildern weist insofern auf eine Regelhaftigkeit hin, die einen Beziehungsaspekt offen legt und in der Verwendung von symbolhaften Zeichen einen Interpretationsrahmen schafft, der die kommunikative und richtunggebende Funktion durch das Einhalten von Konventionen erkennen lässt (Schelske 1999, S. 145). Im Sinne Hochschilds wird Gefühlsarbeit verkauft und ein emotionaler Tauschwertcharakter in der visuellen Darlegung anschaulich. Hierdurch kann aufgezeigt werden, dass Bilder eine emotionale Orientierung anbieten und bestimmte Konstruktionen einer visuell erfahrbaren Welt liefern. Der kommunikative Gehalt erschließt sich hierbei im Rahmen eines Referenzsystems, der das emotionale Bildverständnis unterstützt (Sachs-Hombach 2003, S. 190). Hierdurch werden Bildstrategien erkennbar, die den Zusammenhang von Bildmotiven, Themen- und Bedeutungszuweisungen offen legen und den Produktions-, Selektionsund Interpretationsprozess im Rahmen gesellschaftlicher Wertevorstellungen verorten. Es ist genau diese gesellschaftspolitische Relevanz, die die Erforschung von Bildern und ihrem emotionalen Wirkungspotenzial so dringend macht. Bereits Durkheim hebt in seiner religionssoziologischen Schrift Les formes élémentaires de la vie religieuse (Originalfassung von 1912) hervor, dass eine zentrale Komponente beim Phänomen der kollektiven Gefühle das Kollektivbewusstsein darstellt, das als Zeichensystem konzipiert werden kann, d. h. das Kollektivbewusstsein arbeitet mit Bildern, Szenen und Zeichen (Durkheim [1912] 1998; König 1978; siehe hierzu auch Döveling 2005). Emotionen beziehen sich nicht nur auf materielle Objekte. Aufschlussreich für die Analyse ist, dass sich das Gefühl von einem konkreten Objekt lösen und sich dadurch verselbstständigen kann. Hierzu benötigt es einen Träger. Es heftet sich somit an ein Zeichen, das dadurch eine Stützfunktion übernimmt. Daher kann das Zeichen selbst Gefühle evozieren. Das Zeichen ist für die Übertragung sehr effizient. Das Zeichen, Symbol oder Bild – Durkheim trennt die Begriffe hier nicht präzise – ist gemeinschaftsbildend, da es die Gefühle der Individuen vereint. Es kann außerdem für die Gemeinschaft selbst stehen, wie zum Beispiel eine Fahne, und dadurch die Gefühle der Gemeinschaft repräsentieren und evozieren. „Durch das Bild werden die Gefühle ständig wachgehalten und belebt. Es ist, als ob das Bild sie direkt einflößen würde. Es ist umso natürlicher, sie dem Bild zuzuschreiben, als sie der Gruppe gemeinsam sind und nur auf eine Sache übertragen werden können, die der Gruppe ebenfalls gemein ist.“ (Durkheim ([1912]1998, S. 303))

Eindrucksvoll lässt sich dies am Beispiel der Vergemeinschaftung zeigen. Schließlich verfügt jede Vergemeinschaftung über bestimmte Erkennungszeichen,

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die für die Gruppe gemeinsam sind. Grundlegend ist: Kollektive Vorstellungen sind mit den Dingen auf die sie sich beziehen, verbunden. Diese Perspektive weist weitreichende Konsequenzen auf: Die Bilder der Terroranschläge auf die USA, Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto oder der Fall der Berliner Mauer, sind nur einig Beispiele dafür, dass Bilder Emotionen bewirken und dadurch weitreichende gesellschaftspolitische Konsequenzen haben. Sie bündeln Emotionen und damit beweisen sie ihre gesellschaftliche wie politische Tragweite.

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Fazit und Ausblick

Der vorliegende Beitrag zeigte einerseits, wie Bilder Emotionen in der direkten Interaktion und gesellschaftlichen Kommunikation transportieren. Dabei galt es zudem, der gesellschaftlichen Tragweite medial präsentierter Bilder in ihrer emotionalen Wirkung Rechnung zu tragen. Die Analyse der visuellen Kommunikation und vor allem ihre emotionale Bedeutung in der Medienwirkungs- wie auch der Medieninhaltsforschung, die den Einfluss von (Massen-)Medien auf konkrete gesellschaftliche und politische Prozesse untersucht, stellt ein interdisziplinäres Forschungsgebiet dar, das in allen Bereichen der Kommunikationswissenschaft relevant ist. Die Implikationen werden beispielhaft anhand verschiedener Analysen diskutiert: Im Rahmen der politischen Kommunikation gilt es, den Einfluss von in Bildern transportierten Emotionen auf politische Meinungen, wie beispielswiese im Rahmen der politischer Propaganda, zu verstehen (Zanker 1990; Petersen 2005). Im Bereich der Rezeptions- und Wirkungsforschung zeigen verschiedene Perspektiven die Relevanz der kontinuierlichen Analyse von Emotionen auf: So konnte auch Zillmann darlegen, dass Bilder in einem Fernsehbeitrag über die Gefahren des Hautkrebses die Einschätzung der Befragten über das Risiko, an Hautkrebs zu erkranken, langfristig veränderten (Sargent und Zillmann 1999). Auch im Kontext der Wahrnehmungspsychologie ist die Analyse von Bildern relevant. Zillmann et al. (2001) präsentierten Befunde, die darlegen, dass emotionalisierende Abbildungen nicht nur die Aufmerksamkeit der LeserInnen wecken, sondern sie auch an dem betreffenden Artikel festhalten und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Text des Artikels aufmerksam gelesen wird (Zillmann et al. 2001). Mediensoziologische Implikationen werden vor dem Hintergrund der zunehmenden Bebilderung von (Massen-)Medien evident. Bildern wie die hier skizzierten Analysen (siehe auch Döveling 2005, 2007) zeigen, kommt insbesondere in Vergemeinschaftung eine tragende Rolle zu, da Bilder Emotionen nicht nur symbolisieren, sondern auch kanalisieren können. Aktuelle Forschungsfelder wie die Emotionsregulation in Sozialen Netzwerken (Döveling 2015a), aber auch der Einsatz von Emoticons (Döveling 2015b) versprechen weitere wichtige Einblicke in visuell vermittelte Emotionen in unterschiedlichen Medienumgebungen. So halten auch Derks et al. (2008) fest:

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„emoticons do have an impact on message interpretation. Emoticons are useful in strengthening the intensity of a verbal message. Furthermore, it is possible to create ambiguity and express sarcasm online by varying the valence of the emoticon and the valence of the message.“ (Derks et al. 2008, S. 379)

Skovholt et al. (2014) zeigen etwa verschiedene Funktionen von Emoticons in arbeitsbezogenen E-Mails auf. Sie kommen zudem zum Schluss, dass die verschiedenen kommunikativen Funktionen von Emoticons in der unterschiedlichen Onlinevermittelten Kommunikation wie Chats, Wikis, Blogs bis dato eine Forschungsglücke darstellen (Skovholt et al. 2014, S. 794). Im internationalen Codierstandard Unicode sind weit über 1000 Emoticons und Emojis hinterlegt (Davis und Edberg 2015), was die immense Bedeutung dieser Ausdrücke für die Kommunikation via neuer Medien noch einmal unterstreicht (Abb. 2). Aber auch die weiter anhaltende Popularität von Reality TV Sendungen (Döveling 2011) zeigt die Tragweite und Relevanz der Analyse von Emotionen auf, denn „audiovisuelle Fernsehbilder haben eine symbolische Qualität, da sie Bestandteil der symbolischen Kommunikation im Rahmen der Gesellschaft sind. Im Fernsehen weisen audiovisuelle Bilder eine Verbindung von Bild, Ton, Sprache und Schrift als Bestandteil von Kultur auf“ (Döveling 2011, S. 179). Hiermit wird die Tragweite in der Vermittlung einer visuellen Kompetenz deutlich, da Bildern, sofern sie einer vermeintlichen fotografischen Abbildrealität folgen, wie beispielsweise Fotografien und Fernsehbilder, neben der symbolischen Qualität auch eine ikonische Qualität, und damit Authentizität zugeschrieben wird (Mikos 2000, S. 8). Dies kann durchaus als problematisch erachtet werden, da durch die zunehmende Inszenierung in hybriden Formaten die Grenzen von Authentizität und Inszenierung weiterhin verschwimmen (siehe den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Will man derartige Phänomene verstehen, dann kommt man nicht umhin, das Thema der Beziehung von Bildern und Emotionen, der in den Bildern dargelegten Rahmengebung und der von RezipientInnen zugeschriebenen korrelativen Zeichenarbeit sowie der inhärenten, kulturellen Kodierungen und Emotionsregeln zu thematisieren. Die interdisziplinäre Perspektive, die die psychologische Bewertungszuschreibungen (Appraisal) der Einzelnen ebenso erfasst wie Interpretationsleistungen, und Gefühlsregeln, die im Rahmen der Emotionssoziologie relevant sind, bietet hierzu ein Instrumentarium, das zu neuen Einsichten verhelfen kann. Nicht das einzelne Bild, die einzelne Emotion wird untersucht, sondern die Kontextualisierung

Abb. 2 Übersicht der nach UTF-8 modifizierbaren Emojis. (Quelle: Davis und Edberg 2015)

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im Rahmen einer bildlichen Geschichte. Textliche Interpretationshilfen werden zudem nicht außer Acht gelassen, sondern als Leitfaden zur Sinnzuschreibung mit berücksichtigt. Hierdurch kann ein Gesamtkontext der bildlichen Kommunikation ergründet werden (siehe auch den Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band). Das Konzept der bildlichen Emotionsarbeit in Verbindung mit den Gefühlsregeln erweist sich als nützlich, betrachtet man die Medienproduktion nicht als alleinstehende Größe, sondern als abhängige Variable im Kontext von konkurrierender Medienproduktion und -rezeption. Die Darstellungsweisen der Text-Bildbotschaft (siehe auch den Beitrag von Bucher in diesem Band) werden so nicht als ungeordnet und separat ergründet, sondern im Kontext eines zu befolgenden Anspruchs auf Seiten der KonsumentInnen. Der Redakteur bzw. die Redakteurin kann so als „moderne[r] Ikonograf“ (Grittmann 2001, S. 274) bzw. als moderne Ikonografin verstanden werden, der bzw. die die entscheidenden emotionalen Sinnzusammenhänge nahe legt. In diesem Sinne folgt nicht nur die textliche Nachrichtenselektion und -aufbereitung bestimmten Regeln, sondern ebenso die Auswahl und Zusammenstellung der bildlichen Komponenten. Durch das Konzept der visuellen Emotionsarbeit lässt sich schließlich auch die Eigenart der visuellen Berichterstattung herausfiltern und die Anordnung und Klassifizierung der Bilder und Texte im Zusammenhang erörtern. Der hier dargelegte integrative Ansatz betont somit, dass auch Bilder einer Ordnung folgen, die eine Struktur erkennen lassen. In Bezug auf visuell emotional motivierte Kommunikation bietet das genannte Konzept der Gefühlsarbeit im Sinne des Befolgens bestimmter Gefühlsregeln einen möglichen Schlüssel zur Analyse visueller Kommunikation, um die Struktur und Anordnung visueller Elemente zu verstehen. Es ermöglicht, die visuelle Kommunikation in einen gesellschaftlichen Kontext zu bringen, welcher Aufschluss über kulturelle Kodierungen, Sinnzusammenhänge und Konventionen gibt. Beachtet man zudem, dass in einem „generic turn“ bestimmte Elemente hervorgehoben, andere vernachlässigt werden (Perlmutter 1998, 2005), so lässt sich schließlich im Rahmen des hier vorgeschlagenen „Visuellen Emotionsmanagements“ das Grundmuster, das „Gemeinsame“, in der Bildsprache herausarbeiten. Das Forschungsfeld der Emotionen in Bildern und der durch Bilder ausgelösten Emotionen verspricht somit weitere gewinnbringende Studien. An Relevanz verlieren wird es sicher nicht. Danksagung Für die sorgfältige Durchsicht danke ich Sebastian Koch und Moritz Waschbüsch, Universität Leipzig.

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Retro, Vintage, Nostalgie Zur visuellen Kommunikation des Vergangenen und des Vergehens Manuel Menke und Katharina Niemeyer

Inhalt 1 Einleitung: Über die Faszination von Bildern des Vergangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wandel und Verlust: Nostalgie zwischen Heimweh und Vermarktung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 (Visuelle) Medien und Nostalgie in spätmodernen Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Vintage und Retro als Bildästhetiken visueller Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Visuelle Erinnerungspraktiken in Zeiten der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit: Visuelle Erinnerungskultur zwischen Gefühl, Geschichte und Populärkultur . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Erinnerungskulturen sind maßgeblich durch visuelle Medien geprägt und die meisten Gesellschaften erinnern im Zuge der Digitalisierung zunehmend anhand von Bildern. Dieser Beitrag diskutiert vier Vergangenheitszugänge von Bildern: die Vergangenheit von visuellen Medien an sich (Archivfunktion/Akkumulation), die (Re-)Konstruktion des Vergangenen durch Archivbilder, die formal-ästhetische Imitation des Vergangenen und fiktive Bilder als Imagination der Vergangenheit. Am Beispiel von Vintage- und Retrobildern wird geklärt, wie sich diese Vergangenheitszugänge in unterschiedlichen medialen Kontexten und Bildästhetiken zeigen und inwiefern daran ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Nostalgie ablesbar ist.

M. Menke (*) Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Niemeyer Faculté de communication – École des médias, Université du Québec à Montréal, Montréal, Kanada E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_36

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Schlüsselwörter

Nostalgie · Retro · Vergangenheit · Vintage · Visuelle Erinnerungskultur

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Einleitung: Über die Faszination von Bildern des Vergangenen

Vergangenes, so formulierte es Paul Ricœur (2004, S. 79–94), wird uns meist über Bilder vermittelt, während wir Bilder gleichzeitig dafür verwenden, bedeutungsvolle Ereignisse und Momente unserer Lebensgeschichte festzuhalten, zu erinnern und an andere zu kommunizieren. Wie auch das geschriebene Wort, ist die visuelle Kommunikation also nicht nur gegenwarts- und zukunftsorientiert, sondern macht gleichzeitig auch Vergangenes zugänglich und erlaubt es, vergangene Ereignisse oder Begebenheiten aus gegenwärtigen Vorstellungen und Betrachtungsweisen heraus zu konstruieren. Dies kann etwa über institutionalisierte Geschichtsschreibung mit vermeintlichem Objektivitätsanspruch geschehen, welche Aufzeichnungen und Bilder aus Archiven als (nicht unumstrittene) Quelle kombiniert (Knoch 2005, siehe auch den Beitrag von Rössler und Dussel in diesem Band). Ebenso sind mit Blick auf das kollektive Gedächtnis auch populärkulturelle und dabei häufig fiktionale Inhalte wie zum Beispiel historische Fernsehserien1 zu nennen, für welche oftmals auch HistorikerInnen zu Rate gezogen werden (Assmann 1988; Roberts 2001). Nicht zuletzt muss aber auch auf Ebene des kommunikativen Gedächtnisses die Alltagskommunikation über Vergangenheit in Familien und gesellschaftlichen Gruppen hinzugezählt werden (Assmann 1988; Welzer 2002), die sich oftmals über visuelle Medien wie Fotografie und Familienfilme vollzieht. In allen Fällen ist und bleibt die Vergangenheit aber ein „foreign country“ (Lowenthal 1985), das immer wieder neu visuell bereist und kommuniziert werden kann. Dabei ist nicht zu vergessen, dass visuelle Medien, vom Kinofilm zur Nachrichtensendung bis hin zum Meme oder dem animierten GIF, selbst auch an historiografischen Prozessen teilnehmen und gleichzeitig (ihre eigene) Geschichte (re-)konstruieren (Crivellari und Grampp 2004; Dayan und Katz 1995; Downing 2004; Ludes 1991; Wendler 2014). Medien sind zudem mit kollektiver Gedächtnisarbeit befasst, indem sie beispielsweise Nachrichtenarchivbilder wieder in neue Medieninhalte einarbeiten und die ZuschauerInnen etwa an (mediatisierten) Gedenkfeiern und Rückblicken aktiv teilnehmen lassen (Niemeyer 2011; Volkmer 2006). Bei dieser Vielseitigkeit des gesellschaftlichen Erinnerns und des Einsatzes von visuellen Medien ist es hilfreich, von vier möglichen Vergangenheitszugängen von Bildern zu sprechen, die dabei aber nicht als vollständig trennscharfe Kategorien betrachtet werden sollten:

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Die Grenzen zwischen Information und Fiktion sind natürlich diskutierbar, denn selbst die narrative Geschichtsschreibung hat bisweilen fiktionalen Charakter (Ricœur 2004, S. 366).

Retro, Vintage, Nostalgie

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1. Durch Archivierung werden gegenwärtige visuelle Medien selbst Bestandteil der „visuellen Vergangenheit“ von Gesellschaften und somit inhaltlich und ästhetisch Zeugen ihrer Zeit; auf Ebene des kommunikativen und des kollektiven Gedächtnisses. 2. Visuelle Medien ermöglichen demnach die (Re-)Konstruktion des Vergangenen durch Aktivierung des Archivs. 3. Visuelle Medien machen es möglich, das Vergangene formal-ästhetisch zu imitieren. 4. Visuelle Medien machen außerdem den Zugang zu einer Imagination des Vergangenen über fiktionale Inhalte und Formen möglich. Es soll in diesem Beitrag nicht um eine isolierte Betrachtung dieser vier Funktionen gehen und damit auch nicht um eine kommunikations- und medienwissenschaftliche Neuauflage der Diskussion über die Unterschiede zwischen Erinnerung/ Gedächtnis und Geschichte, wie sie in der Geschichtswissenschaft und den Cultural Memory Studies immer wieder geführt wird. Die hier hervorgehobenen Vergangenheitszugänge visueller Medien sollen vielmehr als Orientierungspunkte dienen, denn die Auseinandersetzung mit dem Vergangenen kann individuell sowie gesellschaftlich in verschiedensten Kontexten und anhand unterschiedlichster visueller Medien stattfinden. Der Beitrag legt besonderes Augenmerk auf Nostalgie, verstanden als affektive Zuwendung zur Vergangenheit, die sich nicht nur in einem gesellschaftlich beobachtbaren Gefühl der Sehnsucht nach Vergangenem äußert (Menke 2017a), sondern gleichzeitig in einer bildästhetischen Kultur des Erinnerns, deren Bedeutungszuschreibungen sich in den jeweiligen Produktions- und Rezeptionszusammenhängen stets wandeln (Niemeyer 2016). Nicht jedes auf Instagram publizierte Sepia-Bild oder jeder Familienfilm, der Super-8 Technik imitiert, muss auch einen nostalgischen Ursprung haben. Diese Bilder sind auch nicht zwangsweise mit der Intention produziert, Nostalgie im Betrachter bzw. in der Betrachterin zu wecken. Dieser Beitrag spürt mithilfe der bisher in der Nostalgieforschung diskutierten Ansätze und Theoretisierungen der anhaltenden Faszination von Vergangenem nach. Diese zeigt sich in jüngster Zeit nicht mehr nur in nostalgischen Angeboten der Massenmedien, sondern insbesondere auch in der nostalgischen Beschäftigung mit früheren (audio-)visuellen Medieninhalten in der Online-Kommunikation. Dabei wird es nachfolgend zunächst um die individuellen und kollektiven Entstehungsbedingungen von Nostalgie und ihre Rolle im Umgang mit sozialem und kulturellem Wandel in modernen Gesellschaften gehen. Anschließend werden konkrete nostalgische Bildästhetiken wie Vintage und Retro erläutert, um diese adäquat im Kontext gegenwärtiger visueller Medieninhalte und -formate zu diskutieren. Abschließend werden Nostalgie und Bildästhetik miteinander in Verbindung gesetzt, indem nachvollzogen wird, wie diese heute in visuellen Erinnerungspraktiken im Alltag von Menschen zusammenlaufen und dabei insbesondere in der OnlineKommunikation Teil einer potenziell (teil-)öffentlichen (Re-)Konstruktion von Vergangenheit werden.

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Wandel und Verlust: Nostalgie zwischen Heimweh und Vermarktung

Am Beginn der Nostalgieforschung steht das Bild der Heimat. Es repräsentiert den Ort, der für Gefühle der Geborgenheit und Sicherheit steht sowie für die Unschuld einer sorgenfreien Kindheit. Eingeführt wurde es vom Schweizer Arzt Johannes Hofer, der 1688 eine Dissertation über die Sehnsucht Schweizer Soldaten nach der Heimat und dem Vaterland verfasste. Diese Arbeit legte den Grundstein für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nostalgie. Darin heißt es, dass einige Schweizer Soldaten im Auslandseinsatz körperliche und psychische Symptome zeigten, die einem krankhaften Heimweh entsprächen, bei welchem die Gedanken der Betroffenen nur noch um ihre Erinnerungen an die Heimat und den Wunsch der Rückkehr kreisen. Aus diesem Grund gab Hofer dieser vermeintlichen „Krankheit“ den pseudo-griechischen Namen Nostalgie, der sich aus den Wörtern „nostos“ (Rückkehr) und „algos“ (Schmerz/Trauer) zusammensetzt (Hofer 1934 [1688], S. 381). In dem Begriff spiegeln sich bereits die zwei affektiven Dimensionen wider, die Nostalgie vereint und sie zu einem bittersüßen Gefühlszustand machen. Einerseits ist das Erinnern an die Vergangenheit erfüllend, während andererseits Trauer über den Verlust und die Unmöglichkeit einer zeitlichen und/oder räumlichen Rückkehr besteht (Hart 1973, S. 399). Die besondere Wirkung von Bildern auf den Gemütszustand (Döveling 2005; siehe auch den Beitrag von Döveling in diesem Band) zeigte sich bereits bei den vermeintlich an Nostalgie erkrankten Soldaten, bei denen Bilder aus der Heimat die Symptome linderten und daher als mögliche „Heilmittel“ galten (Bolzinger 2007). Während Hofer allerdings noch davon ausging, dass durch Nostalgie im schlimmsten Fall der Tod drohe, besteht heute Einigkeit darüber, dass es sich bei Nostalgie nicht um eine Krankheit handelt. Vielmehr liefert die gegenwärtige sozialpsychologische Forschung zahlreiche Hinweise darauf, dass Nostalgie durchaus eine hilfreiche und Sicherheit vermittelnde Ressource im Umgang mit Wandel ist, mit der emotionales Wohlbefinden sichergestellt werden kann, wenn Überforderung und Stress auftreten (Sedikides et al. 2015). So typologisieren Sedikides und KollegInnen Nostalgie als: [P]redominantly positive, albeit bittersweet, and self-relevant. It is characterized by a highlevel construal pattern, whereby nostalgic (vs. ordinary or positive) memories are retrieved more abstractly and interpreted in a gist-oriented manner. (. . .) It entails a redemption rather than contamination trajectory. Its content is considered atypically positive, and its ensuing net positive affect may be due to memorial mechanisms that underlie the fading of unpleasantness. It is triggered by a variety of external stimuli or internal, discomforting states. (Sedikides et al. 2015, S. 207–208)

Dass Nostalgie überwiegend positive Gefühle weckt, ist darauf zurückzuführen, dass die Vergangenheit romantisiert erinnert wird. Im Englischen wird Nostalgie auch mit der Metapher des „rose-tinted glass“ beschrieben, durch welches der Betrachter seine Vergangenheit in Augenschein nimmt (Hepper et al. 2012, S. 114). Der Blick durch diese rosarote Brille ist eingefärbt und verzerrt; es wird das Bild einer idealisierten Vergangenheit konstruiert. Nostalgisches Erinnern fokussiert entsprechend auf positive Erfahrungen und Imaginationen der Vergangenheit.

Retro, Vintage, Nostalgie

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Visuelle Medien, in welchen Vergangenes (re-)konstruiert oder imitiert wird, erlauben nostalgische Auseinandersetzungen in besonderer Weise, denn sie führen das Vergangene im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen. Das Betrachten von Familienfotos, das Anschauen eines Films aus der Kindheit, das Teilen von alten Produktfotos in Sozialen Netzwerken oder die Beschäftigung einer Serie wie The Get Down mit der Hip-Hop-Kultur der 1970er – all das können Auslöser für nostalgische Gefühle sein. Daran zeigt sich zudem, wie visuelle Medien zur Präsenz von Nostalgie im Alltag beitragen und dass sie wichtiger Bestandteil der heutigen Erinnerungskultur sind. Die Beispiele verweisen darauf, dass das derzeitige Verständnis von Nostalgie nicht mehr nur an einen Ort gebunden ist, sondern auch die Sehnsucht nach bedeutungsvollen Situationen und Momenten der Vergangenheit umfasst. Dabei tragen visuelle Medien sowohl in der Populärkultur als auch in Fernsehnachrichten und Dokumentationen dazu bei, dass solche bedeutungsvollen Situationen und Momente auch als mediale Sekundärerfahrungen in der persönlichen Biografie und im kollektiven Gedächtnis verankert werden können. Nach Hubert Knoblauch „verdankt sich auch der Großteil subjektiver Erinnerungen nicht eigenen Erfahrungen. Vieles, was wir in unserem subjektiven Bewusstsein erinnern, basiert auf Wissen, das uns kommunikativ vermittelt wurde“ (Knoblauch 1999, S. 735). Den Fall der Berliner Mauer „nur“ im Fernsehen mitverfolgt oder selbst gar nicht erlebt zu haben, sondern ausschließlich aus Archivbildern oder populärkulturellen Re-Enactments zu kennen, ist kein Hindernis sich daran nostalgisch erinnern zu können. Hier ermöglichen es die unterschiedlichen visuellen Vergangenheitszugänge, sich durch archivierte oder fiktionale Bilder Vergangenheit anzueignen und dieser Bedeutung beizumessen. Warum aber existiert in heutigen Gesellschaften überhaupt dieses Bedürfnis sich der Vergangenheit nostalgisch zuzuwenden? Dieser Frage wird mittlerweile in vielen Fachgebieten nachgegangen, wie z. B. den Kulturwissenschaften, der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Was diese Zugänge vom vormals medizinischen oder heutigen sozialpsychologischen Erkenntnisinteresse unterscheidet ist, dass Nostalgie nicht nur vom einzelnen Individuum ausgehend, sondern als gesellschaftliches Phänomen betrachtet wird, das politisch, sozial und kulturell salient wird und daher auch gesellschaftlichen Ursprungs sein muss (Boym 2001; Davis 1979; Kalinina 2016; Neller 2006; Pickering und Keightley 2006). Gemeinsam haben die jeweiligen Ansätze, dass Nostalgie – auch wenn dies nicht immer explizit gemacht wird – als eine affektive Reaktion auf gesellschaftlichen Wandel angelegt ist (siehe zu soziologischen Emotionsperspektiven auch den Beitrag von Döveling in diesem Band). Der Zusammenhang zwischen Nostalgie und Wandel wird in der Forschung dieser Ausrichtung oft als Besonderheit der Moderne betrachtet. Schon die Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym (2001) machte darauf aufmerksam, dass insbesondere die gesellschaftlichen Umwälzungen westlicher Gesellschaften ab dem 19. Jahrhundert dazu führten, dass Menschen Wandel in einem gemeinsamen Bewusstsein der Betroffenheit wahrnahmen. Urbanisierung, Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung sind nur einige Beispiele solcher gesellschaftlichen Entwicklungen, die Lebenswelten von Menschen breitenwirksam auf ähnliche Art und

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Weise verändert haben und weiterhin verändern werden. Dahinter steht die Annahme, dass moderne Gesellschaften dem Mantra von Fortschritt und Wachstum folgen, welches permanent verlangt, das Alte zu Gunsten des Neuen zu überwinden (Boym 2001, S. xiv–xv). Unter diesen Bedingungen seien Verlusterfahrungen regulärer Bestandteil des modernen Lebens und Alltags geworden. Das Erleben von Wandel und Verlust ginge dabei einher mit einem gesellschaftlichen Bedürfnis, das Bedeutungsvolle und Lieb gewonnene der Vergangenheit zu bewahren. Nostalgie entwickelt demnach v. a. im Zuge der Moderne eine neue kollektive Dimension als gesellschaftliches Phänomen (Pickering und Keightley 2006, S. 922–923). Dabei führt die heutige Omnipräsenz von Bildern in Medien zu einer beachtenswerten Doppelrolle bezüglich dieser kollektiven Nostalgie: Einerseits begleiten Medien (insbesondere Fernsehnachrichten) Wandel visuell und machen diesen durch gesellschaftliche Selbstbeobachtung salient. Andererseits bieten viele visuelle Medienformate die Möglichkeit, sich nostalgisch der Vergangenheit zuzuwenden und darüber Wandel zu verarbeiten oder kurzzeitig auszublenden. Darunter fällt z. B. das Schwelgen in der Vergangenheit beim Anschauen alter Kinderfilme, Produktwerbung oder Fotos. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die gegenwärtige Nostalgieforschung ihre Konzeptualisierungen basierend auf Wandelprozessen meist exklusiv an die europäische Moderne knüpft und kollektive Nostalgie dadurch als ein Produkt des westlichen Gesellschaftsmodells erscheint. Alastair Bonnett stellt dem entgegen, dass Nostalgie als gesellschaftliches Phänomen alles andere als aus dem Westen in die restliche Welt exportiert sei und dass vielmehr in allen Ländern im ökonomischen Aufschwung Nostalgie als Reaktion auf politische, kulturelle und soziale Wandelprozesse entstehe (Bonnett 2016, S. 10). Nicht zuletzt hat sich gezeigt, dass Wandel auch im politischen Kontext weltweit immer wieder für eine nostalgisch motivierte Rekontextualisierung der Vergangenheit missbraucht wird. So unterscheidet Boym in diesem Zusammenhang zwischen „reflexiver“ und „restaurativer“ Nostalgie (2001, S. 41–56). Während erstere zur konstruktiven Reflexion von Verlust und dem Lauf der Zeit anregt und Visionen einer alternativen Zukunft ermöglicht, wie z. B. durch das kritische Aufgreifen von Archivbildern in der modernen Kunst oder Populärkultur, steht letztere für den Wunsch nach einer Rückkehr und der getreuen Wiederherstellung der Vergangenheit. Diese restaurative Nostalgie wird daher – z. B. durch visuelles Propagandamaterial – oftmals zur Stärkung nationalistischer und xenophober Politik genutzt, die die „guten alten Zeiten“ heraufbeschwört und bestimmte Gruppen für vermeintliche gesellschaftliche Missstände verantwortlich macht (Kalinina und Menke 2016).

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(Visuelle) Medien und Nostalgie in spätmodernen Gesellschaften

Aufgrund der interdisziplinären Beschäftigung mit Nostalgie sind ihre psychologischen, soziologischen, historischen und kulturellen Facetten intensiv (aber noch lange nicht ausschöpfend) beforscht worden. Gleichzeitig beginnen andere Fachgebiete gerade erst, neue Fragestellungen aufzuwerfen. Dazu gehört auch die Kom-

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munikations- und Medienwissenschaft, die erst seit Kurzem Nostalgie als Untersuchungsgegenstand entdeckt. Sie widmet sich unter anderem der Bedeutung von Medien bei der (visuellen) Kommunikation von Nostalgie. Diese späte Zuwendung ist einigermaßen überraschend, da der Soziologe Fred Davis (1979) bereits in den 1970er-Jahren in seiner Analyse einer vermeintlichen Nostalgiewelle in den USA darauf verwies, dass Nostalgie sich aufgrund der Massenmedien – und insbesondere des Fernsehens – grundlegend in den Bezugspunkten dessen, was und wie erinnert wird, verändert habe. Wie erinnert wird, sei in der Populärkultur von einer Oberflächlichkeit und nostalgischen Ästhetik bestimmt, die die ZuschauerInnen nicht zum Hinterfragen animierten, sondern ihnen stattdessen lediglich eine gefällige Vergangenheit präsentierten. Besonderes Potenzial dafür sah Davis damals in realitätsnahen Darstellungen von Vergangenheit im Film, die die ZuschauerInnen in die entsprechende Zeit eintauchen ließen (Davis 1979, S. 86–91), wie es heute in Serien wie Downton Abbey, Mad Men oder dem deutschen Charité der Fall ist. Hier argumentiert der Autor kulturpessimistisch und versteht Populärkultur als seicht und problembehaftet, anstatt ihre Rolle im Zuge des gesellschaftlichen Erinnerns ernst zu nehmen. Aber auch was erinnert wird beschäftigte Davis. Er verweist darauf, dass Massenmedien viele Erfahrungen im Lebensverlauf von Menschen synchronisiert hätten, wodurch sich scheinbar individuelle Erinnerungen letztlich als Vergangenheitsbezüge für kollektive Nostalgie eigneten (Davis 1979, S. 43). Besonders deutlich wird dies hinsichtlich jener populärkulturellen Medienerfahrungen, die Menschen in formativen Lebensphasen der Kindheit und Jugend gemacht haben. So sind beispielsweise Kinder- und Jugendfilme häufig Gegenstand von Nostalgie, weil sie einerseits individuell bedeutungsvoll und prägend waren, andererseits aber die Herstellung von kollektiver Identität mit anderen erlauben, die ebenfalls mit diesen Medienerfahrungen aufgewachsen sind (Armbruster 2016; Menke 2017a). Zu bedenken gibt Davis aber, dass das was erinnert werde aufgrund der Durchdringung der Gesellschaft mit Massenmedien kaum noch außerhalb dieser Medien liege. Während früher überwiegend Personen, Orte oder Ereignisse politscher oder gesellschaftlicher Bedeutung zum Gegenstand kollektiver Nostalgie geworden seien, wären es mittlerweile hauptsächlich medial konstruierte Ereignisse, Persönlichkeiten und Andeutungen (Davis 1979, S. 125). Was Davis hier für die 1970er konstatiert, zeigt sich unter Bedingungen der Digitalisierung noch einmal deutlicher. Der Großteil der Erfahrungen, die Menschen heute machen, ist medienvermittelt und außerdem stark visuell geprägt (siehe auch den Beitrag von Reißmann in diesem Band). Mit der Durchdringung des Alltags mit Medien (Livingstone 2009) sind auch gesellschaftliches Erinnern und kollektives Gedächtnis stets im Zusammenspiel mit Medien und ihren visuellen Darstellungen des Vergangenen zu denken (van Dijck 2007; Hajek et al. 2015; Hoskins 2017). Visuelle Medien fungieren dahingehend entweder als Vermittler von Inhalten über vergangene Zeiten oder selbst als medienkulturelle Zeitzeichen der Vergangenheit und wecken dabei in vielen Menschen nostalgische Gefühle (Davis 1979, S. 123; Menke 2017b). Einige AutorInnen sehen die Rolle von Medien in einer postmodernen Lesart überaus kritisch. So gibt beispielsweise Andrew Higson (2014) zu bedenken, dass

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durch die Selbstreferenzialität von Medien keine „wirkliche“ gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der gelebten Vergangenheit mehr stattfinde. Insbesondere in der Populärkultur würden stattdessen in einer ständigen Schleife neue Medienproduktionen auf vergangene rekurrieren; oder in den Worten Davis: „[N]ostalgia exists of the media, by the media, and for the media.“ (Davis 1979, S. 124). Higson mahnt an, dass daraus eine der heutigen Medienkultur inhärente „atemporale Nostalgie“ entstünde, bei der es oft um die Kommodifizierung von Nostalgie innerhalb der medialen Populärkultur gehe (Higson 2014, S. 123–124). Ein weiterer Kritiker, Frederic Jameson, konstatiert in ähnlicher Stoßrichtung eine neue Oberflächlichkeit und eine konsequente Schwächung von Historizität in Beziehungen zur Geschichte und zur persönlichen Vergangenheit (Jameson 1997, S. 5). Beispielhaft zeigt sich an der amerikanisch geprägten Film- und Serienproduktion der letzten Jahre, dass Selbstreferenzialität tatsächlich ein zunehmend verfolgter Ansatz der Kommodifizierung ist, der Erfolg bei Rezipierenden hat. Die Wiederauflage alter Serien (z. B. Full(er) House, Gilmore Girls, Star Trek, Twin Peaks etc.) oder die kontinuierliche Fortsetzung von Filmreihen, die auf etablierten Medienprodukten der Vergangenheit aufbauen (z. B. verschiedenste Superheldenfilme) machen sich die kollektive Nostalgie für frühere, geteilte Medienerfahrungen der Rezipierenden zunutze (Armbruster 2016). Noch deutlicher wird die Selbstreferenzialität bei der Serie Mad Men, in der die glitzernde Welt der Werbebranche der 1960er in den USA sowie die Faszination mit damals neuen Medien portraitiert werden und damit vergangene Medienkultur selbst als Thema erinnert und nostalgisch inszeniert wird (Bevan 2013; Niemeyer und Wentz 2014). Aufgrund unterschiedlicher Bewertungen der Beschäftigung mit Vergangenheit in der Medienindustrie und Populärkultur bleibt die Diskussion darüber, ob die heutige Medienkultur tatsächlich einen oberflächlicheren Zugang zur Vergangenheit zur Folge hat, bestehen. Zugespitzt bedeutet das, dass die Entwicklung, je nach Zugang, unterschiedlich interpretiert werden kann: Einerseits wird eine Verflachung, Enthistorisierung und mediale Kommodifizierungsstrategie gesehen, die Ausdruck einer durch die Postmoderne geprägten Kultur seien, welche nur noch als Produkt konsumiert würde (Jameson 1997, S. x). Andererseits wird argumentiert, dass sich positive Formen kollektiver Nostalgie entwickelt hätten, durch welche medienbezogene Erfahrungen der Vergangenheit, die sowohl von individueller als auch kollektiver Bedeutung waren und sind, spielerisch, kreativ und reflexiv aufgearbeitet würden. Die letztgenannte Perspektive berücksichtigt zumindest auch bestehende Zwischenstufen und Mischformen, die durch die Heterogenität persönlicher und kollektiver Erinnerungen entstehen. Trotz Tendenzen der Kommodifizierung und Verflachung existiert eine Vielfalt gesellschaftlicher Praktiken und Auseinandersetzungen mit Vergangenheit, die trotz oder sogar dank Nostalgie existieren (so z. B. Retrogamer, Fans analoger Fotografie oder Schallplatten-Liebhaber). Abschließend ist es hilfreich die bisher diskutierten Dimensionen von Nostalgie zwischen affektiver Zuwendung und ästhetischer Darstellung für die nachfolgenden Kapitel einzuordnenden. Dafür folgen wir dem Ansatz Paul Grainges, der hinsichtlich der aktuellen Literatur zu Nostalgie zwei konzeptuelle Pole unterscheidet: auf der einen Seite als „mood“ und auf der anderen Seite als „mode“. Zwischen diesen

Retro, Vintage, Nostalgie

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Polen, so Grainge, würden sich die gegenwärtigen Ansätze bewegen: „If the nostalgia mood is a feeling determined by a concept of longing and loss, the nostalgia mode is a consumable style that has been commonly characterized as amnesiac.“ (Grainge 2002, S. 17) Hier zeigt sich die besondere Bedeutung visueller Kommunikation für das Aufgreifen sowie Auslösen nostalgischer Sehnsüchte. Auch wenn das Erinnern und Nostalgie als Empfindung letztlich beim Individuum als mood verortet werden müssen, haben sich doch visuelle Konventionen etabliert, die Nostalgie als kulturellen Stil und somit als mode für Rezipierende erkennbar machen (siehe zu Bildästhetiken auch den Beitrag von Reißmann in diesem Band). Anders ausgedrückt besteht (bis zu einem gewissen Grad) eine kulturelle Übereinkunft darüber, wie das Vergangene auf nostalgische Art und Weise visuell vermittelt wird (Davis 1979, S. 73). Wie sich Nostalgie als kulturelles Stilmittel in seinen bildästhetischen Modalitäten äußert, wird im nachfolgenden Kapitel insbesondere im Rückgriff auf die Konzepte Vintage und Retro näher dargelegt.

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Vintage und Retro als Bildästhetiken visueller Erinnerungskultur

Die Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts und insbesondere der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts ist aufgrund der Medienvielfalt komplexer geworden, was die Nostalgieforschung vor neue Herausforderungen hinsichtlich ihrer Konzeptualisierungen und ihres Vokabulars stellt. Bevor im folgenden Kapitel visuelle Erinnerungspraktiken des Alltags diskutiert werden, soll zunächst der wichtige Unterschied zwischen Vintage und Retro aufgegriffen werden; zwei Begriffe, die heute (nicht nur) bildästhetisch von zentraler Bedeutung sind und Nostalgie visuell adressieren. Beide Begriffe werden oftmals, auch in anderen Sprachräumen, miteinander verwechselt; sie tauchen immer wieder – beliebig austauschar benutzt – in Zeitungsartikeln, Fernsehsendungen, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur auf. Sogar Spezialisten der Thematik, die Retro und Vintage in das Zentrum ihrer Reflexion stellen, machen selten einen klaren Unterschied (Lowenthal 1985; Reynolds 2011). Der Vintage-Begriff (abgeleitet vom Französischen: vendeange) hatte sogar am Anfang gar nichts mit Nostalgie und Vergangenheit zu tun, sondern bezeichnete eine qualitativ exzeptionelle Weinernte und den daraus gewonnenen Wein (Niemeyer 2015). Simon Reynolds (2011) weist zwar darauf hin, dass Vintage Bezug auf den Wein und allgemein auf die Produktionsweise nimmt, sich also mit der Frage des Originals und seiner Fabrikation als Qualitätsfaktor beschäftigt, allerdings expliziert er den historischen Übergang zur Populärkultur nicht. Es soll hier festgehalten werden, dass Vintage als ein spezieller, exzeptioneller handwerklicher oder industrieller Herstellungsprozess verstanden werden kann, mit welchem Objekte produziert werden, die sich durch ihre lang anhaltende Qualität auszeichnen (Niemeyer 2015, S. 92). In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, dass Nostalgie aufkommen kann, wenn solche Objekte nicht mehr hergestellt oder

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erworben werden können. Die Verknüpfung von Vintage und Nostalgie tauchte erstmals kurz nach dem 2. Weltkrieg als Zeichen des Verlustes auf und reihte sich anschließend neben dem Retro-Begriff in das Vokabular der populärkulturellen Erinnerungskultur ein (Niemeyer 2015). Retro hingegen nimmt, im Gegensatz zu Vintage, eher Bezug auf vergangene Vorstellungen der Zukunft und setzt diese spielerisch in Szene (Guffey 2006). Vintage bezeichnet somit meistens handwerkliche oder industrielle Techniken mit denen Produkte von Qualität hergestellt werden können, die andauern, sich aber auch aufgrund von Alterungsprozessen verändern. Genauer gesagt: Vintage trägt die Zeichen der Zeit, die auf das Material Einfluss nehmen, es ästhetisch verändern (z. B. Fotografien, die vergilben); Retro hingegen kopiert oftmals diesen Altersprozess und imitiert ihn als fake-vintage (Baschiera und Caoduro 2015; Niemeyer 2015); der Vergilbungseffekt durch digitale Sepia-Filter wäre hier als ein Beispiel zu nennen (siehe dazu auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Allerdings müssen diese Definitionen aktualisiert werden, wenn es um formalästhetische Aspekte der Medienkommunikation geht und weniger um die Qualität des Materials. Stefano Baschiera und Elena Caoduro (2015) weisen in ihrer Analyse des Kinos darauf hin, dass der Begriff Vintage oftmals auch zur Qualifizierung von Autorenfilmen genutzt wird und somit die Idee des Klassikers unterstreicht, der nicht alt wird, egal wann er auf der Leinwand erscheint. Die Autoren differenzieren ebenfalls zwischen fake-vintage, retro und anachronistischem Kino. Die erste Form bezeichnet Filme, die alte Vintage-Techniken zur Aufnahme nutzen, wie zum Beispiel die 16mm Kamera in Bujalskis Computer Chess (2013) oder aber VintageMaterial (Archivmaterial), das in Filme integriert wird. Hier kann man zum Beispiel an Good Bye Lenin denken (2003), in welchem Nostalgie bildästhetisch gleich auf mehreren Ebenen visuell kommuniziert wird: Einmal durch fake-vintage-Archivbilder (Filter, die dazu benutzt werden, um Alexanders Vergangenheit, insbesondere die seiner Mutter „vergangen“ aussehen zu lassen) und außerdem durch Fernseharchivmaterial aus dem Jahre 1989 und den Neunzigern (der Fußballweltmeisterschaft, der Nacht des Berliner Mauerfalls usw.). Unter Retro-Kino verstehen Baschiera und Caoduro solche Filme, die mit der Vergangenheit spielen, diese aber nicht spezifisch über Filter oder Archive bildästhetisch rekonstruieren: While the products belonging to the faux-vintage category try to disguise their age and show a nostalgia for the idealistic indexicality of the analogue through visual manipulation, what we define as retro films are those focused on the recreation of a specific past in front of the camera. Filmic products belonging to this category do not aim to reach a deliberate archaism by playing with the ontological status of the medium but instead, they fetishise the past through a particular attention to the profilmic with its props, costumes, and set design. (Baschiera und Caoduro 2015, S. 150)

Die in der Einleitung vorgeschlagenen Vergangenheitszugänge visueller Medien können also durch die Unterscheidung der Begriffe Vintage und Retro klarer gefasst werden. Durch Archivierung und Dokumentation werden gegenwärtige fiktive oder nicht-fiktive visuelle Medieninhalte selbst zur visuellen Vintage-Vergangenheit (egal, ob sie schon inhaltlich oder formal-ästhetisch fake-vintage- oder Retro-Elemente in sich tragen oder nicht) und werden somit Zeugen ihrer Zeit. Visuelle

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Medien ermöglichen demnach die Rekonstruktion des Vergangenen durch Reaktivierung des Archivs und sind auch Zeitzeugen der jeweils möglichen technischen Produktionsbedingungen dieser Bilder. Visuelle Medien ermöglichen demnach außerdem den Zugang zu einer Imagination des Vergangenen über fiktionale Inhalte und Visualisierungen. Dies ist einerseits mit einem fake-vintage-Effekt (Filter etc.) möglich oder aber über ein Retro-Design, das sich mehr auf die historische Rekonstruktion bezieht (Kostüme, Dekor, Sprache etc.). Visuelle Medien können das Vergangene zudem ebenso formal-ästhetisch und technisch imitieren. Hier kann man die Fernsehserie Stranger Things nennen, eine Hommage an amerikanische Kinder-Abenteuerfilme der 1980er-Jahre. Die Serie ist nicht nur an einem fake-vintage-Effekt interessiert, sondern kombiniert diesen mit Retro-Elementen früherer Filmproduktionen. Durch spezielle Montage, die über visuelle Elemente den „Das neue Alte-Effekt“ kreiert (mode), werden Erinnerungen an den Stil der damaligen Filme geweckt. Im Zusammenspiel mit der genretypischen Erzählweise und Zusammensetzung von Charakteren entsteht ein Rezeptionserlebnis, das Nostalgie bei den Rezipierenden auslösen kann und soll (mood) (Grainge 2002). In den Beispielen der genannten Fernsehserien simuliert die Fiktion eine Art Doppelvergangenheit. Bei diesem „als ob“ -Effekt wissen die Zusehenden in der Regel, dass es sich nicht um historische Archivbilder handelt, sondern um deren visuell-ästhetische Imitation. Auf diese Art werden kollektive Erinnerungen an die Zeit nostalgisch aufbereitet, die gleichzeitig auch mit persönlichen Erinnerungen von BetrachterInnen verwoben sein können. Die potenziell entstehende Nostalgie der Zusehenden (Armbruster 2016) kann sich dann z. B. auf „alte“ Rituale des Fernsehens und damit auf vergangene Praktiken beziehen oder auf das materielle Objekt, d. h. den Fernseher als Gerät in einer bestimmten technologischen Form (Menke 2017b; Niemeyer und Wentz 2014). Sie kann sich aber auch in gleicher Weise als sogenannte historische Nostalgie herauskristallisieren, also die Sehnsucht nach einer Epoche, in der die Zuschauer gar nicht gelebt haben (Marchegiani und Phau 2010). Diese verschiedenen Nostalgieformen sind sehr eng an die Art und Weise der visuellen Kommunikation gebunden, an die Vintage- und Retro-Effekte und auch an die mit ihnen verbundenen technischen und sozialen Rituale. Das zeigt sich auch hinsichtlich jener Veränderungen, die im Rahmen der Digitalisierung relevant geworden sind. Die „De-Materialisierung“ mancher medialen Datenträger (z. B. bei Fotopapier, VHS oder Kassetten) durch die Digitalisierung von Inhalten kann durch digitale Technologien auch wieder virtuell „rückgängig“ gemacht werden, indem etwa künstliche Bildfilter produziert werden, die das Alte und Materielle simulieren oder gar emulieren, aber letztlich doch nicht ersetzen können. Ganz ähnlich sieht dies beim Familienfilm aus. Giuseppina Sapio (2014) konnte zeigen, wie sich der Familienfilm und die Praxis selbst verändert haben, indem verloren gegangene alte Montagetechniken und familiäre Rituale durch digitale Filter (z. B. durch Sepia- oder Wash-Out-Effekte) kompensiert werden. Gleichzeitig sind innovative Formen des Familienfilms aber auch Wegbereiter neuer Rituale, die sich mit älteren Formen verbinden lassen: Super 8 Filme werden digitalisiert und manche Familien greifen sogar wieder auf die Original-Super 8-Kamera zurück. Kombiniert mit neuen und alten Medientechnologien ist der Übergang von analogen zu digitalen Praktiken sowie ästhetischen Darstellungsweisen demnach

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nicht immer klar abzustecken. Dabei kristallisieren sich insbesondere in der OnlineKommunikation neue Formen der Nutzung im Rahmen spezieller visueller Erinnerungspraktiken heraus, die im Folgenden näher beleuchtet werden.

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Visuelle Erinnerungspraktiken in Zeiten der Digitalisierung

Wie gezeigt wurde, ist Nostalgie in der Literatur bisher sowohl als affektiver Zugang zur Vergangenheit als auch als visuelle Ästhetik des Vergangenen und Vergehens erforscht worden. Auch wenn sich diese beiden Ebenen rein analytisch trennen lassen, treten sie in nostalgischen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit doch meist gemeinsam auf. Stefanie Armbruster (2016, S. 38) weist deshalb darauf hin, dass es das Ziel sein sollte, Elemente zu identifizieren, die als Brücke zwischen Text und Rezeption fungieren. Aktuell widmen sich auch kommunikations- und medienwissenschaftliche Ansätze dieser Brücke und verorten sie auf der Handlungsebene. Denn während ein Großteil der Aufmerksamkeit in der Vergangenheit auf nostalgische Gefühle oder Medieninhalte gerichtet war, ist das was Menschen mit Nostalgie tun bisher wenig beachtet worden. Dieser Umstand ist die Folge eines in den Memory Studies mittlerweile überholten Verständnisses von Erinnerung als etwas Feststehendem, das gespeichert und dann lediglich abgerufen oder abgebildet wird (Zierold 2006, S. 46–48). Seit Erinnern jedoch als Konstruktionsprozess von Vergangenheit verstanden wird, rücken Fragen nach dem Handeln, das diesen Prozess maßgeblich prägt, in den Fokus. Die gesellschaftliche Beschäftigung mit Vergangenheit ist heute nachhaltig von Erinnerungspraktiken des Alltags geprägt, die medial vermittelt zur Konstruktion von Vergangenheit beitragen (Hoskins 2014, S. 664–665). Begrifflichkeiten wie „doing memory“, „memory work“ oder „performing memory“, die auf eine Integration der Handlungsebene abzielen, spiegeln diesen Wandel wider (van Dijck 2007; Kontopodis und Matera 2010; Lohmeier und Pentzold 2014). Aus kommunikationsund medienwissenschaftlicher Perspektive können solche Praktiken als kommunikatives Handeln begriffen werden, das häufig medienbezogen und/oder medienvermittelt stattfindet (Couldry und Hepp 2017; Knoblauch 2017). Im Kontext des Erinnerns bietet sich daran anschließend die Bezeichnung der kommunikativen Erinnerungspraktiken an, mittels derer Individuen im Austausch mit anderen eine Verbindung zwischen Nostalgie als mood und mode herstellen und dabei gemeinsam Vergangenheit verhandeln (Menke 2017a). Niemeyer spricht in diesem Zusammenhang von „nostalgizing“, d. h. von Nostalgie als etwas, das man tut (2014, S. 10). Darunter fallen auch visuelle Praktiken (Lobinger 2015; Reißmann 2015), die Vergangenheit über entsprechende visuelle Medieninhalte und deren visuelle Stile (mode) zum Gegenstand privater und öffentlicher Kommunikation machen (kommunikative Erinnerungspraktiken), wodurch Stimmungen kollektiver Nostalgie in der Gesellschaft erzeugt werden können (mood). Bisherige Forschung zeigt, dass es sich bei solchen visuell-kommunikativen Erinnerungspraktiken z. B. um das gemeinsame Betrachten alter Fotos (Pauwels 2008; Pickering und Keightley 2015) oder Filme (Sapio 2014), um das Teilen von Screenshots

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oder Videoaufnahmen aus früheren Computerspielen in Online-Communities (Hörtnagl 2016; Rehbach 2017) oder auch um das Teilen und Diskutieren alter Filme oder Bilder in Internetforen handeln kann (Higson 2014). Die visuelle Komponente ist aufgrund der Multimedialität und Multimodalität digitaler Medien als zentraler Bestandteil der heutigen Erinnerungskultur zu fassen (zu Multimedialität und Multimodalität siehe die Beiträge von Bucher und von Reißmann in diesem Band). Es zeigt sich, dass private und auch kommerzielle Fotos und Filme sowie neuere visuell geprägte Formate, wie Computerspiele, Animationen oder Foto-Filter-Apps, Vergangenheit in besonderer Weise darstellen, manchmal bildästhetisch simulieren und häufig nostalgisch, als fakevintage oder im Retro-Style, zugänglich machen. Aus diesem Grund werden sie vielfach in visuell-kommunikativen Erinnerungspraktiken in der Online-Kommunikation eingebettet (Caoduro 2014; Lange 2011; de Seta und Olivotti 2016; Suominen 2008). Dass gerade heute eine solche Erweiterung in der Forschung hin zur Handlungsebene zu beobachten ist, lässt sich auch auf die veränderten medialen Bedingungen im Zuge der Digitalisierung und der Verbreitung des Internets zurückführen (siehe auch den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band). Während Massenmedien den Rezipierenden lange Zeit wenige bzw. eingeschränkte Möglichkeiten boten, sich aktiv in die Produktion und die Bearbeitung von Inhalten einzubringen, bieten Soziale Medien Kommunikationsräume, in welchen die vormals klar verteilten Rollen von Rezipierenden und Kommunizierenden stellenweise aufweichen. Menschen können sich zumindest potenziell in kreativer Art und Weise an der Produktion und Kommunikation visueller Inhalte, die an persönliche Erinnerungen aus ihren alltäglichen Lebenswelten geknüpft sind, beteiligen, was weitreichende Auswirkungen auf die gegenwärtige Erinnerungskultur hat (Erll et al. 2008; Hajek et al. 2015, siehe auch die Beiträge von Reißmann sowie von Autenrieth in diesem Band). Vergangenheit visuell zu kommunizieren sowie Erinnerungen und Nostalgie in die Öffentlichkeit zu tragen, ist nicht mehr alleine das Privileg des Journalismus oder der Unterhaltungsindustrie, sondern findet zunehmend auch Bottom-up in alltäglichen Kommunikationsprozessen statt (Dahlberg 2007). Damit verwischen und verschieben sich Grenzen, die bisher zwischen privaten und öffentlichen Sphären sowie zwischen persönlicher und kollektiver Erinnerung verliefen (Kalinina und Menke 2016; Klaus und Drüeke 2017). Dabei ermöglicht gemeinsames nostalgisches Erinnern unter Bedingungen digitaler Öffentlichkeiten, dass Individuen ihre Erfahrungshorizonte der unmittelbaren Lebenswelt einerseits mit anderen teilen, diese andererseits aber auch medienvermittelt erweitern können. Die Digitalisierung von Bildern vereinfacht diese Praktiken, fördert die Bedeutungszunahme von visuellen Inhalten bei der OnlineKommunikation und eröffnet Fragen über die Legitimität und Authentizität von visuellen Vergangenheitszugängen (siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Einerseits verspricht das Teilen von Bildern aus den alltäglichen Lebenswelten authentische Zugänge zur Vergangenheit und ermöglicht vernakuläre Erinnerungsdiskurse. Andererseits besteht aber auch die Gefahr, dass Bilder kommerziell oder politisch zweckentfremdet werden, um ihre Authentizität zu instrumentalisieren. Umgekehrt kann strategisch entstandenen Bildern der Anschein der Authentizität verliehen werden, um damit Erinnerungsdiskurse zu manipulieren (Kalinina und Menke 2016, S. 70–71).

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Nicht zuletzt erlaubt Online-Kommunikation aber auch Vergemeinschaftung zwischen zeitlich sowie räumlich voneinander getrennten gesellschaftlichen Gruppen, die sich mit der Vergangenheit und ihrer Bedeutung für die Gegenwart auseinandersetzen wollen (siehe den Beitrag zu Photo Sharing von Lobinger und Schreiber in diesem Band). Insbesondere frühere Medieninhalte und Medientechnologien, die mit Erinnerungen an formative Phasen der Kindheit und Jugend verknüpft sind und auf welche beim Erinnern immer wieder gemeinsam rekurriert wird, ermöglichen dabei die Konstitution kollektiver Gedächtnisse und damit auch die Stabilisierung von kollektiver Identität in Zeiten des Wandels (Assmann 1988; Knoblauch 1999; Menke 2017a). Nostalgie ermöglicht nicht nur gemeinsamen Umgang mit Wandel, sondern hat aufgrund ihrer affektiven Dimension auch direkte, positive Auswirkungen auf das Entstehen und die Qualität sozialer Verbundenheit, indem z. B. Empathie und Hilfsbereitschaft erhöht werden (Wildschut et al. 2010). Abschließend bleibt zu konstatieren, dass bisherige Arbeiten zu Nostalgie die Bedeutung von Bildern meist anhand von analogen Fotos und Filmen sowie in der Werbung untersucht haben. Digitale visuelle Medien und visuelle OnlineKommunikation stehen dagegen noch vergleichsweise selten im Zentrum der Erinnerungs- und Nostalgieforschung. Das gilt ganz besonders dann, wenn es nicht lediglich um Bilder als Anlass für Kommunikation über Vergangenheit geht, sondern darüber hinaus um die Rolle ihrer Modalität, Vergangenheitszugänge, Ästhetik und Wirkung. Arbeiten wie die von Gil Bartholeyns zur Retro-Fotografie (2014) oder der Sammelband „The past in visual culture“ (Kay et al. 2017) sind hier zwei der wenigen Ausnahmen. Sie befassen sich verstärkt auch mit der Visualität des Vergangenen in der Fotografie, in Unterhaltungs- und Dokumentarfilmen, in Fernsehnachrichten, bei der Online-Kommunikation und in Magazinen. Auch kritische Reflexionen der Kommodifizierung von nostalgischen Gefühlen in sozialen Netzwerken stehen noch aus. So ziehen AdministratorInnen von Nostalgie-Facebookgruppen oder Foren unter Umständen Profit aus den nostalgischen, oftmals visuell aufbereiteten Erinnerungen der Gruppenmitglieder, indem sie Werbeflächen an Investoren verkaufen. Darüber hinaus soll darauf hingewiesen werden, dass auch Facebook eine eigene präformierte Erinnerungskultur betreibt, indem NutzerInnen mit vergangenen Posts und Ereignissen in Form von Foto-Mosaiks konfrontiert werden und damit an Momente ihrer Vergangenheit erinnern werden. Dies zeigt die wichtige Rolle des Erinnerns, auch hinsichtlich der „digitalen Spuren“ nur kurze Zeit zurückliegender Ereignisse und Momente. Insgesamt bestehen noch mannigfaltige Desiderate, die es zukünftig in Bezug auf analoge und digitale visuelle Erinnerungspraktiken zu schließen gilt.

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Fazit: Visuelle Erinnerungskultur zwischen Gefühl, Geschichte und Populärkultur

Wie und was eine Gesellschaft erinnert, sagt viel über ihre Verfasstheit aus. Unter Bedingungen des Wandels stellt sich nämlich stets die Frage, was erinnert und bewahrt werden soll und kann bzw. was als wichtig und unwichtig betrachtet wird.

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Dies gilt sowohl für Menschen in ihrem Alltag als auch für die institutionelle Ebene (z. B. Archivpolitik, Museen, Schulbücher). Die Rolle von Medien ist mit der Durchdringung des Alltags mit visuellen Inhalten (siehe u. a. den Beitrag von Reißmann in diesem Band, siehe auch den Band „Visualisierung – Mediatisierung“, Lobinger und Geise 2015) in diesen Prozessen zunehmend relevanter geworden. Es bleibt daher zukünftig ein wichtiges Unterfangen, Erinnerungskultur auch hinsichtlich der visuellen Kommunikation des Vergangenen zu untersuchen. Wie der Beitrag gezeigt hat, ist dabei der Wandel von Medien zu berücksichtigen, durch welchen neue Möglichkeiten der Produktion, Archivierung und Kommunikation von Bildern entstanden sind und sich im Zuge des Medienwandels stets weiterentwickeln. Darunter sind aber nicht nur medientechnologische, sondern insbesondere auch medienkulturelle Dynamiken zu fassen. Hinsichtlich gegenwärtiger Erinnerungskulturen gehört dazu nicht nur, dass persönliche und kollektive Erinnerungen vermehrt in (teil-)öffentlicher Online-Kommunikation verhandelt werden, sondern auch, dass dabei zunehmend auf visuelle Medieninhalte zurückgegriffen wird (Menke 2017a). Wie gezeigt wurde, nimmt die Populärkultur heute eine wichtige Rolle für das gesellschaftliche Erinnern ein (Remakes, Adaptionen usw.), aber auch im lebensweltlichen Alltag werden unterschiedliche Vergangenheitsbezüge visueller Medien aufgegriffen und an das persönliche Erinnern geknüpft. Dabei gilt, dass sich bei populärkultureller Fiktion häufig an persönlichen oder kollektiven Erinnerungen bedient wird und gleichzeitig persönliche oder kollektive Erinnerungen mit populärkulturellen Inhalten verschwimmen können. Dadurch werden Fragen nach den Grenzen zwischen fiktionalen und non-fiktionalen bzw. authentischen und unauthentischen Bezugspunkten des Erinnerns aufgeworfen (Göttlich 2017, S. 115). In diesem Kontext sei noch einmal auf die kritischen Stimmen in der Nostalgieforschung verwiesen, welche in der populärkulturellen Selbstreferenzialität eine Enthistorisierung von Gesellschaft sehen (Higson 2014; Jameson 1997) oder auf die Gefahren „restaurativer“ Nostalgie in der Politik hinweisen (Boym 2001). Nostalgie und ihre bildästhetischen Ausdrucksformen in Vintage- und RetroStilen wurden hier als Beispiele angeführt. Sie zeigen, dass gesellschaftliches Erinnern kein Selbstzweck ist, sondern dass unterschiedliche gesellschaftliche Akteure verschiedene Ziele verfolgen. Diese Komplexität gilt es zu berücksichtigen. Während MedienproduzentInnen Nostalgie nicht nur als ästhetisches Mittel, sondern auch als erfolgreiche Kommodifizierungsstrategie für sich entdeckt haben, zeigt sich für die im Alltag mit gesellschaftlichem Wandel konfrontierten Menschen, dass Nostalgie emotionales Wohlbefinden, ein Gefühl der Geborgenheit und das Stabilisieren kollektiver Identität ermöglichen kann. Auf welche Bilder bei dieser affektiven Zuwendung zur Vergangenheit zurückgegriffen wird und wie diese Bilder gleichzeitig Vorstellungen von der Zukunft prägen, ist im Zuge des Medienwandels und mit Blick auf die fortlaufende Visualisierung der Erinnerungskultur alles andere als trivial. Die Rolle des Visuellen bei der gesellschaftlichen Konstruktion von Vergangenheit gilt es daher weiter wissenschaftlich zu reflektieren.

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Visuelle Authentizitäten und die Rolle kontextspezifischer Authentizitätsmarker in der visuellen Kommunikation Benjamin Krämer und Katharina Lobinger

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Authentizitätsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Authentizität und Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Authentizität bei journalistischen Bildern und in der Alltagsfotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Fotografien gelten als besonders authentisch, da sie es vermeintlich vermögen, eine präzise, wahrheitsgetreue und unvermittelte Repräsentation der Wirklichkeit zu erzeugen. Andererseits eignen sich Fotografien auch hervorragend dazu, trotz Inszenierung und Manipulation einen authentischen Eindruck zu erwecken. Um sich dem Thema „visuelle Authentizität“ zu nähern, präsentiert der Beitrag unterschiedliche theoretische Konzepte von Authentizität und diskutiert ihre Anwendbarkeit auf visuelle Kommunikation. Authentizität ist, dem Verständnis des vorliegenden Beitrags nach, ein situiertes und veränderbares soziales Konstrukt, dessen Authentizitätsmarker je nach Kontext und Publikum unterschiedlich interpretiert werden.

B. Krämer (*) Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Lobinger Faculty of Communication Sciences, Institute of Digital Technologies for Communication (ITDxC), USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_6

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B. Krämer und K. Lobinger

Schlüsselwörter

Visuelle Authentizität · Authentizitätsmarker · Wahrheit · Inszenierung · Bildstil

1

Einleitung

Der Begriff der Authentizität ist sehr vieldeutig und vage. Versucht man sich an seiner Systematisierung, so lassen sich vor allem zwei Funktionen identifizieren: Erstens überschneidet sich der Begriff „Authentizität“ mit jenem der Wahrheit. In diesem Zusammenhang dient Authentizität manchmal als bequemer Weg, den pathetischen oder anspruchsvollen Ausdruck „Wahrheit“ zu vermeiden. Dass eine Nachricht oder ein Bild „authentisch“ ist, heißt dann: So und nicht anders ist es gewesen! In anderen Worten, es wird ausgedrückt, dass daran nichts gelogen, manipuliert, verschleiert oder gefälscht ist oder aus unklarer Quelle stammt. Zweitens wird der Authentizitätsbegriff für eine schwer auf den Punkt zu bringende Qualität einer Sache oder Person verwendet, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie nicht von der Falschheit des heutigen Lebens oder der heutigen Welt erfasst ist: Etwas ist noch (oder bereits erneut) ungekünstelt, uninszeniert, originell, traditionell, ungezwungen, usw. Wie in diesem Kapitel gezeigt wird, wird Bildern in diesem Zusammenhang gerne die Fähigkeit zugeschrieben, beide Aspekte auf besonders „natürliche“ und idealtypische Weise zu verwirklichen. Zugleich vermögen es Bilder aber auch, den unzutreffenden Eindruck zu erwecken, dass diese Qualitäten vorlägen. Authentizität wird dann quasi visuell simuliert. Im Folgenden beschäftigen wir uns angesichts der Schwierigkeit, Authentizität zu definieren, zunächst mit verschiedenen allgemeinen Authentizitätsverständnissen. Anschließend werden diese auf den Bereich der visuellen Kommunikation bzw. insbesondere der Fotografie übertragen. Der Beitrag zielt vor allem darauf ab, die unterschiedlichen Ansätze zu systematisieren und für die Visuelle Kommunikationsforschung nutzbar zu machen. Abschließend werden ausgewählte Aspekte und Felder aus unterschiedlichen Bereichen (wie etwa Fotojournalismus und Alltagsfotografie) diskutiert und hinsichtlich der darin vorkommenden Konzepte „visueller Authentizität“ sowie der mit ihr verbundenen Authentizitätsmarker besprochen.

2

Authentizitätsbegriffe

Als Einstieg in die Auseinandersetzung mit Authentizität werden grob sachbezogene, personenbezogene und kommunikationsbezogene Authentizitätsbegriffe diskutiert. Diese Trennung soll keine isoliert erfassbaren Aspekte suggerieren. Vielmehr wird sich zeigen, dass z. B. die personenbezogene Authentizität – gerade in medial vermittelten Kontexten – nicht ohne kommunikationsbezogene Authentizitätsmarker und -aspekte denkbar ist. Die drei begrifflichen Kategorien sind deshalb

Visuelle Authentizitäten

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in Interaktion zu sehen. Die zu analytischen Zwecken getrennte Betrachtung dient dazu, die vielfältigen unterschiedlichen Perspektiven und ihre Verortung in unterschiedlichen Diskursen zu veranschaulichen. Tab. 1 fasst diese Authentizitätsverständnisse überblickshaft zusammen und soll als zusätzliche Hilfestellung bei der Unterscheidung von Authentizitätsbegriffen dienen. Tab. 1 Überblick über die verschiedenen Authentizitätsverständnisse Authentizitätsbegriff Objektbezogen

Zentrale Aspekte Unveränderte Überlieferung, Verbürgtheit, Originalität, Unverdorbenheit, Unverfälschtheit

Personal

Personalessenzialistisch

Persönlicher Wesenskern, Natur/Trieb/Wille etc. versus Institutionen/Kultur/ Gesellschaft etc., Verwirklichung in Beziehungen/ Gemeinschaften

Personalexistenzialistisch

Freiheit, eigene Verantwortung, Entschlossenheit, Entwurf, Eigenständigkeit Wahrhaftigkeit/ Aufrichtigkeit und Gelingen des Ausdrucks von Sachverhalten und Erleben, Nicht-Täuschung anderer (und in Analogie: seiner selbst), Verständigungsorientierung statt strategischer Motive und Inszenierung

Kommunikativ

Bezug zur visuellen Kommunikation Originalität, Unverändertheit eines Bildes (Bildmanipulation), Zuschreibung von Urheberschaft, Bilder, die das Wesen einer Sache (Kultur, Stimmung etc.) wiedergeben, Wesen einer Technologie (z. B. der analogen Fotografie), Wesensverlust, Verlust der Materialität (z. B. im Zuge der Digitalisierung), Rückwendung (z. B. Analogfilter) oder demonstrative Verweigerung gegenüber Techniken Bilder, die den Charakter der Abgebildeten oder der Abbildenden zum Ausdruck bringen, Zurücktreten der Persönlichkeit hinter die Sache im Journalismus und in anderen dokumentarischen Bildern Künstlertum, Kreativität, Ausdruck mit eigenen Bildstil

Aufrichtigkeit bei der Wiedergabe der Realität, Wahrhafter Ausdruck von Gefühlen, Eindrücken und Stimmungen, Technische und handwerkliche Unzulänglichkeit als Zeichen fehlender Inszenierung, Situative und kontextspezifische Authentizitätsmarker

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2.1

B. Krämer und K. Lobinger

Sachbezogene Authentizitätsbegriffe

Zunächst hat „Authentizität“ die auf nichtpersonale Entitäten bezogene Bedeutung, dass etwas aus der behaupteten Quelle stammt, unverfälscht überliefert wurde und deshalb ein Original oder autorisiert ist. Hierbei handelt es sich in der Regel um kulturelle Artefakte oder kulturelle Praktiken bzw. ganze Komplexe kultureller Sachverhalte. Authentizität ist hier häufig mit einer Autorität verbunden (Lethen 1996), welche die definitive Form eines Artefakts festlegt; z. B. ein Herrscher bzw. eine Herrscherin, der bzw. die eine Urkunde tatsächlich so ausgefertigt hat, oder ein Künstler bzw. eine Künstlerin, welchem bzw. welcher die Erschaffung eines Kunstwerks in seiner definitiven Form zugeschrieben wird. So wird zum Beispiel die Frage, ob es sich bei einem Kunstwerk um einen „Original-Picasso“ handelt, von ExpertInnen geprüft und dies gegebenenfalls bescheinigt. Eine andere Form nichtpersonenbezogener Authentizität ist zudem gegeben, wenn ein Sachverhalt eine als ursprünglich angesehene Form hat, die durch bestimmte Einflüsse verfälscht werden könnte. Es wird dabei meist impliziert, dass der Sachverhalt dadurch in seinem Wert gemindert oder sogar verdorben werde. So beklagt man z. B., dass eine lokale oder auf eine Gruppe bezogene kulturelle Praxis oder eine ganze Kultur durch „Verwestlichung“, Inszenierung für den Tourismus, „den Mainstream“, Kommerzialisierung usw. entstellt worden sei. Wie Schultz ausführt, werden hierbei insbesondere Authentizität und Inszenierung üblicherweise als gegensätzliche Konzepte gedacht (siehe dazu auch Knieper und Müller 2003); „was inszeniert ist, verliert an Authentizität; was authentisch ist, kommt ohne Inszenierung aus. Mit Inszenierung verbindet sich die Vorstellung eines absichtsvollen Handelns, das seine Effekte gegenüber einem Publikum ins Kalkül zieht. Das Authentische dagegen scheint aus sich selbst heraus zu bestehen – es ist wie es ist.“ (Schultz 2003, S. 11) Auch populäre Diskurse betonen jedoch mit entlarvender Geste, dass das Authentische selbst inzwischen eine Inszenierung sei, z. B. eine trügerische Ausbeutungsstrategie des Kapitalismus (z. B. Dörr 2017) oder aber eine perfide – gar unmoralische – Inszenierungsstrategie auf Sozialen Medien wie Instagram (Melotti 2017). Es stellt sich aber die Frage, ob solche feuilletonistischen (seltener auch wissenschaftliche) Dekonstruktionen der Suche nach dem vermeintlich uninszenierten Authentischen ein Ende bereiten oder die Spirale der Etablierung, Inszenierung und Abnutzung neuer Authentizitätskriterien und -marker nicht nur antreiben.

2.2

Personenbezogene Authentizitätsbegriffe

Eine Person wiederum gilt oft als authentisch, wenn sie ist, wie sie ist. Das klingt zunächst tautologisch, aber die Grundannahme ist dabei, dass es einen unveränderlichen Wesenskern gebe, den man entweder verwirklicht und ausdrückt – oder der eben nicht ausgebildet oder offenbart bzw. der wiederum durch ungute Einflüsse kompromittiert wird (kritisch z. B. Ferrara 2009). Dieses personal-essenzialistische Verständnis von Authentizität hat zahlreiche Varianten. So wird manchmal davon ausgegangen, dass jedes Individuum einen eigenen Wesenskern aufweist, bei dem

Visuelle Authentizitäten

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man nicht im Vorhinein wissen kann, worin er besteht. Daneben wurden aber auch bestimmte Merkmale als der eigentliche Kern des Menschseins angesehen: Schöpfertum, Liebe, heroische Entschlossenheit usw. Diese sollen dann möglichst in allen Einzelnen verwirklicht werden oder gelangen in ausgewählten Menschen zur Blüte. Durch die Ideengeschichte ziehen sich Kontroversen, in denen immer wieder bestimmte Unterscheidungen bemüht wurden, um je eine Seite der Differenz als authentisch zu markieren (vgl. Noetzel 1999; Trilling 1980; Turner 1976): So soll Authentizität entweder darin liegen, in einer sozialen Rolle oder in gelingenden sozialen Beziehungen aufzugehen, oder sich von allen Bindungen und gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und schöpferisch, ja genial, auch weltbejahend zu leben, sich selbst zu verwirklichen usw. Im Gegensatz zu den essenzialistischen gehen personal-existenzialistische Verständnisse davon aus, dass Menschen gerade nicht auf ein bestimmtes Wesen festgelegt sind, sondern ihr Dasein erst selbst entwerfen müssen (klassisch z. B. Heidegger 1963; Sartre 1952). Während sich das uneigentliche Dasein an soziale Konventionen und unhinterfragte Vorverständnisse hält, nimmt das Authentische seine Freiheit an, zeigt sich entschlossen, handelt und entscheidet sich und hält dabei auch Angst oder Absurdität stand.

2.3

Kommunikationsbezogenen Authentizitätsbegriffe

Schließlich gehen auch Konzepte kommunikativer Authentizität nicht von einem festen Wesenskern oder einer dauerhaften Haltung oder Lebensführung aus, die eine Person aufweisen muss, um authentisch zu sein. Vielmehr wird jede einzelne Äußerung daraufhin beurteilt, ob sie wahrhaftig, aufrichtig ist. Im Gegensatz zu einem objektiven Wahrheitsbegriff zielt eine solche Einschätzung darauf ab, ob man das äußert, wovon man subjektiv überzeugt ist: Man meint wirklich, was man sagt, ist ehrlich. Solche Kommunikation kann als verständigungsorientiert angesehen werden, da sie darauf abzielt, andere ebenfalls von denjenigen Auffassungen zu überzeugen, denen man selbst anhängt (dies ist eine der Grundlagen von Habermasʼ Theorie des kommunikativen Handelns, Habermas 1987). Man versucht dabei nicht, die eigene Absicht zu verschleiern. Auch bezweckt man nicht, andere zu etwas zu überreden, an das man selbst nicht unbedingt glaubt. Die Kommunikation dient also nicht strategisch den eigenen Interessen und wird nur zu diesem Zweck inszeniert, sondern man äußert offen seine Haltung und liefert gute Gründe dafür. Bestimmte Varianten im Verständnis kommunikativer Authentizität betonen auch noch das Kriterium, ob die Äußerung eine Überzeugung oder ein Erleben auf besonders gelungene Weise wiedergibt, dafür eine besonders passende, eigenständige und ungekünstelte Form findet; auch dieses Verständnis findet sich bei Habermas (1987). Ferner wird gelegentlich nicht nur die Täuschung anderer als inauthentisch angesehen, sondern man nimmt an, dass man sich auch selbst täuschen könne (was aber kein kommunikativer Akt im eigentlichen Sinne mehr ist und von einigen auch als logisch unmöglich angesehen wird; siehe Mele 1997).

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3

B. Krämer und K. Lobinger

Authentizität und Fotografie

Gilt es dann Authentizitätspostulate von fotografischen Darstellungen zu bewerten, so führt eine noch so genaue und detaillierte Analyse zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem welches der oben genannten Authentizitätsverständnisse angelegt wird. In Bezug auf kommunikations- und medienwissenschaftliche Studien, die sich oftmals der visuellen Authentizität in bestimmten Feldern bzw. der Authentizität bestimmter Akteure widmen, erfordert dies, das lässt sich bereits an den bisherigen Ausführungen erkennen, eine klare Offenlegung des jeweiligen Authentizitätsverständnisses.

3.1

Die verbürgte Herkunft des Fotos

In Bezug auf die Fotografie greift Marcus Banks im Beitrag „True to Life: Authenticity and the Photographic Image“ eine begriffliche Unterscheidung des Philosophen Denis Dutton auf. Die hier zunächst im Mittelpunkt stehende Form der sachbezogenen Authentizität von Artefakten (in diesem Fall von Bildern bzw. von Fotografien) lässt sich Dutton (2005) und Banks (2013) zufolge als nominale Authentizität beschreiben. Sie wird durch die korrekte Identifikation beziehungsweise durch die Bestätigung der Herkunft und/oder des Urhebers/der Urheberin eines Bildes hergestellt und bekräftigt (Banks 2013, S. 161; Dutton 2005, S. 259). Die Feststellung der nominalen Authentizität erfolgt demnach anhand externer Kriterien, etwa der wahrheitsgemäßen, korrekten Bezeichnung eines Bildes durch ExpertInnen, die über entsprechendes Wissen verfügen, nicht aber anhand der Charakteristika des Objekts selbst. Im Gegensatz zur nominal authentischen Objekten wird bei Fälschungen und Plagiaten die Entstehungsgeschichte oder der „eigentliche“ Autor bzw. die Autorin eines Werkes verschleiert bzw. werden diese Informationen falsch dargestellt (Dutton 2005). Das Objekt wird also – mit expliziter Täuschungsabsicht – als etwas ausgegeben, das es de facto nicht ist. Diese Täuschung läge etwa dann vor, wenn ein Nachrichtenbild suggeriert, in einem gewissen aktuellen Kontext, in einer gewissen Situation aufgenommen worden zu sein, obwohl es sich um ein Archivbild, das im Zuge einer anderen Gegebenheit aufgenommen wurde, handelt. Aktuell werden solche Beiträge im Kontext von Visual Fake News und Hate Speech diskutiert. So kursieren etwa zur „Flüchtlingskrise“, oftmals insbesondere in Sozialen Medien, Bilder, die teilweise gänzlich anderen Kontexten entstammen, um Stimmung gegen – oder potenziell auch für – die Aufnahme von Geflüchteten zu machen. Die Wirkungsmacht und der Eindruck von Authentizität – nicht zuletzt durch die vermeintliche „Augenzeugenschaft“ von Fotografien (siehe dazu weiter unten) – kann dabei zu drastischen Implikationen für die Meinungsbildung der Rezipierenden führen. Falsche Kontextualisierungen bleiben damit ein Dauerbrenner-Thema der Visuellen Kommunikationsforschung und erfordern dringend weitere Auseinandersetzungen. Für die Art und Weise, wie nominale Authentizität zu gewährleisten ist, entwickeln sich in unterschiedlichen Bereichen entsprechende Regeln und Strategien. So soll zum Beispiel die Einführung digitaler Signaturen mit entsprechenden Sicherheits-

Visuelle Authentizitäten

107

standards die Authentizität des Absenders (Nachrichtenauthentizität) und die Integrität des Inhalts eines Dokuments (Nachrichtenintegrität) in digitalen Kommunikationsprozessen bezeugen (Bertsch 2002; Küsters und Wilke 2011). Im journalistischen Produktionsprozess sollen ethische Grundsätze (siehe etwa den Beitrag von Godulla in diesem Band) garantieren, dass Bilder nicht aus ihren Kontexten gerissen werden und als Beleg für gänzlich andere Aspekte verwendet werden.

3.2

True to life or true to something’s nature?

Gerade in der Geschichte der Fotografie wird dieser seit jeher besondere Authentizität zugesprochen. William Henry Fox Talbot bezeichnete die Fotografie 1844 im gleichnamigen Fotoband als „Pencil of Nature“ (Talbot 1969 [1844]). Bilder gelten insbesondere als „true to life“ (u. a. Banks 2013). Was dies genau bedeutet, soll hier kurz ausgeführt werden: Die Professionalisierung der fotografischen Verfahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglichte neue Visualisierungsweisen und damit neue Sichtweisen. Die Innovationen der frühen fotografischen Verfahren, wie etwa der Daguerreotypie, überzeugten insbesondere durch besondere Klarheit und Detailreichtum der Abbildungen. Louis Daguerre selbst bezeichnete die von ihm entwickelte Technik als eine chemische und physikalische Technik, die es der Natur erlaube, sich selbst zu reproduzieren. Vor dem Hintergrund der vorherrschenden positivistischen Denkrichtung wurde die Kamera als mechanisches Instrument zur objektiven Abbildung von Realität betrachtet (siehe Batchen 1997, S. 66). Aufgrund dieser Zuschreibungen entstanden Bezeichnungen, wie „fotografische Wahrheit“, „mirror with a memory“ und damit die Auffassung, dass die Fotografie im Stande sei, eine authentische, also eine präzise, wahrheitsgetreue und unvermittelte Repräsentation der Wirklichkeit zu erzeugen (siehe dazu kritisch Chandler und Livingston 2012, S. 2; Holmes 1859). Insbesondere jene AutorInnen, die die Fotografie als indexikalische Zeichen charakterisierten, sowie jene, die die Fotografie wiederum als analoges Zeichen, oder sogar als „Analogon“ der Realität skizzierten, forcierten das Verständnis von Fotografien als authentische Repräsentationsformen par excellence, jedoch mit unterschiedlichen zeichentheoretisch begründeten Argumenten (siehe auch Meier 2015, S. 93; Lobinger 2012, S. 55 ff.). Ikonizität unterstellt dabei eine strukturelle Ähnlichkeit, die die Fotografie mit dem Abgebildeten verbindet. Bei Indexikalität dagegen basiert die Verbindung auf Zeichen und Bezeichnetem auf einer Ursache-Wirkung Beziehung (siehe Nöth 2000). Die Fotografie könne daher ein Objekt oder eine Person sehr detailgetreu und quasi „analog zur Wirklichkeit“ (Ikonizität) wiedergeben, oder man kann feststellen, dass eine abgebildete Person eben zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort gewesen ist, da die Lichtstrahlen als „Emanation des Referenten“ von einem Objekt ausgingen, und in der Folge die Betrachtenden beziehungsweise die Kamera erreichten (Barthes 1989, S. 90). Halawa (2008) geht davon aus, dass das Vertrauen in die Authentizität bzw. Wahrhaftigkeit von Fotografien auf der besonderen Kombination dieser Zeichenmerkmale basiert. „Fotos vereinen Index und Ikon, wobei Ikonizität und somit Realismus

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B. Krämer und K. Lobinger

und Authentizität sich der Indexikalität des fotografischen Verfahrens verdanken“ (Halawa 2008, S. 70). Heute scheint es uns selbstverständlich, dass es einen Wert an sich darstellen kann, die Realität getreu wiederzugeben. Dies ist aber erst eine Folge unseres modernen Weltbildes. Wenn man die irdische Realität und die Natur hingegen unvollkommen, korrupt, sündhaft usw. findet, warum sollte man sie dann noch einmal verdoppeln? Wenn der Gedanke ans Jenseits viel wichtiger ist, warum mit den Details der Welt aufhalten? Dann erscheint es wichtiger, die Natur, womöglich in ihrem vollkommeneren Zustand, idealisiert darzustellen, oder anstatt bloß den oberflächlichen Schein nachzuahmen, lieber symbolische Bedeutungen hervorzuheben. Wenn wir heute also die Realitätsnähe bildlicher Darstellungen als Wert (an sich) betrachten, so bleibt zu reflektieren, dass dies keineswegs ihre einzige und selbstverständliche Funktion ist und dass Bilder aus anderen historischen oder kulturellen Kontexten nicht ohne Weiteres an diesem Kriterium zu messen sind. Gerade aufgrund dieses Verständnisses als zuverlässige Wiedergabe der Realität fand die Fotografie auch rasch Anwendung im wissenschaftlichen Kontext (siehe auch den Beitrag von Geise zu wissenschaftlichen Bildern in diesem Band). In anthropologischen Forschungen wurden vor allem gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund der „apparent objectivity of the camera’s eye“ (siehe die kritischen Ausführungen von Banks 2013, S. 161) hohe Erwartungen an die Fotografie als wissenschaftliches Werkzeug gestellt. Diese Faszinationen der vermeintlich naturgetreuen Abbildungsfunktion von Fotografien verunmöglicht gleichzeitig die Anerkennung eines bildlichen erkenntnistheoretischen Potenzials für die Wissenschaft. Vielmehr dominierte ein Verständnis von Fotografie als bloßes Instrument oder „very humble servant“. Diesem bloßen Diener wurde kein Potenzial bei der Schaffung von Wissen zugesprochen: „just as the printing press and shorthand have neither created literature nor added to it“ (Baudelaire 1961, zit. nach Arnheim 1997, S. 53). Authentizität wird zu Beginn als besondere Eigenschaft der Fotografie – oftmals in Opposition zu Begriffen wie Fälschung (siehe Dutton 2005), Manipulation oder Verfremdung in anderen Repräsentationsverfahren – diskutiert. Später etablierte sich die Sichtweise, dass die Fotografie natürlich keine unvermittelte („unmediated“) Repräsentation der Wirklichkeit sein könne, da etwa die Auswahl und die Rahmung des dargestellten Objekts, die Wahl einer bestimmten Darstellungsweise sowie die Art und Weise der Präsentation der Fotografie deren Aussage und Bedeutungen mitbestimmen. Authentizität wird damit also gewissermaßen personalisiert bzw. von einem dinglichen Vorgang in einen kommunikativen Akt verlagert. Wortmann (2003) setzt sich intensiv mit der den fotografischen Repräsentationen zugeschriebenen Authentizität auseinander. „Die Beispiele der Geschichte authentischer Darstellungen haben gezeigt, dass Authentisierung als Effekt eines kulturellen Handlungsmusters begriffen werden muss, das nicht notwendig an Technizität gebunden ist“ (Wortmann 2003, S. 222). Er verweist darauf, dass mit der Einführung der digitalen Fotografie die indexikalische Authentizitätsbegründung, die dem Ver-

Visuelle Authentizitäten

109

ständnis des „pencil of nature“ zugrunde lag, gegenstandslos geworden sei.1 Allerdings war, so Wortmann (2003), die indexikalische Referenzialität analoger Fotografien ohnehin bloße Legende und Behauptung. „Zwar nicht im Hinblick auf den technischen Prozess, der sich semiotisch sehr wohl als indexikalisch beschreiben lässt, sehr wohl aber im Hinblick auf die Authentisierung“ (Wortmann 2003, S. 222). Die Charakterisierung von Fotografie als zuverlässige Wiedergabe der Natur blieb auch ohnehin ambivalent: Was ist noch der reine visuelle Eindruck und was ist bereits eine Interpretation, welche glaubt, die nicht mehr sichtbare „Natur“ einer Sache oder Person aus einem Bild erschließen zu können? Mittels der Fotografie sollte nämlich z. B. schon lange auch das Wesen von Menschen erfasst werden – nicht nur in der künstlerischen Portraitfotografie, sondern gerade auch mit wissenschaftlichem Anspruch, etwa als Instrument der Physiognomie oder Phrenologie, die aus Gesichtsausdruck oder Schädelform den Charakter erkennen wollte, dabei jedoch auch schon früh auf Widerspruch traf (Jäger 1995, S. 152–155). Werden solche Zusammenhänge und der reine Abbildcharakter in Frage gestellt, verlagert sich Authentizität auf eine expressive Ebene. Expressive Authentizität ist dann eine Verbindung aus Objekt und seiner Repräsentation, die durch das Ding selbst bezeugt wird. Dinge bzw. deren Repräsentationen entsprechen dann der Natur des Dinges in einem weitesten Sinne; „things are true to their own nature“ (Banks 2013, S. 161). Die Frage, ob etwas „sich selbst treu ist“ oder „wirklich sich selbst entspricht, ist eine Fragestellung, die – im Unterschied zur Beurteilung nominaler Authentizität – weniger auf technischen als auf moralischen Kriterien beruht (Banks 2013, S. 169). Hier sind dann verschiedene Verständnisse personaler und objektbezogener Authentizität berührt: Eine Person muss das Wesen des Abzubildenden richtig erfassen und subjektiv aufrichtig wiedergeben (essenzialistische personale Authentizität), muss also dem Gegenstand gerecht werden (was eben auch eine moralische Frage sein kann) und das Erfasste Dritten gegenüber wahrhaftig ausdrücken (kommunikative Authentizität). Wenn wiederum eine Person abgebildet ist, dann müsste eine Fotografie nach einer solchen Authentizitätsvorstellung deren Wesenskern richtig erfassen. Auch

1

An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass diese Art der Argumentation häufig am Übergang von analoger zur digitaler Fotografie gefunden werden kann. Es wird dann etwa diskutiert, ob Fotografie noch immer „authentisch“ sein kann, wenn es doch nun Rechenoperationen statt foto-chemischer Prozessen sind, die zur Erzeugung des Bildes beitragen. Diese Sicht auf Digitalfotografie als „revolutionärer Umbruch“ wird von den VerfasserInnen des vorliegenden Beitrags nicht mitgetragen. Immerhin beruhen diese Abläufe der digitalen Bildverarbeitung ebenso auf materiellen Vorgängen bzw. einer deterministischen Verarbeitung von Daten (nur dass die Kontingenz dieser Prozesse stärker ins Bewusstsein rückt als bei der fotochemischen Bearbeitung der Aufnahmen). Auch bei Wortmann folgt der Verweis, dass die quasi automatisch unterstellte Authentizität aufgrund indexikalischer Referentialität auch bei analogen Fotografien nicht unumstritten ist. Der Übergang von analoger auf digitale Fotografie soll daher erst einmal als willkommener Anlass gelesen werden, sich intensiver mit den Kommunikationsweisen fotografischer Repräsentationen zu beschäftigen, ohne gleich Revolutionen zu proklamieren.

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wenn das Wesen einer nichtpersonalen Entität (z. B. eines Landes und seiner Bevölkerung in der Reisefotografie) erfasst werden soll, kann dies nicht alleine daran festgemacht werden, dass eine Abbildung technisch gelingt. Vielmehr muss auch hier der Anspruch bestehen, das Wesen richtig erkannt zu haben und ihm treu zu sein. Natürlich können solche Wesenszuschreibungen dann aber auch als unzulässige Essenzialisierungen kritisiert werden.

3.3

Bildstil und Ästhetik als Authentizitätsmarker

In Bezug auf die fotografische bzw. generell die bildliche Repräsentation von Personen und Objekten erweist sich vor allem der Bildstil als förderlich oder hinderlich hinsichtlich je unterschiedlicher Authentizitätszuschreibungen. So skizzierte Rudolf Arnheim beispielsweise zwei gänzlich unterschiedliche Formen der Authentizität von Fotografien. Während die eine Form darauf abzielt, „reale Tatsachen“ zu repräsentieren, steht bei der anderen Form der menschliche Ausdruck im Zentrum. Es geht bei letzterer darum, die Beschaffenheit der menschlichen Erfahrung – mit welchen expressiven Mitteln auch immer – auszudrücken (Arnheim 1997, S. 53). Er skizziert das Spannungsfeld, dass sich zwischen diese beiden Formen der Authentizität auftut: Während die zweite Form, nämlich die ästhetische Funktion der Repräsentation, durch die erste Form unterstützt wird, in dem Sinne, dass sie wiederkennbare Darstellungen von Personen und Objekten ermöglicht, so behindert der ästhetische Ausdruck die erste Form der Authentizität. Die Kreativität und die Freiheiten der menschlichen Vorstellungskraft sind, so Arnheim (1997, S. 53), alles andere als authentisch, wenn sie als Dokumente bzw. Dokumentationen der physischen Realität betrachtet werden. Die Freiheit des Entwurfs und der Verwirklichung der schöpferischen Person würde nach diesem Authentizitätsverständnis durch die reine „Verdopplung“ der Realität eingeengt. Der Bildstil spielt eine wesentliche Rolle für die Einschätzung von Authentizität (siehe etwa Meier 2009, 2014), wurde in der Kommunikationswissenschaft aber bisher abseits des Journalismus selten untersucht. Für den Journalismus zeigte etwa Elke Grittmann, dass Authentizität sich als eine „auf sozialen Praktiken und professionellen Normen beruhende Konstruktion der Wirklichkeit“ (Grittmann 2003, S. 125) präsentiert (siehe auch Grittmann 2007), die auch mit bestimmten Darstellungstechniken einhergeht. Generell besteht ein Forschungsdefizit hinsichtlich der Beurteilung von Authentizität aus Sicht der Rezipierenden (Forster 2003, S. 73) sowie zu den damit verbundenen Authentizitätsmarkern. Die meisten Studien diesbezüglich beschäftigen sich mit der Beurteilung von Bildmanipulationen im Journalismus (vgl. etwa Huang 2001). Im Folgenden werden die eben skizzierten Aspekte visueller Authentizität in zwei exemplarisch ausgewählten Feldern – dem Fotojournalismus und der Alltagsfotografie – diskutiert. Dabei sollen die zunächst unterschiedlich anmutenden Perspektiven nicht getrennt, sondern im wechselseitigen Zusammenspiel besprochen werden.

Visuelle Authentizitäten

4

Authentizität bei journalistischen Bildern und in der Alltagsfotografie

4.1

Das Nebeneinander und die Vervielfältigung der Authentizitätsansprüche

111

Die „vernetzte Fotografie“ (siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band), die auf der Konvergenz von mobiler Kommunikation, Fotografie und Online-Kommunikation basiert, bringt eine höhere Zirkulation von „Amateurfotografien“ bzw. Alltagsfotografien mit sich, die neben bzw. an die Stelle der bisher oft nur in einem kleinen privaten Umfeld gezeigten (analogen) Amateuraufnahmen sowie neben das journalistische und in anderen professionellen Kontexten produzierte Angebot an Bildern treten. Das hat zur Folge, dass Rezipierende nicht mehr hauptsächlich mit Bildern aus den (massen)medialen Bildproduktionskontexten wie Journalismus, Werbung, PR, der Unterhaltungsindustrie oder Kunst in Kontakt kommen, sondern eben auch mit visuellem User-Generated Content (siehe auch den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band). Dies hat auch Implikationen für soziale und kulturelle Praktiken: „For now we can say that camera phones are set to extend our way of looking at the world photographically and in doing so bring changes to how we understand ourselves and that world“ (Gye 2007, S. 287). Denkt man an Nachrichtenjournalismus, so werden einem als Authentizitätskriterien zunächst die Verbürgtheit des Fotografierten einfallen (also dass das Abgebildet ist, was behauptet wird) bzw. die unverfälschte Wiedergabe des visuellen Eindrucks anlässlich eines Geschehens oder des Erscheinungsbildes einer Person. Folgt man klassischen Verständnissen, wonach Journalismus objektiv zu sein habe, so sollte ein Bild grundsätzlich nicht vorrangig den Ausdruck der Persönlichkeit oder einen künstlerischen Entwurf der Fotografierenden darstellen. Freilich besteht im Journalismus keinesfalls nur ein Bedarf nach visuellen Repräsentationen, die zur Identifikation von Personen dienen; Portraits sollen durchaus auch das Wesen von Personen ausdrücken. Ein stärker emotionalisierendes oder anwaltschaftliches Verständnis von Journalismus erlaubt ebenfalls mehr Ausdruck, sei es im Dienst einer guten Sache oder sei es, um die Aufmerksamkeit für das journalistische Produkt zu steigern oder es unterhaltsamer zu gestalten. Dann kommt es stärker darauf an, die individuelle Befindlichkeit von fotografierten Personen visuell auszudrücken oder die Atmosphäre in einer Situation fotografisch adäquat einzufangen. Mehrere Studien konnten zeigen, dass gerade bei online verfügbaren Amateuraufnahmen ein Low-tech-Stil und das Fehlen eines künstlerisch-ästhetischen Bildstils oftmals als authentischer gelten als stark geschönte oder „perfekte“ Bilder (Meier 2009; Richard 2010). Zwar kann eine solche „ästhetische Unzulänglichkeit“ dazu führen, dass ein Foto seine Funktion, Geschehnisse zu dokumentieren, weniger gut erfüllt. Aber das technisch unzulängliche, teilweise auch amateurhafte anmutende Bild kann gleichzeitig auch als Zeichen von Augenzeugenschaft und NichtInszenierung gelten (insbesondere, wenn es von Personen aufgenommen wurde, die nicht dem Journalismus zuzurechnen sind, wie den so genannten „LeserreporterInnen“).

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B. Krämer und K. Lobinger

Es sollte in diesem Zusammenhang aber auch nicht vergessen werden, dass im Journalismus in großer Zahl Bilder eingesetzt werden, welche einen Sachverhalt nur illustrieren, ohne einen aktuellen Informationswert aufzuweisen. Im Falle der Stock Photography werden sie eigens zu diesem Zweck hergestellt, in anderen Fällen visualisieren sie in Form von Symbolbildern Themen, die ansonsten nicht oder nur schwierig zu bebildern wären. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit richtet sich im Falle des Journalismus tendenziell weniger auf die verschiedenen Arten der Authentizitätskonstruktion (siehe dazu aber Grittmann 2003, 2007 sowie die Ausführungen in Abschn. 3.3), sondern mehr auf eine bedeutsame Art, sie zu verletzen: die Bildmanipulation. Die Analyse der Wahrnehmung von Manipulationen durch Rezipierende zeigt dabei, dass nicht jede Art der Bearbeitung von Bildmaterial als Manipulation (mit Täuschungsabsicht) verstanden wird (Forster 2003, S. 66). Je nach Kontext werden Veränderungen unterschiedlicher Art auf unterschiedliche Weise durch die Rezipierenden akzeptiert. Veränderungen im Human Interest-Bereich sind beispielsweise eher akzeptabel als Manipulationen im aktuellen Nachrichtenteil. An diesen Beispielen sieht man, dass Authentizität bzw. deren Zuschreibung durchaus kontextabhängig sind (siehe auch Salisbury und Pooley 2017), Authentizität demnach also ein soziales Konstrukt ist. Es gibt, so Marwick und boyd, keine universelle Authentizität, sondern „the authentic is a localized, temporally situated social construct that varies widely based on community“ (Marwick und boyd 2011, S. 124). Jedoch wird immer wieder eine „Krise der Authentizität“ (siehe die Ausführungen in Emmer et al. 2013a, b) beschrieben, die durch Online-Kommunikation und deren Funktionsweisen entstanden sei. Doch ein näherer Blick zeigt, dass es womöglich eher zu einer Verschiebung und Ausdifferenzierung der Authentizitätskriterien gekommen ist. Soziale Netzwerkseiten (SNS) beanspruchen etwa geradezu für sich, Plattformen der Authentizität zu sein (Salisbury und Pooley 2017) – aber teilweise eben in einem ganz anderen Sinne als journalistische Angebote. Dabei argumentieren die einzelnen Plattformen mit unterschiedlichen Begriffen, spielen etwa mit der vermeintlichen Ähnlichkeit zur „guten alten“ Offline-Kommunikation, mit der Möglichkeit „sorgloser Spontaneität“ in der Kommunikation, mit Einblicken in das „reale“ und „echte“ Leben der UserInnen; oder aber sie stellen sich als anti-kommerzielle Alternative zu bestehenden – bereits zu stark ökonomischen Zielen folgenden – BigPlayern dar (für einen Überblick über diese Strategien siehe insbesondere Salisbury und Pooley 2017, die einen regelrechten Kampf um den „Mantel der Authentizität“ identifizieren). Diese Ausdifferenzierung erklärt möglicherweise, dass einerseits manche Forschende davon ausgehen, die zunehmende Zirkulation von Amateurfotografien führe dazu, dass „realistischere“ Bilder zur Verfügung stehen, die beispielsweise eine breitere Palette an möglichen Körperbildern präsentierten, als dies in traditionellen massenmedialen Kontexten der Fall ist (siehe exemplarisch die Diskussion in Gervais 2013; Tiidenberg und Gómez Cruz 2015). Andererseits wird vermutet, Amateurbilder reproduzierten bestehende Repräsentationsregimes und die damit verbundenen Konventionen, was dann sogar zu deren Festigung führe (zur Diskussion von Körperunzufriedenheit und Sozialen Medien siehe etwa Fardouly und Vartanian 2016; Brown und Tiggemann 2016).

Visuelle Authentizitäten

4.2

113

Digitale Perfektion und die Simulation des Analogen

Die Alltagsfotografie strebt oftmals danach, ephemere Eindrücke in einer ästhetisch ansprechenden, vielleicht sogar ungewöhnlichen Darstellungsweise zu zeigen (als prototypisch können hier die Bilderwelten auf Plattformen wie Instagram gelten). Im Vordergrund steht also, die Welt „fotografisch“ zu sehen. Dabei rücken neue Techniken in den Vordergrund (Forster 2003, S. 73). „Newsworthy“ wird dabei als „pictureworthy“ neu interpretiert (Gye 2007, S. 286). Das bedeutet, dass Themen und Ereignisse, die sich nicht auf besondere Weise bildlich darstellen lassen, an Wert verlieren (Gye 2007, S. 286), dagegen aber auch – bislang – unbedeutende Eindrücke des Alltags durch einen besonderen Bildstil „newsworthy“ werden. Mit ausgefeilterer fotografischer Aufnahme- und Bearbeitungstechnologie, die immer mehr im Hintergrund arbeitet, können digitale Bilder spontan aufgenommen, bearbeitet und verbreitet werden. Diese können, gewissen technischen Standards zufolge, durchaus als perfekt gelten. Tatsächlich haben sich Auflösung und Bildqualität seit den Anfängen der Digitalfotografie massiv verbessert, und erlauben es auch AmateurfotografInnen, quasi perfekte Bilder anzufertigen.2 Diese zunehmende Perfektion von Fotografien, die ja eigentlich für einen authentischen Abbildungscharakter (im Sinne eines Analogon, siehe oben) sprechen könnte, ruft sogleich Gegenreaktionen hervor: „Ich glaube, es ist die Sehnsucht nach etwas Altem, Bewährtem. Nach Authentischem und nach etwas, das nicht perfekt ist. Digitalfotografie ist manchmal zu poliert, zu Hochglanz, das wirkt langweilig und leblos. Unperfektes berührt uns mehr und ist echter, denn das Leben ist auch nicht perfekt.“ (Fotografin bzw. „iPhone-Fotografin“ Martina Holmberg, Interview in Spiegel Online: Zinser 2012). Chandler und Livingston gehen ebenfalls davon aus, dass Amateurfotografinnen und Amateurfotografen Gegenstrategien anwenden, um der hyperrealen, makellosen Digitalfotografie, die visuelle Eintönigkeit produziere, eine Ästhetik des digitalen Imperfekten und analoger Nostalgie entgegenzusetzen (Chandler und Livingston 2012, S. 1, siehe auch den Beitrag von Menke und Niemeyer in diesem Band). Hier wird dann gerade dem eben nicht perfekten Bild besondere Authentizität zugesprochen. Interessanterweise werden zu diesem Zweck nicht unbedingt traditionelle, analoge fotografische Verfahren eingesetzt. Vielmehr werden innovative Applikationen auf Smartphones und Tablets genutzt, die es ermöglichen, eine „visual language of visual imperfection“ (Chandler und Livingston 2012, S. 1) umzusetzen. Oft sind es besondere Aufnahmetechniken, z. B. Retrofilter, die bereits in der digitalen Aufnahmesoftware (z. B. Instagram, Hipstamatic) angelegt sind. Diese Applikationen stellen Aufnahme- und Bearbeitungsfilter bereit, die eine aus der Analog- oder Polaroidfotografie bekannte visuelle Sprache simulieren und fotografische „Fehler“

2

An dieser Stelle soll betont werden, dass hier nur von der formal-technischen Qualität der Aufnahme, nicht aber von einer ästhetisch-künstlerischen Bildqualität besprochen wird. Letztere erfordert nach wie vor einen „fotografischen Blick“ für den entscheidenden Moment und gestalterisch-kreative Kompetenzen, die über das bloße Betätigen des Auslösers hinausgehen.

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B. Krämer und K. Lobinger

ästhetisieren. Dabei kommen einerseits Signifikanten von Erinnerung, Alter, Zeit und Medium, sowie andererseits Elemente, die menschliche und technologische Fehler (wie etwa Überbelichtung) nachahmen, zum Einsatz (Chandler und Livingston 2012, S. 4). In der Fotografie werden also (simulierte) Produktionsspuren hervorgehoben. Der Mensch als Produzentin oder Produzent, der bei der Digitalfotografie, so Chandler und Livingston, verborgen oder durch Bearbeitung gelöscht wird, wird durch die Simulation analoger Techniken wieder sichtbar. Ähnliches gilt für Spuren der Zeit, die im Zeitalter der Digitalfotografie keine Rolle spielen. Ein digitales Foto kann prinzipiell beliebig oft betrachtet, vervielfacht und geteilt werden, ohne an Qualität zu verlieren.3 Analoge Filter (u. a. mit Sepiafiltern, Gelbstichen, Texturen, die Verfall, Staub oder Belichtungsfehler signalisieren) werden einzeln oder in Kombination eingesetzt, um das digitale Bild zu einem „Simulakrum analoger Authentizität“ (Chandler und Livingston 2012, S. 4, eigene Übersetzung) werden zu lassen. Gombrich (1980) wies bereits in Zusammenhang mit vermeintlichen technischen Fehlern in Fotografien darauf hin, dass „Fehler“ dieser Art dabei nicht als misslungene, fehlerhafte Darstellung zu sehen sind, sondern einen – authentischen – Eindruck von der Entstehungssituation vermitteln oder die subjektive visuelle Erfahrung des/der FotografIn präsentieren können (Gombrich 1980, S. 270). Ebenfalls im Zusammenhang mit der Authentizität, die sich durch das Zusammenspiel digital/analog ergibt, stehen Darstellungstechniken, die aus der digitalen Fotografie ein „analoges Original“ machen sollen. Zum Beispiel kann die digitale Aufnahmetechnik eines Smartphones mit einer Drucktechnik aus dem 19. Jahrhundert kombiniert werden. Christoph Künne geht auf den Reiz ein, „zur Abwechslung mal ein Original zu schaffen, das sich genau so eben nicht noch einmal reproduzieren lässt und abgesehen davon eine unbestritten einmalige Ausstrahlung hat“ (Künne im Interview, Spiegel Online: Lis 2013). Hierbei ist natürlich an Walter Benjamins (1955 [1939]) Ausführungen zur „Aura“ künstlerischer Originale zu denken, welche „im Zeitalter [der] technischen Reproduzierbarkeit“ verloren gehe. Statt einer kultischen Distanz zum Kunstwerk und zur historischen Epoche, von der es Zeugnis ablegt, werden Filme und Fotografien durch die Reproduzierbarkeit alltäglich. Sie schaffe teilweise auch neue kultartige Haltungen, wie beim Starkult, jedoch könne die allgemeine Verfügbarkeit kultureller Hervorbringungen auch zu einer fortschrittlichen Aneignung führen. Insofern ist Benjamins These zu einem höchst ambivalenten Vorgang nicht gleichzusetzen mit einer Klage über einen Kulturverfall und einen Authentizitätsverlust durch eine technisierte kulturelle Produktion. Dass auch die Authentizität der Imperfektion ein soziales Konstrukt ist, zeigt sich daran, dass sich mit der Zeit auch diese Imitationen bzw. Simulationen der analogen Fotografie abnutzen. Es tritt dann die Konventionalität standardisierter Bildfilter hervor, was wiederum dazu führt, dass diese als Form der Inszenierung, der Bear-

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Nicht alle digitalen Distributionsprozesse erfolgen ohne Qualitätsverlust. So reduzieren etwa Apps und Messenger-Dienste, wie z. B WhatsApp, zum Zwecke der schnelleren Übertragung die Dateigröße der gesendeten Bilder, was zu einem substanziellen Qualitätsverlust führt.

Visuelle Authentizitäten

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beitung hervorgehoben und interpretiert werden. Eine Gegenstrategie sind dann beigefügte Hashtags, die Bildern bescheinigen, eben gerade ohne diese Filter auszukommen (#nofilter; siehe Salisbury und Pooley 2017). Dabei wird nicht berücksichtig, dass ästhetische „Manipulationen“ nicht nur dadurch entstehen, dass UserInnen nach bzw. während der Bildaufnahme ausgewählte Filter auflegen. Jede Smartphone-Kamera zeichnet sich, wie bereits angedeutet, durch eine besondere Ästhetik und einen besonderen visuellen Stil aus, die durch die Art entstehen, wie die Aufnahme umgehend und unbemerkt verarbeitet wird. So machen manche Smartphone-Kameras besonders schöne Portraitaufnahmen, in denen Hauttöne – per default – makellos erscheinen. Hier ist der Filter bzw. die technische Bearbeitung bereits in der Kamera selbst angelegt – und oftmals auch nicht deaktivierbar.

4.3

Authentizitätsmarker

Wegen dieser Uneinheitlichkeit der Konstruktion von Authentizität im Falle der online verfügbaren Fotografie erscheint es zielführender, typologisch vorzugehen und Authentizitätsmarker zu unterscheiden, die zwar teilweise kombiniert werden können, sich aber untereinander auch widersprechen, weil sie verschiedene Authentizitätsverständnisse ansprechen. Durch ihre Zusammenschau tritt der Konstruktionscharakter von Authentizität im Journalismus, aber auch auf Sozialen Medien (Richard 2010, S. 56) noch einmal deutlicher hervor. Authentizitätsmarker sind Kriterien, die User anwenden, um die Authentizität von Online-Inhalten und Online-Repräsentationen einzuschätzen. Auch wenn gezeigt werden konnte, dass die Authentizität ein stark subjektives Konstrukt ist (Brantner und Lobinger 2015; Lobinger und Brantner 2015), so lassen sich doch vier zentrale Bündel von Authentizitätsmarkern feststellen (siehe hierzu ausführlich Kap. 2 im Beitrag von Salisbury und Pooley 2017). Diese Marker werden von verschiedenen Personen in unterschiedlichen Graden für die Beurteilung von Authentizität herangezogen. Im Folgenden werden diese Marker vor allem für die visuelle Repräsentation von Personen diskutiert, sie lassen sich aber auf andere Arten der Fotografie übertragen. Der erste Marker, Konsistenz, beschreibt etwa eine (angenommene oder wahrgenommene) Übereinstimmung zwischen der Selbstdarstellung online und des OfflineSelbst in der „realen Welt“.4 Da Menschen in profilbasierten Sozialen Medien vor allem mit Menschen verbunden sind, die sie bereits aus Offline-Umgebungen kennen (Ellison und boyd 2013; Ellison et al. 2007), sind die Möglichkeiten, sich visuell ein zu „geschöntes“ Selbst zu kreieren, relativ eingeschränkt. Der Authentizitätsmarker „Konsistenz“ muss jedoch in einem weiteren Sinne, der über einen bloßen Online-Offline-Vergleich hinausgeht, interpretiert werden. Denn auch wenn UserInnen die dargestellten Personen nicht kennen (wie etwa in der Studie von Damit soll keinesfalls suggeriert werden, Online-Darstellungen seien weniger „real“ als OfflineDarstellungen. Die Formulierungen basieren vielmehr auf Äußerungen von Befragten.

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Lobinger und Brantner 2015), so werden dennoch bestimmte Charakteristika eines Bildes herangezogen, um einzuschätzen bzw. Vermutungen anzustellen, ob das Bild dem „tatsächlichen Selbst“ entsprechen könnte. Inszenierungen unterschiedlicher Art werden hier sehr stark sanktioniert. Dabei wird die Offline-Repräsentation als nicht hinterfragte Vergleichsfolie des Authentischen gesehen. Konsistenz bedarf zudem einer längerfristigen und als „stabil“ eingeschätzten (visuellen) Selbstdarstellung. So können etwa bestimmte Posen oder Orientierung an bestimmten medialen Vor-Bildern (etwa aus dem Bereich der Werbefotografie oder der visuellen Darstellung von Celebrities) als nicht konsistent mit dem Offline-Selbst bewertet werden. Darstellungstechniken und -ästhetiken können also dazu beitragen, die wahrgenommene Authentizität von Selbstdarstellungen zu fördern oder zu behindern. Posen sind aber auch für einen weiteren Authentizitätsmarker, für Spontanität, relevant. So werden improvisiert wirkende visuelle Selbstdarstellungen (und Fotografien generell) oftmals als authentischer gesehen als sorgfältig eingenommene Posen, die auf Planung und Überlegungen hinsichtlich der Bildkomposition hindeuten (siehe auch Meier 2015, S. 102). Offensichtliche Arbeit an der gewünschten visuellen Selbstdarstellung wäre demnach weniger authentisch. Aber auch hier lässt sich starke Subjektivität beobachten: So werden Selfies, vor allem jene in denen der Arm sichtbar ist („One-Arm-Length-Selfies“) und die auf bestimmten Posen beruhen, von manchen Befragten als inauthentisch bewertet, während sie vor allem von jüngeren Befragten als alltägliche Darstellungspraktiken und daher als authentisch (für das Leben in aktuellen Medienkulturen) gesehen werden (Brantner und Lobinger 2015, S. 275–276).5 Dieses Beispiel zeigt erneut die stark kontextspezifische Bedeutung von Authentizität auf. Der Marker der Spontaneität lässt sich nicht von jenem des Amateurismus trennen. So wird ein Bildstil, der nicht professionell bzw. nicht künstlerisch erscheint, oftmals als authentischer gesehen als professionell produzierte oder „zu perfekte“ Bilder. Dieser Authentizitätsmarker basiert auf den Ausführungen bezüglich der zwei Authentizitäten von Bildern von Arnheim (siehe oben). Hier steht jene Authentizität im Vordergrund, die darauf basiert „reale Tatsachen“ als Dokumentationen der physischen „Realität“ ohne besondere ästhetische Ausdrucksweisen wiederzugeben. Meier (2015) erläutert dies auch am Beispiel von Fotografien, die Überwachungsvideos entnommen wurden. Er geht davon aus, dass hier indexikalische Authentizitätsmarkierungen überwiegen. „Gerade die Unschärfe, die Verwackelung, die unkontrollierte Lichtführung, sprich die Nichtprofessionalität der Fotografie beeinträchtigt zwar die Ikonizität, sie transportiert jedoch auch eine natürliche Verbundenheit mit der Aufnahmesituation. Hier war keine bildschaffende Hand tätig, die durch Ästhetisierung eine vermeintlich artifizielle Abstraktion

5

An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die Studie von Brantner und Lobinger (2015) subjektive Einschätzung von Authentizität im Rahmen einer qualitativen Studie erforschte. Es lassen sich daraus keine quantitativen Angaben über die Verbreitung der unterschiedlichen Authentizitätskonzepte bei unterschiedlichen Personengruppen ableiten.

Visuelle Authentizitäten

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des Bildmotivs herstellt. Vielmehr verweist gerade die nicht ästhetische Unvollkommenheit des Bildes indexikalisch auf die konkrete Situation hin.“ (Meier 2015, S. 100)

Die Rolle des „authentischen“ visuell-ästhetischen Ausdrucks – etwa eines künstlerischen Selbst – wird hierbei hingegen vernachlässigt. Es ist jedoch durchaus anzunehmen, dass dies auf bildspezifischen Plattformen, bei denen anders als bei profil-basierten Plattformen ein gemeinsames Interesse an Fotografie besteht (wie dies etwa bei Flickr der Fall ist), anders ausfällt, da hier ein versierter ästhetischer Ausdruck, ein bestimmter visueller Stil zur Grundanforderung der erfolgreichen Teilhabe gehört. Schließlich benennen Salisbury und Pooley (2017) noch die dosierte Freigabe persönlicher Details, also eine kuratierte Intimität und Selbst-Offenbarung als Marker für Authentizität. Sprich, visuelle Einblicke in das Alltagsleben lassen Personen authentischer erscheinen. Dies wurde bisher vor allem als Strategie der OnlineKommunikation von Bloggern und Celebrities identifiziert, lässt sich aber auch auf die Alltagsdarstellung von UserInnen Sozialer Netzwerkseiten übertragen. Einblicke in das Backstage-Verhalten (siehe auch den Beitrag von Autenrieth in diesem Band) sind demnach als viertes Bündel der Authentizitätsmarker zu sehen. Bestimmt lässt sich diese Liste (je nach Kontext) noch sehr lange fortsetzen, zudem bleibt erneut daran zu erinnern, dass Authentizitätszuschreibungen subjektiv und stark kontextabhängig sind. Vor allem zu kulturellen Unterschieden zur Beurteilung von Authentizität sind weitere empirische Belege wünschenswert.

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Zusammenfassung und Ausblick

Dieser Beitrag setzte sich zum Ziel, dafür zu sensibilisieren, dass die Frage nach der Authentizität visueller Repräsentationen immer mit der Frage „Welche Authentizität eigentlich?“ verbunden sein muss. Bilder lassen sich, wie gezeigt werden konnte, an sachbezogenen, personenbezogenen und kommunikationsbezogenen Authentizitätsbegriffen messen, wobei jede dieser Kategorien wiederum mit komplexen Fragen verknüpft ist. So können in Bezug auf die personenbezogene Authentizität essenzialistische und existenzialistische Ansätze unterschieden werden. Und auch bei der Einschätzung von kommunikationsbezogener Authentizität werden verschiedene Authentizitätsmarker, die etwa in Bildstil und Ästhetik angelegt sind, je nach Kontext und Situation unterschiedlich interpretiert und bewertet. Authentizität ist, dem Verständnis des vorliegenden Beitrags nach, ein situiertes und veränderbares soziales Konstrukt, das in unterschiedlichen Kontexten und durch unterschiedliche Personen ganz verschieden interpretiert wird. Gerade dies, und die Tatsache, dass sich die hier getrennt angeführten Authentizitätsverständnisse eben gerade nicht klar trennen lassen, machen die Analyse und Einschätzung von visueller Authentizität so herausfordernd. Dadurch, dass Authentizitätsmarker kontextspezifisch sowie ständig in Veränderung begriffen sind, kommt es mitunter auch zu Verschiebungen zwischen unterschiedlichen Genres. So wurde zum Beispiel der Fotograf Damon Winter 2010 für seine Fotoserie „A Grunt’s Life“, die den Alltag von US-Soldaten in Afghanistan dokumentiert, mit dem dritten Platz des Picture of the Year international (POYi)

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B. Krämer und K. Lobinger

prämiert. Er hatte diese Fotoserie mit der Smartphone App Hipstamatic erstellt, einem Vorläufer auf dem Gebiet der Retro-Fotografie, die analoge Fotografie u. a. durch Filter simulierte (siehe auch Meier 2015, S. 104 und die Ausführungen zu Retro- und Vintage-Fotografie in Abschn. 4.2). Die Verwendung ästhetischer Filter im Kontext der Kriegsfotografie führte zu heftigen ethischen Kontroversen bezüglich der Zulässigkeit „hipper“ Fotofilter in der journalistischen Berichterstattung über Kriege und Krisen. So wurde etwa kontrovers diskutiert, ob die Nutzung von Apps mit Fotofiltern, wie Instagram oder Hipstamatic, zu einer De-Professionalisierung des Fotojournalismus beitragen oder sogar auf ethisch fragwürdige Weise Krieg als „stylishly vintage“ portraitiere (Alper 2013; Halpern und Humphreys 2014; Winter 2011). Was sich an diesem Beispiel ebenfalls zeigt, ist, dass es zu Irritationen kommt, wenn anerkannte und etablierte Authentizitätsmarker durchbrochen werden; wenn eine Darstellung also nicht mit den „gewohnten“ Repräsentationsregeln des Journalismus, der ja per se stark auf Authentizität und der dokumentarischen Funktion der Fotografie basiert, in Einklang zu bringen ist. Zugleich tritt dabei hervor, dass Authentizität, wie im Text herausgearbeitet, kommunikativ und durch bestimmte mediale Inszenierungen performativ hergestellt werden kann (Meier 2015, S. 93). Es ist keine Überraschung, dass der Fall von Damon Winter so ausführlich und kontrovers diskutiert wurde. Immer dann, wenn internalisierte und „normalisierte“ Regeln und Konventionen gebrochen werden, treten sie wieder hervor und erfordern eine erneute Aushandlung darüber, welche z. B. medialen Repräsentationsregeln in welchem Kontext angebracht und wünschenswert sind. Diese Aushandlung und das Erkennen von Markern der Authentizität bzw. Inauthentizität sind Teil eines Medienhandelns, das, so Rath (2013), auch medienkritische Kompetenzen erfordert. Diese können verhindern, dass das Individuum zu einem „unkritischen Opfer der Inszenierung“ (Rath 2013, S. 25) wird. Die Verantwortung für das Aushandeln von Regeln und Normen der Authentizität und die Frage, wie diese sich weiterentwickeln, liegt damit nicht ausschließlich in den Händen von Medienschaffenden, sondern auch in jenen der Rezipierenden. Diese normativen Implikationen illustrieren erneut die Bedeutsamkeit, sich mit authentischen und authentisierenden Repräsentationsweisen im Kontext der Visuellen Kommunikationsforschung auseinanderzusetzten. Aktuell stellt beispielsweise das Feld der Datenvisualisierung (nicht nur im Journalismus) Herausforderungen dar, derer die Forschung sich gerade erst anzunehmen beginnt (siehe den Beitrag von Weber in diesem Band). Aber auch die Authentizitäten, die durch Bewegtbilder erzeugt und simuliert werden, schaffen bisher noch beträchtliche analytische Probleme, die es noch entsprechend zu adressieren gilt.

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B. Krämer und K. Lobinger

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Teil II Themenfelder der Visuellen Kommunikationsforschung

Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära Elke Grittmann

Inhalt 1 2 3 4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition von Fotojournalismus und journalistischer Bildkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . Fotojournalismus und journalistische Bilder aus theoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsüberblick über Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Journalismus ist ein zentrales Feld Visueller Kommunikationsforschung. Der Beitrag gibt einen Überblick über das Feld (foto-)journalistischer Bildkommunikation und stellt theoretische Perspektiven und Befunde zu den Strukturen, Arbeitsweisen und Routinen fotojournalistischer Bildproduktion und -distribution sowie zu Normen journalistischer Bildpublikation vor. Das Feld durchlebt aktuell unter Bedingungen der Digitalisierung tief greifende Veränderungen, die sowohl die Praxis als auch die Visuelle Kommunikationsforschung herausfordern. Schlüsselwörter

Fotojournalismus · Journalismusforschung · Digitalisierung · Authentizität und Augenzeugenschaft · Bildermarkt

E. Grittmann (*) Institut für Journalismus, Hochschule Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_7

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126

1

E. Grittmann

Einleitung

Nie zuvor wurden in der Geschichte des Journalismus wöchentlich, täglich, ja inzwischen stündlich so viele Bilder in journalistischen Angeboten veröffentlicht wie heute. Diese Entwicklung ist eine der Folgen des tief greifenden Öffentlichkeitsund Medienwandels, der sich seit gut zwei Jahrzehnten mit großer Dynamik unter Bedingungen der Digitalisierung vollzieht. Während journalistische Medienbilder (Lobinger 2012, S. 68), als Einzelbild oder kombiniert in Bildsammlungen, bis in die 1990er-Jahre hinein vor allem in Zeitungen und Zeitschriften publiziert wurden, verlagert sich die journalistische Berichterstattung und damit auch die Publikation von Bildern im Prozess der „journalistischen Bildkommunikation“ (Isermann 2015) seitdem auch und zunehmend ins Internet. Nicht nur die Anzahl der Bilder, die den Redaktionen täglich zukommen, ist enorm gestiegen – bis zu 20.000 in einigen Redaktionen (Runge 2016, S. 281). Auch die Wege, über die Journalismus Wissen sichtbar macht, haben sich mit der Entwicklung unterschiedlicher „Ausspielkanäle“ im digitalen und Onlinejournalismus vervielfacht, von eigenen Websites der Printmedien, E-Paper, Apps bis zur Publikation von Nachrichten auf Social-MediaPlattformen wie Facebook oder Instagram (Borges-Rey 2015). Die verschiedenen Bildgenres und -gattungen wie beispielsweise Nachrichtenfotografien, Porträts, Karikaturen, interaktive Karten, Datenvisualisierungen oder Infografiken tragen dabei auf ganz unterschiedliche Weise zur journalistischen Wissensproduktion bei. Dieser Beitrag befasst sich mit einer der wichtigsten Bildgattungen in journalistischen Medienangeboten, der journalistischen Fotografie (Bewegtbild, d. h. Film/ Video ist die andere). Unter den Bedingungen der Digitalisierung haben sich nicht nur die journalistischen Publikationsorte und -weisen fotojournalistischer Bilder erweitert und verschoben – so erscheinen Fotografien in vielfachen und neuen vielfältigen Formen, z. B. in Online-Bildergalerien digitaler Medienangebote (Caple und Knox 2012, 2017). Auch Infrastrukturen, Arbeitsprozesse und Arbeitsweisen, professionelle Normen und ethischen Werte fotojournalistischer Bildproduktion sind durch die Transformationen der Öffentlichkeit und nicht zuletzt durch die Konkurrenz der Amateurfotografie inner- und außerhalb der Medien herausgefordert (Gürsel 2016; Štefaniková und Láb 2018). Zudem gewinnen Bildgattungen wie beispielsweise Datenvisualisierungen an Bedeutung, die ebenfalls Evidenz beanspruchen und damit eine neue Konkurrenz bilden. Im ersten Abschnitt dieses Beitrags (Abschn. 2) werden zunächst die zentralen Begriffe für fotografische Bilder und andere Bildgattungen in journalistischen Medienangeboten und ihren Produktionskontexten definiert. Daran schließt ein Überblick über zentrale theoretische Konzeptualisierungen von Fotojournalismus und journalistischer Bildkommunikation an (Abschn. 3). Die Visuelle Kommunikationsforschung hat sich seit Anfang der 1990er-Jahre etabliert und entwickelt – in einem Zeitraum, in dem auch der Fotojournalismus und die journalistische Bildkommunikation einen tief greifenden Wandel unter den Bedingungen der Digitalisierung und Globalisierung erleben. Wie sich die durch digitale Medientechnologien zunehmende Visualisierung als Teilprozess der Mediatisierung (Lobinger 2012) auf den fotografischen Produktionskontext und fotografische Bildpublikation im Journalismus

Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära

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auswirkt, wird im folgenden Abschnitt vorgestellt (Abschn. 4). Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Wandel des Anspruchs auf Authentizität. Der Beitrag schließt mit einem kritischen Ausblick auf Herausforderungen für die Visuelle Kommunikationsforschung im Bereich des Fotojournalismus und der journalistischen Bildkommunikation (Abschn. 5).

2

Definition von Fotojournalismus und journalistischer Bildkommunikation

In der Visuellen Kommunikationsforschung lassen sich Bilder grundlegend in drei Gruppen unterscheiden: bewegte, unbewegte und hybride Bilder. Diese Unterscheidung ist auch für die Systematisierung von Bildern in der journalistischen Kommunikation hilfreich: Zu Bewegtbildern gehören Film und Video, zu den unbewegten (Einzel-)Bildern, sogenannte „still images“, beispielsweise Fotografien oder Zeichnungen. Film, Infografiken oder Karikaturen stellen multimodale Angebote dar, sie kombinieren Ton oder Text mit Bildern (zu Multimodalität siehe den Beitrag von Bucher in diesem Band). Im Zuge der Digitalisierung sind neue hybride Bildgattungen entwickelt worden, wie beispielsweise interaktive Datenvisualisierungen (siehe dazu den Beitrag von Weber in diesem Band), GIFs oder Cinemagraphs. Zur Bestimmung der für die Visuelle Kommunikationsforschung nach wie vor besonders relevanten unbewegten Bilder hat Lobinger (2012, S. 68–70) im Anschluss an Knieper (2005) den Begriff der Medienbilder vorgeschlagen. Diese umfassen Bilder, die manifest beobachtbar sind, (massen-)medial verbreitet werden und in intra- wie intermediale Kontexte eingebunden sind (Lobinger 2012, S. 69–70). Herstellungsprozess und die Bildtechnik bilden relevante Kriterien, um journalistische Medienbilder nach Bildgattungen zu differenzieren, wie beispielsweise Fotografien, Datenvisualisierungen, Karikaturen oder Infografiken.

2.1

Das Medium Fotografie in der journalistischen Bildkommunikation

Für fotografische Bilder in journalistischen Medienangeboten und ihrem Produktionskontext werden in der Praxis und der Visuellen Kommunikationsforschung eine Vielzahl von Begriffen verwendet, die eine große begriffliche Unschärfe aufweisen, wie u. a. Pressefotografie, dokumentarische Fotografie, Nachrichtenbilder, Ereignisfoto. Diese Unschärfen sind Ergebnis unterschiedlicher Sichtweisen und Positionen in einem unübersichtlichen Feld, das auch in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven betrachtet wird. Um fotografische Bilder in journalistischen Kontexten definieren zu können, ist zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Medium Fotografie im Verhältnis zu anderen visuellen Medien oder Bildgattungen im Journalismus hilfreich. Das wichtigste Charakteristikum der Fotografie wird in der Aufnahme mittels einer Fotokamera gesehen. Diese „mechanische“ Herstellung von Bildern und die

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E. Grittmann

dem fotografischen Apparat zugeschriebene indexalische Darstellungsqualität bildeten bis zur Entwicklung digitaler Kameras die ontologische Grundlage der Fotografie schlechthin (Geimer 2009, S. 18–45). Unter Indexalität ist im Anschluss an das zeichentheoretische Modell von Charles Sanders Peirce (siehe auch den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band) die physikalisch begründete Verbindung von Bild und fotografiertem Objekt im Moment der Aufnahme zu verstehen – die Fotografie ist demzufolge eine „Spur des Wirklichen“ (Dubois 1998, S. 49). Diese physikalische Beziehung wird in der Fototheorie allerdings sehr unterschiedlich diskutiert (Geimer 2009, S. 59). Die Besonderheit (analoger) fotografischer Bilder beruht letztlich auf einem kurzen, aber entscheidenden Moment im Herstellungsprozess, dem Moment des „fotografischen Aktes“ (Dubois 1998; Geimer 2009, S. 18–45). Dieser technische Herstellungsprozess unterscheidet die Fotografie auch von anderen in journalistischen Medienangeboten verwendeten Bildgattungen wie beispielsweise der Karikatur, der Infografik oder Zeichnung. Fotografien bilden somit „Artefakte, die das Gewesensein der dargestellten Gegenstände bezeugen“ (Geimer 2009, S. 55–56). Der Wahrheitsanspruch fotografischer Bilder im Journalismus gründet ganz wesentlich auf dieser scheinbar unhintergehbaren Beziehung im Moment der technischen Aufnahme (siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Mit der Ablösung der analogen Fotografie durch digitale Kameras und Kamera-Apps (Alper 2014; Bauernschmitt und Ebert 2015, S. 290–291) wird die Idee der Indexalität nicht aufgegeben; vielmehr wird die Vorstellung physikalischer Indexalität durch eine datenbasierte Indexalität abgelöst (Gunning 2004). Anders ließe sich auch die Verwendung digitaler Passfotos, wie Gunning zu Recht bemerkt, und der ihnen zugeschriebenen Evidenz nicht rechtfertigen (Gunning 2004, S. 40). Diese Besonderheit des fotografischen Bildmediums kann zwar als Differenzkriterium gegenüber anderen Medien herangezogen werden, eine rein technikorientierte Definition reicht jedoch nicht aus. Neben der Indexalität wird die Ikonizität, die Ähnlichkeit, als weiteres notwendiges Kriterium für Fotografie und insbesondere journalistische Fotografie angeführt (Lobinger 2012, S. 69–70; Mäenpää 2014, S. 93; siehe auch den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band). Fotografische Bilder können gerade durch diese Ikonizität als visuelle Repräsentationen fungieren, die etwas zu sehen geben, was sie als materielle Objekte selbst nicht sind (Schade und Wenk 2011). Schade und Wenk haben dies am Bild des Malers René Magritte, „Ceci n’est past une pipe“ (Das ist keine Pfeife) veranschaulicht: Das Gemälde zeigt eine Pfeife, dabei handelt es sich jedoch allein um eine Repräsentation (Schade und Wenk 2011, S. 85–86). Die zugeschriebene Ikonizität und Indexalität bilden wesentliche Voraussetzungen für die Relevanz der soziokulturellen Bedeutungskonstruktion fotojournalistischer Bilder in der Gesellschaft.

2.2

Pressefotografie und Fotojournalismus – zur soziale Gebrauchsweise der Fotografie im Journalismus

So zentral dieser „fotografische Akt“ gerade für die Spezifik journalistischer Fotografie ist – Fotografie wird erst in der Gebrauchsweise sozial gestaltet; sie

Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära

129

ist sowohl sozial wie kulturell bestimmt. Entsprechend ist bereits der „fotografische Akt“ ebenso maßgeblich geprägt von der „Einführung der Kamera und des Fotoreporters in eine soziale Situation“ (Koltermann 2017, S. 51). Die Definitionen unterschiedlicher Gebrauchsweisen der Fotografie im Journalismus sind allerdings sehr vielfältig und sollen daher im Folgenden vorgestellt und voneinander abgegrenzt werden. Die soziale Gebrauchsweise der Fotografie im Journalismus kommt bereits in dem Begriff der „Pressefotografie“ zum Ausdruck. Der Begriff der Presse gilt dabei als Gattungsbezeichnung für alle „regelmäßig erscheinenden, d. h. periodischen Druckwerke – Zeitungen und Zeitschriften“ (Pürer und Raabe 2007, S. 9) neben dem Rundfunk, also Fernsehen und Hörfunk. Presse wird aber auch (nach wie vor) im Sinne der „Institution Presse“ für den gesamten Bereich der Organisationen, Unternehmen und Akteuren verwendet (Pürer und Raabe 2007, S. 9), der zur aktuellen Selbstbeobachtung der Gesellschaft beiträgt. Als Pressefotografie lassen sich dementsprechend jene fotografischen Bilder bezeichnen, die für die Presse hergestellt und in der Presse publiziert werden (Grittmann 2007, S. 25; aus historischer Perspektive z. B. Vowinckel et al. 2017; Zierenberg 2013). Der Institutionalisierungsgrad zeigt sich auch an der Ausbildung von Regeln und Normen, die das Feld bestimmen. Insbesondere der Anspruch auf Authentizität bildet eine zentrale Berufsnorm (Newton 1998; Grittmann 2003). Erst die Gebrauchsweise, die die Anwesenheit der ReporterInnen voraussetzt, schafft die fotografische „Evidenz“. Die erzeugte Fotografie wird zum „Beweis“ der verbürgten Augenzeugenschaft. Die Aufnahme gilt dann, so sie im Weiteren nicht manipuliert wird, als authentisch (Büllesbach 2008; Grittmann 2003; siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Erst vor dem Hintergrund dieser zugeschriebenen Authentifizierung durch das technische Moment und die Augenzeugenschaft lässt sich nachvollziehen, warum journalistische Bilder nicht nur in der aktuellen Berichterstattung, sondern auch in der journalistischen Erinnerungskultur so bedeutsam sind: Sie scheinen gleichsam die Vergangenheit zu vergegenwärtigen (Ammann 2015). Redaktionen bedienen sich in der fotografischen Bildauswahl nicht nur professioneller, sondern auch anderer Quellen wie beispielsweise PR-Fotos oder Privataufnahmen (Grittmann 2007, S. 25–26). Im Zuge der Digitalisierung haben insbesondere Amateuraufnahmen an Bedeutung gewonnen (Ammann et al. 2010; Andén-Papadopoulos und Pantti 2011; Mortensen 2011a; Pantti und Bakker 2009; siehe auch Abschn. 4). Deshalb erscheint es sinnvoll, andere fotografische Bilder in journalistischen Medien klar von jenen Aufnahmen zu unterscheiden, die von einem professionalisierten und ökonomisch geprägten Feld für journalistische Medien hergestellt werden – dem Fotojournalismus. Nach Campbell bezieht sich Fotojournalismus auf „the photographic practice in which someone tells a story about some aspect of their world, where this story is compiled first using lens-based imaging technologies that have a relationship with that world. This encompasses what is called documentary photography or editorial photography, but excludes works of visual fiction and those produced with computer-generated images. It also means that what

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E. Grittmann

counts as photojournalism is no longer dependent on its association with print publications.“ (Campbell 2013, S. 11) Gerade in der Praxis wird auch der Begriff des Bildjournalismus zuweilen synonym für Fotojournalismus verwendet. Bildjournalismus geht aber weit über Fotojournalismus hinaus und umfasst die Herstellung, Distribution und Publikation verschiedener Bildgattungen. Ebenso wird auch der Begriff des „visuellen Journalismus“ häufig für Bildoder Fotojournalismus verwendet. Machin und Polzer (2015) haben dagegen ein Konzept entwickelt, das Visuellen Journalismus als jenes Feld bezeichnet, das sich mit der Gestaltung von Text, Bild und Design in einem journalistischen Medium befasst. Sowohl im englischsprachigen als auch im deutschsprachigen Raum hat sich der Begriff des photojournalism, respektive Fotojournalismus, für jenes Tätigkeitsfeld durchgesetzt, das sich mit der Herstellung, Distribution für und Publikation von Fotografien in journalistischen Medien befasst. Fotojournalismus lässt sich aber nicht auf die Arbeit für journalistische Medien reduzieren. Ausstellungen und das Fotobuch sind wichtige Publikationsorte und -formen für die Dokumentarfotografie (Grittmann 2007, S. 32), sie haben durch die Medienkrise, die auch zur Auftragskrise für FotojournalistInnen geführt hat, an Bedeutung gewonnen.

2.3

Fotojournalistische Darstellungsformen und Genres

Wie im Journalismus haben sich auch im Fotojournalismus spezifische Darstellungsformen entwickelt, die sich auf einer ersten Ebene in Einzelbilder und Bildserien unterscheiden lassen (Grittmann 2007; Koltermann 2017, S. 54–57; Bauernschmitt und Ebert 2015, S. 119–126). Darstellungsformen werden nach der Art und Weise der Erzählform und Gestaltung unterschieden, sie werden auch als Genres bezeichnet. Der Genre-Begriff wird jedoch auch zur thematischen Unterscheidung verwendet (z. B. Landschaftsfotografie, Kriegsfotografie, etc.). Die Pressefotografie wird zudem häufig mit der Nachrichtenfotografie (news photography) gleichgesetzt. Dazu gehören beispielsweise spot news (unerwartete Ereignisse), general news (zu aktuellen Themen und Entwicklungen) und features (human interest orientiert). Koltermann (2017, S. 11) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Perspektive zu kurz greift. „Fotojournalismus ist zu weiten Teilen ein narratives Genre. Einzelbilder sind dabei vor allem für die klassische Pressefotografie interessant.“ Die dokumentarische Fotografie (documentary photography), die sich statt tagesaktuellen Ereignissen meist längerfristigen Entwicklungen und Hintergründen mittels narrativer Genres wie FotoReportage oder Fotoessay widmet (Grittmann 2007), gerät durch diese Fokussierung jedoch leicht aus dem Blick. Diese narrativen fotojournalistischen Genres basieren häufig auf längerfristigen Recherchen, die den FotografInnen deutlich mehr Freiraum ermöglichen und gerade subjektive Perspektiven fordern. Porträts bilden eine weitere wichtige fotojournalistische Darstellungsform und gleichermaßen ein Genre.

Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära

3

131

Fotojournalismus und journalistische Bilder aus theoretischer Perspektive

Die zunehmende Visualisierung, die auch im Journalismus zu beobachten ist, hat zu einer verstärkten Theoriearbeit in der Visuellen Kommunikationsforschung über Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation bzw. über die Beziehung zum Journalismus geführt. Komplexere Theorien eröffnen ein weiteres Verständnis für diese Strukturen und Prozesse und schaffen gleichermaßen die Grundlage für empirische Studien. Die Forschung hat sich jedoch erst im vergangenen Jahrzehnt intensiver der Theoriearbeit gewidmet, um diese komplexen sozialen und kulturellen Zusammenhänge im Bereich fotojournalistischer Bildkommunikation zu erfassen. Den verschiedenen theoretischen Perspektiven ist die erkenntnistheoretische Annahme gemeinsam, dass es sich bei fotojournalistischen Bildern um (soziale) Konstruktionen handelt. Um Fotojournalismus bzw. fotojournalistische Bildkommunikation theoretisch umreißen zu können, ist vor allem ein theoretischer Blick auf den sozialen Produktionskontext hilfreich. Als professionelles Arbeitsgebiet, das sich sowohl an fotografischen als auch journalistischen Normen und Funktionen orientiert, weist der Fotojournalismus spezifische Produktionsstrukturen, Organisationen und Arbeitsweisen auf, die die Bilder, ihre Gestaltung und Ikonografie bestimmen (Grittmann 2007; Gürsel 2016; Kerbs und Uka 2004; Koltermann 2017; Runge 2016; Vobič und Tomanić Trivundža 2015). Eine system- und kulturtheoretische Konzeption des Fotojournalismus hat Grittmann (2007) vorgeschlagen, um einerseits Fotojournalismus von anderen Gebrauchsweisen der Fotografie abzugrenzen und andererseits die Strukturen des Fotojournalismus und die kulturelle Bedeutung visueller Repräsentationen zu begreifen und analysieren zu können. Fotojournalismus bildet demzufolge ein Subsystem des Funktionssystems Journalismus, das der Funktion und dem Code des Journalismus mehr oder weniger folgt: Journalismus dient der Selbstbeobachtung und Selbstverständigung von Gesellschaft. Er arbeitet dabei nach einer spezifischen Logik (Code), der „Aktualität“, mit dem Anspruch auf Neuigkeit, Wirklichkeitsbezug und soziale Relevanz (Scholl und Weischenberg 1998). Werden mehr Kriterien erfüllt, handelt es sich um den „Kernbereich“, um nachrichtliche Fotografie (Grittmann et al. 2008, S. 14), in der „Peripherie“ werden hingegen freiere, stärker dokumentarisch arbeitende Bereiche verortet. Fotojournalismus unterscheidet sich allerdings „grundlegend von anderen Subsystemen des Journalismus“ (Grittmann 2007, S. 261), da die Abgrenzung nicht themenspezifisch (in beispielsweise Sport, Politik, Wirtschaft), sondern zeichentheoretisch und aufgrund der Medialität erfolgt und somit als Bereich der Fotografie eine gewisse Eigensinnigkeit aufweist. Gleichzeitig ermöglicht der Ansatz die Erfassung der spezifischen Strukturen dieses weiten Systems: • Fotojournalismus ist in den Organisationen des Journalismus, den Redaktionen der Medien und Bildredaktionen institutionalisiert. Darüber hinaus sind aller-

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E. Grittmann

dings v. a. die FotografInnen-Agenturen und -Kollektive, Bildagenturen und Bilderdienste der Nachrichtenagenturen (Grittmann et al. 2008) von Bedeutung, da sie für die Bildproduktion und -distribution maßgeblich sind. • Typische Arbeitsrollen in und für die Organisationen sind beispielsweise frei arbeitende oder fest angestellte FotoreporterInnen und FotografInnen sowie BildredakteurInnen in den Agenturen oder Redaktionen. • Auch die Programme, also die routinisierten und regelhaften Arbeitsweisen des Fotojournalismus, weisen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Spezifika auf: In der Recherche verlangt die Aufnahme die Anwesenheit vor Ort; spezifische fotografische Darstellungsformen wie das ereignisbezogene Nachrichtenbild oder das Porträt teilen mit den Textformen spezifische Anforderungen; die Motivwahl der FotografInnen und (Bild-)RedakteurInnen orientiert sich an der medialen Aufmerksamkeitslogik. Welche Motive jedoch aufgenommen werden, welche Bedeutung ihnen im Prozess von der Produktion bis zur Publikation zugeschrieben wird, lässt sich systemtheoretisch weder konzeptualisieren noch verstehen. Grittmann hat deshalb auf Grundlage des ikonografisch-ikonologischen Ansatzes vorgeschlagen, Bildmotive und Normen aus kulturtheoretischer Perspektive zu begreifen. Bildmotive und die Art und Weise ihrer Gestaltung sind sowohl durch (journalistische) Leitideen als auch spezifische Weltanschauungen bestimmt (Grittmann 2007; Ammann 2015). Akteure und ihre Organisationen erfahren im ebenfalls systemtheoretisch orientierten Modell, das Isermann (2015) in Anschluss an Knieper (weiter-)entwickelt hat, stärkere Beachtung. Isermann integriert dazu Giddens’ Theorie der Strukturierung, wonach Struktur und Handlung sich gegenseitig bedingen können (Isermann 2015, S. 17–21), um die Strukturperspektive aufzubrechen und dem Einfluss des Handelns der Akteure stärker Rechnung zu tragen. (Foto-)„journalistische Bildkommunikation“ begreift Isermann als Prozess (Isermann 2015, S. 127). Sein Modell betont insbesondere die Bilddistribution im Modell journalistischer Bildkommunikation. Er unterscheidet entsprechend Bildproduktion, Bilddistribution und Bildpublikation mit den jeweils handelnden Akteuren (Isermann 2015, S. 127). Damit erhalten nicht nur die journalistisch arbeitenden FotografInnen als Produzierende und (Bild-)Redaktionen als verarbeitende Akteuren Beachtung, sondern auch die Bildagenturen und Archive, die entscheidenden Anteil an der Produktion und Distribution haben. Während die systemtheoretische Perspektive die Analyse der grundlegenden Strukturen, Normen und Leitideen bzw. Weltanschauungen des Fotojournalismus ermöglicht, bleiben die Differenzen innerhalb des Fotojournalismus jedoch weitgehend unbeachtet. Eine theoretische Konzeption, die die unterschiedlichen fotografischen Positionen und die damit verbundenen differierenden Arbeitsweisen und Normen innerhalb des Fotojournalismus – auch in Konkurrenz mit anderen fotografischen Praktiken – stärker in den Blick nimmt, hat Solaroli (2015) vorgelegt. Diese erfolgt in Rekurs auf Bourdieus Theorie des kulturellen Feldes und kulturellen Kapitals sowie auf Konzeptionen von Journalismus als Feld (Hanitzsch 2007). Fotojournalismus wird hier ebenfalls als autonomes und durch spezifische Struktu-

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ren geprägtes Feld begriffen, in dem sich jedoch unterschiedliche Positionen im Zentrum und der Peripherie verorten lassen, die in wechselseitiger Beziehung stehen. Diese Verortung hängt von verschiedenen Formen des Kapitals ab, über das die Akteure verfügen (kulturell, symbolisch, sozial und ökonomisch) (Solaroli 2015, S. 517). Fotojournalismus ist somit aber nicht nur im Journalismus, sondern auch innerhalb des weiteren Feldes der Fotografie zu betrachten, neben eher freier konzeptioneller und künstlerischer Fotografie und Amateurfotografie (Solaroli 2015, S. 517). Während sich beispielsweise die stärker tagesaktuelle, auf das Einzelbild ausgerichtete und stark termin- und ereignisorientierte Nachrichtenfotografie dem Journalismus zuschreiben lässt, nimmt die dokumentarische Fotografie eine autonomere Position ein. Sie nutzt stärker subjektive, auf längerfristige Entwicklungen oder Themen ausgerichtete Reportagen und Essays. Wie Solaroli (2015) anhand der Auseinandersetzung zwischen professioneller und Amateurfotografie zeigt, sind damit symbolische Positionskämpfe innerhalb des Feldes um Macht sowie um legitime Praktiken verbunden. Grittmann und Birkner (2016) haben den Fotojournalismus in der Weimarer Republik ebenfalls als Feld konzipiert, in dem beispielsweise der Bezug zur Tradition und Avantgarde wichtige Positionen darstellen. Gerade fotografische Stile bilden für die Positionierung eine zentrale Rolle (siehe hierzu auch Aiello 2012). Eine weitere, differenzierende theoretische Perspektive auf das Feld des Fotojournalismus – und auch in Beziehung zum Journalismus – hat Koltermann (2017) in seiner Untersuchung der Bildproduktion im israel-palästinensischen Konflikt mit Bezug auf die (journalistische) Handlungs- und Akteurstheorie entwickelt. Er unterscheidet im Anschluss an Mendelsons „sociohistorical model of photographic meaning“ Akteure und Praktiken im Produktions- und Distributionsprozess von jenen in den Redaktionen, jenem Kontext, „in dem eine Fotografie gelesen und ihr eine Bedeutung zugeschrieben wird“ (Koltermann 2017, S. 50). Die Bedeutungszuschreibung in beiden Kontexten versteht er auch im Anschluss an Halls Modell als Encoding-Decoding-Prozess (Koltermann 2017, S. 50). Den Prozess fotojournalistischer Bildkommunikation unterscheidet er in die Phasen der Herstellung der Bilder, die vorrangig durch FotoreporterInnen erfolgt, die Distribution, d. h. deren Verbreitung beispielsweise durch Agenturen, und schließlich in die Publikation, die Verarbeitung und Publikation in den Redaktionen der Medien. Er unterstreicht, dass an diesem arbeitsteiligen Prozess unterschiedliche Organisationen und Akteure beteiligt sind, die mit unterschiedlichen fotojournalistischen Genres arbeiten. Während die Nachrichtenfotografie vorrangig (tages-)aktuell und ereignisorientiert arbeitet, entwickelt die stärker themenorientierte dokumentarische Fotografie umfangreichere Geschichten. Zentrale Darstellungsformen sind dabei die Fotoreportage oder das Fotoessay (Koltermann 2018, S. 14). Der gesamte fotojournalistische Prozess ist auf allen Ebenen von Machtstrukturen geprägt, die sich in den unterschiedlichen Rollen und Handlungsmöglichkeiten manifestieren. An den Ansatz von Deuze (2005), Journalismus als Ideologie zu begreifen, knüpft Mäenpää (2014) Konzeption des Fotojournalismus an. Auch sie konzeptionalisiert Fotojournalismus damit als spezifisches Feld des Journalismus. Die Ideologie des Journalismus basiert nach Deuze u. a. auf zentralen Werten wie der

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öffentlichen Aufgabe, Ethik und Objektivität. Nach Mäenpää ist im Fotojournalismus insbesondere die Norm der Objektivität zentral. Da professionellen Fotos gerade in den Nachrichten Evidenz zugeschrieben wird, sind sie daher ein ideales Medium, um den Objektivitätsanspruch des Journalismus zu unterstützen (Mäenpää 2014, S. 92). Mäenpää zeigt in der Analyse auf, inwiefern sich Fotojournalismus von der zunehmend durch journalistische Redaktionen genutzten Amateurfotografie abgrenzt. FotojournalistInnen befassen sich intensiv mit der wachsenden Konkurrenz. Umso wichtiger ist es für die Theoriebildung, die Machtstrukturen im Feld zu berücksichtigen und klar zwischen den verschiedenen Akteuren und ihren jeweilig spezifischen Praktiken im Prozess foto-/journalistischer Bildkommunikation zu differenzieren.

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Forschungsüberblick über Fotojournalismus und journalistische Bildkommunikation in der digitalen Ära

Die Entwicklung der Visuellen Kommunikationsforschung als eigenständiges Forschungsfeld seit Ende der 1980er/Anfang der 1990er-Jahre fällt nicht zufällig in dieselbe Phase wie die beginnende Digitalisierung. Der zunehmende Forschungsbedarf, der dieser Entwicklung zugrunde liegt, wird mit einer beobachteten verstärkten Bildverwendung, also einer zunehmenden Visualisierung (Lobinger 2012) zunächst in den klassischen Feldern öffentlicher Kommunikation, wie Journalismus, Werbung, Public Relations und politischer Kommunikation (Lobinger 2012, S. 101–170), begründet. Seit gut einem Jahrzehnt gelten so gut wie alle Lebensbereiche westlicher Gesellschaften als stark visualisiert (siehe auch die Beiträge von Autenrieth und von Reißmann in diesem Band). Ermöglicht wurde dieser „Visualisierungstrend“ nicht zuletzt durch neue digitale Medientechnologien, die sowohl die Produktion (z. B. durch digitale Kameras), die redaktionelle Verarbeitung (durch die Einführung des Computers und entsprechende Grafik- und Layoutprogramme) als auch die Publikation (digitaler Druck) verändert haben. Inzwischen ist der journalistische Work-Flow von der Bildaufnahme bis zur Publikation im digitalen E-Paper oder der Nachrichtenwebsite bis hin zur Archivierung vollständig digitalisiert (Klein-Avraham und Reich 2016). Dieser Visualisierungsschub führt zunächst zu einer intensivierten Beforschung dieser Felder öffentlicher Bildkommunikation. Studien zur visuellen Berichterstattung in Printmedien bilden dabei international einen Schwerpunkt (Lobinger 2012, S. 211). Diese medienbildzentrierten Ansätze richten ihr Interesse auf die kulturelle und soziale Wirklichkeitskonstruktion durch den (Foto-)Journalismus, auf die Motive und ihre Bedeutung, ihre Art und Weise der Gestaltung und Präsentation im Kontext des Mediums. Der Fokus liegt somit auf visuellen Repräsentationen, die aus vielfältigen theoretischen Perspektiven analysiert werden, wie beispielsweise der Visual Framing-Forschung, der Ikonografie und Ikonologie, den Visual Cultural Studies, der Visuellen Semiotik und Stilanalyse oder auch der Stereotypenforschung und Nachrichtenwerttheorie (siehe dazu den Methodenbeitrag von Grittmann in diesem Band). Sie teilen die Beobachtung, dass journalistische Bildkommunikation stark konventionalisiert ist und immer wieder auf vergleichbare Bildmotive rekurriert. Im

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Gegensatz zu Bildikonen, die besondere Bedeutung in der Gesellschaft erlangt haben, werden diese als „generic icons“ (Perlmutter 1998), „Bildtypen“ (Grittmann 2007) oder Bildtropen („tropes“, Zarzycka und Kleppe 2013) beschrieben. Diese Typen können auch zu Stereotypen werden (Hall 2004), welche repräsentierte Personen(gruppen) diskriminieren oder ausgrenzen können (siehe zu Geschlechterstereotypen den Beitrag von Maier und Thiele in diesem Band, zu visuellen Stereotypen allgemein siehe den Beitrag von Schwender und Petersen in diesem Band). Dagegen ist die Forschungsliteratur zu Arbeits- und Produktionsbedingungen von FotografInnen und FotojournalistInnen, wie Runge (2016, S. 275) feststellt, nach wie vor „spärlich“. Aktuelle internationale Arbeiten setzen sich insbesondere mit den Veränderungen des Fotojournalismus und journalistischer Bildkommunikation unter Bedingungen der Digitalisierung auseinander. Digitalisierung ist dabei nicht als eine Ursache für den Wandel zu verstehen, sie hat jedoch zu neuen Praktiken und Transformationsprozessen öffentlicher visueller Kommunikation geführt, die auch den Fotojournalismus treffen und herausfordern. Nach Gürsel (2016, S. 22) vollzieht der Fotojournalismus als Profession unter den Bedingungen der Digitalisierung sogar einen umfassenden sozialen und kulturellen Wandel.

4.1

Berufssoziologische Studien zum Fotojournalismus

Zwei frühe berufssoziologische und berufsfeldbezogene Studien entstehen seit Ende der 1970er-Jahren. Sie eröffnen eine neue Perspektive auf die Arbeiten von FotojournalistInnen und dokumentarisch arbeitender FotografInnen, die schon seit den 1950er-Jahren als spezifisches „Genre“ der Fotografie kulturwissenschaftlicher Beachtung gefunden hatten. Dem sozialen Zusammenhang der Art und Weise, wie Bilder produziert und publiziert werden, und dem Produktionskontext, dabei speziell den Arbeitsrollen, die FotojournalistInnen einnehmen, hat sich Rosenblum (1978) in einer der ersten Studien zum Berufsfeld gewidmet (siehe auch Slattery und Fosdick 1979; Newton 1998). In Deutschland erstellten Martin und Werner (1981) die erste „Bildjournalistenenquete“, eine repräsentative Studie über die berufliche Tätigkeit, Ausbildungs- und Arbeitssituation von Bildschaffenden für und in Medien, die eine schlechte Ausbildungssituation und unsicheren Einkommensverhältnisse freier FotojournalistInnen aufzeigte. Neuen Auftrieb erhielt die Berufsfeldforschung im letzten Jahrzehnt vor dem Hintergrund der zunehmenden prekären Situation von FotojournalistInnen im Kontext der Medienkrise und zunehmend sichtbaren Folgen der Digitalisierung (Bardan 2015; Caple und Knox 2017). Insbesondere Berufsverbände und internationale Organisationen haben Befragungen in Auftrag gegeben. Die Sozialumfragen der Fotografenvereinigung Freelens (Thiemann 2009), der International Federation of Journalists (McCairley 2009), der französischen Société civile des auteurs multimedia (Scam 2015) und dem Reuters Institute for the Study of Journalism und World Press Photo (Hadland et al. 2016) weisen ähnliche Befunde auf: Sorgen bereiten die prekären Bedingungen freiberuflicher Tätigkeit, sinkende Honorare und der Verlust festangestellter Arbeitsverhältnisse.

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Die Befunde verweisen auf eine Spezifik des Fotojournalismus, die ihn gleichermaßen so „verletzlich“ (Klein-Avraham und Reich 2016) macht: die besondere Positionierung durch die Arbeitsrollen. Während FotografInnen oder FotoreporterInnen für die Bildaufnahme vor Ort zuständig sind, befassen sich BildredakteurInnen in den Agenturen und Medienorganisationen mit editorischen Aufgaben unter anderem mit der Beschaffung, Auswahl und Bearbeitung für die jeweilige Publikation. Die FotografInnen oder FotoreporterInnen arbeiten überwiegend frei und damit als „Zulieferer“, ihr Status im Gesamtprozess der Produktion, Distribution und Publikation, insbesondere innerhalb der Redaktionen ist dementsprechend schwach (Klein-Avraham und Reich 2016; Koltermann 2017, S. 116–121). Seit Jahren werden zudem Entlassungen von festangestellten FotografInnen beobachtet (Anderson 2014; Bardan 2015; Klein-Avraham und Reich 2016).

4.2

Fotojournalismus im organisationellen Kontext

Neuere Studien zu internationalem Fotojournalismus, die sich auch mit den Arbeitsrollen befassen, legen einen stärkeren Schwerpunkt auf die organisationelle Gebundenheit und jene Machtstrukturen im Produktions- und Distributionskontext, die besonders in der fotografischen Auslandsberichterstattung im Vergleich zwischen international arbeitenden FotojournalistInnen und lokalen Akteuren, „wie Stringern“, „Fixern“ sowie dokumentarisch arbeitenden FotojournalistInnen deutlich werden (Koltermann 2017; Gürsel 2016). Diese Forschung steht auch für ein neues Interesse der Visuellen Kommunikationsforschung an fotojournalistischen „Infrastrukturen“ (Runge 2016, S. 274). Zwar stellt der Organisationskontext des Journalismus ein zentrales Forschungsgebiet in der Journalismusforschung dar, bei dem die Redaktionen als Organisationseinheiten in den Medienorganisationen im Mittelpunkt stehen (zum Überblick siehe Altmeppen 2008). Der Fotojournalismus hat in diesem Forschungsfeld allerdings kaum Beachtung gefunden. In der Visuellen Kommunikationsforschung wird die Bedeutung des „Bildermarktes“ und seiner spezifischen Organisationen der Distribution jedoch im Prozess der fotojournalistischen bzw. journalistischen Bildkommunikation, mit den meist unsichtbaren „Image Brokers“ (Gürsel 2016), nicht nur in theoretischen Ansätzen und Modellen (Isermann 2015; Gürsel 2016; Grittmann et al. 2008; Koltermann 2017) betont. Fechter und Wilke haben bereits 1998 die Bedeutung der Bilderdienste von AP, DPA und Reuters für die aktuelle Bildberichterstattung analysiert und auf Grundlage einer Systematik der Anbieterstrukturen aufgezeigt, dass der Bildermarkt Expansions-, Globalisierungs- und Konzentrationsprozesse aufweist (Fechter und Wilke 1998, S. 75–76). Diese Entwicklung hat sich in der Folge fortgesetzt. Das Bildvolumen der Bilderdienste ist – innerhalb weniger Jahre – bis 2005 um das Sechsfache gestiegen (Wilke 2008b, S. 82–83). Die Infrastrukturen der „Image Brokers“ haben sich, wie Gürsel (2016) am Beispiel von AFP erforscht hat, fundamental gewandelt. Mit Getty Images ist seit den 1990er-Jahren ein Global Player im Bildermarkt entstanden, der vor allem durch Aufkäufe von Sammlungen und Agenturen expandierte (Wilke 2008a; Runge 2016). Die Produktion journalistischer Bilder hat sich unter der Dynamik der

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Digitalisierung zu einer globalen Bildindustrie entwickelt (Frosh 2003). Die Geschäftsmodelle der „visual content provider“ von stock photography, also von vorgefertigten und über Bilddatenbanken abrufbaren Bildern, haben nicht nur die Infrastrukturen des Fotojournalismus verändert (Gürsel 2016). Mit ihren auf globale Vermarktung ausgerichteten Bildmerkmalen, z. B. Ort- und Zeitlosigkeit, visuellen Clichées und Stereotypen (Ullrich 2008), verändern sie auch den Anspruch des Fotojournalismus: „In the age of global digital image banks, tropes have become especially expedient semiotic resources; the more multi-purpose and generic they are, the more commercial and widespread they become, capturing the contemporary shift of photography from witnessing to becoming a symbolic system, a system actively and intentionally sustained by powerful agents.“ (Zarzycka und Kleppe 2013, S. 991)

4.3

Berufliches Selbstverständnis und Authentizitätsanspruch des Fotojournalismus gegenüber der Amateurfotografie

Mit den Akteuren und Organisationen sind auch Fragen nach dem beruflichen Selbstverständnis, den Normen und der Ethik des Fotojournalismus in den Vordergrund gerückt. Lauber (2008) stellte in einer Analyse der Rollenbilder fest, dass FotojournalistInnen ähnliche Vorstellungen wie die TextkollegInnen teilen, allerdings scheinen die Rollenselbstbilder auch vom Arbeitsgebiet abzuhängen (Koltermann 2017). Gerade in der news photography ist der Anspruch der Objektivität sehr hoch (Mäenpää 2014). Die Anforderung an Wahrhaftigkeit und Augenzeugenschaft bündeln sich in der Norm der „Authentizität“. Authentizität ist keine dem Medium Fotografie inhärente Eigenschaft, sondern ein professioneller Standard, eine Norm (Schwartz 1992; Grittmann 2003, siehe auch den Beitrag zu Authentizität von Krämer und Lobinger in diesem Band). Angesichts der neuen Möglichkeiten digitaler Bildmanipulation im Zuge der Digitalisierung, hat auch die Forschung zur Objektivitäts- bzw. Authentizitätsansprüchen und -praktiken Auftrieb erfahren (Grittmann 2003; Büllesbach 2008; Mäenpää 2014; Campbell 2014). In der Bildethik wird Authentizität gefordert (Leifert 2007). Die spezifischen Authentizitätspraktiken finden ihren Ausdruck in spezifischen „Markern“ im Bild (siehe den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Zunehmend an Bedeutung hat die Frage gewonnen, wie Amateurfotografie im Journalismus eingesetzt wird und welche Konsequenzen dieser Wandel für den professionellen Fotojournalismus hat. Dieser Prozess zeichnete sich bereits nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 ab (Mortensen 2011a, b; AndénPapadopoulos und Pantti 2011). Nach Allan (2015, S. 478) stellt die Amateurfotografie inzwischen keine Ausnahme von der Regel mehr dar, sondern wird routinemäßig in der Berichterstattung über Katastrophen und Unglücksfälle herangezogen. Amateurbilder werden dabei nicht nur als Ersatz für fehlende professionelle Aufnahmen verwendet. Den visuellen Dokumenten von Augenzeugen wird auch eine spezifische Authentizität, eine glaubwürdigere Augenzeugenschaft, Transparenz und Unmittelbarkeit zugeschrieben (Allan 2015), die sich in einer Ästhetik des Verrutschten und Verwackelten und in unkonventionellen Frames ausdrückt (Pantti

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2013). Auch die Qualitätskriterien der NutzerInnen scheinen sich zu wandeln. Studien von Puustinen und Seppanen (2011, S. 189–190) oder von Williams, Wahl-Jorgensen und Wartle (2011, S. 208) ergaben, dass die NutzerInnen Amateurfotografie als glaubwürdig einschätzen und die scheinbare Unmittelbarkeit schätzen. JournalistInnen haben spezifische diskursive Strategien und Textkonventionen entwickelt, um die Amateurbilder in die bestehenden Normen und Routinen einzugliedern (Pantti 2013, S. 202), indem ihnen beispielsweise eine große Authentizität zugeschrieben wird (Pantti und Bakker 2009) und sie genauso behandelt werden wie fotojournalistische Bilder. Die Befunde hinsichtlich dieser „Normalisierung“ von Amateurbildern in der journalistischen Berichterstattung (Pantti 2013, S. 202) sind jedoch widersprüchlich (Brennen und Brennen 2015; Pantti und Bakker 2009; Nilsson und Wadbring 2015). Nach Klein-Avraham und Reich (2016, S. 440) führt die Konkurrenz durch Amateurfotografien zu einer weiteren Deprofessionalisierung, zu einem „Deskilling“. Redaktionen setzen gerade in Online-Kontexten verstärkt symbolische Bilder ein, um die „Tyranny of the empty frame“ (Vobič und Tomanić Trivundža 2015), den Visualisierungszwang unter Zeitdruck, zu bewältigen. Gürsel (2016, S. 289) hält insbesondere den investigativen Fotojournalismus für gefährdet.

4.4

Neue Entwicklungen journalistischer Bildkommunikation

Die neuen smarten digitalen und mobilen Medientechnologien stellen auch die Ansprüche an Authentizität und Glaubwürdigkeit des professionellen Fotojournalismus vor neue Herausforderungen. Foto-Apps wie Hipstamatic sind nicht nur in der Amateurfotografie weit verbreitet, sondern werden inzwischen auch im professionellen Fotojournalismus eingesetzt. Dieser Einsatz wird kontrovers diskutiert (Alper 2014), denn es geht nicht allein um einen Wechsel von professionellen digitalen zu sehr einfach handhabbaren mobilen Smartphone-Kameras. Dieser Wechsel führt auch zu einer Ästhetisierung des professionellen Fotojournalismus, der versucht, die Ästhetik der Amateurfotografie zu inkorporieren (Alper 2014). Wenngleich Ästhetisierung im Fotojournalismus kein neues Phänomen ist (Runge 2012; Tello 2014), lässt sich die Entwicklung eines persönlichen ästhetischen Stils als Reaktion auf die veränderten Bedingungen in der digitalen Ära in Verschränkung mit einer zunehmenden Neoliberalisierung des Bildermarktes beobachten, wie Aiello (2012) am Beispiel eines Projektes der Fotoagentur Magnum gezeigt hat. Weitere ForscherInnen wenden sich den veränderten Berufsanforderungen des Fotojournalismus zu (Greenwood und Reinardy 2011). Von professionellen FotojournalistInnen werden auch zunehmend Fähigkeiten im Visual Storytelling (Campbell 2013, S. 11; Bardan 2015), der Verbindung verschiedener (visueller) Medien zu eigenständigen Erzählungen – insbesondere von bewegten und unbewegten Bildern – gefordert (Bock 2008; Campbell 2013; McCairley 2009; Mäenpää 2014; Klein-Avraham und Reich 2016). Insgesamt beobachtet die aktuelle Visuelle Kommunikationsforschung international mit verstärktem Interesse die Entwicklung des fotojournalistischen Berufsfeldes. Während sich die fotografische Bildberichterstattung einer scheinbar ver-

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stärkten Aufmerksamkeit und Relevanz erfreut, scheint die Wertschätzung der professionelle Bildberichterstattung im Journalismus zu sinken. Diese prekäre Situation des Fotojournalismus innerhalb des Journalismus ist nicht neu (Avraham und Reich, S. 431), die Zukunft eines professionellen Fotojournalismus erscheint aber doch in einer verschärften Form ungewiss (Guerrero García und Palomo 2015). Gleichzeit gewinnt eine andere, ebenfalls evidenzbasierte Gattung journalistischer Bildkommunikation in der Berichterstattung an Bedeutung: Datenvisualisierungen. Datenvisualisierungen sind visuelle Repräsentationen von meist quantitativen digitalen Daten, die insbesondere in dem neuen Genre des Datenjournalismus oder „data driven journalism“ eingesetzt werden (siehe dazu den Beitrag von Weber in diesem Band). Loosen et al. (2016, S. 7) sehen im Datenjournalismus eine journalistische Antwort auf die mit der „Datafizierung“ der Gesellschaft einhergehende Entstehung von „Big Data“. Im „datengetriebenen Journalismus“ werden digitale (Roh-)Daten exploriert, als Quelle für Recherchen verwendet, als Basis für quantitative Analysen genutzt, ausgewertet und für Geschichten aufbereitet (Loosen et al. 2016, S. 7, siehe dort auch den Überblick zum Forschungsstand). Die (Roh-) Daten werden dazu nach eigenen Kriterien analysiert und visualisiert. Datenvisualisierungen stellen dabei ein zentrales Feature des Datenjournalismus dar, da ohne die Visualisierung die Ergebnisse der Analyse nicht anschaulich präsentiert werden könnten. Sie bilden ein spezifisches Genre von Visualisierungen und werden auch in multimodale und hybride Infografiken eingebunden (siehe dazu den Beitrag von Weber in diesem Band). Große Redaktionen haben dieser Datafizierung auch organisational Rechnung getragen und eigene Ressorts oder projektbezogene Teams eingerichtet, in denen u. a. ExpertInnen aus Grafik, Programmierung, (investigativer Recherche) zusammenarbeiten (Loosen et al. 2016, S. 8).

5

Fazit

Die Visuelle Kommunikationsforschung befasst sich von Beginn an mit Medienbildern im Journalismus und insbesondere der fotografischen Berichterstattung. Fotografie bildet mehr denn je das zentrale visuelle Medium in der visuellen journalistischen Berichterstattung und stellt daher auch nach wie vor einen der Hauptforschungsschwerpunkte der Visuellen Kommunikationsforschung dar. Der Fokus der Forschung liegt dabei auf den Publikationsentscheidungen der Redaktionen, den „massenmedialen“ journalistischen Bildern, ihren Motiven und Repräsentationen, Gestaltungsweisen und medialen Kontexten. Hingegen hat der Produktionskontext der Bilder, die eigentliche Bildproduktion und Distribution lange wenig Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren. Die Bilderdienste der internationalen Nachrichtenagenturen, die Foto- und Bildagenturen und FotografInnen-Vereinigungen sind erst in den letzten Jahren stärker in den Vordergrund gerückt. Zudem setzte sich mangelnde Wertschätzung des Fotojournalismus im Journalismus auch lange in der Journalismusforschung fort. Die Visuelle Kommunikationsforschung hat in den vergangenen Jahren theoretisch und empirisch dazu beigetragen, diesen Produktionskontext stärker zu beleuchten.

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Der Beitrag hat zunächst komplexere Theorien im Überblick und der notwendigen Kürze vorgestellt. Die vorgestellten Ansätze eröffnen ein differenziertes Verständnis des komplexen Prozesses fotojournalistischer bzw. journalistischer Bildkommunikation, des Berufsfeldes, seiner Akteure und Organisationen sowie seiner Normen und Werte. Wie die Zusammenschau empirischer Studien gezeigt hat, arbeitet Fotojournalismus in eigenen Organisationen und Organisationsformen. Das Feld der fotografischen Bildproduktion für journalistische Medien befindet sich unter den Bedingungen der Digitalisierung in einem Umbruch, deren Folgen sich für die Berufs- und Publikationspraxis bereits abzeichnen, während der Prozess aber keinesfalls als abgeschlossen gelten kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass Journalismus und Fotojournalismus in einem Spannungsverhältnis stehen. Die Verwendung von Amateurfotografie im redaktionellen Kontext und die diskursive Rahmung, um dies zu legitimieren, unterliegen keinem technologischen Imperativ, sondern liegen in der Entscheidung der Redaktionen. Die Visuelle Kommunikationsforschung ist herausgefordert, diese Prozesse zu erforschen. Auf Ebene der Theoriebildung zeichnen sich aktuell eine stärkere Berücksichtigung der ökonomischen Bedingungen einerseits, sowie andererseits der Veränderung der Infrastrukturen des Fotojournalismus ab. Ebenso wichtig erscheint es, fotojournalistische und journalistische Praktiken im Prozess von der Bildproduktion bis zur -publikation in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig erfahren hybride und multimodale Bildgattungen, die diverse Bildgattungen, Bewegtbildelemente und Animationen mit Textelementen kombinieren, an Bedeutung. Die Produktionsprozesse und Verwendungen hybrider Bildgattungen wie interaktive Datenvisualisierungen oder animierte Infografiken werden bereits international erforscht (siehe dazu den Beitrag von Weber in diesem Band). Diese neuen Visualisierungsformen müssen im Rahmen der Visuelle Kommunikationsforschung noch genauer untersucht werden, ebenso wie beispielsweise die Bildpraktiken der Redaktionen auf unterschiedlichen Plattformen und Ausspielkanälen.

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Terror der Bilder – Visuelle Kommunikation in Krieg und Terrorismus Marion G. Müller und Thomas Knieper

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Definitionen: Krieg – Terrorismus – Visuelle Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Medienwandel und Bildfunktionen in Krieg und Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Krieg und visuelle Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Terrorismus und visuelle Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Am 8. September 1972 wird mit dem Blutbad in München ein neues Kapitel der politischen Ikonografie eröffnet. Palästinensische Terroristen planen bei ihrem Anschlag auf israelische Sportler bei den XX. Olympischen Sommerspielen die mediale und insbesondere die Bildberichterstattung mit ein. Spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist die vormalige Trennungslinie zwischen Krieg und Terrorismus nicht mehr existent. Die Kommunikationswissenschaft hat sich bislang vorrangig mit Kriegsberichterstattung beschäftigt und entdeckt erst langsam die allgemeine Frage nach der visuellen Dimension in der Propagierung, Vermittlung und Kritik gewaltsamer Akte. Der Beitrag liefert einen Überblick über den Forschungsstand im Bereich konflikthafter und gewalttätiger Bildkommunikation. Dabei werden unterschiedliche Kanäle der Bilddistribution

M. G. Müller (*) Medienwissenschaft, Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Knieper Lehrstuhl für Computervermittelte Kommunikation, Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_9

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146

M. G. Müller und T. Knieper

mit ihren Akteuren herausgearbeitet. Ein Fazit mit einem Ausblick auf die wichtigsten Fragestellungen zukünftiger Forschung beschließt den Beitrag. Schlüsselwörter

Krieg · Terrorismus · Pressefotografie · Digital Jihad · Social Media

1

Einleitung1

Der islamistische Terror schleicht sich langsam in Deutschland ein. Im April 2002 nimmt die Polizei Mitglieder der zum Al-Kaida-Netzwerk gehörigen Terrorgruppe Al-Tawhid fest. So konnte ein Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin verhindert werden. Im September 2007 werden Mitglieder der islamistischen Sauerland-Gruppe, im April 2011 drei Al-Kaida-Anhänger und 2014 vier Personen aus der Bonner Islamisten-Szene verhaftet. Auch andere Anschlagspläne können im Vorfeld vereitelt werden. Im Juli 2016 attackiert ein islamistisch motivierter Einzeltäter Fahrgäste einer Regionalbahn bei Würzburg mit Axt und Messer. Im gleichen Monat sprengt sich im bayerischen Ansbach ein 27-Jähriger auf einem Musikfestival in die Luft. Mit dem terroristischen Angriff auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz im Dezember 2016 hat der islamistische Terror endgültig die deutsche Hauptstadt erreicht (dpa 2017). Dieser islamistische Terroranschlag steht in einer langjährigen Serie von Anschlägen, die seit den Terroranschlägen von 9/11 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington D.C. am 11. September 2001 weltweit zu beobachten waren. Die Terrorgefahr ist global zum ständigen Begleiter geworden. Dabei sind die Grenzen zwischen Terrorismus und Krieg längst verschwommen. Bezüglich Opferzahlen als auch psychischer Traumatisierungen liefern sich Kriege und Terroranschläge inzwischen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Charakteristisch für beide gewalttätigen Phänomene ist, dass sie mit einer Kommunikation der Angst einhergehen. Dabei wird verstärkt auf Bilder als Ausdrucksform, Drohmittel und sogar als Waffen (Sommer 2003; O’Loughlin 2011; Klonk 2017) gesetzt. Die visuelle Kommunikation und insbesondere die Kontrolle der Bildmotive, deren Distribution und deren Rezeption wird zu einem strategischen Kriegs- und Terrormittel. Das Ziel ist die nachhaltige Verängstigung der angegriffenen Gesellschaften. Deren Bevölkerung soll nach dem Präventionsstaat rufen und ihre Freiheiten aufgeben (siehe Abb. 1 zum Modell der visuellen Terrorkommunikation).

1

Wie bei dem Titel dieses Beitrages zu erwarten, enthält der Artikel teilweise drastische Bilder von Folteropfern, Leichen oder verstümmelten Menschen. Die AutorInnen haben sich bemüht, mit diesen historischen Dokumenten menschlicher Grausamkeit pietätvoll umzugehen und stets die Würde des Menschen zu wahren. Die Verwendung derartiger Bilder erfolgt nie aus illustrativen Zwecken, sondern stets als Quelle der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Aus diesem Grund erscheint es den AutorInnen sehr wichtig, diese Bilder zu zeigen, auch wenn sie verstörendes Potenzial haben.

Terror der Bilder – Visuelle Kommunikation in Krieg und Terrorismus

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Abb. 1 Modell der visuellen Terrorkommunikation. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Grausamkeiten, die von Terrororganisationen wie dem sogenannten Islamischen Staat (im Folgenden als Daesch2 bezeichnet) begangen werden, haben häufig die audio-visuelle Vervielfältigung der Horrortat und die massenhafte Distribution der Horrorbilder zum Ziel. Visuelle Medien sind folglich nicht „unschuldig“ im Sinne von lediglich neutralen Überbringern von Botschaften. Vielmehr werden Bildmedien gezielt instrumentalisiert, denn Medien schaffen es oftmals nicht, sich den suggestiven Bildangeboten der Täter zu entziehen. „Die Medien fesseln ihre Konsumenten mit der Faszination des Schreckens und des Horrors“ (Knieper und Saleh 2015, S. 242–243). Bilder des Schreckens und Terrorästhetik sind heutzutage ein Garant für Quote und Auflage (Taylor 1998; Sontag 2003). Taylor (1998, S. 193) bringt es lakonisch auf den Punkt: „Horror has currency as an element of news. The idea and practice of news depend on fascination. (. . .) News is voyeuristic to its core.“ Ein weiterer Aspekt der kriegerisch-terroristischen Bilderflut ist, dass nur diejenigen terroristischen Attentate und kriegerischen Angriffe, die massenmediale Bildzeugnisse hinterlassen, auch im Gedächtnis haften bleiben (Müller und Knieper 2005). Ästhetisch ansprechende, aber auch grausam-hässliche Bilder werden

In diesem Beitrag wird nicht der Titel „sogenannter Islamischer Staat“ verwendet, sondern das aus dem phonetischen Arabischen abgeleitete Akronym „Daesch“, das auf den syrischen Aktivisten Khaled al-Haj Salih zurückgeht. Grund ist, dass die Köpfe hinter „Daesch“ weder einen friedvollen Islam noch einen Staat repräsentieren. Sie sind schlicht und ergreifend eine dschihadistisch motivierte Terrororganisation (Weser Kurier 28.04.2018).

2

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M. G. Müller und T. Knieper

gleichermaßen erinnert. Denn die zugrunde liegende mnemotechnische Funktion des Visuellen entzieht sich dem Normativen. Ein Bild wird auch dann erinnert, wenn der dargestellte Inhalt moralisch verwerflich ist. Attentate und Attacken hinterlassen insbesondere altbekannte Bildmotive, welche die kollektive Erinnerung an getötete oder verletzte Opfer und blutüberströmte verzweifelte Überlebende wachhalten. Die Attentäter des 11. September 2001 und der folgende islamistische Terrorismus von Al Kaida (z. B. Sommer 2003), der Taliban (z. B. Huseini 2012), Boko Haram (z. B. Alo und Ogungbe 2013; Knieper und Saleh 2015) und Daesch (z. B. Tan et al. 2018) setzen auf Bilder als Instrumente ihrer Terrorstrategie. Sie machen sich dabei die Verbreitungsstrukturen westlicher Massenmedien zu Nutze, um ihre Botschaft des visuellen Terrors weltweit und über Generationen hinweg zu verbreiten. Jedoch entstehen nicht von allen terroristischen Attentaten oder kriegerischen Auseinandersetzungen Bilder. Und nicht alle Bilder haben eine ikonische Qualität (Perlmutter 1998; Müller 2003; Knieper 2006; 2008; Hariman und Lucaites 2007, 2016) oder schaffen den Sprung zur Bildikone. Werden sie jedoch zu Bildikonen, dann brennen sie sich in das Gedächtnis der BetrachterInnen ein und sind kaum willentlich zu löschen (Müller 2012). Bildikonen oder Ikonen der Pressefotografie lassen sich an acht Wesensmerkmalen festmachen (Perlmutter 1998, S. 11–20; Knieper 2008, S. 59–62). Sie verdichten Ereignisse auf einen inhaltsstarken Schlüsselmoment und stellen damit eingefrorene Erinnerungen dar. Sie legen Bildzeugnisse ab, die sich exemplarisch zur Berichterstattung über ein Ereignis eignen. Sie spiegeln den Charakter, die Bedeutung und die Dramatik eines Ereignisses und setzen deren Betrachtende nicht nur inhaltlich, sondern auch emotional ins Bild. Bezüglich der Bildkomposition erfüllen Ikonen der Pressefotografie Sehkonventionen, die insbesondere durch die Renaissance geprägt sind. Mit ihnen wurde zudem tatsächlich über ein Ereignis berichtet. Bildikonen haben den Sprung in die Populärkultur vollzogen und sich dort etabliert. Sie können von einer kritischen Masse an Personen mühelos aus dem Bildgedächtnis abgerufen und rekonstruiert werden. Und last but not least eignen sich Bildikonen prinzipiell zur kollektiven Unterrichtung über ein Ereignis (Knieper 2008, S. 59–62). Die Grenzen zwischen Kriegsbildern und Terrorbildern verschwimmen. Dies liegt unter anderem auch daran, dass sich kriegerische und terroristische Gewalt manchmal kaum unterscheiden lassen. Der Politologe Herfried Münkler (2002, S. 197) geht so weit, Terrorismus als eine Form der Kriegführung zu definieren, „in welcher der Kampf mit Waffen als Antriebsrad für den eigentlichen Kampf mit Bildern fungiert“. Häufig treten beide Phänomene gleichzeitig auf. Aber nicht nur das Abgebildete ist komplexer, auch die Produktionsstrukturen sind diffuser geworden. Neben staatlichen Akteuren und traditionellen Massenmedien wie Fernsehen, Radio und Printmedien haben Digitalisierung und Globalisierung zu konvergenten und hybriden BildproduzentInnen, Bildmedien und Bildinhalten geführt, die eine neue Unübersichtlichkeit hinsichtlich der Authentizität und Verlässlichkeit der Bildinformationen erzeugt haben (Humphreys und Grayson 2008; Howard 2011; Ritzer et al. 2012; Cheong und Lundry 2012; Eriksson 2016; Lobinger 2016; Euben 2017; Rudner 2017).

Terror der Bilder – Visuelle Kommunikation in Krieg und Terrorismus

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Im Folgenden werden zunächst einige Definitionen geklärt, bevor in Abschn. 3 auf den Medienwandel und die Bildfunktionen in Krieg und Terrorismus eingegangen wird. Abschn. 4 wendet sich dann dem spezifischen Verhältnis von Bildern im Krieg zu, während Abschn. 5 sich dem Thema Bilder und Terrorismus widmet. Dabei werden neben den Bildtypen besonders die Produktionsbedingungen von Kriegs- und Terrorbildern sowie die Möglichkeiten der Untersuchung ihrer Rezeption erörtert. In einem Fazit, in Abschn. 6, wird ein Ausblick auf die zukünftige Visuelle Kommunikationsforschung im Bereich von Krieg, Konflikt und Terrorismus gewagt.

2

Definitionen: Krieg – Terrorismus – Visuelle Kommunikation

In Abgrenzung von anderen gewaltförmigen Auseinandersetzungen und Konflikten definiert die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg Krieg als gewaltsamen Massenkonflikt mit zwei oder mehr beteiligten bewaffneten Streitkräften, von denen mindestens eine staatlich ist. Beide sind zentral organisiert und gelenkt. Zudem gibt es eine Kontinuität der bewaffneten Operationen (Siegelberg 1991, S. 4). Terrorismus hat eine spezifischere Definition als Krieg. In Abgrenzung zu anderen Gewalttaten wie Mord, Totschlag, Brandstiftung etc. unterscheidet sich Terrorismus, laut Tuman (2010), dadurch, dass ein weiterer Kreis als die unmittelbaren Opfer betroffen ist (Tuman 2010, S. xiii). Tuman folgt damit der Definition von (Schmid 1983, S. 70) und geht von folgenden Charakteristika aus: • • • • • •

Angsteinflößende Gewalttaten (Teilweise) unbekannte EinzeltäterInnen, Gruppen oder staatliche Akteure Eigenwillige, kriminelle oder politische Ziele Die direkten Opfer sind nicht die Hauptziele der Gewalttat Opferziele werden mit symbolischer Absicht ausgewählt Die Kommunikation zwischen TerroristInnen, Opfern und Hauptzielen verläuft manipulativ, indem Kommunikations- und Tatmittel sowie die Opfer so ausgewählt werden, dass das eigentliche Ziel erreicht wird.

Im Vergleich der beiden Definitionen wird deutlich, dass für die Kriegsdefinition die Rolle des staatlichen Akteurs und die Anzahl der betroffenen Menschen entscheidend sind. Der Fokus liegt damit primär auf dem Konflikt. Terrorismus nimmt dagegen eine stärker täter- und opferzentrierte Position ein. Aus naheliegenden Gründen hat das Auswirkungen auf die Berichterstattungsmuster sowie auf die Art und Weise der Bildmedienproduktion. In der wissenschaftlichen Literatur spiegelt sich dies insofern wider, als ein Großteil der Studien auf visuelle Terrorpropaganda fokussiert ist, während sich die Forschung zu visueller Kommunikation im Krieg besonders auf journalistische Berichterstattungsmuster konzentriert.

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M. G. Müller und T. Knieper

Visuelle Kommunikationsforschung macht die Prozesse visueller Produktion, Kommunikation und Rezeption transparent und versucht sie zu erklären (Müller 2003; siehe auch den Beitrag zur visuellen Kontextanalyse von Knieper und Müller in diesem Band). Sie untersucht Phänomene, die sich in Form von Bildern materialisieren und hat so Pressefotografie und Film, Fernsehberichterstattung sowie Online-Bilder und Videos zum Gegenstand. Das bezieht multimodale Kommunikationsformen wie Text-Bild-Kombinationen oder audio-visuelle Produkte wie Video und Film eindeutig mit ein.

3

Medienwandel und Bildfunktionen in Krieg und Terrorismus

Die Bildfunktionen in Krieg und Terrorismus sind abhängig von den Medientypen, für welche die Bilder produziert werden (siehe Abb. 2). Diese wiederum hängen von den zu der jeweiligen Zeit verfügbaren Bildproduktionstechnologien ab. Somit sind die Produktionskontexte (siehe auch den Beitrag zur visuellen Kontextanalyse von Knieper und Müller in diesem Band) im engsten technologischen und im weitesten kulturellen Sinn entscheidend für die Gestalt, die Ausformung und die Bildmuster. Das Schaubild in Abb. 2 veranschaulicht vier unterschiedliche Kommunikationsformen und Medientypen der Bildkommunikation in Krieg und Terrorismus:

Professionelle Medienberichterstattung

Selbstinszenierung

(Journalisten und Blogger)

(einzelne Terroristen)

• Print • Rundfunk • Online

• Täterportraits (Bilder von Augenzeugen, technische Bilder, Selfies etc.) • Bekennerschreiben und -videos

Soziale Online Kommunikation

Strategische Kommunikation

(Journalisten, Blogger und Prosumenten)

(Terror-Organisation)

• Blogs • Soziale Netzwerke (YouTube, Twitter, Facebook, Instagram, Snapchat etc.) • Messengerdienste (WhatsApp etc.)

• Print (Flugblatt, Steckbrief, Werbung, Propagandaschrift, Magazin etc.) • Online (Video-Onlineplattform, Webauftritt, Games etc.)

Abb. 2 Kommunikationsformen und Medientypen der Bildkommunikation in Krieg und Terrorismus. (Quelle: Eigene Darstellung)

Terror der Bilder – Visuelle Kommunikation in Krieg und Terrorismus

• • • •

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Professionelle Medienberichterstattung Selbstinszenierung Strategische Kommunikation Soziale Online-Kommunikation

Intentionen und Art der visuellen Kommunikation unterscheiden sich je nach Medientyp. Im 20. Jahrhundert erfolgte die Bildkommunikation über Kriege und Terrorismus noch weitgehend über klassische Massenmedien. Aus naheliegenden Gründen waren und sind alle visuell erfahrbaren traditionellen Massenmedien an der Bildproduktion über Kriege und Terrorismus beteiligt. Beschränkt man den Fokus nicht auf Abbilder, dann ist selbst das Radio als reines Hörmedium in der Lage, Denkbilder über Kriege und Terrorismus zu aktivieren. Auch die in beiden Abbildungen integrierten neuen KommunikatorInnen nutzen inzwischen klassische Bildträger als Verbreitungskanäle. Der Trend geht aber dort zur Online-Kommunikation. Durch den Zutritt neuer BildProduzentInnen und Bild-DistributorInnen verschiebt sich die Bild-Berichterstattung über Terrorismus zunehmend in den Online-Bereich beziehungsweise wird durch diesen dominiert. Insofern hat sich eine Zeitenwende vollzogen, die durch Digitalisierung, Viralität und Globalisierung der Informationsflüsse, aber auch durch die Demokratisierung der Bildproduktionsmittel gekennzeichnet ist. Neue Typen von BildproduzentInnen – die sogenannten „prosumer“ (Toffler 1980; Humphreys und Grayson 2008; Ritzer et al. 2012; Cheong und Lundry 2012; Müller und Geise 2015; Ritzer 2017; Knieper et al. 2011) – sind entstanden, die durch das Potenzial zum jederzeitigen Rollenwechsel zwischen ProduzentIn und KonsumentIn geprägt sind (siehe Abb. 3) und die über

Welt der Online- und Mobilkommunikation als soziales System

Nutzer

Prosument:

• Sozialer Akteur • Interaktion mit den anderen Akteuren der Gemeinschaft Produzent (Online-Community) mit dem Ziel Informationsaustausch Konsument • Situationsbezogene Rolleneinnahme: Produzent oder Konsument • Rollenwechsel / gleichzeitige Rolleneinnahme: Prosument • Pattern Variables / Handlungsalternativen: Konsument – Beispiel: aktiv vs. passiv / Produzent – Beispiel: Content produzierend vs. weiterverbreitend • Rollenhandeln: Normen (Bsp.: Netiquette), Rollenerwartung, Soziale Sanktionen (Bsp.: Strafe wg. Urheberrechtsverletzung), sozialpsychologische Aspekte (balancetheoretische Betrachtungen, Konformitätsdruck, Mood Management etc.)

Abb. 3 Wie aus dem/der NutzerIn im Web 2.0 der Prosument bzw. die Prosumentin wurde. Hierbei versteht man unter ProsumentIn einen sozialen Akteur, der bei seiner Rolleneinnahme zwischen ProduzentIn und KonsumentIn von Medieninhalten wechseln kann. (Quelle: Eigene Darstellung)

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M. G. Müller und T. Knieper

Online-Medien den direkten Zugang zur Öffentlichkeit haben. Sie bestimmen darüber, welche Themen aktuell diskutiert werden. Damit schränken sie die traditionellen massenmedialen Funktionen Agenda-Setting und Gatekeeping nachhaltig ein und setzen sie teilweise außer Kraft. Vorrangiges Ziel der Bildpropaganda in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der militärische Gegner und dessen Zivilbevölkerung. Mit einer zunehmend einflussreicheren Rolle der Öffentlichkeit auf gewählte Regierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückten die Massenmedien als zentrale Transmissionsriemen und „vierte Gewalt“ im Staate ins Zentrum des gesamtgesellschaftlichen Willensbildungsprozesses. Das gilt insbesondere für Zeiten von gewaltsamen Konflikten und terroristischen Bedrohungen. Die Macht der Massenmedien und besonders der gedruckten Magazine und des Fernsehens wurde während des VietnamKrieges (1955–1975) in den USA besonders augenfällig (Hallin 1986; Hoskins 2004; Paul 2005a; 2008b; Klein 2008; Schwingeler und Weber 2008). Drastische Bilder fanden ihren Weg in die Wohnzimmer der US-Bevölkerung und der westlichen Zivilisation. Zu sehen waren massakrierte und verstümmelte vietnamesische Zivilisten, Lynchjustiz und Exekutionen in Nahaufnahme sowie der Einsatz geächteter Kampfstoffe wie Napalm (siehe Abb. 4). Der geografisch ferne Krieg kam den US-AmerikanerInnen bedrohlich nahe. Trotz großer Plausibilität kann rückblickend allerdings nicht eindeutig geklärt werden, ob es tatsächlich die Bildberichterstattung war, die entscheidend zum Stimmungsumschwung in der US-amerikanischen Bevölkerung beitrug (Paul 2004, 2005a, b). In jedem Fall stellt die investigative Berichterstattung über den Vietnam-Krieg einen Wendepunkt in der Geschichte der journalistischen Kriegsreportage dar (Paul 2005b).

Abb. 4 Das linke Foto von Eddie Adams (1933–2004) zeigt die Hinrichtung eines VietkongGuerillakämpfers durch den Polizeikommandanten Nguyen Loan am 1. Februar 1968. Die Aufnahme wurde 1968 als Pressefoto des Jahres und 1969 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. (Quelle: World Press Photo: https://www.worldpressphoto.org/collection/photo/1968/world-pressphoto-year/eddie-adams. Zugegriffen am 14.10.2018. Das rechte Foto von Nick Út (*1951) zeigt die flüchtenden Kinder, darunter Phan Thi Kim Phúc, nachdem deren Dorf Trang Bang am 8. Juni 1972 irrtümlich von südvietnamesischen Truppen mit Napalm angegriffen wurde. Die Aufnahme wurde 1972 als Pressefoto des Jahres und 1973 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. (Quelle: https://timedotcom.files.wordpress.com/2016/09/ap489943708182-resize1.jpg. Zugegriffen am 14.10.2018)

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Der nächste mediale Wendepunkt erfolgte im Ersten Irakkrieg der USA, 1990–91 (Griffin und Lee 1995; Beham 1996), von dem zunächst nur sehr distanzierte Aufnahmen aus der Luft verbreitet wurden, und der deshalb auch als der erste „virtuelle Krieg“ gilt (Virilio 1986, 1993; Lohoff 2008; Der Derian 2009). Aufgrund der Erfahrungen während des „unzensierten“ Vietnam-Kriegs (Hallin 1986), zu dem die meisten ReporterInnen mehr oder weniger ungehindert Zugang hatten, wurde im Ersten Irakkrieg der Medienzugang vom US-Militär beschränkt. Als neues Leitmedium in diesem über große Distanz an die Heimatfront medial vermittelten Krieg etablierte sich so der US-amerikanische Satelliten-TV-Kanal Cable News Network (CNN), der 24-Stunden live vom Kriegsschauplatz in Kuwait berichtete und nach dem der „CNN-Effekt“ (Robinson 2002; Miller 2014) benannt ist. Mit dem CNN-Effekt ist der Einfluss des US-amerikanischen Nachrichtensenders im ausgehenden 20. Jahrhundert bezeichnet, eigenständige Themen durch die Berichterstattung zu setzen, die unabhängig vom politischen Tagesgeschäft große Relevanz für die ZuschauerInnen erlangen. Dies ist die Hochphase des Einflusses professioneller Massenmedien (siehe Abb. 2) auf Politik und Zuschauer. Der Erste Irakkrieg versinnbildlichte eine Machtverschiebung von der Politik auf die Medien als „vierte Gewalt“ im Staate. Dabei waren die Reporter von CNN ganz nah am Geschehen und erzeugten so eine große Spannung und das Gefühl der Teilhabe an den Geschehnissen beim Publikum. Für die visuelle Kriegsberichterstattung stellte die 24-StundenAudiovision à la CNN einen Wendepunkt dar, der die Berichterstattungsmuster und ihre Rahmung stark veränderte. Mit der Gründung des zunächst arabischsprachigen Konkurrenzsenders Al Jazeera 1996, der ab 2006 eine englischsprachige, internationale Alternative zu CNN darstellte, formte die audio-visuelle Live-Berichterstattung die Erwartungshaltungen der Publika weltweit, die neuesten Kriegsbilder in Echtzeit nach Hause geliefert zu bekommen. Der Einbruch des islamistischen Terrorismus in die westliche Welt zielte direkt auf die Medien als Multiplikatoren der Terrorbotschaft. Der erste Testballon erfolgte 1972 bei den Olympischen Sommerspielen in München. Den Terroristen ging es gezielt um eine weltweite Berichterstattung, um auf ihre Themen im Nahostkonflikt aufmerksam zu machen (Forster und Knieper 2008). Die weltweite Live-Übertragung der Terroranschläge vom 11. September läutete eine weitere Eskalationsstufe in der terroristischen Instrumentalisierung der Massenmedien ein (Beuthner et al. 2003; Beuthner und Weichert 2003; Müller und Knieper 2005; Weichert 2008). Osama bin Laden und die von ihm begründete Terrororganisation Al Kaida benutzten die Medienbilder gezielt als Waffen, um die feindlichen Regierungen und deren Zivilbevölkerungen in Angst und Schrecken zu versetzen (Beuthner et al. 2003; Sommer 2003; O’Loughlin 2011). Die folgenden Vergeltungsmaßnahmen – zunächst der Krieg in Afghanistan, dann die Invasion des Irak 2003 – sollten bereits unter den Vorzeichen der Online-Medien und besonders der in der Gründung befindlichen Sozialen Netzwerke Facebook und Twitter stehen (Lohoff 2008). Das US-Militär versuchte ein Vietnam-Fiasko zu vermeiden, indem der journalistische Zugang zum Kriegsgeschehen durch ein ausgeklügeltes und zentral organisiertes System des „Embedded Journalism“ (Löffelholz 2018) gesteuert wurde. Die US-amerikanische Militärpropaganda hatte aber nicht mit der Macht der Prosumer

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gerechnet und wurde regelrecht überrascht. Für die digital-prosumptive Bildproduktion war der Folterskandal um das US-Gefängnis Abu Ghraib im Irak ausschlaggebend. Hier hatten zum privaten „Vergnügen“ von Prosumern produzierte und unbedarft als „Trophäen“ weitergegebene Digitalfotografien schlimmste Folterpraktiken offengelegt (siehe Abb. 5; Feldman 2005; Eisenman 2007; Andén-Papadopoulos 2008; Paul 2008b). Das bekannteste Foto dieser Folterpraktiken ist der sogenannte „Kapuzenmann“ (Abb. 5). Aufgrund seiner ikonografischen Nähe zur Kreuzigung Christi erzeugte diese Darstellung die emotionalsten Reaktionen beim westlichen Publikum. Grausam und menschenverachtend waren auch die grinsenden Selbstdarstellungen der US-amerikanischen Gefängniswärter, wie Charles Graner und Lynndie

Abb. 5 Beide Aufnahmen zeigen den Umgang mit Gefangenen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Links ist der sogenannte „Kapuzenmann“ abgebildet (Quelle: Wikimedia Commons https:// upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4b/AbuGhraibAbuse-standing-on-box.jpg. Zugegriffen am 14.10.2018). Die vertikale Farbfotografie zeigt einen Mann dunkler Hautfarbe, der auf einer schmalen Kiste steht, dem/der BetrachterIn frontal zugewandt ist und die Hände seitlich ausgestreckt hat. Über den Kopf ist eine dunkle, spitze Kapuze gezogen. Er trägt einen ebenfalls dunklen Überwurf mit Fransen, der lediglich die unteren Waden, Füße, Hände sowie den oberen Brustansatz frei lässt. An seinen Händen sind Drähte angebracht, die nach unten führen. Der kahle Raum hinter dem „Kapuzenmann“ zeigt rostige Rohre an der Rückwand. Insgesamt handelt es sich um eine arrangierte Scheinhinrichtung, denn der Gefolterte kann nicht sehen, dass die Drähte mit keinem elektronischen Zünder verbunden sind. Er muss davon ausgehen, dass ein Verlassen der Kiste seine sofortige Elektrokution bedeutet. Die rechte Aufnahme (Quelle: https://knowyourme me.com/photos/208746-lynndie-england-pose. Zugegriffen am 14.10.2018) zeigt die Soldatin Lynndie England, die vor nackten irakischen Soldaten posiert. Allein die Nacktheit war für die Gefangenen bereits ein sehr beschämender Moment. Der damit verbundene Spott durch eine Frau eine weitere extreme Erniedrigung. Diese Fotografie wird trotz der menschenverachtenden Aussage hier abgebildet, weil sie ein historisches Dokument dafür ist, wie unter US-amerikanischer Besatzung systematisch gefoltert, erniedrigt und getötet wurde. Die Geste der Lynndie England zeigt ein sogenanntes „Lock and Load“ und simuliert ein Gewehr, das geladen und auf ein Ziel gerichtet wird. In diesem Fall sind es die durch Pixel unkenntlich gemachten Genitalien eines nackten irakischen Gefangenen, dessen Gesicht, wie das der anderen nackten Gefangenen auf dem Bild, durch eine grüne Tüte verhüllt ist

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England (siehe Abb. 5), mit toten und verwundeten Gefangenen (Brown 2007; Andén-Papadopoulos 2008; Hristova 2013; Hansen 2015). Die Abu Ghraib Folterfotos markieren einen Produktionswandel, der durch Digitalisierung, Vervielfältigung und Weitergabe der digitalen Kopien erst möglich wurde. Zugleich wurden die Abu Ghraib Folterfotos in der Folge ihrer Veröffentlichung immer wieder von terroristischen Organisationen wie Al Kaida und später Daesch als Begründung ihrer terroristischen Taten angegeben, wie etwa die Köpfung der US-amerikanischen Geisel Nick Berg vor laufender Kamera (Brown 2007, S. 309). Am Beispiel von Abu Ghraib wird der Medienwandel in der Kriegskommunikation besonders augenfällig. Nicht nur der Ursprung des Skandals war durch die Visualisierung der Folterpraktiken durch die beteiligten TäterInnen ausgelöst worden, auch die Rezeption erfolgte neben der üblichen Berichterstattung in den Leitmedien weltweit vor allem im Internet. Dabei spielten die neuen Möglichkeiten des Social Media Sharing (siehe den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band) und des Prosumerism eine große Rolle (Humphreys und Grayson 2008; Cheong und Lundry 2012; Ritzer et al. 2012).

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Krieg und visuelle Kommunikation

Den zahlreichen Überblickswerken und Einzelstudien zum Verhältnis von Krieg und Medien (siehe etwa Virilio 1986, 1993; Löffelholz 1993, 2004; Beham 1996; Taylor 1998; Allan und Zelizer 2004; Hoskins 2004; Eilders und Hagen 2005; Fröhlich et al. 2007; Nossek 2008; Nöring et al. 2009; Der Derian 2009; Miltner und Waldherr 2013; Seethaler et al. 2013; Becker 2016; Baden und Tenenboim-Weinblatt 2018) stehen nur wenige Werke gegenüber, die sich explizit den Bildmedien im Krieg oder in Krisen widmen (etwa Knieper und Müller 2005; Knieper und Saleh 2015, 2017; Saleh und Knieper 2017, 2018). Zahlreiche Einzelstudien befassen sich mit spezifischen Kriegen und einem speziellen Medienaspekt, sind jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen medien- oder kriegsübergreifend angelegt. Keith et al. (2010) beklagen in ihrer vergleichenden Methodenstudie, dass bereits die Unterschiede in einem relativ eng definierten Methodenbereich wie der Inhaltsanalyse von Studie zu Studie so stark variieren, dass eine Integration verschiedener Ansätze beinahe unmöglich erscheint. Bereits in den frühen 1980er-Jahren thematisierte der französische Philosoph Paul Virilio das Verhältnis von „Krieg und Kino“ (Virilio 1986). Im Nachklang des Ersten Irakkrieges (1990–91) publizierte Virilio „Krieg und Fernsehen“ (Virilio 1993). Susan Sontags preisgekrönter Essayband aus dem Jahr 2003, „Das Leiden anderer betrachten“, geht ebenfalls von visuellen Phänomenen aus und analysiert den Appellcharakter der Kriegsfotografie. Zu den deutschsprachigen Pionieren bezüglich der Frage von Bild und Krieg gehören etwa der Bildhistoriker Gerhard Paul (Paul 2004, 2005a, b) und die KommunikationswissenschaftlerInnen Steffen Sommer (2003); Marion G. Müller und Thomas Knieper (2005). David Perlmutter veröffentlichte 2009 die Monografie Visions of war: Picturing warfare from the stone age to the cyber age, in welcher ein zeitlich weiter Bogen der Bildkommuni-

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kation im Krieg gespannt wird. 2017 erschien ein Werk, das sich mit politischen Konflikten und ihren Bildprodukten auseinandersetzt (Eder und Klonk 2017). In den Jahren 2017 und 2018 folgten zwei umfangreiche, englischsprachige Sammelbände zur visuellen Politik des Krieges (Saleh und Knieper 2017, 2018). Jenseits dieser wenigen Überblickswerke gibt es einige Einzelfallstudien, die größtenteils unter Bezug auf Visual Framing das Thema Krieg und Bild analysieren. Unter diesen verdienen die Arbeiten von Carol B. Schwalbe und KollegInnen (Schwalbe 2006, 2013; Schwalbe et al. 2008; Schwalbe und Dougherty 2015), von Shahira Fahmy und KollegInnen (Fahmy 2010, Fahmy und Kim 2008, Fahmy und Neumann 2012) sowie von Oswald und Johann (2016, 2018) besondere Aufmerksamkeit. Insgesamt fällt jedoch die kommunikationswissenschaftliche Literaturschau zum Thema Bild und Krieg eher mager aus. Dabei war das Bild von jeher ein früher Begleiter des Krieges. Die vor-fotografische Bildpublizistik bedachte Kriege mit aufwändigen Stichen von Schlachten. Kriegszeichner und Reporter mit dem Zeichenstift hielten die frühneuzeitlichen Gemetzel mehr oder weniger abstrakt und verherrlichend fest, um diese dann später in triumphale Schlachtengemälde oder nüchterne Holzschnitte und Radierungen zu übertragen (Wilke 2005). Auch Gräueltaten wurden zwar selten, aber bisweilen eben doch visualisiert. Belege sind etwa das spektakuläre Beispiel der Nürnberger Neue Zeitung aus dem Jahr 1561 (Wilke 2005, S. 32; Abb. 6). Zweieinhalb Jahrhunderte später verewigte der spanische Künstler Francisco José de Goya y Lucientes (Abb. 7) die Schrecken des Krieges in seiner gleichnamigen grafischen Serie (1810–1814), die eine sehr drastische Darstellung von Kriegsgräueln umfasst (Wilke 2005, S. 38–39; Müller 2005, S. 405). Goya schuf mit seinen „Desastres de la Guerra“ eine neue Bildsprache, welche jenseits der Militärromantik und Verherrlichung des Krieges deutlich dessen Schattenseiten visualisierte. Mit seinen Grafiken macht er die Betrachtenden zum Augenzeugen unbeschreiblicher menschenverachtender Gewalttaten und führt diese ganz nah an die menschliche Grausamkeit und die Abgründe der menschlichen Seele heran. Viele dieser Bilder sind zu Vorbildern für spätere Kriegsfotografien geworden. Zugleich waren sie Inspiration für das Medium Film. Im Vergleich zu den künstlerischen Kriegsbildern nahmen sich die ersten Kriegsfotografien von den Schlachtfeldern des Krim-Krieges (1853–1856) eher blass aus (Abb. 8). Belichtungszeit und Filmmaterial ließen lediglich die Abbildung von unbewegten Landschaften und Kanonenkugeln zu und zeigten keine Schrecken des Krieges. Der US-Amerikaner Roger Fenton hat sich das Verdienst als erster Kriegsfotograf im Krim-Krieg erworben. Wenig später trat Mathew Brady in seine Fußstapfen und dokumentierte das Grauen des US-amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865), bei dem auch Leichen junger Soldaten beider Kriegsparteien schonungslos abgebildet wurden. Diese Schützengrabenästhetik (Abb. 9) war auch charakteristisch für den Ersten Weltkrieg (1914–1918), obwohl während des Kriegsgeschehens die Zensur des jeweiligen Militärapparates dominierte und lediglich nach dem Krieg die gesamte Brutalität des Stellungskrieges und seiner schwerstverwundeten Opfer publik wurde (WengerDeilmann 2009).

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Abb. 6 Das Blatt aus der Newe Zeyttung (1561) versinnbildlicht auf sehr drastische Weise die Grausamkeiten an der Livländischen Zivilbevölkerung, die durch die „Moscoviter“ (Russen) verübt wurden. Dargestellt sind drei nackte Frauen, deren Hände auf dem Rücken zusammengebunden sind und die nicht nur an einem Baum erhängt wurden, sondern zugleich von den durch Pelzmützen als Russen kenntlich gemachten Soldaten rechts, mit Pfeil und Bogen durchbohrt werden. Unter den so gemarterten Frauen liegt ein Berg nackter Leichen mit teilweise aufgeschlitzten Bäuchen. Der Begleittext von Kreydlein fasst das sehr anschaulich zusammen: „Sehr grewliche, erschröckliche, vor unerhörte, warhafftige Newe Zeyttung, was für grausame Tyranney der Moscoviter an den Gefangenen, hinweggefürten Christen auß Lyfland (. . .) zufüget“. (Quelle: http://daten.digitalesammlungen.de/~db/0008/bsb00086965/images/. Zugegriffen am 14.10.2018)

Hinsichtlich der Gräuelfotografie hat der Erste Irakkrieg 1991 einige wenige Bilder geliefert. Diese waren auf einzigartige Weise einprägsam. Wer sie einmal gesehen hat, kann diese Bilder kaum je wieder vergessen. Ken Jareckes Foto (siehe Abb. 10) des komplett verbrannten, namenlosen irakischen Soldaten in seinem Fahrzeug ist etwa eines dieser grauenhaften Bilder. Das Foto ist Zeugnis, mit welcher Zerstörungswucht die US-Amerikaner die irakischen Streitkräfte vernichtet haben. Für dieses Foto wurde Jarecke laut seinen Erzählungen von einem Nachrichtenoffizier der US-Armee stark kritisiert. Er wurde nach seiner Freude

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Abb. 7 Die beiden Aquatinta-Radierungen des spanischen Künstlers Francisco José de Goya y Lucientes schildern die Gräueltaten der Truppen Napoleons gegenüber der spanischen Zivilbevölkerung während der französischen Besatzung. In der linken Grafik mit dem Titel „Con razon ó sin ella“ („Mit oder ohne Vernunft“), werden die stehenden französischen Soldaten mit Säbeln und auf ihren Gewehren aufgepflanzten Bayonetten rechts dargestellt, zwei spanische Zivilisten, die sich mit Messern zur Wehr setzen wollen, links. Der vordere Mann scheint von einer Lanze durchbohrt worden zu sein, Blut fließt aus seinem Mund. Er blickt fragend im Moment des Sterbens in die Ferne. Die rechte Grafik „No quieren“ („Wenn sie nicht wollen, dann . . .“), thematisiert die Gewalt gegen Frauen im Krieg: Wenn sich die Frau wehrt, dann braucht er Gewalt. Eine weiß gekleidete Frau in Rückenansicht wehrt sich mit Händen und Füßen gegen ihren französischen Vergewaltiger, der durch eine Grenadiersmütze und den seitlich sichtbaren Säbel als solcher kenntlich gemacht wurde. Von rechts, hinter dem Soldaten, nähert sich eine ältere Frau mit erhobenem Dolch, die der jungen Frau, deren Po durch ihr Kleid hin sichtbar ist, zu Hilfe eilt. Im linken Hintergrund ist ein Mühlrad sichtbar. Das Thema der übermächtigen Franzosen und der lediglich mit Messern bewaffneten spanischen ZivilistInnen zieht sich durch die gesamte Grafikfolge, die aufgrund ihrer Brisanz erst nach Goyas Tod veröffentlicht wurde. Quelle: Grafik links: „Los Desastres de la Guerra, No. 2: Con razon ó sin ella“ (1810–1814), Künstler: Francisco Goya y Lucientes, Museo del Prado, Madrid, Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/Los_desastres_de_la_guerra#/media/File:Goya-Guerra_(02). jpg. Zugegriffen am 14.10.2018. Grafik rechts: „Los Desastres de la Guerra, No. 9: No quieren“ (1810–1814), Künstler: Francisco Goya y Lucientes, Museo del Prado, Madrid, Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/Los_desastres_de_la_guerra#/media/File:Goya-Guerra_(09). jpg. Zugegriffen am 14.10.2018

gefragt, tote und entstellte Menschen zu fotografieren. Der Fotograf argumentierte, dass wenn er dieses und andere derartige Fotos nicht mache, würde sich die Vorstellung des im Fernsehen gezeigten klinisch sauberen Krieges in den Köpfen der ZuschauerInnen festsetzen. Wie jeder Krieg schrieb auch der Erste Irakkrieg zahlreiche menschliche Tragödien unter beiden Kriegsparteien (Rare Historical Photos o. J.). Auch an der US-amerikanischen Heimatfront wurden Tote betrauert. Ein besonders emotionalisierendes Beispiel hat David Turnley (Abb. 11) festgehalten. Es verwundert nicht, dass diese Aufnahme 1992 mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet wurde. Ein wesentlicher Unterschied zu der verkohlten Leiche des anonymen irakischen Soldaten ist, dass hier die Identität und Geschichte der Abgebildeten dokumentiert sind und somit eine ganz andere Identifikation und Empathie mit dem im Leichensack liegenden Kameraden möglich ist.

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Abb. 8 Krimkrieg, 1855. Originaltitel „The valley of the shadow of death“. Fotograf: Roger Fenton, Printfotografie auf Salzpapier; 28  36 cm. (Quelle: Wikimedia Commons, Library of Congress https://cdn.loc.gov/service/pnp/ppmsca/35500/35546v.jpg. Zugegriffen am 14.10.2018)

Abb. 9 1. Weltkrieg, Tote deutsche Soldaten, „And the Trench was a Reeking Shambles.“ German Dead in the La Bassée Area. (Quelle: Wikimedia Commons, https://upload.wikimedia.org/wikipe dia/commons/8/80/WorldWarIGermanDead.jpg. Zugegriffen am 14.10.2018)

4.1

Professionelle Medienberichterstattung im Krieg

Die professionelle visuelle Kriegsberichterstattung während des Vietnam-Kriegs hat besondere wissenschaftliche Beachtung erfahren (Allan und Zelizer 2004; Zelizer 2004; Hoskins 2004; Paul 2004, 2008a; Klein 2008; Schwingeler und Weber 2008; Bandtel und Tenscher 2014). Welche Rolle die visuelle Kriegsberichterstattung und

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Abb. 10 Gulf War I (1991): Dead Iraqi soldier burnt in his vehicle. Fotograf: Ken Jarecke. (Quelle: https://4.bp.blogspot.com/-Ox00GB_v5X4/V-YguuhzIyI/AAAAAAAALLQ/1A1zmFpW3ssTjBJXQ_ Bt_tJjtCXjNNeYgCLcB/s1600/death_of_iraqi_soldier_1991.jpg. Zugegriffen am 14.10.2018)

Abb. 11 Erster Irakkrieg (1991). Fotograf: David Turnley. World Press Photo Award, 1. Preis 1992. Die Fotografie hält den Moment fest, in welchem dem verwundeten US-Soldaten im Vordergrund des linken Bilddrittels mitgeteilt wird, dass sich in dem Leichensack zu seiner Linken sein Freund befindet, der am letzten Tag des Ersten Irakkrieges durch friendly fire von den eigenen Leuten getötet wurde. Der weinende Soldat ist Unteroffizier Ken Kozakiewicz. Der Tote ist Andy Alaniz. Zwischen den beiden sitzt der an den Augen verwundete Gefreite Michael Tsangarakis. Alle drei sind mit dem Helikopter auf dem Weg ins Krankenhaus als Turnley das Foto schoss. Die Tragik, dass sich dies am letzten Kriegstag und durch eigene Kugeln ereignete, wird in der stark Empathie auslösenden Fotografie mitfühlend in Szene gesetzt. (Quelle: https://wpp.azureedge.net/sites/default/files/styles/ gallery_main_image/public/1991001.jpg?itok=nqCwAriS. Zugegriffen am 14.10.2018)

besonders die fotografischen und filmischen „Kriegsikonen“ (Sommer 2005) für den Wandel in der öffentlichen Meinung der USA hatten, die über viele Jahre den Vietnam-Krieg unterstützten, ist umstritten (Paul 2008a; Schwingeler und Weber 2008; Perlmutter 2009).

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Seymour M. Hersh hatte 1968 als investigativer Journalist das My Lai-Massaker der 11. US-Brigade in Vietnam aufgedeckt (Klein 2008). Dabei waren nicht nur die mörderischen Tatsachen und die Ermordung von über 500 Zivilisten an einem Tag ans Licht gelangt, sondern auch der Umgang der militärischen Führung mit diesen Informationen. Derselbe (Hersh 2004) deckte später auch den bereits beschriebenen Abu Ghraib-Folterskandal auf (siehe Abb. 5; Eisenman 2007; Andén-Papadopoulos 2008). Eine der wenigen Studien mit einer umfassenden Untersuchung der TV-Kriegsberichterstattung aus einer deutschen Perspektive stammt von Weiss und Koch (2005). Im Beitrag „Wie Kriegsereignisse zu Medienereignissen werden“ geht es um die Ausstrahlung von Bildern gefangener und getöteter US-Soldaten im deutschen Fernsehen am 23. März 2003. Zu Beginn des Zweiten Irakkrieges nahm das Saddam-Regime mehrere überlebende US-Soldaten eines Gefechts in Nasirija als Geisel, darunter auch die Soldatin Shoshana Johnson. Gezeigt wurden deren verängstigte Gesichter während sie durch einen regierungsfreundlichen irakischen Journalisten im irakischen Staatsfernsehen „interviewt“ wurden. Dieses Vorgehen verstößt eindeutig gegen die Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen (Weiss und Koch 2005, S. 299) und dennoch wurden die Bilder durch Al Jazeera, bis auf die Ausnahme USA, weltweit im Fernsehen verbreitet (Weiss und Koch 2005). Dabei attestieren Weiss und Koch (2005) der deutschen Kriegsberichterstattung in Print und TV einen Hang zur „Metakommunikation“ (Watzlawick et al. 1972), also der Kommunikation über Kommunikation und über die Medien selbst. Die Analyse brachte vor allem Unterschiede in der Kriegsberichterstattung zwischen Vollprogrammanbietern und Nachrichtenkanälen zum Vorschein. Während sich sowohl die öffentlich-rechtlichen als auch die privaten Vollprogramme mehr oder weniger in ihrer visuellen Berichterstattung zurückhielten, schalteten sich die Nachrichtensender ntv und N24 der Aktualität und Nähe zum Geschehen wegen häufig in arabische und US-amerikanische Programme ein und sendeten Verhörszenen unkommentiert. „Hier hatten die irakischen Bilder tatsächlich alle Möglichkeiten, ihre Wirkung frei von irgendeiner Intervention durch deutsche Fernsehjournalisten zu entfalten“ (Weiss und Koch 2005, S. 318). Schwalbe (2006, 2013) und Schwalbe et al. (2008) kommen hinsichtlich der US-Berichterstattung in TV- und Printmedien zu dem Schluss, dass in den US-amerikanischen Nachrichtenmedien durchaus ein „Master-Narrativ“, eine Art Metaerzählung über den Irakkrieg verbreitet wurde (Aday 2005; Aday et al. 2005; Fahlenbrach und Viehoff 2005; Dimitrova und Strömbäck 2005).

4.2

Strategische Kommunikation und Krieg

In unmittelbarem Zusammenhang mit der oben beschriebenen Geiselnahme von US-Soldaten im Zweiten Irakkrieg nutzte die US-amerikanische Militärpropaganda den Fall der Gefreiten Jessica Lynch. Die Soldatin war wie Shoshana Johnson bei der militärischen Aktion am 23. März 2003 in einen irakischen Hinterhalt

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geraten (Dorsch-Jungsberger 2005). Die weiße, blondhaarige, junge und angeblich schwer verletzte Soldatin wurde in einer Nacht-und Nebelaktion hinter feindlichen Linien von einer Spezialeinheit „gerettet“. De facto war die gesamte Befreiungsaktion ein PR-Stunt. Lynch eignete sich als Cover-Heldin und war so auf verschiedenen US-Magazinen nach ihrer Befreiung abgebildet (siehe Abb. 12). Diese positive Medienpropaganda sollte die Berichterstattung über Lynchs getötete und erniedrigte Kameraden überdecken. Eine Taktik, die in den US-amerikanischen Medien weitgehend aufging (Dorsch-Jungsberger 2005). Auffällig ist, dass, obwohl eine junge schwarze Soldatin – Shoshana Johnson – in der gleichen Situation war, die Befreiungsaktion für die weiße, blonde Soldatin gestartet wurde und ihr die gesamte Medienaufmerksamkeit galt. Das kann als rassistisches Stereotyp interpretiert werden. Auch in Extremsituation wie dem zwischenstaatlichen Krieg offenbaren sich in der strategischen Visualisierung gesellschaftliche Bruchlinien. Propagandabilder sind damit gesamtgesellschaftliche Quellen, die einer verstärkten wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedürfen. Sie sagen nicht nur etwas über den Konflikt aus, in welchem sie produziert wurden, sondern auch über den sozio-kulturellen Produktions- und Rezeptionskontext (siehe das Kapitel zur Kontextanalyse von Knieper und Müller in diesem Band).

Abb. 12 Cover des People Magazine vom April 2003. Es zeigt Jessica Lynch in Militärkleidung vor einer US-amerikanischen Flagge auf dem Titel. Textlich wird die unglaubliche Geschichte über die Rettung der Kriegsgefangenen (POW) angekündigt. (Quelle: https://imagesvc.timeincapp.com/ v3/mm/image?url=https%3A%2F%2Fpeopledotcom.files.wordpress.com%2F2016%2F09%2F0 4_21_03_no_upc_750x1000.jpg%3Fw%3D450&w=700&q=85. Zugegriffen am 14.10.2018)

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4.3

163

Kriegsberichterstattung und Empathie

Die Bildberichterstattung vermag es, eine besondere Form der Empathie mit dem Weltgeschehen zu erzeugen. Das Gesetz der visuellen Attraktion besagt, dass ein einmal gesehenes Bild nicht mehr ungesehen gemacht werden kann (Müller 2012), aber das bedeutet nicht, dass eine Fotografie auch zwangsläufig zur Grundlage proaktiven politischen Protests und Handelns würde. Zu viele grausame und tragische Bildeindrücke können von einer proaktiven Empathie in „leere Empathie“ umschlagen, die zu einer emotionalen Abstumpfung und Verrohung bei den BetrachterInnen führen kann, wie Ann Kaplan in Rückgriff auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigt (Kaplan 2011; Higgins und Müller 2013; Müller 2015). Kaplan (2005, 2011) unterscheidet zwischen drei Arten empathischer emotionaler Reaktionen auf traumatisierende Bilder: Erstens die stellvertretende Traumatisierung (Kaplan 2011, S. 258–264), bei der ähnliche Symptome – Schlafstörungen und andere Stressreaktionen, depressive Stimmung, Flashbacks u. a. – wie bei einer tatsächlichen Traumatisierung auftreten. Zweitens, die leere Empathie (Kaplan 2011, S. 264–267), für die Kaplan die weiter oben geschilderte Jessica Lynch Story beispielhaft anführt. Bei der leeren Empathie handelt es sich um eine Abstumpfungsreaktion, die wirkliches Mitgefühl abtötet, und einem allgemeinen Zynismus Platz macht, statt zu prosozialen Handlungen zu führen, wie dies die dritte empathische Reaktionsform – die empathische Zeugenschaft („witnessing“) – tut (Kaplan 2011, S. 267–276). Diese Form der Empathie ist für die BildbetrachterInnen emotional nicht überwältigend, sondern führt zu wahrem Mitgefühl und daraus resultierender Aktivierung und prosozialem Handeln. Für die ethische Bewertung von Kriegsberichterstattungsmustern und der sozialen Kommunikation in Online-Netzwerken ist es folglich entscheidend zu verstehen, welche Bildmotive und Bild-Text-Kombinationen zu welchen emotionalen Reaktionen beim Publikum führen. Dafür wiederum wären rezeptionsorientierte kommunikationswissenschaftliche Studien von zentraler Bedeutung.

4.4

„Knipserfotos“, Selbstinszenierungen und soziale OnlineKommunikation

Seit es portable und erschwingliche Fotoapparate für jedermann gibt, gibt es auch „Knipserfotografie“ im Krieg (Bopp 2009). Daher gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg auch „private“ Aufnahmen von SoldatInnen an der Front, die Gräuel und extreme Grausamkeiten darstellen. Neu an der inzwischen digitalisierten Fotografie von Amateuren ist, dass es diese Prosumerbilder in die Öffentlichkeit schaffen und bei entsprechenden Rahmenbedingungen auch von den klassischen Massenmedien reproduziert werden. Der Verbreitungs- und Vervielfältigungsmodus der Fotografie hat sich durch die Digitalisierung enorm beschleunigt. Es müssen nicht mehr länger Negative entwickelt und Fotoabzüge in notwendiger Zahl hergestellt und verteilt werden. Die Fotos können ohne Kanalbrüche digital weitergegeben werden. Als Konsequenz ist der Adressatenkreis verstörender „Kriegssouvenirs“ kaum noch

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begrenzbar. Ein Beispiel für die jüngste digitale Knipserfotografie sind die bereits erwähnten Abu Ghraib Folterfotos (Abb. 5). Besonders verstörend wirken die vielen „Lock and Load“-Fotografien mit grinsenden Soldatinnen und Soldaten im Angesicht des Todes und des Grauens. Diese Entmenschlichung nicht nur der Opfer, sondern besonders der Folterknechte, die bar jeglicher empathischen Regung obszöne Gesten neben Leichen und erniedrigten Schutzbefohlenen machen, ist kaum in Worte zu fassen. Die ursprünglichen Prosumerbilder erfreuten sich einiger Popularität auf sozialen Netzwerken und führten u. a. zu dem eigenen Meme-Motiv „Doing a Lynndie“ (Abb. 13; Andén-Papadopoulos 2008, S. 20–22; Hristova 2013). Bei memetisch verfremdeten Online-Bildern geht es um eine unterhaltsame Abwandlung eines bekannten Motivs. Die Motivvorlage des „Doing a Lynndie“– Memes ist die Prosumerfotografie auf Abb. 5. Hier ist die lächelnde Gefreite Lynndie England zu sehen, mit charakteristischer Zigarette im Mund, wie sie mit der linken und rechten Hand zugleich eine „Daumen-hoch“-Geste und eine Zeigegeste ausführt. Sie zeigt auf nackte irakische Gefangene, deren Köpfe verhüllt sind. Dieser Machtgestus einer weiblichen Soldatin über ihr ausgelieferte männliche Gefangene

Abb. 13 Die linke Darstellung ist als Umsetzung des Aufrufs „Doing a Lynddie“ des Online Blogs Bad Gas zu verstehen, die rechte als Anspielung auf die zahlreichen Memes. Als Anleitung für die Produktion eines Memes gab der Blog folgende sechs Punkte vor: „1. Find“ a victim who deserves to be ‚Lynndied‘. 2. Make sure you have a friend nearby with a camera ready to capture the ‚Lynndie‘. 3. Stick a cigarette (or pen) in your mouth and allow it to hang slightly below the horizontal. 4. Face the camera, tilt your upper body slightly forward but lean back on your right leg. 5. Make a hitchhiking gesture with your right hand and extend your right arm so that it’s in roughly the same position as if you were holding a rifle. 6. Keeping your left arm slightly bent, point in the direction of the victim and smile.“ (Know your Meme o. J.). Beide Beispiele zeigen jeweils weibliche Figuren. In der linken Fotografie werden alle sechs Meme-Kriterien für eine „Lynndie“Kopie erfüllt. Sie lächelt ähnlich in die Kamera. Sogar das Hemd und die Militärhosen sind fast identisch. Allerdings trägt die Frau in der Kopie zusätzlich militärische Kennmarken um den Hals. Auf dem rechten Screenshot wird die Szene als Teil der von dem konservativen US-amerikanischen TV-Sender FOX produzierten Trickfilmserie „American Dad“ gezeigt. Die ProtagonistInnen, Francine und Stan Smith, werden vor einem Werkstatthintergrund dargestellt, wie sie „Lynndie Englanding“ machen. (Quelle: Links: Private Version eines „Doing a Lynndie“. http://i0.kym-cdn.com/ photos/images/newsfeed/000/368/421/603.png. Zugegriffen am 14.10.2018). Rechts: Die USamerikanische Cartoon-Serie „American Dad“ greift das Motiv in der Episode „Homeland Insecurity“ (12. Juni 2005) ebenfalls in der Darstellung der beiden Charaktere Francine und Stan Smith auf. (Quelle: https://uproxx.com/tv/american-dad-stan/. Zugegriffen am 14.10.2018)

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fand zahlreiche Nachahmungen auf sozialen Netzwerken und speziell für dieses Meme gegründeten Internetblogs und -plattformen (siehe Abb. 13). So startete beispielsweise der Online-Blog Bad Gas 2004 einen Wettbewerb mit den besten „Doing a Lynndie“-Memes. Angesichts dieser weitverbreiteten Banalisierung des Bösen fragt Andén-Papadopoulos (2008, S. 22) provokant, inwiefern der Akt des „Doing a Lynndie“ bereits als Frühform der Kollaboration mit Folterpraktiken bezeichnet werden kann. Konvergenz und Hybridisierung der Massenmedien haben auf der einen Seite zu einer kaum überschaubaren Fülle an visuellen Informationen zum Kriegsgeschehen in Echtzeit geführt. Soziale Medien stehen in Konkurrenz mit den etablierten Nachrichtenformaten in Fernsehen, Print und Online. Durch die Unübersichtlichkeit des Nachrichtenflusses entsteht ein Informationsdilemma. Die Authentizität und das Vertrauen sind jeweils entscheidend für die Nachrichtenauswahl aus Zuschauersicht. Aus journalistischer Sicht haben sich die Selektionskriterien selbst nicht erweitert, aber die Auswahl an digitaler Pressefotografie ist durch die Online-Medien nochmals gestiegen, wie auch der Zeit- und der Konkurrenzdruck. Zudem gewichten Prosumer Selektionskriterien möglicherweise anders als professionelle JournalistInnen.

5

Terrorismus und visuelle Kommunikation

Die Terrorangriffe in Madrid (11. März 2004), London (7. und 21. Juli 2005), Paris (7. Januar und 13. November 2015) und Nizza (14. Juli 2016) sind Ausnahmen von der typisch distanzierten Berichterstattung über Terrorakte, die vor allem materielle Zerstörung abbilden (siehe Abb. 14). Von den Al-Kaida-Terrorakte und späteren Daesch-Terrorakten in Westeuropa wurden Bildzeugnisse überliefert, die die menschliche Empathie ansprechen und zugleich auf einer ästhetischen Ebene den Schrecken zu bannen wussten. Auch nach dem LKW-Attentat von Nizza am 14. Juli 2016 gibt es menschlich bewegende Fotografien, die auf den sozialen Netzwerken auf große Anteilnahme stoßen (siehe Abb. 14). Inwiefern dieses Bild stellvertretend traumatisiert, zu leerer Empathie führt, oder aber eine proaktive Augenzeugenschaft generiert (siehe Abschn. 4.3), wäre für zukünftige Studien eine wichtige Untersuchungsfrage.

5.1

Das Bild als Waffe?

Neben diesen Ikonen der zwischenmenschlichen Solidarität im Leid ist ein typisches Bildmotiv die materielle Zerstörungslandschaft, die terroristische Angriffe hinterlassen. Die naheliegende Frage, wie sich diese unterschiedlichen Bilder auf verschiedene Publika auswirken, kann leider mangels Rezeptions- und Wirkungsstudien nicht beantwortet werden. Explorative Untersuchungen, die den kompletten visuellen Kommunikationskreislauf von Produktion, Interpretation bis zur emotionalen Reaktion miteinbeziehen (Müller et al. 2012; Müller und Geise 2015), deuten darauf hin, dass textliche Kontextualisierungen, insbesondere die Bildunterschrift,

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Abb. 14 Die Bilder terroristischer Attentate vermitteln oftmals den Eindruck, dass Menschen in Katastrophen und bei Anschlägen näher zusammenrücken.Von den beiden Überlebenden der Attentate auf den Madrider Nahverkehrszug 2004, die verwundet und schockiert an einen Baum lehnen (links), wissen wir nicht, ob sie sich zuvor kannten. Das ikonische Bild der Londoner Anschläge vom 7. Juli 2005 (Mitte), das nicht nur im westlichen Kontext, sondern auch in der arabischen Welt auf den Titelseiten der Zeitungen prangte (Müller und Knieper 2005), zeigt einen Mann im weißen Hemd und eine Frau, die vor ihr Gesicht eine weiße Maske hält. Das weiße Hemd des Mannes und die blauen Handschuhe, die er trägt, sowie ein grünes Heft, das er in seiner linken Hand hält, deuten zunächst darauf hin, dass es sich hier um einen Sanitäter oder Rettungshelfer handelt. Dabei ist der Abgebildete ein damals 28-jähriger Computerfachmann, Paul Dadge, der sich spontan um die mit schweren Gesichtsverbrennungen verwundete Davinia Turrell kümmert. Rechts ist eine der zahlreichen Aufnahmen des LKW-Attentats in Nizza vom 14. Juli 2016 abgebildet. Unter der goldenen Notfalldecke wird ein totes kleines Mädchen vermutet, daneben ihre Puppe. Dieses Foto hat unter dem Publikum die größten emotionalen Reaktionen ausgelöst: „Im Netz wird das Foto vielfach geteilt und von entsetzten Usern kommentiert. ‚Von allen Bildern, die aus Nizza kamen, glaube ich‚ dass dieses am längsten in meinem Kopf bleiben wird‘, heißt es auf Twitter. ‚Das Bild hat mein Herz gebrochen. Ich bin Mutter von vier Kindern, eine Tochter ist im Ausland!! Wie können wir jemals sicher sein?‘, postete eine andere Userin. ‚Das Foto repräsentiert den willkürlichen Horror aus Nizza‘, heißt es weiter“ (RTL Online 2016). (Quellen: Foto links: Jose Huesca, dpa. https://www.onetz.de/deutsch land-und-die-welt-r/archiv/verletzte-am-bahnhof-atocha-bild-jose-huesca-dpa-m228234,1141884. html. Zugegriffen am 14.10.2018). Foto Mitte: o.A. https://i2-prod.walesonline.co.uk/incoming/arti cle9591324.ece/ALTERNATES/s615b/JS67536257.jpg. Zugegriffen am 14.10.2018. Foto rechts: Reuters. https://www.rferl.org/a/islamic-state-nice-france-european-jihadism/27866988.html. Zugegriffen am 14.10.2018

ebenfalls zentral für die Bedeutungszuweisung und damit die emotionale Bewertung und Reaktion sind. Für zukünftige Studien im Bereich der hoch emotionalen visuellen Terrorismusberichterstattung wäre folglich die Untersuchung der Text-BildVerhältnisse sowie der Text-Bild-Ton-Verhältnisse von ganz entscheidender Bedeutung. Mehrere umfangreiche Studien widmen sich der Frage, wie Nachrichtenbilder die Zuschauer und die Öffentlichkeit im Allgemeinen bewegen (Nacos 1994, 2016; Cohen 2001; Chouliaraki 2006; Altheide 2006; Haußecker 2007; Zelizer 2004, 2010; Linfield 2010; Gerhards und Schäfer 2014). Klonk (2017) hat eine umfassende kunsthistorische Studie zum Thema Terror vorgelegt, in welcher sie sich damit beschäftigt, was passiert, wenn Bilder zu Waffen werden. Dabei analysiert sie „Nahe Bilder“ von Bombenattentaten und Anschlägen sowie „Ferne Bilder“ von Geiselnahmen und Flugzeugentführungen, Täterbilder und den ethischen Umgang mit Terrorbildern. Klonk (2017, S. 11–12) stellt für den modernen Terror grundsätzlich fest: „Nicht der Gewaltakt an sich zählt, sondern die Bilder, die davon in Umlauf

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gebracht werden. (. . .) Je intensiver also die mediale Bildproduktion betrieben wird, desto größer ist auch zunächst der Erfolg der Täter.“ Auf Seiten der BetrachterInnen und ProsumentInnen entsteht ein Dilemma, das Klonk (2017, S. 12) als „Angstlust“ bezeichnet: „Aus Angstabwehr wird Schaulust“, oder, in Rückgriff auf Hans Magnus Enzensberger: „Wen der Terror der Bilder nicht zum Terroristen macht, den macht er zum Voyeur“. Dabei ist Terrorismus kein neues Phänomen. Über den deutschen Linksterrorismus der 1970er-Jahre und die Rote-Armee-Fraktion (RAF) ist viel publiziert worden, jedoch ist die Literatur zur visuellen journalistischen Berichterstattung und zur visuellen Terrorstrategie der RAF eher dünn gesät (Forster und Knieper 2008; Sachsse 2008; Klonk 2017). Sachsse (2008) bezeichnete die RAF als „Bildermaschine“ und meinte damit vor allem die prägenden Entführungsbilder und Geiselaufnahmen (Abb. 15). Zudem prägten die RAF-Fahndungsplakate das Straßenbild der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren.

5.2

Terrorpropaganda und visuelle Inszenierung

Terrorismus ist eine stark personalisierende Form der Gewalt, im Unterschied zu dem Massenphänomen Krieg. Sowohl die Täter als auch die Opfer sind im Vergleich zum Krieg kleiner an der Zahl und häufig individuell identifizierbar, wobei die tatsächlich Getöteten und Verwundeten meist nicht identisch mit der Zielgruppe des Anschlages sind, sondern pars pro toto symbolisch für eine andere Gruppe oder ein „System“ stehen (Tuman 2010 mit Bezug auf Schmid 1983). Bildkommunikation im Terrorismus hat eine ganz spezifische ProduzentInnengruppe – die TerroristInnen bzw. die Terrororganisation, die zunächst durch das

Abb. 15 Das linke Foto zeigt die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer durch die RAF am 5. September 1977. (Quelle: Spiegel Online 15.05.2013. http://www.spiegel.de/fotostrecke/ die-bedeutung-der-mercedes-s-klasse-fotostrecke-96715-3.html . Zugegriffen am 14.10.2018). Das rechte Foto zeigt die vorletzte Aufnahme der lebenden Geisel Hanns Martin Schleyer. (Quelle: AFP/Getty Images; pa/dpa, welt https://www.welt.de/img/geschichte/raf/mobile169393292/9561624587-ci23x 11-w960/RAF-0910.jpg . Zugegriffen am 14.10.2018).

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selbstgegebene Emblem und andere Insignien wie Logos oder Flaggen ihr eigenes Marken-Image definieren. Ihr politisches Manifest stellt ihren Markenkern dar. Terroristische Akte sind für sie ein Instrument der Markenführung. In gewisser Weise kann man von einem Marketing des Terrors sprechen, das an Zynismus nicht zu überbieten ist, wie im Folgenden gezeigt wird. Einige, insbesondere visuelle Stilmittel sind dabei aus der kriegerischen Kommunikation entlehnt und zielen auf die Zurschaustellung von Geiseln und damit die Inszenierung staatlicher Ohnmacht ab (Abb. 15). Bereits in den 1970er-Jahren waren die Printmedien und vor allem das Fernsehen entscheidend für die terroristische Kommunikationsstrategie. Ohne die Publikation der Entführungsopfer wäre der Druck auf die damalige Bundesregierung kaum so intensiv gewesen (Sachsse 2008). Die visuelle Inszenierung der medienwirksamen Terrorakte und ihrer Opfer gehört zum strategischen Kalkül der meisten Terrororganisationen und ist fester Bestandteil jeglicher Terrorpropaganda (Rieger et al. 2013; Dauber und Winkler 2014; Christoph 2015; Kiefer et al. 2016; Hatton und Nielsen 2016; Mahmood und Rane 2017; Oswald und Johann 2016, 2018). Das Bild ist insofern eine Waffe, die kalkulierter Teil des terroristischen Kampfes und der Verwundungsstrategie ist. Das Bild als Waffe – die Komposition der Terrortat als Bildakt (Bredekamp 2010) – kulminierte in den Al-Kaida-Attentaten vom 11. September 2001. Diese lösten auch eine intensive Beschäftigung in der Visuellen Kommunikationsforschung mit dem Verhältnis von Bild und Terror aus (Greenberg 2002; Beuthner et al. 2003; Buttler 2003; Beuthner und Weichert 2003; Kleinsteuber 2003; Powell und Abadi 2003; Kratzer und Kratzer 2003; Feldman 2005; Weichert 2008; Janzing 2008; Powell 2011). Der Fokus der meisten visuellen Terrorismus-Beiträge der jüngeren Zeit liegt auf dem islamistischen Terrorismus und damit auf Al Kaida und ihrer Folgeorganisation Daesch (Smith et al. 2015; Bernhardt 2016; Hatton und Nielsen 2016; O’Halloran et al. 2016; Euben 2017; Mahmood und Rane 2017; Rudner 2017; Tan et al. 2018). Winters (2015) detaillierte Analyse des Propaganda- und PR-Apparats – „The Virtual Caliphate“ – und Zelins (2015, 2016) Online-Archiv der Daesch Propaganda-Materialien haben die Grundlage für zahlreiche Folgestudien gelegt, die seit 2015 zu einem stetig wachsenden Publikationsoutput führen. Im speziellen wissenschaftlichen Fokus stehen dabei die von den Terroristen produzierten Videos (Rieger et al. 2013; Christoph 2015; Molin Friis 2015; Bernhardt 2016; Oswald und Johann 2016, 2018) sowie die Online-Magazine Dabiq (2014–2016) und Rumiyah (seit 2016) (Ingram 2016; Kibble 2016; Kiefer et al. 2016; Colas 2017; Droogan und Peattie 2017). Hier gibt es diverse methodische Ansätze, die vor allem auf eine Inhaltsanalyse der Terrorpropaganda abzielen. In einer aufwändigen MultimethodenUntersuchung versuchen Tan et al. (2018) die Kommunikationsstrategien von Daesch zu entschlüsseln und insbesondere die Rekontextualisierung der Propagandamaterialien des Online-Magazins Dabiq zu untersuchen, um geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen (Tan et al. 2018, S. 18). Zu diesem Zweck wurde eine „Reverse Image Search“ mithilfe eines eigens dafür erstellten Softwareprogramms – der Multimodal Analysis Visualisation Application (MMA Visualisation App) – durchgeführt. Im Ergebnis hat diese multimodale Diskursanalyse in Kombination mit Data Mining und Informationsvisualisierungsmethoden deutliche Hinweise auf spezifi-

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sche Bildtypen ergeben (Tan et al. 2018, S. 33). Einige Bildtypen tauchen mit leichter Zeitverzögerung auf, wie etwa bestimmte „Märtyrerdarstellungen“ nach Selbstmordattentaten. Andere Bildtypen haben die Funktion von stock photographs. Dazu gehören etwa bestimmte Kämpfer, die als „ISIS poster boys“ (Tan et al. 2018, S. 33) immer wieder in Erscheinung treten. Das zweite Ergebnis von Tan et al. (2018), unterstützt durch vorangegangene Forschung von O’Halloran et al. (2016), weist auf die entscheidende Rolle hin, die westliche Nachrichtenmedien bei der Verbreitung terroristischer Inhalte von Daesch spielen: „Western news plays a large role in the recirculation of violent extremist images. (. . .) [W]hen the images are interpreted in relations with the accompanying text in the news articles, they can have the unintended effect of inadvertently legitimizing ISIS’s values and agenda“ (Tan et al. 2018, S. 33).

Wie am Beispiel des Angriffs auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris am 7. Januar 2015 gezeigt wurde (Müller 2015; Gustafson und Kenix 2016; Tinnefeld und Knieper 2016), waren besonders die Fernsehnachrichten verleitet, das Propagandamaterial der Terroristen ungefiltert zu senden und sich dadurch instrumentalisieren zu lassen. Der erste, direkt nach der Tat gesendete Beitrag auf der CNN Europe Online-Seite, dauerte 30 3600 . Davon wurde mit einer zeitlichen Dauer von 20 2100 ein Propagandavideo beinahe unkommentiert ausgestrahlt und damit den Tätern Gelegenheit gegeben, ihre gewaltsamen und auf Angst und Schrecken ausgerichteten Botschaften zu verbreiten und ungefiltert an die CNN-Zuschauer zu vermitteln (Müller 2015). Noch schlimmer ist, dass im gesamten Beitrag lediglich neun Sekunden den Opfern des Attentats gewidmet wurden. Davon erfolgten wiederum sieben Sekunden im Täterframing. Besonders perfide an dem terroristischen Anschlag war, dass der getötete Redakteur Stéphane Charbonnier bereits vor dem Anschlag auf einem „Fahndungsplakat“ (Abb. 16) von Al Kaida als Feind des Islams ausgeschrieben wurde. Neben dem islamistischen Terror arbeitet auch der rechtsextreme Terrorismus in Deutschland mit Bildern. Die zehnjährige Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe (Abb. 17) blieb unentdeckt und bis zum Erscheinen dieses Beitrags sind die visuellen Kommunikationsprodukte des Trios allenfalls in Ansätzen wissenschaftlich untersucht. Dabei spielte sowohl die Online-Kommunikation allgemein als auch die Videopropaganda eine große Rolle. In aufwändig geschnittenen Videos, die die Trickfigur des Paulchen „Pink“ Panther nutzten, wurden die Opfer unter dem Titel „Paulchens neue Streiche“ verhöhnt. Das zweite Bekennervideo enthielt sogar Fotografien von der Bestattung der jungen Polizistin Michèle Kiesewetter, die vom NSU kaltblütig ermordet worden war (Abb. 17). Eine Aufgabe der Visuellen Kommunikationsforschung muss es sein, diese visuellen Botschaften von Terrororganisationen zu erkennen, zu analysieren und erfolgreich zu entschlüsseln. Nur so ist eine Entwicklung von Gegenstrategien möglich, die der Verbreitung der Angst entgegenwirken und das terroristische Ziel der Zerstörung liberaler Gesellschaften vereiteln.

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Abb. 16 Die islamkritischen Zeichnungen in Charlie Hebdo waren der Anlass, dass die islamistischen Brüder Kouachi die Redaktion verwüsteten und MitarbeiterInnen ermordeten, darunter die Zeichner Jean Cabut (Cabu), Georges Wolinski, Stéphane Charbonnier (Charb), Philippe Honoré und Bernard Verlhac (Tignous). Bereits im Frühjahr 2013 hatte das Online-Magazin Inspire, eine PR-Plattform von Al-Qaida, einen Steckbrief mit neun Personen veröffentlicht, worunter auch Charb (zweite Zeile, dritte Spalte), der Herausgeber von Charlie Hebdo, zu finden war. Das Wanted-Plakat mit der Aufforderung „Dead or alive for crimes against Islam“ forderte bereits zwei Jahre vor den Pariser Anschlägen zur Erschießung des Zeichners auf: „Yes We Can. A bullet a day keeps the infidel away. Defend Prophet Muhammad peace be upon him.“ (Tinnefeld und Knieper 2016). (Quelle: http://nymag.com/daily/intelligencer/2015/01/who-are-inspires-10-other-most-wan ted.html. Zugegriffen am 14.10.2018)

6

Fazit

Die Grenzen zwischen Kriegs- und Terrorbildern verschwimmen. Dies liegt auch daran, dass sich Terrortaten, kriegerische Auseinandersetzungen, Folter und andere gewaltsame Verstöße gegen die Menschenrechte vermischen und keine eindeutige Grenzziehung zwischen diesen Gewaltakten mehr möglich ist. Zugleich hat die globale Digitalisierung zu einer Verbreitung von vormals aufgrund professioneller journalistischer Ethik verhinderter Publikation entsetzlicher Bilder von Kriegs- und Terrorgräueln geführt. Dabei ist die Frage, wie diese Gräuelbilder und andere verstörende Bilddokumente tatsächlich auf Publika wirken, bislang kaum erforscht. Bildkommunikationsforschung zu Krieg und Terrorismus ist ein weites Forschungsfeld, das zunehmend an Relevanz gewinnt. Schnelle Ergebnisse sind jedoch nicht zu erwarten, da Bild- und Visuelle Kommunikationsforschung eine entsprechende Bildkompetenz und anspruchsvolle Methodenkenntnisse erfordern. Als

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Abb. 17 Das SPIEGEL-Titelbild vom 14. November 2011 macht unter dem Titel „Die Braune Armee Fraktion“ auf und zeigt die Porträts der NSU-TerroristInnen Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und Uwe Mundlos. Darunter ein Standbild eines NSU-Videos, das die Beerdigung der vom NSU getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter zeigt. (Quelle: https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/ image/title/SP/2011/46/300. Zugegriffen am 14.10.2018)

Maßnahmen für ein zukünftiges Forschungsfeld zur visuellen Kommunikation in Krieg und Terrorismus werden vorgeschlagen: • „Ent-Westlichung“ des visuellen Forschungsfokus mit einer kulturübergreifenden Forschungsperspektive • Internationaler Erfahrungsaustausch der (nationalen) Forschergruppen

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• Wirkungs- und Rezeptionsstudien zu visueller Kriegs- und Terrorismuskommunikation • Replizierbare Forschungsdesigns • Vermehrte interdisziplinäre Kollaborationen • Vergleichende visuelle Forschung sowohl hinsichtlich spezifischer Kriege und terroristischer Akte als auch hinsichtlich der ikonografischen Motivtraditionen • Internationale Kodifizierung von Bildethik in Krieg und Terrorismus Ziel sollte sein, zu kollaborativen Forschungsverbünden zu gelangen, in denen nicht nur der visuelle Kommunikationskreislauf (Müller et al. 2012) von der Produktion bis zur Rezeption visueller Produkte untersucht wird, sondern auch mit unterschiedlichen Sprach- und Kulturkompetenzen im Team gearbeitet wird. Die so entwickelten Forschungsdesigns sollten auf Replizierbarkeit angelegt sein und sowohl qualitative als auch quantitative Methoden elemente miteinander kombinieren. Bei der visuellen Kommunikationsforschung zum Thema Terrorismus gibt es einen eindeutigen Schwerpunkt: Jüngere Studien thematisieren vor allem die Terrorpropaganda von Daesch und hier insbesondere das Online-Propagandamagazin Dabiq, zu dem zahlreiche Studien vorliegen. Die visuellen Strategien historischer Terrorismusorganisationen wie etwa die deutsche Rote Armee Fraktion (RAF), die irische IRA, die spanische ETA oder die kolumbianische FARC sind weitgehend weiße Flecken auf der Landkarte der Visuellen Kommunikationsforschung. Ebenso untererforscht sind die visuellen Strategien rechtsextremer terroristischer Organisationen wie etwa der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der besonders aufwändige animierte Bekennervideos produziert hat. Bisweilen werden Bilder von Kriegen und Terror zur Berichterstattung über ein Ereignis von Publikum und Redaktionen akzeptiert, wenn sie die Ereignisse und die geschehenen Gräueltaten entsprechend dokumentarisch visualisieren. Einschränkend wird allerdings gefordert, dass Täter nicht heroisiert werden, die Menschenwürde der gezeigten Opfer gewahrt bleibt und sich das Zeigen von schockierenden Bildern nicht für Propagandazwecke durch die Kriegsparteien oder Terroristen instrumentalisieren lässt. Problematisch wird es spätestens dann, wenn entweder eine andauernde Konfrontation mit schockierenden Bildern zu Gewöhnungseffekten und einer damit einhergehenden unreflektierten Akzeptanz solcher Medieninhalte führt oder eine systematische Verängstigung oder gar Traumatisierung des Publikums durch die Bilder erfolgt (Knieper et al. 2017, S. 111). Als belastbare Entscheidungsgrundlage, wie über Terrortaten und Kriege berichtet werden darf, braucht es Forschung zur Rezeption und Wirkung von Kriegs- und Terrorbildern auf verschiedene Zuschauergruppen. Nur mit diesen Daten wird ein verantwortungsvoller und bildethisch belastbarer Umgang mit Verhaltensregeln in Krieg und Terrorismus für JournalistInnen und ProsumentInnen möglich. Verlässliche Erkenntnisse zu Rezeption und Wirkung von Kriegsund Terrorbildern sind zudem eine unerlässliche Grundlage für die Entwicklung effizienter Gegenstrategien, die die Werte liberaler Gesellschaften im Bild zu wahren wissen.

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Das Bild in der politischen Kommunikation Christian von Sikorski und Cornelia Brantner

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Bedeutung von Bildern für die politische Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Darstellungsebenen visueller Kommunikation und ihre Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Rolle von Bildern in der politischen Kommunikation aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Neben verschiedenen theoretischen Zugängen wird die generelle Relevanz der visuellen politischen Kommunikation verdeutlicht. Inhaltliche Aspekte sowie Wirkungen visueller Darstellungen politischer Akteure werden unter Rückgriff auf empirische Daten dargelegt, wobei drei Darstellungsebenen ( formale, personengebundene, inhaltliche Ebene) unterschieden werden. Die Bedeutung jeder Darstellungsebene wird zudem aus der Perspektive politischer und medialer Akteure sowie der RezipientInnen aufgezeigt und anhand von Beispielen aus der politischen Skandalforschung vertieft. Schlüsselwörter

Image Bites · Visuelles Framing · Darstellung politischer Akteure · Politische Skandale · Visuelle Politikberichterstattung

C. von Sikorski (*) Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik, Department für Psychologie, Universität Koblenz-Landau, Landau, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Brantner IWAF – Institut für Wissenskommunikation und angewandte Forschung, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_8

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C. von Sikorski und C. Brantner

Einleitung

ForscherInnen in ganz unterschiedlichen Disziplinen haben in den vergangenen Dekaden zu ergründen versucht, wie und über welche politischen Themen Medien berichten, ob dabei ausgewogen oder einseitig, unvoreingenommen oder voreingenommen berichtet wird und wie all dies auf MediennutzerInnen wirkt. Interessanterweise standen hierbei in der Regel textliche Informationen im Fokus. Dagegen wurden visuelle Informationen, deren Bedeutung für das Wissen über die Gesellschaft, über politische Prozesse sowie über politische Akteure in der bisherigen Forschung deutlich seltener berücksichtigt (siehe Barnhurst und Quinn 2012; Coleman und Wu 2015; Schill 2012). In den vergangenen Jahren haben sich WissenschaftlerInnen im Bereich der politischen Kommunikation aber zunehmend mit der Frage beschäftigt, welche Rolle Bilder für den politischen Kommunikationsprozess spielen (Schill 2012). Dabei ist jüngst vor allem eine Hinwendung zu einer integrativen Perspektive zu beobachten, die berücksichtigt, dass Bild und verbaler Text gemeinsam auftreten (Boomgaarden et al. 2016; Coleman und Wu 2015; Esser 2008; Jackob et al. 2011; Nagel et al. 2012; von Sikorski und Knoll 2018). Bucher (2012, siehe auch den Beitrag in diesem Band) spricht, in Anspielung an den „visual turn“ (Mitchell 1995), gar von einem „multimodalen turn“. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Bedeutung von Bildern auch in der politischen Kommunikation und im Politikjournalismus gestiegen ist (Coleman und Wu 2015; Lundell 2010; Nagel et al. 2012; Schill 2012). Des Weiteren wird ein Trend zu Personalisierung und Kandidatenzentrierung (Adam und Maier 2010), Emotionalisierung und Fokussierung auf Charaktereigenschaften zum Nachteil von politischen Inhalten festgestellt (siehe z. B. Bucy und Grabe 2007; Kim und McCombs 2007), d. h. ein Trend zu „personality over issue, style over substance“ (Coleman und Wu 2015, S. 93). In diesem Zusammenhang wird auch von „celebrity politics“ (van Zoonen 2006), Professionalisierung politischer Kommunikation (Schill 2012), Mediatisierung der Politik (Meyer 2001) und „Politainment“ (Brantner und Lobinger 2014) bzw. einer Vermischung von Populärkultur und politischen Diskursen gesprochen. Ebenso wird eine Zunahme an Maßnahmen festgestellt, die dem Impression und Image Management zugeordnet werden können. Hierbei handelt es sich um den Versuch politischer Akteure, im Rahmen der strategischen Kommunikation einen bestimmten Eindruck bei anderen Personen hervorzurufen (De Landtsheer et al. 2008). Dies führt auch zu Diagnosen, in denen Bilder regelrecht verdammt werden. Politik, so Meyer (2001), habe sich als Starsystem etabliert, in dem das Visuelle und visualisierbare Inszenierungen zentral werden: „Die Funktion symbolischer Inszenierung hat sich völlig geändert, und ihre Wirkmöglichkeiten haben sich in beispielloser Weise perfektioniert. Eine neue Qualität strategischer Kommunikation bürgert sich in der Mediendemokratie als publikumsfreundliche Unterhaltsamkeit ein“ (Meyer 2001, S. 117). Auf diese unzureichende Verkürzung und Problematisierung von Bildern und die damit einhergehende Vernachlässigung ihrer über die Unterhaltungsfunktion hinausgehenden Funktionen weisen Hofmann (2008) und Lobinger (2012) hin, denn so wird übersehen, dass Bilder auch Orientierung geben und der

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Komplexitätsreduktion sowie der Beobachtung und Kontrolle von Politik dienen können. Der vorliegende Beitrag untersucht die Bedeutung von Bildern (verstanden als statische Darstellungen sowie Bewegtbilder) in der politischen Kommunikation und konzentriert sich dabei vor allem auf Personendarstellungen, d. h. auf Bilder, die PolitikerInnen zeigen. Unter Rückgriff auf aktuelle empirische Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen wird ermittelt, welche Erkenntnisse zu Inhalten, der Nutzung und den Wirkungen visueller Kommunikate in der politischen Kommunikation vorliegen. Besonderes Augenmerk wird auf die visuelle Skandalberichterstattung gelegt, um hieran beispielhaft die unterschiedlichen Facetten der visuellen politischen Kommunikation aufzuzeigen. In einem ersten Schritt beleuchten wir, wie es zu der immer stärkeren Verbreitung und dem damit einhergehenden Bedeutungsgewinn der visuellen politischen Kommunikation kam. Darauffolgend wird die Bedeutung sogenannter Image Bites im Rahmen des politischen Kommunikationsprozesses erläutert. Weitergehend wird auf die Bereiche des Visual Framing und des Second-Level Agenda Setting eingegangen, also auf die visuelle Rahmung von Kommunikaten und die Bedeutung von Bildern bei der Setzung von Themenattributen. Darüber hinaus wird der Entstehungs-, Verbreitungs-, Nutzungs- und Wirkungsaspekt visueller Kommunikation diskutiert. Hierbei werden drei unterschiedliche Darstellungsebenen ( formale, personengebundene, inhaltliche Ebene) unterschieden, welche anhand von Beispielen aus der politischen Skandalforschung vertiefend verdeutlicht werden.

2

Die Bedeutung von Bildern für die politische Kommunikation

In früheren Zeiten besaß das gedruckte (bzw. verbal überlieferte) Wort eine Art Monopolstellung (Postman 1988). Visuelle politische Informationen stellten die Ausnahme dar oder waren gar nicht verfügbar. BürgerInnen waren somit darauf angewiesen, schriftliche Informationskanäle zu nutzen, um sich öffentliches Wissen anzueignen (Postman 1988, S. 79). Die Bedeutung von Bildern für die politische Kommunikation hat sich im Laufe der Zeit, insbesondere aber in den vergangenen Dekaden, rasant verändert. Grabe und Bucy (2009, S. 74) bezeichnen visuelle Kommunikate nun gar als „lingua franca of politics“, denn visuelle Darstellungen von politischen Akteuren sind heute allgegenwärtig. Visuelle Informationen sind heute zudem zeit- und ortsunabhängig (über mobile Endgeräte) auf OnlineNachrichtenportalen, über Suchmaschinen und in Sozialen Medien verfügbar. Bilder können außerdem problemlos innerhalb von Sekunden weltweit weiterverbreitet werden. Die immer stärkere Verbreitung von Bildern in der politischen Kommunikation geht auf drei zentrale, in Teilen miteinander verwobene Prozesse zurück: (1) den technischen Fortschritt in der Fotografie, (2) Innovationen im Druckwesen (ursprünglich ausgelöst durch das Aufkommen der penny press (Örnebring und Jönsson 2004) und der (späteren) Entstehung und Verbreitung neuer dominant

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visueller Medien; Film, TV, WWW) sowie (3) der starken Nachfrage seitens des Publikums nach (audio-)visuellen Inhalten. Es wurde somit einerseits immer kostengünstiger politisches Bildmaterial herzustellen und zu verbreiten (zuletzt insbesondere durch die Digitalisierung und das Internet, Heinrich 2010). Andererseits kam es insgesamt zu einer enormen Vereinfachung und Beschleunigung von Produktions- und Verbreitungsprozessen. Beispielsweise war es noch Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts in der Regel nur ausgebildeten FotografInnen mit teurem Spezialequipment möglich, publikationswürdiges Fotomaterial zu erstellen und zu verbreiten. Dagegen ist es heute fotografischen Laien technisch möglich, mit ein wenig Geschick und einem handelsüblichen Smartphone medientaugliches Fotomaterial (z. B. ein Bild von bzw. mit Angela Merkel) zu erstellen und dieses rasch und ohne nennenswerte ökonomische Kosten, online zu verbreiten. Diese Entwicklungen führten im zweiten Drittel des vergangenen Jahrhunderts zu einem grundsätzlich veränderten Status der visuellen Kommunikation, welcher oftmals als visual turn oder pictorial turn bezeichnet wird (Mitchell 1995), also einer Hinwendung zum Bildlichen. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, dass sich textliche und bildliche Kommunikation in grundlegender Weise voneinander unterscheiden und unterschiedlich verarbeitet werden (Eco 1975; Messaris 1994; Schierl 2001, siehe auch die Beiträge von Bucher und Pfurtscheller in diesem Band). Obwohl Bilder weder wahr noch falsch sind (Wittgenstein 1922, was aber nicht bedeutet, dass mit Bildern nicht die Unwahrheit kommuniziert bzw. „gelogen“ werden kann, siehe Haus der Geschichte der BRD 1998), wird Bildern von Betrachtenden in der Regel ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zugeschrieben (Messaris und Abraham 2001). „Seeing is (. . .) believing“ (Graber 1996, S. 87). Gemäß des picture superiority effect können Bilder besser und länger erinnert werden als textliche Informationen (Graber 1990; McBridge und Dosher 2002) und nehmen zudem bei der Vermittlung von „Wahrheit“ eine besondere Rolle ein, da sie enger mit ihr verbunden zu sein scheinen als andere Kommunikationsmodi (Messaris und Abraham 2001, S. 217). Bilder, so Doris Graber (1996, S. 85), eine Pionierin der visuellen politischen Kommunikationsforschung, können nicht nur besser emotional involvieren und erinnert werden als verbale Informationen, sie ermöglichen auch „a more comprehensive and error-free grasp of information“. Dabei werden Personendarstellungen, insbesondere politische Akteure im Close-up, in TV-Nachrichten von den RezipientInnen besser erinnert als andere Darstellungsobjekte, unter anderem deshalb, weil Personenbilder die BetrachterInnen emotional involvieren (Graber 1990). Dem picture superiority effect kommt besondere Bedeutung zu, wenn Bilder und Wörter nicht kongruent sind, also verschiedene Botschaften enthalten, denn, wie mehrere Studien zeigen (Gibson und Zillmann 2000; Richmond et al. 1991), erinnern RezipientInnen eher die Botschaften der Bilder (siehe jedoch einschränkend Boomgaarden et al. 2016; Coleman und Wu 2015). Durch die dargelegten Veränderungen hinsichtlich der Verbreitung von politischen Bildern und den Besonderheiten visueller Kommunikation ergeben sich bedeutsame Veränderungen bezüglich des Zusammenspiels zwischen textlichen

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und bildlichen Informationen in multimodalen Kommunikaten (Barnhurst und Quinn 2012; Coleman und Wu 2015; Geise und Baden 2015; Schill 2012; von Sikorski und Knoll 2018; von Sikorski und Ludwig 2018). Zwei bedeutsame Aspekte stellen hierbei die politische Berichterstattung in sogenannten Image Bites sowie das visuelle (Nachrichten-)Framing und Second-Level Agenda Setting dar. Die beiden Zugänge werden in den folgenden Abschnitten näher beleuchtet.

2.1

Politische Berichterstattung in Sound und Image Bites

Untersuchungen zeigen starke Veränderungen dahingehend, wie über Politik sowie politische Akteure verbal bzw. visuell berichtet wird. In diesem Zusammenhang ist es interessant, den Anteil von Sound Bites (Hallin 1992; Esser 2008), also von kurzen und prägnanten verbalen Zitaten oder Aussagen von PolitikernInnen, und sogenannten Image Bites (Bucy und Grabe 2007; Esser 2008), d. h. visuellen Darstellungen sowie kurzen Videoclips von politischen KandidatInnen, zu betrachten. Image Bites zeigen PolitikerInnen meist stumm im Bild, ohne dass diese zu Wort kommen, während andere auditive Geräusche eingespielt werden; zum Beispiel Erklärungen eines Kommentators bzw. „voice over“. Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts zeigt sich ein ständiger Rückgang der Länge von Sound Bites (Hallin 1992; Farnsworth und Lichter 2011) und eine Zunahme von Image Bites. So konnten Bucy und Grabe (2007) in ihrer Langzeitstudie zu vier US-Wahlen aufzeigen, dass der Anteil an Image Bites kontinuierlich stieg und zudem den größten Anteil in der Berichterstattung ausmachte. Auch in Deutschland (Schulz und Zeh 2010, S. 327) sowie weiteren Ländern wie Frankreich und den USA (Esser 2008) sind ähnliche Entwicklungen nachweisbar, wobei private Medienanbieter den stärksten Gebrauch von Image Bites machen (Sülflow und Esser 2014). Zusammenfassend zeigt sich, dass politische Akteure im TV zunehmend visuell präsent sind. Dagegen nimmt der Umfang verbaler Statements von PolitikerInnen kontinuierlich ab.

2.2

Visuelles Framing und Second-Level Agenda Setting

Ein Fokus der politischen Kommunikationsforschung liegt auf der Art und Weise der Darstellung von Themen und wie diese auf die RezipientInnen wirkt. Hierunter fallen theoretische Ansätze der News Bias-, Framing-, Second-Level Agenda Setting- (oftmals auch als Affective Agenda Setting oder Attribute Agenda Setting bezeichnet) und Priming-Forschung. Der folgende kurze Überblick über diese Ansätze legt den Fokus auf PolitikerInnen- bzw. Personendarstellungen aus Perspektive der visuellen politischen Kommunikationsforschung. Ein Großteil der kommunikationswissenschaftlichen Studien, die sich der visuellen Medienberichterstattung inhaltsanalytisch widmen, lassen sich der Framingforschung zuordnen (Coleman und Wu 2015). Generell können Frames als Deutungsrahmen bzw. Interpretationsmuster verstanden werden. Nach einer der

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meistzitierten Framing-Definitionen, die auch Bilder inkludiert, bestehen Frames aus vier Elementen, wobei aber nicht alle Elemente gleichzeitig in einem Medientext auftreten müssen: Framing meint, Entman zufolge, die Auswahl und Hervorhebung (Salienz) bestimmter Aspekte der wahrgenommenen Realität, die eine bestimmte Problemdefinition, Ursachenzuschreibung, moralische Bewertung und Handlungsempfehlung propagieren (Entman 1993, S. 52). Analysen, die sich der Art und Weise der visuellen PolitikerInnendarstellung widmen, untersuchen demnach auch visuelles Framing von Personen. Inhaltsanalysen visueller oder multimodaler Berichterstattung über PolitikerInnen werden insofern als Framing Studien eingeordnet, als sie das affective framing (Coleman und Banning 2006) oder valence framing (Boomgaarden et al. 2016) der Medien analysieren. Hier wird nicht nur untersucht, welche Akteure wie häufig in der visuellen Berichterstattung vorkommen, sondern auch, ob die auf der Darstellungsebene interessierenden Kategorien (wie affektive Aspekte, z. B. Gesichtsausdruck, Gestik) positiv, negativ oder neutral sind. Insofern wird nicht nur der Dimension der Salienz, sondern auch der Bewertung Rechnung getragen. Bei anderen AutorInnen firmiert dies unter den Konzepten des (visual) news bias (Barrett und Barrington 2005; Grabe und Bucy 2009; Kepplinger 1982) oder der visuellen medialen Attribute Agenda bzw. Affekt Agenda (Coleman 2010; Coleman und Wu 2015). Die Effekte-Perspektive untersucht entsprechend, welche Einflüsse sich durch visuelle Frames bzw. visuelle Attribute auf RezipientInnen ergeben. In Bezug auf Personendarstellungen wird vor allem analysiert, wie sich die visuellen Attribute der Medienagenda (bzw. der visuelle Nachrichtenbias oder das visuelle Valenz-Framing) auf die Bewertung der Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften und/oder auf affektive Eindrücke und Emotionen auswirken. Dies ist Gegenstand der SecondLevel Agenda Setting-Forschung (Coleman und Banning 2006; Coleman und Wu 2015); bei manchen AutorInnen wird dies auch als visueller Framing-Effekt behandelt (Boomgaarden et al. 2016). Eine trennscharfe Unterscheidung der beiden Ansätze ist nicht möglich. Beide Perspektiven befassen sich mit der Frage, wie medial hervorgehobene Realitätsausschnitte, also Frames oder Attribute, auf das Bewusstsein der RezipientInnen übertragen werden.1 Eine Annahme ist, dass der Konsum vorteilhafter (nicht-vorteilhafter) PolitikerInnenbilder die Salienz vorteilhafter (nicht-vorteilhafter) Informationen über diese/n PolitikerIn im Bewusstsein der RezipientInnen erhöht. Die Priming-Forschung befasst sich beispielsweise damit, wie dieser Salienztransfer die Wahlentscheidung von MediennutzerInnen beeinflusst. Olivola und Todorov (2010, S. 105) kommen auf Basis ihrer Literaturschau zu dem Schluss: „Indeed, the literature (. . .) provides strong evidence that much voting seems to be driven, at least in part, by the images that politicians project (even unwittingly).“

1

Auf die Diskussion zur Unterscheidung von Frames und Attributen kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, siehe dazu Levin et al. (2002).

Das Bild in der politischen Kommunikation

2.3

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Akteure im Kommunikationsprozess

Ähnlich wie in der politischen Kommunikation insgesamt, spielen im Kontext der visuellen politischen Kommunikation drei zentrale Akteursgruppen eine besondere Rolle. Erstens, PolitikerInnen bzw. politische Parteien, zweitens, JournalistInnen bzw. Medien und drittens, MediennutzerInnen. • Politische Akteure sind in der Regel daran interessiert, dass JournalistInnen/ Medien in der Öffentlichkeit ein (möglichst) positives Bild von ihnen, ihrer Person und ihren politischen Handlungen verbreiten. Die oben dargestellten medialen und technischen Innovationen führten zu einer „neuen Sichtbarkeit“ politischer Akteure und ihrer Handlungen (Thompson 2000). Hierdurch ergeben sich ganz neue Möglichkeiten der Personalisierung (Adam und Maier 2010), der visuell basierten Emotionalisierung (Grabe und Bucy 2009) und der Nutzung visueller Kommunikationsformen zur Imageverbesserung für PolitikerInnen. Der strategische Einsatz visueller Informationen, so das Kalkül, soll reputationsfördernd wirken und KandidatInnen bei der Stimmengewinnung unterstützen. Thompson (2000) weist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass die öffentliche Verfügbarkeit spezifischer visueller Informationen in Widerspruch zu expliziten Aussagen von politischen Akteuren geraten und zu politischen Skandalen führen kann. Hierdurch kann eine ernst zu nehmende Gefahr für politische Akteure entstehen (neben Reputationsverlusten droht auch der Verlust eines politischen Amtes). Als Beispiel kann hier der Fall des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Rudolf Scharping angeführt werden, der sich mit seiner damaligen Lebensgefährtin in einem Swimming-Pool auf Mallorca fotografieren ließ, während die deutsche Bundeswehr vor einem bedeutsamen Auslandseinsatz stand. Das Bildmaterial, welches exklusiv in der Zeitschrift „Bunte“ publiziert wurde und offensichtlich der Imageschärfung des Politikers dienen sollte, löste die sogenannte „Swimming-Pool-Affäre“ bzw. „Mallorca-Affäre“ aus; Scharping verlor später sein Amt (Gebauer und Schult 2001). Dieses Beispiel verweist auch darauf, dass vermeintlich image-verbessernde „photo opportunities“ sich gleichfalls negativ auswirken können und Bilder nicht zuletzt aufgrund ihrer Kontextabhängigkeit (siehe auch den Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band) und ihrer Polysemie anders interpretiert werden können als intendiert. • JournalistInnen versuchen wiederum – so die Idealvorstellung – in Form eines Watchdog-Journalismus (z. B. Strömbäck 2005), politische Akteure und deren Verhalten in einer kritischen Weise zu hinterfragen, einzuordnen und der Öffentlichkeit ein ausgewogenes Bild politischer Prozesse darzubieten. Visuelle Berichterstattung kann hierbei einen komplementären Kommunikationskanal darstellen (Schierl 2001), der in Kombination mit textlichen Informationen dabei hilft, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen, aber auch politische Emotionen, Situationen, spezifische Konfigurationen (mit wem tritt eine PolitikerIn öffentlich auf?) usw. darzustellen. Bestimmte Formen der visuellen Berichterstattung können dabei jedoch (bewusst intendiert bzw. unbewusst) dazu führen,

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dass die Ausgewogenheit der Berichterstattung Verletzungen erfährt, was in der Folge negative Konsequenzen für die Wahrnehmung und Beurteilung politischer Akteure hat. In der Literatur wird dies als visual bias, also eine Form der Parteilichkeit in der visuellen Berichterstattung bezeichnet (Grabe und Bucy 2009; siehe Abschn. 2.2). • Insbesondere in politischen Kontroversen, Krisen oder im Rahmen der visuellen Skandalberichterstattung können Bilder eine bedeutsame Wirkung haben (Graber 1990). Insbesondere dann, wenn explizit (textlich) dargestellte Sachverhalte noch unklar sind, z. B. der Vorwurf einer Normüberschreitung in einem Skandalfall, und nicht eindeutig geklärt ist, welche Rolle politische Akteure darin spielen bzw. gespielt haben (Ben-Porath und Shaker 2010; von Sikorski und Ludwig 2018). Im Rahmen von politischen Meinungsbildungsprozessen stellen Bilder somit eine wichtige Informationsquelle für RezipientInnen dar (Barnhurst und Quinn 2012; Graber 1990). Visuelle Informationen leiten den Blick (Garcia und Stark 1991), helfen bei der Informationsselektion (Lin et al. 2005) und unterstützen das Verständnis (Barry 1997; Schierl 2001). Fotografien können für PolitikerInnen wichtige Personeneigenschaften wie Ehrlichkeit, Intelligenz, Aufrichtigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Freundlichkeit und Führungsstärke vermitteln und diese Qualitäten können eine wichtige Rolle spielen, wenn das Elektorat PolitikerInnen bewertet (Lobinger und Brantner 2015). Die drei genannten Akteursgruppen und deren Zusammenspiel können somit im Kontext der visuellen Kommunikation als bedeutsam erachtet werden. In den folgenden Abschnitten wird daher der Entstehungs-, Verbreitungs-, Nutzungs- und Wirkungsaspekt visueller Kommunikation unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Akteursperspektiven näher beleuchtet.

3

Darstellungsebenen visueller Kommunikation und ihre Auswirkungen

Im Folgenden werden drei Darstellungsebenen unterschieden: 1) Die formale, 2) die personengebundene und 3) die inhaltliche Darstellungsebene. Zudem werden jeweils die oben genannten Akteursgruppen berücksichtigt; die Darstellungsebenen werden also aus Perspektive politischer und medialer Akteure sowie jener der RezipientInnen betrachtet. Weitergehend wird die Bedeutung jeder Darstellungsebene anhand von Beispielen aus der politischen Skandalforschung vertieft.

3.1

Formale Darstellungsebene

In Anlehnung an vorherige Systematisierungen im Bereich der Visuellen Kommunikationsforschung beschreibt die formale Darstellungsebene von visuellen Repräsentationen das Resultat aller Prozesse und Entscheidungen, „die sich auf die technische Produktion und Abbildung von [politischen Bildern bzw.] Nachrichten-

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bildern beziehen“ (von Sikorski und Ludwig 2016, S. 195, siehe auch den Beitrag zu journalistischen Bildern von Grittmann in diesem Band). Demnach bezieht sich die formale Darstellungsebene auf alle (bewussten und unbewussten) Entscheidungen und Einflussnahmen, welche in der pre-production sowie der post-production getroffen werden (Schierl 2003). Den oben thematisierten Akteursgruppen (PolitikerInnen, Medienschaffenden, RezipientInnen) kommen in diesem Prozess an unterschiedlichen Stellen unterschiedliche (von spezifischen Interessen geleitete) Rollen zu. • Perspektive politischer Akteure. Politische Akteure haben in der Regel ein großes Interesse daran, zu reglementieren, welche Bilder von ihnen in Umlauf gelangen, um hierdurch ihr öffentliches Image positiv zu beeinflussen und zu kontrollieren (Coleman und Wu 2015; Wanta 1988). Im Zuge des Impression Management können PolitikerInnen und ihre Kommunikationsteams zwar nicht die redaktionellen Entscheidungen kontrollieren, jedoch beeinflussen, welche Bilder die Medien von Events machen können (Schill 2012). Des Weiteren können PolitikerInnen eigenständig beauftragtes Fotomaterial in Umlauf bringen bzw. in Form einer systematischen PR-Strategie an JournalistInnen übermitteln (Fellner 2016), in der Hoffnung, dass letztere auf diese Bilder in ihrer Berichterstattung zurückgreifen. Ergebnisse zeigen in diesem Zusammenhang, dass JournalistInnen (insbesondere kleinerer Medienorganisationen) in einem sich zunehmend beschleunigenden journalistischen Produktionsprozess und einem schärfer werdenden Wettbewerb regelmäßig Bildmaterial nutzen, das durch politische Akteure und ihre PR-Teams erstellt wurde (Marland 2012). Politische Akteure und ihre Beraterteams versuchen außerdem oftmals, Einfluss auf Bilder zu nehmen, bevor diese überhaupt entstehen. Beispielsweise werden bestimmte symbolträchtige Orte, Anlässe, aber auch der spezifische Winkel aus dem Bilder entstehen, vorgegeben und kontrolliert. So wählen PolitikerInnen den Anlass eines öffentlichen Auftritts gezielt aus, um sich (visuell) zu inszenieren. Offizielle Einweihungen von bedeutenden Bauwerken, Kulturveranstaltungen, etc. können so beispielsweise als positiv-konnotierter Kontext für Nachrichtenbilder genutzt werden. Solche PolitikerInnenauftritte können als Akte der „symbolischen Politik“ (Schicha 2007) bezeichnet werden. Wie Bernhardt (2016) am Beispiel des damaligen österreichischen Bundeskanzlers Christian Kern (SPÖ) und der Einweihung des Gotthard-Basistunnels in der Schweiz aufzeigt, können PolitikerInnen durch die Nutzung eigener FotografInnen eine Art „Win-Win-Situation“ erzeugen und zugleich das öffentliche Image (im Heimatland) in strategischer Weise durch den Einsatz von Techniken des Visibility bzw. Impression Management positiv beeinflussen. Kern inszenierte sich demnach im Rahmen internationaler Top-Politiker als Staatsmann im Kontext der erfolgreichen Fertigstellung eines „Jahrhundertprojektes“. Für Medien ergab sich der (vermeintliche) Gewinn wiederum dadurch, dass ihnen hochwertiges Bildmaterial zur Verfügung gestellt wurde und keine eigenen FotografInnen entsandt werden mussten. Zudem können Medienorganisationen hierbei oftmals auf visuelles Material zurückgreifen, das in Situationen entstanden ist, in welchen FotojournalistInnen keinen entsprechenden Zugang („Backstage-Situationen“) hatten.

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PolitikerInnen und ihre Teams können außerdem durch spezifische Vorgaben Einfluss darauf nehmen, aus welchem Winkel und Abstand FotojournalistInnen (z. B. bei Pressekonferenzen, -terminen) Bilder erstellen. Hierdurch können unvorteilhafte Motive vermieden werden. Der Fotograf Konrad R. Müller (der bisher alle deutschen KanzlerInnen seit Adenauer portraitierte) bezeichnete Angela Merkel in diesem Zusammenhang als unglaublichen „Kontrollfreak“ (Hoffmann et al. 2017, Abs. 1). Demnach würde Merkel bei Fototerminen bereits vor Entstehung eines Bildes versuchen, auf sämtliche Aspekte (Position, Abstände, Hintergrund, Licht usw.) Einfluss zu nehmen, um ein optimales „öffentliches Bild“ von sich zu erhalten. Darüber hinaus nutzen Parteien, PolitikerInnen und ihre PR-StrategInnen neben klassischen PR- und Werbeinstrumenten (z. B. Presseaussendungen, TV-Spots, Plakate, Werbeanzeigen) zunehmend ihre eigenen Online-Kanäle und insbesondere Soziale Medien wie Facebook, Twitter, Instagram oder YouTube zur Verbreitung eigener (visueller) Inhalte zum Zwecke des Impression Management (Bernhardt 2016; Filimonov et al. 2016). So können die Filter der journalistischen Massenmedien gänzlich umgangen und die BürgerInnen direkt mit eigenen Bildern erreicht werden und dies – verglichen mit herkömmlichen direkten Werbestrategien – mit relativ geringen finanziellen Kosten. • Perspektive medialer Akteure. Mediale Akteure treffen (bewusst/unbewusst) zu gleich zwei zentralen Zeitpunkten im Entstehungs- und Darstellungsprozess visueller Kommunikate bedeutsame Entscheidungen (Glassman und Kenney 1994). In der pre-production müssen ähnliche Entscheidungen wie auf Seiten der politischen Akteure getroffen werden. Welcher Anlass wird abgelichtet (z. B. Pressekonferenz; eine Politikerin verlässt ein Gebäude, erscheint an einem Ort, zeigt sich bei Verhandlungen mit anderen PolitikerInnen), welche(s) Kamera/ Objektiv/Belichtungszeit wird gewählt, aus welchem Winkel wird fotografiert (aufsichtig, untersichtig, seitlich, frontal usw.) und aus welcher Distanz (z. B. Nahdistanz)? Diese journalistischen Entscheidungen werden implizit bzw. explizit in Zusammenspiel mit den oben beschriebenen Voraussetzungen („vorgegebenen Regeln/Wünschen“) der politischen Akteure selbst getroffen. JournalistInnen ist in diesem Zusammenhang bewusst, dass sie dazu beitragen können, eine/n PolitikerIn in eher positiver bzw. eher negativer Weise abzulichten. Deswegen bezeichnet Kepplinger (1982, 2010) die visuellen Repräsentationsstrategien der Kameraperspektiven- und Bildauswahl auch als „optische Kommentierung“. Empirische Daten zeigen, dass spezifische politische Voreinstellungen von JournalistInnen und die politische Ausrichtung eines spezifischen Mediums eine relevante Rolle im Zuge dieser Entscheidungen spielen. Sind sich die Blattlinie sowie die politischen Positionen von PolitikerInnen ähnlich, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese visuell vorteilhaft dargestellt werden (Barrett und Barrington 2005). JournalistInnen treffen darüber hinaus bedeutsame Entscheidungen in der post-production. Beispielsweise müssen verschiedene Selektionsentscheidungen getroffen werden (z. B. welches Bild einer Fotoserie wird verwendet, bzw., wenn keine medieneigenen Bilder vorliegen, auf welche PR-, Agentur- oder Stock-Fotografien wird zurückgegriffen). Insbesondere in Zeiten der Digitalfotografie können zudem mit einem relativ geringen Aufwand zahlrei-

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che Anpassungen bzw. Änderungen in der post-production vorgenommen werden (z. B. Farbgebung, Bildausschnitt, unterschiedliche Formen der Bildretusche). Solche Bildmanipulationen werfen auch Fragen der journalistischen Ethik (siehe den Beitrag von Godulla in diesem Band) und der Authentizität (siehe den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band) auf. • Effekte auf MediennutzerInnen. Studien zeigen, dass bestimmte Aspekte, die der formalen Darstellungsebene zuzuordnen sind, auf der Seite der RezipientInnen bedeutsame Beeinflussungen hervorrufen können. Beispielsweise zeigen Untersuchungen zu Effekten des gewählten Kamerawinkels auf Beurteilungsprozesse von MediennutzerInnen (z. B. Kepplinger 1982; Kraft 1987; Schulz 2011), dass eine leicht aufsichtige Darstellung von Akteuren, bei der die Betrachtenden zum dargestelltem Akteur aufblicken, dazu führt, dass dieser eher als bedeutend, mächtig, groß, furchtlos und stark wahrgenommen wird. Im Gegenteil führt eine Draufsicht (Rezipierende blicken auf dargestellten Akteur herab) eher dazu, dass ein Akteur als klein, schwach und unterlegen wahrgenommen wird (siehe auch Barnhurst und Quinn 2012). Ergebnisse zur Einstellungsgröße zeigen außerdem, dass Akteure (ähnlich wie in realen Interaktionssituationen zwischen anwesenden Personen) dann positiver beurteilt werden, wenn diese in Naheinstellungen (close-up) dargestellt werden, wobei sehr extreme Naheinstellungen wiederum zu eher negativen Beurteilungen führen können (Bucy und Newhagen 1999; Kepplinger 1982). Zu „face-ism“ und den Wirkungen kopfbetonter bzw. körperbetonter Darstellungen siehe Abschn. 3.2. Bedeutsam sind zudem Licht und Farbgebung (Lobinger und Brantner 2015, 2016; Messaris und Abraham 2001; Verser und Wicks 2006; von Sikorski 2018). Beispielsweise kann ein Bild mit einem hellen Bildhintergrund dazu führen, dass ein politischer Akteur positiver wahrgenommen wird (von Sikorski 2018). Die formale Darstellungsebene in der visuellen Skandalberichterstattung Die Darstellung der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zeigt exemplarisch auf, wie JournalistInnen dieselbe politische Veranstaltung auf unterschiedliche Weise darstellen können. Geht man davon aus, dass die Bilder in Abb. 1 in der post-production nicht in grundsätzlicher Weise verändert (retuschiert) wurden, zeigt sich der Einfluss spezifischer Entscheidungen in der pre-production. Während die Bilder 1, 3 und 5 Clinton im Rahmen unterschiedlicher Anhörungen im Zuge des sogenannten „Benghazi-Skandals“ mit einem eher hellen Bildhintergrund zeigen, unterscheiden sich die Darstellungen 2, 4 und 6 in Hinsicht auf den Bildhintergrund deutlich. Durch ein entsprechendes „fototechnisches“ Vorgehen zeigen diese Bilder Clinton in einer sehr ähnlichen Weise (während der identischen Anhörungen), jedoch vor einem dunklen Bildhintergrund. Dieses Vorgehen kann somit als eine fotojournalistische Entscheidung (neben weiteren wie z. B. dem gewählten Kamerawinkel) hinsichtlich der formalen Darstellungsebene angesehen werden. In einer aktuellen Studie wurden die Einflüsse von hellen bzw. dunklen Bildhintergründen, die als relevante visuelle Hinweisreize (visual cues) konzeptualisiert wurden, experimentell untersucht: Während ein Bild mit hellem Hintergrund zu positiveren Beurteilungen eines textlich skandalisierten Politikers führte, forderten

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Abb. 1 Die visuelle Darstellung der „House Select Committee“-Anhörungen im Rahmen des sogenannten „Benghazi-Skandal“ der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton (2016). Die Bilder (B) 1–4 sowie 5–6 stammen jeweils aus identischen Anhörungen. (Bildquellen B1/B3: Saul Loeb/ AFP/Getty Images, B2: Chip Somodevilla/Getty Images, B4: Jonathan Ernst/Reuters, B5: AFP/Getty Images, B6: Pablo Martinez Monsivais/AP Photo)

die RezipientInnen bei dunklem Hintergrund im gleichen Bild eine härtere Bestrafung für den Politiker (von Sikorski 2018). Vermeintlich geringfügig abweichende Entscheidungen im visuellen Produktionsprozess können somit bei MediennutzerInnen unabhängig von textlichen Informationen zu durchaus relevanten Beeinflussungen führen.

3.2

Personengebunde Darstellungsebene

Die personengebundene Darstellungsebene bezieht sich auf alle nonverbalen Darbietungen von politischen Akteuren in visuellen Repräsentationen (von Sikorski und Ludwig 2016). • Perspektive politischer Akteure. Wie erwähnt setzen PolitikerInnen bzw. ihre Kommunikationsteams zur Kontrolle medialer Repräsentationen Strategien des Impression Management ein. Dies kann unter anderem den bewussten Einsatz von Körperhaltung und Gesten sowie eine strategische Kleidungsauswahl umfassen (De Landtsheer et al. 2008; Lobinger und Brantner 2016). Zunächst versuchen politische Akteure in der Regel, ihre Mimik und Gestik möglichst optimal einzusetzen, da Untersuchungen zeigen, dass das nonverbale Verhalten politischer Akteure Wahrnehmungsprozesse von RezipientInnen systematisch beeinflussen kann (Coleman und Banning 2006; Coleman und Wu 2015). PolitikerInnen erhalten oftmals umfangreiche Schulungen und Beratungen, um ihr individuelles nonverbales Verhalten zu optimieren und strategisch einzusetzen. Als gutes Beispiel dient hier Angela Merkel. Wie Maurer (2016) aufzeigt, erhielt die Kanzlerin vor der Bundestagswahl 2005 eine intensive Beratung, die auf die Optimierung ihrer Körpersprache, aber auch ihres Kleidungsstils und ihrer Frisur

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abzielte. So arbeitete sie beispielsweise an ihrer Körpersprache, für die sie davor oft verspottet wurde. „Das wohl berühmteste Resultat dieses Trainings ist die so genannte Merkel-Raute: Bei öffentlichen Auftritten bilden die beiden Hände der Kanzlerin vor dem Körper oft eine Art Raute, um Hände und Arme zu stabilisieren“ (Maurer 2016, S. 34). • Perspektive medialer Akteure. Auch wenn politische Akteure ihr nonverbales Verhalten in einer professionellen Form einsetzen und optimieren, ist eine hundertprozentige Kontrolle mimischer und gestischer Darbietungen nahezu unmöglich. Beispielsweise können kurze mimische Darbietungen („Verdrehen“ der Augen, Pressen oder Schürzen der Lippen) in der Regel nicht dauerhaft kontrolliert werden. Durch eine spezifische Auswahl von Bildern oder die Selektion spezifischer Bildausschnitte können JournalistInnen Informationen auf der personengebundenen Darstellungsebene beeinflussen (Kepplinger 2010). • Effekte auf MediennutzerInnen. Zahlreiche Studien haben untersucht, wie sich spezifische nonverbale Verhaltensweisen auf Beurteilungsprozesse bei MediennutzerInnen auswirken (z. B. Bucy 2000; Bucy und Newhagen 1999; Coleman und Banning 2006; Coleman und Wu 2015; Todorov et al. 2005). So hat etwa der dargebotene Gesichtsausdruck (facial display) einen starken Einfluss darauf, wie RezipientInnen politische Akteure wahrnehmen und beurteilen. Jedoch ist nicht nur die Valenz (positiv versus negativ), sondern auch die „Angemessenheit“ einer emotionalen Reaktion in einem bestimmten politischen Kontext von Bedeutung (Bucy 2000). Beurteilen MediennutzerInnen die Reaktion eines politischen Akteurs als unangemessen, hat dies Konsequenzen hinsichtlich der Beurteilung des Akteurs. Todorov et al. (2005) zeigten darüber hinaus, dass es NutzerInnen innerhalb einer Sekunde möglich ist, die Kompetenz von politischen Akteuren einzuschätzen. Diese Kompetenzeinschätzungen, welche die UntersuchungsteilnehmerInnen ausschließlich auf der Basis von Bildern ihnen unbekannter Kandidaten vornahmen, konnten zur Vorhersage von Wahlergebnissen genutzt werden. Das heißt, dass die visuell wahrgenommene Kompetenz politischer Akteure einen Einfluss auf das tatsächliche Wahlverhalten von Personen hat. Hart (1999, S. 34) konstatiert in diesem Zusammenhang pointiert „television turns faces into arguments“. Empirische Ergebnisse sprechen dafür, dass visuelle Hinweisreize besonders dann ausschlaggebend für Einstellungen der RezipientInnen sind, wenn letztere über keine bzw. wenige andere Informationen über PolitikerInnen verfügen. Wie oben anhand des Picture Superiority Effekt verdeutlicht, wird bei einer Inkongruenz von Bild und Text eher die visuelle Botschaft erinnert (Gibson und Zillmann 2000; Richmond et al. 1991). Neuere Studien konnten jedoch keine Bildüberlegenheitseffekte bei inkongruenten multimodalen Botschaften über politische KandidatInnen feststellen: In ihrer richtungsweisenden Studie haben Coleman und Wu (2015) anhand mehrerer US-amerikanischer Wahlen SecondLevel Agenda Setting-Effekte von Nachrichtenberichterstattung über Präsidentschaftskandidaten im TV und in Tageszeitungen getestet und erstmals umfassend Bilder und verbale Texte berücksichtigt. Dazu kombinierten die AutorInnen Inhaltsanalysen mit Befragungsdaten. Die Bildberichterstattung über Kandidaten

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war positiver als die (eher neutrale) Textberichterstattung, die Modi waren also inkongruent. Sie konnten zwar keine Bildüberlegenheitseffekte bei inkongruenten Botschaften nachweisen, jedoch konnten sie bestätigen, dass Politikerbilder alleine affektive Effekte haben können und, die Vermittlung von affektiven Informationen betreffend, dass visuelle Informationen über die Persönlichkeit von KandidatInnen effektiver sind als verbale. Boomgaarden et al. (2016) haben in ihrem Experiment die Effekte von Fotografien und Artikeltexten auf die Einschätzung der Kompetenz und Integrität politischer KandidatInnen getestet. Für die Analyse der Effekte von ValenzFraming2 politischer KandidatInnen wurden verschiedene Kombinationen von vorteilhaften und unvorteilhaften Bildern und Texten eingesetzt. Auch diese Studie fand Bild-, jedoch keine Bildüberlegenheitseffekte. So wurde die Integrität der KandidatInnen bei vorteilhaften Bildern signifikant höher eingeschätzt, jedoch trat auch hier bei inkongruenten Botschaften kein Picture Superiority Effekt auf. Die dargelegten Studien sowie weitere Experimente (Jackob et al. 2011) und Laborstudien (Nagel et al. 2012), die ebenfalls mehrere Modi berücksichtigen, sprechen insgesamt für eine Überschätzung der Effekte von nonverbalen Informationen in multimodalen Botschaften. So fanden Nagel et al. (2012), dass die unmittelbaren Reaktionen auf KandidatInnen hauptsächlich von deren verbaler Kommunikation beeinflusst sind. Die spezifische Rezeptionssituation in diesen Studien könnte aber zu einer Aktivierung der zentralen Route bei der Informationsverarbeitung geführt haben. Gemäß dem Elaboration Likelihood Modell (Petty und Cacioppo 1986, siehe auch den Beitrag von Mayrhofer et al. in diesem Band) hat visuelle Information jedoch dann mehr Einfluss auf Einstellungseffekte, wenn bei der Verarbeitung die periphere (automatische und instinktive) Route anstatt der zentralen Route aktiviert ist. Dafür spricht auch eine weitere Studie, in der US-amerikanische Wahlkampfdebatten im TV analysiert und dabei methodisch innovative Wege beschritten wurden. Shah et al. (2016) kodierten das nonverbale und verbale Verhalten der Kandidaten Mitt Romney und Barack Obama und analysierten die „SecondScreening“- Kommunikation von Twitter-NutzerInnen. Gemäß ihren Regressionsmodellen waren Mimik, Gestik und Blinkrate der Kandidaten konsistente und signifikante Prädiktoren für das Volumen und die Valenz der Twitter-Reaktionen während der Debatten. Die visuellen Elemente der Botschaften standen zwar in Konkurrenz zu Memes der Kandidaten (besonders prägnante Aussagen bzw. Sound Bites, wie Romneys Statement „I love teachers“, die dann weiterverbreitet wurden), waren aber stärker als die rhetorischen Strategien und der Sprachton. Geschlechterfragen wurden in Wirkungsstudien bislang nur selten berücksichtigt, die vorliegenden Inhaltsanalysen bestätigen aber einen Gender Bias in der visuellen Politikberichterstattung. Beispielsweise werden gemäß dem „face-ism“

Die Studie von Coleman und Wu (2015) firmiert unter Second-Level Agenda Setting, beide Forscherteams verwenden aber eine vergleichbare Operationalisierung der interessierenden Variablen.

2

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Bias, einem Index, der das Verhältnis des Gesichts zum gesamten sichtbaren Körper widerspiegelt, Politikerinnen in einem anderen „Face-Body“-Verhältnis dargestellt (siehe formale Darstellungsebene) als Politiker. Männerköpfe werden also prominenter dargestellt, während bei Frauen mehr Körperanteile gezeigt werden (zu „face-ism“ siehe Archer et al. 1983; Konrath und Schwarz 2007). In Experimenten führte eine kopfbetonte Darstellung zu höheren Werten bei der Einschätzung von „agentischen“ Merkmalen (z. B. Intelligenz, Ambition, Dominanz, Durchsetzungskraft). Umgekehrt führte eine körperbetontere Darstellung zu höheren Werten bei der Einschätzung der Kommunalität (warm, mitfühlend, sympathisch) (Archer et al. 1983; Levesque und Lowe 1999). Die stereotypen Darstellungen führen also auch zu stereotypen Bewertungen. Allerdings lassen sich auch in den Wirkungen von visuellen Repräsentationen Genderaspekte feststellen. Die Analysen der personengebundene Darstellungsebene von Laustsen und Petersen (2016) haben etwa gezeigt, dass WählerInnen Politikerinnen dann bevorzugen, wenn sie einen nicht-dominanten Gesichtsausdruck zeigen. Und Everitt et al. (2016) fanden in ihrem Experiment, dass Kandidatinnen, die expressive Handgesten verwenden, dafür von den WählerInnen abgestraft werden, während sie bei Männern zu einer höheren WählerInnenunterstützung führen. Die personengebundene Darstellungsebene in der visuellen Skandalberichterstattung Spezifische gestische und mimische bzw. emotionale Darbietungen von politischen Akteuren haben sich auch im Kontext der politischen Skandalberichterstattung als bedeutsam erwiesen. Tiedens (2001) untersuchte beispielsweise in einer Reihe experimenteller Studien, wie sich spezifische emotionale Darbietungen von skandalisierten Akteuren auf deren Beurteilung durch MediennutzerInnen auswirkten. Personen sahen dabei spezifische Videoausschnitte, die den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton während einer offiziellen Anhörung zum sogenannten LewinskySkandal entweder mit gesenktem Kopf (Trauer/Schuld) oder in einer verärgerten und wütenden Weise (wild gestikulierend, direkter Blick in die Kamera) zeigten. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Personen Clinton dann stärker unterstützen, wenn er in einer verärgerten/wütenden Weise dargestellt wird. Abhängig von dem jeweils ausgewählten Bildmaterial und den entsprechend verfügbaren facial displays politischer Akteure (Martin und Mandell 2014), können sich bei RezipientInnen ganz unterschiedliche Beurteilungen einstellen. Somit haben JournalistInnen eine große ethische Verantwortung in der visuellen Aufbereitung von politischen Skandalen

3.3

Inhaltliche Darstellungsebene

Die inhaltliche Darstellungsebene bezieht sich auf die „Binnenstruktur von [politischen Bildern bzw.] Nachrichtenbildern“, die beispielsweise durch die Darstellung bestimmter Symbole oder weiterer Akteure und deren dargestelltem Verhältnis zueinander hergestellt wird (von Sikorski und Ludwig 2016, S. 196).

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• Perspektive politischer Akteure. Die visuelle Kommunikationslogik basiert auf Assoziationen (Müller 2003), wodurch nicht nur die Darstellung bzw. Inszenierung von politischen Akteuren selbst, sondern auch der Kontext, in welchem diese zu sehen sind, von großer Bedeutung ist. Neben dem generellen Kontext (z. B. politischer Kontext, privater Kontext) und dem spezifischen Setting (z. B. Pressekonferenz, Wahlkampfveranstaltung) kommt in diesem Zusammenhang spezifischen Symbolen (z. B. Nationalflagge) sowie anderen Personen (z. B. Familie, politische Weggefährten, Zuschauermengen, Prominenten) besondere Relevanz zu. Strategisch eingesetzte Bilder oder Bildsequenzen, die politischen KandidatInnen beispielsweise in einem Krankenhaus, mit Kindern oder mit heraufgekrempelten Hemdsärmeln im Gespräch mit „normalen BürgerInnen“ zeigen, sollen gezielt das Image schärfen. Politische Akteure versuchen durch die strategische Wahl bestimmter visueller Hinweise (cues) bzw. Settings, Symbole, Konfigurationen und/oder durch die Auswahl an Personen, mit welchen sie sich öffentlich zeigen, auf implizitem Wege etwas über ihren eigenen Charakter bzw. ihre Qualifikationen auszusagen (Graber 1996; Schill 2012). Der ehemalige US-Präsident George W. Bush achtete beispielsweise nicht nur genau darauf, welche Personen (z. B. Mischung von Personen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund) sich bei offiziellen Reden in seinem Umfeld befanden, sondern auch darauf, wie deren Kleidung in Zusammenspiel mit seiner eigenen Inszenierung und Darbietung vermeintlich auf RezipientInnen wirken würde. Sprach Bush beispielsweise zum Thema Beschäftigung und Jobs, wurden Personen, die im Bildhintergrund zu sehen sein würden, vorab darum gebeten, ihre Krawatten auszuziehen, damit er eher als „Mann des Volkes“ wahrgenommen würde (Schill 2012). Zudem wird (jubelndes) Publikum dazu genutzt, entsprechende Kontexteffekte zu generieren, bei welchen positive Emotionen sowie die Assoziation „viele Personen unterstützen den Kandidaten bzw. die Kandidatin“ zu einer Imageverbesserung führen können (Schill 2009; von Sikorski et al. 2012). • Perspektive medialer Akteure. Auch mediale Akteure nutzen bestimmte Symbole, Personen, Konfigurationen sowie spezifische visuelle Begleitinformationen auf der inhaltlichen Darstellungsebene, um beispielsweise das Verständnis medialer Botschaften auf RezipientInnenseite zu unterstützen. Bilder können somit auch als Beleg für etwas stehen, das die Glaubwürdigkeit textlicher Informationen zusätzlich verifiziert (Schill 2012). Bestimmte Symbole, Konfigurationen usw. können von JournalistInnen jedoch auch genutzt werden, um implizit Andeutungen vorzunehmen (Kepplinger 1982). JournalistInnen können somit visuell andeuten ohne sich textlich explizit festlegen zu müssen. Beispielsweise kann hier die Bildsequenz von Dominique Strauss-Kahn, dem ehemaligen französischen Politiker und Weltbankdirektor, nach seiner Festnahme in New York City im Jahre 2011 angeführt werden. Ihm wurde die Vergewaltigung einer Hotelangestellten vorgeworfen. Eine verwendete Bildersequenz zeigt Strauss-Kahn in Begleitung von Ermittlern und Polizisten (in den USA auch perp walk genannt; gemeint ist das öffentliche Vorführen eines Tatverdächtigen) und legte implizit somit seine „Schuldigkeit“ nahe (Boudana 2013; von Sikorski und Ludwig

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2013). In Schills Worten kann festgehalten werden: „Images can ‚say‘ things without saying things“ (Schill 2012, S. 132). • Effekte auf MediennutzerInnen. Bestimmte Aspekte, die sich auf die Binnenstruktur von politischen Bildern beziehen, können MediennutzerInnen in einer systematischen Weise in ihrer Wahrnehmung beeinflussen. Verschiedene Studien haben in diesem Kontext beispielsweise untersucht, wie sich bestimmte visuelle Hinweisreize auf die Beurteilung von dargestellten Akteuren auswirken (z. B. von Sikorski et al. 2012; von Sikorski und Ludwig 2013; Wittenbrink et al. 2001). Durch das bereits thematisierte Zeigen von politischen Akteuren mit der Nationalflagge soll in der Regel implizit ein Zusammenhang zwischen einem politischen Akteur und den patriotischen Einstellungen, die BetrachterInnen der Nationalflagge entgegenbringen, hergestellt werden (Barry 1997). Eine Reihe von Experimenten verdeutlichte, dass Personen, die der jeweiligen Landesflagge (z. B. der israelischen Flagge) visuell ausgesetzt waren, systematisch in ihren Beurteilungen bzgl. zentraler politischer Fragen beeinflusst wurden. Es zeigte sich zudem, dass politische Einstellungen (z. B. gegenüber jüdischen Siedlern) durch das sogenannte „flag priming“ verändert werden konnten (Hassin et al. 2007). Die inhaltliche Darstellungsebene in der visuellen Skandalberichterstattung Wie bereits in den vorangegangenen Abschnitten angedeutet, kommt der inhaltlichen Darstellungsebene auch im Kontext der politischen Skandalberichterstattung eine wesentliche Bedeutung zu. Beispielsweise können negative cues wie ein skandalisierter Akteur, der in Handschellen abgeführt wird (siehe den Fall um StraussKahn), bei RezipientInnen zu einer Vorverurteilung führen, da die verfügbaren visuellen Informationen die Schuldigkeit eines Politikers nahelegen (von Sikorski und Ludwig 2013). Auch Abbildungsmuster, mit deren Hilfe skandalisierte politische Akteure visuell als „alleine und isoliert“ dargestellt werden, finden in der journalistischen Praxis regelmäßige Anwendung (z. B. Krauel 2011). In politischen Skandalen ist die visuelle Suggestion, dass ein/e KandidatIn den Rückhalt anderer PolitikerInnen (vermeintlich) „verloren“ hat, ein starkes Bild. Solche Darstellungen können von BetrachterInnen als ein Bildbeweis angesehen und hinsichtlich der Interpretation eines Falles genutzt werden. Das Bild suggeriert dann: Ja, selbst ehemalige WeggefährtInnen haben sich abgewendet und KandidatIn XY steht ganz alleine da. Solche Darstellungen können sich im Kontext von Skandalfällen, in welchen entsprechende textliche Informationen (noch) fehlen bzw. die Sachlage unklar ist, als besonders bedeutsam erweisen. Eine visuelle Isolation kann sich dann negativ auf die Beurteilung skandalisierter politischer Akteure auswirken. Die TeilnehmerInnen eines Experiments lasen eine Nachricht über einen politischen Skandal, die von einem Bild des betroffenen Politikers begleitet wurde, welches ihn im Parlament sitzend darstellte. Durch Fotoretusche wurde das Bild so manipuliert, dass der Politiker entweder (a) als gänzlich alleine, (b) gemeinsam mit weiteren Politikern, die direkt neben ihm saßen oder (c) gemeinsam mit weiteren Politikern, die in einigem Abstand zu ihm saßen, zu sehen war (Abb. 2). Die erste Bildversion (visuelle Isolation) führte zu einer signifikant negativeren Kandidatenbeurteilung

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Abb. 2 Experimentelle Stimuli (von Sikorski und Ludwig 2018). Alle Bilder wurden so manipuliert, dass das linke Bild den skandalisierten Politiker isoliert und alleine zeigt, das mittlere Foto diesen mit anderen Politikern darstellt, die in einigem Abstand zu ihm sitzen. Das Bild rechts zeigt den Politiker in einer nicht isolierten Weise. Die Kontrollgruppe erhielt den Text ohne Bild. Der Text stellte einen fiktiven Politikskandal dar und war in allen Gruppen identisch

und dazu, dass TeilnehmerInnen annahmen, dass andere RezipientInnen, die diesem Artikel ausgesetzt werden, den Politiker in einem signifikant höheren Maße als für den Fall verantwortlich wahrnehmen würden (von Sikorski und Ludwig 2018).

4

Fazit und Ausblick

Der visuellen politischen Kommunikation kommt in modernen Mediengesellschaften eine immer größere Bedeutung zu und politische Kommunikation, so kann konstatiert werden, wird zunehmend visuell. Wie der Beitrag aufzeigt, sind Bilder nicht nur für politische Akteure selbst, sondern gleichfalls für Medienschaffende und Rezipierende von Relevanz, da von visuellen Kommunikaten, wie die dargelegten empirischen Studien (z. B. im Kontext der politischen Skandalberichterstattung) zeigen, erhebliche Wirkungen ausgehen können. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass der kausale Nachweis visueller Wirkungen dabei als methodisch besonders herausfordernd und komplex anzusehen ist, da beispielsweise die Prüfung des kombinierten Einflusses verschiedener visueller Hinweisreize (z. B. Kamerawinkel, Bildhintergrund, bestimmte mimisch/gestische Äußerungen) methodisch nur schwer zu realisieren ist. Nichtsdestotrotz sollten sich zukünftige Forschungsvorhaben diesen Herausforderungen widmen und entsprechende Wirkungen mittels innovativer methodischer Vorgehensweisen überprüfen. Durch die sich stark verändernden medialen Rahmenbedingungen, die zu neuen Verbreitungs- und Nutzungsmustern führen, sollten in Zukunft zudem neue, alternative Formen der visuellen Kommunikation bzw. der Rezeption von politischen Bildern stärker fokussiert werden. In Zeiten von „celebrity politics“ (Ekman und Widholm 2017; van Zoonen 2006) und „digital permanent campaigning“ (Lalancette und Raynauld 2017), in denen Parteien und PolitikerInnen zunehmend auf visuelle Selbstrepräsentationen im Internet setzen, ist es dringend angebracht, das Wissen über die Rolle von Bildern in der direkten, nicht massenmedial vermittelten politischen Kommunikation zu vertiefen. Während beispielsweise das Web 2.0 zu einer

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responsiveren Politik beitragen könnte, stellen vorhandene Studien fest, dass Soziale Medien wenig zur Interaktion mit BürgerInnen genutzt werden, sondern eher zu visueller Selbstrepräsentation und Brandingzwecken (siehe z. B. Ekman und Widholm 2017; Filimonov et al. 2016). Auch ist zu fragen, inwiefern die zunehmende Nutzung bildzentrierter Kommunikation zu einer sich verändernden visuellen politischen Kultur beiträgt. Führt die Internalisierung von Strategien des visuellen Impression Managements und deren globale Anwendung zur Homogenisierung visueller Ausdrucksweisen? Andererseits sind in transnationaler Forschung bzw. bei der Übertragung von Ergebnissen auf andere nationale Kontexte neben den unterschiedlichen politischen Systemen, politischen Kommunikationskulturen und verschiedenen journalistischen Kulturen auch die verschiedenen visuellen Kulturen zu berücksichtigen (Coleman und Wu 2015). So argumentieren Lobinger und Brantner (2016) auf Basis ihrer Studie zur Wahrnehmung von Politikerbildern, dass die im US-amerikanischen Raum entwickelten inhaltsanalytischen Kategorien nicht einfach auf andere nationale Kontexte übertragbar sind. Was etwa in den USA als vorteilhafte Darstellung empfunden und in Inhaltsanalysen entsprechend codiert wird (z. B. sehr aktive Körpersprache mit expressiven Gesten), könnte in anderen politischen Kulturen als weniger vorteilhaft ausgelegt werden. Auch zeigt der transnationale Vergleich von Sülflow und Esser (2014), dass es zwar einerseits Annäherungen hinsichtlich der Zunahme von Image Bites gibt, andererseits aber die visuelle KandidatInnendarstellung in US-amerikanischen TV-Nachrichten von mehr „symbolischer Politik“ (Meyer 2001; Schicha 2007) im Rahmen von inszenierten Medienereignissen geprägt wird als jene in deutschen Medien. Wie erwähnt wird zwar zunehmend auch die Multimodalität in der politischen Kommunikationsforschung berücksichtigt, die Forschung steht hier aber auch aufgrund der Komplexität der methodischen Anforderungen erst am Anfang. Zwischen den verschiedenen Modi bestehen komplexe Zusammenhänge (siehe etwa Boomgaarden et al. 2016; Brantner et al. 2013; Coleman und Wu 2015; Martinec und Salway 2005; von Sikorski und Knoll 2018, siehe auch den Beitrag von Bucher in diesem Band) und es sollte das Ziel zukünftiger kommunikationswissenschaftlicher Forschung sein, Multimodalität und insbesondere multimodales Framing, als ein zentrales Forschungsfeld der politischen Kommunikationsforschung, noch stärker zu berücksichtigen und zu erforschen.

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Werbebilder in der Kommunikationsforschung Die Ästhetik und Wirkformen des modernen Werbebildes Mira Mayrhofer, Alice Binder und Jörg Matthes

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Definition des Werbebildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Bildwirkungen in der Persuasion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Kritik am Werbebild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Dem Bild fällt als treibende Kraft im Persuasionsprozess eine besondere Rolle in der Werbung zu. Wie im ersten Teil dieses Beitrages aufgezeigt wird, setzen Werbetreibende gezielt außergewöhnliche Ästhetik im Bild ein, um Aufmerksamkeit zu erregen und sie nutzen visuelle Rhetorik, um Produkte mit Assoziationen und Emotionen aufzuladen. Doch auch Wiedererkennung und Erinnerung von bildlichen Elementen sind im Vergleich zum reinen Text stärker. Dies wird deutlich von der hier erklärten Picture Superiority Theorie gezeigt. Doch die assoziative Logik von Bildern kann auch zu Fehlschlüssen führen. So beleuchtet der letzte Teil des Kapitels, wie Werbung zur Reproduktion von Stereotypen beitragen oder RezipientInnen in die Irre führen kann, was wir am Thema Greenwashing beispielhaft aufzeigen. Schlüsselwörter

Werbung · Werbebild · Visuelle Rhetorik · Picture Superiority · Persuasion

M. Mayrhofer · A. Binder · J. Matthes (*) Advertising and Media Effects Research Group, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_10

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1

M. Mayrhofer et al.

Einleitung

Die steigende Informationsüberlastung der RezipientInnen bringt neue Herausforderungen in der Werbekommunikation mit sich. So muss Werbung nicht nur Aufmerksamkeit erregen, um sich gegen andere Inhalte durchzusetzen, sondern auch ihre persuasive Botschaft vermitteln. In einem Zeitalter der bildbetonten Medien, wie beispielsweise Fernsehen oder Internet, wird ein Trend zu weniger Text und mehr Bild sichtbar (Kroeber-Riel und Esch 2011, S. 17). Dem Bild in der Werbung wird hierbei eine besondere Rolle zugeschrieben, denn das Werbebild unterscheidet sich maßgeblich von anderen Formen der visuellen Kommunikation, sowohl in Gestaltungsform als auch in seiner Funktion (Scott 1994). Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit der Ästhetik und den Wirkformen des modernen Werbebildes. Hierbei gehen wir in zwei Schritten vor: Im ersten Schritt beschreiben wir die Charakteristika der Ästhetik des Werbebildes und wie sich diese von anderen Formen, wie dem journalistischen Bild, unterscheidet (Abschn. 2.1). Besonderes Augenmerk soll hierbei auf Typologien der visuellen Rhetorik gelegt werden, welche in Werbebildern eingesetzt werden (Abschn. 2.2). Damit eng in Verbindung steht die Definition des visuellen Werbeschemas. Dieses dient RezipientInnen als Basis, um Werbebotschaften als solche zu erkennen (Abschn. 2.3). In einem zweiten Schritt betrachten wir Gründe für die steigende Bedeutung des Bildes. Im Gegensatz zu Text hat das Bild eine Vielzahl an Vorteilen im Persuasionsprozess. So ist das Bild in der Werbung anderen Möglichkeiten Informationen zu vermitteln, wie Text oder dem gesprochenen Wort, in einiger Hinsicht überlegen. Die vermittelte Information wird schneller wahrgenommen und leichter gemerkt. Des Weiteren bieten Bilder ein enormes Potenzial für die Übertragung von Emotionen (Lobinger 2012, S. 83, siehe auch den Beitrag von Döveling in diesem Band). Wir werden daher die theoretischen Ansätze diskutieren, welche die Grundlage dieser Bildwirkungen erklären. Erinnerungseffekte, welche durch die Picture Superiority entstehen, werden dabei erklärt (Abschn. 3.1). Daraufhin werden persuasive Wirkungen verschiedener Formen visueller Rhetorik besprochen (Abschn. 3.2). Die kulturellen Einschränkungen dieser Prozesse werden ebenfalls beleuchtet (Abschn. 3.3). Im Abschn. 3.4 folgt dann die Beschreibung des Modells der Wirkungspfade (Kroeber-Riel et al. 2009, S. 635), welches sich, mit den möglichen Verarbeitungswegen von Werbebildern auseinandersetzt. Anschließend (Abschn. 3.5) werden heuristische Hinweisreize in Werbebildern, die gerade bei peripherer Verarbeitung wirkungsvoll werden, beschrieben. Schließlich hat die starke persuasive Wirkung des Werbebildes jedoch auch Schattenseiten, welche kritisch betrachtet werden müssen. So kann die erwähnte assoziative Logik von Werbebildern auch zu Fehlschlüssen führen und dazu missbraucht werden, Produkte irreführend darzustellen, wie wir gegen Ende des Beitrages darstellen werden (Abschn. 4.1). Des Weiteren trägt die stereotype Darstellung von einzelnen Gruppen in der Werbung zur Verstärkung dieser Stereotype bei (Abschn. 4.2). Ziel dieses Beitrags ist es deshalb, das Werbebild von anderen Bildarten abzugrenzen, dessen besondere Wirkung in der Persuasion zu definieren und es ebenso kritisch zu betrachten.

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

2

Die Definition des Werbebildes

2.1

Die Ästhetik des Werbebildes: Das Außergewöhnliche

207

Medienbilder, ob nun das journalistische Bild oder das Werbebild, haben zuallererst das Ziel, Aufmerksamkeit bei den RezipientInnen zu generieren (Schierl 2001, S. 85). In einem zweiten Schritt divergieren die Funktionen jedoch, was sich maßgeblich in der ästhetischen Ausgestaltung der Bilder widerspiegelt. Das journalistische Bild wird als „Zeuge“ eines spezifischen Ereignisses beigefügt. Es hat oftmals die Funktion, den informativen Gehalt des Textes zu unterstützen und den Beitrag allgemein als realitätsnah auszuzeichnen. Außerdem kann es weitere Informationen oder Details zum dargestellten Ereignis vermitteln und den Artikel strukturieren (Holicki 1993, S. 33). Damit geht eine eingeschränkte Bandbreite an stilistischen Elementen einher, welche die im Bild dargestellte Information hervorheben (Grittmann 2007, siehe auch den Beitrag zu journalistischen Bildern von Grittmann in diesem Band). So setzen sich journalistische Bilder meist durch eine frontale Aufnahme, dominante vertikale Linien und den Fokus auf das berichtete Ereignis oder dessen Hauptperson zusammen (Rosenblum 1978, S. 425). Grittmann (2007) fasst die Kategorisierung nach Schwartz (1992) zusammen und streicht als Charakteristika für das politische Bild zudem den Einsatz von Tiefenschärfe, die Reduktion auf den Handlungsmoment bzw. wenige Personen und „die Berücksichtigung von Linien, wie Diagonalen, S-Kurven und anderen“ (Grittmann 2007, S. 45) heraus. Das Werbebild gehorcht hingegen einer anderen ästhetischen Logik, denn im Fokus der Gestaltung des Werbebildes steht nicht wie bei seinem journalistischen Gegenpart die Untermalung von tagesaktuellen Themen, sondern die Anregung des persuasiven Prozesses. Warlaumont (1997) geht sogar so weit, Werbung als Gegensatz zur Realität zu bezeichnen. Denn „advertisements often depict a more glamorized life showing how it could be if one purchases the product“ (Warlaumont 1997, S. 39). Konkret sollen positive Assoziationen zu Marken, Produkten oder Dienstleistungen hergestellt werden, welche die Einstellungen und Konsumintentionen des Rezipienten bzw. der Rezipientin beeinflussen (Scott 1994, S. 256–258). Rosenblum (1978, S. 424–425) argumentiert dementsprechend, dass das Schlüsselelement des Werbebildes seine visuelle Unnatürlichkeit ist. Produkte oder Dienstleistungen werden mit außergewöhnlichen Menschen verbunden, z. B. in Celebrity Endorsement Kampagnen (Darstellung einer berühmten Persönlichkeit mit dem zu bewerbenden Produkt), in außergewöhnlichen Situationen dargestellt oder mit visuell stilistische Mittel versehen, um die Ästhetik des Außergewöhnlichen zu erreichen (Matthes 2014a). Derartige Mittel sind unter anderem „short foregrounds, complex middlegrounds and deadstop, horizonless backgrounds“ (Rosenblum 1978, S. 425). Des Weiteren bedient sich der Bildaufbau oft vielfältiger Elemente visueller Rhetorik (siehe Abschn. 2.2) oder baut stark emotionalisierende Aspekte ein, wie beispielsweise der beliebte Einsatz von Humor (Eisend 2009, S. 191–203).

208

2.2

M. Mayrhofer et al.

Visuelle Rhetorik

Wie bereits im vorangehenden Abschnitt beschrieben, setzt sich das Werbebild über die reine Darstellung der „Realität“ hinweg. So beschreibt Scott (1994), dass in der modernen Werbung die Information, die der Werbetreibende vermitteln will, erst aus dem Zusammenspiel symbolischer Eindrücke entsteht. Die Kombination verschiedener Bildelemente und deren Schemata kreiert somit die Werbebotschaft. Dies kann so weit gehen, dass auf Text verzichtet wird und das Werbeargument vollständig in bildlicher Form dargestellt wird. Ermöglicht wird dies durch die assoziative Logik von Bildern und Symbolen. Mit anderen Worten, die Verbindung von zwei visuellen Elementen erschafft eine neue persuasive Botschaft. Werbebilder sind somit „a symbol system employed for the purpose of persuasion“ (Scott 1994, S. 265). Die verschiedenen Formen der Kombination von Bildern bzw. visuellen Elementen werden als visuelle Rhetorik bezeichnet (Scott 1994, S. 252). In der Werbung erfreuen sich besonders rhetorische Figuren und Stilmittel großer Beliebtheit (Jeong 2008, S. 59–73; Kaplan 1992, S. 197–202; Tom und Eves 1999, S. 39–44; van Mulken et al. 2014, S. 333–343). Eine Inhaltsanalyse von US Magazinwerbungen der Jahre 1954 bis 1999 zeigte sowohl eine steigende Anzahl der rhetorischen Formen in der Werbung generell, als auch eine steigende Tendenz zur visuellen Rhetorik (Phillips und McQuarrie 2002, S. 9). Es existiert eine Vielzahl an Kategorisierungen von rhetorischen Figuren in der Werbung, doch diese Systematisierungen basieren meist auf Formen verbaler Rhetorik (McQuarrie und Mick 1996; Tom und Eves 1999, S. 39–44). McQuarrie und Mick wandten sich deshalb explizit dem Vergleich von visuellen und verbalen rhetorischen Formen in der Werbung zu (1999, 2003). Um visuelle Rhetorik und verbale Rhetorik zu vergleichen und so die Besonderheiten der visuellen Rhetorik herauszuarbeiten, erforschten sie vor allem die zwei beliebtesten rhetorischen Formen in der Werbung: Schema und Tropus. • Der Tropus zieht seine Bedeutung aus dem Bruch mit einer Regel oder Erwartung. So werden beispielsweise in einem Wortspiel oder einer Metapher zwei Elemente kombiniert, die den Rezipienten bzw. die Rezipientin überraschen. In der Form des visuellen Tropus sind zwei Gegenstände oder Bilder kombiniert, die nicht so zu erwarten wären. Beispielhaft kann hier die Werbung von Evian genannt werden, in welchem Babies auf Inlineskates tanzen. • Die Form des Schemas spielt mit dem Einsatz von Ordnung und Struktur. In seiner verbalen Form wird beispielsweise beim Reim durch die Wiederholung des Tones zusätzlich Sinn erschaffen. In bildlicher Form setzt dieses rhetorische Mittel unter anderem die Wiederholung von Bildern, Symbolen oder Mustern ein, die ein Echo im Bild erschaffen und so eine Verbindung zwischen den Elementen herstellen. Die Effekte der verschiedenen Formen nach McQuarrie und Mick (2003, S. 581) werden im Abschn. 3.2 näher beschrieben. In einer Studie, die über die zwei beliebtesten Formen hinausgeht und sich der Analyse einer breiten Anzahl von visuellen, rhetorischen Formen widmet, entwickelten Phillips und McQuarrie (2004) eine Typologie der visuellen Rhetorik. Diese

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

209

basiert auf der (1) Platzierung der Elemente und (2) dem kognitiven Prozess, welcher zum Verständnis der rhetorischen Form eingesetzt werden muss. Laut Phillips und McQuarrie (2004, S. 113–136) können Bilder in drei Formen platziert werden: nebeneinander, verschmolzen und ersetzt: • Nebeneinanderstellung: Die Platzierung von Bildern nebeneinander stellt die einfachste Form dar, denn zwei klar identifizierbare Elemente miteinander zu verbinden, bedarf des kleinsten kognitiven Aufwandes. • Fusion: Werden zwei Bilder miteinander verschmolzen, müssen RezipientInnen in einem ersten Schritt die individuellen visuellen Elemente entwirren, bevor verbundene Schemata abgerufen werden können. • Ersatz: Die komplexeste Form der Platzierung ist das Ersetzen eines Bildelements, denn RezipientInnen müssen sowohl das Fehlen eines Aspektes, sowie die Anwesenheit des Anderen verstehen um den Sinn der Botschaft zu entschlüsseln. Des Weiteren wird zwischen zwei grundlegenden kognitiven Prozessen unterschieden. • In der ersten Form wird eine Assoziation zwischen zwei Elementen hergestellt. Beispielsweise könnte ein Produkt neben einem lächelnden Kunden dargestellt werden. Die Verbindung beider visuellen Elemente führt zu dem Schluss, dass das Produkt Freude hervorruft. • In der zweiten Form werden zwei Elemente miteinander verglichen. So soll das Schema des einen Elements, beispielsweise ein Hündchen, welches „Weichheit“ suggeriert, mit den Charakteristika des Produktes verglichen werden. Die vermittelte Aussage ist hierbei „dieses Produkt ist genauso weich wie dieses Hündchen“. Die kann in positiver Form geschehen (A ist gleich B) oder in negativer Form (A ist nicht gleich B). Für eine detaillierte Darstellung der neun, sich aus den Kriterien ergebenden Bildarten, siehe Phillips und McQuarrie (2004). Wie die verschiedenen Herangehensweisen dieser ausgewählten Typologien deutlich zeigen, kann visuelle Rhetorik anhand vieler Aspekte analysiert werden. Der Einsatz von unterschiedlichen Formen und Bildkombinationen hat natürlich auch Einfluss auf die persuasive Wirkung der Bilder. In Abschn. 3.2 wird eingehend besprochen, wie die unterschiedlichen Formen visueller Rhetorik wirken können.

2.3

Das Werbeschema

Informationsverarbeitungstheorien befassen sich mit der Frage, wie der Mensch mit der Information umgeht, die aus seinem Umfeld auf ihn zukommt. Eine dieser Theorien ist die Schema-Theorie (Matthes 2004, 2014b). Sie argumentiert, dass Informationen kognitiv in Einheiten organisiert, kategorisiert und gespeichert wer-

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M. Mayrhofer et al.

den, da nicht jedes Detail eines Eindruckes verarbeitet werden kann. Dies ermöglicht es auch, die Information in Erinnerung umzuwandeln und das gebildete Schema wieder abzurufen. Mit anderen Worten, das Schema zu einem bestimmten Element umfasst die Erwartungshaltung, welche der Rezipient bzw. die Rezipientin dazu hat. Beispielsweise erkennen RezipientInnen das übliche Bild von Fashionanzeigen, in welchem glamouröse Models vor einem unbelebten Hintergrund dargestellt werden. Diese lösen das Werbeschema aus und die damit verbundene Skepsis bezüglich der Echtheit bzw. Authentizität der Darstellung (siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Bei der Konfrontation mit schema-inkongruenter Information wird diese entweder als „Ausnahme“ definiert oder ein neues Schema wird gebildet. Nur in seltenen Fällen wird ein bereits bestehendes, stark definiertes Schema angepasst (Wicks 1992). In Bezug auf Werbeinhalte betont Warlaumont (1997, S. 39–43) zwei Schlüsselelemente des Werbeschemas: die spezifische ästhetische Darstellungsweise (siehe Abschn. 2.1) und der enthaltene persuasive Appell. Beide Elemente ermöglichen es RezipientInnen, Werbung als solche zu erkennen, wobei diese Fähigkeit über die wiederholte Konfrontation mit Werbeinhalten erworben wird. Im Jahr 1994 schlugen Friestad und Wright das umfassende „Persuasion Knowledge Model“ vor. Dieses Modell befasst sich mit den Auswirkungen von Persuasionswissen, also dem Erkennen eines Inhaltes als Werbung. Denn, ob ein Inhalt als Persuasionsversuch eingeordnet wird, beeinflusst seine Wirkung auf RezipientInnen. So versuchen RezipientInnen, Werbeinhalten aus dem Weg zu gehen, die Glaubwürdigkeit der Botschaft sinkt und kognitive Abwehrstrategien gegen den persuasiven Appell werden eingeleitet (van Reijmersdal et al. 2016, S. 1460). Um die Aktivierung des Werbeschemas und damit des Persuasionswissens des Rezipienten bzw. der Rezipientin zu vermeiden, versucht die Werbeindustrie einerseits das visuelle Erscheinungsbild von Werbebildern an andere Inhalte anzupassen (Evans und Park 2015, S. 159). So zeigt sich bei Wojdynski und Evans (2016, S. 161), dass sogenannte Advertorials, welche die Form eines journalistischen Artikels übernehmen, jedoch einen persuasiven Zweck verfolgen, von weniger als 8 % der StudienteilnehmerInnen als Werbung identifiziert wurden. Wurde der Persuasionsversuch erkannt, hatte dies signifikant negative Auswirkungen auf die Einstellung gegenüber dem werbenden Unternehmen. Allerdings führt aktiviertes Persuasionswissen nicht immer zu negativeren Marken- oder Produkteinstellungen (Matthes und Naderer 2016). Andererseits wird versucht, innerhalb des Werbeschemas Inkongruenz zu schaffen, um den negativen Auswirkungen von Persuasionswissen entgegen zu wirken. Hierbei führt beispielsweise die Verwendung von unerwarteten visuellen Elementen dazu, dass kognitive Ressourcen zur Dekodierung der Werbung eingesetzt werden müssen. Dies führt zu Erregung, Überraschung, zur Lösung der Inkongruenz, und schlussendlich zu Unterhaltung. Oftmals zielt eine solche Kombination von inkongruenten visuellen oder textuellen Aspekten von Werbebildern auf eine humorvolle Auflösung ab (Yoon 2013, S. 371–372). In solchen Fällen bringt der Einsatz von Humor weitere positive Aspekte mit sich, wie beispielsweise positivere Beurteilungen der Werbung und Marke (Eisend 2009, S. 200).

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

3

211

Bildwirkungen in der Persuasion

Der umfassende Einsatz von Bildern, Symbolen und visueller Rhetorik in der Werbung erklärt sich durch eine Vielzahl von positiven Effekten, welche Bildern im Persuasionsprozess zugeschrieben wird. Diese positiven Effekte können bei einfachen Bildern und auch bei niedrig involvierten BetrachterInnen auftreten (siehe Abschn. 3.4), zum Beispiel auf Basis einer der grundlegenden Theorien in diesem Feld: der Picture Superiority Theorie (Childers und Houston 1984, S. 652; Childers et al. 1986, S. 147). Bilder, die im Sinne der visuellen Rhetorik kombiniert wurden, wie in Abschn. 2.2 beschrieben, können weitere positive Effekte wie Aufmerksamkeit und Vergnügen auslösen.

3.1

Picture Superiority

Im Zentrum der Picture Superiority Theorie steht die Erinnerung bzw. der Wiedererkennungswert von textuellen versus visuellen Elementen (siehe auch den Beitrag von Geise zu Methoden der Bildrezeptions- und Wirkungsforschung in diesem Band). So zeigt die Picture Superiority Theorie auf, dass Bilder leichter gemerkt und wiedererkannt werden als Wörter oder gesprochener Text. Während der Grundgedanke des Picture Superiority-Effektes durch eine Vielzahl von Studien bestätigt ist (Whitehouse et al. 2006; Maisto und Queen 1992), zeigen sich mehrere mögliche konzeptionelle Erklärungen dafür. Dual Coding Theorie Einige Studien argumentieren, dass der Picture Superiority Effekt mit der in den 1960ern von Allan Paivio beschriebenen Dual Coding Theorie zu erklären ist. Diese beschäftigt sich mit der kognitiven Verarbeitung von textuellen und bildlichen Informationen. Die Informationen werden in unterschiedlichen Hirnarealen abgespeichert. Während Wörter jedoch nicht automatisch die bildliche Vorstellung der Information auslösen und somit tendenziell nur einfach im entsprechenden Hirnareal gespeichert werden, lösen Bilder direkt die Bezeichnung des dargestellten Inhaltes aus. Wenn ich beispielsweise versuche mir ein Bild einzuprägen, merke ich mir automatisch die Bezeichnung des Dargestellten als Wörter. Dementsprechend erfolgt bei Bildern eine doppelte Kodierung der Information. Die mehrfache Abspeicherung bzw. Kodierung des Inhaltes führt zu einer besseren Erinnerung bzw. Wiedererkennung der Information (siehe Paivio und Csapo 1973). Whitehouse et al. (2006) beschäftigten sich mit der Entwicklung des Picture Superiority Effektes von Kindern im Alter von 7 bis 17 Jahren und zeigen auf, dass dieser sich im Laufe der Schullaufbahn junger Kinder deutlich verstärkt. Dies führten sie hauptsächlich auf die Entwicklung der Fähigkeit zur inneren Sprache zurück, da jüngere Kinder ein geringes Ausmaß an Vokabular zur inneren Sprache besitzen. In anderen Worten: Wenn die Abbildung eines Gegenstandes nicht das entspreche Wort im Geiste des Sehers auslöst, kann es auch nicht zu einer doppelten Kodierung kommen. Wenn nun die visuellen Elemente keine verbalen Komponen-

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ten auslösen, wird auch der Prozess der doppelten Kodierung nicht ausgelöst. Im Vergleich von jungen Erwachsenen und Senioren zeigten Maisto und Queen (1992), dass der Picture Superiority Effekte altersunabhängig nachweisbar ist. Hinweisredundanz Eine weitere Erklärungsweise des Picture Superiority Effektes liegt in der Hinweisredundanz in Bildern. Während die Beschreibung eines Produktes in textueller Form spezifische Informationen vermittelt, liefert die visuelle Form weitere, zusätzliche Hinweisreize. So beschreibt das Wort „Waschmittel“ ein bestimmtes Produkt, jedoch zeigt das Bild des Produktes Waschmittel auch dessen Farbe, die Form der Flasche oder die Konsistenz. Dies sind weitere Hinweisreize, welche die Kodierung der Information vertiefen und die Wiedererkennung erleichtern (Childers und Houston 1984, S. 644). Anhand einer Studie, die die ereigniskorrelierten Hirnpotenziale von 37 TeilnehmerInnen untersuchte, konnten Curran und Doyle (2011) nachweisen, dass die Verarbeitungstiefe von Bildern stärker war als die von Wörtern. Childers und Houston (1984, S. 650) zeigten auf, dass Werbungen, welche den Markennamen bildlich sowie verbal darstellen, signifikant besser frei erinnert wurden. Dieser Effekt wurde außerdem über die Zeit deutlich verstärkt, da verbale Werbungen schneller vergessen wurden. Zudem zeigten Childers et al. (1986, S. 146) die Überlegenheit von Bildinformationen gegenüber verbalen Informationen. Nachdem TeilnehmerInnen zehn Werbungen gesehen hatten, die entweder Informationen in verbaler Form oder in visueller Form enthielten, konnten sie sich signifikant besser an die bildliche Information und die damit vermittelten Produktattribute erinnern. Eine wichtige Einschränkung zum Picture Superiority Effekt deckten Unnava und Burnkrant (1991) in ihrer Studie zu Sprachbildern auf. So legten sie klar dar, dass die Überlegenheit von Bildern in der Erinnerungs- und Wiedererkennungsleistung auch vom Bildgehalt der Sprache abhängt. Als Wörter mit niedrigem Bildgehalt bezeichnet man Wörter, die nur schwer ein konkretes Bild auslösen, wie beispielsweise „Freiheit“. Einen hohen Bildgehalt enthielt beispielsweise das Wort „Tisch“. So erhöhte sich die Erinnerung an verbale Informationen mit niedrigem Bildgehalt signifikant, wenn ein Bild hinzugefügt wurde. Dies war allerdings nicht der Fall für Wörter mit hohem Bildgehalt. Unnava und Burnkrant (1991, S. 231) führten dies auf die Dual Coding Theorie zurück. Die beigefügten Bilder haben bei abstrakten Konzepten einen Mehrwert, da sie eine Stütze bilden und das Wort auch als Bild abgespeichert wird. Konkrete Dinge können scheinbar ohne bildliche Unterstützung eine bildliche Vorstellung auslösen und werden somit auch doppelt kodiert. Sie argumentierten, dass Wörter mit hohem Bildgehalt ebenso doppelt kodiert werden, wie Bilder, die die Wortbezeichnung auslösen.

3.2

Die Wirkformen der visuellen Rhetorik

Wie bereits beschrieben (siehe Abschn. 1) ist die Rolle des Werbebildes nicht bloß eine dekorative oder unterstützende. Das Ziel von Werbebotschaften und generell

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

213

von strategischer Kommunikation ist es, eine persuasive Botschaft zu vermitteln. In einer Vielzahl von Fällen wird dies durch den Einsatz von visueller Rhetorik erreicht (siehe Leigh 1994; Tom und Eves 1999). Die Beliebtheit solcher Rhetorik lässt sich sehr einfach durch ihre positiven Effekte im Persuasionsprozess erklären. So zeigten Studien der letzten Jahrzehnte Wirkungen auf mehreren Dimensionen auf. Basierend auf Marktforschungsdaten werteten Tom und Eves (1999) den Erfolg von Werbung mit und ohne Einsatz rhetorischer Formen aus. Hier wurden sowohl textuelle, als auch Formen der visuellen Rhetorik miteinbezogen und nicht differenziert. Die Ergebnisse zeigten jedoch bereits, dass sowohl in Bezug auf die Erinnerungsleistung, als auch in Bezug auf die positive Bewertung der Werbungen, der Einsatz von rhetorischen Formen generell als positiv bewertet werden kann. McQuarrie und Mick konzentrierten sich in ihrer Studie (1999) auf die visuelle Rhetorik als Einfluss im Persuasionsprozess. Sie argumentierten, dass visuelle Rhetorik zwei grundlegende Effekte auslösen kann: höhere Verarbeitungsleistung und Vergnügen bei der Werberezeption durch die Inkongruenzauflösung des Bildes. Seit ihrer Forschung wurden diese zwei Einflussfaktoren in einer Vielzahl von Studien aufgegriffen. Aufmerksamkeit Durch die Kombination von visuellen Elementen, die nötig ist, um die verschiedenen Formen der visuellen Rhetorik zu bilden, steigt die Komplexität des Werbebildes. Dies führt dazu, dass der kognitive Aufwand der Informationsverarbeitung steigt, was wiederum mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Werbung in Verbindung gebracht wird. Laut Jeong (2008, S. 68) kann dies als positiver Effekt im Persuasionsprozess gewertet werden, entsprechend des in Abschn. 3.5 näher erklärten Elaboration Likelihood Modells (Petty und Cacioppo 1986). So soll die erhöhte Aufmerksamkeit die Persuasionswirkung der Botschaft unter gewissen Voraussetzungen verstärken. McQuarrie und Mick (2003) zeigten in ihrer Studie eine erhöhte Erinnerung für Werbungen mit visueller Rhetorik gegenüber Werbungen ohne visuelle Rhetorik, was sie auf eine tiefere Verarbeitung der Botschaft zurückführen. TeilnehmerInnen, die sich erinnerten, zeigten auch eine positivere Einstellung gegenüber der Werbung. McQuarrie und Mick (1999, S. 45) betonten jedoch, dass dies nicht automatisch als positiv für den Persuasionsprozess einzuschätzen ist. Steht die rhetorische Form nicht direkt in Verbindung mit der Produktinformation, die vermittelt werden soll, kann der erhöhte Verarbeitungsaufwand von der persuasiven Botschaft ablenken. Auch kann eine hohe Komplexität zu Unverständnis der Werbebotschaft an sich führen. Inkongruenzauflösung Der zweite Effekt von visueller Rhetorik ist nach McQuarrie und Mick (1999) der positive Affekt bei der Verarbeitung des Werbebildes, in anderen Worten: Vergnügen. So bereitet das Auflösen der Inkongruenz im Bild dem Rezipienten bzw. der Rezipientin ein Erfolgserlebnis und somit Freude. Der Werbetreibende schmeichelt dem Rezipienten bzw. der Rezipientin und baut somit eine Verbindung auf (van Mulken et al. 2014, S. 333). Dies muss jedoch mit Vorsicht behandelt werden, denn wird die Werbung zu kompliziert, kann der Effekt sich ins Negative umkeh-

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M. Mayrhofer et al.

ren. „There is a positive relation between conceptual complexity and pleasurable feelings until a tipping point is reached, when complexity outweighs comprehension“ (van Mulken et al. 2014, S. 333). Anhand der in Abschn. 2.2 beschriebenen rhetorischen Formen konnten van Mulken et al. (2014, S. 339) empirisch aufzeigen, dass sowohl die Form der Nebeneinanderstellung, als auch der Fusion einen positiven Effekt auf die Einstellung gegenüber der Werbung auslösen. Die rhetorische Form des „Ersatzes“, wie weiter oben beschrieben, löste jedoch Frustration aus, wenn die Bedeutung der Botschaft nicht entschlüsselt werden konnte. So war diese Form der visuellen Rhetorik, bei der ein Bildelement entfernt wird und die RezipientInnen die Bedeutung selbst auflösen müssen, zu komplex. Hier sei beispielshalber eine rein bildliche Werbung zum Klimaschutz erwähnt. Abgebildet ist eine Eiswaffel, auf welcher eine Eiskugel schmilzt. Die Eiskugel wurde jedoch durch eine Abbildung des Planeten Erde ersetzt. Die Botschaft, dass es sich hier um eine Werbemaßnahme gegen den Klimawandel handelt, kann vom Betrachter nur entschlüsselt werden, wenn der Ersatz der Eiskugel durch die Weltkugel nachvollzogen wird. Können BetrachterInnen dies nicht nachvollziehen, kommt es zur Frustration. Beim Einsatz visueller Rhetorik muss die Komplexität der resultierenden visuellen Botschaft dementsprechend als Schlüsselfaktor miteinbezogen werden. Implizite assoziative Logik Eine dritte Möglichkeit für den Gestalter eines Werbebildes, von der visuellen Rhetorik zu profitieren, ist die strategische Nutzung der impliziten assoziativen Logik von Bildern. In einer qualitativen Studie zur Interpretation von Werbungen, welche visuelle Rhetorik enthielten, konnte Phillips (1997) zeigen, dass die TeilnehmerInnen sowohl die Grundaussage als auch die Verbindung zwischen den Bildern nachvollziehen konnten. So sahen TeilnehmerInnen eine Werbung für Waschmittel, welche nur aus zwei Bildern bestand: Zwei nebeneinanderstehende Kakteen mit vielen Stacheln und zwei Füße mit Socken. Anhand der Verbindung der Bilder mit dem Waschmittel wurde dargelegt, dass das Waschmittel die Socken weniger kratzig macht. Auch hatten die TeilnehmerInnen ähnliche Assoziationen und diese deckten sich mit den von den Werbetreibenden angestrebten Aussagen. Damit lassen sich durch Bilder Assoziationen herstellen, die auf verbaler Ebene schwer oder nur sehr umständlich zu vermitteln wären (Marquart und Matthes 2013). In einem quantitativen Experiment zeigten McQuarrie und Phillips (2005, S. 17) zur indirekten Persuasion von visueller Rhetorik, dass speziell die visuelle Metapher bei den RezipientInnen zu einer Reihe von positiven Assoziationen führt. Dies geschieht, ohne die Grundaussage der Werbung zu beeinträchtigen. Die visuelle Metapher, welche eine Verbindung von zwei visuellen Elementen voraussetzt, erlaubt dem Werbetreibenden somit implizite Aussagen über das Produkt zu tätigen. Dies wird in einigen Forschungsrichtungen kritisch hinterfragt (siehe Abschn. 4.2). Einen differenzierten Blick auf die Wirkformen unterschiedlicher Arten von visueller Rhetorik bieten Lagerwerf et al. 2012), den Unterschied zwischen Verbindung und Vergleich diskutieren Phillips und McQuarrie (2004) sowie Gkiouzepas und Hogg (2011).

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

3.3

215

Kulturunterschiede in der Bildwirkung

Nachdem die positiven Wirkungen des Werbebildes beleuchtet wurden, muss auf eine wichtige Einschränkung in diesem Zusammenhang eingegangen werden: kulturelle Unterschiede in der Präsentation und Interpretation von visuellen Elementen. So argumentierte Usunier (2000, S. 471), dass die Bilder oder Symbole von global ausgelegten Werbekampagnen zwar überall verstanden werden, die Interpretation jedoch stark differenzieren kann. Auch Bulmer und Buchanan-Oliver (2006a) betonen, dass die omnipräsente Verwendung von visueller Rhetorik im Werbebild, welche oftmals auf der assoziativen Logik der Bilder beruht, dazu führt, dass der Informationswert einer Werbung stark kulturabhängig ist. In ihrer qualitativen Studie anhand von Interviews mit britisch-stämmigen, sowie immigrierten TeilnehmerInnen zeigten Bulmer und Buchanan-Oliver (2006b, S. 64), dass die Interpretation von komplexen Werbungen kulturabhängig ist. Ein Grund dafür ist der Unterschied zwischen Kulturen, in denen Informationen mit hohem oder niedrigem Kontext vermittelt werden. In Ländern mit hohem Kontext in der Informationsvermittlung wird in der Kommunikation Hintergrundwissen vorausgesetzt. Es wird indirekt und implizit kommuniziert. In Niedrig-Kontext-Ländern wird direkt und klar kommuniziert. Der gesamte Informationsgehalt wird vermittelt. Während dementsprechend in Niedrig-Kontext-Ländern wie den USA, Großbritannien oder Deutschland eher Werbungen mit direkter, faktischer Information bevorzugt werden, werden in Hoch-Kontext-Ländern wie Japan, Korea oder China signifikant mehr symbolische Werbebilder eingesetzt (An 2007, S. 317). Werbetreibende sollten dementsprechend die Verwendung von visueller Rhetorik sowie deren mögliche kulturübergreifende Interpretationen bedenken. Abgesehen von den verschiedenen Arten und Wirkungsformen von Bildern, beeinflussen auch Verarbeitungsprozesse bei den Sehenden die Wirkung von Werbebildern. Im Folgenden werden Modelle vorgestellt, welche wichtige Verarbeitungsprozesse und deren Aspekte darstellen.

3.4

Das Modell der Wirkungspfade

Ein sehr etabliertes Modell, welches sich unter anderem mit den Wirkungswegen von Werbebildern auseinandersetzt, bezeichnet man als Modell der Werbewirkungspfade (Kroeber-Riel et al. 2009). Wenn man das Gesamtbild der Wirkungswege von Werbung und folglich wie Persuasion abläuft, verstehen möchte, ist dieses Modell sehr wichtig. Es beschreibt, dass das Ausmaß der Wirkung von unterschiedlichsten Aspekten abhängig sein kann. Zuallererst spielt das Involvement der RezipientInnen eine zentrale Rolle: Ob beispielsweise ein Werbebild seine Wirkung erzielt, ist stark davon abhängig, wie involviert die zu beeinflussenden Personen sind. Vor allem bei Bildern geht man davon aus, dass diese vor allem bei wenig involvierten RezipientInnen einen Vorteil erzielen, da sie besonders schnell aufgenommen werden können (Kroeber-Riel und Esch 2011, S. 218).

216

M. Mayrhofer et al.

Eine weitere wichtige Determinante, welche die Wirkung der Werbebilder stark beeinflusst, ist die Art der Aufnahme der dargestellten Botschaft. Damit ist zwischen einer impliziten und expliziten Aufnahme zu unterscheiden. Während die explizite Aufnahme eine bewusste und kontrollierte Aufnahme der Werbebotschaft beschreibt, geht eine implizite Aufnahme mit unwillentlichen Prozessen einher. Dabei ist den RezipientInnen oftmals nicht bewusst, dass sie gerade mit einer Werbebotschaft konfrontiert wurden (Roth 2007, S. 237). Überdies stellt das vorhandene Wissen der zu beeinflussenden Personen einen wichtigen Aspekt dar. Das Wissen über Werbewirkungen bzw. beispielsweise die Bekanntheit von Marken, ist in diesem Bereich wichtig (Kroeber-Riel und Esch 2011, S. 231). Des Weiteren ist die jeweilige Gestaltung der Werbung an sich ein Aspekt, welcher ihre Wirkung maßgeblich beeinflusst: Sprache, Bilder, Emotionen und Information sind hierbei erwähnenswerte Gestaltungselemente (Kroeber-Riel et al. 2009, S. 635). Schließlich spielt auch die Anzahl der Wiederholungen der jeweiligen Werbung eine Rolle, auch zu bezeichnen als der Mere-Exposure-Effekt (Wirth und Kühne 2013, S. 318). Wie anhand der Auflistung deutlich erkennbar ist, ist die Beeinflussung durch Werbung von den unterschiedlichsten Determinanten abhängig. Abb. 1 stellt dar, wie die Wirkungspfade bei einer Konfrontation mit Werbebildern aussehen. Betrachtet man die Abbildung, so wird deutlich, dass allgemein die Gestaltung der Werbungen an sich, folglich auch die Gestaltung des Werbebildes, wichtig ist. Dabei ist vor allem bedeutsam, ob bei der Vermittlung der Botschaft eher auf Information oder Emotion gesetzt wird. Je nach Gestaltung ist wieder das Involvement, also die

Abb. 1 Grundmodell der Werbewirkungspfade (Kroeber-Riel et al. 2009, S. 635)

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

217

starke oder schwache Aufmerksamkeit für den Werbeinhalt entscheidend. Wenn RezipientInnen besonders involviert sind, dann scheint eine informative Gestaltung des Werbebildes als besonders sinnvoll, während ein weniger involviertes Publikum bei einer emotionalen Werbebotschaft wünschenswert ist. Bei informativer Werbung und einem hoch involvierten Publikum geht der Wirkungsprozess über die Route der kognitiven Vorgänge, was folglich je nach Gestaltung des informativen Inhaltes zu positiveren Einstellung und Verhalten gegenüber dem dargestellten Produkt führen kann. Ist ein Rezipient bzw. eine Rezipientin jedoch wenig involviert und betrachtet ein informatives Werbebild, dann wird keine starke positive Einstellung gegenüber dem Produkt ausgebildet. Vielmehr, falls es aufgrund des Erinnerungseffektes doch zu einem Kauf kommt, wird erst nach diesem Vorgang die Einstellung beeinflusst. Betrachtet man nun emotionale Werbung, so führt eine solche Darstellung eines Produktes bei hoch involvierten Personen zu einer Verbesserung der Markeneinstellung. Vor allem bei Werbebildern dient eine emotionale Gestaltung als Grundprinzip. Dabei kommt es über den emotionalen Pfad auch zu einer Beeinflussung der kognitiven Vorgänge, wobei folglich diese kognitiven Vorgänge die Einstellung und das Verhalten beeinflussen. Bei geringem Involvement und emotionaler Werbung kann im Gegensatz dazu die Werbebotschaft direkt durch den emotionalen Pfad auf das Verhalten wirken (Krober-Riel und Esch 2011, S. 232–235). Über die Darstellung der möglichen Wirkungsweisen im Elaboration Likelihood Model (die genaue Beschreibung des Modells folgt im nächsten Abschn. 3.5) wird insofern klar, dass eine der Grundlagen der Vielzahl positiver Bildwirkungen, ihre Wirkung auf unterschiedlichen Pfaden ist. Werbetreibende können somit emotionsgeladene Bilder verwenden, welche auch unter peripherer Verarbeitung wirken, aber auch eine kognitive Verarbeitung über beispielsweise die Darstellung komplexerer visueller Elemente (Abschn. 3.2) anstreben.

3.5

Heuristische Hinweisreize in Werbebildern

Damit Werbebilder ihren Zweck der Persuasion des Kunden erfüllen können, müssen die durch das jeweilige Werbebild visuell vermittelten Informationen von den RezipientInnen zunächst verarbeitet werden. Ein bereits weit verbreitetes Modell beschreibt die möglichen Verarbeitungspfade in diesem Zusammenhang: das Elaboration Likelihood Model (Petty und Cacioppo 1986). Das Elaboration Likelihood Model (ELM) von Petty und Cacioppo (1986) ist eines der bekanntesten Zwei-Prozess-Modelle in der Rezeptionsforschung. Dieses Modell beschäftigt sich mit der Wahrscheinlichkeit, dass dargebotene Informationen in einer elaborierten, also sorgfältigen und aufwendigen Weise, verarbeitet werden. Dabei unterscheidet das Modell zwischen zwei möglichen Routen, um Informationen zu verarbeiten: Zum einen gibt es die zentrale Route, anhand welcher Informationen auf elaborierte Weise verarbeitet werden. Zum anderen beschreibt das Modell die periphere Route, bei der die Verarbeitung vor allem oberflächlich verläuft. Wie Informationen letztendlich verarbeitet werden, hängt laut diesem Modell unter anderem von der Motivation und der Fähigkeit der jeweiligen RezipientInnen zur Verarbeitung ab. Hohe Fähigkeit und hohe Motivation werden mit hohem Involvement gleichgesetzt. Die Meinung der RezipientInnen wird bei geringem

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M. Mayrhofer et al.

Involvement durch exekutive Heuristiken beeinflusst, während Argumente bei höherem Involvement eine wichtige Rolle einnehmen. Dennoch kann jedes Maß an Involvement beide Verarbeitungspfade ermöglichen, da die unterschiedlichsten Faktoren, wie zum Beispiel Persönlichkeitseigenschaften, als wichtig erachtet werden können (Bilandzic et al. 2015, S. 186–187). Gerade bei visueller Kommunikation wird davon ausgegangen, dass die Verarbeitung oftmals mit einem geringen Maß an gedanklicher Anstrengung einhergeht. Beispielsweise braucht ein Mensch durchschnittlich nur zwischen 1,5 und 2,5 Sekunden, um ein Bild zu einem späteren Zeitpunkt wiederzuerkennen bzw. abrufen zu können (Kroeber-Riel und Esch 2011, S. 218), was natürlich eine sehr attraktive Tatsache für die Werbewelt darstellt. In diesem Zusammenhang eignen sich Werbebilder vor allem für eine Verarbeitung auf der peripheren Route, da hierbei, wie bereits beschrieben, die Verarbeitung eher oberflächlich und mit wenig Anstrengung erfolgt. Dieser Prozess kann dann direkt zu einer Einstellungsbildung bezüglich des Produktes führen (Miniard et al. 1991, S. 104). Des Weiteren müssen Personen durch die schnelle Aufnahme der Bilder nicht unbedingt hoch involviert sein, um dennoch die Informationen abspeichern und später abrufen zu können, sodass dann eine Persuasion durch ein Werbebild hervorgerufen werden kann. Es zeigt sich vielmehr, dass sich die Wirkungen von Werbebildern gerade bei niedrigem Involvement besonders stark entfalten (Kroeber-Riel und Esch 2011, S. 202). Das bedeutet, dass Menschen sich nicht aktiv mit Werbebildern auseinandersetzen müssen, um durch diese beeinflusst zu werden. Vielmehr wird die Beeinflussung auf unterbewusste Weise anhand von peripheren Hinweisreizen ausgelöst. Miniard et al. (1991, S. 99–104) konnten in einem Experiment feststellen, dass Bilder tatsächlich bei niedrigem Involvement auf einer peripheren Route im Vergleich zu einer Verarbeitung auf einer zentralen Route zu einer besseren Bewertung des dargestellten Produktes führen. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Darstellung von produktrelevanten Informationen nur bei hohem Involvement die Bewertung des Produkts beeinflusst. Bei niedrigen Involvement verschwindet dieser Einfluss. Forschung in diesem Bereich zeigte auch, dass vor allem affektive Menschen (periphere Route) bei visueller Werbung dazu tendieren, sowohl die gezeigte Marke als auch die Werbung an sich besser zu bewerten. Dies kann u. a. damit erklärt werden, dass periphere Hinweisreize leichter bildlich dargestellt werden, da diese so leichter verarbeitet werden können, was wiederum das Verhalten und die Einstellung gegenüber der Marke beeinflusst (Sojka und Giese 2006, S. 1008).

4

Kritik am Werbebild

4.1

Stereotype in der Werbung

Betrachtet man die unterschiedlichsten aktuellen Werbebilder, so wird deutlich, dass diese sich oftmals stereotyper und einfacher Klischees bedienen (siehe auch den Beitrag von Schwender und Petersen in diesem Band): „[. . .] visual persuasion is likely to be a part of misleading advertising“ (Welch Cline und Young 2004, S. 138).

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

219

Ein oftmals erwähntes Beispiel stellt hierbei das Bild der Frau in der Werbung dar (Matthes et al. 2016). Goffman beschrieb schon 1979 in seinem Klassiker unterschiedliche, stereotype Darstellungen der Frau in Werbungen. Dabei stellte er sehr umfassend dar, dass Männer zumeist bildlich größer dargestellt werden und Frauen wiederum mit einem klischeehaften femininen Touch versehen wurden. Des Weiteren wurde der Frau bei der Durchführung einer Tätigkeit zumeist eine untergeordnete Rolle zugeschrieben, während der Mann als „Macher“ (zumeist auch bildlich) voranschritt. Auch in Bezug auf die Vorgehensweise in der Familie wurde stereotyp vorgegangen. Während die Mutter-Tochter-Beziehung als sehr emotional dargestellt wurde, wurde die Vater-Sohn-Beziehung eher als distanziert gezeigt. Überdies wurden Frauen bildlich oftmals untergeordnet positioniert (z. B. putzend am Boden oder sitzend am Bett vor dem aufrecht stehenden Mann). Zuletzt wurde der Mann auch als Beschützer der Frau stereotypisiert. Bildlich wurde hier beispielhaft oftmals eine emotionale Reaktion der Frau auf etwas Furchteinflößendes (z. B. Hände vors Gesicht halten, als eine emotionale Reaktion) dargestellt, während der Mann scheinbar furchtlos reagierte (Goffman 1979). Bell und Milic (2002) zeigten, dass die meisten dieser Darstellungen durchaus noch in Werbungen vorkommen. Auch Lindner (2004) zeigte in diesem Zusammenhang anhand einer Inhaltsanalyse von Werbungen in Fashionmagazinen zwischen 1995 und 2002, dass in diesen Magazinen (z. B. Vogue) Frauen sehr stereotyp dargestellt werden (78 % der MagazinWerbungen, welche Frauen abbildeten). In diesem Zusammenhang wurden Frauen als Objekte, dem Mann untergeordnet oder geistig nicht in der Lage, sich in großen Szenen durchzusetzen, dargestellt. Diese Kategorien skizzieren einen sozialen Unterschied zwischen Männern und Frauen, da die Darstellungen Frauen weniger soziale Macht zusprechen (Lindner 2004, S. 419). Dennoch scheint eine solche stereotype Klassifikation für die Werbeindustrie relevant. Zurstiege (2008, S. 119–120) beschreibt, dass eine Klassifizierung dessen, was männlich und weiblich ist, besonders wichtig ist, da die Werbeindustrie somit ihre Zielgruppen klar festlegen kann und auf diese Weise ihre Kundschaft definiert. Werbung hat also ein strategisches Interesse an dieser oftmals stereotypen Unterscheidung. Da bewiesen ist, dass eine stereotype Darstellung die Wahrnehmungen von sozialen Verhältnissen beeinflusst, muss diese stereotype visuelle Darstellung der Frau in Werbebildern jedoch als sehr problematisch angesehen werden (Signorielli 1989). Beispielsweise legten Harper und Tiggemann (2008, S. 655) klar dar, dass eine Darstellung eines dünnen Models zu einem höheren Grad an SelbstObjektivierung, Angst bezogen auf das eigene Gewicht, negativer Stimmung und Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führen kann. Da vor allem Bilder sehr leicht gemerkt und auch einfach abzurufen sind (Kroeber-Riel und Esch 2011, S. 216), ist gerade in diesem Bereich eine stereotype Darstellung folgenreich und daher unbedingt kritisch zu reflektieren (siehe dazu auch die Beiträge zu gendertheorischen Perspektiven auf visuelle Kommunikation von Maier und Thiele sowie zu Körperbildern von Hoffmann in diesem Band). Nicht nur das Geschlecht dient Werbebildern oftmals einer stereotypen Darstellung. Auch ältere Menschen werden in Werbebildern oftmals in Klischees gezwängt. So legten Lee et al. (2007, S. 28) klar dar, dass ältere Menschen eher mit Produkten

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M. Mayrhofer et al.

gezeigten werden, die eine stereotype Meinung begünstigen. Zumeist werben sie für Medikamente und medizinischen Service, aber auch für Lebensmittel, Autos und finanzielle und rechtliche Servicedienste. Diese Auswahl an Produkten begünstigt den Eindruck, dass ältere Menschen medizinische und finanzielle Sorgen haben und in diesen Bereichen sehr verwundbar sind. Andere Interessen werden ihnen dagegen abgesprochen. Zhang et al. (2006) haben einen Überblick über die bisherige Forschung in unterschiedlichen Ländern (USA, Großbritannien, Deutschland, China, Indien) in diesem Bereich gemacht. Sie kommen zu der Schlussfolgerung, dass vor allem ältere Frauen und Minderheiten kaum in Werbebildern dargestellt werden. Des Weiteren bewerten die Autoren die Darstellung älterer Menschen in Werbungen als durchaus positiv, wobei ältere Menschen eher im Hintergrund gezeigt wurden, was durchaus widersprüchliche Aussagen an die RezipientInnen vermittelt (Zhang et al. 2006, S. 278). „On the one hand, older adults are portrayed as vibrant, successful, and content, but mostly in the context of dealing with health care and financial management“ (Lee et al. 2007, S. 29). Auch Kessler et al. (2009), die sich mit TV-Werbebildern auseinandergesetzt haben, zeigen ähnliche Befunde auf: Zumeist sind ältere Menschen in Werbungen unterrepräsentiert, jedoch werden sie als offen und vital dargestellt. Überdies werden ältere Charaktere aus einer weiteren Kameraentfernung aufgenommen und befinden sich zumeist in generationsübergreifenden Settings und im nicht-familiären Kontext (Kessler et al. 2009, S. 104). Insgesamt wird folglich ein eher gemischtes Bild von Älteren gezeichnet. Ähnlich stellt sich die Situation dar, wenn man die Herkunft der dargestellten Menschen in Werbebildern betrachtet. Henderson und Baldasty (2003) zeigten in ihrer Forschung auf, dass in Prime-Time Werbungen im Fernsehen dunkelhäutige Menschen vor allem mit Billigprodukten, Fast-Food-Produkten oder mit Produkten bezogen auf Sportartikel dargestellt werden (Henderson und Baldasty 2003, S. 109). Wie man deutlich erkennen kann, wird durch die Auswahl der zu bewerbenden Produkte eine durchaus stereotype Wahrnehmung begünstigt. Wie anhand der bisherigen Erläuterungen deutlich gemacht wurde, bedienen sich Werbebilder bei unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen einer stereotypen Darstellung. Ob es nun die immer wiederkehrende Darstellung einer bestimmten Produktkategorie oder einer klischeehaften Charaktereigenschaft ist; durch die wiederholte Abbildung dieser Merkmale kann es zu einer klischeehaften Denkweise in der Bevölkerung kommen. Wie Goffman (1979) zweifelsohne zeigt, spielt hierbei auch die Art und Weise der visuellen Darstellung, ob es nun die Kameraeinstellung oder die Positionierung der Personen ist, eine nicht unerhebliche Rolle.

4.2

Irreführung durch Bilder am Beispiel von Greenwashing

Werbebilder können jedoch auch eingesetzt werden, um RezipientInnen bewusst in die Irre zu führen. Ein prominentes Beispiel ist hierbei das sogenannte Executional Greenwashing im Kontext der „grünen Werbung“ (Naderer et al. 2017). Grüne Werbung umfasst Botschaften, die in Bezug auf Produktion, Herstellung, oder Entsorgung einen positiven Beitrag zur Umwelt leisten. Werden falsche oder vage

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

221

Behauptungen in der Werbung aufgestellt, spricht man von Greenwashing, also dem nicht gerechtfertigten Assoziieren eines Produktes mit umweltfreundlichen Eigenschaften. Dieses Greenwashing kann insbesondere durch die Verwendung von emotionalisierenden Naturbildern unterstützt werden. Beispielsweise werden beim Executional Greenwashing Werbungen mit schönen Landschaftsbildern wie etwa Bergen oder Seen versetzt, die automatisch umweltfreundliche Assoziationen auslösen, obwohl das Produkt nicht umweltfreundlich ist. Daher spielen die Bilder eine aktive Rolle in der Irreführung der RezipientInnen. Oft werden zusätzlich noch einfache Schlagwörter wie „natürlich“ oder „rein“ verwendet, um diese Assoziation zu stärken. Da jedoch keine explizite grüne Behauptung in der Werbung vorkommt, öffnet sich hier ein Graubereich: Es werden zwar keine expliziten Statements zur Umweltfreundlichkeit verwendet, implizit wird aber durch die Verwendung der Bilder genau diese Assoziation geweckt (Hartmann und Apaolaza-Ibáñez 2008; Matthes et al. 2014), was zu einer positiven Bewertung des Produktes oder der Marke führen kann. Dies geschieht dabei vor allem über den Prozess des „virtuellen Naturerlebnisses“ (Hartmann und Apaolaza-Ibáñez 2008): Durch das Betrachten der Bilder wird das Gefühl ausgelöst, selbst in der Natur anwesend zu sein, was Menschen evolutionsbedingt als positiv empfinden (Hartmann und Apaolaza-Ibáñez 2008). Dieses positive Empfinden überträgt sich sodann auf die Marke. Jedoch gibt es trotz zahlreicher Beispiele kaum Befunde, die das Vorkommen von Executional Greenwashing und der dazu verwendeten visuellen Strategien systematisch inhaltsanalytisch nachweisen, auch steht die Forschung zur ihren Wirkungsweisen noch am Anfang.

5

Fazit

Der Beitrag hat aufgezeigt, dass dem Bild in der Werbung eine enorme Bedeutung zukommt, was vor allem an seinem Wirkungspotenzial liegt. Gerade im Zeitalter der permanenten Aufmerksamkeitsknappheit, bleibt nur wenig Zeit eine Botschaft an den Mann oder an die Frau zu bringen. Bilder können schnell und effizient verarbeitet werden, sie werden im Vergleich zu Texten leichter eingeprägt und erinnert und insbesondere auf der emotionalen Ebene können sie weitreichende Assoziationen hervorrufen, die mit einem Produkt oder einer Marke verbunden werden. Zudem sind Bilder für RezipientInnen ansprechender als Texte, was zu einem positiven Erleben der Werbung beiträgt. Schließlich kann durch das Aufkommen bildbasierter Social Media-Plattformen wie Instagram und Snapchat davon ausgegangen werden, dass Visualität in der Werbung weiter an Bedeutung gewinnen werden, da Werbeund Mediaagenturen gezielt auf bildbasierte Inhalte umsteigen, um diese Plattformen zu bedienen. Trotz grundlegender Einigkeit in der Forschungsliteratur zu den Vorteilen und der Wichtigkeit des Werbebildes sind die genauen Wirkungsmechanismen weniger klar. So stehen die Arbeiten zur visuellen Rhetorik und zu Persuasionsprozessen weitestgehend losgelöst voneinander. Zudem bleibt die Aussagekraft von Persuasionsstudien limitiert, wenn sie die Grundlagen der visuellen Kommunikation ausblenden

222

M. Mayrhofer et al.

und das Bild nur als einfachen Stimulus begreifen. Aktuell fehlt es noch an Analysen, die die Wirkelemente einzelner Bilder und Bildgattungen systematisch aufarbeiten und in die Theoriebildung zur Persuasion integrieren. Auf der anderen Seite sind Arbeiten zur visuellen Kommunikation sicherlich analytisch wertvoll, ohne eine Anbindung an werbepsychologische Arbeiten zur Persuasion jedoch nicht geeignet, die Wirkungsweise von Werbebildern umfassend zu erklären. Die größte Herausforderung stellt dabei freilich die Vielfalt von potenziellen Wirkelementen in Werbebildern dar. Dies bedeutet, dass verschiedene Eigenschaften bzw. einzelne Elemente von Bildern (z. B. Farbwahl, Blickfang, Vielfalt der abgebildeten Reize) wirkungsrelevant sein können, diese sich aber – anders als im Vergleich zum Text – nur kursorisch systematisch beschreiben, vereinfachen und voneinander losgelöst testen lassen. Damit steht streng genommen jede Bildwirkung für sich und lässt sich nur bedingt auf andere Bilder übertragen. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, wenn in der experimentellen Werbewirkungsforschung mit einzelnen Bildern gearbeitet wird. Wenn nur ein einziges Bild als Stimulus verwendet wird, ist die Generalisierung auf andere Bilder unklar und damit die Validität eingeschränkt. Werden hingegen mehrere Bilder, also mehrere unterschiedliche Werbeanzeigen zu einer Marke gezeigt, die mit dem gleichen Wirkelementen arbeiten, wird das systematische Verständnis der Wirkungsweise von Bildern gestärkt. Ein weiteres Forschungsdesiderat ist der Fokus auf die inhaltlichen Features von Bildern, wobei die Auswahl und Betrachtungsweise von Bildern seitens der RezipientInnen in den Hintergrund gerät. Dies hat damit zu tun, dass die Werbeforschung insbesondere an den persuasiven Wirkungen interessiert ist. Folgerichtig werden beispielsweise in experimentellen Studien den TeilnehmerInnen Bilder zur Betrachtung vorgelegt und deren Wirkung gemessen. Dies sagt jedoch wenig darüber aus, wie die Bilder von den RezipientInnen (selektiv) betrachtet werden. Hier sind Arbeiten zum Eyetracking dringend notwendig. Mit Eyetracking bzw. der Blickregistrierung kann nicht nur nachgewiesen werden, welche Bildelemente besondere Aufmerksamkeit genießen und damit besonders wirkungsrelevant sind, sondern auch, wie und ob sich Eigenschaften der RezipientInnen anbieten, die genaue Betrachtungsweise eines Bildes vorherzusagen, also, wo wie lange hingeschaut wird (siehe dazu auch den Beitrag zu Methoden der Bildrezeptions- und Wirkungsforschung von Geise in diesem Band). Diese Vorhersage kann und sollte durchaus theoriegeleitet erfolgen (Marquart et al. 2016). Trotz der offensichtlichen Bedeutung von Blickregistrierung für das Werbebild sind kaum theorieorientierte Studien zu finden, die über eine rein praxisorientierte Analyselogik hinausgehen. Schließlich lässt sich aus den obigen Ausführungen folgern, dass durch die zunehmende Vermischung von Werbung und Programm das Werbebild immer schwieriger vom redaktionellen Kontext trennbar ist (siehe Siegert et al. 2007). Dies bringt eine ganze Bandbreite an neuartigen Fragestellungen mit sich, insbesondere hinsichtlich der Fähigkeit der RezipientInnen, Werbung als solche zu identifizieren und Werbebilder zu entschlüsseln oder hinsichtlich der Frage, ob die Ästhetik des klassischen Werbebildes erhalten bleiben wird, wenn es zu einer vermehrten Anpassung an den organischen Inhalt der Plattformen kommt. Auch die Thematik der Irreführung durch Werbebilder gewinnt dadurch weiter an Relevanz, was die Dring-

Werbebilder in der Kommunikationsforschung

223

lichkeit von Forschungsbemühungen an der Schnittstelle von Visueller Kommunikationsforschung und Werbeforschung unterstreicht.

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Visuelle Unternehmenskommunikation Visuelle Kommunikation als strategisches Instrument der Marken- und Unternehmenskommunikation Alexander Berzler

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Definition und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Modellentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Visuelle Kommunikation als strategisches Instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Aufbau und Erhalt einer klaren Identit€at, das Differenzieren von der Konkurrenz sowie das Erreichen von Aufmerksamkeit werden als Kernfunktionen Visueller Kommunikation im Marken- und Unternehmenskontext pr€asentiert. Das begriffliche Verst€andnis wie auch das Modell und die dargelegten ganzheitlichen Anwendungsfelder der Visuellen Unternehmenskommunikation gehen daher deutlich € uber die Ebene der dekorativen Ästhetik hinaus und pr€asentieren visuelle Kommunikation vielmehr als strategisches Instrument der Marken- und Unternehmenskommunikation. In Zeiten der Informations€uberlastung und ges€attigter M€arkte mit austauschbaren Produkten (etwa in Bezug auf Kernnutzen, Qualit€at, Preis) und Dienstleitungen wird die ökonomische Bedeutung visueller Kommunikation f€ur die Marken- und Unternehmenskommunikation evident. Schlüsselwörter

Visuelle Kommunikation · Unternehmenskommunikation · Corporate Design · Branding · Strategische Unternehmensf€uhrung

A. Berzler (*) Agentur Berzler, Lochau bei Bregenz, Österreich E-Mail: offi[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_11

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1

A. Berzler

Einleitung

Emotionen, Intuitionen, Erinnerungen oder Instinkte – das Unterbewusstsein spielt bei menschlichen Entscheidungen eine entscheidende Rolle. Nach neueren Erkenntnissen der Gehirnforschung und des Neuromarketings verhalten sich Menschen keineswegs bewusst und rational. Über 95 % aller menschlichen „Entscheidungen“ werden anhand unbewusster/intuitiver und emotionaler Bewertungskriterien getroffen. Die gezielte Ansprache von Emotionen wird daher zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil in einem immer „enger“ werdenden Markt. Bez€uglich Preis und Leistung austauschbare Produkte stellen Unternehmen vor das Problem der Positionierung. Neben dem Potenzial der „Visuellen Differenzierung“ werden im vorliegenden Beitrag die Möglichkeiten der Evozierung visueller Aufmerksamkeit und das langfristig-strategische Unternehmensziel der Etablierung einer visuellen Identit€at pr€asentiert (Abschn. 4.2). Visuelle Kommunikation wird somit als strategisches Instrument der Unternehmenskommunikation diskutiert. Die Einsatzgebiete visueller Kommunikation (Abschn. 4.3) werden basierend auf dem in Abschn. 3 vorgeschlagenen Modell der Visuellen Unternehmenskommunikation kategorisiert. Diese Anwendungsfelder werden in die Bereiche Kommunikationsdesign (Markt, Gesellschaft und Organisation), Umgebungsdesign (Außen- und Innenarchitektur, Point of Sale) sowie Produktdesign (Produkt, Transport, Interface) untergliedert (Abschn. 4.3). Diesen Bereichen €ubergeordnet ist das Corporate Design, welches sich aus der Corporate (Brand) Identity ableitet und somit grundlegend die „Visuelle Identit€at“ des Unternehmens bzw. der Marke definiert.

2

Definition und Abgrenzung

Kommunikation „Kommunikation“ bedeutet Menschen zu „beeinflussen, und zwar dadurch, daß man dem andern mittels Zeichen (im weitesten Sinne) zu erkennen gibt, wozu man ihn bringen möchte, in der Hoffnung, daß diese Erkenntnis f€ur den andern ein Grund sein möge, sich in der gew€unschten Weise beeinflussen zu lassen.“ (Keller 1995, S. 105). Diese semiotische Definition pointiert den €uberzeugenden bzw. €uberredenden Charakter des Kommunizierens im Allgemeinen und stellt das Gelingen von Kommunikation per se in Frage. Pepels (2015, S. 30) greift ebenfalls den persuasiven Charakter auf und erg€anzt die Definition um die Arena des Marktes: „Kommunikation ist die bewusste Beeinflussung marktwirksamer Meinungen mittels Instrumentaleinsatz mit der Absicht, die Meinungsrealit€at im Markt den eigenen Zielvorstellungen anzugleichen.“ Die Notwendigkeit einer erfolgreichen Informations- und Bedeutungsvermittlung der Instrumente mittels Zeichen (verbal, nonverbal, massenmedial, architektonisch usw.) wird im ökonomischen (und vorökonomischen, psychografischen) Kontext der Marken- und Unternehmenskommunikation evident.

Visuelle Unternehmenskommunikation

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Unternehmenskommunikation Die wirtschaftliche Bedeutung von Unternehmenskommunikation wird deutlich, wenn Zerfaß (2010, S. 287) den Ausdruck als alle „kommunikativen Handlungen von Organisationsmitgliedern, mit denen ein Beitrag zur Aufgabendefinition und -erf€ ullung in gewinnorientierten Wirtschaftseinheiten geleistet wird“ skizziert. Konkret betreffen diese Handlungen einerseits die Steuerung des Realg€uterprozesses im Organisationsfeld (interne Unternehmenskommunikation), andererseits die Gestaltung marktbezogener und gesellschaftspolitischer Beziehungen (externe Unternehmenskommunikation). All diese Teilbereiche der Unternehmenskommunikation dienen letztlich dem Ziel der Formulierung, Realisierung und Durchsetzung konkreter Unternehmensstrategien. Zerfaß (2010) kombiniert in seiner „Grundlegung einer Theorie der Unternehmenskommunikation“ kommunikationswissenschaftliche Erkenntnisse (u. a. der Integrierten Kommunikation) mit Grundlagen und Herangehensweisen der Betriebswirtschaft. Dadurch wird ein anwendungsorientierter Blick auf das Themenfeld gesichert, das Forschungs- und Theoriefeld um gesellschaftspolitische Aspekte erweitert und das „verk€urzte Kommunikationsverst€andnis der Betriebswirtschaftslehre“ (Zerfaß 2010, S. 9) angereichert. Der betriebswirtschaftliche Fokus auf eine strategische – also an den Unternehmenszielen orientierte – Informations- und Bedeutungsvermittlung ist auch f€ur die Visuelle Unternehmenskommunikation erfolgsentscheidend. Die Kommunikation im Unternehmenskontext, respektive die Übermittlung von unternehmensrelevanten Informationen und Bedeutungsinhalten, ist dementsprechend zwangsl€aufig persuasiv und dient dem Zweck der „Steuerung von Meinungen, Einstellungen, Erwartungen und Verhaltensweisen bestimmter Adressaten gem€aß spezifischer Zielsetzungen“ (Bruhn 2014a, S. 3). Visuelle Kommunikation Diese kommunikativen Handlungen im Kontext der Marktkommunikation werden dabei € uberwiegend nicht interpersonell (im Sinne einer Individualkommunikation Mensch-zu-Mensch oder Mensch-zu-Personengruppe), sondern €uber Medien (audio)visuell € ubertragen und empfangen. Dies betrifft neben klassischen Medien auch mobile Endger€ate, d. h. auch die Mensch-Maschinen-Interaktion im Anwendungsfeld der Interfaces (siehe auch Tab. 2, Umgebungsdesign/Innenarchitektur und Produktdesign/Interfaces) muss in diesem Kontext ber€ucksichtig werden. Die Forderung nach einer multisensualen Marken- und Unternehmenskommunikation – also der simultanen Ansprache mehrerer Sinne und der damit einhergehenden „höheren kognitiven Verarbeitung“ (Steiner 2011, S. 6), respektive einer „schnelleren, akkurateren und € uberadditiven“ neuronalen Reaktion der Rezipierenden (Rowland et al. 2007, S. 5881 ff.) – ist auf Grund der gegenw€artigen Kommunikationssituation am Markt nachvollziehbar: Diese ist charakterisiert durch bez€uglich ihres Kernnutzens und ihrer Qualit€at austauschbare Produkte, durch eine ablehnende Haltung gegen€ uber werblichen Botschaften im Allgemeinen und damit verbunden durch eine geringe kognitive Aufnahme von Werbebotschaften. Tab. 1 zeigt branchenbezogen die relative Wichtigkeit der Sinnesmodalit€aten, deren jeweilige Bedeutung nach

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A. Berzler

Tab. 1 Branchenbezogene relative Wichtigkeit der Sinnesmodalit€aten Branche Fahrzeuge Elektronik Haushalt Einrichtung Mode B€ uroartikel Hygiene Lebensmittel Service

Beispiele Autos, Fahrr€ader Fernseher, Digitalkameras Wasserkocher, Mikrowellen Lampen, Couchgarnituren Bekleidung, Accessoires Kugelschreiber, Stifte Handt€ ucher, Deodorants Getr€anke, S€ ußigkeiten Hotels, Fluglinien

Sehen ••••• •••••

Hören •••• •••••

F€ uhlen •••• ••••

Riechen ••• ••

Schmecken • •

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Legende: ••••• = Sehr wichtig, • = sehr unwichtig Quelle: Eigene Darstellung nach Kilian (2010, S. 43)

Anwendungsfeld variiert. Deutlich wird hier vor allem, dass der Sehsinn stets eine wichtige Rolle spielt (Kilian 2010, S. 42). Eine Studie des „Secretariat of the Seoul International Color Expo 2004“ relativiert die Relevanz multisensualer Ansprache beim Kauf eines Produktes (Morton 2010): „92.6 percent said that they put most importance on visual factors when purchasing products. Only 5.6 percent said that the physical feel via the sense of touch was most important. Hearing and smell each drew 0.9 percent.“ Die visuelle Kommunikation, also die Ansprache €uber den visuellen Kanal, ist nach wie vor der in der Marktkommunikation am st€arksten adressierte Sinn, da 83 % aller Informationen € uber das Auge aufgenommen werden (Lindstrøm 2011, S. 111). Diese Botschaften sind v. a. determiniert durch die Codierung von Inhalten in Zeichen, welche in der Lage sind (bzw. sein sollten), diese Inhalte „objektivierend“ zu repr€asentieren – d. h. diese Nachrichten sollten sowohl f€ur die KommunikatorInnen als auch f€ur die RezipientInnen dekodierbar sein. Bei der visuellen Kommunikation handelt es sich nicht ausschließlich um die Verwendung visueller Symbole und Bilder, sondern h€aufig um eine Kombination von Bild und Sprache. Die formale typografische Gestaltung z€ahlt dabei zum Aufgabenspektrum des Kommunikationsdesigns, der Textinhalt allerdings nicht. Zur visuellen Kommunikation z€ahlen s€amtliche visuellen bzw. bildlichen Mitteilungen: Neben Grafik und Typografie im Online- und Offlinebereich sind dies auch Fotografie, Film sowie Fernsehen, aber auch Architektur. Zur prinzipiellen Unterscheidung von „Grafik“ und „Visueller Kommunikation“ konstatiert Aicher (1994, S. 8), dass Grafik sich auf eine Sache bezieht, auf das Tun des Grafikers. Der Ausdruck „Visuelle Kommunikation“ erweitert dabei den Grafik- und Designbegriff und stellt diesen in Beziehung zur Produktion visueller Objekte, um bestimmte Botschaften zu vermitteln. Eine Definition, welche sich auf die Rezeption fokussiert, steuern Schuck-Wersig und Wersig (2001) bei, indem sie den Ausdruck

Visuelle Unternehmenskommunikation

231

„Visuelle Kommunikation“ als eine Wahrnehmungssituation umschreiben, die bewusst so gestaltet wird, dass ein kommunikativer Effekt entsteht, d. h. „daß durch die Übertragung und Verarbeitung von Signalen beim Rezipienten ein bestimmter, vom Kommunikator zumindest teilweise so gewollter innerer Zustand erzeugt wird.“ Neben Bildern gehören auch „abstrakte“ Darstellungen wie Verkehrs- und Unternehmenszeichen (Markenzeichen bzw. Logos/Signets), Diagramme, Schriftzeichen usw. – also grafische Zeichen und Symbole – zum Repertoire visueller Kommunikation. F€ ur den persuasiven o¨konomischen Kontext der Marken- und Unternehmenskommunikation kann der Ausdruck „Visuelle Kommunikation“ wie folgt definiert werden: Visuelle Kommunikation ist die intentionale Vermittlung von Botschaften mittels visueller Stimuli zum Zwecke der Evozierung beabsichtigter kommunikativer Effekte. Visuelle Unternehmenskommunikation Im Ausdruck „Visuelle Unternehmenskommunikation“ verschmelzen die Felder „Visuelle Kommunikation“ und „Unternehmenskommunikation“ sowohl formal als auch inhaltlich. F€ur den Kontext des unternehmerischen Handelns muss die oben gew€ahlte Ausdrucksbeschreibung visueller Kommunikation gleichermaßen erweitert und eingeschr€ankt werden: Der Bezugsrahmen schr€ankt sich einerseits auf das Handlungsfeld der Unternehmenskommunikation ein, andererseits ist zugleich eine Erweiterung der einsetzbaren visuellen Stimuli erforderlich – denn neben Bildern und grafischen Zeichen vermittelt exemplarisch auch die Arbeitskleidung oder die Innen- und Außenarchitektur eines Unternehmens durch die Farb- und Formwahl optische Botschaften. In summarischem Bezug auf die bisherigen Ausf€uhrungen l€asst sich folgende Ausdrucksdefinition ableiten: Visuelle Unternehmenskommunikation umfasst die strategische Botschaftsvermittlung mittels s€amtlicher, dem Unternehmen zur Verf€ ugung stehender, visueller Kommunikationsformen, welche eingesetzt werden, um kurz-, mittel- oder langfristigen ökonomischen oder vorökonomischen Zielen zu dienen.

Unter diesem Begriff werden somit s€amtliche visuelle Stimuli subsumiert, die einem Unternehmen zur Vermittlung gezielter Kommunikationsbotschaften dienen. Dazu z€ahlen grunds€atzlich Bilder und grafische Zeichen (Formen und Farben) bzw. visuelle Kommunikationsmittel (Plakate, Imagebrosch€uren, Werbespots usw.) aller Art, aber auch Innen- und Außenarchitektur, Webauftritt (Corporate Sites, Webshops, Microsites usw.), Social Media-Auftritt, Dienstkleidung, Fahrzeuggestaltung usw. Zu den „Formen“ bzw. „grafischen Zeichen“ sind auch s€amtliche einsetzbaren Schriftzeichen zu z€ahlen, da zum Aufgabenfeld der Visuellen Unternehmenskommunikation (bzw. des Kommunikationsdesigns) auch die formale typografische Gestaltung z€ahlt. Die textinhaltliche Gestaltung z€ahlt jedoch €ublicherweise nicht zu diesem T€atigkeitsbereich. Eine Übersicht zu den Schnittstellen der Unternehmens- und visuellen Kommunikation wird in Abschn. 4.3 dargelegt. Das planm€aßige Einsetzen von visuellen Kommunikationsmitteln bzw. von Bildern, grafischen Zeichen und Farben dient der Vermittlung unternehmensrelevanter

232

A. Berzler

Inhalte, ist meist persuasiv und verfolgt ökonomische und vorökonomische Ziele wie beispielsweise rezipientenseitige Einstellungs€anderungen. Beispiele daf€ur sind die Verbesserung des Informationsstandes, die Modifikation des Produkt-, Markenund/oder Unternehmensimages, die Förderung gegenseitigen Vertrauens usw. Das langfristige strategische Ziel eines integrierten Einsatzes visueller Unternehmenskommunikation liegt dabei im konsequenten Aufbau und Erhalt einer einzigartigen visuellen Identit€at.

3

Modellentwurf

Aus strategischer Sicht liegt das langfristige Ziel visueller Unternehmenskommunikation in der Etablierung einer „visuellen Marke“ (integriert in allen Handlungsfeldern), einer klar von der Konkurrenz differenzierbaren visuellen Identit€at, welche die Vision des Unternehmens (bzw. den „Markenidentit€atskern“) verkörpert. Um sowohl langfristig-strategische als auch konkret-operative Marketing-/Kommunikationsziele erreichen zu können, m€ussen die Potenziale der Kommunikation von Inhalten und Botschaften durch „semiotisch hochwertige Bilder und Zeichen“ ausgeschöpft werden. Unter dem Ausdruck „semiotisch hochwertig“ werden hier visuelle Konfigurationen (Bilder und grafische Zeichen) verstanden, welche (1) €uber einen hohen Bedeutungsgehalt verf€ugen (d. h. die zu kommunizierenden Botschaften in sich codieren), (2) mittels der Gestaltung die gew€unschten emotionalen Qualit€aten kommunizieren, (3) die beabsichtigten Assoziationen hervorrufen und (4) f€ ur die anvisierte Zielgruppe ad€aquat und dekodierbar sind. Als „semiotisch hochwertig“ sollen nur solche Bilder und Zeichen bezeichnet werden, die neben der oberfl€achlichen Abbildung (im Sinne der Ähnlichkeit mit dem bezeichneten Objekt, Ebene der Denotation) auch €uber die gew€unschten symbolisch-assoziativen Botschaften (Ebene der Konnotation) verf€ugen. Im Zuge der Auswahl und Gestaltung von Bildern und Zeichen muss dabei sowohl auf die Wirkung von Details, als auch auf die visuelle Konfiguration als Ganzes geachtet werden. Das erarbeitete Modell (Abb. 1) baut auf diesen Überlegungen auf und soll als ein holisitischer Ansatz betrachtet werden, welcher auf den Prinzipien der Integrierten Kommunikation mit den Dimensionen formaler, inhaltlicher und zeitlicher Integration (siehe auch Bruhn 2014b, S. 123–135) basiert. Die Unternehmens- bzw. die Markenidentit€at sollte nach Meinung des Verfassers die konzeptionelle Basis f€ur jegliche kommunikativen Handlungen eines Unternehmens bzw. einer Marke darstellen. Daher bildet die „Corporate (Brand) Identity“ (CBI) die Ausgangsbasis f€ur das Modell „Visuelle Unternehmenskommunikation“ (VUK). Diese identit€atskonstituierenden Überlegungen fließen in den Kern des Modells ein. Im Zentrum des Modells steht der Transformationsprozess der Visuellen Unternehmenskommunikation, im Zuge dessen mittels strategischer Konzeption und Kreation, die zu verfolgende Strategie und der zu vermittelnde Inhalt in eine ansprechende visuelle Form komprimiert wird: Strategie ! Inhalt ! Form. Das Ergebnis dieses Prozesses stellen die zwei Hauptkomponenten des Modells dar: (1) Das Corporate Design und (2) das Kommunikationsdesign. Unter dem Ausdruck

Visuelle Unternehmenskommunikation

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Corporate (Brand) Identity

ATEGIE

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FO

VUK

IN HA L

RM

S TR

Corporate Design

Produktdesign

Umgebungsdesign Kommunikationsdesign

Public Relations-Mittel

Marktkommunikationsmittel

Organisationsmittel

Abb. 1 Modell der Visuellen Unternehmenskommunikation

„Corporate Design“ wird dabei „das einheitliche und charakteristische visuelle Unternehmensprofil eines Unternehmens, die unverwechselbare Form“ (Abdullah und H€ ubner 2002, S. 11) verstanden. Scholz (2005, S. 335) beschreibt „Kommunikationsdesign“ als die „Herstellung und Manipulation visueller Artefakte zum Zweck der Kommunikation“. Die „Produkte“ des Kommunikationsdesigns sind „Kommunikationsmittel“, welche im vorliegenden Modell in die drei Subbereiche Public Relations-, Werbe- und Organisationsmittel untergliedert werden. Das Corporate Design ist dem Kommunikationsdesign €ubergeordnet, da dieses das visuelle Erscheinungsbild mittels teils sehr rigider Designvorgaben definiert. Diese Vorgaben m€ ussen dann sowohl im Produktdesign und Umgebungsdesign, als auch im so genannten Kommunikationsdesign – d. h. konkret auf s€amtliche Kommunikationsmittel des Unternehmens – konsistent und konsequent angewandt werden: Werbespots, Inserate, Imagebrosch€uren und -filme, Promotion-Material (Give-Aways/ Geschenke), Dienstkleidung, Fuhrpark (€außere Dienstwagen-Gestaltung), Verpackungen usw. Das Modell differenziert dabei, basierend auf den drei Hauptaufgabenfeldern der Unternehmenskommunikation nach Zerfaß (2010, S. 289), zwischen drei Arten von Kommunikationsmitteln – eingeteilt nach deren Handlungsarenen:

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A. Berzler

(a) Public Relations-Mittel, (b) Werbemittel und (c) Organisationskommunikationsmittel. Das vorliegende Modell verfolgt die Idee, die Grenzen zwischen Branding, Corporate Identity, Corporate Design, Werbung und Public Relations zu lockern bis aufzuheben, um s€amtliche visuelle Äußerungen eines Unternehmens – sowohl nach innen als auch nach außen – auf die definierten und zu kommunizierenden Botschaften abzustimmen. Der theoretische Fokus richtet sich auf die visuellen Aspekte der Unternehmenskommunikation. Es soll daher keinesfalls der Eindruck entstehen, dass die Visuelle Kommunikation von den €ubrigen Kommunikationsaktivit€aten getrennt verlaufe. Dem Umstand, dass praktisch bei s€amtlichen kommunikativen Maßnahmen ein Ineinandergreifen bzw. eine Synthese von auditiven/ textlichen und visuellen Formen bzw. von Inhalt und Form erfolgt, wird im Modell – grafisch dargestellt durch den „Konzeptions- und Kreationskern Strategie ! Inhalt ! Form“ – Rechnung getragen. Im Modell wurden die erstgenannten Ausdr€ucke zum Begriff „Corporate (Brand) Identity“ neu formiert, um das Konzept einer „identit€atsorientierten Unternehmensf€uhrung“ (Berzler 2009a, S. 61–85) in einem Ausdruck inhaltlich zu vereinen und um einer Trennung zwischen Markenf€uhrung (Branding) und Unternehmensphilosophie/Unternehmenspersönlichkeit (Corporate Identity) bewusst entgegen zu wirken. Vielfach sind f€ur die kommunikativen Aufgaben verschiedene Abteilungen und/oder externe Agenturen zust€andig, was zu dem Problem f€uhrt oder f€uhren kann, dass beispielsweise in der Werbung die Unternehmensphilosophie nicht ausreichend kommuniziert wird. Damit das Erscheinungsbild eines Unternehmens nicht nur schöne H€ ulle bleibt, m€ussen die visuellen Äußerungen mit Inhalten und Botschaften gef€ ullt werden, welche sich aus der Marken- bzw. Unternehmensphilosophie herleiten. Das Modell ersetzt nicht den Corporate Identity-Ansatz, sondern erweitert diesen um einen dynamischen Konzeptions- und Kreationskern (also den Prozess Strategie ! Inhalt ! Form), dessen Fokus auf den visuell-kommunikativen Aspekten liegt. Das Modell vereint (1) den Kommunikationsaspekt – d. h. die Vermittlung von Unternehmens- und Markenbotschaften durch den visuellen Kanal, (2) die Idee der integrierten Kommunikation und (3) den handlungsleitenden Aspekt der identit€atsorientierten Unternehmenskommunikation mit den zwei S€aulen „Corporate Identity“ und „Markenf€uhrung/Branding“ durch deren Zusammenf€uhrung im Ausdruck „Corporate (Brand) Identity“. Visuelle Kommunikation wird somit zum strategischen Instrument der Marken- und Unternehmenskommunikation.

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Visuelle Kommunikation als strategisches Instrument

4.1

Ziele und Funktionen Visueller Kommunikation

Die in der klassischen und neo-klassischen Wirtschaftstheorie h€aufig anzutreffende Fiktion eines „Homo oeconomicus“ – im Sinne eines ausschließlich wirtschaftlich denkenden und handelnden Menschen mit einer F€ahigkeit zu uneingeschr€ankt rationalem Verhalten auf dem Weg zur Nutzenmaximierung wurde durch zahlreiche

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Forschungsergebnisse widerlegt (Kreutzer 2013, S. 55–61). Vielmehr zeigt sich, dass keine Entscheidung ohne eine (in der Regel dominierende) emotionale Bewertung getroffen wird. Emotionen bestimmen somit das Informations- und Kaufverhalten viel umfassender, als dies bisher in vielen Konzepten und Kaufverhaltensmodellen herausgearbeitet wurde (Kreutzer 2013, S. 57). Dies wird auch durch Erkenntnisse des Neuromarketings gest€utzt; Scheier und Held (2012, S. 44) fassen zusammen: „Subtile, implizite Codes steuern das Verhalten, nicht die reflektierten Kosten-Nutzen-Abw€agungen.“ Diese „Codes“ sind zwangsl€aufig mehrheitlich visueller Natur, da sowohl im Zuge der Informationsaufnahme im Allgemeinen (Lindstrøm 2011, S. 111), als auch in der Marktkommunikation der visuelle Kanal dominiert. Im Marken- und Unternehmenskontext findet diese „visuelle Ansprache“ in den drei Arenen (1) Organisation (interne Unternehmenskommunikation), (2) Markt und (3) Gesellschaft (externe Unternehmenskommunikation) statt. Dabei werden vorwiegend vorökonomische bzw. qualitative Ziele (z. B. Bekanntheitsgrad, Image, Einstellung, Sympathie usw.) verfolgt, die einen Beitrag zur Erreichung von ökonomisch-quantitativen Zielen (z. B. Umsatz, Gewinn, Marktanteil usw.) leisten sollen. Psychografische Ziele sind den ökonomischen Zielen vorgelagert. Die Erreichung ökonomischer Ziele setzt die Erreichung psychografischer Ziele somit voraus. In der Non-Profit-Kommunikation können weitere Ziele verfolgt werden: soziale Ziele, ökologische Ziele, religiöse Ziele, Bildungs- und Kulturziele, politische Ziele (Kreutzer 2013, S. 15). S€amtliche Ziele der Kommunikationspolitik (und damit auch der Visuellen Unternehmenskommunikation) lassen sich auf drei Kernziele zur€ uckf€ uhren (Kreutzer 2013, S. 326–327; Bruhn 2014c, S. 205–207): Informationsziele (kognitive Ziele), Beeinflussungsziele (affektive Ziele) und Steuerungsziele (konative Ziele). Um diese im Rahmen einer Erfolgskontrolle exakt messen zu können, bietet sich eine Differenzierung nach den angestrebten Wirkungsstufen (momentane Wirkung, dauerhafte Ged€achtniswirkung, finale Verhaltenswirkungen) an. Kernfunktionen der Visuellen Kommunikation im Zuge der Marktkommunikation sind (1) der Aufbau und Erhalt einer Visuellen Identit€at, inkl. der Vermittlung des Soll-Images (Corporate Branding, klares visuelles Profil/Erscheinungsbild), (2) die visuelle Differenzierung gegen€uber der Konkurrenz sowie (3) das Erreichen von Aufmerksamkeit (u. a. durch Aktivierungsstrategien) (siehe auch ausf€uhrlicher Berzler 2009a, S. 310–313, S. 287–289, S. 295–299). Es lassen sich jedoch zahlreiche weitere kognitive, affektive und konative Funktionen bzw. Kommunikationsziele seriell oder parallel abdecken (siehe auch ausf€uhrlicher Berzler 2009b, S. 11–13): 1) Vermitteln von Informationen (Visualisierung, Hinweis, Orientierung), 2) Auslösen von Emotionen (u. a. emotionales Aufladen von Marken oder Produkten), 3) Wecken von Interesse und Motivation (in externer als auch in interner Kommunikation), 4) Evozieren von Bed€urfnissen (Kommunikation realer und fiktiver Bed€urfnisse),

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5) Aufbau und Förderung von Beziehungen (beispielsweise zur Unterst€utzung des gegenseitigen Verst€andnisses), 6) Auslösen einer Aktion (persuasive Appelle an das Verhalten). Die anvisierten Kommunikationsziele lassen sich plakativ mit der so genannten AIDA-Formel summieren (Kreutzer 2013, S. 327): • Attention: Gewinnen der Aufmerksamkeit der Kommunikationssubjekte bzw. Zielpersonen • Interest: Wecken von Interesse am Kommunikationsobjekt • Desire: Auslösen eines Verlangens, das Kommunikationsobjekt haben zu wollen oder z. B. mittels einer Spende etwas Gutes tun zu wollen • Action: Auslösen des Kaufaktes, einer Spende, Beantragung einer Mitgliedschaft usw. Angesichts der heutigen Bedeutung des Internets im Hinblick auf online-affine Bezugsgruppen sollte die Formel um die zwei Schritte „Search“ und „Share“ erweitert werden: • Search: Anstoß zu Suchprozessen • Share: Stimulierung, damit die Kunden nach Abschluss des Kaufprozesses ihre (positiven) Erfahrungen mit anderen teilen und so zur Mund-zu-Mund-Propaganda beitragen Wenngleich das AIDA-Modell auf Grund der hierarchischen Abfolge der Werbewirkungsstufen als grobes Raster der Werbewirkung in der Marketingliteratur kritisiert wird und andere Stufenabfolgen zu beobachten sind, wird deutlich, dass es sich bei der Verarbeitung von Informationen durch RezipientInnen bzw. KonsumentInnen um einen mehrstufigen Prozess handelt. Die Erf€ullung einzelner Subziele (z. B. Bekanntheit, Interesse) ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung daf€ ur, dass Produkte oder Dienstleistungen schlussendlich nachgefragt werden (Bruhn 2014c, S. 207). Als operationalisiertes Kommunikationsziel kann exemplarisch folgende Formulierung (nach Inhalt, Ausmaß, Zeit-, Objekt- und Segmentbezug) herangezogen werden: „Verbesserung der Wahrnehmung der Imagedimension ‚Sportlichkeit‘ bei den m€annlichen Autofahrern zwischen 19 und 27 Jahren um einen Punkt auf der Messskala bis Ende des n€achsten Jahres.“ (Bruhn 2014c, S. 207). Der Visuellen Unternehmens- und Markenkommunikation w€urde bei dieser Zielformulierung die Aufgabe zuteil, im Zuge s€amtlicher visueller Kommunikationsmaßnahmen die Imagedimension „Sportlichkeit“ zu vermitteln bzw. zu suggerieren. So banal dies von der theoretischen Seite aus klingen mag, so schwer f€allt dies h€aufig in der Praxis. Sowohl die Konzeption als auch die Kreation werblich aufmerksamkeitsstarker, als auch inhaltlich-strategisch ad€aquater Darstellungsformen – v. a. von abstrakten Ausdr€ucken wie „Zukunftsorientierung“, „Innovation“, „Vertrauen“, „Profitabilit€at“ usw. – ist keinesfalls eine triviale Aufgabe. Der strategisch-konzeptionelle und kreative Anspruch wird evident, wenn man sich

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klassische Anforderungen an Kampagnen- und Branding-Entw€urfe vergegenw€artigt. Als Beurteilungskriterien werden die Eignung der Kreativkonzepte und deren Designs f€ ur die angestrebte Markenpositionierung, Originalit€at, Verst€andlichkeit, Glaubw€ urdigkeit, Differenzierungspotenzial gegen€uber der Konkurrenz, Aufmerksamkeitswirkung, Produkt- oder Markenbezug, Pr€agnanz, Stimmigkeit mit anderen kommunikativen/werblichen Auftritten des Unternehmens u. a. m. herangezogen (Bruhn 2014c, S. 225).

4.2

Strategische Potenziale visueller Kommunikation

Die größten Potenziale visueller Kommunikation im Kontext der Unternehmenskommunikation ist in der Erf€ullung folgender drei Kernfunktionen zu sehen (Abschn. 4.1), welche deshalb im Folgenden n€aher erl€autert werden sollen: (1) Aufbau und Erhalt der Visuellen Identit€at, (2) Visuelle Differenzierung von der Konkurrenz, (3) Erreichen visueller Aufmerksamkeit. Visuelle Identit€ at Beim Aufbau und Erhalt der Visuellen Identit€at handelt es sich um eine langfristigstrategische Kommunikationsaufgabe. Diese „Identit€atsvermittlung“ beinhaltet die kontinuierliche Kommunikation des Selbstbildes bzw. Soll-Images und gr€undet daher auf der Vision und Mission des jeweiligen Unternehmens. Die formale und inhaltliche Integration s€amtlicher visueller Äußerungen ist hier Voraussetzung f€ur das Erreichen eines konsistenten „Wahrnehmungsbildes“. Melewar und Saunders (2000, S. 546) konnten in ihrer Studie belegen, dass ein hoher Grad an internationaler Standardisierung der visuellen Äußerungen eines Unternehmens – vor allem des Markenzeichens – zu einer gesteigerten Effizienz der Kommunikation und einer einheitlichen und konsistenten visuellen Identit€at f€uhrt. Persuasiv-strategische Marken- und Unternehmensbotschaften lassen sich besonders gut visuell € ubermitteln, da Bildinformationen im Vergleich zu Texten von den Rezipierenden kognitiv weniger elaboriert verarbeitet werden (siehe auch Schwan 2005, S. 130; Messaris 1997; Kroeber-Riel 1993, S. 94, siehe auch den Beitrag von Mayrhofer, Binder und Matthes in diesem Band). Zillmann et al. (1999) konnten weiterhin zeigen, dass visuelle Stimuli die Beurteilung von Sachverhalten beeinflussen können. Sie f€ugten einem ausgewogenen Nachrichtentext Bilder hinzu, die jeweils nur eine Seite der Botschaft hervorhoben. Es konnte nachgewiesen werden, dass die RezipientInnen in der Folge verzerrte Wahrnehmungen des berichteten Sachverhalts – in Richtung der vom Bild forcierten Aussage – hatten (Zillmann et al. 1999, S. 223 f.). Sind Bilder einmal im Ged€achtnis eingepr€agt, so sind diese auch resistent gegen€uber nachtr€aglichen Relativierungen – selbst, wenn sich die Bildaussagen als falsch entpuppen (Graber 1996, S. 88 f.). Bilder fördern die Identifikation mit Geschehnissen und deren Glaubw€urdigkeit. Auch der so genannte „Mere Exposure-Effekt“ dient der persuasiven Kommunikation: so f€uhren mehrma-

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lige Wiederholungen der Werbung f€ur ein bestimmtes Produkt zu einer positiveren Wahrnehmung durch die KonsumentInnen (Ambler und Burne 1999, S. 26; Matthes et al. 2005). Das Markenzeichen selbst kann als „Schl€ussel zum Markenimage“ (Esch und Langner 2005, S. 605) verstanden werden – unter anderem, da das sehr rasch im Ged€achtnis verf€ ugbare Logo den schlechter abrufbaren Markennamen und die sonstigen mit der Marke assoziierten Inhalte ins Bewusstsein ruft (der Mercedes-Stern ist beispielsweise weltweit ein Symbol f€ur hochklassige Technik, Qualit€atsarbeit und Prestige). Vielfach werden abstrakte Markenzeichen eingesetzt. Dies ist allerdings in Anbetracht der „stark €uberlegenen Wirkungsweise“ (Esch und Langner 2005, S. 606) von konkreten visuellen Reizen verglichen mit abstrakten durchaus verwunderlich (siehe auch zum Picture-Superiority-Effekt exemplarisch M€uller und Geise 2015, S. 108–109; Lobinger 2012, S. 80–82; McBride und Dosher 2002) – lediglich in seltenen F€allen ist a priori eine abstrakte Form der Markenzeichengestaltung ratsam (beispielsweise f€ ur die Gestaltung von Dachmarken, unter denen sehr unterschiedliche Produkte positioniert werden sollen). Das Markenzeichen eines Unternehmens sollte als Ged€achtnisanker bzw. als Ged€achtnisst€utze fungieren, welche den Zugriff auf die Marke in den Köpfen der KonsumentInnen erleichtert. Esch und Langner (2005, S. 608) nennen als Beispiele solcher visueller Pr€asenzsignale das MichelinM€annchen, den Kranich der Lufthansa und das Krokodil von Lacoste und betonen, dass diese Platzhalter bei der zunehmenden Reiz€uberflutung wichtige Anker darstellen. Sie f€ uhren weiter ein f€ur die Imagewirkung von Markenzeichen interessantes Forschungsergebnis an: So konnte eine Studie des Instituts f€ur Marken- und Kommunikationsforschung der EBS Universit€at f€ur Wirtschaft und Recht Wiesbaden belegen, dass die Wahl des Markennamens und des dazu gehörigen grafischen Zeichens einen erheblichen Einfluss auf die Beurteilung des visuellen Stimulus hat: Besitzen Markenlogo und Markenname die gleichen Assoziationsstrukturen, so f€uhrt dies (1) zu besseren Erinnerungs- und (2) zu besseren Gefallenswerten – verweist das bildliche Element auf den Namen der Marke und umgekehrt, so gef€allt diese Form den RezipientInnen besser, als wenn diese Übereinstimmung nicht vorliegt. Eine Abstimmung der Assoziationsstrukturen von Name und Signet tr€agt somit zum Aufbau einer klaren Positionierung bei (Esch und Langner 2005, S. 610–613). Nicht nur Formen, sondern auch Farben rufen bestimmte Assoziationen hervor. Wie groß der Einfluss der Farbgebung auf die Beurteilung von Logos und Anzeigen sein kann, belegt die Studie von Aschenbrenner (2011). In ihrer experimentellen Studie (n = 491) untersuchte sie im Rahmen einer Online-Befragung in Österreich den Einfluss der Farbgebung auf die Beurteilung von Anzeigen und Logos sowie auf die Identifikation von Marken. Der Farbwirkungsvergleich des fr€uheren Logos des Unternehmens Palmers mit dem aktuellen Markenzeichen brachte das Ergebnis, dass das Logo in der fr€uheren Farbe t€urkisgr€un als signifikant seriöser, vertrauenerweckender, sympathischer, ansprechender, frischer und nat€urlicher wahrgenommen wurde, als das Logo in der derzeitigen Farbe (Aschenbrenner 2011, S. 47–48). Aschenbrenner kommt summarisch zu folgendem Ergebnis: „Die Studie zeigt signifikante Unterschiede in der Beurteilung von Anzeigen und Logos aufgrund der Farbgebung (. . .) Farbe ist also keineswegs in ihrer Bedeutung zu untersch€atzen

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und tr€agt wesentlich zur Beurteilung von Marken und Anzeigen sowie zur Identifikation des Absenders von Werbesujets bei“ (Aschenbrenner 2011, S. 50–51). Der Wechsel der Firmenfarbe sollte daher wohl €uberlegt sein und die der Farbe zugeschriebenen Assoziationen nicht außer Acht gelassen werden. Wird die Unternehmens- bzw. Markenfarbe ge€andert, so kann die Beurteilung auch schlechter ausfallen als die der alten Farbe (Aschenbrenner 2011, S. 50–51). Farbe unterst€utzt das Image einer Marke u. a. durch die mit ihr verbundenen Emotionen. Wird mit der neuen Farbe ein Imagewechsel angestrebt, so kann dies mithilfe der mit der Farbe verbundenen Emotionen erleichtert werden. Die Studie von Aschenbrenner (2011) zeigt insgesamt auf, dass Farbe nicht nur unter €asthetischen Gesichtspunkten gesehen werden darf, sondern dass sie Emotionen transportiert und durch ihren verst€arkten und konsequenten Einsatz maßgeblich zur Wiedererkennung und Beurteilung der Marke beitr€agt. Die Studie von Labrecque und Milne (2012, S. 724) best€atigt außerdem, dass Farbe die Wahrnehmung der Persönlichkeit einer Marke, aber auch die Kaufabsicht entscheidend beeinflusst: „The results of our four studies provide strong support for the relationship between color and brand personality (. . .) In sum, a brand can use color to create a distinctive personality, which may be strategy for differentiation.“ (Labrecque und Milne 2012, S. 724). F€ur eine optimale Gestaltung der Visuellen Identit€at bzw. konkret des Markenzeichens und Corporate Designs sind neben der Wirkung konkreter Formen (Berzler 2009a, S. 195–198) somit auch die spezifischen Wirkungen von Farben und Farbkombinationen (Berzler 2009a, S. 216–219) sowie Form-Farbkombinationen (Berzler 2009a, S. 197–198) entscheidend. Das Design von Markenzeichen ist in der Praxis konzeptionell sowie handwerklich anspruchsvoll und daher in aller Regel kostenintensiv, da diese Zeichen in der Lage sein sollten, positionierungsrelevante Assoziationen und Emotionen zu vermitteln bzw. Vorstellungen zu wecken, die dem beabsichtigten Image entsprechen. Visuelle Differenzierung Im Zuge der Marktkommunikation muss es gelingen eine „Relevanz“ f€ur das eigene Angebot aufzubauen, d. h. dass „sich ein allgemeines Bed€urfnis (bspw. Hunger) bereits zum Bedarf hinsichtlich eines bestimmten Angebotes (bspw. Mars oder M€ uller Milchreis) konkretisiert hat.“ (Kreutzer 2013, S. 152). Diese Relevanz bezieht sich exemplarisch auf die Bereiche Lösungskompetenz, Image oder PreisLeistungs-Relation, welche summarisch den erwarteten Kundennutzen ausmachen. Inwieweit das eigene Angebot zum „Relevant Set“ der Zielgruppen z€ahlt bzw. das Ausmaß der Relevanz erreicht ist, h€angt in hohem Maße davon ab, ob eine Differenzierung des eigenen Angebotes im Wettbewerbsumfeld gelingt. Hierbei geht es um das Erreichen einer Unique Selling Proposition (USP), d. h. um die Herausstellung der eigenen Leistungen im Vergleich zum Wettbewerb (Kreutzer 2013, S. 153). Der Ursprung dieser zun€achst einleuchtenden Forderung liegt in den 1950er-Jahren, zu einer Zeit als das Marktangebot noch so l€uckenhaft war, dass es möglich wurde, eine alleinstellende Positionierung f€ur ein Angebot zu finden. Dadurch konnte „eine teilmonopolartige Stellung aufgebaut werden“ (Pepels 2014, S. 216). Die heutige Situation sieht anders aus: Markts€attigung, Versch€arfung des Wettbewerbs durch Internationalisierung und Globalisierung sowie eine steigende Anzahl neuer und

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austauschbarer Produkte. 85 % der von Stiftung Warentest getesteten Produkte werden mit „gut“ – also gleichwertig – beurteilt (Scheier und Held 2012, S. 21). Daher sind andere Konzepte und Strategien erforderlich. Statt der USP wird h€aufig eine UCP angestrebt: die Unique Communications Proposition, die eine Alleinstellung durch den kommunikativen – und daher größtenteils visuellen – Auftritt des Unternehmens anstrebt. Ausschlaggebend ist also nicht eine reale Alleinstellung (USP), sondern die emotionale Alleinstellung. Hierbei kommt eine weitere St€arke der Visuellen Kommunikation ins Spiel: die F€ahigkeit, nicht nur Informationen (wie z. B. technische Fakten), sondern vor allem Emotionen vermitteln zu können (siehe auch M€uller und Geise 2015, S. 108–109; Messaris 1997, S. 34 ff.; Kroeber-Riel und Esch 2015, S. 240–241, siehe den Beitrag von Döveling in diesem Band). Emotionale Werbungen sind einpr€agsamer (werden besser erinnert) als weniger emotionale, informationslastige Werbungen. Emotionale Reize steigern zudem die Lern- und Behaltensleistung (Ambler und Burne 1999, S. 25–29). Diese Möglichkeiten einer „emotionalen“ Bedeutungsvermittlung können strategisch eingesetzt werden, um dem Unternehmen bzw. der Marke ein pr€agnantes Profil zu verleihen. Emotionen werden in der Markenf€uhrung etwa eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu erregen, Einstellungen zu beeinflussen und ein bestimmtes Verhalten auszulösen. Emotionale Darstellungen machen „Angebote zur Empathie“ mit den Dargestellten (Bernhard und Scharf 2008, S. 236). Dass Emotionen besonders gut visuell kommuniziert werden können, h€angt insbesondere mit deren assoziativer Logik zusammen, denn Assoziationen sind h€aufig nicht rational erkl€arbar (Lobinger 2012, S. 85). Das Potenzial der Differenzierung €uber die visuelle Unique Communications Proposition wird in der Praxis sowohl kurzfristig (Kampagnen), als auch langfristigstrategisch zum Aufbau und Erhalt der Visuellen Identit€at angewandt. Im Zuge der strategischen Analysen und Konzeption vor einem Markteintritt bzw. einem Marken-Launch erscheint die von O’Connor (2011, S. 55–60) vorgeschlagene Strategie eines „Environmental Colour Mappings“ aller relevanten Marktteilnehmer sinnvoll: Tritt die Mehrzahl der Konkurrenten exemplarisch mit einem blauen Markenzeichen auf, so ist es naheliegend, f€ur das eigene Logodesign eine divergierende Farbe zu w€ahlen. Als visuelle Differenzierungsstrategie f€ur Bilder und Fotos schl€agt Gaede (2002, S. 18) Regel-Verletzung, Norm-Abweichung bzw. Erwartungs-Durchbrechung vor, welche nicht zuf€allig, sondern bewusst als kreatives Prinzip geschehen. Er unterscheidet dabei (1) deskriptive, beschreibende und (2) pr€askriptive, vorschreibende Normen. Zu ersteren z€ahlt Gaede (2002, S. 29 ff.) statistische Normen, Erfahrungsnormen, Wissensnormen und semiotische Normen. Pr€askriptiv sind laut Gaede (2002, S. 34 ff.) gesellschaftliche Normen, Regeln und technisch-pragmatische Festsetzungen (siehe auch summarisch Berzler 2009a, S. 297–299). Visuelle Aufmerksamkeit Am Anfang des Wahrnehmungsprozesses steht die Aufmerksamkeit. Unter dem Ausdruck „Aufmerksamkeit“ wird dabei ein Vorgang verstanden, bei dem der permanente Fluss unbewusst registrierter Reize („Scanning“) durch Zuwendung zu einem Reiz unterbrochen wird. Eine detaillierte Abhandlung zur visuellen Aufmerksamkeit aus physiologischer Sicht ist bei Wright und Ward (1998) nachzulesen.

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Vereinfacht l€asst sich dieser Prozess wie folgt beschreiben: Aufmerksamkeit bedeutet Reiz-Auswahl (Lachmann 2004, S. 21). Diese aus „ökonomischer Sicht“ sinnvolle Selektion wird in Anbetracht der explodierenden Menge an medial vermittelten Informationen zunehmend notwendig (Schierl 2001, S. 85). Prinzipiell werden lediglich jene Reize aufgenommen und verarbeitet, welche Aufmerksamkeit erregen bzw. erzeugen. Ob wir uns einem bestimmten visuellen Reiz (wie z. B. einer Werbeanzeige) zuwenden, h€angt auch von unseren Bed€urfnissen ab: So haben beispielsweise Untersuchungen ergeben, dass Mangelerscheinungen wie Hunger oder Durst die Wahrnehmung gegen€uber Reizen, die zu einer Mangelreduzierung wichtig sind, sensibilisieren (der Ausdruck „Fleisch“ wird exemplarisch im hungrigen Zustand der Probanden rascher wahrgenommen) (Schierl 2001, S. 86). Ein konkret-operatives Ziel f€ur die (werbliche) Marktkommunikation ist somit das Erreichen von Aufmerksamkeit f€ur das Kommunikationsobjekt bzw. das eigene Angebot. Erschwert wird diese Kommunikationsaufgabe durch die vorherrschende (audiovisuelle) Reiz€uberflutung und der in der Regel ablehnenden Haltung der RezipientInnen gegen€uber werblichen Botschaften. Um Aufmerksamkeit erzielen zu können werden Aktivierungsstrategien angewandt, indem z. B. Formen, Farben, Bewegungen und akustische Signale (bei Werbespots) strategisch eingesetzt werden. Es werden oftmals akustische und visuelle Signale verwendet, da diese eine höhere Aufmerksamkeit erzielen als Texte. Sie werden schneller und l€anger betrachtet (Geise und Brettschneider 2010, S. 83). Weitere summarische Erkenntnisse zur Bild-Text-Relation finden sich exemplarisch bei M€uller und Geise (2015, S. 109–112) und Lobinger (2009, S. 109–122). Das Ergebnis der Studie (n = 1419) von Scheier et al. (2005, S. 97) bekr€aftigt den Effekt, dass Bilder schnell und stark beachtet werden: Bilder werden grunds€atzlich deutlich fr€uher und st€arker betrachtet als Textelemente. Vielfach lassen sich Sachverhalte, welche vieler Worte bed€urfen w€ urden (z. B. Orientierungs- und Leitsysteme oder technische Anleitungen), visuell € uber Bilder (oder Illustrationen) €außerst rasch kommunizieren. Durch den Einsatz des Augenschemas ist es besonders einfach, auffallend zu kommunizieren, da „physisch intensiv ausgepr€agte“ Augenmotive nach Dieterle (1992, S. 73) unweigerlich den Blick und die Aufmerksamkeit der RezipientInnen auf sich ziehen. Wird ein Kommunikationsmittel betrachtet, so wird jedoch zuerst dessen Farbe bzw. farbliche Gestaltung wahrgenommen. Dies liegt unter anderem in der physiologischen Aktivierungskraft von Farben begr€ undet. Kramer (1998) analysierte 16 Studien zur Aktivierungswirkung von Farbtönen und fasst folgende Aktivierungsreihenfolge zusammen: (1) Rot, (2) Orange, (3) Gelb, (4) Violett, (5) Gr€un/ Blau. Die farbliche Gestaltung €ubt zwar keinen Einfluss auf die Betrachtungszeit eines Bildes aus, f€uhrt jedoch zu einer besseren Speicherung, was vor allem dem Wiedererkennungswert („recognition“) zu Gute kommt (Kramer 1998, S. 118–121). Farbe erhöht laut einer Studie der University of Loyola (Maryland) die Wiedererkennung von Marken um bis zu 80 % (Morton 2010). Innerhalb der ersten 90 Sekunden des ersten Kontaktes sch€atzen Kunden ein Produkt ein – bis zu 90 % dieser Einsch€atzung basieren allein auf dessen Farbgebung (Singh 2006, S. 783–789). Laut Wheeler (2009, S. 128) beeinflusst Farbe bis zu 60 % der Kaufentscheidungen von KonsumentInnen. Weitere ausgew€ahlte Farbwirkungen finden sich bei Ciotti (2014)

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und Bleicher (2011). Neben dem Aufmerksamkeits- und Aktivierungspotenzial im Kontext der Organisations- und Marktkommunikation spielt Farbe ebenfalls eine wesentliche Rolle in den Bereichen Produktdesign (siehe auch Choi et al. 2015), Architektur (Mahnke 1996) und Usability – sowohl bei der Gestaltung von Informationsleitsystemen (siehe auch die Studie zur Wahrnehmung von Farbhierarchien bei Puhalla 2008), als auch der Bedienung von Screens (im weitesten Sinne). Zum Einfluss der Farbergonomie/-gestaltung auf die User-Interface-Interaktion sei auf die Studie von Li et al. (2015) verwiesen.

4.3

Anwendungsfelder und Einsatzgebiete

Wird von einem sehr breiten Begriff des Visuellen ausgegangen, so lassen sich unz€ahlige Verbindungen zwischen den Bereichen Unternehmenskommunikation und Visuelle Kommunikation auflisten, denn bereits das vom Unternehmen hergestellte Produkt selbst – im Sinne eines greifbaren Objektes – ist ein „visuelles Sehereignis“. Die Beschaffenheit der Oberfl€ache bzw. das Design vermittelt bestimmte Aussagen, beispielsweise ob das besagte Produkt modern oder veraltet, weich oder hart, kalt oder warm, edel oder billig wirkt. Das Corporate Design – das visuelle Erscheinungsbild eines Unternehmens – umfasst folgende Designelemente (siehe auch Abdullah und H€ubner 2002, S. 17 sowie den Corporate Design-Katalog bei Dunkl 2011, S. 68–70): • • • • • • •

Signet/Logo bzw. Markenzeichen (Bildmarke, Wortmarke oder Bild/Wortmarke) Hausfarben (Prim€ar- und Sekund€arfarben, Farbklima) Hausschriften (Schriftfamilie, Schriftschnitte) Formate (DIN-festgelegte oder freie Formate) Grafiken, Piktogramme, Symbole Layout- bzw. Gestaltungsraster Bildkonzepte, Foto- oder Illustrationsstile usw.

€blicherweise in einem Manual Die definierten Gestaltungsvorgaben werden u bzw. Style Guide zusammengefasst und die verschiedensten Einsatzmöglichkeiten zur leichteren Anwendung visuell veranschaulicht. Von großer Wichtigkeit ist, dass sich das definierte Erscheinungsbild nicht nur auf Visitenkarten und Briefpapieren wiederfindet, sondern in allen visuellen Botschaften des Unternehmens konsequent und konsistent eingesetzt wird. Der zweite wichtige und große Bereich ist die Werbung, denn all die genannten, fix definierten Design-Elemente, m€ussen auch auf s€amtlichen Werbe- bzw. Kommunikationsmitteln und -tr€agern konsistent eingesetzt werden. Praktisch alle Botschaften im werblichen Kontext sind visueller Natur. Eine Ausnahme bildet lediglich die Informationsvermittlung €uber den auditiven Kanal (z. B. durch das Radio). In der Regel wird jedoch visuell mittels Bildern, Zeichen, Farben und Schrift kommuniziert. Eine nicht erschöpfende, aber doch umfangreiche Auflistung von Schnittstellen bzw. der Einsatzgebiete Visueller Unternehmenskommunikation bietet die unten stehende Tabelle. Diese Zusammenfassung der Schnittstellen basiert auf der Publi-

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kation Visuelle Unternehmenskommunikation (Berzler 2009a, S. 245–246) und wurde f€ ur den vorliegenden Fachbeitrag restrukturiert, aktualisiert und erweitert. Die Tabelle verzichtet auf eine klare Trennung zwischen Kommunikationsmittel und -tr€ager; vielmehr soll die Vielschichtigkeit und Breite der Anwendungsbereiche dargelegt werden. Die Übersicht systematisiert diese nach den im Modell vorgestellten Integrationsfeldern des Corporate Designs: (1) Kommunikationsdesign, (2) Umgebungsdesign und (3) Produktdesign.

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Fazit und Ausblick

Da Verhaltensentscheidungen nur teilweise mit rationalen Überlegungen (z. B. Reflexion € uber das Verh€altnis von Preis und Leistung) zu tun haben (Scheier und Held 2012; Gigerenzer 2008) und die Vermittlung von positionierungsrelevanten Emotionen eine Möglichkeit der Entwicklung eines Zusatznutzens („added benefit“ im Gegensatz zum „product benefit“) darstellt, kommt der Visuellen Kommunikation in der Arena des Marktes eine bedeutende strategische Rolle zu. Diese Möglichkeit der gezielten Ansprache von Emotionen (idealerweise im multisensualen Verbund) ist jedoch nur ein Grund f€ur die strategische Bedeutung Visueller Kommunikation. Instrumentalisiert werden visuelle Stimuli zur „Evozierung beabsichtigter kommunikativer Effekte“. Bilder, grafische Zeichen (Formen und Farben) bzw. visuelle Kommunikationsmittel aller Art, aber auch Innen- und Außenarchitektur, Social Media- und Webauftritt, Fahrzeuggestaltung usw. werden eingesetzt, um konkreten vorökonomischen (psychografischen) und ökonomischen Unternehmenszielen zu dienen. Aufgrund der weit gefassten Ausdrucksdefinition wurden die Anwendungsfelder der Visuellen Kommunikation in der tabellarischen Zusammenschau (Tab. 2) sehr umfangreich dargelegt und systematisiert. Visuelle Unternehmenskommunikation ist heute f€ur Unternehmen (und Marken) von größter Bedeutung, da in den meisten F€allen große Zielgruppen medial bzw. visuell vermittelt (nicht persönlich/interpersonell) angesprochen werden m€ussen. Summarisch ist zu konstatieren, dass technisch, formal/€asthetisch und inhaltlich/semiotisch hochwertige Bilder (und grafische Zeichen) in Anbetracht ihrer persuasiven F€ahigkeiten nicht nur auf dem Markt (d. h. im Kontext der Absatz- oder Imagewerbung) wichtig f€ur den Unternehmenserfolg sind, sondern auch im Zuge der Organisations- und Public Relations-Kommunikation. Bilder können beispielsweise gezielt unterst€utzend eingesetzt werden, um bestimmte „Issues“ bzw. Themen anzusprechen, um Vertrauen zu gewinnen, das gegenseitige Verst€andnis zu fördern, aber auch um den internen Zusammenhalt bzw. die Identifikation mit dem Unternehmen zu st€arken und daher Beziehungsarbeit zu leisten. Visuelle Unternehmenskommunikation kann jedoch nur dann langfristig (positiv) imagebildend sein, wenn die f€ur das Kommunikationsziel strategisch ad€aquaten visuellen Stimuli eingesetzt werden und die visuelle Botschaft mit der gelebten Realit€at €ubereinstimmt. Das vorgestellte Modell der Visuellen Unternehmenskommunikation (Abschn. 2, Modellentwurf) gr€undet daher auf der Unternehmensphilosophie bzw. Unternehmenspersönlichkeit („Corporate (Brand) Identity“) und misst dem Kernprozess Strategie ! Inhalt ! Form

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A. Berzler

Tab. 2 Schnittstellen – Visuelle Kommunikation im Unternehmenskontext KOMMUNIKATIONSDESIGN Arena: Markt Arena: Markt & Gesellschaft Klassische Werbemittel: Presse: • Werbe-/Imagefotografie • Pressefotografien • Werbespot (TV, Kino, • Presseinformation Web/Internet) • Presseaussendung • Anzeige/Inserat • Pressemappe • Plakat Publikationen: • Flyer • Gesch€aftsbericht • Katalog • Jahresbericht • Imagefilm • Newsletter • Imagebrosch€ure • Kundenzeitschrift • Prospekte • Imagebrosch€ ure Online-Werbung: • Produktbrosch€ ure • Displays: Banner, Webauftritt: Skyscraper • Corporate Site • Sticky Ad, Wallpaper, (Unternehmensauftritt) Rectangle • Microsite (Gestaltung • Flash Layer von speziellen • Popup/Popunder Einzelseiten) • Intersticial • Social Media-Auftritt • Web-Spots (u. a. Facebook) Webauftritt: • Bildkurationsplattformen • Corporate Site (z. B. Pinterest) (Unternehmensauftritt) • Eigener Auftritt auf • Microsite (Gestaltung von partner-Websites speziellen Einzelseiten) (z. B. Lieferanten) • Social Media-Auftritt • Web-App (u. a. Facebook) Multimedia/ • Web-App Pr€ asentationen: • Produktprospekt, Brosch€ ure • Interaktive • Inserat/Anzeige Pr€asentationssysteme • Advertorials (inkl. Gestensteuerung) • Beilagen in Druckmedien • Produktfilm • Preisausschreiben • Imagefilm • Werbebande • Pr€asentationen (auch auf • Trikotwerbung CD-/DVD-ROM/Bluray) • Citylight • Produktshow-Gestaltung • Leuchtschrift • Multimedia-Pr€asentation • Verkaufsförderung • 3D Animation/ (z. B. Mailing) Visualisierung Sonderwerbeformen: Öffentlicher Raum: • Give Aways • Sponsoring • Merchandising-Artikel • Product Placement • Aufkleber • Kalender • Gestaltungsrichtlinien f€ ur Werbegeschenke

Arena: Organisation Interne Kommunikation: • Intranet, Extranet • Unternehmenszeitschrift • Mitarbeiterzeitung • Informations- und Interaktionssysteme (Infopanels) Drucksorten: • Briefbogen • Folgeblatt • Visitenkarte • Kuverts • Kurzbrief • Überreichkarte • Compliment Card • Gl€ uckwunschbillet Information/Organisation: • Ordnerr€ ucken • Telefonnotiz • Jobbogen • Formular • Gestaltung der internen Emails • Fax • Lieferschein • Rechnung • Paketaufkleber • CD-/DVD-/Bluray-Aufkleber Schulung/Konferenz: • Overheadfolie • Deckblatt • Listen • Urkunde • Notizblock • Kugelschreiber • Konferenzmappe • Fahne • Rednerpult • Pr€asentation Finanz: • Aktie • Gutschein • Geschenkm€ unze • Rabattkarte • Clubkarte Kleidung: • Arbeitskleidung • Uniform • Namensschild • Dresscode (Fortsetzung)

Visuelle Unternehmenskommunikation

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Tab. 2 (Fortsetzung) UMGEBUNGSDESIGN Außenarchitektur • Geb€aude- und Fassadengestaltung (Material, Form und Farbe) • Landschaftsarchitektur, Gel€andegestaltung (u. a. Bepflanzung) • Äußeres Leitsystem, Firmenund Wegtafeln • Integrierte Displays

PRODUKTDESIGN Produktausstattung • Produktdesign • Beschriftung • Gebrauchsanweisung • Klebeband • Verpackung

Innenarchitektur • Innenraumgestaltung (Architektur und Einrichtung: Möbel, Böden, Bepflanzung usw.) des Eingangsbereiches, von B€ uro-, Meeting- und Produktionsr€aumen usw • Inneres Leitsystem: digitale und analoge visuelle Hilfs- und Leitsysteme (farblich, grafisch) • Infopanel, digitale Informationssysteme • Interaktionssysteme f€ ur Geb€aude und B€ uros (z. B. inkl. haptische Bedienung)

Point of Sale • Regalstopper • Display • Shop im Shop • Schaufenster • Gesch€aftsraumgestaltung (Schauraum) • Ausstellungsgestaltung • Messebau • Showb€ uhne • Verkostungsstand • Rollup

Transport • Autobeschriftung • Fuhrpark • Container • Transportkarton

Interface • Produkt-Interface, Screendesign f€ ur Software wie Apps und Hardware (Ger€ate aller Art)

die zentrale strategische Rolle bei. Das Konzept geht €uber die rein formal-€asthetische Bedeutung visueller Botschaften hinaus und pr€asentiert diese vielmehr als strategisches Instrument der Marken- und Unternehmenskommunikation. In Zeiten der Wirtschaftskrise werden kostenintensive Maßnahmen im Kontext der Marketingkommunikation vermehrt hinterfragt. Auf Grund der bedeutenden ökonomischen Relevanz sind weiter- und tiefergehende empirische Forschungserkenntnisse im Bereich der Visuellen Unternehmenskommunikation notwendig. Die bei Berzler (2007, S. 465–472) dargelegten Forschungsdesiderate sind nach wie vor weitestgehend vakant. Es fehlt in vielen Bereichen an konkreten, empirischen Erkenntnissen, die Unternehmen und Branchendienstleister in ihren Entscheidungen unterst€utzen. Ist die Visuelle Kommunikationsforschung auf Grund ihres Querschnittcharakters bereits interdisziplin€ar – mit stark variierenden Fragestellungen und Methodenans€atzen (M€uller und Geise 2015, S. 15), so wird der Gegenstand der „Visuellen Unternehmenskommunikation“ zus€atzlich um den Bereich der Wirtschaftswissenschaften erweitert. Hieraus bilden u. a. Themen wie Management/Unternehmensf€uhrung und Marketing mit den Schwerpunkten Produkt- und Kommunikationspolitik bzw. Branding und strategische Markenf€ uhrung die thematische Ausgangsbasis. Die systematische Erforschung folgender Aspekte und deren Zusammenspiel ist von besonderem Interesse aus Sicht der Markt-,

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A. Berzler

Public Relations- und Organisationskommunikation: Wirkung von Formen, Wirkung von Farben und deren Kombinationen (inkl. der Ber€ucksichtigung von Farbwert und -s€attigung), Wirkung von Werbe- und PR-Bildern (inkl. der Ber€ucksichtigung von Komposition, Proportion sowie Licht- und Farbgestaltung), Wirkung von Layout-Varianten, Wirkung von crossmedialen Darstellungen, Wirkung von „offenen und geschlossenen“ Corporate Designs und Brandings (inkl. Typografie), Gestaltung des Point of Sale, Einfluss der Wahrnehmung der Außen- und Innenarchitektur (u. a. Gesch€afts-/Schaur€aume) auf das Markenimage u. v. m. So vielf€altig wie die genannten Desiderate bzw. Untersuchungsobjekte, so vielf€altig und komplex sind die hierf€ ur erforderlichen Untersuchungsdesigns. Von Inhaltsanalysen visueller Gestaltungselemente auf Websites (Grumbein und Goodman 2015, S. 485–523), €uber Experteninterviews zur strategischen Bedeutung der Bild-Plattform Pinterest f€ ur die Unternehmenskommunikation (Schaub und Gossel 2015, S. 311–331) bis hin zu psychologischen und physiologischen Datenerhebungen. Besonders vielversprechend erscheint hierbei insbesondere eine Übertragung des interdisziplin€aren Modells zur Analyse von Pressefotografien von M€uller et al. (2012, S. 307–328), bei dem eine Kombination von Ikonologie, Eye-Tracking und psychophysiologischen Methoden zum Einsatz kommt, auf den Bereich der Visuellen Unternehmenskommunikation.

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Bilder in medial vermittelter Alltagskommunikation Ulla Patricia Autenrieth

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Entwicklung fotografischer Technik und Praxis im Kontext des Digitalisierungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Picturing oneself into being. Auf dem Weg in eine visuelle und visualisierte Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Create your self(ie) – Das Selbst(‐bildnis) im Zentrum der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . 5 To be continued. Bilder und (noch) kein Ende – Ein vorl€aufiges Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das Herstellen und Übermitteln von Bildern, insbesondere Fotografien, hat seit Beginn des Digitalisierungsprozesses stetig zugenommen und ist inzwischen allt€agliche Praxis im Leben moderner Individuen. Im Zuge des sogenannten Web 2.0 bzw. unter dem Stichwort Social Media – verbunden mit der steigenden Beliebtheit von Smartphones und Foto-Apps – sind Bilder inzwischen wesentlicher Bestandteil von Alltagskommunikation. Der Beitrag thematisiert insbesondere den gegenw€artigen Trend zur Selbstvisualisierung, der unter dem Begriff „Selfie“ bekannt wurde. Schlüsselwörter

Alltagskommunikation · Social Media · Selfie · Privatfotografie · Photo-Apps

U. P. Autenrieth (*) Seminar f€ur Medienwissenschaft, Universit€at Basel, Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_16

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U. P. Autenrieth

Einleitung

Die rasante Karriere des Begriffs „Selfie“ vom unbekannten Jugendslang zum Oxford Dictionary Wort des Jahres demonstriert eindringlich, wie stark unsere gegenw€artige Zeit durch Bilder und den Umgang mit ihnen gepr€agt ist. Inzwischen sind die € uber Social Media-Kan€ale distribuierten Selbstportraits aus dem Alltag kaum mehr wegzudenken. Hinzu kommt ihre stetig zunehmende Pr€asenz in den Feuilletons traditioneller Medien, ebenso wie in wissenschaftlichen Kontexten. Im vorliegenden Beitrag soll die Visualisierung von Alltagskommunikation unter drei Aspekten analysiert werden. Zun€achst wird die Entwicklung der Nutzung von Fotografie vor dem Hintergrund ihrer zunehmenden Digitalisierung beleuchtet. Es folgt ein Blick auf die wachsende Pr€asenz von Fotografie im Alltag heutiger Individuen, bevor die gegenw€artige Bedeutung des ‚Selfies‘ als Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse diskutiert wird.

2

Die Entwicklung fotografischer Technik und Praxis im Kontext des Digitalisierungsprozesses

Seit ihren Anf€angen in der Mitte des 19. Jahrhunderts kann die Fotografie eine kontinuierlich wachsende Fangemeinde verzeichnen. Zu Beginn war das Anfertigen ansprechender Bilder allerdings noch ein Unterfangen, welches in langwierigen Verfahren mit komplexem Equipment von professionellen Fotografen angeboten wurde. Zu besonderen Anl€assen ließen sich Privatpersonen in prunkvollen Studiokulissen repr€asentativ abbilden. Dies war folglich mit hohen Kosten und vergleichsweise viel Aufwand verbunden. In der Konsequenz wurden vor allen Dingen biografisch herausragende Lebensereignisse und soziale Rituale, wie etwa Hochzeiten, fotografisch festgehalten. Im Zuge technischer Innovationen, d. h. durch die vereinfachten Herstellungsweisen und die verst€andlichere Bedienbarkeit der Apparate, wurde Fotografie f€ur immer mehr Privatpersonen erschwinglich und in der Folge h€aufiger genutzt. Bereits im Jahre 1895 proklamierte die Firma Kodak mit dem Slogan „You press the button – we do the rest“1 (Kodak 2015) den Beginn der privaten Amateurfotografie, wie sie in den folgenden Jahren zum Standard wurde (Gautrand 1998, S. 239). Mit den technischen Innovationen vollzogen sich zugleich kulturelle Ver€anderungen in Bezug auf die Nutzung fotografischer Verfahren. Durch die kontinuierlich preisg€unstiger werdenden Verfahren der Bildherstellung adaptierten immer breitere gesellschaftliche Kreise die Portr€atpraxis in Form sog. „Cartes de Visite“ (Sagne 1998, S. 119), die zuvor €uberwiegend elit€aren Kreisen vorbehalten war. Dies f€ uhrte letztlich zu einer Demokratisierung von Portraitdarstellungen und einer Verallt€aglichung fotografischer Praxis.

1

Siehe hierzu: http://www.kodak.com/ek/US/en/Our_Company/History_of_Kodak/Milestones_-_ chronology/1878-1929.htm. Zugegriffen am 16.03.2015.

Bilder in medial vermittelter Alltagskommunikation

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Eine drastische Ver€anderung vollzog sich mit der zu Beginn der 2000-Jahre voranschreitenden Digitalisierung von Fotografie. Bislang war das Fotografieren vor allem durch die Anzahl an Fotos, die mit Hilfe eines einzelnen Filmes (meist 24 oder 36 Bilder) aufgenommen werden konnten, limitiert und mit einem gewissen Aufwand verbunden, denn die Filme mussten gekauft, zum Entwickeln gebracht und schließlich wieder abgeholt werden. Damit einher ging die Überraschung beim Öffnen der Fotomappen, welche Fotos €uberhaupt nach dem eigenen Ermessen als gelungen betrachtet werden konnten. Denn erst jetzt wurde das Ergebnis in Form der fertigen Bilder zum ersten Mal f€ur den oder die FotografIn sichtbar. Im Zuge des Durchbruchs digitaler Fototechnik hat sich dies gravierend ver€andert. Ein weiterer wesentlicher Einschnitt f€ur die fotografische Alltagspraxis vollzog sich durch die Entwicklung digitaler Kommunikationstechnologien (siehe auch den Beitrag von Reißmann in diesem Band). Mit der voranschreitenden Digitalisierung von Daten, der schnellen Verbreitung von Personal Computern und der zunehmenden gesellschaftlichen Durchdringung des Internets, stieg das Aufkommen von Fotografien deutlich an (Price 2011). Gegenw€artig dokumentiert sich durch die wachsende Verf€ ugbarkeit von kosteng€unstigen bis kostenlosen Wireless-LanZug€angen und der rasanten Verbreitung von internetf€ahigen Smartphones mit herausragenden Kameratechnologien diesbez€uglich noch eine drastische Verst€arkung des Ph€anomens. Hochauflösende, vernetzte Kameras (Lister 2013, S. 8) sind inzwischen stete Begleiter des Alltags. Bereits vor einigen Jahren wurde die exponentiell steigende Zahl privater Fotos und der Möglichkeitsraum f€ur Bilder in den (teil-) öffentlichen Umgebungen des Internets prognostiziert, jedoch auf deren noch beschr€ankte Relevanz f€ur die Öffentlichkeit verwiesen (Heidenreich 2005, S. 388). Mit Blick auf die gegenw€artigen Entwicklungen l€asst sich festhalten, dass dieser Prozess, der mit der Zunahme und Ausdifferenzierung fototechnischer Apparaturen bzw. Technologien, deren steter Vereinfachung und Verg€unstigung zu einer massiven Pr€asenz von Bildmedien im Alltag f€uhrte, weit vorangeschritten ist. Durch ihre vermeintlich einfache und schnelle Zug€anglichkeit, die scheinbar weder langj€ahrige Übung noch besonderes Talent erfordert, wurde Fotografie lange ver€achtlich als eine „illegitime Kunst“ des sprichwörtlich „kleinen Mannes“ betrachtet (Bourdieu et al. 2014 [1981]). Diese kritische Perspektive richtete sich zun€achst auf die sogenannten „Knipser“ (Starl 1995, S. 18), die scheinbar ohne jeden kritischen Anspruch und ohne fundiertes technisches, wie auch kompositorisches Wissen, vor allem Szenen des Alltags dokumentierten. Im Zuge der Digitalisierung und insbesondere der Verbreitung des Internets unter den Implikationen des Schlagwortes „Web 2.0“ (O’Reilly 2005) entwickelte sich eine Kultur des Amateurs (Reichert 2008, S. 67), in der mediale Inhalte zunehmend von nicht-professionell agierenden Medienschaffenden produziert und €uber Internettechnologien distribuiert werden. Des Weiteren ver€anderten sich die Produktions- und Nutzungsweisen von Bildern und Fotografie, verbunden mit der Entstehung neuer Risiken. Im Zeitalter ihrer unmittelbaren Verf€ug- und damit Vermittelbarkeit lassen sich Fotos €uber mobile Endger€ate in vernetzten Umgebungen nahezu in Echtzeit mit anderen teilen und kommunizieren (Rubinstein und Sluis 2008, S. 17–21). Aus der Perspektive der

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U. P. Autenrieth

BildproduzentInnen erweitern sich in der Herstellung von Fotografie hierbei zun€achst die Möglichkeiten der Kontrolle: Die Bilder lassen sich bereits w€ahrend ihres Entstehungsprozesses €uber das Kameradisplay steuern, respektive im Anschluss sofort betrachten und können bei Nichtgefallen gelöscht oder gegebenenfalls re-inszeniert werden. Hinzu kommen ver€anderte Rezeptionsbedingungen. W€ahrend zu analogen Zeiten die Anzahl an BetrachterInnen meist €uberschaubar und die Anschlusskommunikation im Modus m€undlicher Gespr€ache fl€uchtig war, lassen sich Bilder in vernetzten Umgebungen nur schwer kontrollieren und die sie umgebenden schriftlichen Bezugnahmen bleiben bestehen (Autenrieth 2014a, S. 151; Walser und Neumann-Braun 2013, S. 151–152). Damit sind Bilder in OnlineUmgebungen massiv durch den dort möglichen Handlungsrahmen gepr€agt. Als spezifische „Affordances“ des Kommunikationsraums Internet halten boyd und Marwick (2011, S. 9) fest: Persistenz (digitale Äußerungen werden automatisch gespeichert und archiviert); Duplizierbarkeit (digitale Inhalte lassen sich leicht und unbemerkt kopieren); Skalierbarkeit (die potenzielle Sichtbarkeit von digitalen Inhalten ist groß) und Suchbarkeit (digitale Inhalte werden oft durch Suchmaschinen zug€anglich gemacht). Letztere bezog sich bislang vornehmlich auf schriftbasierte Inhalte, d. h. bestimmte Bilder konnten nur gefunden werden, wenn sie durch entsprechend mit ihnen verkn€upfte Schlagworte f€ur Suchmaschinen „lesbar“ gemacht wurden. Im Zuge kontinuierlich verbesserter Bilderkennungssoftware sind inzwischen jedoch ebenso Bildinhalte und Personen auf Fotos such- und damit identifizierbar (Lischka 2011). Online-Netzwerke – allen voran Facebook – nutzen die entsprechenden Technologien bereits in großem Stil (Hedemann 2012). Damit offenbaren sich f€ ur die UserInnen zunehmend neue Aspekte des Kontrollverlustes. Fragen nach dem Verbleib und der langfristigen Sichtbarkeit lassen sich kaum beantworten, neue Risiken zur Entkontextualisierung von persönlichen Fotos m€ ussen deshalb im eigenen Handeln mitreflektiert werden.

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Picturing oneself into being. Auf dem Weg in eine visuelle und visualisierte Gesellschaft

In Anbetracht der dynamischen Weiterentwicklung von Technologien zur Produktion und Distribution von Bildern, ihrer damit verbundenen einfacheren Handhabung und ubiquit€aren Pr€asenz, l€asst sich eine zunehmende Visualisierung des Alltags feststellen (Lobinger und Geise 2015). Mit Visualisierung des Alltags soll ausgedr€ uckt werden, dass die quantitative wie qualitative Bedeutung bildbasierter Kommunikation im Alltagshandeln von Individuen zugenommen hat und weiter zunimmt. Das bedeutet im Einzelnen: Eine stetig wachsende Anzahl an Bildern kommt in immer mehr Situationen des allt€aglichen Lebens biografisch immer fr€uher zum Einsatz, ist dabei nahezu jederzeit und unmittelbar f€ur ProduzentInnen wie RezipientInnen nutzbar und obliegt kontinuierlich wachsenden Möglichkeiten der Bearbeitung und Pr€asentation. Damit €ubernehmen Bilder im Sinne wahrnehmungsnaher Zeichen zusehends kommunikative Funktionen, die zuvor von ausschließlich oder € uberwiegend schriftbasierten Botschaften erf€ullt wurden, d. h. Bilder gewinnen

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fortw€ahrend an Bedeutung f€ur die Alltagspraxis von Individuen. Des Weiteren relevant ist die Komplexit€atssteigerung der Nutzungssituation. Bilder liegen h€aufig nicht als analoge Artefakte vor, sondern in Form digitaler Daten, die in immer komplexer werdenden digitalen Medienumgebungen im Prinzip grenzenlos verund bearbeitet werden können. Der Prozess der voranschreitenden Visualisierung ist damit zugleich als Teil einer kontinuierlichen Mediatisierung (Krotz 2015, S. 18) von Alltag zu verstehen (siehe auch den Beitrag von Reißmann in diesem Band). Neben den zuvor beschriebenen technologischen und infrastrukturellen Entwicklungen lassen sich ebenso kulturelle Einflussgrößen benennen, die einen voranschreitenden Visualisierungsprozess beg€unstigen. Zun€achst zu nennen ist hier die Modalit€at des Bildes selbst. Die Informations€ubermittlung findet bei Bildern prim€ar simultan statt, d. h. wesentliche Strukturen und Inhalte werden f€ur den/die BetrachterIn innerhalb k€ urzester Zeit – auf einen Blick – zumindest oberfl€achlich erkennbar (Sachs-Hombach und Schirra 2009, S. 410–412). Anders ist dies bei sequenziell arrangierten schriftlichen Texten, die in Abgrenzung zu bildlichen Darstellungen erst in einem vergleichsweise aufwendigen und zeitintensiven Leseprozess verarbeitet werden m€ ussen (Langer 1984 [1965], S. 42). Ein Foto, das einen selbst unter dem Eiffelturm zeigt, vermittelt deutlich effektiver die gew€unschte Botschaft, als ein die entsprechende Situation beschreibender Textabschnitt in der Facebook-Timeline. Des Weiteren vermitteln insbesondere Fotografien den Betrachtenden noch immer st€arker das Gef€ uhl einer realit€atsnahen Situationsdarstellung. Im Vertrauen auf den technischen Automatismus (die Kamera fixiert ohne Einflussnahme, was sie „sieht“), entsteht der Eindruck einer unverf€alschten Übermittlung des Geschehens. Bilder lassen sich entsprechend als „wahrnehmungsnahe Zeichen“ (Sachs-Hombach und Schirra 2009, S. 412) beschreiben, deren kommunikativer Inhalt mit einer wie auch immer in Erscheinung tretenden kommunikativen Tr€agersubstanz verbunden ist und die einen direkten Wahrnehmungsbezug besitzen. Hieraus folgend erschließt sich die mittels Bildern mögliche affektive Vermittlung von Emotionen durch Darstellung einer symbolisch u€bermittelten Realit€at. Im Zuge einer sich zuspitzenden „Inszenierungsgesellschaft“ (Willems und Jurga 1998, S. 9–10) wird die Frage nach der Realit€at und der Authentizit€at von Fotografien fortw€ahrend dr€angender (siehe auch den Beitrag von Kr€amer und Lobinger in diesem Band). Insbesondere aus dem Bereich der Politik existieren pr€agnante Beispiele professioneller Inszenierungen, die die Wirkungsmacht von Bildern eindr€ucklich unterstreichen.2 Mit zunehmender Popularit€at von einfachen Bildbearbeitungsapplikationen f€ur Smartphones und der Verbreitung von mehr oder weniger stark bildzentrierten

Beispielhaft hierf€ur ist das Gruppenfoto der Regierungsoberh€aupter anl€asslich der ‚Je suis Charlie‘Kundgebung in Paris zu Beginn des Jahres 2015. Die offiziell kommunizierten Fotos zeigen die SpitzenpoltikerInnen scheinbar Seite an Seite mit den anderen Demonstranten. Wie aus sp€ateren Veröffentlichungen hervor geht, wurden die Aufnahmen jedoch in einer abgeschiedenen gesicherten Seitenstraße aufgenommen. Siehe hierzu: http://www.sueddeutsche.de/politik/bild-von-kundgebungin-paris-ein-gestelltes-foto-darf-geschichte-schreiben-1.2302160. Zugegriffen am 14.03.2015. Mindestens ebenso eindr€ucklich ist die strategische Selbstinszenierung mittels bildlicher Darstellungen von Politikern wie beispielsweise Barack Obama und Wladimir Putin.

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sozialen Online-Netzwerken, wie Facebook und Instagram, ergeben sich selbst f€ur fotografische Laien eine Vielzahl an Möglichkeiten der Bildbearbeitung und der öffentlichkeitswirksamen strategischen Inszenierung des Selbst. Gleichzeitig eigenen sich Bilder weniger gut zu einer reflexiven, fein akzentuierten Kommunikation, da sich mit ihnen nuancierte Botschaften nur schwer, d. h. im Verlauf einer im Vergleich zur Sprache deutlich komplizierteren Interpretation erschließen lassen (Sachs-Hombach und Schirra 2009, S. 411). Entsprechend sind sie st€arker kontextabh€angig und anf€allig f€ur Fehlinterpretationen. So ist Bildkommunikation zun€achst zu verstehen als „implizite Kommunikation, die es erforderlich macht, die jeweils verfolgte Absicht einer Bilderverwendung zu erschließen“ (Sachs-Hombach und Schirra 2009, S. 412). Daraus folgt, Bildpraktiken in mediatisierten Umgebungen sind stark durch ihre Multimodalit€at (siehe den Beitrag von Bucher in diesem Band) gepr€agt. In Form verschiedenster Beschriftungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten lassen sich implizite Botschaften explizieren und Kontexte f€ur außen stehende BetrachterInnen erg€anzen (Autenrieth 2014a, S. 151). Hinzuzuf€ugen ist jedoch, dass gerade diese Implizitheit der Kommunikation mit Bildern, insbesondere in den (Teil-) Öffentlichkeiten des Internets, strategisch forciert wird. Denn dies ermöglicht einen subtilen Schutz von Privatsph€are, da Informationen so nur „Eingeweihten“ bzw. Beteiligten zug€anglich werden (boyd und Marwick 2011, S. 19). Zugleich erhöht sich hierdurch jedoch die Gefahr einer Fehlinterpretation durch BildbetrachterInnen, denen dieses essenzielle Kontextwissen fehlt. Auf Basis dieser fehlenden Rahmeninformationen l€asst sich teilweise erkl€aren, weswegen vor allem Selfies so leidenschaftliche Kritik erfahren. Den meisten BetrachterInnen fehlt das benötigte Hintergrundwissen, um die Bedeutung des jeweiligen Fotos zu erschließen. Auf öffentlichen Online-Plattformen wie Instagram und in Folge der wachsenden Suchbarkeit, unter anderem durch die Nutzung von Hashtags (z. B. #selfie), sehen viele UserInnen Fotos, die prim€ar nicht f€ur sie intendiert waren, und die sie folglich nur bedingt einordnen können. Insbesondere f€ur die Nutzung von Bildern in OnlineUmgebungen l€asst sich so eine starke Kontextabh€angigkeit feststellen. In der bisherigen Geschichte der Fotografie wurde diese bis vor wenigen Jahren €uberwiegend als ein Medium der Erinnerung, zur Konservierung von Erlebnissen und biografisch bedeutsamen Momenten betrachtet. Gegenw€artig zeigen sich jedoch starke Ver€anderungen in der Nutzungspraxis von Bildern im Alltag, hin zu visuellen Dokumenten als Medien der Kommunikation (Van House 2011, S. 133).3 Das einzelne Bild verliert an Bedeutung und soll nicht mehr zwangsl€aufig Zeiten und Generationen € uberdauern. Mehr dient es als Schnappschuss, mit dessen Hilfe Momente, Botschaften und Emotionen €ubermittelt werden (Villi 2012, S. 46; Villi 2015, S. 3). Der Anbieter Snapchat ist hierf€ur ein idealtypisches Beispiel. Snapchat ist eine Applikation f€ur Mobiltelefone, die sich auf das Versenden von Fotos und Videos mit Ablaufdatum konzentriert. Der Versender kann ein Foto oder Video

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Bourdieu (2014 [1981]) wies zwar bereits auf eine kommunikative Funktion von Fotografie hin, durch die sich zwischenzeitlich ver€anderten Rahmenbedingungen ist hier jedoch noch einmal von einer deutlichen Verschiebung in der Bedeutung auszugehen.

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vielf€altig bearbeiten und anschließend einstellen, nach wie vielen Sekunden in der Hand des Empf€angers das Bild automatisch gelöscht wird. Die Applikation verspricht: „Enjoy fast and fun mobile conversation! Snap a photo or a video, add a caption, and send it to a friend. They’ll view it, laugh, and then the Snap disappears from the screen – unless they take a screenshot!“.4 Im Claim wird bereits deutlich, dass sich das anf€angliche Versprechen vom schnellen Schnappschuss ohne Konsequenzen als tr€ ugerisch erwiesen hat. Durch Screenshots und verschiedene Hacks lassen sich diese H€urden mit geringem Aufwand umgehen. Dar€uber hinaus hat der bzw. die Bild-SenderIn keinerlei Sicherheit dar€uber, wer sich zum entsprechenden Zeitpunkt der Rezeption in Begleitung der Empf€angerInnen befindet und so gegebenenfalls nicht indentierte/r ZeugIn des Bildaustauschs wurde. Bereits Mitte des Jahres 2014 wurden t€aglich rund 700 Millionen Fotos €uber Snapchat versendet (Lunden und Tsotsis 2014). Im gegenw€artigen Erfolg der Applikation dokumentiert sich damit eine Nutzungsweise von Fotografie, die als symptomatisch f€ur die Entwicklungen der vergangenen Jahre betrachtet werden kann. Ein €uber die App versendetes Foto ist seiner Bestimmung nach bereits bei der Herstellung nur f€ur den Moment ausgelegt.5 Die Intention der Fotos liegt in deren Bedeutung f€ur den Augenblick, ihre kommunikative Bedeutung ist an den engen Kontext konkreter Situationen gebunden. Hiermit bietet die Software zumindest vordergr€undig eine Lösung zu einem bis dahin aus der Perspektive von Jugendschutz und Medienkompetenzdebatte vieldiskutierten Problems: Was geschieht mit digitalen Bildern, die – einmal in Umlauf gebracht – nur schwer zu kontrollieren sind? Oder wie eine regelm€aßige Userin umschreibt:6 „Auf Snapchat kann man so blöde Grimassen versenden und wenn man es korrekt anstellt, dann kann man das Gesicht nicht speichern, das Foto nicht speichern und das finde ich noch witzig und praktisch, weil sonst kann es ja sein, dass du irgendwie so ein Peino-Foto7 machst und dann haben es alle und das ist eigentlich nicht mein Ziel“ (Seraina, 21 Jahre). Eine Reihe von Ängsten und Gefahren lassen sich auf diese Weise zun€achst einmal umgehen. Anschlusskommunikationen und statusrelevante R€uckmeldungen wie Likes und Kommentare sind nicht möglich, respektive f€ur Außenstehende nicht sichtbar. Damit erfolgt eine weitere Ver€anderung bzw. Verlagerung sozialer (Bild-)Praktiken im Internet, die vielfach als risikobehaftet wahrgenommen werden (boyd und Marwick 2011; Marwick und boyd 2011, S. 12). Neben Snapchat existieren noch eine Reihe weiterer Online-Plattformen, auf denen die Kommunikation mit und €uber Bilder eine bedeutende Rolle spielt. Befragt nach ihren drei wichtigsten Apps geben Jugendliche folgende an: Instant4

Siehe hierzu https://play.google.com/store/apps/details?id=com.snapchat.android&hl=en. Zugegriffen am 16.03.2015. 5 Gegenw€artig 1 bis zu maximal 10 Sekunden, siehe snapchat.com. Zugegriffen am 16.03.2015. 6 Das folgende Zitat entstammt einer Studie zur Nutzung von bildentrierten Handyapplikationen, die im Fr€uhjahrssemester im Rahmen eines Seminars an der Universit€at Basel unter der Leitung von Dr. Ulla Autenrieth durchgef€ uhrt wurde. Übersetzt aus dem schweizerischen Original, der Name ist ein Pseudonym, siehe hierzu Barone et al. 2014. 7 Das heißt, ein sehr peinliches Foto – Anmerkung der Verfasserin.

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Messenger-Dienste wie WhatsApp, Online-Communities wie Facebook und FotoApps bzw. Bildbearbeitungsprogramme, allen voran Instagram (MPFS 2014, S. 49). Allein € uber die popul€arste Messenger-App WhatsApp werden derzeit t€aglich ebenfalls 700 Millionen Bilder versendet. Hinzu kommen rund 400 Millionen t€agliche Foto-Uploads auf Facebook.8 Weitere 70 Millionen Fotos werden t€aglich €uber Instagram online geteilt. Insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird die Pr€asenz auf mindestens einer Social Network Site wie Facebook oder die Nutzung von anderen internetbasierten Kommunikationsplattformen wie WhatsApp inzwischen geradezu als selbstverst€andlich und notwendig zur Partizipation am Alltag erachtet (MPFS 2014, S. 35). Im Zuge einer zunehmend internet- und bildbasierten Kommunikation der Peergroup wird eine visuelle Pr€asenz des Einzelnen auf den Plattformen dabei h€aufig explizit erwartet (Autenrieth 2014a, S. 256–258). Das Individuum wird im Sinne eines „Picturing oneself into being“9 hierdurch f€ur andere erst sicht- bzw. als InteraktionspartnerIn wahrnehmbar. Entsprechend geben die UserInnen von Social Network Sites mehrheitlich an, Fotos von sich online gestellt zu haben. Insbesondere Profilbilder, also Fotos, die in gewisser Weise als Ausweisbild eines Social Media-Profils fungieren (Astheimer et al. 2011, S. 124) werden von nahezu allen UserInnen verwendet. Bilder und Fotografien sind somit zunehmend im Alltag pr€asenter und erfahren als gew€ahltes Mittel der Kommunikation weithin Zuspruch. Folgerichtig h€alt Walker Rettberg fest: „Photography is no longer about documenting social rituals, but about documenting the everyday“ (Walker Rettberg 2014, S. 54). Damit erhöht sich zum einen die Anzahl von Bildern, die produziert und €uber verschiedene Internettechnologien kommuniziert und gespeichert werden. Zum anderen findet eine kontinuierlich fr€uhere visuelle Pr€asenz von Individuen im Netz statt. Noch vor wenigen Jahren war der wissenschaftliche und mediale Diskurs von der These des sogenannten „Digital Natives“ (Prensky 2001, S. 1; Palvrey und Gasser 2008, S. 1) gepr€agt.10 Hierunter wurde die erste Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verstanden, die bereits von fr€uhester Kindheit an mit den technologischen Möglichkeiten des Internets konfrontiert war und daraus folgend ein selbstverst€andliches und scheinbar intuitives Verh€altnis zur Nutzung des neuen Mediums entwickelt hat. Dies in Abgrenzung zu den sogenannten „Digital Immigrants“ oder „Digital Outsidern“ (DIVSI 2012)‚ d. h. Personen, welche zwangsl€aufig erst in sp€ateren Lebensjahren Zugang zu Online-Technologien hatten und sich entsprechende Nutzungskompetenzen aneignen konnten. Diese Generation der „Digital Natives“ befindet sich nun zum Teil bereits selbst in der fr€uhen Phase der Elternschaft. Aufgrund der sich ver€anderten technischen Möglichkeiten im Sinne des Web 2.0 und der Verallt€aglichung bildzentrierter Kommunikation, l€asst sich ein Wandel in der visuellen Pr€asenz von Individuen in Online-Umgebungen feststellen.

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Siehe hierzu: http://blog.gsmarena.com/whatsapp-snapchat-eclipsed-facebook-number-photos-sha red/. Zugegriffen am 16.03.2015. 9 In Anlehnung an boyd 2008, S. 119 „Writing oneself into being“. 10 F€ur eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Digital Native“ siehe Hargittai 2010.

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Haben Jugendliche bislang meist selbst aktiv erste Fotos von sich u€ber Social Media-Plattformen online geteilt, werden inzwischen immer fr€uher, h€aufig nur wenige Tage nach der Geburt, Fotos von Kindern online veröffentlicht, sowohl auf den Homepages der Krankenh€auser, als auch €uber die Social Media-Profile der Eltern (Kumar und Schoenebeck 2015, S. 5). Das heißt, die gegenw€artig im Zeitalter von Smartphones und Breitbandinternet geborene Generation von Kindern ist mit Beginn ihres Lebens (im Fall von Schwangerschafts- und Ultraschallfotos bereits vor ihrer Geburt, siehe hierzu Geise und Br€uckmann 2015, S. 234) € uber diverse Plattformen online visuell pr€asent (Autenrieth 2014c, S. 102). Damit einher geht eine zuk€unftig l€uckenlose visuelle Online-Biografisierung des eigenen Lebens.11

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Create your self(ie) – Das Selbst(‐bildnis) im Zentrum der Aufmerksamkeit

Soziologen haben in den vergangenen Jahrzehnten die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft festgestellt und eingehend analysiert (Beck 1986, S. 51–52). Historisch gewachsene soziale Strukturen und Vergemeinschaftungsformen verlieren an Bedeutung, wodurch es zu einer Ausdifferenzierung und damit verbundenen Pluralisierung an Lebensentw€urfen kommt. Mit dieser Entwicklung hat zugleich das „Selbst“ als identit€ares Konstrukt an Bedeutung gewonnen. Das Individuum muss sich in einer nahezu entgrenzten Welt unter den Bedingungen der Multioptionsgesellschaft (Gross 1994) eine koh€arente Identit€at erschaffen. In Fortf€ uhrung an Becks Thesen der 1980er-Jahre haben Rainie und Wellman (2012, S. 1–3) unter dem Begriff der „Triple Revolution“ weitere weitreichende gesellschaftliche Ver€anderungen ausgemacht. Sie argumentieren, dass wir uns durch unser Leben in sozialen wie technischen Netzwerken, durch die gesellschaftliche Durchdringung des Internets und mit zunehmender r€aumlicher Mobilit€at – verbunden mit der vermehrten Nutzung mobiler Technologien – gegenw€artig in einer Phase des „networked individualism“ befinden. Das Individuum wird hier als Zentrum seines jeweiligen ego-zentrierten Netzwerks betrachtet, dessen Beziehungen es gem€aß biografischer Umst€ande und persönlicher Interessenslagen gestaltet. Im Zuge sich auflösender gesellschaftlich verbindlicher Lebensstrukturen und fortschreitender Mobilit€at ist dies einerseits notwendig, durch die Entwicklung mobiler Endger€ate in Verkn€upfung mit ubiquit€aren Internetverbindungen andererseits möglich. Als geradezu idealtypische Auspr€agung des von Rainie und Wellman beschriebenen „Vernetzten Individualismus“ lassen sich Social Network Sites wie Facebook beschreiben. Mit der Option zur Gestaltung einer solchen Profilseite Seit M€arz 2015 existiert mit Facebook ‚Scrapbook‘ eine offizielle Applikation, mit der Kinderbilder von Anfang an gesammelt und verwaltet werden können. Siehe hierzu http://newsroom.fb. com/news/2015/03/a-new-way-to-organize-photos-of-your-child-on-facebook/. Zugegriffen am 05.04.2015.

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steht das Individuum im Zentrum seines sich so zusehends manifestierenden sozialen Netzwerks. Gleichzeitig verst€arkt sich aufgrund der spezifischen Affordanzen der Plattformen die Notwendigkeit zur Darstellung des eigenen zu pr€asentierenden Selbst. Auf nahezu allen Social Network Sites besteht die Möglichkeit ein eigenes Profilfoto – h€aufig eine mit Hilfe von digitalen Kameras12 erstellte Portr€ataufnahme – als eine Form von Ausweisbild hochzuladen (Astheimer et al. 2011, S. 15–17). Von diesem Angebot wird von der Mehrzahl der UserInnen reger Gebrauch gemacht (Autenrieth 2011, S. 124). Diese Profilbilder werden von Facebook in einem gleichnamigen Album gesammelt. Neben Profilbildern haben UserInnen außerdem die Gelegenheit, eigene Fotoalben anzulegen. Neben klassischen Online-Fotoalben von Urlaubsreisen und Erlebnissen, erwies sich gerade bei j€ungeren UserInnen das Online-Stellen von sogenannten „Ich-Alben“ als €außerst beliebt (Autenrieth 2014a, S. 132). So waren Sammlungen von meist selbst produzierten Portr€atfotos bereits von Beginn an wesentlicher Bestandteil der visuellen Kultur auf Social Network Sites. Doch erst mit Aufkommen des Begriffs „Selfie“13 erfuhr das Ph€anomen die entsprechende gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Bereits f€ur das Jahr 2004 lassen sich erste Nennungen des Hashtags #selfie auf dem Fotoportal Flickr dokumentieren. Wirklich popul€ar wurden Selfies aber erst mit der Einf€uhrung von Smartphones, insbesondere des iPhone 4 mit seiner frontal ausgerichteten Kamera im Jahr 2010 (Day 2013). Ende des Jahres 2013 wurde der Begriff „Selfie“ vom Oxford Dictionary zum ersten Mal offiziell definiert als „a photograph that one has taken of oneself, typically one taken with a smartphone or webcam and shared via social media“.14 Seit diesem Zeitpunkt und im Zuge seiner damit verbundenen Benennbarkeit, erf€ahrt das Ph€anomen nun auch innerhalb der Feuilletons bedeutender Offline-Medien weitreichende Aufmerksamkeit. Wie weitreichend die Medienpraxis des Selfies inzwischen insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbreitet ist, wurde bereits hinl€anglich dokumentiert. Im Jahre 2013 gaben 91 % der US-Amerikanischen Teenager, die Facebook nutzen, an, Selbstportraits online zu stellen (Madden et al. 2013, S. 3). Im Zuge der vermehrten medialen Aufmerksamkeit kam es dar€uber hinaus zu massiver Kritik (Senft und Baym 2015, S. 1592–1595). Insbesondere das quantitative Ausmaß des sich selbst Abbildens geriet unter dem Stichwort „oversharing“ in den öffentlichen Fokus. Hierbei offenbarte sich ein deutlicher Genderbias, der dazu f€uhrte, dass insbesondere die Fotopraxis von weiblichen Teenagern als problematisch wahrgenommen wird (Autenrieth 2014b, S. 53–54; Burns 2014). Eine vielfach

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Zu Beginn der Social Network Sites waren dies h€aufig mit Hilfe von Web-Cams oder ersten Kleinformatigen Digitalkameras erstellte Aufnahmen, heute sind dies vielfach mit Smartphones aufgenommene Fotos. 13 Im International Journal of Communication (Vol. 9) haben Theresa Senft und Nancy Baym 2015 eine Special Section zum Thema ‚Selfie‘ herausgegeben. Siehe hierzu http://ijoc.org/index.php/ ijoc#more4. 14 Siehe hierzu http://www.oxforddictionaries.com/definition/english/selfie. Zugegriffen am 16.03.2015.

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ge€außerte Bef€ urchtung ist die massive Zunahme narzisstischer Störungen,15 die aus der (scheinbar) € ubertriebenen Besch€aftigung mit dem eigenen Abbild resultiert. Hierbei wird jedoch meist nicht zwischen pathologischen Störungen (Fox und Rooney 2015, S. 161–165) und etwa entwicklungspsychologisch bedingten Formen von narzisstisch anmutenden Verhaltensweisen differenziert (Roberts et al. 2010, S. 100). Letztere dokumentieren, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene in der Adoleszenz gem€aß der ihnen spezifischen Entwicklungsaufgaben im Zuge der Herausbildung einer eigenen Identit€at zwangsl€aufig verst€arkt mit ihrer Außenwirkung auseinandersetzen. Inzwischen sind das Produzieren und Distribuieren von Selfies € uber Social Media-Kan€ale hierf€ur ein beliebtes Werkzeug (Autenrieth 2014b, S. 55–56; Tillmann 2014, S. 49). Betrachtet man Jugendliche im intergenerationalen Vergleich, so zeigt sich, dass der Altersgruppe der Adoleszenten grunds€atzlich zwar eine st€arkere Egozentriertheit attestiert werden kann, dass sich diese im Vergleich zu vorangegangen Generationen junger Menschen jedoch kaum ver€andert hat (Roberts et al. 2010, S. 100–101). Fotografien verursachen heute (wie erw€ahnt) im Prinzip keine monet€aren Kosten mehr, denn s€amtliche Produktionsmittel sind im Alltag st€andig verf€ugbar. Entsprechend ist ein Prozess zu beobachten, dass vieles, was vormals nicht als fotografierw€urdig erachtet wurde, heute bildlich festgehalten wird. Bourdieu (2014 [1981], S. 89–91) beschreibt, wie das, was wir fotografieren stark von sozialen Normen determiniert ist. Hinzu kommt, dass Selfies eine fotografische Praxis darstellen, die tendenziell mit Jugendlichen und insbesondere mit jungen Frauen in Verbindung gebracht wird. Hierin manifestiert sich ein wiederkehrendes Muster der Kritik innovativer Medienangebote und Nutzungsweisen, wie sie sich seit Generationen dokumentieren l€asst (Passig 2013, S. 23). In Bezug auf Selfies und die Wahrnehmung von online geteilter Fotografie l€asst sich daher feststellen: „Perhaps much of the discomfort we see surfacing around selfies is related to this: we are still bound by these social norms but technology allows us to photograph so much more than when the social norms for photography developed. The technological filter has changed, but the cultural filters are still in the process of changing.“ (Walker Rettberg 2014, S. 53). Wie Schwarz (2010, S. 165) analysiert, l€asst sich gegenw€artig eine gravierende Ver€anderung in der Anwendung von Fotografie beobachten: „We are witnessing a shift from photographing others for self-consumption to documentation of self for consumption by others, in a way that serves the economic interest of the Internet and mobile communication industries that developed these platforms“. Die so entstandenen und online veröffentlichten Fotos sind dabei alles andere als spontane Schnappsch€ usse. Vielmehr ermöglichen die (teil-)öffentlichen Bilderstreams auf Online-Plattformen einer breiten Masse an UserInnen bislang nicht gekannte Möglichkeiten zur positiv(iert)en Darstellung der individuellen Biografie. Hierf€ur lassen

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Der TV-Sender Arte strahlte am 28. Februar 2015 eine Sendung zum aus unter dem Titel „Narzissmus 2.0: ich mach ein Selfie, also bin ich“. http://info.arte.tv/de/me-my-selfie-and-i-ichfotografier-mich. Zugegriffen am 16.03.2015.

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sich vier Strategien differenzieren: (1.) Fotoaufnahmen werden meist in den besonders schönen Momenten des Lebens gemacht, d. h. die Motivwahl fokussiert sich bereits auf Situationen, die als €asthetisch wertvoll und/oder beeindruckend eingestuft werden. (2.) Der Prozess des Fotografierens selbst ist inzwischen durch eine maximale (Selbst-)Kontrolle des/der Bildproduzierenden gekennzeichnet. Im Display werden Gesichtsausdruck und Körperhaltung konstant be€augt, der Auslöser wird im passenden Moment gedr€uckt. Um ganz sicher den richtigen Moment festzuhalten, werden meist ganze Fotoserien erstellt, aus denen dann das nach eigenem Ermessen gelungenste Bild zur Weiterverwendung ausgew€ahlt wird und den Eindruck eines spontanen Schnappschusses vermittelt. (3.) Im Anschluss lassen sich die Fotos mit Hilfe zahlreicher Applikationen und Filter nachbearbeiten und (4.) unterst€ utzt durch statusgenerierender Anschlusskommunikationen zu einem eindrucksvollen visuellen Gesamtwerk erg€anzen. Die volle Kraft zur „Eindrucksmanipulation“ (Goffman 2003 [1959], S. 189) entfalten die Bilder vor allem durch die Kombination der genannten Möglichkeiten der strategischen Selbstinszenierung. In der Konsequenz werden Selfies von Tifentale (2014, S. 7) als „attempts at selfbranding, trying to sell the best version of #me: positive, happy, accomplished, proud, well-dressed, [. . .] seductive or sexy“ beschrieben. Was wir sehen, sind die gl€ ucklichen Momente des Lebens, mit ausgew€ahltem Outfit in vorteilhafter Pose. Damit wird kein „ideal self“ im Sinne einer abstrakten Wunschvorstellung kreiert, denn eine dramatische Überinszenierung w€urde gerade auf Social Network Sites von aus Offline-Kontexten meist bekannten Peergroups schnell entlarvt (Autenrieth 2014a, S. 242–246), sondern ein „idealisiertes Selbst“ forciert (Döring 2003, S. 383–384.), welches die bestmögliche Version der eigenen Person zeigt. Das Online-Distribuieren von Selfies kann in der Folge beschrieben werden als eine Praktik zur Erschaffung von „microcelebrity“, verstanden als „the commitment to deploying and maintaining one’s online identity as if it were a branded good, with the expectation that others do the same“ (Senft 2013, S. 346–354). Damit ist die Praxis des sich selbst Vermarktens und Darstellens von professionellen MarktteilnehmerInnen hin in die Sph€are privater Alltagskommunikation durchschnittlicher UserInnen € ubergegangen (Marwick 2015). Überlegungen zur optimalen Wirkung des Selbst m€ ussen angestellt werden, Entscheidungen €uber den Vertriebskanal (Instagram, WhatsApp, Facebook – oder €uberall?) m€ussen getroffen werden und dabei stets das potenzielle Publikum (bspw. die ArbeitskollegInnen, die eigenen Eltern, entfernte Bekannte, alle Freunde auf Facebook, potenziell die gesamte Netzöffentlichkeit) mit den daraus resultierenden Konsequenzen bedacht werden. Kulturkritische Stimmen sprechen bereits von einer Psychopathologisierung der Gesellschaft durch Instagram (Ewert 2015) oder verweisen auf die Risiken und sich h€aufenden Todesf€alle bei der Erstellung gewagter Selfie-Motive.16 Dies kulminiert in Warnungen davor, das eigene Leben vorrangig nach dessen Selfie- bzw. Abbildungs-Tauglichkeit auszurichten und die besten Momente nur noch gefiltert

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Siehe hierzu beispielsweise http://www.sueddeutsche.de/panorama/portugal-tod-beim-selfie-knip sen-1.2087388. Zugegriffen am 16.03.2015.

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€ uber einen Screen wahrzunehmen (d. h. eigentlich zu verpassen). Prototypisch, mit geradezu dystopischer Perspektive, wird hier meist die Plattform Instagram angef€ uhrt: „Es ist die sch€adlichste, die böseste und die kaputteste App, denn sie macht s€uchtig nach einer Lightversion des Stalkings. Und sie zerstört das Gl€uck durch seine permanente Verbildlichung“ (Ewert 2015). Was sich hier dokumentiert ist dabei vor allem als Entwicklung hin zu einer zunehmenden Theatralisierung von Gesellschaft und damit von privater Alltagspraxis (Willems 2009, S. 23) und sozialen Beziehungen (Autenrieth 2015, S. 120–122) zu verstehen. Theatralisierung nach Willems (2009, S. 28) meint „insbesondere im Zuge der Mediatisierung der Gesellschaft vollzogene und sich vollziehende Wandlungen, Umstellungen von Mustern oder sogar Konstruktionslogik von Wirklichkeit durch (Medien-)Theatralit€at“. Bilder haben hieran einen wesentlichen Anteil aufgrund der oben bereits dargestellten Eigenschaften. Willems (2009, S. 48) stellt entsprechend fest: „Mediatisierung ist Theatralisierung wesentlich im Sinne von Visualisierung. Dabei geht es einerseits um das Bild und den Aufstieg des Bildes als Entsprechung der prim€aren Theatralit€at der (B€uhnen-) Anwesenheit mit dem symbolischen Körperausdruck (Korporalit€at) im Zentrum. [. . .] Theatralisierung liegt hier auch in der technischen Steigerung und gesteigerten Nutzung der Möglichkeiten bildlicher Fiktionalit€aten, die nat€urlich Verbindungen mit Sprache eingehen kann und regelm€aßig eingeht.“ In diesem Sinne wird hier die zunehmende (Selbst-) Visualisierung von Individuen durch ihre Ausrichtung an ein tats€achliches und imaginiertes Publikum als ein Voranschreiten dieses Theatralisierungsprozesses verstanden, der durch seine ihm zugrunde liegende Handlungslogik zugleich als strategische Ästhetisierung von Alltagshandeln aufzufassen ist. Dem Bed€ urfnis, sich zu zeigen und mit seiner Umwelt in Austausch zu treten steht jedoch zugleich eine Reihe von Zugzw€angen entgegen. Das Online-Stellen und Pr€asentieren von Bildern ist mit dem Wunsch nach positiver R€uckmeldung verbunden. In Form von Likes und Kommentaren sind diese symbolischen Formen sozialer Anerkennung (teil-)öffentlich sichtbar und hierdurch statusrelevant. Ebenso ist ein Ausbleiben entsprechender Reaktionen des persönlichen Online-Netzwerks f€ur alle BetrachterInnen erkennbar. Im Wunsch nach Austausch und Sichtbarkeit setzen sich UserInnen einem (teil-)öffentlichen Bewertungsvorgang aus. Dieser beinhaltet das Risiko eines öffentlich dokumentierten Imageverlusts, respektive ein zur Schaustellen nicht vorhandenen sozialen (keine Likes aufgrund mangelnder sozialer Netzwerke) bzw. kulturellen (keine Likes aufgrund unansprechender Fotos; Houghton et al. 2013, S. 5) Kapitals (Bourdieu 1983, S. 191–192). Hinzukommen die Implikationen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit (Franck 2007), in der es immer schwieriger wird, aus der Masse des Bilderstroms herauszustechen und einer sich damit stetig versch€arfenden Konkurrenzsituation. Da alle UserInnen tendenziell eine Auswahl ihrer besten Fotos zeigen, erhöht sich auf die €ubrigen der Druck mithalten zu können. Facebook-Timelines und Instagram-Profile lassen sich lesen als Dokumente des gelungenen Lebens, als Aneinanderreihungen von Highlights, betrachtet durch €asthetisierende Filter. Demonstriert werden elaborierte Lebensstile und soziale Anerkennung – denn Fotos ohne Likes und Kommentare werden schnell wieder gelöscht (Autenrieth 2014a, S. 286). Hierbei €ubernehmen die UserInnen Inszenie-

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rungsstrategien in Form von Posen und Bildgestaltungsformen professioneller DarstellerInnen, d. h. vor allem von Stars und Celebrities der Medienbranche (Neumann-Braun und Astheimer 2010, S. 106; Autenrieth 2014a, S. 119–120; Autenrieth 2014b, S. 54; Tillmann 2014, S. 42). Eine Entwicklung, die von Turner (2004, S. 82–84) mit dem Begriff des „demotic turn“ umschrieben wird. Die Inszenierung des eigenen Lebens und das Darstellen des Selbst in Form von „gelungenen“, d. h. wohlwollenden Selfies muss aus der Perspektive der UserInnen dabei als rationales und sinnvolles Handeln betrachtet werden. Eine solche Idealisierung der eigenen Inszenierungspraxis ist zugleich als Schutz vor den vielbeschworenen Gefahren digitaler Pr€asenz zu verstehen. Dem gegenw€artigen Diskurs um den Verlust von Datensicherheit und der Fragilit€at des eigenen Images begegnet am besten, wer sich möglichst wenig angreifbar macht. Eine solchermaßen strategische Darstellung der eigenen Person, des eigenen Lebens, ist daher nicht nur unter den Aspekten der strategischen Positivierung der eigenen Person zu verstehen, sondern dient zugleich als Schutz vor negativen Konsequenzen auf der B€uhne „Internet“. Die Pflege des eigenen Images (Kautt 2008, S. 19), das Etablieren des „Ich“ als Marke (Stichwort „Personal Branding“; W€ust 2008) und der Erhalt der eigenen „Employability“ (Eck 2008) gelten weithin als zu verwirklichende Ziele auf dem Weg zu persönlichem Erfolg. Das Ein€uben entsprechender Darstellungsstrategien kulminiert im Ph€anomen der „Castinggesellschaft“ (Pörksen und Krischke 2010, S. 14–16), in dem sich zugleich ein Wandel von einer eher meritokratischen Leistungs- zu einer vermehrt auf darstellerische F€ahigkeiten zielenden Erfolgsgesellschaft (Neckel 2008, S. 45–53) vollzieht. Dieser Imperativ der Selbstdarstellung existiert selbst in vermeintlich unangemessenen Situationen, was sich durch Ph€anomene wie beispielsweise den medial vielfach aufgegriffenen Selfies aus Ausschwitz,17 mit Obdachlosen18 oder auf Beerdigungen19 zeigt. Sich dieser Steigerungsspirale im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu entziehen, stellt f€ ur die UserInnen eine große Herausforderung dar. Damit ist das Posten und Kommunizieren von Bildern stark durch seine Ambivalenz gekennzeichnet: dem Wunsch nach Austausch, Anerkennung und Einblicke in den Alltag anderer, steht der Eindruck gegen€uber, alle anderen h€atten ein gelungeneres, spannenderes Leben, verbunden mit dem Gef€uhl persönlichen Versagens, Neid und Frustration (Krasnova et al. 2013; Steers et al. 2014, S. 701–704). Es stellt sich damit die Frage nach dem, was wir nicht oder kaum auf FacebookTimelines und Instagram-Profilen sehen.20 Cep (2013) h€alt hierzu fest: „All those millions of selfies filling our albums and feeds are rarely of the selves who lounge in

17

Siehe hierzu: http://www.washingtonpost.com/news/the-intersect/wp/2014/07/22/the-other-sideof-the-infamous-auschwitz-selfie/. Zugegriffen am 16.03.2015. 18 Siehe hierzu: http://selfieswithhomelesspeople.tumblr.com/. Zugegriffen am 16.03.2015. 19 Siehe hierzu: http://selfiesatfunerals.tumblr.com/. Zugegriffen am 16.03.2015. 20 Eine Kampagne unter dem Titel „Also shot on iPhone6“ widmete sich auf kreative Weise dieser Frage. Siehe hierzu: http://alsoshotoniphone6.tumblr.com/. Zugegriffen am 16.03.2015.

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sweatpants or eat peanut butter from the jar, the selves waiting in line at the unemployment office, the selves who are battered and abused or lonely and depressed“. Zwar liegt der Schwerpunkt an geposteten Bildern deutlich auf den €asthetisierten positiven Momenten der individuellen Biografien, zugleich lassen sich jedoch diesem Ph€anomen (zumindest zun€achst) gegenl€aufige Beobachtungen anf€uhren. Durch die medialen Möglichkeiten des Internets haben zum ersten Mal „normale“ Personen die Möglichkeit, sich unmittelbar vor einer breiten Öffentlichkeit darzustellen. Mit dieser visuellen Pr€asenz von „realen“ Menschen und Einblick in deren Alltag existiert eine Gegenb€uhne zu den professionellen Hochglanzdarstellungen von Stars und Celebrities, die bis dahin den öffentlichen Diskurs dominierten. Mit dem Begriff der „Enttheatralisierung“ beschreibt Willems (2009, S. 26–27) wie Inszenierungsversuche aufgebrochen und so unterlaufen werden. Durch die Existenz von Lesereportern erh€alt ein breites Publikum zunehmend Einblicke in das Leben prominenter Personen jenseits der m€uhsam errichteten Fassaden öffentlicher Auftritte. Gleichzeitig gew€ahren diese €uber eigene Social Media-Profile bereitwillig (scheinbare) Einblicke in ihren Alltag und inszenieren sich gezielt als nahbar und gewöhnlich (Gamson 2011, S. 1062).21 Dar€uber hinaus wird eine gewisse Anti-Ästhetik f€ur politische Statements genutzt. Bekanntestes Beispiel hierf€ur sind „No-Make-UpSelfies“, mit welchen durch das Online-Stellen von „ungestylten“ Selbstportraits in Verbindung mit einer Spende f€ur die Unterst€utzung der Krebsforschung eingetreten wurde.22 Diesem scheinbaren Trend zu wahren, d. h. vermeintlich authentischen und uninszenierten Selbstdarstellungen ist jedoch entgegenzuhalten, dass entsprechende Darstellungsweisen innerhalb eng umgrenzter Rahmen stattfinden. Am Beispiel des „No-Make-Up-Selfies“ ist dies der höhere Zweck einer „guten Tat“, verbunden mit der damit einhergehenden Aufmerksamkeit durch diesen augenscheinlichen Tabubruch des spontanen Bildes. Zugleich wird dies jedoch durch Tutorials23 unterlaufen, in denen dargelegt wird, wie mit Hilfe des richtigen Blickwinkel, Licht, Filter und Ähnlichem ein perfektes No-Make-Up-Selfie erstellt werden kann. So erscheint die Selbstinszenierung hier auf den ersten Blick zwar spontan und uninszeniert, tats€achlich sind die Mechanismen lediglich subtiler. Damit ist kaum davon auszugehen, dass sich hierdurch die oben beschriebene Steigerungsspirale der positivierten Selbstdarstellung durchbrechen l€asst. Vielmehr erhöhen derartige Inszenierungen weiterhin den Druck insbesondere auf UserInnen, da diese sich mit der zumindest augenscheinlich nat€urlichen und m€uhelosen Schönheit anderer konfrontiert sehen.

21

Als Beispiel seien hier etwa die Schauspielerin Gwyneth Paltrow und die S€angerin Beyoncé genannt, die €uber No-Makeup-Selfies und Familien-Selfies regelm€assig ihre ‚Normalit€at‘ demonstrieren. https://instagram.com/gwynethpaltrow/und https://instagram.com/beyonce/. 22 Siehe hierzu: http://www.theguardian.com/society/2014/mar/25/no-makeup-selfies-cancer-charity. Zugegriffen am 16.03.2015. 23 Tutorial zur Herstellung eines „perfekten“ No-Makeup-Selfies: http://www.sofeminine.co.uk/makeup/how-to-take-the-perfect-no-makeup-selfie-for-cancer-awareness-s343222.html. Zugegriffen am 16.03.2015.

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To be continued. Bilder und (noch) kein Ende – Ein €ufiges Fazit vorla

Das schnelle Voranschreiten der technischen Möglichkeiten, insbesondere unter dem Prozess der Digitalisierung, f€uhrte dazu, dass sich Fotografie zu einem Massenph€anomen entwickeln konnte. Schnell verst€andliche, kosteng€unstige sowie stetig verf€ ugbare Herstellungs- und Distributionsmittel ermöglichen es weiten Teilen der Gesellschaft, an diesem Ph€anomen teilzuhaben. In diesem Sinn kann von einer Amateurisierung und Demokratisierung visueller Kommunikation gesprochen werden. Einerseits erleben wir damit gegenw€artig die (Selbst-)Erm€achtigung der Fotografierenden: Bilder können zu jeder Zeit an jedem Ort produziert und € ubermittelt werden. Andererseits verliert der/die BildproduzentIn zugleich wesentliche Möglichkeiten der Bildkontrolle, denn die Herstellungsprozesse werden zusehends auf verdeckte Weise technisierter, Aufnahmen und Bildserien werden teilweise mit Hilfe komplexer Algorithmen bereits automatisiert erstellt.24 Liegen die Fotos erst einmal in digitaler Form vor und sind in den Kommunikationsraum Internet integriert, so wird es schwer bis unmöglich, die Kontrolle €uber deren weitere Wege zu behalten. Diese Entwicklungen l€asst das Individuum ambivalent zur€uck: Dem Bed€urfnis und der Notwendigkeit nach vermehrter bildbasierter Kommunikation in vernetzten, d. h. mediatisierten Gesellschaften steht eine zunehmende Konfrontation mit dem Wettbewerb um Aufmerksamkeit und den Risiken ökonomischer wie politischer Entwicklungen gegen€uber (Stichworte: Datafication, Dataveillance und biometrische Daten; Van Dijck 2014, S. 197–200). Eine Zuspitzung erf€ahrt der gegenw€artige Visualisierungsprozess durch die zunehmende Integration von Bewegtbildern. Inzwischen bieten nahezu alle großen Plattformen wie Facebook, Instagram, WhatsApp und Snapchat die Möglichkeit, (teilweise audiovisuelle) Clips oder auch l€angere Filmsequenzen zu erstellen und zu kommunizieren. Hinzu kommen neue Anbieter, die sich direkt auf Bewegtbilder und Videostreaming25 konzentrieren. Ermöglicht wird dies durch die kontinuierlich weiter steigende Rechenleistung der Endger€ate und bessere Breitbandinternetverbindungen. Und auch wenn erste AutorInnen bereits das Ende des „Selfie-Hypes“ prognostizieren (Jones 2015), so ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Abflachen der voranschreitenden Visualisierung von Alltagskommunikation abzusehen.

24

Facebook generiert z. B. automatische Slideshows mit Fotos von Freunden (siehe hierzu http:// newsroom.fb.com/news/2014/11/introducing-say-thanks/). 25 Wie beispielsweise die Smartphone-Applikationen Vine und Meerkat, der Streamingdienst YouNow. com oder das kollaborative Videotool Riff von Facebook (http://newsroom.fb.com/news/2015/04/riffmake-videos-with-friends/).

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Photo Sharing Visuelle Praktiken des Mit-Teilens Katharina Lobinger und Maria Schreiber

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Was ist Sharing, was ist Photo Sharing? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Systematisierungen von Photo Sharing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Mit der vernetzten Fotografie, also der Konvergenz aus digitaler Fotografie, mobiler Kommunikation und Social Media, ist das Teilen von Fotos heute selbstverständlicher und zunehmend sichtbarer Teil der alltäglichen Kommunikation geworden. Der vorliegende Beitrag zeigt die Vielfalt an Photo-Sharing Praktiken auf. Dazu gibt er zunächst einen Überblick über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Photo Sharing. Daran anschließend werden unterschiedliche Dimensionen, anhand derer sich Photo Sharing systematisieren lässt, vorgestellt: Anhand 1) des räumlichen Bezugs der am Prozess Beteiligten, 2) des Zeitbezugs, 3) des Umfangs des Publikums bzw. der AdressatInnen und 4) der Modi des Sharing. Der Beitrag schließt mit einer Reflexion der Implikationen für die aktuelle kommunikations- und medienwissenschaftliche Forschung.

K. Lobinger (*) Faculty of Communication Sciences, Institute of Digital Technologies for Communication (ITDxC), USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz E-Mail: [email protected] M. Schreiber Institut für Soziologie, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_19

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K. Lobinger und M. Schreiber

Schlüsselwörter

Photo Sharing · Teilen · Social Media · Private Fotografie · Ephemeralität · Messaging

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Einleitung

Seit einigen Jahren lässt sich eine Zunahme sowohl an kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten als auch an medialer Aufmerksamkeit für private Fotografie generell und für das Teilen und Zeigen von Bildern im Besonderen beobachten. Zwar wurden Bilder schon immer gemacht, um sie mit anderen zu teilen, sie anderen zu zeigen und mit anderen über sie zu sprechen; erst mit der Konvergenz aus digitaler Fotografie, Mobilkommunikation und OnlineKommunikation (in prototypischer Form als Smartphone-Fotografie) und schließlich mit der Verzahnung mit Social Media1 (Rubinstein und Sluis 2008), wurden die Fotografie und das synchrone Teilen von Fotos selbstverständlicher und nicht zuletzt auch zunehmend sichtbarer Teil unserer alltäglichen Kommunikation. Qualitativ hochwertige Kameras sind heute Teil jedes Smartphones, ein Gerät, das wir ständig bei uns tragen (Hand 2012) und das mobil und vernetzt ist (Lehmuskallio 2012). Diese Bedingungen und Möglichkeiten gestalten Praktiken des Photo Sharing wesentlich mit. So hat sich durch die zunehmende Zirkulation von Bildern, die außerhalb professioneller Bildproduktionskontexte (z. B. Werbung, Journalismus, Kunst) produziert werden, eine Veränderung visueller Welten bzw. unserer visuellen Umgebungen ergeben. Bereits 2009 argumentierten Richter und Schadler, dass eine besonders bedeutsame Folge der Digitalisierung der Fotografie nicht die Tatsache sei, dass mehr Bilder als zuvor gemacht würden. Entscheidend seien vielmehr „the possibilities for mass dissemination, the more intensive integration into everyday life and the new options afforded for self-narration and selfrepresentation through images“ (Richter und Schadler 2009, S. 171). Obwohl zu diesem Zeitpunkt Photo Sharing noch in den Kinderschuhen steckte und die Verbreitung von Smartphones mit integrierten Kameras noch bevorstand, zeichnete sich bereits eine Veränderung privater bzw. alltäglicher Fotografiepraxis ab (siehe dazu auch die Beiträge von Autenrieth und Reißmann in diesem Band). Denn mit dem Teilen von Bildern in Online-Kontexten wurde eine Bildart sichtbar, die zuvor eher in Schuhkartons und Alben zu finden war: „Knipserbilder“ bzw. die Fotografien von „Ottonormalverbraucher“ gewannen plötzlich an Sichtbarkeit (Regener 2009, S. 3). Mit der Transformation der traditionellen Fotokamera hin zur vernetzten Kamera Wir verwenden „Social Media“ hier als etablierten Sammelbegriff für Angebote im Internet, genauer „intermediäre Strukturen (. . .), die in Form von Websites, Software oder Apps Angebote für unterschiedlichste Formen digital mediatisierter, vernetzter zwischenmenschlicher Kommunikation bereitstellen.“ (Schreiber 2017, S. 52). Die meisten populären Social Media-Angebote wie Facebook oder Instagram haben sowohl browserbasierte Webauftritte als auch Smartphone-Apps, manchmal mit unterschiedlichen Funktionalitäten. Immer mehr Social Media existieren „mobile first“ bzw. „mobile only“, also zuerst oder nur als Smartphone-App.

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erhält die Alltagsfotografie, so Rubinstein und Sluis (2008), dann etwas, was ihr bis dahin verwehrt blieb: das große Publikum. Aktuelle Zahlen sprechen für diese Argumente. So werden täglich etwa 400 Millionen Fotos auf Facebook und 70 Millionen auf Instagram geteilt.2 Manche von ihnen erreichen dann wiederum Millionen von Likes und Kommentaren. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass Bilder nicht automatisch dieses potenziell breite Publikum und diese Sichtbarkeit erreichen (sollen). Oftmals soll gerade dies explizit vermieden werden; Fotografien werden dementsprechend mitunter auch nur mit wenigen Personen geteilt (Hjorth und Pink 2013; Okabe und Ito 2006; Vaterlaus et al. 2016; Villi 2015). So werden aktuell rund 760 Millionen Fotos täglich auf Snapchat geteilt (zu ephemeren Photo-Apps und deren Bedeutung siehe Abschn. 3.2). Gerade im Kontext digitaler Technologien und Social Media wird daher ein differenziertes Verständnis der unterschiedlichen Arten des Teilens von Bildern und der unterschiedlichen sozialen Verwendungszwecke immer bedeutsamer. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Photo Sharing und nimmt dafür insbesondere sozialwissenschaftliche Arbeiten in den Blick. Abschn. 2 entwirft zunächst eine tentative Definition von Photo Sharing, markiert deren begriffliche Eckpunkte vor dem Hintergrund eines allgemeineren „Sharing Turn“ (Grassmuck 2012) bzw. mittlerweile beinahe sinnentleerter Metaphern des Sharing (John 2013) und skizziert kurz die historischen Vorgänger des heutigen Photo Sharing. In Abschn. 3 werden unterschiedliche Dimensionen, anhand derer sich Photo Sharing-Praktiken systematisieren lassen, vorgestellt.

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Was ist Sharing, was ist Photo Sharing?

Sharing ist gegenwärtig eines der zentralen Schlagworte der Online-Kommunikation (John 2013). Allerdings bezeichnet Sharing mittlerweile ein so breites Bündel an Praktiken, dass zur Verortung von Photo Sharing zuerst definiert werden muss, was als „Sharing“ verstanden werden soll. Im Folgenden interessiert vor allem Sharing im Kommunikationsprozess, nicht so sehr Praktiken des Teilens der SharingEconomy, wie beispielsweise Car Sharing (Grassmuck 2012), auch wenn sich hinsichtlich gewisser Aspekte Parallelen ziehen lassen. Insbesondere Nicholas John setzte sich intensiv mit den Bedeutungsveränderungen, die der Begriff Sharing im Laufe der Zeit erfahren hat (John 2013, 2016), auseinander. Zunächst wurde er für das Teilen von Inhalten und Medienobjekten, die etwa im Kontext von Social Media verbreitet und anderen zugänglich gemacht wurden, verwendet. Später traten vor allem im Kontext von Social Media auch deutlich unschärfere Objekte des Teilens (John 2013, S. 173–174) hinzu. Social Media rufen UserInnen auf, ihr Leben mit anderen zu teilen und sich so aktiv an der Plattform zu beteiligen, im Sinne von „Share your life“ oder, wie bei Flickr, „Share your life in photos“ (John 2013). Noch 2

https://cewe-photoworld.com/how-big-is-snapchat/. Zugegriffen am 06.08.2017.

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unklarer wird der Begriff des Sharing durch die zunehmende Verwendung des Begriffs gänzlich ohne Objektbezug. John (2013, S. 175) skizziert eine „rhetoric of fuzzy objects of sharing“, die vor allem seit 2005 bzw. 2007 auf den meisten sozialen Netzwerkseiten eingesetzt wird. Zunächst noch klarere Inhalte und Aktivitäten des Sharing machten einer allesumfassenden, ideologisch geprägten (Wittel 2011) Sharing-Aufforderung Platz, die wiederum mit positiven sozialen Beziehungen und deren Pflege, im Sinne von „Sharing is caring“ assoziiert wird. Dieses positive Framing von Sharing ist zu problematisieren, da das Geschäftsmodell von Social Media-Angeboten ohne „geteilte“ Inhalte nicht funktionieren würde, und das positiv besetzte Teilen in einer negativeren Sichtweise auch als Gratis-Arbeit der UserInnen bzw. sogar Ausbeutung gesehen werden kann (Fuster Morell 2011; John 2012; Sarikakis 2012). Diese Beobachtung ist vor allem deshalb relevant, weil es die mit User-Generated-Content gefütterten Social Media sind, die heute über die größten Bilddatenbanken verfügen. Im Gegensatz zum eher metaphorisch verwendeten Begriff des Sharing (à la „Share your life!“) verstehen wir Photo Sharing als das „Weitergeben“ bzw. das „Zeigen“ oder „Übermitteln“ von Fotografien an eine bzw. mehrere andere Personen, das oftmals (aber nicht notwendigerweise) mithilfe von digitalen Kommunikations- und Medientechnologien erfolgt. Wir verstehen Photo Sharing damit als Voraussetzung für weitere Handlungen an und mit dem Objekt Bild, wie etwa sprachliche Kommunikation über Bilder oder die Kommunikation durch Bilder. Das Teilen von Bildern kann damit als Übergangsschritt zwischen Prozessen präkommunikativen und kommunikativen Bildhandelns (Lobinger 2015, S. 43–51) verstanden werden: Voraus geht dem Teilen eines Bildes etwa das Planen und Aufnehmen eines Fotos, seine Bearbeitung und schließlich das Ausstellen bzw. der finale Schritt des „Exhibiting“ (Chalfen 1987). In anderen Worten: Photo Sharing ist die Voraussetzung für visuelle Kommunikation mittels fotografischer Repräsentationen bzw. für die Anschlusskommunikation an diese. Diese erste begriffliche Annäherung, die sicherlich noch zu kurz greift, wird im Laufe dieses Beitrags weiter exploriert. Obwohl sich der vorliegende Beitrag schwerpunktmäßig mit dem Teilen von Fotos beschäftigt, soll darauf hingewiesen werden, dass Bilder und visuelle Objekte, die auf Social Media geteilt werden, nicht notwendigerweise nur Fotos sind, die mit der eigenen Kamera oder dem eigenen Handy gemacht wurden. Oftmals werden auch Memes oder Bilder, die UserInnen gefunden oder zugesandt bekommen haben, erneut geteilt (siehe den Beitrag von Reißmann in diesem Band). Mit der zunehmenden Popularität von Photo Sharing im Kontext von Social Media wurde das Betrachten von eigenen und fremden Bildern, sowie die damit verbundenen Handlungen wie Hochladen, Remixen, Annotieren, Taggen (u. a. Social Tagging) und Verlinken, zur kreativen Tätigkeit stilisiert (Highfield und Leaver 2016; Rubinstein und Sluis 2008). Das Spektrum an Möglichkeiten, wie und wann Bilder geteilt werden können, hat sich erweitert und hat auch Implikationen für die Bildmotive. Hier wird von einer „vernacularisation“ (Schwarz 2010, S. 166), also einer Veralltäglichung der Bildmotive gesprochen: Durch das Entfallen von Kosten im Prozess des Herstellens und

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Teilens von Bildern, kann alles, was uns im Alltag umgibt, zum Motiv werden: Die Kaffeetasse am Frühstückstisch, der Stau auf dem Weg zur Arbeit, der Salat in der Kantine – oftmals also scheinbar Banales, „Unsinniges“ oder eventuell nur für AdressatInnen oder eine bestimmte In-Group Sinnhaftes. Damit verbunden ist die spannende Frage, was überhaupt wert oder wichtig genug ist, gezeigt zu werden; oftmals Anlass für kulturkritische Medienberichterstattung über das Teilen „unsinniger“ Bilder. Die medialen Bedingungen, in welche Photo Sharing eingebettet ist, haben diese immer schon mitgestaltet, ermöglicht und/oder beschränkt: So wird ein gebundenes Fotoalbum aufgrund seines Gewichts und seiner Beschaffenheit meist zuhause aufbewahrt und kann nur von einer kleinen Gruppe gleichzeitig angesehen werden. Photo Sharing auf Social Media wird nunmehr von komplexen Strukturen unterschiedlicher Hardware und Software mitgestaltet – diese sind manchmal mehr (z. B. als Benutzeroberfläche) manchmal weniger (z. B. als Algorithmen) sichtbar. Meist werden Plattformen und Apps von kommerziellen Akteuren zur Verfügung gestellt (Gillespie 2010; van Dijck 2013a), deren Geschäftsmodelle, wie bereits oben ausgeführt, davon abhängig sind, dass immer wieder neue Inhalte geteilt werden. Dabei ist oft unklar, wer ein Bild eigentlich „besitzt“ oder wer die Kontrolle darüber hat, wo es gezeigt wird – darauf werden wir am Ende unseres Beitrags erneut zurückkommen. Wenn der Begriff Photo Sharing auch mit dem Aufkommen von Social Media und der vernetzten Kamera zum prominenten Schlagwort wurde, so gilt es doch eine ahistorische Überhöhung gegenwärtiger Praktiken des Photo Sharing zu verhindern. Durch die Möglichkeit der visuellen Echtzeitkommunikation wird mitunter die Verschiebung des Gebrauchs von privater Fotografie „from memory tool to live communication“ (van Dijck 2008, S. 60) konstatiert. Zwar hat die Masse an Bildern, die geteilt werden, ebenso wie die Vielfalt der technisch-medialen Möglichkeiten, Bilder zu teilen, zugenommen; gegenwärtige Praktiken des Teilens von Bildern müssen aber unbedingt im Kontext historischer Entwicklungen gesehen werden. Tatsächlich scheinen Transformationen in privater Fotografie insgesamt weniger radikal zu sein als oftmals vermutet. Vielmehr zeigt sich eine komplexe Kombination von Kontinuitäten und Veränderungen (Keightley und Pickering 2014, S. 577), die viel zu selten über längere Zeiträume erforscht wird. Der historische Blick zurück sowie komparative Studien sind beim Verorten gegenwärtiger Sharing Praktiken in jedem Fall äußerst gewinnbringend. Oft werden etwa die vermeintlich völlig neuen Praktiken junger Generationen betont. Diese Befunde werden meist aber ohne vergleichende Forschung mit älteren Menschen getroffen. Der Zusammenhang von Sharing-Praktiken mit generations- und altersspezifischen Medienkulturen sowie lebensweltlichen Zusammenhängen bleibt insgesamt unterbeleuchtet (Schreiber 2016). Erste sozialwissenschaftliche Forschungen zur Alltagsfotografie und deren kommunikativen und sozialen Gebrauchsweisen, die das Teilen mit anderen implizieren, gab es bereits in den 1960er- Jahren, als Bourdieu in Frankreich zu den „Sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie“ forschte (Bourdieu et al. 1983, [1965]). Kommunikationswissenschaftlich orientierte Erkenntnisse brachte Chalfens Studie „Snap-

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shot Versions of Life“ (1987). Besonders im Kontext feministischer Auseinandersetzungen mit visueller Kultur folgten Forschungen zu Familienfotografie sowie der Tradierung und Konstruktion damit zusammenhängender Geschichte(n) (Hirsch 1997; Rose 2003; Prieto-Blanco 2010). Viele grundlegende Erkenntnisse über soziale Funktionen des Teilens von Bildern und deren Einbettung in Narrationen sind unabhängig von der jeweiligen Erscheinungsform (digital/analog) relevant und gültig. Genauso sterben Formen des Teilens analoger Bilder aufgrund digitaler Formen des Teilens nicht aus (Durrant et al. 2011, S. 116). Die Ausführungen zeigen, dass Photo Sharing sehr vielfältige und heterogene Praktiken umfasst, die sich unter anderem anhand 1) des räumlichen Bezugs bzw. der Distanz der am Prozess Beteiligten (Abschn. 3.1 und 2) des Zeitbezugs (Abschn. 3.2 und 3) des Umfangs des Publikums bzw. der AdressatInnen (Abschn. 3.3 und 4) der Modi des Teilens (Abschn. 3.4) differenzieren lassen. Das folgende Kapitel widmet sich diesen vier Feldern.

3

Systematisierungen von Photo Sharing

Im Folgenden zeigen wir unterschiedliche Dimensionen auf, anhand derer sich Sharing-Praktiken systematisieren und differenzieren lassen. Sie beleuchten jeweils unterschiedliche Aspekte des Photo Sharing, sind aber nicht trennscharf, voneinander unabhängig oder als unterschiedlich relevant zu verstehen. Wichtig ist, jeweils entsprechend des Erkenntnisinteresses und der Forschungsfrage zu reflektieren, welche Dimensionen überhaupt für die eigene Forschung relevant sind.

3.1

Photo Sharing und räumlicher Bezug: ko-präsent vs. entfernt

In Hinblick auf den räumlichen Bezug der Kommunizierenden lassen sich zwei grundlegende Formen des Photo Sharing unterscheiden: Entweder 1) die GesprächspartnerInnen befinden sich beim Teilen von Fotografien an einem gemeinsamen Ort oder 2) Photo Sharing findet zwischen räumlich getrennten Personen statt (Lobinger 2015, S. 47, 2016, S. 576). Im ersten Fall spricht man von ko-präsentem Photo Sharing oder auch von collocated photo sharing (Lindley et al. 2009; Van House 2009); im zweiten Fall von remote photo sharing oder distributed photo sharing (Crabtree et al. 2004; Kray et al. 2009). Traditionell wird Fotografien große Bedeutung beim Überbrücken von Zeit zugesprochen, da sie besondere Momente quasi einfrieren und für eine spätere Betrachtung zugänglich machen. Sie dienen dann als visuelle „Zeitmaschinen“ und helfen, u. a. Erinnerungen wachzuhalten (siehe dazu ausführlicher Abschn. 3.2). Aber auch der Aspekt der Präsenz wird in der Fototheorie ausführlich diskutiert. Villi (2015) zufolge macht das Spannungsfeld aus Präsenz und Abwesenheit sogar den Kern der Fotografie aus. Eine Fotografie vermittelt damit paradoxerweise Pseudo-Präsenz, indem sie eine besondere Gegenwärtigkeit des Abwesenden erzeugt: „In this sense, photographs offer presence-in-absence.“ (Villi 2015, S. 6).

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Fotografien können besondere Intimität in die mediatisierte Ko-Präsenz bzw. „Tele-Präsenz“ einbringen, da sie den abwesenden KommunikationspartnerInnen zusätzliche visuelle Cues, wie etwa Emotionsausdrücke (zum Zusammenhang von Emotionen und Bildern siehe auch den Beitrag von Döveling in diesem Band), übermitteln (Prieto-Blanco 2016). Deshalb eignen sich Bilder besonders dazu „Telecocoons“ – also eine intime Sphäre, die unabhängig von Zeit und geografischer Entfernung existiert (Habuchi 2005) – zu formen, in denen Raum und Zeit überbrückt werden und das gemeinsame Betrachten und Sehen entfernter Orte und GesprächspartnerInnen ermöglicht wird (siehe dazu auch Abschn. 3.2). Vor allem in engen sozialen Beziehungen lässt sich das ständige Aufrechterhalten einer „connected presence“ (Licoppe 2004), also das ständige Kontakt-Halten über Kommunikationstechnologien, beobachten. Und diese mediatisierte Ko-Präsenz wird zunehmend in visueller Form ausgestaltet. Das Bildrepertoire kann dabei gänzlich unterschiedliche Formen einnehmen, etwa einen Einblick in den Tag und die Erlebnisse des Anderen geben, oder im Zuge funktionaler Fotografie die Organisation des Alltags erleichtern. Dabei ist es wichtig, zu berücksichtigen, dass ko-präsente Interaktionen und mediatisierte Formen interpersonaler Kommunikation zusammenspielen; sie also nicht getrennt zu sehen sind und sich, wie Licoppe (2004) ausführt, oftmals zu einem nahtlosen Kommunikationsnetz verbinden. Vor allem aber sind in diesem Zusammenhang auch zeitliche Bezüge des Photo Sharing zu betrachten, die in engem Zusammenhang mit den eben ausführten räumlichen Bezügen stehen.

3.2

Photo Sharing und zeitlicher Bezug: synchron vs. asychron

Die Bedeutung von Zeitlichkeit ist in der fototheoretischen Auseinandersetzung, wie bereits angesprochen, seit jeher ein viel diskutierter Aspekt und eng verknüpft mit der Frage nach der Indexikalität eines Fotos, also danach, was ein Foto überhaupt zu zeigen vermag (Barthes 1989) und inwiefern es auch Relationen zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt (Geimer 2009). Nicht zuletzt durch technologische Innovationen hat sich die Wahrnehmung und Bedeutung von Zeitlichkeit im fotografischen Prozess transformiert (siehe den Beitrag von Autenrieth in diesem Band): So entfiel mit der Digitalisierung des fotografischen Produktionsprozesses etwa das Entwickeln des Negativs; das eigenständige Speichern und Bearbeiten am Computer wurde möglich. Nun kann mit dem Smartphone als Gerät, mit dem heute die meisten Alltagsfotos gemacht werden, das Bild nicht nur – teilweise sogar im Zuge der Aufnahme – bearbeitet, sondern auch gleich nach der Aufnahme über verschiedene Kanäle geteilt werden. Das Teilen von Bildern und Mit-Teilen durch Bilder kann also mitunter in Echtzeitkommunikation erfolgen, etwa bei der Nutzung von Messaging-Programmen wie WhatsApp oder Snapchat. Eine besondere Form des synchronen oder quasisynchronen Photo Sharing ist die ephemere, flüchtige Fotografie, die nur kurz sichtbar ist bzw. nur im Moment interessant ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass andere, „nachhaltigere“ Formen des Teilens von Bildern verschwinden. So bleiben

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etwa analoge Fotoalben relevant, und besonders bei traditionellen Motiven wie Familienfeiern und Kinderfotos geht es noch immer darum, Veränderungen über Zeit hinweg festzuhalten. Auch heute werden Fotos gerne ausgedruckt, aufgehängt oder auf Shirts, Tassen oder andere Gebrauchsobjekte gedruckt (Keightley und Pickering 2014; Keightley und Schlesinger 2014). Synchrone vs. asynchrone Kommunikation Das Teilen von Bildern in Echtzeit stellt nicht nur gefühlte räumliche Ko-präsenz her (siehe Abschn. 3.1), sondern vor allem auch Gleichzeitigkeit des Erlebens (Villi 2015). Das Wissen um das Aussehen des Ortes, an dem sich jemand gerade aufhält und die Möglichkeit mit einem Foto Stimmung und Emotion zu vermitteln, stellt, wie bereits angesprochen, affektive Nähe her (Prieto-Blanco 2016, S. 136). Wesentlich sind dabei die visuell mediatisierte Präsenz (Villi 2016, S. 117) und das Empfinden, dass man jetzt gerade das Gleiche sieht wie der/die AdressatIn. Dies wurde als der „synchrone Blick“ (Villi und Stocchetti 2011, S. 106) bezeichnet. Das Herstellen von Ko-Präsenz und Echtzeitkommunikation ist eng damit verbunden, dass durch Software wie etwa WhatsApp auch eine Rückmeldung sichtbar gemacht wird: Fast alle Apps und Messenger-Services informieren darüber, ob die Person, mit der kommuniziert wird, überhaupt online ist, und ob er/sie das geteilte Bild bereits gesehen hat – etwa durch die Anzeige im Facebook Messenger „gesehen“ oder durch blaue Doppelhäkchen in WhatsApp.3 Bilder mit beschränktem Haltbarkeitsdatum? Ephemere Fotografien und die Frage der Archivierung Mit der vernetzten Fotografie entstand eine neue Art von Fotografien mit besonderem Zeitbezug: ephemere Fotos. Dies sind „flüchtige“ Bilder mit „beschränktem Haltbarkeitsdatum“, also Files mit visuellen Inhalten, die nicht dauerhaft bestehen bleiben. Das Teilen ephemerer Fotografien erlangte vor allem durch die Einführung der Smartphone-App Snapchat im September 2011 große Popularität (Shein 2013).4 Bei ephemerem Photo Sharing ist die Flüchtigkeit eines Bildes bereits im Prozess des Sharing angelegt. Die Hauptfunktion der Software Snapchat etwa ist das Hinund Hersenden von Snaps, also von der App erstellten Fotos, die u. a. mit Text, Emojis oder Selfie-Masken bearbeitet und angereichert werden können. Snaps sind jedoch nur für eine festgelegte Anzahl von Sekunden sichtbar und verschwinden dann. Der bzw. die AbsenderIn setzt einen Timer, der festlegt, nach welcher Betrachtungszeit der „Selbstzerstörungsmechanismus“ einsetzen soll und das Bild 3

Die Privatsphäre-Bedenken, die mit diesen Informationen über das Kommunikationsverhalten der KonversationspartnerInnen verbunden sind, können an dieser Stelle nicht ausführlicher behandelt werden. 4 Die folgenden Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf Snapchat, da dies zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags (im Frühjahr 2017) die populärste App für das Teilen ephemerer Fotografie darstellte. Bisher konzentrierte sich der Forschungsstand zu flüchtiger Fotografie deshalb vor allem auf diese App. Die Probleme und Herausforderungen von auf bestimmte Plattformen und Services orientierten Forschungen werden am Ende des Beitrags kritisch reflektiert.

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verschwindet – und zwar sowohl bei SenderIn als auch bei EmpfängerInnen. Wie Benedict Evans (2017) ausführt, basiert das Konzept der „verschwindenden Bilder“ auf dem Prinzip, dass Smartphone-Fotografie oftmals der synchronen Kommunikation und nicht Erinnerungszwecken dient. Alle Fotos zu behalten wäre in diesem Sinne, so Evans (2017), als speichere man alle Telefongespräche. Die Flüchtigkeit dieser „temporären Fotografie“ (Jurgenson 2013) ermögliche damit ein neues Verhältnis von Zeit und Fotografie: „It rejects the burden of creating durable proof that you are here and you did that. And because temporary photographs are not made to be collected or archived, they are elusive, resisting other museal gestures of systemization and taxonomization, the modern impulse to classify life according to rubrics. By leaving the present where you found it, temporary photographs feel more like life and less like its collection.“ (Jurgenson 2013). Die Flüchtigkeit der Bilder lädt außerdem dazu ein, kreativer, humorvoller, aber eventuell auch riskanter mit Bildern umzugehen. Etwa wurde diskutiert, ob Snapchat eine Sexting-App sei, die hauptsächlich die Zirkulation von Nacktbildern forciere (Poltash 2013). Forschungen zu Snapchat (siehe etwa Roesner et al. 2014; Bayer et al. 2016; Utz et al. 2015) zeigen entgegen dieser anfänglichen Befürchtungen, dass die Mehrzahl der UserInnen keine „riskanten“, visuellen Inhalte (etwa zum Zwecke des Sexting) austauscht, sondern vielmehr humorvolle, spielerische und kreative Sharing-Praktiken dominieren (siehe auch Katz und Crocker 2015, S. 1868).5 Auf Snapchat werden eher jene Bilder geteilt, die einen speziellen Wert für eine laufende Konversation haben, deren Speicherung jedoch nicht erforderlich oder wünschenswert erscheint. So berichten etwa junge UserInnen, unvorteilhafte Selfies ausschließlich auf Snapchat zu teilen. „Where ugly selfies prevail on Snapchat, more polished pictures are shared on Instagram.“ (Kofoed und Larsen 2016) AdressatInnen der Snaps sind tendenziell engere soziale Kontakte, zu denen ein gewisses Vertrauensverhältnis besteht (Piwek und Joinson 2016). Daraus lässt sich ablesen, dass sich basierend auf den technischen Möglichkeiten und Beschränkungen der unterschiedlichen Sharing-Apps und Social-Media Applikationen eigene Konventionen, Normen und Erwartungen ausbilden (Schreiber 2017). Die Flüchtigkeit der Fotografien in „time-limited Instant-Messaging“ bietet keine völlige Sicherheit hinsichtlich unintendierter Bildverwendung. So bietet auch Snapchat die Möglichkeit, einen Screenshot zu machen bzw. kann nicht ausgeschlossen werden, dass die EmpfängerInnen ein Bild mittels eines anderen Devices aufzeichnen. Ein Screenshot innerhalb der App wird dem/der AbsenderIn des Fotos entsprechend mitgeteilt. Je nach Art der sozialen Beziehungen oder der Art des sozialen Kontextes kann es dabei absolut inakzeptabel oder aber sogar erwartet sein, ein erhaltenes Foto zu speichern. 5

Dies schließt selbstverständlich Sexting-Praktiken nicht aus. Es soll an dieser Stelle lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Charakterisierung von Snapchat als „Sexting-App“ zu kurz greift. Gleichzeitig soll darauf hingewiesen werden, dass die Autorinnen Sexting keineswegs als dysfunktionale Praktik stigmatisieren möchten. Eine kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit Funktionen und Risiken von Sexting steht bisher noch aus und stellt definitiv ein Forschungsdesiderat Visueller Kommunikationsforschung dar.

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Oftmals sind Sicherheitsbedenken nicht der Hintergrund für das Anfertigen flüchtiger Fotos. Jurgenson (2013) interpretiert den Trend zur temporären Fotografie auch als eine Art „population control“ angesichts der Massen an Bildern, die wir herstellen und speichern. Wichtig ist auch hierbei im Blick zu behalten, dass solche Trends vor allem als Erweiterung der Optionen zu interpretieren sind und nicht andere Formen des Sharing ersetzen. Um die Möglichkeit der Persistenz gewisser Bilder zu erlauben, bietet Snapchat mittlerweile auch Funktionen wie MyStory (Snaps, die 24 Stunden online bleiben) an. Dies zeigt sich etwa auch in der Integration von „Memories“, in der Snaps langfristig gespeichert werden, was auch als Absage an die Flüchtigkeit von Snaps interpretiert werden könnte.6 Besonders im Kontext von Zeitlichkeit wird deutlich sichtbar, dass mediale Einbettung und technische Funktionen Photo Sharing wesentlich mitgestalten und -strukturieren. Jedoch interessieren die Visuelle Kommunikationsforschung weniger die sich rasch wandelnden technische Funktionen konkreter Apps, sondern welche Kommunikationsmodi und visuelle Formate sich jeweils etablieren. Dabei geht es auch um die Frage wem etwas überhaupt gezeigt wird, wer also die „Audience“ der Photo Sharing Praktiken ist.

3.3

Photo Sharing und dessen Publikum bzw. AdressatInnen

Gilt es zu bestimmen, wer nun eigentlich die Rezipierenden der geteilten Fotos sein können, wird deutlich, dass verschiedene Sharing Praktiken sehr unterschiedliche AdressatInnen und Publika implizieren können. Zeigen: Ko-präsentes Sharing Am einfachsten zu bestimmen und am „überschaubarsten“ für den/die Zeigende/n ist jener Modus, in dem Bilder einer oder mehreren physisch anwesenden Personen gezeigt werden. Dies kann analog oder digital geschehen. Das gemeinsame Betrachten des Fotoalbums ist hierbei wahrscheinlich der am häufigsten untersuchte Modus (Hirsch 1997; Rose 2010). Ein klassischer Modus wäre auch der Dia-Abend (Schreiber 2016, S. 63). Darüber hinaus wird die „Galerie“ auf dem Smartphone gleichsam einem Album häufig gemeinsam betrachtet. Zentrales Element des ko-präsenten Sharing ist die fast immer stattfindende Einbettung in eine Narration des/der Zeigenden (siehe auch Abschn. 3.4), die das Zeigen der Bilder begleitet. Diese Rahmung kann für unterschiedliche Rezipierende ganz unterschiedlich ausfallen: Während etwa mit der reiseaffinen Tante anhand des Fotos des Flugzeuges der Abstand der Sitzreihen bei dieser und jener 6

Der große Erfolg der Snaps, die 24 Stunden online bleiben, führte dazu, dass Facebook gemeinsam mit den ebenfalls zum Konzern gehörenden Apps Instagram und WhatsApp rasch nachzog und ähnliche flüchtige Foto-(bzw. Video-)Formate anbietet. An dieser Stelle kann nicht auf die sich ständig ändernden Features von Photo-Sharing Apps eingegangen werden. Diese Ausführungen sollen lediglich dazu dienen, die zunehmende Bedeutung und auch Marktrelevanz ephemerer Fotografie zu unterstreichen.

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Fluglinie diskutiert wird, erzählt man der schwangeren Freundin von dem süßen, schlafenden Baby, das neben einem saß. Wesentlich komplexere Verzahnungen (Widersprüche, Brüche) von Bild, Narration und Erinnerung lassen sich gerade in Bezug auf Familiengeschichten feststellen, wie etwa Pohn-Lauggas (2016) in ihrer Studie zu NS-WiderstandskämpferInnen herausarbeitet. Remote Sharing: Veröffentlichen und Senden Die Zirkulation analoger Fotografien ist durch die materiale Gebundenheit der Bilder etwa an ein Fotoalbum, das Verschicken in einem Briefkuvert oder das Tragen im Portemonnaie überschaubarer. Der Kreis der Rezipierenden lässt sich dabei, wie auch beim ko-präsenten Betrachten digitaler Bilder, stärker kontrollieren. Die vernetzte Zirkulation digitaler Bilder ist dagegen nicht nur wesentlich schneller, sondern mitunter auch diffuser. Digitales, vernetztes Photo Sharing kann, wie jede OnlineKommunikation, mit sehr unterschiedlichen Rezipierenden oder KommunikationspartnerInnen stattfinden, die mehr oder weniger konkret und bestimmbar sein können: von persönlicher oder intimer Freundschafts- und Paarkommunikation via Whatsapp (Venema und Lobinger 2017), über das Teilen von Partybildern in veranstaltungsspezifischen Facebook-Gruppen (Neumann-Braun und Autenrieth 2011), bis zu Instagram-Accounts mit Millionen von Followern (Abidin 2016) und vielen mehr. Eine hilfreiche grundlegende Differenzierung in Bezug auf Praktiken des Mit-Teilens von Fotografien im Kontext von Social Media ist jene in publishing (Veröffentlichen) und messaging (Senden) (Villi 2013, 2015). Publishing – Das Veröffentlichen von Fotos Mit „publishing“ ist das Bereitstellen von Bildern gemeint, die an eine breite, eher diffuse Öffentlichkeit gerichtet sind, wie etwa auf Instagram, Flickr oder auch Facebook. All diese Plattformen haben unterschiedliche Optionen für die Einstellung der Sichtbarkeit von hochgeladenen Inhalten. User können damit die Sichtbarkeit der Bilder mehr oder weniger differenziert regulieren; grundsätzlich sind Praktiken des Mit-Teilens auf solchen Plattformen aber an größere Gruppen von Sehenden gerichtet. Ein spannender Aspekt dabei ist, wie mit den Möglichkeiten der Regulierung umgegangen wird, gerade in Bezug auf das Empfinden, was weshalb privat ist (Abidin 2016; Tiidenberg 2015; Wagner 2014) aber auch in Bezug auf rechtliche Fragen, wem ein Bild überhaupt gehört (Keightley und Pickering 2014; Van House 2011). Die Praxis des „publishing“ ähnelt, so Villi, einem „act of placing the photograph on a pedestal in a crowded room, entailing characteristics of both sharing and exhibition. The others may or may not view the photograph, and if they do view it, they will not necessarily do so immediately.“ (Villi 2015, S. 10) Damit wird deutlich, dass die Differenzierung in publishing und messaging mit den push- oder pull-Logiken von Plattformen zusammenhängt (Van House 2011): Während beim „publishing“ Rezipierende das Bild in bestimmten Kontexten, in denen sie sich bewegen, vorfinden oder konkret suchen („pull“), bekommen sie im Modus des „messaging“ das Bild direkt zugeschickt („push“). Dadurch, dass die Algorithmen von Social Media-Angeboten ebenfalls reagieren und „lernen“ und etwa die Timeline von Facebook je nach Verhalten und Präferenzen der Nutzenden unterschiedlich

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gestaltet wird, kann man eigentlich von Mischformen von pull- und pushDynamiken sprechen. Villi erinnert zudem daran, dass im Sinne einer Remediation (Grusin und Bolter 2000) in jenen Social Media Plattformen, die publishingPraktiken forcieren, Elemente klassischer Homepages oder Webseiten enthalten sind: Profilseiten haben einen klar repräsentativen Charakter, es gibt verschiedene Felder bzw. Menüpunkte, durch die man mehr über eine Person erfahren kann – etwa Fotos, Freunde, Interessen. Kuratierte Profile dienen zudem der Archivierung und Chronologisierung von Ereignissen, aber auch der Gestaltung und Darstellung der eigenen Biografie (van Dijck 2013b; Walker Rettberg 2014; Whitlock und Poletti 2008). Messaging – Das Senden von Fotos Im Gegensatz dazu basieren Messaging-Programme wie WhatsApp, iMessage, der Facebook Messenger oder auch Snapchat auf der Dramaturgie mediatisierter interpersonaler Kommunikation, die etwa in der Tradition von Brief, Telefongespräch, SMS und Videochat steht (Milne 2010; Walker Rettberg 2014). Photo-Messaging ist eine Form interpersonaler visueller Kommunikation, in welcher der Empfängerkreis genau definiert ist. Allerdings lassen sich Sharing-Plattformen, soziale Netzwerkseiten und Messaging-Services immer weniger klar voneinander abgrenzen (Taddicken und Schmidt 2017). Die Inhalte der beim Messaging geteilten Bilder sind sehr vielfältig und beruhen oft auf Kontextwissen der KommunikationspartnerInnen. Sie wären für Außenstehende dagegen unverständlich. Denn beim Messaging werden Bilder entweder an bestimmte (passende) Personen gesandt oder Bilder werden für eine spezielle Person hergestellt. Das konkrete Motiv oder die Aussage kann darüber hinaus sogar zweitrangig sein, vielmehr hat beim Messaging oft die Tatsache, dass etwas geteilt wird und wann es geteilt wird, die größte Bedeutung, hier spricht man von phatischer Kommunikation (Lobinger 2015; Prieto-Blanco 2010). „The meaning of the photo doesn’t rest just in its content but in the choice to restrict its consumption – the choice to send that particular image to that particular person at that particular time, to the exclusion of other images, other recipients, and other times.“ (Jurgenson 2013). Es können aber auch Fotos geteilt werden, die Scans ähneln und deren Funktion die Dokumentation bestimmter Informationen ist, z. B. die vergessene Einkaufsliste oder ein bestimmtes Weinetikett. Messaging-Praktiken sind primär an Konversation und Reziprozität interessiert, etwa im Kontext von familiären Fern-Beziehungen (Madianou 2014) oder auch autoerotischen Praktiken (Schindler und Boll 2011). Forschungspragmatisch (Schirmer et al. 2015) und forschungsethisch (Markham 2012) stellt sich gerade bei Messaging-Praktiken die zentrale Frage, wie der Zugriff auf visuelle Daten, die in Messaging-Praktiken eingebettet sind und – etwa im Falle vergänglicher Fotos – teilweise nicht mehr existieren, erfolgt: Stellen Beforschte diese zur Verfügung (etwa das vom Schweizer Nationalfonds geförderte Projekt „What’s up, Switzerland? Languages, Individuals and Ideologies in mobile messaging“, siehe Stark 2016–2018), erzählen sie über die Praktiken? Inwiefern werden Daten autorisiert und anonymisiert? Zwar bezieht sich Villis Differenzierung in Publishing und Messaging, wie ausgeführt, in erster Linie auf Sharing im Kontext von Social Media. Doch auch beim

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Sharing analoger Bilder kann man unterschiedliche Grade von Sichtbarkeit differenzieren (Durrant et al. 2011; Prieto-Blanco 2016) – schließlich macht es einen großen Unterschied, wem ein Foto im Portemonnaie, im Bilderrahmen im Wohnzimmer oder bei der Diashow gezeigt wird (Bourdieu et al. 1983, [1965]). Von Privatheit zu (Halb-)Öffentlichkeiten? Gerade im Kontext von Sozialen Medien hat sich eine Transformation vollzogen, die Begriffe wie privat und öffentlich zu Kategorien macht, mit denen schwierig zu operieren ist und deren Binarität nicht mehr sinnvoll scheint. Boyd spricht (vor allem im Kontext von Publishing-Praktiken) von „networked publics“, die gleichzeitig einem vernetzten Raum aber auch einem imaginierten Kollektiv entsprechen (boyd 2011, S. 39). Am anderen Ende des Kontinuums „öffentlich-privat“ entstehen durch Messaging-Praktiken neue Formen der intimen Kommunikation etwa in Familien, Freundschafts- oder Paarbeziehungen (Gershon 2011; Venema und Lobinger 2017) – wesentlich dabei ist die Herstellung mediatisierter Nähe und einer „ambient intimacy“ (Hjorth et al. 2012; Milne 2010). Hilfreich scheint auch Wagners relationale und historisch situierte Definition von Privatheit und Öffentlichkeit: „Privatheit ist eine Praxis, die stets auf Öffentlichkeit bezogen ist (. . .) Und: die Entwicklung von Privatheit ist an spezifische Medien gebunden (Tagebuch, Brief, Roman). Hieraus lässt sich schließen, dass Privatheit nicht immer gleich bleibt, sondern sich abhängig von Publika und Medien transformiert und verändert.“ (Wagner 2014, S. 125) Genauso verhält es sich in Bezug auf Photo Sharing: Die Differenzierung von verschiedenen EmpfängerInnenkreisen privater Bilder ist ein komplexer Entscheidungsprozess, der eng verbunden mit den bereits ausgeführten Dimensionen der Präsenz und Zeit, sowie Praktiken des Publishing und Messaging ist. Es gilt im Kontext konkreter Forschung also zu explorieren, welche Art von AdressatInnen in welcher Praxis überhaupt eine Rolle spielt. Schreiber (2017) beschreibt u. a. im Anschluss an Villi (2013) unterschiedliche Formen von Konnektivität und Sichtbarkeit als relevante Handlungsdimensionen von Sharing. Als Endpole bzw. Extreme möglicher Modi von Konnektivität versteht sie einerseits theatral-präsentative, andererseits reziproke Kommunikation; Sichtbarkeiten spielen sich zwischen öffentlichen und intimen Sphären ab – und Praktiken des Sharing können zwischen diesen Polen verortet werden. Nicht zu vergessen ist, dass gerade digitale Bilder sehr einfach von einem Kontext in einen anderen, etwa von intimer zu öffentlicher Dimension und umgekehrt wandern können, gewollt und ungewollt – darauf werden wir am Ende unseres Beitrags nochmals kurz eingehen.

3.4

Modi des Photo Sharing

Wir differenzieren des Weiteren jene Handlungen/Praktiken, bei denen der materielle Charakter der geteilten Bilder im Vordergrund steht (meist in der Form von „Bildhandeln“) und jene, in denen visuell-kommunikative Aspekte bildlicher Artefakte in den Vordergrund rücken (Bildkommunikation) (siehe dazu ausführlicher Lobinger

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2015, S. 43). Diese Unterscheidung ist vor allem deshalb wichtig, weil damit der Tatsache Rechnung getragen wird, dass das Bild selbst unterschiedliche Bedeutungen für das Sharing annimmt. Manchmal ist das Bild selbst besonders wichtig für die Kommunikationssituation, in dem es zum Beispiel besonders emotionale Botschaften auf ästhetisch einzigartige Weise vermittelt. In anderen Fällen, wie bei den oben genannten ephemeren Bildern, spielen Komposition und Ästhetik des Bildes typischerweise eine untergeordnete Rolle. Dies bedeutet aber nicht, dass ephemeres Photo Sharing weniger bedeutungsvoll wäre. Hier stecken die kommunikative Bedeutung und der kommunikative Gebrauchswert eben vielmehr in der Art der – oftmals spontanen, synchronen, spielerischen – Verbindung, die das Bild ermöglicht. Ebenso, wie es je nach der Art und Größe des intendierten Publikums zwischen Veröffentlichen, Senden und Zeigen zu unterscheiden gilt, nimmt das geteilte Bild auch gänzlich unterschiedliche Rollen im Kommunikationsprozess ein. An anderer Stelle (siehe dazu Lobinger 2016) wurden deshalb drei unterschiedliche Modi des Teilens unterschieden. So können Fotografien geteilt werden um 1) über die Bilder zu sprechen, 2) mit den Bildern etwas auszudrücken bzw. zu kommunizieren, oder aber sie dienen 3) dem phatischen Photo Sharing. Es handelt sich hierbei wiederum um eine analytische Unterscheidung, die keinesfalls trennscharf zu ziehen ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass diese drei Modi des Teilens von Fotografien in Mischformen auftreten. Diese Kategorisierung dient vor allem dazu, in einer textomateriellen Perspektive hervorzuheben, dass Fotografien in Kommunikationsprozessen sowohl als materielle Objekte als auch hinsichtlich ihrer visuellen Inhalte (also als Texte) relevant werden können und dass sich eine Analyse von Photo Sharing nicht auf die Analyse der geteilten visuellen Objekte beschränken darf. Photo Sharing um über Bilder zu sprechen Werden Fotos geteilt, um über sie zu sprechen, so steht oftmals die sprachlich-verbale Kommunikation über Bilder im Mittelpunkt (Lobinger 2015, S. 48–50; Lobinger 2016). Man stelle sich hierzu folgende Situation vor: Person A und B trinken gemeinsam Kaffee. A erzählt B von seinem/ihrem gestrigen Ausflug mit der Familie. Um die Erzählung zu ergänzen, zückt A das Smartphone und zeigt B Fotos des Ausflugs. Diese Bilder werden dann erläutert, kommentiert und mit der Geschichte verwoben. Die Fotografien dienen als Konversationsressource, die die Erzählung bereichert bzw. andere Facetten hervorhebt. Die Art und Weise, wie Fotografien in Erzählungen eingebunden werden, kann dabei durchaus verschieden sein. So ist es denkbar, dass A entsprechend seiner verbalen Narration bestimmte Fotos auswählt und B zeigt. Oder aber A nutzt die Fotos, um an diesen entlang die Narration zu entwickeln. Grundsätzlich sind es dabei nicht die Fotos, die etwas ausdrücken und kommunizieren. Die Narration bleibt, wie Chalfen (1987) es ausdrückte, in den Köpfen der erzählenden Personen. So ist es entsprechend auch möglich, dass A unter Bezug auf dieselben Bilder eine völlige andere Narration entwickelt, wenn er/sie anstatt mit B mit C spricht. Die Materialität der Bilder kann hier ebenfalls sehr unterschiedlich sein. So können Fotoalben, gedruckte Einzelbilder, ebenso wie Bilder auf dem Smartphone oder aus Social Media-Kontexten in Kommunikationsprozesse eingebunden werden. Ebenso ist das Sprechen über Bilder nicht auf ko-präsente Kommunikationssi-

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tuationen beschränkt. Auch geografische getrennte Personen können sich in einer Erzählung auf Fotografien beziehen. Als Beispiel kann wieder die Erzählung über den Familienaufenthalt dienen: A könnte B ebenso Bilder per Instant-Messaging zusenden und die Narration verbal (etwa per Telefon) oder schriftlich (etwa per IM) ausführen. Aus diesem Sinn macht es, unserer Ansicht nach, auch wenig Sinn, Kommunikationspraktiken anhand der Nutzung bestimmter Kommunikations- und Medientechnologien zu unterscheiden. Der Modus „Sprechen über Bilder“ erweist sich hinsichtlich seiner Beliebtheit und seiner sozialen Funktionen als äußerst robust gegenüber technisch-medialen Veränderungen. Photo Sharing um mit den Bildern zu kommunizieren Werden Bilder geteilt, um mit ihnen zu kommunizieren, rücken die Bildmotive und die Bildästhetik in den Fokus. Bei dieser Art des Photo Sharing sollen die Bilder direkt etwas ausdrücken, etwas visuell kommunizieren und vergegenwärtigen. „People then share photographs in order to tell something with the photographs and to express themselves photographically, not with a narration built around the photographs.“ (Lobinger 2016, S. 480) Dabei kann Photo Sharing für AmateurfotografInnen etwa Ausdruck eines gewissen Stils und einer gewissen Ästhetik und damit Ausdruck der Partizipation an einer bestimmten Community sein (Przyborski 2017); aber auch bei der visuellen Identitätsarbeit auf Social Media spielt die Art und Weise der visuellen Selbstdarstellung bzw. spielen die Bildinhalte eine entscheidende Rolle (Davies 2007; Neumann-Braun und Autenrieth 2011; Schwarz 2010). Insbesondere das Profilbild eines User-Accounts ist eine wichtige Ressource der Identitätsarbeit und der visuellen und authentischen Repräsentation des Selbst, was wiederum wichtig für die Beziehungsarbeit ist (Astheimer et al. 2011). Aber auch hier sind die visuellen Darstellungen nicht isoliert, sondern in Verbindung zu den „Rückmeldungen“ und Reaktionen, wie etwa Kommentaren und Likes im Kontext von Social Media zu sehen (siehe auch den Beitrag von Autenrieth in diesem Band). Phatisches Photo Sharing Während bei den bisherigen beiden Modi des Photo Sharing entweder die Narration über das Bild oder dessen Inhalte und Ausdrucksweisen die für das Sharing relevanten Aspekte waren, so stellt das phatische Photo Sharing einen besonders spannenden Gegensatz dar: Es geht dabei darum, kommunikativen Kontakt und Konnektivität herzustellen. Mitunter sind weder Bilder noch die Anschlusskommunikation bedeutsam, denn es soll weder ein bestimmter Inhalt oder eine bestimmte Information vermittelt werden, vielmehr wird ein gemeinsamer Kommunikationsraum eröffnet. Malinowski (1923) und Jakobson (1960) bezeichneten diese äußerst bedeutsamen kommunikativen Interaktionen als phatische Kommunikation (Miller 2008; Villi 2012). Visuelle phatische Kommunikation erfolgt oftmals in Form ritualisierter Sharing-Prozesse, ähnlich der phatischen Kommunikation mittels SMS, wie zum Beispiel in routinehaft ausgetauschte Gute-Nacht-Nachrichten unter Freunden. Phatisches Photo Sharing basiert auf Reziprozität, erfüllt seine Funktion also nur, wenn auf ein geteiltes Foto ein Foto des/der KommunikationsparterIn folgt. Dieses Prinzip ist aus dem Geschenkeaustausch (Mauss 2011) bekannt. Villi bezeichnete diesen reziproken, phatischen Fotoaustausch, der

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Geben (Photo Sharing) und Nehmen (Reciprocating) involviert, als „visual chit-chat“, also als „visuelles Geschwätz“ oder „Plauderei“ und zeigte, dass diese vor allem dazu dient, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten und zu fördern (Villi 2012). Für die Visuelle Kommunikationsforschung ergibt sich daraus wiederum die Notwendigkeit, Bilder immer im Kontext der Sharing-Prozesse und ihrer Funktionen zu betrachten. Andersfalls würde eine inhaltsanalytische Untersuchung zu dem Schluss kommen, dass es sich hier um banale und sinnlose Bilder handelt, ohne die wichtigen sozialen Gebrauchsweisen der Sharing Praktik an sich zu erkennen.

4

Conclusion

Die Einbettung von Fotos in Social Media hat dazu beigetragen, dass Bilder immer mehr zu Elementen alltäglicher Kommunikation werden, wir über Bilder und in Bildern kommunizieren, und dass alltägliche Fotografien eine bislang ungekannte Sichtbarkeit erfahren. Praktiken des Photo Sharing sind deshalb ein wichtiger, sehr dynamischer und damit herausfordernder Gegenstand der Visuellen Kommunikationsforschung. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive lässt sich ein Bild als „double articulation“ (Livingstone 2007) bzw. texto-materiell (Lobinger 2016) verstehen. Wie wir in diesem Kapitel zeigen konnten, ist seine symbolische und zeichenvermittelnde Bedeutung ebenso relevant wie seine materiale Erscheinung in einem bestimmten Kontext bzw. in einer bestimmten Praktik. Seit einiger Zeit rückt das Zusammenspiel aus Materialität und Visualität im Kontext fotografischer Praktiken erfreulicherweise zunehmend in den Fokus (Lehmuskallio und Gómez-Cruz 2016). Wie Fotos medial und material, analog und digital eingebettet sind, konstituiert jedenfalls die Möglichkeiten des Sharing mit. Letztendlich findet in und über die geteilten Bilder Kommunikation statt. Die Bilder können dabei, wie bereits ausgearbeitet, unterschiedlichste Formen annehmen, von schrägen Snapchat-Postings bis zum klassischen Hochzeitsfoto im Goldrahmen neben dem Ehebett. Während bei analoger Fotografie sicher „präsentativere“ Formate wie dicke Fotoalben oder gerahmte Bilder das Foto-Sharing dominierten, werden durch Digitalisierung und vor allem durch die vernetzte Kamera auch flüchtigere Formen der visuellen Echtzeitkommunikation selbstverständlicher Teil der fotografischen Alltagspraxis. Damit stellen sich auch Fragen nach visueller Kompetenz. Während wir Sprache als Kulturtechnik selbstverständlich erlernen, sind Bilder als Ausdruck des Selbst und als Mittel zur zwischenmenschlichen Kommunikation kaum anerkannt, bzw. als künstlerisch-kreative Elemente gerahmt. Nutzungszahlen zeigen jedoch, dass Photo Sharing offensichtlich sehr populär ist. Photo Sharing und visuelle Kommunikation tragen zudem auch in ihrer digitalen, vernetzten Ausgestaltung ganz wesentlich zur Konstitution von Identität und sozialen Beziehungen bei. Mit positiven wie negativen Implikationen. Ohne eine Moralpanik zu forcieren oder oft bedienten Narzissmus-Vorwürfen (Moon et al. 2016; Sheldon und Bryant 2016) aufzusitzen: Nicht ignoriert werden dürfen die möglichen Risiken, die mit der Vernetzung und Digitalisierung von Photo Sharing einhergehen. Zu visueller Kompetenz zählt daher auch das Wissen um bzw. der reflektierte Umgang mit Fragen der Sichtbarkeit: Die

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ungewollte Verbreitung privater Bilder wird in Kontexten von Mobbing oder Revenge Porn besonders virulent, kann aber natürlich auch „harmlosere“ Bilder betreffen, z. B. diskutiert Autenrieth die Sichtbarkeit von Babies und Kindern in sozialen Netzwerken (Autenrieth 2014). Sharing-Praktiken werden massenmedial gerne pauschal als narzisstisch und damit als krankhaft dargestellt – hier ist es Aufgabe der Visuellen Kommunikationsforschung, die Vielfalt und Komplexität von Photo Sharing durch fundierte, kontextspezifische Analysen transparent zu machen und auch medienpädagogisch einen Beitrag zu leisten. Gleichzeitig ergibt sich aus der raschen Innovation auf dem App-Markt eine Herausforderung für ForscherInnen: Viele Studien, die sich beispielsweise mit Snapchat beschäftigen, können nur Gültigkeit für die Sharing-Praktiken dieser einen App zu einem spezifischen Zeitpunkt beanspruchen. Verändern sich die Funktionalitäten der App, so kann auch angenommen werden, dass sich die Sharing-Praktiken bzw. die Nutzerschaften ändern. Aktuell übernimmt etwa Instagram die in Snapchat etablierten Funktionalitäten flüchtiger Fotografie. Somit bestünde keine klare Trennung mehr zwischen den ästhetischen, sorgfältig gestalteten Bildern des „typischen“ InstagramStils und den eher rohen, ästhetisch „minderwertigen“ aber dafür eventuell als intimer wahrgenommenen Snaps auf Snapchat (Kofoed und Larsen 2016). Beides wäre dann auf einer Plattform zu finden (Zhu 2016). Was bedeutet dies für Nutzungspraktiken, die bisher vor allem in Hinblick auf die jeweils spezifischen Affordanzen und Ästhetiken von Plattformen, Messenger-Services und Apps diskutiert werden? Es besteht die Gefahr, Studien mit sehr begrenzter Gültigkeit und daher limitierter Aussagekraft zu produzieren. Man denke hier an die Studien zu StudiVZ (RIP). Es sollte daher ein Ziel der Visuellen Kommunikationsforschung sein, diese Ergebnisse auf einer abstrakteren, allgemeineren Ebene zu bündeln und zu theoretisieren. Ebenso sind Forschungsdesigns anzuregen, die über eine Einzelmedienbzw. Einzelplattform-Forschung hinausgehen. Einen komplexen, aber lohnenswerten, Orientierungshorizont bieten hier Ansätze wie z. B. die non-media-centric media studies, bei denen Kommunikationsrepertoires bestimmter Personen oder sozialer Beziehungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung der wechselseitigen Bezüge einzelner Praktiken fokussiert werden (Couldry 2012; Hasebrink und Hepp 2017; Hepp et al. 2014; Madianou und Miller 2012; Miller et al. 2016). Dies ist gerade vor dem Hintergrund bedeutsam, dass sich soziale Praktiken und Nutzungsweisen der digitalen bzw. der vernetzten Fotografie als relativ stabil herausstellen – mit repertoire-orientierten bzw. medienübergreifenden Ansätzen können sowohl Kontinuitäten als auch Veränderungen ausgelotet werden.

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Visuelle Wissenschaftskommunikation Zur visuellen Darstellung von Wissenschaft, ihrer Produktion, Nutzung und Wirkung Julia Metag

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Produktion von wissenschaftlichen Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Inhalte von Bildern in der Wissenschaftskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Nutzung und Wirkung von visueller Wissenschaftskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag beschäftigt sich mit der Produktion von Bildern in der Wissenschaftskommunikation sowie mit deren Inhalten und Wirkungen. Dabei wird unterschieden zwischen wissenschaftlichen Bildern und Bildern von WissenschaftlerInnen und Wissenschaft sowie zwischen an die Wissenschaftsgemeinschaft und an die breitere Öffentlichkeit bzw. ein Laienpublikum gerichteten Wissenschaftsbilder. Manche Bilder werden so prominent in der öffentlichen Kommunikation verwendet, dass sie ikonischen Status erreichen, wie etwa der Eisbär auf der Eisscholle. Wissenschaftsbilder können im Idealfall bei RezipientInnen Aufmerksamkeit erwecken und zu einem besseren Verständnis von Wissenschaft führen. Der Beitrag bietet einen Überblick über den Forschungsstand, der sehr heterogen ist und von gut erforschten Feldern, wie der visuellen Klimawandelkommunikation, bis zu weniger erforschten Bereichen, in denen es bestenfalls Einzelfallstudien gibt, reicht.

J. Metag (*) Universität Freiburg, Fribourg, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_35

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Schlüsselwörter

Visuelle Wissenschaftskommunikation · Public Understanding of Science · Visuelles Framing · Klimawandelbilder · Wirkungen visueller Darstellungen · Strategische Kommunikation

1

Einleitung

In der Wissenschaft sind Bilder und visuelle Darstellungen seit jeher von großer Bedeutung (Hüppauf und Weingart 2009; Pauwels 2006). Über Bilder lässt sich der wissenschaftliche Fortschritt nachvollziehen und sie prägen die gesellschaftliche Wahrnehmung von Wissenschaft für das jeweilige Zeitalter (Hüppauf und Weingart 2009). Häufig verbinden wir mit bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen, Prozessen und Befunden bestimmte Bilder oder Abbildungen. So sprechen AutorInnen sogar davon, dass es einige „key images“, wie zum Beispiel das Bohr’sche Atommodell (s. Abb. 1), in der Geschichte der Wissenschaft gibt (Barrow 2009). Viele wissenschaftliche Erkenntnisse und Prozesse werden visualisiert (Adelmann et al. 2008; Arsenault et al. 2006), denn „Bilder vermögen komplexe Zusammenhänge, Prioritäten und Abhängigkeitsverhältnisse sichtbar zu machen und Komplexität zu reduzieren“ (Adelmann et al. 2008, S. 42). Umgekehrt stellt die Visualisierung von wissenschaftlichen Themen und Befunden durchaus eine Herausforderung dar. Denn viele Vorgänge oder auch Ursachen und Folgen wissenschaftlicher Prozesse sind kaum oder nur sehr schwer visualisierbar (Hansen und Machin 2013). Bilder können daher ein Weg sein, jene wissenschaftlichen Phänomene für uns wahrnehmbar zu machen, die sonst nicht mit bloßem Auge zu erkennen wären, auch wenn Bilder nicht alle wissenschaftlichen Prozesse oder Phänomene exakt abbilden können (Gough 2017; Kessler et al. 2016).

Abb. 1 Einfaches Bild des Bohr‘schen Atommodells. (Quelle: Jia.liu, https:// commons.wikimedia.org/ wiki/File:Bohr_model.jpg, Zugegriffen am 03.11.2017)

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Beschäftigt man sich mit der Rolle von Bildern in der Wissenschaftskommunikation, geht es nicht nur um die Vermittlung von wissenschaftlichen Befunden durch visuelle Darstellungen allein. Vielmehr muss auch die Kombination von Text bzw. gesprochener Sprache und bildlichen Darstellungen berücksichtigt werden (Bucher und Niemann 2015). Denn der das Bild begleitende Text nimmt gerade in der Wissenschaftskommunikation oft eine ebenso gewichtige Rolle ein. So wird ein Bild von manchen AutorInnen erst als wissenschaftliches Bild definiert, wenn es durch einen wissenschaftlichen Text begleitet wird. Es wird argumentiert, dass eigentlich nur durch den Text erkennbar ist, dass es sich um ein wissenschaftliches Bild handelt, erst dieser macht die Abbildung wissenschaftlich (Lohoff 2008, S. 151). Will man einen Überblick über den Forschungsstand zu Bildern in der Wissenschaftskommunikation geben, müssen zunächst zwei verschiedene Perspektiven unterschieden werden, denen die verschiedenen Forschungsarbeiten zugerechnet werden können: 1. Wissenschaftliche Bilder: Zum einen kann man danach fragen, welche Bilder in der Wissenschaft selbst eingesetzt werden (z. B. Grafiken, Diagramme, Abbildungen etc.) und welche Bilder von wissenschaftlichen Prozessen, Evidenzen, Modellen, Themen etc. in den verschiedenen Kanälen öffentlicher Kommunikation veröffentlicht werden – von der wissenschaftlichen Fachzeitschrift bis zur Berichterstattung in den traditionellen Massenmedien sowie im Internet und in Sozialen Medien. Hier geht es also um die Abbildung von wissenschaftlichen Befunden aus den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. 2. Bilder von Wissenschaft und WissenschaftlerInnen: Viele Studien gehen (auch) der Frage nach, wie Wissenschaft und WissenschaftlerInnen in den Medien dargestellt werden. In Bezug auf visuelle Darstellungsformen sind hier vor allem Forschungsbefunde relevant, die sich mit dem Bild von Wissenschaft und WissenschaftlerInnen in visuellen populären Medien wie Film, Comics und neueren Formen wie Youtube-Videos beschäftigen – wenn also z. B. ein Bild eines Wissenschaftlers bzw. einer Wissenschaftlerin zu sehen ist, wie sieht er oder sie darauf aus? Welche stereotypen Darstellungen gibt es? Letztlich lassen sich diese beiden Perspektiven nicht immer trennscharf unterscheiden. Denn durch Bilder, die WissenschaftlerInnen einsetzen, um wissenschaftliche Themen, Prozesse oder Evidenzen abzubilden, vermitteln sie letztlich auch ein Bild „der Wissenschaft“. Beiden Formen der visuellen Wissenschaftskommunikation wird eine gewisse Wirksamkeit auf das „Bild der Wissenschaft“ – also auf die mentalen Bilder der Menschen – unterstellt (Hüppauf und Weingart 2009). Visuelle Wissenschaftskommunikation hat letztlich Einfluss auf Vorstellungen der BürgerInnen von und ihre Einstellungen zu Wissenschaft. Entsprechend werden auch in diesem Beitrag beide Aspekte betrachtet. Da visuelle Darstellungen den BürgerInnen ein Bild von Wissenschaft vermitteln können, wurden die verschiedenen Möglichkeiten der Visualisierung in der Wissenschaftskommunikation im Rahmen von theoretischen Ansätzen zur Vermittlung von

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Wissenschaft, zum Beispiel im Public Understanding of Science Paradigma (Bauer und Gregory 2007), diskutiert. Im Rahmen des Public Understanding of Science Ansatzes steht die Frage im Zentrum, inwieweit Bilder dazu beitragen können, bei den Rezipierenden ein besseres Verständnis und damit auch eine erhöhte Akzeptanz von Wissenschaft zu erreichen (Trumbo 1999). Es wird angenommen, dass die Visualisierung von wissenschaftlichen Informationen auch zur Popularisierung der Wissenschaft eingesetzt wird – vor allem durch die Massenmedien. Visualisierungen sollten dabei helfen, wissenschaftliches Wissen in einer breiten Öffentlichkeit zu verbreiten (Alcíbar 2017). Die Verwendung von wissenschaftlichen Bildern lässt sich auch vor dem Hintergrund des Medialisierungsansatzes erklären, der die verstärkte Bedeutung von medialer Kommunikation und öffentlicher Beobachtung für unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme beschreibt (Marcinkowski und Steiner 2010). So kann die zunehmende Integration von visuellen Darstellungen als ein Indikator für die Medialisierung der Wissenschaft, verstanden als die zunehmende Orientierung der Wissenschaft an den Regeln und Logiken medialer Aufmerksamkeitserzeugung (Marcinkowski et al. 2013), begriffen werden. Denn durch den erhöhten Anteil an visuellen Inhalten verändern sich schließlich Forschungsprozesse und auch die Wissenschaftskommunikation selbst (Bucher und Niemann 2015); es findet also eine teilweise Anpassung der Wissenschaft an die Medienlogik statt. Visuelle Darstellungen finden häufig eine größere Beachtung in der medialen Berichterstattung, sodass die Orientierung an der Medienlogik bedeuten kann, dass Forschungsprozesse u. a. darauf ausgerichtet werden, dass sie gut visualisierbar sind. Anknüpfend an diese theoretischen Stränge gibt der Beitrag einen Überblick über die Produktion von wissenschaftlichen Bildern, den Inhalten von Bildern in der Wissenschaftskommunikation sowie ihre Wirkungen und Effekte.

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Die Produktion von wissenschaftlichen Bildern

In Anlehnung an Hüppauf und Weingart (2009) lassen sich Wissenschaftsbilder hinsichtlich ihrer ProduzentInnen und ihrer Zielgruppen unterscheiden. So können sich Wissenschaftsbilder an die Wissenschaftsgemeinschaft richten („scholarly communication“) oder an ein breiteres (Laien-)Publikum. Dies entspricht der in der Wissenschaftskommunikation geläufigen Differenzierung zwischen wissenschaftsinterner, also an FachkollegInnen gerichteter, und wissenschaftsexterner Wissenschaftskommunikation, die sich an ein nicht-wissenschaftliches Publikum richtet (Bonfadelli et al. 2017; Schäfer 2017). Wissenschaftsbilder können zum einen innerhalb der Wissenschaft selbst hergestellt werden oder auch Produkte von Massenmedien selbst sein (Hüppauf und Weingart 2009). Interne visuelle Wissenschaftskommunikation Anschließend an diese Differenzierung lässt sich ein erster Forschungsbereich ausmachen, in dem es darum geht, welche Arten von visuellen Darstellungen in wissenschaftlichen Publikationen, Fachzeitschriften und Konferenzpapieren einge-

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setzt werden (Mogull und Stanfield 2015; Qiuye 2004; Rowley-Jolivet 2002, 2016). Das Forschungsgebiet beschäftigt sich also mit Bildern, Grafiken, Abbildungen und anderen Formen visueller Darstellungen, die innerhalb der Wissenschaft hergestellt wurden und die sich an die Fachcommunity, d. h. andere WissenschaftlerInnen richten (Pauwels 2000). In dieser scholarly communication werden Bilder als visuelle Argumente und Belege für Forschungsergebnisse eingesetzt (Kessler et al. 2016; Miller 1996). Eine besondere Bedeutung kommt dabei Grafiken zu (Cleveland 1984; Franzblau und Chung 2012; Krohn 1991), denn gerade Grafiken und Diagramme gelten als sehr genaue Darstellung von wissenschaftlichen Ergebnissen (Kessler et al. 2016). In naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften werden Graphen und Diagramme von allen Abbildungstypen am häufigsten publiziert, noch vor Fotos (Cooper et al. 2002; Mogull und Stanfield 2015). Überwiegend handelt es sich dabei um Balkenoder Punkte-Diagramme (Cooper et al. 2002; Mogull und Stanfield 2015). Grafiken und Diagramme werden zum Beispiel in den Fachzeitschriften der Naturwissenschaften, die oftmals als die „exakten“ Wissenschaften bezeichnet werden, deutlich häufiger eingesetzt als in sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften (Cleveland 1984). Auch nicht-grafische Darstellungen wie Bilder oder Karten sind in naturwissenschaftlichen Journals häufiger zu finden als in Fachzeitschriften anderer Disziplinen. Im Gegensatz dazu gibt es keinen signifikanten Unterschied, wie häufig Tabellen und Formeln in Publikationen der „soft sciences“ (z. B. Sozialwissenschaften) und der „hard sciences“ (Naturwissenschaften) eingesetzt werden (Arsenault et al. 2006). Arsenault et al. (2006) interpretieren dies so, dass die „harten“ Wissenschaften zwar besser visualisierbar sind, aber, dass sie nicht unbedingt mathematischer sind als die anderen Disziplinen. Die Forschung konzentriert sich bei der Analyse von Visualisierungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften sehr stark auf englischsprachige und naturwissenschaftliche Fachzeitschriften, oft auf die führenden Fachzeitschriften wie Science oder Nature. Dabei zeigen andere Analysen, dass es kulturelle Unterschiede in den Visualisierungspraktiken geben kann. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass in chinesischen Publikationen zu Wissenschaft und Technik Bilder eher kontextuelle und technische Informationen liefern (Qiuye 2004). Allerdings beruht die genannte Studie auf der Analyse von nur vier Abbildungen. Bilder von Wissenschaft sind immer auch unmittelbar mit der Produktion von wissenschaftlichem Wissen verbunden, da sie sich auf bestimmte wissenschaftliche Modelle und Theorien beziehen (Hüppauf und Weingart 2009). Entsprechend sind auch wissenschaftliche Bilder nicht immer eindeutig und ihnen sind Faktizität oder Evidenz nicht zwangsläufig inhärent, auch wenn dies gerne in der Wissenschaft so dargestellt oder angenommen wird: „In scientific arguments, images often function as facts and depend on truths and presumptions“ (Buehl 2014, S. 190). Bilder wurden vor allem früher in der Wissenschaft als Repräsentationen der realen Welt verstanden. Schon analoge Bilder waren nicht vor Manipulation geschützt (Knieper und Müller 2003), und durch digitale Bildbearbeitungsprogramme ist es noch einfacher geworden, Bilder nachzubearbeiten, zu verändern und zu verfälschen. Solche Fälle hat es auch bei wissenschaftlichen Abbildungen gegeben. Aus ethischer

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Perspektive kann und muss entsprechend diskutiert werden, was eine solche Manipulation für die Wissenschaft bedeutet. Wissenschaftliche Fachzeitschriften haben diesbezüglich ihre Richtlinien für Einreichungen mit digitalen Bildern überarbeitet, um eine strengere Kontrolle zu ermöglichen (Buehl 2014). Durch die zunehmend einfacheren Möglichkeiten der Manipulation digitaler Bilder in der „PhotoshopÄra“ können wissenschaftliche Bilder nicht (mehr) uneingeschränkt als Indizien für Evidenz oder Abbildung von Fakten verstanden werden (Buehl 2014, S. 199). Neben der Frage, welche Abbildungen in der wissenschaftsinternen Kommunikation genutzt werden, gehen Studien auch der Frage nach, was WissenschaftlerInnen dazu motiviert, Bilder in ihrer Kommunikation und ihren Publikationen einzusetzen. So wird untersucht, warum WissenschaftlerInnen sich den Möglichkeiten der Visualisierung durch PowerPoint-Präsentationen bedienen (Hertz et al. 2015; Rowley-Jolivet 2016). Tatsächlich werden in sehr vielen Präsentationen im Rahmen wissenschaftlicher Konferenzen visuelle Darstellungen verwendet (Rowley-Jolivet 2016). Die Präsentierenden setzen Bilder ein, da sie sich davon u. a. eine zusätzliche Erklärungsfunktion, eine Unterstützung für das Publikum, eine Verbindung zum Publikum, eine angenehme Atmosphäre und Unterstützung für einen selbst erhoffen (Hertz et al. 2015). Externe visuelle Wissenschaftskommunikation Von der internen visuellen Wissenschaftskommunikation sind visuelle Darstellungen zu unterscheiden, die sich an breitere Laienpublika richten. Akteure in der Wissenschaftskommunikation setzen Bilder strategisch ein und versuchen damit, die breite Öffentlichkeit zu erreichen. Je nach wissenschaftlichem Thema sind beispielsweise NGOs zentrale Akteure, die in ihrer Wissenschaftskommunikation mit visuellen Darstellungen arbeiten. Für den Klimawandel ist dies relativ gut untersucht. Eine Studie zum Einsatz von Klimawandel-Bildern durch Greenpeace zeigt die unterschiedlichen Strategien zur Visualisierung des Klimawandels im Kampagnenmaterial von Greenpeace (Doyle 2007). Eine Strategie beinhaltet beispielsweise den Einsatz von Bildern zur Darstellung der Ursachen des Klimawandels (Doyle 2007). Wozniak et al. (2017) machen deutlich, dass sowohl Delegationen von Regierungen aus verschiedenen Ländern als auch NGOs versuchen, ihre visuellen Darstellungen und Frames des Klimawandels in der massenmedialen Öffentlichkeit durchzusetzen (zu visuellem Framing siehe Geise und Lobinger 2013). Allerdings gelingt dies NGOs deutlich besser als den Regierungsdelegationen, da sich ihre Vorstellungen von Bildern zum Klimawandel überwiegend mit den Vorstellungen der JournalistInnen decken. Entsprechend sind ihre visuellen Darstellungen des Klimawandels in der journalistischen Berichterstattung häufiger wiederzufinden (Wozniak et al. 2017). Nicht nur in der Klimawandelkommunikationsforschung, auch in der Forschung zu visuellen Darstellungen in der Umweltkommunikation generell lässt sich die strategische Produktion und Kommunikation von Bildern feststellen (Cox und Pezzullo 2016, S. 74–81). So versuchen beispielsweise Stiftungen (Schwarz 2013) oder auch lokale Verwaltungseinheiten (Takach 2013) mit der Disseminationen von unterschiedlichen Bildern – seien es Naturdarstellungen oder auch Bilder von Umweltverschmutzung – ihre strategischen Interessen durchzusetzen und in die journalistische Berichterstattung zu gelangen (Hansen 2016).

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Während NGOs eine strategische Agenda mit dem Einsatz von Bildern verfolgen, verfolgen Bildagenturen wie z. B. Getty Images keine solche Strategie. Da sie aber eine Vielzahl an Bildern für JournalistInnen weltweit zur Verfügung stellen, sind solche Agenturen wichtige Akteure für die Produktion visueller Darstellungen von Wissenschaftsthemen. In Bezug auf den Klimawandel können Hansen und Machin (2008) zeigen, dass die Bilder, die Getty Images zum Stichwort Klimawandel anbietet, überwiegend generische Bilder sind. Es handelt sich also um Bilder, die für die unterschiedlichsten Zwecke eingesetzt werden können, da sie dekontextualisiert sind und die dargestellten Objekte und Personen keine individualisierten Merkmale aufzeigen (Hansen und Machin 2008). Die Bedeutung von Bildagenturen sowie von strategischen Akteuren wie NGOs für die journalistische Berichterstattung über Wissenschaft macht deutlich, dass es für die Analyse der Produktion von Wissenschaftsbildern zentral ist, den politischen und wirtschaftlichen Druck, der auf journalistische Massenmedien wirkt, zu berücksichtigen (Hansen 2016). Denn dies beeinflusst, welche Bilder zu wissenschaftlichen Themen wie dem Klimawandel öffentlich besonders sichtbar werden. Wissenschaftsbilder, die im Bildungsbereich eingesetzt werden, richten sich nicht an die breite Öffentlichkeit, sondern an SchülerInnen, die wiederum auch nicht als wissenschaftsinternes Publikum gelten. Hier geht es also um wissenschaftliche Bilder für eine spezielle Zielgruppe, die zwischen Laienpublikum und FachkollegInnen rangiert. Die Art und Weise, wie wissenschaftliche Informationen für den Schulunterricht visuell aufbereitet werden, ist ein aktuelles Forschungsthema (Dimopoulos et al. 2003; Leivas Pozzer und Roth 2003). Mittels eines Vergleichs von wissenschaftlichen Bildern in Schulbüchern in Griechenland und in griechischen nationalen Tageszeitungen konnten Dimopoulos et al. (2003) demonstrieren, dass in Schulbüchern deutlich mehr visuelle Darstellungen zu Wissenschaft zu finden sind als in der Presse. Gleichzeitig nimmt die Anzahl der Bilder in den Schulbüchern mit zunehmender Schulstufe ab (Dimopoulos et al. 2003). Überwiegend handelt es sich bei den Schulbuch-Abbildungen um sogenannte „realistische“ Bilder, also um Fotos oder Zeichnungen (Dimopoulos et al. 2003, S. 204). Ähnliche Befunde zeigen sich auch für brasilianische Biologie-Schulbücher (Leivas Pozzer und Roth 2003). Darüber hinaus gibt es Beiträge, die weniger grundlagenorientiert die Produktion von Wissenschaftsbildern analysieren, sondern praxisorientiert sind. Ihr Ziel ist es, auf Basis von Analysen Hinweise für die Erstellung von guten wissenschaftlichen Abbildungen und Visualisierungen von Daten zu geben, ohne dass sie eine umfassendere theoretische Fragestellung verfolgen (McInerny et al. 2014; Rodríguez Estrada und Davis 2015).

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Inhalte von Bildern in der Wissenschaftskommunikation

Der Forschungsstand zur Frage, welche Bilder in der Wissenschaftskommunikation eingesetzt werden, lässt sich hinsichtlich zweier Perspektiven unterscheiden: Zum einen kann man wissenschaftliche Bilder nach dem jeweiligen Wissenschaftsthema, das abgebildet ist, analysieren. Zum anderen lässt sich fragen, ob es Unterschiede zwischen verschiedenen Medien in der visuellen Darstellung von Wissenschaft gibt.

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Visuelle Darstellungen unterschiedlicher Wissenschaftsthemen Die Forschungsbestände zu visuellen Darstellungen von verschiedenen Wissenschaftsthemen sind unterschiedlich gut fundiert. Zu einigen Themen, wie dem Klimawandel (O’Neill 2016; O’Neill und Smith 2014) und dessen Visualisierung in den Medien, gibt es einen relativ breiten Forschungsstand. Dagegen sind andere Wissenschaftsthemen selten oder gar nicht erforscht. Die visuellen Darstellungen des Klimawandels wurden schon in unterschiedlichen Ländern erforscht, meist wurden dabei Printmedien untersucht (Metag et al. 2016a). Die meisten in der Medienberichterstattung verwendeten Bilder zum Thema Klimawandel bilden die Folgen des Klimawandels, Naturräume, Personen, Grafiken und Klimamodelle sowie Energiethemen ab (Metag et al. 2016a; O’Neill 2013, 2016; Rebich-Hespanha et al. 2015; Wessler et al. 2016). Bei Personen handelt es sich häufig um PolitikerInnen oder Demonstrierende – beispielsweise im Rahmen der Berichterstattung über die jährlichen Klimakonferenzen (Conference of the Parties (COPs)) (Wozniak et al. 2017). Vor allem Klimawandel-Folgen werden regelmäßig dargestellt, da es sich dabei um besonders spektakuläre Bilder, z. B. um Naturkatastrophen, handelt (León und Erviti 2015). Dies führt dazu, dass der Klimawandel oft als ein sehr konkretes Thema abgebildet wird (Duan et al. 2017). Als ikonisches Bild hat sich in der Klimawandel-Kommunikation der Eisbär (auf der schmelzenden Eisscholle) etabliert (O’Neill 2016) (s. Abb. 2). Das Bild des Eisbären steht als wirkmächtiges Symbol (Cox und Pezzullo 2016) exemplarisch für den Klimawandel und hat selbst eine Entwicklung in der Klimakommunikation durchlaufen: Von einem Bild, das vor dem Klimawandel warnen soll, über ein von AktivistInnen eingesetztes Bild ist es nun zum einem schon klischeehaften und stereotypen Bild geworden (O’Neill 2016; Tollmann 2014). Neben Analysen, die auf das Sujet des Bildes abheben, nehmen einzelne Studien auch Framing-Analysen der Klimawandelbilder in der Medienberichterstattung vor. Diese variieren in ihrer Differenziertheit. So kann Grittmann (2013) Bilder zum Klimawandel den einzelnen Frame-Elementen nach Entman (1993) zuordnen: Abbildungen, die die Gletscherschmelze darstellen, gehören in dieser Logik zum Frame-Element Problemdefinition. Im Gegensatz dazu verfolgt O’Neill (2013) eine holistischere Herangehensweise, in dem sie die KlimawandelbilAbb. 2 Eisbär auf Eisscholle: Typisches Bild der Klimawandelberichterstattung. (Quelle: Mario Hoppmann/ NASA Goddard Photo and Video, https://commons. wikimedia.org/wiki/File: Polar_Bears_Across_the_ Arctic_Face_Shorter_Sea_ Ice_Season_(29664357826). jpg, CC-BY 2.0, Zugegriffen am 03.11.2017)

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der qualitativ, orientiert an ihren denotativen, konnotativen und ideologischen Inhalten analysiert. Dabei differenziert sie zwei vorherrschende visuelle Frames in der Klimawandelberichterstattung: Zum einen den „contested frame“, in dem Bilder häufig Personen und PolitikerInnen abbilden, wobei der Klimawandel als umstrittenes und politisiertes Thema dargestellt wird. Auf der anderen Seite identifiziert sie den „distancing frame“, der Bilder beinhaltet, die eher generisch sind und nicht genau zuzuordnen sind (z. B. rauchende Schornsteine) (O’Neill 2013). Nicht konkret zum Klimawandel, aber in Bezug auf Umweltthemen generell zeigen Meisner und Takahashi (2015), dass die Präsenz von Titelbildern des Time Magazines zu Umweltthemen im Verlauf über fast 90 Jahre zugenommen hat. Ein weiteres wissenschaftliches Thema, das generell in der öffentlichen Berichterstattung sehr prominent war und bezüglich dessen visuelle Darstellungen analysiert wurden, ist die Gentechnik. Im Internet findet sich eine nicht erfassbare Zahl an Bildern zu Gentechnik und genetisch veränderte Organismen, viele davon sind Fotos oder Fotoillustrationen. Sie zeigen Beispiele für Gen-Produkte, bilden den wissenschaftlichen Prozess ab oder zeigen bizarre Pflanzen (s. Abb. 3) (Rodriguez und Asoro 2012). Tendenziell sind diese Bilder in ihrer Bewertung der Gentechnologie ausgewogen, wobei Bilder mit negativer Valenz im Vergleich zu positiven Bildern dominieren (Rodriguez und Asoro 2012). Bei US-amerikanischen Printmedien überwiegen bei den Abbildungen zur Stammzell-Forschung Bilder, die entweder einen wissenschaftlichen oder einen politischen Frame haben (Dahmen 2009). Studien, die sich mit dem Vergleich von visuellen Darstellungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und in Massenmedien beschäftigen, behaupten zum Teil, dass wissenschaftliche Bilder in journalistischen Medienangeboten üblicherweise als Eyecatcher und zum Erregen von Aufmerksamkeit eingesetzt werden, jedoch selten tatsächlich wissenschaftliche Informationen enthalten (Miller 1996). Bei visuellen Darstellungen von Gentechnik im Internet zeigte sich, dass mehr als die Hälfte der untersuchten visuellen Darstellungen wissenschaftlich nicht akkurat waren (Rodriguez und Asoro 2012) und solche Bilder häufig furchterregend sind (Ventura et al. Abb. 3 Beispiel für Bild, das bei einer Google-Suche nach „Genetically Modified Food“ erscheint. (Quelle: http:// maxpixel.freegreatpicture. com/Vitamin-Green-VegetaleSlice-Fruit-Kiwi-Coconut1622292, Zugegriffen am 03.11.2017)

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2017). Es wird deutlich, dass bei komplexen wissenschaftlichen Themen wie der Gentechnik visuelle Darstellungen Komplexität reduzieren und versuchen, anschaulich zu sein. Inwieweit sich die wissenschaftliche Ungenauigkeit dann auch auf die Wissens- und Meinungsbilder der RezipientInnen auswirkt, ist zu überprüfen. Insgesamt werden auch in der medialen Berichterstattung bei vielen Wissenschaftsthemen Infografiken verwendet, die Daten visualisieren (siehe auch den Beitrag von Weber in diesem Band). Diese können nochmals unterschieden werden in Infografiken mit statistischen Informationselementen, wie zum Beispiel einer Skala, und ohne solche Elemente, wie Zeichnungen oder auch 2D- und 3D-Illustrationen (Alcíbar 2017). So zeigt sich für Gesundheitsthemen wie die Berichterstattung über den Ebola-Virus in der spanischen Presse, dass Diagramme sehr prominent sind, in denen es vor allem darum geht, die schweren Folgen des Virus zu visualisieren (Alcíbar 2017). Für die visuelle Darstellung von Atomkraft, bzw. genauer: Atomunfällen, liegt eine Studie vor, die aus Perspektive der Risikokommunikation die Abbildungen von Strahlungskarten in amerikanischen Zeitungen (Print- und Online-Ausgaben) im Zeitverlauf für die Atomunfälle von Three Miles Island, Tschernobyl und Fukushima untersucht (Wynn 2017). Es wird darin deutlich, dass die Karten und Abbildungen, die das Ausmaß der radioaktiven Strahlung darstellen, sich vor allem mit dem Aufkommen des Internets verändert haben. Orientierten sich die Abbildungen bei den Ereignissen von Three Miles Island und Tschernobyl vorrangig an den Konventionen des Zivilschutzes, konnten im Fall von Fukushima gerade in Online-Ausgaben der Zeitungen Karten erstellt werden, die eine viel größere Menge an Daten enthalten (Wynn 2017). Diese Strahlungskarten wurden durchaus auch ideologisch oder politisch eingesetzt (zur Datenvisualisierungen siehe auch den Beitrag von Weber in diesem Band). Themenübergreifende Befunde zu den Sujets von Wissenschaftsbildern in der öffentlichen Kommunikation sind selten, die meisten Studien befassen sich mit einem bestimmten Wissenschaftsthema und den entsprechenden Bildern. Es lässt sich aber festhalten, dass es auch in der öffentlichen visuellen Darstellung von Wissenschaft einen überproportionalen Fokus auf Naturwissenschaften gibt, wie sich dies ähnlich auch in den schriftlichen Inhalten der medialen Berichterstattung über Wissenschaft gezeigt hat (Schäfer 2010; Summ und Volpers 2016). Auch in einer Analyse von Clipart-Cartoons finden sich unter dem Stichwort „Wissenschaft“ am häufigsten Cartoons, die sich auf Naturwissenschaften beziehen, allen voran auf die Chemie (Schummer und Spector 2008). Der Forschungsstand zu den Bildern verschiedener Wissenschaftsthemen in den Medien kann insgesamt als heterogen beschrieben werden. Zu vielen anderen wissenschaftlichen Themen gibt es bestenfalls Einzelfallstudien, wie zum EbolaVirus oder zu Atomunfällen, die sich zudem meist auf ein bestimmtes Land und Sample beziehen und damit kaum verallgemeinerbar sind. Mediale Unterschiede bei visuellen Wissenschaftsdarstellungen Der Forschungsstand zur visuellen Wissenschaftskommunikation lässt sich auch hinsichtlich der Spezifika verschiedener Medien, in denen Bilder zu Wissenschaft publiziert

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werden, systematisieren. Denn Bilder werden in verschiedenen Öffentlichkeiten und verschiedenen Medien durchaus unterschiedlich eingesetzt und die visuelle Darstellung eines wissenschaftlichen Themenbereiches kann sich in Form und Gestaltung je nach Medium unterscheiden (Adelmann et al. 2008). So können Adelmann et al. (2008) zeigen, dass Bilder des Mars in verschiedenen Medien unterschiedlich aufbereitet werden. Sie vergleichen einen Artikel in der Fachzeitschrift Science, in dem Visualisierungen des Mars benutzt werden, mit der entsprechenden Berichterstattung zum Thema Mars auf Spiegel Online und in der Tagesschau im Fernsehen. Im Vergleich setzt Spiegel Online andere Versionen der Bilder aus dem Science Artikel ein, nämlich „die veränderten Bilder der kartografischen Aufsicht auf den Südpol des Mars aus der Pressemitteilung der ESA“ (Adelmann et al. 2008, S. 48), bei denen z. B. Radardaten und -diagramme fehlen. In der Tagesschau werden dagegen eher Animationen zum Mars gezeigt (Adelmann et al. 2008). Die Fallbeispiele machen deutlich, dass je nach Spezifika des jeweiligen Mediums (z. B. Bewegtbild oder Online-Zeitung) und der Kommunikation in verschiedenen Teilöffentlichkeiten auch visuelle Wissenschaftsdarstellungen anders ausfallen können. Die technischen Gegebenheiten und journalistischen Schwerpunkte von Medien, die letztlich auch aus der Orientierung an verschiedenen Öffentlichkeiten resultieren, schlagen sich in der visuellen Darstellung von wissenschaftlichen Themen nieder. Sie führen dazu, dass unterschiedliche Aspekte eines Wissenschaftsthemas betont, weggelassen, vereinfacht, verfälscht oder akkurat dargestellt werden. Je nach Medium unterscheidet sich auch die Kontextualisierung des Wissenschaftsbildes (Adelmann et al. 2008). Entsprechend kann es auch für Rezipierende einen Unterschied machen, über welche Medien sie wissenschaftliche Themen visuell wahrnehmen. Videos – ebenso wie Filme – stellen eine spezielle Form der Wissenschaftsdarstellung dar, weil es sich um ein audiovisuelles Format mit Bewegtbildern handelt. Entsprechend lassen sich zwar visuelle Aspekte von Wissenschaft in Videos und Filmen analysieren, allerdings spielen dabei viele weitere Komponenten eine Rolle, wie Narration, Stilmittel oder Schnitt (Morcillo et al. 2016). Was sich in Bezug auf diese audiovisuellen Formate für die visuelle Wissenschaftskommunikation ableiten lässt, ist, welche Bilder von Wissenschaft und WissenschaftlerInnen sie vermitteln. Dazu gehört die (strategische) Darstellung von Wissenschaft in visueller Form in Film und Fernsehen (Pansegrau 2009) und neuerdings auch in Youtube-Videos (Allgaier 2013; Geipel 2018). Es lässt sich feststellen, dass in Spielfilmen viele stereotype Darstellungen von WissenschaftlerInnen zu finden sind – vom „mad scientist“, „der verrückte, besessene und unkontrollierte Wissenschaftler, der offensichtlich drei Dinge im Kopf hat: die Weltherrschaft zu erobern, einen neuen künstlichen Menschen oder künstliches Leben zu erschaffen“ (Pansegrau 2009, S. 376–377), über den Wissenschaftler als Held wie in den Indiana Jones-Filmen, den schrulligen Wissenschaftler bis hin zum professionellen Wissenschaftler. Letzterer ist aber in filmischen Darstellungen eher selten zu finden (Pansegrau 2009). Die visuelle Darstellung, zum Beispiel durch den Kleidungsstil oder die zerzausten Haare der abgebildeten WissenschaftlerInnen, trägt also zur Vermittlung eines bestimmten Bildes von Wissenschaft durch diese Medien bei. In ähnlicher Weise werden Comics (s. Abb. 4) auf das in ihnen vermittelte Bild von Wissenschaft und WissenschaftlerInnen untersucht. Comics sind eine populäre Form der Wissenschaftsdarstellung (Tatalovic 2009). Ähnlich wie in Filmen und

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Abb. 4 Beispiel eines Science Comics. (Quelle: Cover of „Science Comics“ #2, March 1940, Fox Feature Syndicate, https://commons. wikimedia.org/wiki/File: ScienceComics2.jpg, Zugegriffen am 03.11.2017)

Fernsehserien arbeiten Comics mit einer eher stereotypen Darstellung von WissenschaftlerInnen als meist männlich und entweder böse, ein klassischer Erfinder oder ein Superheld (Weingart 2009, siehe auch den Beitrag von Schwender et al. in diesem Band). Häufig geraten in Comics die Forschung und wissenschaftliche Experimente außer Kontrolle (Weingart 2009).

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Nutzung und Wirkung von visueller Wissenschaftskommunikation

Wie wissenschaftliche Bilder von MediennutzerInnen rezipiert und genutzt werden ist weitestgehend ungeklärt.1 Die Forschung fokussiert überwiegend die (möglichen) Wirkungen durch visuelle Darstellungen von Wissenschaft bei Rezipierenden (Metag 2017). Lohoff (2008) schreibt Bildern in der öffentlichen Kommunikation über Wissenschaft im Wesentlichen drei Funktionen zu: Informations- und Wissensvermittlung, 1

Es ist beispielsweise wenig über die Verkaufszahlen von Wissenschaftscomics bekannt. Allerdings lässt sich aus den wenigen vorliegenden Zahlen schließen, dass diese von einer kleinen, hoch gebildeten Zielgruppe gekauft werden. So wurden beispielsweise von dem Comic „Die große Transformation“ bis Ende 2013 insgesamt 3287 Exemplare verkauft (Leinfelder 2014).

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Unterhaltung und Persuasion. Die Funktionen, die Wissenschaftsbilder tatsächlich in der öffentlichen Kommunikation einnehmen, müssen nicht mit der Funktion übereinstimmen, die WissenschaftlerInnen den Abbildungen der wissenschaftlichen Erkenntnisse selbst zugeschrieben haben. Widersprechen sich die unterschiedlichen Funktionen der Wissenschaftsbilder, so spricht man aus Sicht der WissenschaftlerInnen von Dysfunktionen (Lohoff 2008, S. 143). Die Unterscheidung von erwünschten und weniger erwünschten Wirkungen von Bildern deutet an, dass Bildern generell ein umfassendes Wirkpotenzial (zu Bildrezeption und -wirkung siehe auch den Beitrag von Geise in diesem Band) attestiert wird, welches auch für Bilder in der Wissenschaftskommunikation gilt (Metag 2017). Bilder können auf wissenschaftliche Phänomene aufmerksam machen und dazu führen, dass sich Rezipierende besser an das wissenschaftliche Thema oder den Befund erinnern können (Adelmann et al. 2008; Arsenault et al. 2006; Kessler et al. 2016; Lohoff 2008) und diesen besser verstehen (Levie und Lentz 1982; van der Linden et al. 2014). Auch Einstellungen zu wissenschaftlichen Themen und das Wissen darüber können durch Bilder beeinflusst werden (Gibson und Zillmann 2000; Kessler et al. 2016). Neben diesen aus Sicht des Public Understanding of Science Paradigmas positiven Wirkungen können wissenschaftliche Abbildungen ebenso dysfunktional wirken. Gerade wissenschaftliche Bilder sind häufig sehr komplex, nicht unbedingt intuitiv verständlich und benötigen Expertenwissen oder Erläuterungen, um richtig verstanden zu werden (Ancker et al. 2006; Cooper et al. 2002; Lohoff 2008). So hat sich beispielsweise herausgestellt, dass in der Risikokommunikation die Elemente einer Grafik proportional zu der Größe der Einheiten sein sollten, die sie abbilden, damit die Rezipierenden sie entsprechend richtig einordnen können (Ancker et al. 2006, S. 616). Aufgrund der Komplexität von Wissenschaftsbildern wird argumentiert, dass die RezipientInnen eine gewisse „visual literacy“, also ein Wissen über visuelle Darstellungen, benötigen, um diese verstehen zu können (Trumbo 1999, 2006). Dies geschieht, laut Trumbo (1999), durch visuelles Denken (visual thinking), also der Integration von visuellen Inhalten in unser Nachdenken über Wissenschaft, durch visuelles Lernen (visual learning), indem Bilder für den Unterricht über Wissenschaft entwickelt und diese dann zum Lernen eingesetzt werden, sowie durch visuelle Kommunikation (visual communication), indem visuelle Darstellungen genutzt werden, um Ideen und wissenschaftlichen Befunde auszudrücken. Erste Versuche, die visual science literacy der RezipientInnen zu messen, demonstrieren, dass Personen in einem Test besser abschneiden, wenn sie Bilder zu wissenschaftlichen Themen wiedererkennen sollen als wenn sie Textfragen zu den Themen beantworten müssen (Bucchi und Saracino 2016). Generell gibt es einige Evidenzen für persuasive Wirkungen von wissenschaftlichen Abbildungen. In der bisherigen Forschung hat sich gezeigt, dass Grafiken von Rezipierenden als Cues für die Einschätzung der Plausibilität wissenschaftlicher Befunde herangezogen werden (Isberner et al. 2013) und Disziplinen, die häufiger Diagramme einsetzen, wie die Naturwissenschaften, als „härtere“ Wissenschaft wahrgenommen werden (Smith et al. 2002). Auch positive und negative Einstellungen der Rezipierenden zu wissenschaftlichen Themen lassen sich durch visuelle

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Darstellungen beeinflussen: So nehmen Rezipierende ein Thema wie die Nanomedizin oder Neurowissenschaften positiver wahr, wenn sie einen bebilderten Artikel gelesen hatten als einen Artikel ohne Bild (Kessler et al. 2016; McCabe und Castel 2008). Auch Erosionsschäden an einer Küste werden als massiver wahrgenommen, wenn Bilder dazu vorhanden waren (Keane und Smith 2015). Diese Effekte lassen sich unter anderem damit erklären, dass visuelle Darstellungen dazu führen, dass Individuen sich aktiver mit dem Thema beschäftigen. Dies lässt sich vor allem für Infografiken zeigen, bei denen Rezipierende, sogar noch stärker als bei anderen visuellen Illustrationen, themenbezogen Informationen über Umweltthemen verarbeiten (Lazard und Atkinson 2015). Aus der Agenda-Setting-Perspektive gibt es empirische Indizien dafür, dass visuelle Darstellungen von wissenschaftlichen Themen einen Effekt auf die Themenwahrnehmung der Rezipierenden haben. So konnte am Beispiel der Umweltkatastrophe durch die Explosion der BP-Ölplattform Deep Water Horizon festgestellt werden, dass die Bilder, an die sich die meisten Befragten ein Jahr später erinnern konnten, auch die Bilder waren, die am häufigsten in der Berichterstattung über die Katastrophe zu sehen waren (Miller und LaPoe 2016). Darüber hinaus lassen sich Unterschiede zwischen verschiedenen visuellen Darstellungen und deren Wirkung auf bzw. deren Wahrnehmung durch die Rezipierenden ausmachen. Fragt man US-AmerikanerInnen nach ihren mentalen Bildern zum Klimawandel, so assoziieren sie am häufigsten schmelzendes Eis und Hitze mit dem Thema (Leiserowitz 2006; siehe auch Nicholson-Cole 2005). In der Klimawandelforschung haben mehre Studien analysiert, wie Abbildungen, die regelmäßig in der Klimawandelberichterstattung verwendet werden, von Rezipierenden wahrgenommen werden (siehe auch Überblicke von Hansen 2016; O’Neill 2016). Während visuelle Darstellungen des Klimawandels generell die Aufmerksamkeit der Rezipierenden für das Thema steigern können, senken Klimawandel-Bilder von Naturkatastrophen, die eher Angst evozieren, die Bereitschaft, etwas gegen den Klimawandel zu tun (O’Neill und Nicholson-Cole 2009). Sowohl im anglo-amerikanischen (O’Neill et al. 2013) als auch im deutschsprachigen Raum (Metag et al. 2016a) führt die Rezeption von Bildern, die die Folgen des Klimawandels darstellen, dazu, dass Personen den Klimawandel als wichtig wahrnehmen. Dagegen korrelieren Bilder, die Wege zur Reduktion von CO2-Emmissionen darstellen wie z. B. neue Energien, mit einem stärkeren Eindruck der Rezipierenden, dass sie etwas gegen den Klimawandel tun können (Metag et al. 2016a). Diese Befunde beruhen auf der qualitativquantitativen Q-Methode (McKeown und Thomas 2013; Stephenson 1953) und wurden in einem weiteren Schritt experimentell überprüft. Dabei fanden die AutorInnen keinen kausalen Zusammenhang zwischen Bildern zu Klimawandel-Folgen und erhöhter Themensalienz (Hart und Feldman 2016). Umgekehrt fand sich in einer US-weiten Befragung ein Zusammenhang zwischen der Rezeption solcher Bilder und der Klimabesorgnis der Befragten, wogegen Bilder mit Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels die Befragten am wenigsten motivierten, etwas gegen den Klimawandel zu tun (Chapman et al. 2016). Auch visuellen Darstellungen des Klimawandels in Filmen wird attestiert, dass sie zur Verbesserung des Verständnisses der komplexen Prozesse des Klimawandels beitragen (Ballantyne et al. 2016).

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Bezüglich der visuellen Aufbereitung von Daten zum Klimawandel auf interaktiven Webseiten lässt sich zeigen, dass sich die Interaktion mit solchen Datenvisualisierungen positiv auf die Einstellungen zum Klimawandel auswirkt, z. B. auf die Überzeugung, dass der Klimawandel existiert (Herring et al. 2015; Schroth et al. 2014). Generell lässt sich zusammenfassen, dass es durchaus empirische Hinweise darauf gibt, dass visuelle Darstellungen im Bereich Wissenschaft, gerade bei Risikothemen wie dem Klimawandel oder auch Naturkatastrophen, die Wahrnehmung des Risikos und der Bedeutung des Themas beeinflussen können (Rickard et al. 2017). Obwohl Forschung zur Darstellung von Wissenschaft in Comics vorhanden ist, sind Analysen zur Wirkung solcher Wissenschaftscomics rar. Erste empirische Evidenzen deuten aber darauf hin, dass Wissenschaftscomics dazu beitragen können, das Wissen über wissenschaftliche Themen zu verbessern und auch das Unterhaltungserleben bei der Auseinandersetzung mit einem wissenschaftlichen Thema zu stärken (Lin et al. 2014). Noch wenig beleuchtet ist, welche Resonanz und Wirkung wissenschaftliche Bilder in Online-Kontexten erzeugen. So lässt sich die Resonanz von Wissenschaftsbildern online mittels unterschiedlicher Maßzahlen messen: z. B. über Klicks, Likes, Shares, Kommentare und Bookmarks. Die Resonanz von verschiedenen wissenschaftlichen Darstellungen kann durchaus unterschiedlich sein. Youtube-Videos zu Wissenschaft mit User-Generated Content sowie mit beständigen Moderatoren sind populärer (Welbourne und Grant 2016). Videos von TED-Talks (die eine spezifische Darstellung von Wissenschaft mit einem sehr breiten Wissenschaftsverständnis und unterschiedlichen Möglichkeiten der Visualisierung darstellen) zu Themen aus den Bereichen Psychologie und Philosophie erhalten in China mehr Views und Likes als Videos zu politikwissenschaftlichen oder astrophysikalischen Themen (Pan et al. 2016). Dagegen zeigt eine weitere Studie, die nicht auf China begrenzt ist und weitere Metriken wie Google Scholar Citations berücksichtigt, dass Videos, die sich mit Naturwissenschaft und Technologien beschäftigen, im Vergleich zu Videos zu Kunst und Design erfolgreicher sind (Sugimoto und Thelwall 2013). Ebenso haben die Vortragenden einen Einfluss auf die Popularität der Videos: Männliche Redner sowie solche mit akademischen Hintergrund sind populärer als weibliche und nicht-akademische RednerInnen (Sugimoto et al. 2013). Auch die Analyse der Inhalte von OnlineKommentaren zu wissenschaftlichen Youtube-Videos ergibt Aufschluss über deren Resonanz und mögliche Wirkungen. Die Forschung steht hier ebenfalls am Anfang. Für Youtube-Videos zum Klimawandel konnte gezeigt werden, dass Kommentare wissenschaftsbasiert, aber häufig eher genereller Natur und nicht spezifisch auf das Video bezogen sind, und dabei das Thema auch politisieren (Shapiro und Park 2015).

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Fazit

Der Forschungsüberblick hat gezeigt, dass die Forschungslandschaft zu Bildern in der Wissenschaftskommunikation recht heterogen und fragmentarisch ist. Während es einen relativ breiten Forschungsstand zur Visualisierung von Wissenschaft gibt,

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geht es dabei häufig um wissenschaftliche Abbildungen in der internen Wissenschaftskommunikation, also in der Kommunikation von WissenschaftlerInnen mit ihrem Fachpublikum. Dieser Forschungsstand ist dann meist nicht kommunikationswissenschaftlicher Natur, sondern stammt häufig aus der jeweiligen Disziplin selbst. Kommunikationswissenschaftliche Analysen befassen sich dagegen mit visuellen Darstellungen von Wissenschaft in der öffentlichen, wissenschaftsexternen Kommunikation, die sich überwiegend an ein Laien-Publikum richtet, und deren Wirkung. In diesem Forschungsbereich sind Bilder zu bestimmten Wissenschaftsthemen, wie beispielsweise dem Klimawandel, gut erforscht, andere Wissenschaftsthemen und ihre öffentlichen visuellen Darstellungen dagegen spärlich oder gar nicht. Darüber hinaus arbeiten die herangezogenen Studien mit sehr unterschiedlichen Methoden – von standardisierten Inhaltsanalysen (z. B. Keelan et al. 2007) zu qualitativen Inhaltsanalysen (z. B. O’Neill 2013) über Mehrmethoden-Designs wie der Q-Methode (z. B. Metag et al. 2016b) bis hin zu Experimenten (z. B. Hart und Feldman 2016) – und beziehen sich auf unterschiedliche Länder und Zeitpunkte. Entsprechend ist es eine Herausforderung, ein übergreifendes Fazit zu ziehen. Es lassen sich trotzdem einige Punkte zusammenfassen: Geht es darum, wer neben WissenschaftlerInnen Wissenschaftsbilder produziert und kommuniziert, so sind dies häufig Akteure mit strategischen Interessen wie NGOs, zumindest wenn es sich um konfliktbehaftete Wissenschaftsthemen wie den Klimawandel oder die Gentechnik handelt. Daneben liefern Fotoagenturen viele Bilder für die journalistische Wissenschaftsberichterstattung. Bilder zum Klimawandel und zur Gentechnik in der medialen Berichterstattung sind darüber hinaus gut erforscht, es zeigen sich aber durchaus Unterschiede, welche Bilder in den verschiedenen Medien eingesetzt werden. Häufig konzentriert sich die Forschung auf die Analyse von Bildern in klassischen Printmedien wie Tageszeitungen, erst wenige Untersuchungen beziehen auch Online-Medien ein. Hinsichtlich der Wirkung von Wissenschaftsbildern zeigt sich, dass Wissenschaftsbilder genauso wie andere Bilder Aufmerksamkeit hervorrufen, zu einem besseren Verständnis von Wissenschaft führen und die Einstellungen zu dem Wissenschaftsthema beeinflussen können. Allerdings muss eingeschränkt werden, dass nicht alle wissenschaftlichen Abbildungen intuitiv verständlich sind, sondern teilweise Erläuterung bedürfen. Außerdem ist bislang weitestgehend unklar, inwieweit solche visuellen Darstellungen Handlungen und Verhalten beeinflussen können. Zwar zeigen sich beispielsweise für Klimawandel-Bilder Effekte auf die wahrgenommene Selbstwirksamkeit der RezipientInnen also auf das Gefühl, dass man etwas gegen den Klimawandel tun kann. Ob diese Wahrnehmung aber auch tatsächlich in Handlungen gegen den Klimawandel übersetzt wird, ist bislang kaum erforscht. Abschließend lässt sich konstatieren, dass eine theoretische Einordnung der Analysen zu Wissenschaftsbildern häufig fehlt. In den Studien, die stärker theoretisch angebunden sind, wird meist mit dem Public Understanding of Science Paradigma oder der Medialisierungsthese argumentiert, um die Relevanz von Bildern in der Wissenschaftskommunikation zu begründen und auf deren Vermittlungsfunktion abzustellen. Da visuelle Darstellungen von Wissenschaft aber allgegenwärtig sind, sie in verschiedenen Öffentlichkeiten unterschiedliche Merkmale aufweisen und

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diverse Funktionen einnehmen, und darüber hinaus die Logik der Medien die Strukturen und Arbeitsweisen des Wissenschaftssystems beeinflussen kann, wäre eine stärkere theoretische Einbettung wünschenswert und auch notwendig. Denn nur so lässt sich die Bedeutung von Wissenschaftsbildern, die durch die Digitalisierung noch zugenommen hat, in der Wissenschaftskommunikation systematisch untersuchen, erklären und der Fragmentierung des Forschungsfeldes entgegenwirken.

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Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten Stephanie Geise

Inhalt 1 Von der „Sichtbarmachung von Wissen“ zu „wissenschaftlichen Bildern“ . . . . . . . . . . . . . . . 2 Visuelle Sozialisation und Wissenschaftsbilder: Sehgemeinschaften und Visualisierungstraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Blickt die Visuelle Kommunikationsforschung auf wissenschaftliche Bilder, werden Fragen virulent, die den visuellen Produktions-, Präsentations- und Kommunikationsprozess sowie die verbundenen Medienwirkungen betreffen (Müller und Geise 2015, S. 15): Wie wird Wissen sichtbar gemacht? Wie werden wissenschaftliche Bilder produziert, präsentiert und vermittelt? Wie rezipiert, angeeignet und verstanden? Welche Folgen ergeben sich daraus? Diesen Fragen haben sich v. a. ForscherInnen der Kunstgeschichte, der Visuellen Soziologie, der Bildwissenschaft sowie der Wissenschaftsforschung gewidmet. Im Analyseinteresse stehen die Produktion, Genese und Kommunikation von „visuellem Wissen“, die spezifischen Funktionen, die wissenschaftliche Bilder erfüllen sowie ihre Verortung im Forschungsprozess. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie Bilder in ihren wissenschaftlichen und sozialen Kontexten Erkenntnis generieren, Wirklichkeit konstruieren und sozialen Sinn erzeugen, welche Chancen und welche Risiken mit dem Einsatz von Visualisierungen verbunden sind.

S. Geise (*) Institut für Kommunikationswissenschaft, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_21

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Schlüsselwörter

Visuelles Wissen · Visuelle Wissenssoziologie · Wissenschaftliche Bilder · Aneignung und Rezeption visuellen Wissens

1

Von der „Sichtbarmachung von Wissen“ zu „wissenschaftlichen Bildern“

Visualisierungen von Wissen und Erkenntnis, von Daten, Phänomenen, Strukturen und Zusammenhängen – wissenschaftliche Bilder im weitesten Sinne (zur Definition des „Bildes“ siehe auch: Geise 2011a, S. 63) – gehörten schon immer in den Kanon der erkenntnisfördernden Instrumente des Denkens, des Veranschaulichens, des Darstellens und des Beweisens. Zu einem nicht unerheblichen Maße scheint „die Geschichte der Wissenschaften von einer Geschichte der Verbildlichung regiert“ (Mersch 2005, S. 329; siehe auch Holländer 2000). Um theoretische Texte zu illustrieren, zu ergänzen und ihnen visuelle Evidenz zu verleihen, wurde schon zu Beginn der Wissenschaftsgeschichte ein umfangreiches Repertoire an Visualisierungsstrategien genutzt, denen auch unterschiedliche theoretische Funktionen zugesprochen wurden – angefangen bei der visuellen Darstellung geometrischer Formen und Figurationen über Diagramme, Graphen, mathematischen Konstruktionen bis hin zu komplexen Illustrationen, visuellen Analogien, Vergleichen und Allegorien (für einen historischen Überblick siehe Holländer 2000). So haben Architekturtheoretiker, Architekten und Ingenieure schon in der Antike komplexe Visualisierungen eingesetzt, um Baupläne, Modelle oder technische Prozesse zu veranschaulichen und zur Diskussion zu stellen (Heßler und Mersch 2009, S. 11). Die Geschichte des wissenschaftlichen Bildes begründen wesentlich auch naturwissenschaftliche Zeichnungen und Illustrationen, die seit dem 17. Jahrhundert dazu dienten, mit dem Auge unsichtbare oder hypothetische Phänomene zu visualisieren, etwa Embryonen oder deren Entwicklungsstadien (siehe dazu ausführlicher Duden 2002). Der Illustrationsprozess basierte dabei auf der reproduzierenden Wiedergabe von (präparierten) Naturobjekten, die jedoch durchaus um subjektive Sinneseindrücke des Zeichners angereichert wurden (Dommann 2004, S. 82; siehe auch Chadarevian 1994). Auch wenn dem Bild in der Wissenschaftsgeschichte lange eine primär illustrierende, dem analytischen, sprachlich oder mathematisch ausgehandelten Diskurs nachgeordnete Funktion zufiel, haben sich visuelle Kommunikate als Instrumente der wissenschaftlichen Erkenntnisgenerierung und -validierung, der Wissensspeicherung und Wissenschaftskommunikation in der wissenschaftlichen Praxis schon lange etabliert (Heßler 2005, S. 273–275; siehe auch Jones und Galison 1998). Zunehmend finden sie auch in nicht-wissenschaftlichen Kontexten Verwendung. Wissenschaftsbilder werden heute nicht nur in zunehmender Quantität für die Präsentation und Vermittlung, für die Visualisierung von Wissen bzw. von wissenschaftlichen Ergebnissen an ExpertInnen und Laien genutzt (Heintz 2000, S. 212; Mössner 2012a, S. 12–13), die eingesetzten Bilder bzw. Visualisierungsstrategien zeichnen sich auch durch eine neue Qualität des Visuellen aus. Offensichtlich wird dies an heutzutage „innovativen“ bildgebenden Verfahren – etwa zur Visualisierung

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von neuronalen Aktivitäten im menschlichen Gehirn –, wenn diese dazu dienen das bis dato weitgehend un-sichtbare Wissen überhaupt erst visuell herzustellen (Geise und Lobinger 2012, S. 326). Allerdings beginnt die Geschichte „moderner“ apparativer Visualisierungstechnologien, die instrumentell Einblicke in komplexe, mit dem bloßen Auge nicht zugänglichen Phänomene erlaubt, historisch weitaus früher: Bereits die Erfindung der Mikroskopie im späten 16. Jahrhundert oder der Teleskopie im frühen 17. Jahrhundert haben den Raum des visuell Erfahrbaren enorm erweitert. Durch diese Apparaturen wurde es möglich, Objekte zu visualisieren, deren Größe ansonsten unterhalb des Auflösungsvermögens des menschlichen Auges lag. Ähnlich gilt dies auch für die Erfindung der Fotografie, die der Fotograf und Filmemacher MoholyNagy (1927, S. 26–29) entsprechend als „Erweiterung des Sichtbaren“ begriff. Am Beispiel von Bewegungsabläufen beim Laufen, Springen oder dem Galopp von Pferden illustrierte er, wie „Existenzen, die mit unserem optischen Instrument, dem Auge, nicht wahrnehmbar oder aufnehmbar sind, mit Hilfe des fotografischen Apparates sichtbar zu machen [sind]; d. h. der fotografische Apparat kann unser optisches Instrument, das Auge, vervollkommnen bzw. ergänzen“ (Moholy-Nagy 1927, S. 26; Herv.i.O.). Im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen zunehmend auch physiologisch basierte Visualisierungsmethoden hinzu, in denen apparativ-gemessene physiologische Messwerte in bildliche Darstellungen übersetzt wurden, was beispielsweise zur Aufzeichnung von Herztönen in Form des Elektrokardiogramms (EKG) führte und somit einen neue „Bildform“ begründete (siehe dazu ausführlich: Borck 1997). Neben die mikroskopische bzw. teleskopische Beobachtung und die Fotografie traten zudem die Radiografie, der Ultraschall und schließlich seit den 1980er-Jahren die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT/fMRI) sowie die Computertomografie (CT) (siehe dazu auch Burri 2008). Diese Beispiele illustrieren die enge Verklammerung von technologischem Fortschritt und wissenschaftlicher, insbesondere naturwissenschaftlicher Bildgebung. Tatsächlich sind ganz besonders die beobachtenden Naturwissenschaften in hohem Maße auf sinnliche Wahrnehmung angewiesen (Heßler 2009, S. 141): „In the natural sciences evidence appears to be embodied in visibility“ pointieren Amann und Knorr-Cetina (1988, S. 134). Neben der Analyse visueller Phänomene, die sich mit menschlichem Auge beobachten und diagnostizieren lassen, spielen daher apparative Visualisierungstechniken eine zentrale Rolle, um die wissenschaftlich benötigten Bilder überhaupt erst materiell herstellen zu können. Es ist vor diesem Hintergrund wenig verwunderlich, dass sich die Forschung bis heute stark auf Visualisierungen konzentriert hat, die aus den Laborwissenschaften stammen, wie etwa der Physik, der Medizin oder auch der Hirnforschung (Adelmann 2009, S. 15; siehe unten). Dass dieser Beitrag wissenschaftliche Bilder im weitesten Sinne thematisiert – also Bilder gerade auch im Sinne der „Visualisierung von Wissen“ –, betont dabei die Tatsache, dass die Bilder, die hiermit angesprochen werden, 1) nicht zwangsläufig einen Abbild-Charakter aufweisen und 2) oftmals hochgradig konstruiert sind. Damit ist nicht gemeint, dass die wissenschaftliche Visualisierung – die allgemein als Transformation und Kommunikation von Bedeutungsinhalten in und durch visuelle Phänomene definiert wird (Geise 2011a, S. 63) – reine „Fiktion“ ist, aber

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dass sie eben oftmals auch keine abbildende Re-Präsentation, sondern vielmehr Ergebnis einer visuellen Übersetzungsleistung ist, in der sinnlich oder zunehmend auch technisch-apparativ erfasste Beobachtungen, die z. B. in Form von sensorischen Wahrnehmungen, Messdaten, Signalaufzeichnungen oder elektromagnetischen Wellen vorliegen, in symbolische Darstellungen umgewandelt werden (Amann und Knorr-Cetina 1988, S. 136; Bippus 2009, S. 78; Mössner 2012b, S. 100). Dabei ist die Art der Visualisierung einerseits von dem zu verbildlichenden Forschungsgegenstand bzw. den zugrunde liegenden komplexen Informationen abhängig; andererseits wird sie aber auch, wie später noch deutlicher wird, von den sozialen und kulturellen Kontexten geprägt, in denen die wissenschaftlichen Bilder erzeugt, kommuniziert und verhandelt werden. Neben der Operationalisierung visueller Attribute (z. B. Linienführung, Länge, Position, Größe, Farbe, Form, Schattierung) können wissenschaftliche Bilder auch die implizite oder explizite Darstellung numerischer Informationen einschließen. Das Spektrum wissenschaftlicher Bilder reicht entsprechend von der simplen visuellen Aufbereitung statistischer Ergebnisse und der fotografischen Abbildung von Objektdetails über die Darstellung von physiologischen Prozessen im fMRT oder EKG oder von räumlichen Beziehungen auf Landkarten bis hin zu komplexen Strukturen, Trends und Beziehungsgeflechten eines sozialen Netzwerks (siehe auch den Beitrag von Gamper und Schönhuth in diesem Band). In diesem Sinne involviert die Kreation wissenschaftlicher Bilder die visuelle Präsentation von immateriellen (oftmals quantitativen) „Daten“ und ihrer Zusammenhänge, wobei komplexe Informationen abstrahiert und – meist nach bestimmten Standards – in visuelle, oft schematische Formen übersetzt werden. Am Beispiel der visuellen Modellierung der Marsoberfläche erklärt Heßler (2009, S. 143) hierzu: „Die Wissenschaftler entscheiden jeweils, welche Daten sie wie visualisieren, welche Farbe sie zuweisen, wie die Kontraste, die Formen gestaltet werden; nur ein Bruchteil der Daten wird [. . .] in die Sichtbarkeit überführt, andere nicht.“ Heintz und Huber (2001, S. 12) sprechen daher bewusst von „SichtbarMachung“ und nicht von „Re-Präsentation“, weil „eine Rhetorik der Abbildung“ ihrer Meinung nach „auf falsche Wege führt.“ Tatsächlich machen auch die in diesem Beitrag angesprochenen Studien zu visueller Kultur und zu visueller Konstruktion von Wissen deutlich, dass wissenschaftliche Bilder Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern „das Ergebnis eines komplexen Herstellungs- und Transformationsprozesses“ sind (Heintz und Huber 2001, S. 12). In diesem Sinne ist das wissenschaftliche Bild niemals ein objektives Portrait, sondern es ist ein „Modell, das durch das Objekt, das es zu ‚zeigen‘ verspricht, nicht eindeutig determiniert ist“ (Heintz und Huber 2001, S. 12).

1.1

Charakteristika und Funktionen wissenschaftlicher Bilder

Wissenschaftliche Bilder stehen nicht für sich selbst. Für das wissenschaftliche Bild ist dessen Intentionalität – die wissenschaftliche Sinnproduktion und Bedeutungskonstruktion – konstitutiv; „nicht-sinnvolle Bilder entsprechen nicht den Spielregeln

Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten

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der Wissenschaft“ (Heßler 2006, S. 27). Der Anspruch an wissenschaftliche Bilder ist dabei grundsätzlich, dass sie „keine reinen Schöpfungen des menschlichen Geistes“ sind, sondern auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Beobachtungen verweisen: „Von ihnen wird eine begründete Referenz auf eine Theorie, eine experimentelle Praxis, eine Technik oder Technologie und auf einen Wissensdiskurs“ erwartet, weil ihnen Evidenz unterstellt wird (Werner 2008, S. 30, Herv.n.i.O.; vgl. dazu kritisch: Grube 2006). Die sich daraus ergebenden Aufgaben, die die unterschiedlichen Visualisierungen im Erkenntnis-, Forschungs- und Kommunikationsprozess übernehmen, lassen sich drei zusammenhängenden Funktionsbereichen zuordnen: (1) effiziente und effektive Datenvisualisierung und dadurch weiterführende Datenanalyse, (2) visuelle Präsentation und Kommunikation und (3) erleichterte Sinnkonstruktion, Bedeutungszuweisung und Interpretation der Daten (für einen Überblick siehe Tufte 1983, 1997). Diese Funktionen zeigen wissenschaftliche Bilder auf zwei miteinander verbundenen Ebenen. Einerseits kommt Bildern zunehmend eine zentrale Rolle in wissenschaftlichen Entdeckungszusammenhängen zu (1). Hier dienen sie als originäre Instrumente der Erkenntnisgenerierung und -validierung und sind (meist gleichzeitig) Hauptgegenstand der Produktion von Wissen (Heßler 2005, S. 273; Heintz 2000, S. 212). Letzteres ist vor allem in Forschungszusammenhängen der Fall, in denen WissenschaftlerInnen über keinen „unabhängigen“ Zugang zu ihrem Forschungsobjekt verfügen, ihnen dieses also „alleine in den Darstellungsresultaten [ihrer] Instrumente gegeben“ ist (Mössner 2012b, S. 100) – beispielsweise in der Medizin, der Neurophysiologie und Kognitionswissenschaft oder im Zentrum neuer „Interdisziplinen“ wie der Computervisualistik oder der Visuellen Neuroinformatik, die sich an der Schnittstelle von Medizin, Computer- und Neurowissenschaften etablieren (Geise und Lobinger 2012, S. 326; Schnettler und Pötzsch 2007, S. 477). Da erst die bildgebenden Verfahren die zu untersuchenden Phänomene sichtbar bzw. erforschbar machen – in Ausnahmenfällen sogar erst materiell erzeugen – vollzieht sich der Forschungsprozess hier an den medial bzw. technisch vermittelten Visualisierungen des Forschungsobjekts – und nicht an den eigentlichen Forschungsobjekten selbst. Auf der zweiten Ebene (2) werden Visualisierungen zunehmend genutzt, um Wissen bzw. wissenschaftliche Ergebnisse sichtbar zu machen und über die visuelle Präsentation an Dritte zu kommunizieren (Heintz 2000, S. 212; Mössner 2012a, S. 13, siehe auch den Beitrag von Metag in diesem Band) – dies lässt sich sowohl innerhalb als auch außerhalb wissenschaftlicher Kontexte beobachten. Einerseits kommt den Bildern dabei die epistemische Funktion „einer Beglaubigung durch Sichtbarmachung“ zu (Mersch 2006b, S. 416); sie fungieren also als visuelle Beweise. Daneben haben die eingesetzten Visualisierungen auch oft eine rhetorischillustrative Funktion. Allerdings können Bilder als visuelle Argumente (3) auch einen eigenständigen Beitrag zur Wissensvermittlung liefern, wenn sie etwa komplexe Sachverhalte in schematischer Weise darstellen, so dass sachlogische Zusammenhänge, die in sprachlicher Form nur bedingt nachvollziehbar sind, anschaulich und intuitiv einsehbar werden (Sachs-Hombach 2012, S. 32). Einen eigenständigen Beitrag zur Wissensvermittlung in diesem Sinne liefern auch Visualisierungen von

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Daten, die numerisch ausgedrückt zu komplex wären, um sie sinnhaft interpretieren zu können, wie etwa bei Visualisierungen in der Netzwerkforschung (siehe hierzu den Beitrag von Gamper und Schönhuth in diesem Band). Die spezifische assoziative und präsentative Logik visueller Kommunikation bietet hierbei nicht nur besonderes Potenzial, um den Zugang zu komplexem Wissen auf individueller Ebene zu erleichtern (Geise und Brückmann 2015, S. 236), sondern kann auch – auf gesellschaftlicher Ebene – die Konstitution eines „anerkannten“ bzw. gesellschaftlich etablierten Wissens vorantreiben (Amann und Knorr Cetina 1988, S. 163–164). Insofern können wissenschaftliche Bilder auch der Durchsetzung und Etablierung neuer Wissensbestände dienen. Diesen Funktionen im wissenschaftlichen Erkenntnis- und Vermittlungsprozess entsprechend ist mit wissenschaftlichen Bildern der Anspruch verbunden, gültige Aussagen über die Wirklichkeit zu machen (Heßler 2009, S. 134). Damit ist einerseits die Erwartung verknüpft, dass die visualisierten Informationen für andere überprüfbar und wiederholbar sowie hinsichtlich ihres gestischen, apparativen und theoriegeleiteten Zustandekommens nachvollziehbar sind (Werner 2008, S. 31). Andererseits ergibt sich daraus notwendigerweise, dass die Bildproduktion zugleich in einen institutionellen Abgrenzungsdiskurs der involvierten ExpertInnen eingebettet ist, in dem die Bedingungen und Kriterien ihrer Wissenschaftlichkeit festgelegt werden (Heßler 2009, S. 140). Borck (1997) hat beispielsweise am Beispiel des EKGs nachgezeichnet, wie das medizinische Feld die Konstruktion des EKG-Bildes und damit seiner wissenschaftlichen Gültigkeit definiert hat: „Definition, Restriktionen, Konventionen steckten den Möglichkeitsrahmen für die Einschreibung und Identifikation von Bedeutungen ab“ (Borck 1997, S. 69). Um Wissen bzw. visuelle Evidenz zu erzeugen, kann das Anknüpfen an institutionelle Sehtraditionen, Konventionen, Gewohnheiten und Erwartungen der BetrachterInnen im jeweiligen Expertendiskurs sogar wichtiger sein als eine möglichst eindeutige und wissenschaftlich exakte Darstellung. Zur Bewertung der wissenschaftlichen Güte werden insofern weniger „objektive“ Kriterien angewendet, sondern vielmehr diskursspezifische. Hierzu pointiert Latour (2000, S. 115): „Objectivity does not refer to a special quality of the mind, an inner state of justice and fairness, but to the presence of objects which have been rendered ‚able‘ (the word is etymologically so powerful) to object to what is told about them“ (Herv. n. i. O.). Einzelne Fachgemeinschaften unterscheiden sich dabei zum Teil stark; es entwickeln sich weitgehend autonome „Kulturen“ der Wissensproduktion, die den epistemischen und technischen Besonderheiten verschiedener „Experimentalsysteme“ Rechnung tragen (Lettkemann 2013, S. 194; Rheinberger 2001, S. 148–154; ähnlich auch Knorr Cetina 2001).

1.2

Typen wissenschaftlicher Bilder

Wie Werner (2008, S. 30) resümiert, gibt es (bislang) keine allgemeine Bildtheorie des (natur-) wissenschaftlichen Bildes; allerdings sei auch kein anderer Gegenstand „vergleichbar geeignet, um die Anliegen dieser Universalisierung kritisch zu kom-

Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten

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mentieren“. Tatsächlich umfassen die Phänomene und Prozesse der wissenschaftlichen Visualisierung eine große Spannweite an visuellen Erscheinungsformen. Die Vielfalt der materiellen Bildarten, um die es hierbei geht, reicht von Zeichnungen und Fotografien über Diagramme und Infografiken bis hin zu dreidimensionalen Computeranimationen und -simulationen. Im weitesten Sinne können zu wissenschaftlichen Visualisierungen auch Einfärbungen bestimmter Proben oder haptische Modelle gezählt werden (siehe zu verschiedenen Bildformen ausführlich: Vögtli und Ernst 2007; Tufte 1983, 1997). Dabei unterscheidet sich nicht nur die Logik der Bildproduktion erheblich, sondern auch die Logik der Formate hinsichtlich ihres Beitrags an der Vermittlung und der Produktion von Wissen (siehe auch Heßler und Mersch 2009; Vögtli und Ernst 2007). Denn da es sich beim Wissenschaftsbild – im Unterschied zum künstlerischen Bild – primär um ein „Instrument“ handelt (Boehm 2001), sind die jeweiligen Produktionsprozesse sowie auch die konkreten Funktionen, die diese unterschiedlichen „Bild-Instrumente“ übernehmen, abhängig von der Einbettung in spezifische Forschungskontexte und Forschungsprozesse. Beispielsweise kommt „traditionellen“ Visualisierungsformen wie Diagrammen, Karten und Fotografien in der Weltraumforschung bis heute eine zentrale erkenntnisgenerierende Funktion zu (Frercks 2009, S. 126), wohingegen, vom Röntgenbild abgesehen, in der medizinischen Diagnostik heute weitgehend apparativ vermessene, „errechnete“ Visualisierungen, wie etwa im 3D-Ultraschall oder dem fMRT, erkenntnisgenerierende Funktionen übernommen haben. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Sichtbarmachungen in vielen Forschungsprozessen als integraler Bestandteil gelten können, dabei häufig jedoch prozesshaft, variabel, flüchtig und instabil sind und insofern nicht notwendigerweise medial in materiellen, wissenschaftlichen Bildern fixiert werden (Heßler 2009, S. 137). Dennoch haben die spezifischen Charakteristika, die die verschiedenen materiellen wissenschaftlichen Bildformen teilen, die kunst- und bildwissenschaftliche Forschung dazu motiviert, scientific images (Gombrich 1980, S. 238) als eigene Bildgattung von anderen Bildgattungen abzugrenzen. In diesem Kontext thematisiert etwa Boehm (2001, S. 53) wissenschaftliche Bilder in Abgrenzung zu künstlerischen und diskutiert dabei folgende spezifischen kommunikativen Leistungen und Defizite: Als „Verbrauchsobjekte“ und „vollzugsorientierte“ Erkenntnisinstrumente, deren Zweck nicht im Bild selbst liege und die mit der Erfüllung ihres Zwecks bedeutungslos würden, zielten wissenschaftliche Bilder auf Eindeutigkeit – im Idealfall gehe ihr „Interpretationsspielraum gegen Null“ – womit zugleich verbunden sei, dass „ästhetische Kriterien wie Anspielungsreichtum, Metaphorizität, visuelle Dichte oder Selbstreferenz“ für die Gestaltung nicht zentral seien (Boehm 2001, S. 53). Zentral sei dagegen ihr deiktischer Charakter (Boehm 2001, S. 53): Wissenschaftsbilder seien Konstruktionen, die zeigten, hinwiesen, veranschaulichten – sie entfalteten ihre epistemologische Funktion so, „dass das, was immer sie auszudrücken oder zu symbolisieren suchen, sie im Modus eines Zeigens und Sichzeigens zu erkennen geben“ (Mersch 2005, S. 325). Dies werde auf Basis von Dispositiven und „veränderlichen Vorgriffen“ ermöglicht, weshalb Boehm (2001, S. 53) wissenschaftliche Bilder auch als Aspekte bzw. Ergebnis „eines Denkens mit dem Auge“ wertet.

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Zur Frage, wie Wissenschaftsbilder Sinn produzieren, argumentieren und überzeugen, arbeitet Heßler (2006, S. 20–21) drei Aspekte ihrer spezifischen Bedeutungskonstruktion heraus: Erstens operieren Wissenschaftsbilder über das Anknüpfen an Bildtraditionen, visuellen Konventionen und Stilen und beziehen sich insofern – nicht zuletzt um ihre Funktion der Erkenntnispräsentation und -vermittlung effizient zu erfüllen – auf bildliche und stilistische Referenten als „Vor-Bilder“ (Müller 2007, S. 13; siehe auch unten; siehe zur Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder auch explizit Bredekamp et al. 2008); zweitens konstituieren sie Bedeutung über ihre spezifisch bildliche Struktur und Logik (siehe dazu ausführlich Müller und Geise 2015) sowie drittens – und ganz im Unterschied zu Boehm (2001) – auch über ihre inhärente ästhetische Dimension. Mit letzterem referiert Heßler (2006, S. 23) auf die wissenschaftliche Handlungspraxis, die von der Suche nach visuellen Mustern, Strukturen, nach Kohärenzen oder Divergenzen im Bild geleitet ist, wobei das, was gefunden bzw. gezeigt werden soll, durch bestimmte „ästhetische“ Strategien hervorgehoben (z. B. durch Einfärben, Vergrößern, Kontrastieren, Schärferstellen), Unbedeutendes hingegen auch visuell marginalisiert wird (siehe auch Lynch und Edgerton 1988; Latour 1990; Heintz und Huber 2001). Demnach sind auch künstlerische bzw. ästhetische Entscheidungen konstitutiv dafür, was und wie wir auf Wissenschaftsbildern sehen – „ästhetische Verfahren sind zugleich Mittel der Erkenntnisgewinnung als auch Überzeugung und Argumentationsstrategien“ (Heßler 2006, S. 24; siehe ausführlich auch Heßler 2009, S. 141–152). Zu der Eingebundenheit wissenschaftlicher Bilder zählt auch, dass das einzelne wissenschaftliche Bild immer auch auf andere Wissenschaftsbilder bezogen ist und sich „nur im Kontext eines Geflechts verschiedener Formate verstehen“ lässt (Hessler 2009, S. 137; siehe auch Latour 2002). Der wissenschaftliche Stellenwert eines Bildes ist insofern ggf. zu relativieren; oft kann der Erkenntnisgewinn erst über den visuellen Vergleich mit einem Bilderkanon oder einer Bilddatenbank realisiert werden. Latour (2000, S. 36–37) hat vor diesem Hintergrund herausgearbeitet, dass wissenschaftliche Bilder (im Gegensatz zu künstlerischen) nicht „autonom“ sind, ohne Interpretation und den Verweis auf andere Bilder und Bildserien, die sie in diesem Sinne „erzwängen“, sei an ihnen „nichts sichtbar“. Wissenschaftliche Visualisierungen wären insofern nicht selbstreferenziell, sondern stets als Referenz auf andere Visualisierungen zu sehen – sowie auf die entsprechenden diskursiven Prozesse der Kontextualisierung und Interpretation. Am Beispiel einer pedologischen Forschungsexpedition ins Amazonasgebiet hat Latour (2002, S. 26–95) hierzu illustriert, wie epistemische Objekte im Forschungsprozess in verschiedene Bild- und Zeichenformen transformiert werden, wobei diese einzelnen Zeichen weniger auf das ursprüngliche Referenzobjekt, sondern auf weitere, bereits bestehende Bilder und Zeichen referierten. Der visuellen Transformation eingeschrieben wäre damit eine „zirkulierende Referenz“, die in den einzelnen Transformations- und Analyseschritten nicht unterbrochen werden dürfe, da die Referenz auf das ursprüngliche Referenzobjekt sonst drohe verloren zu gehen (Latour 2002, S. 84–87). Um das hier angesprochene Zusammenspiel von wissenschaftlichen Visualisierungen und ihrer Einbettung in einen fortlaufenden kommunikativen Diskurs zu betonen, hat Knorr Cetina (2001) den Begriff das Viskurses eingeführt. Ihre

Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten

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Analyse zum Forschungsfeld der Physik zeigt, dass Visualisierungen (insbesondere im Rahmen von Statusberichten) wesentlich dazu beitragen, Entdeckungsfortschritte kollektiv zu etablieren, dadurch einen wissenschaftlichen Konsens herzustellen, und diesen damit gleichermaßen darzustellen wie zu fixieren (Knorr Cetina 2001). Die im Forschungsprozess erzeugten visuellen Darstellungen werden insofern nicht nur kommunikativ – und oft auch im Kontext mit weiteren Visualisierungen – geteilt, begutachtet und diskutiert, sondern dienen auch als Stimulanz für eine weiterführende Auseinandersetzung bzw. Forschung. Aufgrund der doppelten Codierung und der Idee einer visuellen Evidenz kann der Viskurs dabei sogar ausschließlich sprachlich geprägten Diskursen als überlegen gelten: „Wo es Viskurse gibt, wird Diskurs schnell als ‚bloßes Reden‘ abgetan, der keine experimentellen Ergebnisse ‚zeigt‘ und keinen Nachweis für die Durchführung bestimmter Arbeiten erbringt“ (Knorr Cetina 2001, S. 309). Ein erheblicher Anteil der gegenwärtigen Wissenschaftsbilder ist, wie bereits angesprochen, dadurch gekennzeichnet, dass diese aus sinnlich nicht wahrnehmbaren, technisch-apparativ erzeugten Messdaten virtuell erzeugt werden. Mit der fortschreitenden Integration technischer Medieninnovationen, insbesondere durch innovative bildgebende Verfahren, entstanden somit neuartige Typen von Bildern mit spezifischen Charakteristika und kommunikativen Funktionen. In diesem Zusammenhang lässt sich diskutieren, ob repräsentativ abbildende wissenschaftliche Bilder von virtuellen wissenschaftlichen Bildern unterschieden werden sollten. Zum ersten Typus wären Darstellungen zu rechnen, „deren wesentliche Funktion die Zeugenschaft ist und die das Visuelle als Beleg verwenden“, die dabei referenziell verfahren, häufig durch optische Verfahren gewonnen werden und insofern „eine Spur“ oder „einen Abdruck“ der zugrunde liegendenden Objekte oder Prozesse als Existenzbeweis beinhalten (Mersch 2006a, S. 97). Zum zweiten Typus zählten „konstruktive“ und „modellhafte“, oft computergestützt, errechnete Visualisierungen, die das Wissen „auf abstrakten Tableaus anordnen oder es in Bezug auf eine zugrunde liegende Datenmenge in berechenbare Figuren verwandeln“, dabei jedoch nicht primär bildlich, sondern „graphematisch“ argumentierten, insofern als „Hybride zwischen Notationalität und Ikonizität funktionierten“ und „den Theorien stärker ähnelten als Abbildungen“ (Mersch 2006a, S. 97, 101). Auch wenn diese Differenzierung eine Dichotomie impliziert, die sich nur bedingt in der Bild- und Bildhandlungspraxis wissenschaftlicher Visualisierungen wiederfinden dürfte, sensibilisiert sie dafür, dass für das wissenschaftliche Bild seine Entstehung in diskursiven und kommunikativen Prozessen sowie auch seine Produktionsbedingungen unbedingt mitzudenken sind. Dies ist notwendig, da sie nicht nur Form und Inhalt der Visualisierung wesentlich prägen, sondern auch die Bewertung seiner Evidenz, Objektivität oder Wahrheitsfähigkeit, die nicht nur einem historischen Wandel unterliegt, sondern auch in Prozessen der Versprachlichung von visuellem Wissen ausgehandelt werden (Werner 2008, S. 34). Jeweils zu reflektieren ist insofern, was als scientific image (Gombrich 1980) zu klassifizieren ist und welche Evidenz diesem (auch kontextabhängig) zugeschrieben wird: Entstammen die Visualisierungen professionellen bzw. wissenschaftlichen Produktionskontexten? In welchen Rezeptionskontexten werden sie präsentiert? Während die

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spezifischen Produktionskontexte zu einem nicht unwesentlichen Teil die intendierten Bedeutungen der Bilder mitbeeinflussen, prägt der Rezeptionskontext das Verständnis, die Bedeutungskonstruktion und Interpretation der Motive (Müller und Geise 2015, S. 24–27, 42). Die Kontextabhängigkeit der Bedeutungs- und Sinnentschlüsselung wissenschaftlicher Bilder wird insbesondere dann deutlich, wenn wissenschaftliche Bilder ihren „professionellen“ Rezeptionskontext verlassen und von Laien betrachtet werden, die nicht oder nur bedingt über die entsprechende Bildkompetenz verfügen, um das Bild als Medium wissenschaftlicher Erkenntnisse anzusehen und zu verstehen. Die Transformation von Wissenschaftsbildern in nicht-wissenschaftliche Kontexte „verändert ihren Status und führt zu einer Deutungsverschiebung und manchmal dazu, dass Wissenschaftsbilder keine mehr sind, sondern beispielsweise zu Kunst oder auch zu Elementen der Popkultur werden“ (Heßler 2006, S. 36; siehe zur Kontextverschiebung auch Müller und Geise 2015).

1.3

Zur Produktion wissenschaftlicher Bilder

Für eine Vielzahl wissenschaftlicher Bildformen stellt das Labor den zentralen Handlungskontext dar, der die notwendigen spezialisierten Produktionsprozesse der Bilder ermöglicht. Erst in diesem spezifischen Handlungsraum „Labor“ werden die Selektions-, Präparations- und Aufbereitungsentscheidungen denkbar, die wiederum die weiteren Entscheidungen und Interpretationen strukturieren (Knorr Cetina 2002, S. 27). „Der lokale Kontext der Bildherstellung und Bilddeutung schreibt sich dabei in der Arbeit am Bild in die Bilder ein und ermöglicht einerseits und beschränkt auch andererseits alle weiteren Schritte der Wissensproduktion“ (Tuma und Schmidt 2013, S. 19). Knorr Cetina (2002) hat hierzu herausgearbeitet, dass das wissenschaftliche Arbeiten in derartigen Kontexten vor allem eine soziale Praxis des wissenschaftlichen Bildhandelns ist, im Rahmen derer sich spezifische Handlungsprogramme etablieren (z. B. die Autopsie des Bildlichen bei der über bestimmte Gesprächstechniken eine Decodierung und Interpretation des Bildes und dessen Bedeutungen erfolgt; Knorr Cetina 2002, S. 141, 146–147). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Forschung zu wissenschaftlichen Bildern insbesondere auch die wissenschaftlichen Praktiken, die Entstehungs- und Produktionsprozesse von Wissenschaftsbildern genauer in den Blick genommen hat. Exemplarisch hat Schmidt (2013, S. 184–185) am Beispiel der Neuroinformatik drei idealtypische Phasen der – meistens hochgradig arbeitsteilig organisierten – Bildherstellung beschrieben. Im Rahmen der Präparation in Phase 1 wird das Untersuchungsobjekt in einem aufwendigen Prozess vorbereitet, d. h. in eine spezifische materielle Form bzw. einen Zustand gebracht, der es ermöglicht, es mit bildgebenden Verfahren zu erfassen (z. B. mit entsprechenden Kontrastmitteln). In Phase 2 erfolgt dann die eigentliche Visualisierung im Sinne einer medialen Bindung, was die entsprechenden technischen Einstellungen erfordert (z. B. Einpassung in das Bildgebungsinstrument, Vorbereitung der Aufnahmeeinstellungen). Im Rahmen des Visualisierungsprozesses werden dann die gemessenen numerischen Daten computergestützt in ein Bild transformiert, d. h. es wird nicht das Bild selbst

Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten

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„aufgenommen“, sondern zunächst liegen numerische Informationen vor, die dann in visuelle übersetzt werden. Hier lässt sich ergänzen, dass dem Umgang und der Interpretation von apparativ erzeugten, wissenschaftlichen Bildern immer auch bestimmte theoretische Vorannahmen über den Gegenstandsbereich zu Grunde liegen müssen, den es zu visualisieren gilt. Am Beispiel der visuellen Wissensproduktion, die mittels Blickaufzeichnungsverfahren (Eyetracking) über die visuelle Wahrnehmungsfunktionen des Auges (z. B. Fixationen, Sakkaden) sichtbar gemacht werden, lässt sich gut nachvollziehen, inwieweit bereits in der Forschungsanlage sowie in den eingesetzten apparativen und technischen Verfahren der Bildgebung und deren computergestützter Auswertung, Modelle über die untersuchten Phänomene (z. B. über das menschliche Auge und über Prozesse der visuellen Wahrnehmung sowie der kognitiven Verarbeitung des Gesehenen) und deren Beforschung ineinander verwoben sind (siehe hierzu ausführlich Geise 2011b). Hier gilt es kritisch zu reflektieren, dass eine harte Trennung zwischen Messung, Analyse und Interpretation nur bedingt möglich ist (Geise 2011b, S. 100). Anschließend folgt in Phase 3 die Aufbereitung der Daten; nun werden die Bilder präpariert und „lesbar“ sowie für weitere Kontextualisierungen (z. B. visuelle Vergleiche, Simulationen) verfügbar gemacht. Hierbei erfolgt zunächst eine Qualitätsprüfung, eine „visuelle Inspektion“, die wesentlich vom Erfahrungswissen der ForscherInnen geprägt ist, auf die dann die eigentliche Interpretationsarbeit an den Bildern folgt (Schmidt 2013, S. 185–186). In verschiedenen Arbeitsschritten werden relevante Bildelemente identifiziert, ggf. besonders betont sowie auch von anderen, störenden Bildelementen (so genannten Artefakten) abgegrenzt und schließlich gedeutet und bewertet. In dieser Arbeit am Bild sind „Bildinterpretation und Bildmanipulation [. . .] nicht voneinander zu trennen“ (Schmidt 2013, S. 186). Mit der Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten im Labor haben sich dabei auch die Möglichkeiten der Erstellung, Bearbeitung und Manipulation von Bildern ausgeweitet, und bestimmte Modi der Bildbearbeitung zählen mittlerweile fest zum etablierten Kanon einer wissenschaftlichen Bildpraxis. Die Vorstellung einer „Evidenz“ des Visuellen ist insofern höchst kritisch zu reflektieren.

1.4

Medienwandel, visuelle Evidenz und der epistemische Status wissenschaftlicher Bilder

Die oben eingeführte Gegenüberstellung von repräsentativ-abbildenden Wissenschaftsbildern und virtuellen Visualisierungen lässt bereits die Idee einer grundlegenden Veränderung in der Logik wissenschaftlicher Bilder durch technologischen Wandel durchscheinen. Demnach unterliegt die Verwendung und Funktion von Bildern in der Wissenschaft einem grundlegenden Veränderungsprozess, in dem sich das Bild sukzessive „vom Grund der Wahrnehmung restlos abkoppelt“ und schließlich einen „gespenstischen Charakter“ angenommen hat (Mersch 2005, S. 339; Derrida 2003, S. 41). „Was wir sehen, [ist] kein Sichtbares mehr, nichts, was überhaupt auf eine Wahrnehmung hindeutete, sondern allein das Ergebnis einer

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Aufbereitung, die lediglich ins Format eines Bildes gesetzt worden ist, das jedoch ebenso gut andere Manifestationen erlaubt hätte“ (Mersch 2005, S. 339). Daston und Galison (1992) haben hierzu herausgearbeitet, dass sich im Zuge einer Transformation des Objektivitätsbegriffs auch der Status der Bilder in der Wissenschaft änderte: Hatten Visualisierungen in der Wissenschaftsgeschichte zunächst primär eine idealtypische und normierende repräsentative Funktion, die durchaus auch eine ästhetisierende und interpretierende Wiedergabe wissenschaftlicher Phänomene einschloss (wie sie sich prototypisch in der wissenschaftlichen Illustration zeigt), rückte im 19. Jahrhundert das Ideal einer nichtintervenierenden, „mechanischen“ Objektivität in den Mittelpunkt. Indem eine naturwissenschaftlichmathematisch orientierte Objektivitätskonzeption dem technisch-apparativ produzierten Bild einen „neutralen“ Status zusprach, wurde die Technologisierung als Motor der Entsubjektivierung und Entästhetisierung wissenschaftlicher Bilder gesehen, als Garant für ihre Neutralität, Reproduzierbarkeit und Wissenschaftsfähigkeit (Daston und Galison 1992, S. 111–112). Als prototypische Bildarten, die diesem Paradigma entsprechen, lassen sich die Fotografie, das Röntgenbild oder die Polygrafie nennen. Bildliche Evidenz wird, so die Implikation, in ihnen nicht durch Strategien der Visualisierung und Ästhetisierung erzeugt, sondern durch die weitgehende Technisierung und Automatisierung der Bildproduktion (Mersch 2005, S. 333). Wie dieser historische – und heute als weitgehend überholt geltende – Diskurs illustriert, ist gerade die Frage nach ihrem epistemischen Status zentral für das Verständnis wissenschaftlicher Bilder: Welches Verhältnis besteht zwischen „Bild“ und „Wirklichkeit“? Die implizite Kritik am „subjektiven Bild“ lässt sich dabei nicht zuletzt auf die Vorstellung zurückführen, dass optisch erzeugte Bilder sinnlich wahrnehmbare Phänomene – wie sie idealtypisch durch die Fotografie, das Mikroskop oder das Röntgen repräsentiert werden – in Form von Spuren des Abgebildeten beinhalten und damit über eine wiedergebende, anschauliche Evidenz verfügen. Die apparative Aufzeichnung begründet aus dieser Perspektive eine fehlerfreie, objektivierte Abbildrelation zwischen Bild und Basis (Grube 2006, S. 182). Eine derartige Stilisierung technisch erzeugter visueller Kommunikate als Ausdruck von Evidenz und Objektivation ist jedoch kritisch zu reflektieren (Geise und Brückmann 2015, S. 237). Dies gilt nicht nur, weil Bilder aufgrund ihrer spezifischen assoziativen Logik eine kritische Eigenmacht entfalten können (Müller und Geise 2015, S. 121). Insbesondere ist auch zu berücksichtigen, dass selbst die am „objektivsten“ wirkenden wissenschaftlich-technischen, analogen Wissenschaftsbilder niemals reine AbBilder sind, sondern, wie alle Bilder, stets das Ergebnis einer kontextabhängigen, komplexen sozialen Konstruktion (siehe auch Mersch 2006a, b). Zudem muss spätestens für digitale Wissenschaftsbilder – und mehr noch für virtuelle – die Frage nach dem „legitimen Eingriff“ noch einmal neu verhandelt werden. Digitale Simulations- und Visualisierungstechniken erweitern nicht nur das Bilderrepertoire, sondern erodieren zugleich die Gewissheit über den epistemischen Status des Bildlichen und dessen Funktionsprinzip (siehe dazu ausführlich: Grube 2006). Tatsächlich ging die Digitalisierung – die Mersch (2006b, S. 408) als dritte Phase des Medienwandels als „artifizielle Sichtbarmachung“ bezeichnet – mit

Wissenschaftliche Bilder und die Visualisierung komplexer Daten

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gravierenden Veränderungen des wissenschaftlichen Zugangs und Umgangs mit Bildern einher: „Computer, Bildgenerierungs- und Bearbeitungsprogramme gehören heute zur Grundausstattung wissenschaftlicher Arbeitsplätze“ (Heßler 2006, S. 11). Und damit veränderten sich auch die Prozesse und Strukturen der Bildproduktion, die Praxis des wissenschaftlichen Bildhandelns, die wissenschaftlichen Bilderwelten und die wissenschaftlichen Bilder selbst (Heßler 2006, S. 11). Gerade bei computersimulierten, „errechneten Bildern“ (Kittler 2004, S. 194) stellt sich die Frage, wo die Grenze zwischen „noch erlaubter Bildbearbeitung“ und „subjektiver Bildinterpretation“ verläuft – insbesondere, da kein „Originalbild“ existiert und im Produktionsprozess eines kohärenten, wissenschaftsfähigen Bildes dessen „Aufnahme“, Bearbeitungen und Interpretation nicht mehr voneinander abgegrenzt werden können (Heßler 2006, S. 27). Insofern konterkarieren virtuelle Bilder nicht nur die tradierte Idee einer Ähnlichkeitsrelation zwischen Bild und Abgebildeten (Heßler 2009, S. 156), sondern werfen auch aus wissenschaftstheoretischer Perspektive die Frage auf, „wovon sie Bilder sind und was wir auf ihnen zu sehen bekommen“ (Mersch 2006a, S. 100; Herv. n. i. O.). Dem Betrachtenden bleibt das inhärente Zusammenspiel von automatisierten Bildverarbeitungsprogrammen – die Datenfehler und Rauschen herausfiltern oder fehlende Daten im Datensatz sinnvoll ersetzen – und bewusster menschlicher Bildbearbeitung, von Entscheidungen und Interpretationen der Messdaten in Form von Computersimulationen meist weitgehend verborgen (Adelmann 2009, S. 16). Obwohl sie das Ergebnis eines komplexen Transformationsprozesses von wissenschaftlichen, oft spärlichen, disparaten und interpretationsbedürftigen Daten in eine visuelle, anschauliche und „transportable“ Form sind (Latour 1990, S. 21), teilen virtuelle Visualisierungen komplexer Daten die Bedingungen ihrer technischen, sozialen und kulturellen Herstellungsbedingungen nicht mit; sie zeigen nicht, was und wie genau sie eigentlich visualisieren (vgl. dazu Mersch 2005, S. 337). Die Tatsache, dass hierbei – im Unterschied zu klassischen Visualisierungsverfahren – keine genuin sichtbaren Phänomene mehr die Basis der Darstellung bilden, sondern Informationen im kybernetischen Sinne aufgrund bestimmter automatisierter und individualisierter Entscheidungen in visuelle Parameter umgerechnet werden, führt für Mersch (2006a, S. 102) letztlich auch dazu, dass die Wissenschaftsbilder ihre „Stabilität“, ihre Funktion als „eindeutige Sichtbarmachung“ verlieren (siehe dazu auch Grube 2006). Das Bild wird stattdessen zu einem Ausdruck von „Möglichkeiten, die ebenso unvereinbar nebeneinander bestehen können wie sie unterschiedliche epistemische Formen aufrufen, deren gemeinsamer Nenner allenfalls ihre Berechenbarkeit ist“ (Mersch 2006a, S. 102). Die epistemische Funktion gerade virtueller Wissenschaftsbilder beruhe daher nicht länger „im Existenzbeweis, der stets noch an Materialität haftet, sondern in der Modellierung einer geometrischen oder figuralen Struktur, die gänzlich immateriell“ bleibe (Mersch 2006a, S. 103). Paradoxerweise lässt sich beobachten, dass gerade vollkommen konstruierte virtuelle Bilder den Eindruck einer „abbildenden Wirklichkeitstreue“ suggerieren, denn vielfach inkorporieren die Visualisierung- und Bildbearbeitungsprogramme visuelle Referenzen an „reale Objekte“ bzw. referenzielle Abbilder. Bredekamp

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und Kollegen (2003, S. 15) haben dieses Phänomen als Disjunktionsprinzip der naturwissenschaftlichen Darstellung bezeichnet: „Je natürlicher ein Gegenstand in der Wiedergabe erscheint, desto stärker wurde sein Bild konstruiert.“ Eine Ursache liegt darin, dass visuell tradierte, etablierte Sehtraditionen die Lesbarkeit und Interpretierbarkeit wissenschaftlicher Bilder erleichtern. Das Visualisierte imitiert insofern „eine kohärente Darstellung, die dem Sichtbaren eine Referenzialität auferlegt, so dass wir es mit einer grundlegenden Unentscheidbarkeit zwischen Denotat und Konstruktion zu tun bekommen“ (Mersch 2006a, S. 110).

2

Visuelle Sozialisation und Wissenschaftsbilder: Sehgemeinschaften und Visualisierungstraditionen

Wissenschaftliche Bilder können sehr voraussetzungsreich sein, ohne dass sie die Möglichkeit bieten, dies entsprechend offen zu legen (Heßler 2009, S. 146–147). Wie Adelmann und Kollegen (2009) am Beispiel der digitalen Bildpraxis in der Astronomie und Astrophysik herausarbeiten konnten, sind insbesondere räumliches Denken, das Erkennen von visuellen Analogien, von Gestalt und Form, die visuelle Mustererkennung (Heßler 2009, S. 144) sowie auch ein entsprechend differenziertes Bildgedächtnis der Forschenden zentrale Kompetenzen für visuelle Erkenntnisprozesse. Zudem müssen die wissenschaftlichen BetrachterInnen auch die den jeweiligen Visualisierungen inhärente „Bildsprache“ bzw. die angelegten visuellen Codes kennen und dechiffrieren können: Die Lesbarkeit wissenschaftlicher Bilder beruht damit auf einer gemeinsam etablierten Praxis ihrer Decodierung (Heßler 2009, S. 146–147); in den entsprechenden „Expertenkreisen“ entstehen dabei spezifische Sehgemeinschaften mit entsprechenden Sehordnungen und Sehpraktiken (Tuma und Schmidt 2013, S. 11). Der polnische Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck (1980/ 1935), der gerade für die Wissens-, Wissenschafts- und Techniksoziologie als einflussreich gelten kann, hatte schon früh auf die zentrale Bedeutung des „geschulten“ Sehens für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hingewiesen. Dabei überlegte Fleck auch (1980/1935) – ausgehend von der Grundidee eines dem Sehen zu Grunde liegenden „Objektivationsprinzips“ –, inwieweit eine spezifische wissenschaftliche Sozialisation zu spezifischen Praktiken im Umgang und in der Interpretation der Bilder, zu einer „denkstilgemäß sinnhaften visuellen Wahrnehmung“ führte. Seine Idee hierzu war, dass erst das Schulen des Auges (bzw. des Denkens) die WissenschaftlerInnen in die Lage versetzte, im Bild spezifisch wissenschaftliche relevante Inhalte bzw. Bildbedeutungen zu erkennen. Das notwendige handlungsund wahrnehmungsleitende Wissen einer Wissenschaftsgemeinschaft ist für Fleck (1980/1935, S. 130) im spezifischen Denkstil eines spezifischen Denkkollektivs zusammengefasst und zeigt sich als „gerichtetes Wahrnehmen mit entsprechender gedanklicher und sachlicher Verarbeitung des Wahrgenommenen“. Die für die Visuelle Kommunikationsforschung zentrale Idee hat Fleck auch 1947 in seinem Aufsatz „Schauen, sehen, wissen“ ausformuliert (Fleck 1983/1947, S. 147). Auch

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hier liegt die Idee zu Grunde, dass das Verständnis von Bildlichkeit kontextabhängig ist: Wissen prägt das Sehen und Erkennen – und ist zugleich deren Basis: „Um zu sehen, muß man wissen, was wesentlich und was unwesentlich ist, muß man den Hintergrund vom Bild unterscheiden können, muß man darüber orientiert sein, zu was für einer Kategorie der Gegenstand gehört. Sonst schauen wir, aber wir sehen nicht, vergebens starren wir auf die allzu zahlreichen Einzelheiten, wir erfassen die betrachtete Gestalt nicht als bestimmte Ganzheit.“ (Fleck 1983/1947, S. 148)

Im Rahmen dieses Geschultwerdens vom „Schauen“ zum „Sehen“ werden den Forschenden dabei insbesondere auch kollektive Wissensbestände der Wissenschaftlergemeinschaft im Sinne eines „Denkstils“ vermittelt, weshalb Fleck postulierte (1983/1947, S. 154): „Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs“. Um diese Gedanken zu illustrieren, griff Fleck (1983/1947) auf ein Beispiel aus der Mikrobiologe des 19. Jahrhunderts zurück. Zunächst hätten noch verschiedene Bedeutungsoptionen nebeneinander existiert wie Mikroben aussähen, später hätte sich aber ein fester Kanon von etablierten visuellen Konturen und zugeordneten biologischen Bedeutungen etabliert, der auch sozial sanktioniert worden sei. Das wissenschaftliche Bild ist bei Fleck also weit davon entfernt, eine rein repräsentative Logik oder bildimmanente Anschaulichkeit zu besitzen; vielmehr basiert Bildentschlüsselung zentral auf Wissen und kulturell geteilten Konventionen. Wissenschaftliche Bilder funktionieren aus dieser Perspektive nicht deshalb, weil ihre visuellen Mittel deiktisch und prädikativ sind, sondern weil es Normierungsund Standardisierungsprozesse gibt, auf deren Grundlage das Bild diskursfähig und seine Aussagefähigkeit beurteilbar wird (Werner 2008, S. 34). Ähnlich, wenn auch mit anderem Fokus – nämlich auf Fragen der Macht und Herrschaft bezogen – hatte auch Michel Foucault (1976, 1988) auf die Herausbildung eines spezifischen wissenschaftlichen Blicks hingewiesen, der auf medizinischem Spezialwissen basierte und zur sozialen Klassifikation der Menschen führte. Am Beispiel der Etablierung der Klinik als gesellschaftliche Institution zeichnete er nach, inwieweit die Genese medizinischen Wissens sowie eines „ärztlichen Blicks“ mit der Herausbildung eines „Sichtbarkeitsregimes“ verbunden sei (Foucault 1976, 1988, S. 10). Für Foucault (1976, 1988) ist visuell codiertes Wissen bzw. die Kompetenz zu dessen Entschlüsselung insofern vor allem ein zentraler Mechanismus zur Konstruktion von gesellschaftlicher Macht. Die Herausbildung neuer Sehtechniken für Schulen, Strafanstalten, psychiatrische Kliniken und Fabriken sieht er letztlich als Instrument zur Überwachung, Prüfung und Klassifikation von Menschen nach bestimmten wissenschaftlich bzw. sozial akzeptierten Normen und Standards (Foucault 1976, 1988). Eng mit dieser Beobachtung verbunden ist die Differenzierung in unterschiedliche Bild- und Aneignungspraxen verschiedener Disziplinen bzw. verschiedener Experten- und Laienkreise. Exemplarisch hat Schmidt (2013) nach den sozialen Praktiken der Herstellung und Deutung von Bildern im transdisziplinären Feld der Computational Neurosciences gefragt. Ihr Forschungsinteresse galt konkret der Frage, wie Bilder im Kontext neurowissenschaftlicher Forschungskooperationen hergestellt und zwischen Akteuren aus unterschiedlichen Disziplinen vermittelt

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und gedeutet werden, d. h. inwieweit sich hierbei eine gemeinsam geteilte visuelle Kultur herausbildet (Schmidt 2013, S. 175–176). Dabei zeichnete Schmidt (2013) einerseits nach, inwieweit Bilder als zentrale Mittel der Erkenntnisproduktion fungieren. Sie zeigte aber auch, inwieweit spezifische Bildformen als vereinfachende Mittel der Kommunikation zwischen den heterogenen sozialen Gruppen der Neurowissenschaften genutzt werden, nicht zuletzt, um zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu vermitteln. Dabei deckte die Autorin auf, dass in diesem Prozess eigene Seh- und Bilddarstellungskulturen etabliert sowie spezifische Formen visuellen Wissens konstituiert werden, die dann wiederum in der Bildinterpretation aktiviert werden (Schmidt 2013, insb. S. 185–189). Das Anknüpfen an etablierte Seh- bzw. Visualisierungstraditionen, an Konventionen und Erwartungen der RezipientInnen kann dabei mitunter sogar wichtiger sein als eine möglichst präzise, eindeutige oder innovative Darstellung. Wie Borck (1997) am Beispiel der Visualisierung des „Herzstroms“ aus historischer Perspektive illustriert hat, gilt dies insbesondere auch für die Darstellung bisher unbekannter Phänomene, die der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Hier kann die Anschlussfähigkeit an etabliertes visuelles Wissen sogar als eine Voraussetzung gesehen werden, um verstanden zu werden und die intendierte Bedeutung vermitteln zu können. Die Produktion und Rezeption von Wissenschaftsbildern unterliegt insofern einem kontinuierlichen Transformationsprozess; sie sind Ergebnis und Faktor der visuellen Sozialisation, in der Elemente des bereits validierten (visuellen) Wissens enthalten sind – insbesondere auch, um Neuartiges visualisieren und Bedeutung kommunizieren zu können (Heßler 2009, S. 150).

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Fazit und Ausblick

Wie der Überblick gezeigt hat, können sowohl die Produktion als auch die Präsentation wissenschaftlicher Bilder als ein charakteristisches Merkmal wissenschaftlicher Aktivität angesehen werden: Visualisierung, Analyse und Erkenntnis sind unmittelbar miteinander verknüpft. Zunehmend finden Visualisierungen komplexer Informationen auch in nichtwissenschaftlichen Kontexten Verbreitung. Vor dem Hintergrund technologischer und sozialer Entwicklungen ist davon auszugehen, dass Visualisierungen komplexer Informationen sowohl in Experten- als auch in Laienkontexten in Zukunft quantitativ sowie qualitativ weiter an Bedeutung gewinnen. Die Sichtbarmachung wissenschaftlich relevanter Phänomene stellt dabei einen aktiven sozialen Konstruktionsprozess dar, in dem verschieden komplexe Daten visuell abstrahiert und konzentriert, und auf Basis konventionalisierter Visualisierungsstrategien in wissenschaftliche Bilder übersetzt werden. Als Ergebnis und Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden an das wissenschaftliche Bild dabei nicht nur spezifische Anforderungen gerichtet (z. B. Intentionalität, Referenzialität), ihm wird auch ein epistemischer Sonderstatus zugesprochen, der, einmal etabliert, in den verschachtelten Produktions- und Verwendungskontexten weitgehend Faktizität beanspruchen kann. Wie der Überblick verdeutlicht hat, sind aber selbst die am „objektivsten“ wirkenden, „errechneten“ Bilder keineswegs

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Ab-Bilder, sondern Resultat einer kontextabhängigen, komplexen sozialen Konstruktion. Insofern lassen sich die Bedeutungen sowie die Funktionen eines wissenschaftlichen Bildes nicht allein aus seinem Inhalt erschließen, sondern sie sind auch von den technisch-apparativen, sozialen und kulturellen Faktoren geformt, die über den spezifischen Produktions-, Kommunikations- und Rezeptionskontext des wissenschaftlichen Bildes aktualisiert werden. Damit ergeben sich für die Visuelle Kommunikationsforschung auch in Zukunft spannende Fragen. Weitgehend ungeklärt ist bisher etwa, wie sich Prozesse der Wissensgenerierung und der Wissensaneignung, allgemein der Kommunikation von Wissen, verändern, wenn komplexe Informationen zunehmend visuell präsentiert werden (Geise und Lobinger 2012, S. 325): Verändert die zunehmende Visualisierung von Wissen unser individuelles sowie unser kollektiv geteiltes Wissen? Ist sie beispielsweise mit der Ausbildung eines originär visuellen Wissens verbunden? Welche Formen nimmt dieses visuelle Wissen an? Wie wird überhaupt ausgehandelt, was als „visuelles Wissen“ gilt? Wie sind Ästhetik und Pragmatik, Information und Visualisierung hierbei miteinander funktional verbunden? Welchen Beitrag leisten Medien an der Etablierung und Reproduktion von visuellem Wissen? Auch wissenschaftliche Bilder „zeugen nicht nur in vielfacher Weise von alltäglichen sozialen Situationen, gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Entwicklungen, sie sind auch ein genuiner Teil davon“ (Breckner 2010, S. 313). Ein zweiter relevanter Forschungsstrang, der hiermit angesprochen ist, eröffnet sich in der Perspektive einer visuellen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit (Geise und Lobinger 2012, S. 325): Hier ist beispielsweise zu thematisieren, in welcher Weise die Summe wissenschaftlicher Bilder soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge nicht nur bildlich (re-)präsentiert, sondern im Sehen und in Prozessen der Sichtbarmachung überhaupt erst erzeugt (Breckner 2010, S. 9). In engem Zusammenhang dazu stehen aber auch Fragen, die eine spezifische Form von Visual Literacy betreffen: Welche (Bild-)Kompetenzen und Fähigkeiten werden zum Umgang mit wissenschaftlichen Bildern bzw. mit visuellem Wissen benötigt? Zunehmend ist auch eine kritische Bildkompetenz im Umgang mit wissenschaftlichen Bildern gefordert, für die die Visuelle Kommunikationsforschung sensibilisieren sollte und in deren Rahmen der „Doppelstatus von Bildern als einerseits visuelles Medium und andererseits als materielles Artefakt“ (Tuma und Schmidt 2013, S. 19; Burri 2008, S. 346) reflektiert wird. Dies gilt auf der einen Seite für Kontexte alltäglicher Kommunikation, Rezeption und Aneignung von Wissenschaftsbildern, aber auf der anderen Seite mindestens ebenso im Rahmen wissenschaftlicher Diskurse, in denen sich bis heute vielfach ein „naiver“ wissenschaftlicher Umgang mit Bildern und Visualisierungen beobachten lässt. Obwohl sich die Wissenschafts- und Techniksoziologie schon seit den 1970erJahren mit der Konstitution von primär naturwissenschaftlichem Wissen beschäftigt hat, liegen noch relativ wenige Arbeiten vor, die sich mit den Bildtypen und Bildpraktiken innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschungstraditionen

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S. Geise

beschäftigen (siehe auch zu ethnografischen Laborstudien: Knorr Cetina 2001, 2002; Latour und Woolgar 1979; Lynch und Woolgar 1990; zu wissenschaftshistorischen Arbeiten: Daston und Galison 1992; Shapin et al. 1985). Ausgehend von der Beobachtung, dass in sozialwissenschaftlichen Kontexten produzierte Bilder kaum in ihrer spezifischen Logik reflektiert werden und dass die textliche und numerische Logik das Verständnis von „Wissenschaftlichkeit“ bis heute wesentlich prägt, sollten in Zukunft auch Fragen nach der wissenschaftlichen Produktion der Bilder und den wissenschaftlichen Bildpraktiken, ihrer Herstellung, Deutung, Verbreitung und Wirkung stärker in den Mittelpunkt der Visuellen Kommunikationsforschung rücken. Dies gilt auch und insbesondere, da visuelle Methoden – wie nicht zuletzt der Beitrag von Gamper und Schönhuth in diesem Band am Beispiel der Visuellen Netzwerkforschung illustriert – über ein großes Aufklärungspotenzial für eine Vielzahl kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen verfügen (Geise und Lobinger 2016, S. 510) und entsprechend an Bedeutung gewinnen sollten. Für die Visuelle Kommunikationsforschung markiert aber auch eine Forschungsperspektive, in der wissenschaftliche Visualisierungen primär als spezifischer Ausdruck des sozialen Handelns und Formen der sozialen Praxis gedacht werden, eine wichtige Basis der weiterführenden Forschung. Hier hat die kommunikationswissenschaftliche Mediatisierungsforschung in den letzten Jahren die Analyse von Prozessen der Bildaneignung und des Bildhandelns mit wissenschaftlichen Bildern bereits stärker in den Blick genommen, da diese als zunehmend wichtige Alltagspraktiken einer mediatisierten Gesellschaft gelten können (vgl. für einen aktuellen Überblick: Lobinger und Geise 2015; Geise und Brückmann 2015). Die wachsende Diffusion von wissenschaftlichen Bildern in alltägliche, zunehmend mediatisiert ablaufende Kommunikationsprozesse lässt insbesondere Fragen nach deren (veränderten) Funktions- und Gebrauchsweisen virulent werden. Ein Beispiel aus der Medizintechnik sind hier etwa dreidimensionale Ultraschallaufnahmen, die das noch ungeborene Kind im Mutterleib vermeintlich sehr realitätsnah und „greifbar“ visualisieren und auch zu neuen Praktiken im Umgang mit den Ultraschallbildern führen (Geise und Brückmann 2015, insb. S. 245–252). Während solche praxeologischen „Fallstudien“ ein hohes Aufklärungspotenzial für Prozesse der Aneignung von wissenschaftlichen Bildern und der ihnen subjektiv zugewiesenen Bedeutung haben, steht eine Synthese der bisherigen Befunde zu Typen, Charakteristika, Funktionen und – im weiten Sinne – „Wirkungen“ von wissenschaftlichen Bildern in ihren jeweiligen Kontexten jedoch noch weitgehend aus. Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass die Visuelle Kommunikationsforschung – trotz (oder gerade wegen) der (zugeschriebenen) epistemischen Funktionen – auch in Zukunft danach fragen muss, was uns wissenschaftliche Bilder überhaupt zeigen, warum sie uns dies auf diese Art und Weise zeigen und was dies bedeutet. Zwar ist dieses Fragespektrum nicht neu – bereits Plessner (1970, S. 201) hatte in seiner Anthropologie der Sinne vor einer unreflektierten Hinnahme des visuell Wahrnehmbaren – vor einem „Modell des Sehens im Ideal der Evidenz“ – gewarnt, doch hat es heutzutage noch an Relevanz gewonnen.

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Multidisziplinäre Forschungsperspektiven auf Infografiken und Datenvisualisierungen Wibke Weber

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Definition von Infografik und Datenvisualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Karten, Kreise, Timelines – eine historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Multidisziplinäre Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Infografiken und Datenvisualisierungen zeichnen sich durch ihre visuelle Evidenz und Anschaulichkeit aus. Sie zeigen auf Anhieb, was Texte nur unzureichend zeigen können: Strukturen, Zusammenhänge, Relationen, Proportionen, Prozesse. Erst die Visualisierung von Daten und Informationen macht diese zugänglich und verständlich. Das grafische Vokabular von Infografiken und Datenvisualisierungen besteht aus Punkten, Linien und Flächen in unterschiedlichen Größen, Farben und Formen. Der Beitrag verortet Infografiken und Datenvisualisierungen in ihren unterschiedlichen Forschungskontexten, beleuchtet sie aus historischer Perspektive und liefert definitorische Grundlagen. Schlüsselwörter

Datenvisualisierungen · Infografiken · Diagramme · Semiotik · Graphicacy

W. Weber (*) IAM Institute of Applied Media Studies, ZHAW Zurich University of Applied Sciences, Winterthur, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_38

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W. Weber

Einleitung

Mit zunehmender Digitalisierung haben Infografiken und Datenvisualisierungen eine enorme Dynamik erfahren und kommen in verschiedenen Anwendungsfeldern zum Einsatz: im Journalismus, in der Organisationskommunikation, in der Kulturund Kreativwirtschaft wie auch in der Wissenschaft. Vor allem im Journalismus hat sich das Visualisieren von Daten und abstrakten Informationen als kommunikative Praktik etabliert (Engebretsen et al. 2018; Rogers et al. 2017); neben Texten, Bildern (z. B. Fotos, Illustrationen) und Videos rücken nun auch Karten, Graphen, Timelines und andere diagrammatische Formen ins Blickfeld. Infografiken und Datenvisualisierungen haben, wie Bilder generell, Evidenzcharakter. Sie zeigen Strukturen und Zusammenhängen, machen Relationen, Proportionen und Prozesse sichtbar. Erst das Sichtbarmachen ermöglicht einen Zugang zu den Daten, macht sie lesbar und kann so zu Erkenntnisgewinn und Wissensgenerierung beitragen. Daher eignen sich Infografiken und Datenvisualisierungen als Explorations- und Analysetool (siehe auch den Beitrag von Lobinger und Mengis in diesem Band), als epistemisches Werkzeug im Denkprozess (Krämer 2009; Krämer und Bredekamp 2003), als visuelle Argumente (Mersch 2006; Pörksen 1997) oder als Anschauungs- und Erklärungsmodell. Daneben lassen sich Infografiken und Datenvisualisierungen als Prozess definieren. Zu diesem Prozess gehört: das Sammeln und Extrahieren (Data Scraping), das Ordnen, Aggregieren, Filtern, Kombinieren, Validieren und Visualisieren von Daten. Immer neuere digitale Technologien beeinflussen dabei den Produktionsprozess wie auch das Produkt selbst. Eine Vielzahl an Blogs, Websites, Tutorials und Publikationen beschäftigen sich daher mit Softwaretools, Statistikprogrammen und Programmiersprachen für Visualisierungen, mit Data Design und Data Storytelling (u. a. Kirk 2016; Cairo 2013, 2016; Klanten und Kouznetsova 2017; Nussbaumer Knaflic 2015; Mollerup 2015; Bihanic 2015; McCandless 2012, 2014; Few 2004). Während diese Publikationen vor allem die Praxisperspektive wiedergeben, will dieser Beitrag eine Forschungsperspektive einnehmen. Zu Beginn werden die definitorischen Grundlagen dargestellt. Anschließend wird der Blick auf die Geschichte von Infografik und Datenvisualisierung gelenkt, denn um Kommunikationsphänomene zu verstehen, bedarf es auch einer historischen Verortung. Die wesentliche Leistung des Beitrags liegt darin, Infografik und Datenvisualisierung in ihren verschiedenen Forschungskontexten zu beleuchten. Das Fazit fasst die wichtigsten Erkenntnisse des Beitrags zusammen und gibt einen Ausblick auf zukünftige Forschungsthemen.

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Definition von Infografik und Datenvisualisierung

Der Titel des Beitrags legt bereits nahe, dass Datenvisualisierung und Infografik etwas gemeinsam haben müssen. In der Tat werden in der Literatur oft beide Begriffe synonym verwendet; oder es wird bewusst auf eine Definition verzichtet, wie etwa bei Alberto Cairo. Seinen Definitionsversuch von 2014 – nämlich, dass Infografiken

Infografiken und Datenvisualisierungen

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eher erklären, während Datenvisualisierungen sich zum Explorieren eignen (Cairo 2014) – relativierte er etwas später, indem er zu dem Schluss kommt, dass es schwierig sei, eine Grafik als Infografik oder als Datenvisualisierung einzuordnen, denn jede Grafik visualisiere Informationen und erlaube einen gewissen Grad an Exploration (Cairo 2016, S. 40). Für die praktische Arbeit mag eine Differenzierung der Begriffe nicht entscheidend sein, zumal die Grenzen zwischen Infografik und Datenvisualisierung zunehmend verwischen. Gleichwohl sind beide Begriffe in Wissenschaft und Praxis etabliert und verdienen einen differenzierteren Blick. Es ist Aufgabe der Visuellen Kommunikationsforschung, Definitionen zu erarbeiten, um visuelle Artefakte besser zu begreifen, und dieser Aufgabe wollen wir im Folgenden nachkommen. Im Zeitalter des digitalen Wandels ist der Begriff der Datenvisualisierung wesentlich präsenter als jener der Infografik. Datenjournalismus und Data Science sind relativ junge Berufsfelder, die mit der Digitalisierung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Infografiken werden dagegen oft – traditionell bedingt – dem Printbereich zugeordnet, was sich so aber nicht mehr argumentativ halten lässt. So wird zum Beispiel die renommierte Auszeichnung für Infografiken, der Malofiej Award, mittlerweile für Infografiken und Datenvisualisierungen vergeben, und zwar sowohl für statische als auch für interaktive Werke. Michael Friendly definiert Datenvisualisierung als „the science of visual representation of ‚data‘, defined as information which has been abstracted in some schematic form, including attributes or variables for the units of information“ (Friendly 2009, S. 2); im Fokus stehen hier vor allem Visualisierungen quantitativer (numerischer) und kategorialer Daten: statistische Grafiken und thematische Karten. Ähnlich, wenn auch etwas allgemeiner, beschreibt Kirk Datenvisualisierung als „representation and presentation of data to facilitate understanding“ (Kirk 2016, S. 19). Zum besseren Verständnis beitragen wollen auch Infografiken. Der Unterschied zwischen Datenvisualisierung und Infografik liegt darin, dass Datenvisualisierungen auf Datensätzen beruhen und diese sichtbar machen (siehe Abb. 1), während Infografiken auch einfach nur ein Objekt abbilden und dieses erklären können, z. B. die Komponenten eines energieeffizienten Hauses, die Struktur eines Virus oder den Ablauf einer Parlamentswahl (siehe Abb. 2). Oft laufen Infografiken daher unter dem Label „Erklärgrafik“ (explanation graphic, Kirk 2016, S. 47). Mit Bezug auf die Multimodalität von Infografiken definieren Weber und Wenzel interaktive Infografiken als eine „visuelle Repräsentation von Informationen, die mehrere Modi (mindestens zwei), wie z. B. Bild/Bewegtbild, gesprochene oder geschriebene Sprache, Ton, Layout etc., wovon der Bildmodus konstitutiv ist, zu einem kohärenten Ganzen integriert und dafür dem Nutzer mindestens eine Steuerungsoption bietet; ihre kommunikative Funktion liegt vor allem darin zu informieren“ (Weber und Wenzel 2013, S. 21). Meirelles fasst es so zusammen: „In a nutshell, infographics stand for visual displays in which graphics (illustrations, symbols, maps, diagrams, etc.) together with verbal language communicate information that would not be possible otherwise.“ (Meirelles 2013, S. 11) Infografiken können also neben Fotos, Illustrationen, Piktogrammen und Texten auch Datenvisualisierungen enthalten (z. B. Linien- oder Balkendiagramme; siehe Abb. 3). Vor allem um diese Variante von Infografik geht es in diesem Beitrag.

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Abb. 1 Ausschnitt aus einer Reihe von Datenvisualisierungen zur Bundestagswahl 2017. Die Streudiagramme (Scatterplots) zeigen, wie die Arbeitslosenquote mit dem Stimmenanteil für die jeweiligen Parteien korreliert. (Quelle: NZZ Storytelling 25.09.2017. Autorenteam: L. Baumgartner, A. Kohler, M.-J. Kolly, B. Rittmeyer. https://www.nzz.ch/international/wie-einkommen-arbeitslosigkeit-undmigration-das-wahlverhalten-mitbestimmen-ld.1318290)

Der Begriff Datenvisualisierung wird zudem immer wieder synonym verwendet zu Informationsvisualisierung. Der sehr weit gefasste Begriff der Informationsvisualisierung wird jedoch mit dem Aufkommen von Computergrafiken und Softwarevisualisierungen auf softwarebasierte Visualisierungen von numerischen, relationalen und textuellen Datensätzen verengt, z. B. Graphen als komplexe Netzwerk- oder Baumstrukturen (Friendly 2009; Chen 2006; Keller und Tergan 2005; Bederson und Sheiderman 2003; Card et al. 1999). Munzner (2015, S. 1) definiert Informationsvisualisierung wie folgt: „Computer-based visualization systems provide visual representations of datasets designed to help people carry out tasks more effectively.“ In ihrem Buch „Visualization Analysis & Design“ (2015) stellt sie ein detailliertes Analyseraster für Informationsvisualisierungen vor, das sich auch auf Datenvisualisierungen anwenden lässt. Neben Munzners Standardwerk gibt es eine Vielzahl an weiteren Publikationen in dem Forschungsgebiet Informationsvisualisierung, die genauso relevant für Datenvisualisierungen sind (u. a. Börner und Polley 2014; Ward et al. 2010; Chen 2006, 2010; Bederson und Sheiderman 2003; Ware 2000; Card et al. 1999).

Infografiken und Datenvisualisierungen

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Abb. 2 Ausschnitt aus einer mehrteiligen Infografik, die erklärt, wie in Frankreich die Nationalversammlung gewählt wird. (Quelle: Spiegel online 11.06.2017. Grafiken: Anna van Hove. http://www. spiegel.de/politik/ausland/frankreich-so-wird-die-nationalversammlung-gewaehlt-a-1150058.html)

In der Kommunikations- und Medienwissenschaft haben sich vor allem die Begriffe Infografik und Datenvisualisierung etabliert. Daher wird in diesem Beitrag der Begriff Informationsvisualisierung nicht weiterverwendet, gleichwohl wissend um ihre inhaltlichen Überschneidungen. Wenn im Folgenden von Visualisierungen die Rede ist, so sind damit Infografiken und Datenvisualisierungen gemeint. Einfacher als Infografik und Datenvisualisierung voneinander abzugrenzen, ist es, ihre Gemeinsamkeiten zu benennen. a) Obwohl Infografik und Datenvisualisierung hybride Artefakte sind und visuelle wie auch textuelle Anteile aufweisen, haben sie vor allem ikonischen Charakter, wobei der Grad an Ikonizität stark variieren kann. Ein bis jetzt wenig erforschter Aspekt ist die Anwendung visueller Tropen in Datenvisualisierungen, z. B. sternförmige Anordnungen, zytologische Strukturen oder florale Muster. Anschauliche Beispiele für visuelle Metaphern finden sich in „Knowledge is Beautiful“ und „Information is Beautiful“ (McCandless 2012, 2014), „Visual Complexity.

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Abb. 3 Ausschnitt aus einer Infografik kombiniert mit Datenvisualisierungen zum Thema Spanien – Katalonien: „Der iberische Bruderkampf in zehn Vergleichen“. (Quelle: Tagesanzeiger 10.10.2017. Autorenteam: M. Lutz und M. Brupbacher (beide Interaktiv-Team), M. Rüegg, V. Capodici. https:// interaktiv.tagesanzeiger.ch/2017/katalonien-vs-spanien/?openincontroller)

Infografiken und Datenvisualisierungen

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Mapping Patterns of Information“ (Lima 2011) und das Projekt „Dear Data“ (Lupi und Posavec 2016). b) Infografiken und Datenvisualisierungen können statisch, animiert oder interaktiv sein. Historisch gesehen waren alle Visualisierungen statisch. Mit der Digitalisierung kamen interaktive und animierte Varianten dazu. Interaktiv meint, dass der/die NutzerIn über eine Steuerungsoption, z. B. einen Start- oder Weiter-Button, die Grafik bedienen und je nach Interaktivitätsgrad auch verändern kann, z. B. über Filteroptionen oder Eingabemasken (Weber und Wenzel 2013, S. 7–13). Die animierte Variante dagegen kennzeichnet „eine lineare Abfolge von Bewegtbildern, die keine Interaktion vom Nutzer erfordert und ihm auch keine Interaktionsmöglichkeit bietet“ (Weber und Wenzel 2013, S. 12). Das „Mobile-first“-Mantra, das aktuell in den Newsrooms vorherrscht, führt dazu, dass Datenvisualisierungen tendenziell einen geringen Grad an Interaktivität aufweisen, da die Interaktionsmöglichkeiten auf einem kleinen Screen begrenzt sind (Engebretsen et al. 2018; Appelgren 2017). c) Infografiken und Datenvisualisierungen schaffen Evidenz. Sie machen augenblicklich etwas sichtbar. Gerade darin liegt ihre Stärke: visuell zu erklären, was verbal zu komplex erscheint. Doch diese Evidenz kann trügerisch sein. Denn indem eine Visualisierung etwas sichtbar macht, gibt sie vor, dass es tatsächlich so ist (siehe auch den Beitrag zu Authentizität von Krämer und Lobinger in diesem Band). Das liegt zum einen an ihrem affirmativen Charakter und ihrer „Nichtnegativität“. Im Gegensatz zur Sprache können Visualisierungen nicht „nichts zeigen“, sie können (erstmal) nicht negieren, sie können kein „Vielleicht“ darstellen, keine Unsicherheit, keine Wahrscheinlichkeit, kein Futur und keinen Konjunktiv (Heßler und Mersch 2009, S. 18–30, siehe auch den Beitrag zu zeichentheoretischen Grundlagen visueller Kommunikation von Pfurtscheller in diesem Band). Zum anderen umgibt Graphen und andere diagrammatische Formen eine Aura von Technizität, Exaktheit und Wissenschaftlichkeit (siehe auch den Beitrag zu wissenschaftlichen Bildern von Geise in diesem Band). Diese Aura suggeriert eine Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit der gemachten Aussage (Tal und Wansink 2016) und einen gewissen Grad an Objektivität (Kennedy et al. 2016). Trotz ihrer wissenschaftlichen Aura und Nüchternheit darf aber nicht übersehen werden, dass Infografiken und Datenvisualisierungen Artefakte sind und daher immer ästhetischen Interpretationen, stilistischen Vorlieben und redaktionellen Machbarkeiten unterliegen. d) Der kommunikative Zweck von Infografik und Datenvisualisierung liegt im Informieren mit dem Ziel der Erkenntnisgewinnung. Angelehnt an Brinkers Grundformen der Themenentfaltung (2005, S. 65–87) kann man auf verschiedene Weise informieren: deskriptiv, explikativ, argumentativ und narrativ. Das Deskriptive bei Visualisierungen – und darin begründet sich ihr deiktischer Charakter (Boehm 2007) – liegt im Zeigen von Informationen, Fakten oder Ereignissen. Die explikative Themenentfaltung findet sich vor allem in Visualisierungen, die einen Sachverhalt erklären (Erklärgrafik, Erklärvideo). Zudem werden Diagramme und Graphen oft als visuelle Argumente in einer textuellen Argumentationsstruktur eingebunden. Die narrative Form scheint mit dem Begriff „Data Stories“ im Kontext von Datenjournalismus besonders prominent

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vertreten. Gleichwohl muss hier kritisch hinterfragt werden, inwieweit „Story“ wirklich im Sinne von Narration verwendet wird. Im journalistischen Kontext ist Story anders konnotiert als in der Narratologie. Eine „Story“ kann im Redaktionsjargon gleichbedeutend sein mit Nachricht, Information, Bericht, Schilderung. Mit „Data Stories“ können daher auch andere sprachliche Praktiken gemeint sein, wie Erklären und Argumentieren (Weber et al. 2018). Wenn es darum geht, Daten in Storys zu transformieren, so eignen sich dafür Timelines und Zeitreihendiagramme, da sie eine lineare Abfolge von Erzählpunkten beinhalten (Brehmer et al. 2016); Visualisierungen, die ähnlich wie Slideshows aufgebaut sind oder animierte Elemente beinhalten, können ebenfalls narrativ sein. Segel und Heer (2010) verorten das Verhältnis von Narrativität und Visualisierung auf der Produktions-Rezeptions-Ebene und sprechen von „author-driven“ und „reader-driven stories“, was in eine ähnliche Richtung zielt wie die Unterscheidung von „explanatory“ und „exploratory“ (Thudt et al. 2018; S. 59–84; Kirk 2016, S. 77–80). Hier geht es darum, ob die Botschaft, die in den Daten steckt, erzählt oder erklärt wird (author-driven, explanatory) z. B. in einer sequenziellen Folge aus Textmodulen und Grafiken – optimiert für das vertikale Scrollen auf dem Smartphone-Bildschirm; oder ob die Visualisierung als Analysetool präsentiert wird, sodass die User den Datensatz selbst explorieren können (reader-driven, exploratory). Natürlich kommen in den konkreten Artefakten Kombinationen und Varianten dieser beiden Typen vor (Weber 2013, S. 25–37). Wenn Bounegru et al. (2017) explorativen Datenvisualisierungen wie beispielsweise Netzwerkdiagrammen narratives Potenzial zusprechen, so meinen sie damit unter Bezug auf Ryan (2004), dass nicht die Visualisierung an sich narrative Strukturen haben muss, sondern, dass es genügt, wenn die Visualisierung ein narratives Skript im Kopf des Rezipienten bzw. der Rezipientin auslöst. Mit den genannten Merkmalen sind Infografiken und Datenvisualisierungen längst nicht vollständig beschrieben. Die beiden folgenden Kapitel zu historischen und multidisziplinären Kontexten greifen diese Merkmale wieder auf und vertiefen sie aus verschiedenen Blickwinkeln.

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Karten, Kreise, Timelines – eine historische Perspektive

Seit der Antike wurden Daten und Informationen gestaltet – in Form gebracht, um zu informieren (u. a. Hartmann 2008; Friendly 2008). Friendly und Denis (2001) haben die Geschichte der Datenvisualisierung in ihrem Projekt „Milestones in the history of thematic cartography, statistical graphics, and data visualization“ detailliert dokumentiert: von den ersten Weltkarten (siehe Abb. 4) bis in die heutige Zeit. Der englische Wissenschaftler Joseph Priestley gilt als Erfinder der Zeitleiste (Zeitstrahl, Timeline). Er publizierte 1765 eine Zeittafel, die die Lebensspanne von berühmten Persönlichkeiten visualisiert; 1769 folgte im gleichen Stil „A New Chart of History“ (siehe Abb. 5). Seine Zeittafeln wurden schnell populär, vielfach kopiert und

Infografiken und Datenvisualisierungen

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Abb. 4 Eine mögliche Rekonstruktion von Anaximanders Weltkarte (ca. 550 v. Chr.); es existiert keine Überlieferung der Karte (Couprie 2011, S. 79–86). (Quelle: https://commons. wikimedia.org/wiki/File: Anaximander_world_map-en. svg)

adaptiert. Für Rosenberg und Grafton (2010, S. 122) entfalteten sie genau die Wirkkraft, die man Infografiken und Datenvisualisierungen zuspricht: nämlich als Werkzeug, um den Geist über die Sinne anzusprechen; im Gegensatz zu den damals üblichen Chronologiebüchern, die viel Denkarbeit erforderten, habe „A New Chart of History“ das Gefühl vermittelt, Geschichte in Aktion zu sehen. Priestleys Werk beeinflusste auch den schottischen Ökonomen und Ingenieur William Playfair. Er gilt als der Erfinder der Diagramme, wie sie heute am bekanntesten sind: Kreis- bzw. Tortendiagramme, Balken- und Liniendiagramme (siehe Abb. 6). Als Meisterstücke in der Geschichte der Datenvisualisierungen gelten die Grafiken des französischen Ingenieurs Charles Joseph Minard. In seiner berühmten „Carte Figurative des pertes successives en hommes de l’Armée Française dans la campagne de Russie 1812–1813“ hat er das Schicksal von Napoleons Armee in Russland visualisiert (siehe Abb. 7). Der Marsch der Grand Armée wird durch ein immer dünner werdendes flächiges Band dargestellt, das proportional die Truppenstärke visualisiert, ein sogenanntes Sankey-Diagramm. Implizit wird damit auch die Leserichtung vorgegeben. Quantitative Daten korrelieren hier mit geografischen Daten (Orte, Flüsse), zeitlichen (Datumsangaben) und historischen Daten (Temperaturen). Tufte lobte Minards Gafik als „excellent space-time-story graphic“ (Tufte 1983, S. 40). Der Begriff „Story“ zielt hier auf das narrative Element der Grafik ab: Das Ereignis, nämlich der Russlandfeldzug, wird in seiner räumlichen und zeitlichen Erstreckung abgebildet. Zudem wird eine Zustandsveränderung visualisiert: die disproportionale Truppenstärke zu Beginn und am Ende des Feldzugs, dargestellt durch die Veränderung in der Farbe und Breite des Bandes. Darin liegt auch der Evidenzcharakter der Grafik, die sich zudem als „abgekürzte Form eines Arguments“ lesen lässt (Pörksen 1997, S. 186).

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Abb. 5 „A New Chart of History“– Zeittafel von Joseph Priestley, veröffentlicht 1769. (Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/A_New_Chart_of_History#/media/File:A_New_Chart_of_History_ color.jpg) Abb. 6 Kreisdiagramm aus William Playfairs „Statistical Breviary“ (1801). Es zeigt die Anteile des Osmanischen Reiches bezüglich Asien, Europa und Afrika vor 1789. (Quelle: http://de.wikipedia. org/wiki/William_ Playfair#mediaviewer/File: Playfair-piechart.jpg)

Ein weiteres viel zitiertes historisches Beispiel – vor allem im Kontext von Epidemiologie, Kartografie und Datenjournalismus – ist John Snows Cholera-Karte. Der Arzt John Snow visualisierte darin seine gesammelten Daten zum CholeraAusbruch in London im Jahr 1854: jeder Balken symbolisiert einen Cholera-Toten (siehe Abb. 8). Snows Karte, die das Verbreitungsmuster der Seuche zeigt, überzeugte letztendlich die Behörden davon, dass verunreinigtes Wasser und nicht – wie

Infografiken und Datenvisualisierungen

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Abb. 7 Charles Minard: „Carte figurative des pertes successives en hommes de l’Armée Française dans la campagne de Russie 1812–1813“. Datum der Grafik: 20.11.1869. (Quelle: http://commons. wikimedia.org/wiki/File:Minard.png)

man damals glaubte – Luft der Infektionsherd für die Cholera war. Die Karte war Argument und Intervention gegen die damals gängigen kulturellen und wissenschaftlichen Vorstellungen von Krankheitsursachen; sie war eine Aufforderung, gesellschaftlich verankerte diskursive Muster zu überdenken, und sie war ein Plädoyer für eine grundlegende Verbesserung der hygienischen Standards. Heute beschäftigen sich verschiedene Disziplinen mit Infografiken und Datenvisualisierungen, erforschen ihre visuelle Sprache, entwickeln multimodale Analyseansätze, beschreiben Ordnungsprinzipien und untersuchen kognitionspsychologische Aspekte. Darum soll es im Folgenden gehen.

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Multidisziplinäre Forschungsperspektiven

Infografiken und Datenvisualisierungen sind Forschungsgegenstand von u. a. Kommunikations- und Medienwissenschaft, Informationsdesign, Linguistik, Kunst- und Bildwissenschaft, Philosophie und Digital Humanities, Wahrnehmungspsychologie und Kognitionswissenschaft, Geografie und Kartografie, Statistik und Sozialwissenschaften, Informatik und Computervisualistik. Daher soll in den folgenden Abschnitten ein multidisziplinärer Rahmen aufgespannt werden, der aktuelle Forschungsansätze und -beiträge zu Infografiken und Datenvisualisierungen beinhaltet, und zwar aus den Bereichen: Kartografie (Abschn. 4.1), Informationsdesign (Abschn. 4.2), Wahrnehmungspsychologie und Kognitionswissenschaft (Abschn. 4.3), Diagrammatik (Abschn. 4.4), Statistik (Abschn. 4.5), Angewandte Linguistik (Abschn. 4.6) und Journalismus (Abschn. 4.7). Die Semiotik liefert für verschiedene Disziplinen das theoretische Fundament. Die vorgestellten Forschungsbeiträge adressieren zugleich die drei Ebenen der visuellen Kommunikationsforschung: Produktion, Produkt und Wirkung bzw. Rezeption (Müller und Geise 2015, S. 15–17).

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0 X Pump

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Yards

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Deaths From cholera

Abb. 8 John Snows Cholera-Karte von 1854. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/John_Snow_ (Mediziner)#/media/File:Snow-cholera-map.jpg)

4.1

Graphische Semiologie1 und visuelle Variablen

Will man Infografiken und Datenvisualisierungen als Artefakte untersuchen, so stellt sich die Frage nach deren visueller Sprache, die sich von der von Bildtypen2 wie etwa Gemälden, Fotos oder Comiczeichnungen deutlich unterscheidet. Die Grundlagen für eine solche visuelle Sprache schuf der französische Kartograf Jaques Bertin mit seinem Werk „Sémiologie graphique“ (1967). Er entwirft darin eine Theorie zur Graphisch vs. grafisch: Im Zusammenhang mit Bertins Werk wird die Schreibweise mit „ph“ beibehalten. 2 Mitchell (2008, S. 20 ff.) unterscheidet folgende Bildtypen: grafisch (z. B. Gemälde, Zeichnungen), optisch (z. B. Spiegel, Projektionen), perzeptuell (z. B. Sinnesdaten, Erscheinungen), geistig (z. B. Träume, Erinnerungen, Ideen) und sprachlich (Metaphern, Beschreibungen). 1

Infografiken und Datenvisualisierungen

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Visualisierung von Daten und legte den Grundstein für eine Semiotik der Diagramme, Netzwerke und Karten. Danach verfügt das graphische Zeichensystem über acht Variablen. Das sind zum einen die zwei Dimensionen der Ebene mit ihren Basiseinheiten Punkt, Linie und Fläche; zum anderen sind es die sechs Variablen, mit denen Punkt, Linie und Fläche ausgestaltet werden können, nämlich Größe, Form, Tonwert, Farbe, Richtung und Muster (siehe Abb. 9; siehe auch den Beitrag von Gamper und Schönhuth in diesem Band). Ein gestaltloser Fleck kann demnach beispielsweise in Größe, Form und Richtung variieren. Mit Größe lässt sich Quantität ausdrücken, eine Rangfolge kann durch Tonwerte visualisiert werden, während die Variable Farbe Struktur verleiht und Wiedererkennen ermöglicht. Bertins Theorie basiert auf der Annahme, dass RezipientInnen in Visualisierungen nur Gleichheiten, Unterschiede und Ähnlichkeiten wahrnehmen können. Daher beinhaltet seine graphische Semiologie auch Konstruktionsregeln, die die Auswahl und Kombination der Variablen regeln – mit dem Ziel, die prägnanteste Darstellung zu erzeugen. Das graphische Bild definiert er folglich als „visuell erfaßbare, bedeutungstragende Form, die mit einem Minimum an Zeitaufwand wahrgenommen werden kann“ (Bertin 1974, S. 19). Um etwas mit einem minimalen Zeitaufwand erfassen zu können, müsse es prägnant dargestellt sein. Und prägnant ist ein graphisches Bild nach Bertin dann, „wenn eine Konstruktion zur richtigen und vollständigen Beantwortung einer gestellten Frage unter sonst gleichen Voraussetzungen eine kürzere Betrachtungszeit erfordert als eine andere Konstruktion (. . .)“ (Bertin 1974, S. 147). Epistemologisch gesehen sind für Bertin graphische Bilder mehr als nur Illustration; sie sind aufgrund ihrer Handlichkeit Forschungsinstrumente und „Instrumente zur Weiterverarbeitung der Information“ (Bertin 1974, S. 11). Bertins Semiologie gilt als wegweisendes Standardwerk für die Erforschung von Datenvisualisierungen. Engelhardt (2006, 2007) knüpft an Bertin an, wenn er syntaktische Strukturen in Grafiken beschreibt. Eine Vielzahl von ForscherInnen, vor allem aus den Bereichen Informationsvisualisierung und Geovisualisierung, haben weitere visuelle Variablen entwickelt, wie etwa Oberfläche und Volumen in Bezug auf dreidimensionale Räume oder Bewegung mit den Subvariablen Geschwindigkeit, Richtung, Flimmern, Rhythmus, Synchronisation, Perspektive

Größe

Farbe

Form

Richtung

Tonwert

Muster

Abb. 9 Visuelle Variablen nach Bertin. (Quelle: eigene Darstellung)

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und Höhe (Andrienko und Andrienko 2006; Carpendale 2003; MacEachren 1995). Halik (2012) gibt einen Überblick über die visuellen Variablen, wie sie in den letzten fünfzig Jahren beschrieben wurden.

4.2

Informationsdesign und visuelle Sprache

Mit der visuellen Sprache von Infografiken und Datenvisualisierungen beschäftigte sich auch Robert E. Horn. In seinem Buch „Visual Language“ (1998) definiert er visuelle Sprache als „integration of words, images, and shapes“ (Horn 1998, S. 11). Wörter, Bilder und Formen (z. B. Punkte, Linien) sind für ihn die morphologischen Einheiten einer visuellen Sprache, die kombiniert mit Bertins Variablen eine visuelle Syntax ergeben. Neben Syntax beschreibt er ausführlich die Semantik der visuellen Sprache: „how meaning arises in visual language“ (1998, S. 93–158). So visualisieren beispielsweise Pfeile als visuelle Metapher eine zeitliche Sequenz, eine Transformation oder eine Bewegung, während Linien für Verbindungen und Netzwerkstrukturen stehen oder auf Teile eines Ganzen verweisen. Die zentralen Fragen, die sich wie ein roter Faden durch sein Buch ziehen, sind: „What do visual elements perform best? What do words do best?“ (Horn 1998, S. 159) und „What are other rhetorical functions such as navigation, organization, or influence?“ (Horn 1998, S. 159–200). Horn geht auch auf die Pragmatik der visuellen Sprache ein: auf den sozialen Kontext, in dem die visuelle Sprache als Kommunikationsinstrument eingesetzt wird, auf Wahrnehmungsaspekte wie Leserichtung und Blickführung und auf „Good Practice“-Kriterien (1998, S. 201–238). Sein Buch lässt sich der Disziplin Informationsdesign zuordnen, er selbst bringt diesen Begriff ins Spiel (1999). Ein anderer Pionier auf dem Gebiet Informationsdesign ist Edward R. Tufte. In seinen Werken (Tufte 1983, 1997, 2006) veranschaulicht er Gestaltungskriterien für quantitative Daten in Kombination mit Text und Bild. Ein Beispiel sind seine minimierten Liniendiagramme, sogenannten „Sparklines“ (Tufte 2006, S. 48–63); es sind wortgroße Grafiken, denen die x- und y-Achse fehlt und die einfach in den Lauftext oder eine Tabelle eingebettet werden können, oft zu sehen bei Börsenberichten. „Of course the wordlike qualities of sparklines create the wonderful possibility of writing with data graphics“ (Tufte 2006, S. 49). Ein anderes Beispiel sind die sog. „Small Multiples“: kleine, aneinandergereihte, ähnlich gestaltete Grafiken, die es ermöglichen, Daten aus dem gleichen Datensatz leicht zu vergleichen (siehe Abb. 1). Viel zitiert ist auch sein Begriff „Chartjunk“. Damit bezeichnet Tufte all jene Elemente einer Visualisierung, die nicht zum besseren Verständnis beitragen und daher vermieden werden sollten (Tufte 1983, S. 106–121).

4.3

Gestalt und Wahrnehmung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten die Psychologen Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka die sogenannten Gestaltgesetze. Die Gestaltgesetze sind Ordnungsprinzipien, die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Wahrneh-

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mung beschreiben, also wie wir visuelle Elemente und Formen wahrnehmen, ordnen und zu Einheiten oder einem einheitlichen Ganzen organisieren (Ware 2000, S. 201–240) – im Sinne von Koffkas „Das Ganze ist anders als die Summe seiner Teile“ (Koffka 1935, S. 176). Einige wichtige Gestaltgesetze sind: • Das Gesetz der Nähe: Elemente, die nah beieinanderliegen, nehmen wir als Gruppe und daher als zusammengehörend wahr. • Das Gesetz der Ähnlichkeit: Was ähnlich aussieht, z. B. aufgrund von Form, Farbe, Größe oder Helligkeit wird als zusammengehörend wahrgenommen. • Das Gesetz der Geschlossenheit: Elemente, die durch Linien (z. B. Quadrate oder Kreise) umschlossen werden, werden als zusammengehörend wahrgenommen. • Das Gesetz der guten Fortsetzung: Elemente, die auf einer Linie angeordnet sind, also eine Kontinuität haben, werden als zusammengehörend wahrgenommen. • Figur und Grund: Wir neigen wahrnehmungsmäßig dazu, optische Eindrücke in Figur (Vordergrund) und Grund (Hintergrund) zu unterteilen. Ware (2000) beruft sich auf diese Gestaltgesetze, wenn er Visualisierungen aus wahrnehmungspsychologischer Perspektive beschreibt. Er verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse über visuelle Wahrnehmung mit Designregeln, um so Empfehlungen für effektive Visualisierungen abzuleiten. Nach Ware sind die Gestaltgesetze sowie weitere Gestaltungsprinzipien (etwa in Bezug auf Kontur oder Bewegung) entscheidend dafür, ob wir visuelle Repräsentationen als sinnvolle Einheit wahrnehmen und ob wir Muster erkennen: „Seeing a pattern can often lead to a key insight, and this is the most compelling reason for visualization.“ (Ware 2000, S. 201). Studien zur Wahrnehmung und Informationsverarbeitung von gedruckten Infografiken führten Holsanova et al. (2009) durch. Mittels Eyetracking untersuchten sie den Einfluss des Layouts, also der Anordnung von Text und Grafik, auf Blickbewegungen und Lesepfade sowie auf die Informationsaufnahme und -verarbeitung. Ausgehend von Mayers „Cognitive Theory of Multimedia Learning“ (Mayer 2005) testeten Holsanova et al. (2009) verschiedene Layout-Versionen und kamen zum Ergebnis, dass die Inhalte einer Infografik besser aufgenommen und verarbeitet werden, wenn Text und Grafik eng miteinander verzahnt sind („integrated format“) und sequenziell („serial format“) präsentiert werden. Burmester et al. (2013, S. 105–131) beschreiben mögliche Probleme bei der Rezeption und Nutzung von interaktiven Infografiken basierend auf Tests mit 99 repräsentativen ProbandInnen, die 23 heterogen ausgewählte interaktive Infografiken genutzt hatten. Auch die Disziplinen Informationsvisualisierung und Geovisualisierung erforschen perzeptive und kognitive Aspekte bei Visualisierungen (u. a. Montello et al. 2018; Michal und Franconeri 2017; Majooni et al. 2017; Haroz et al. 2016).

4.4

Diagrammatik und visuelle Evidenz

Im Kontext des „Iconic Turn“ (Boehm 1994; Mitchell 1994) und der zunehmenden Daten- und Informationsflut hat auch das Interesse an der Diagrammatik als eigen-

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ständigem Forschungsfeld stark zugenommen (u. a. Schneider et al. 2016; SchmidtBurkhardt 2012; Bender und Marrinan 2010; Bauer und Ernst 2010; Krämer 2009; Stjernfelt 2007; Boehm 2007; Mersch 2006; Bogen 2005). Gegenstand der Diagrammatik sind Diagramme oder diagrammatische Bilder, also abstrakte visuelle Repräsentation von Daten, (numerischen und nicht-numerischen) Informationen und Relationen. Darunter fallen disparate Formen wie Schaubilder, Tortendiagramme, Gantt-Diagramme, euklidische Figuren, Bedienungsanleitungen und eben auch Datenvisualisierungen und Infografiken (Schneider et al. 2016, S. 9). Semiotisch betrachtet stellt sich die Frage: Wo lassen sich solche grafischen TextBild-Kombinationen einordnen? Die Begriffe Grafik und Visualisierung legen nahe, dass es ikonische Zeichen sind. Sachs-Hombach und Schirra sprechen von „Strukturbildern“ (Sachs-Hombach und Schirra 2011, S. 98) und grenzen diese Bilder von jenen ab, bei denen das Bild dem Abgebildeten visuell mehr oder weniger ähnelt. Für den Semiotiker Charles S. Peirce, der ein Konzept der Diagrammatik entwarf, zählen auch Diagramme und Karten zu den ikonischen Zeichen (Peirce 1983, 1991) – also zu solchen Zeichen, die Ähnlichkeit aufweisen mit dem Objekt, auf das sie sich beziehen. Diese Ähnlichkeit ist bei Diagrammen und Karten modellhaft im Sinne einer Strukturähnlichkeit. „Being an icon, the diagram is characterized by its similarity to its object – but while the image represents its object through simple qualities and the metaphor represents it through a similarity found in something else, the diagram represents it through a skeleton-like sketch of relations“ (Stjernfelt 2007, S. 90). Bauer und Ernst (2010, S. 42) weisen darauf hin, dass es bei Ikonizität nicht um ein Identitätsverhältnis zwischen Zeichen und Objekt geht, sondern um eine „Skalierung des Differenzverhältnisses zwischen Zeichen und Objekt“, um einen „Spielraum“ und um eine „ästhetische Konfiguration“. Daher können Visualisierungen auch nicht als objektive Darstellungen gelten, denn es schwingen immer Interpretationen des Designers, der Designerin oder des Produktionsteams mit. Erst das Zusammenspiel von verschiedenen semiotischen Ressourcen, wie z. B. Formen, Farben, Texten, Illustrationen macht die eigentliche Qualität von Diagrammen aus: nämlich ihren epistemischen Wert als Explorations- und Analysetool, als mentales Werkzeug für Gedankenexperimente zwecks Erkenntnisgewinn sowie als Instrument zur Wissenserweiterung. Folglich gelten Diagramme „als Idealform visueller Evidenz und Anschaulichkeit“ (Ernst et al. 2016, S. 9), deren epistemisches Potenzial sich im Denken und Handeln und in ihrer praktischen Verwendung als Gebrauchsbild begründet.

4.5

Bildstatistik und Graphicacy

Visualisierungen zur Erkenntnisgewinnung zu nutzen war auch die Grundidee von Otto Neurath, als er in den 1920er-Jahren die Wiener Methode der Bildstatistik ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education) entwickelte. Darunter verstand er ein System aus bildhaften schematisierten Visualisierungen, nämlich Piktogrammen, die Datenmengen darstellen. Piktogramme sind auch heute noch ein häufig verwendetes Element zur Datenvisualisierung (siehe Abb. 10).

Infografiken und Datenvisualisierungen

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Abb. 10 Otto Neurath: Deutsche Städte im 15. Jahrhundert. Jede Figur repräsentiert 10.000 Einwohner. (Quelle: Neurath (1930))

Neurath gruppierte die Piktogramme so, dass sie in zwei Richtungen, meist von links nach rechts und von oben nach unten, gelesen werden konnten (Hartmann 2008, S. 43). Gestaltungsregeln definierten Farbe, Größe, Kontur, Form und Anordnung der Piktogramme. So repräsentieren gleich große Piktogramme auch den gleichen Datenwert; die Kombination oder Wiederholung von Piktogrammen ermöglicht es, größere Mengen oder Einheiten abzubilden. Trotz ihres schematischen und reduzierten Aussehens sollten die Piktogramme ein hohes Maß an Ikonizität aufweisen, um intuitiv und international verständlich zu sein. Mit seiner ISOTYPE-Bildsprache wollte Neurath soziale und ökonomische Fakten und statistische Informationen beispielsweise über Handelsströme oder Bevölkerungswachstum auf möglichst einfache und anschauliche Weise vermitteln. Neurath verstand seine Bildvisualisierungen als visuelle Erziehung im Sinne von Graphicacy. Graphicacy ist ein Teil von Visual Literacy. Balchin (1972) versteht unter Graphicacy die intellektuelle Fähigkeit, Diagramme, Graphen und Karten zu lesen und zu verstehen. Auch Howard Wainer (1980, 2005, 2009) geht es um „Graphicacy“, wenn er sich mit der Wirkmächtigkeit von Statistiken bzw. ihrer grafischen Darstellung beschäftigt. Er zeigt, wie irreführend Visualisierungen sein können und wie man Fallstricke bei der Visualisierung von Daten vermeiden kann. Statistiken besser verständlich machen, die Welt mit Zahlen erklären, um eine faktenbasierte Weltsicht zu vermitteln – das wollte auch der schwedische Arzt und Statistiker Hans Rosling. Dafür entwickelte seine Stiftung die Software Gapminder – ein Open Source-Tool zur Visualisierung von globalen Statistiken über Entwicklungen in Wirtschaft, Politik und Bevölkerung (Gapminder o. J.).

352

4.6

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Angewandte Linguistik und Multimodalität

Mit ihrem Buch „Reading Images – The Grammar of Visual Design“ (1996) legten Kress und van Leeuwen den Grundstein für eine Theorie der Multimodalität, die sie mit der Sozialsemiotik verknüpften. Der multimodale Ansatz, der seine Wurzeln in der Angewandten Linguistik findet, geht davon aus, dass die Bedeutung eines Artefakts immer aus der Kombination mehrere Modi entsteht, z. B. visuelle, auditive, geschriebene, gesprochene, gestische Modi (Kress 2010; siehe dazu auch den Beitrag vom Bucher in diesem Band). Während die klassische Semiotik das Zeichen selbst in den Mittelpunkt stellt, fokussiert die Sozialsemiotik (social semiotics) auf die ZeichenbenutzerInnen im Kommunikationsprozess: also darauf, wie BenutzerInnen Zeichen bzw. Modi gestalten, verwenden und interpretieren. Danach lassen sich multimodale Artefakte wie Infografiken und Datenvisualisierungen als soziale Praktik auffassen. ZeichenbenutzerInnen – hier DesignerInnen, InfografikerInnen, DatenjournalistInnen – nutzen semiotische Modi (Bild, Text, Ton, Layout, etc.) sowie semiotische Ressourcen (z. B. Linien, Punkte, Formen, Schattierungen, Farben) auf bestimme Art und Weise und prägen so Designmuster. Solche Gestaltungspraktiken sind nach der Theorie der Sozialsemiotik historisch und kulturell geformt. Auf den sozialsemiotischen Ansatz beziehen sich Kennedy et al. (2016) in ihrer Studie „The work that visualisation conventions do“. Sie untersuchen, welchen Einfluss Designkonventionen auf die Gestaltung von Datenvisualisierungen haben. Mit Designkonventionen meinen sie zum Beispiel einen klaren Layoutstil, wie er seit den 1980er-Jahren u. a. von Tufte (1983, 1997, 2006) gefordert wird. Klares Layout, argumentieren Kennedy et al., würde Datenvisualisierungen eine Aura von Objektivität und Einfachheit verleihen. Diese Aura, so die Schlussfolgerung, stehe jedoch im Widerspruch zu der Tatsache, dass Datenvisualisierungen subjektive Züge tragen, da sie immer das Produkt eines Designprozesses sind: „Designers make choices about the data visualisations that they make in an effort to do good with data, but their choices are constrained by the conventions that are available to them, conventions which do persuasive work.“ (Kennedy et al. 2016, S. 731) Die Erkenntnisse aus ihrer Design-Analyse kontrastieren sie mit Interview-Aussagen von DesignerInnen zu ihren Visualisierungspraktiken. Damit verbinden Kennedy et al. Produktionsanalyse mit Produktanalyse. Auf Infografiken, Diagramme und Datenvisualisierungen zugeschnittene Analysemodelle, die auf den Konzepten von Multimodalität und/oder Sozialsemiotik beruhen, entwickelten u. a. Bateman et al. (2017), Ledin und Machin (2018), Weber (2013, 2017) sowie Weber und Rall (2016).

4.7

Journalismus und Datenvisualisierungen

Datenvisualisierungen spielen im Datenjournalismus die zentrale Rolle. Erst sie machen die Daten zugänglich – sei es als erster Schritt während des Produktionsprozesses, um die Daten besser zu verstehen und handhabbar zu machen, oder als Endprodukt, das für die breite Öffentlichkeit publiziert wird (siehe auch den Beitrag

Infografiken und Datenvisualisierungen

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zum journalistischen Bild von Grittmann in diesem Band). Rogers et al. (2017, S. 22) konstatieren in ihrer Studie zu aktuellen Trends im Datenjournalismus: „That data visualization has become a buzzword and something that all news organizations focus on and promote further serves to highlight the importance newsrooms have placed on using data in news stories.“ So begegnen uns im journalistischen Umfeld Datenvisualisierungen als multimodale Superzeichen, als hybride Artefakte aus Text, Fotos, Illustrationen, Karten, Graphen und Bewegtbild und neuerdings auch aus Sound (Abb. 11). Ihre Produktion erfordert Kompetenzen, die über das traditionelle journalistische Handwerk hinausgehen: Designkompetenzen, Programmierkenntnisse, Multimedia-Skills bezüglich Animation, Filmschnitt, Illustration, ein gewisses Know-how in Human-Computer Interaction und Usability, statistische, mathematische und kartografische Kenntnisse sowie die grundlegenden journalistischen Fachkompetenzen von der Recherche, Themenwahl übers Schreiben bis hin zum Redigieren und Fakten-Check. Es ist kaum vorstellbar, dass eine einzelne Person all diese Kompetenzen in sich vereint. Ein Schlüsselfaktor für den Produktionsprozess von Infografiken und Datenvisualisierungen ist daher Kollaboration. Datenvisualisierungen entstehen meist in Teamarbeit: einem Team aus JournalistInnen, DesignerInnen und ProgrammiererInnen. Was den Produktionsprozess von Datenvisualisierung angeht, so berichten Rogers et al., dass zwar die meisten Newsorganisationen die Notwendigkeit sähen, mehr Daten für die journalistische Recherche zu benutzen; gleichzeitig mangele es aber an den nötigen Kompetenzen im Umgang mit den Daten; d. h. die Datenmengen zu analysieren, filtern, auszuwerten und zu visualisieren gilt immer noch als „specialized skill“ (Rogers et al. 2017, S. 22). Oft stünden auch nicht die erforderlichen Visualisierungstools zur Verfügung. Engebretsen et al. (2018) kommen in ihrer Untersuchung zu Visualisierungspraktiken in europäischen Newsrooms zu ähnlichen Ergebnissen, betonen aber zugleich die innovative Kraft, die von solchen spezialisierten Teams ausgeht. Zudem benennen Engebretsen et al. (2018) zwei weitere Trends bezüglich Datenvisualisierungen im Newsroom: Was die Visualisie-

Abb. 11 Der Absturz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands SPD visualisiert und vertont. Die Umfragewerte der vergangenen 20 Jahre wurden in Töne umgewandelt. (Quelle: Berliner Morgenpost 01.03.2018. Autorenteam: J. Tröger, A. Pätzold, M.-L. Timcke, M. Klack, D. Wendler. https://interaktiv.morgenpost.de/spd-absturz-sound/)

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rungssoftware angeht, so kommen vermehrt eigene Inhouse-Lösungen zum Einsatz, die es auch nicht-spezialisierten JournalistInnen erlauben, einfache Datenvisualisierungen zu erstellen. Der andere Trend, nämlich das Publikationsmantra „mobile first“, hat direkten Einfluss auf die Produktgestaltung: Infografiken und Datenvisualisierungen werden weniger komplex gestaltet, weniger interaktiv und folgen oft einer sequenziellen Struktur (Engebretsen et al. 2018, S. 12). Den Wandel von Produktionspraktiken in Newsrooms untersuchen u. a. auch Stalph (2017), Young et al. (2018), Lewis und Westlund (2015), Appelgren und Nygren (2014) sowie Weber und Rall (2012). Die genannten Studien zeigen, wie Datenvisualisierungen die klassischen, textorientierten Produktionspraktiken in Newsrooms aufbrechen, infrage stellen und verändern und wie digitale Technologien – hier das Smartphone – einen unmittelbaren Einfluss auf Produktgestaltung und damit auch auf journalistische Darstellungsformen haben.

5

Fazit und Ausblick

Infografiken und Datenvisualisierungen bewegen sich in einem äußerst multidisziplinären Forschungsfeld. Daher kann der Beitrag nur einen groben Überblick über den aktuellen wissenschaftlichen und historischen Diskurs geben. Wie gezeigt werden konnte, sind Infografiken und Datenvisualisierungen aktueller Forschungsgegenstand einer Reihe von Disziplinen und Forschungsfeldern, u. a. Kommunikations- und Medienwissenschaft, Informationsdesign, Linguistik, Kunst- und Bildwissenschaft, Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie, Sozialwissenschaften, Diagrammatik, Semiotik, Philosophie, Geografie und Kartografie sowie Informatik. Der rasante Anstieg an Visualisierungen in der öffentlichen Kommunikation muss im Zusammenhang gesehen werden mit (1) dem Iconic Turn in der massenmedialen Kommunikation, (2) mit dem Zugänglichmachen und Erschließen von Open und Big Data und (3) den sich immer schneller entwickelnden digitalen Technologien. Infografiken und Datenvisualisierungen als digitale Produkte, visuelle Artefakte und multimodale Superzeichen unterliegen daher einer enormen Dynamik. Prominentes Beispiel ist das Smartphone: Visualisierungen für einen kleinen Screen zu gestalten heißt, das grafische Design zu minimalisieren, Interaktion zu reduzieren, Text und Grafik sequenziell – entsprechend der Scrollrichtung – anzuordnen sowie Usability und die Rezeptionsgewohnheiten der Zielgruppe zu berücksichtigen. Was gelungene Infografiken und Datenvisualisierungen auszeichnet, sind ihr visueller Evidenzcharakter, ihre Stärke, auf Anhieb etwas sichtbar zu machen, was sich mit Worten nur schwer beschreiben lässt, sowie ihr epistemisches Potenzial, als Denkwerkzeuge und Analysetools Erkenntnis zu fördern. Als Erklärungsmodelle können sie zudem Transparenz schaffen. Was im Beitrag nicht thematisiert wurde, sind ästhetische Aspekte, ethische Standards, die emotionale Dimension von Infografiken und Datenvisualisierungen (Kennedy und Hill 2017) und ihre Rolle im demokratischen Diskurs. Hier besteht noch Forschungsbedarf.

Infografiken und Datenvisualisierungen

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Welche digitalen Technologien zukünftig Infografiken und Datenvisualisierungen beeinflussen werden (Stichwort: Robot-Journalismus, Künstliche Intelligenz, Augmented, Mixed und Virtual Reality) und welche Implikationen das auf Produkt, Produktionsund Rezeptionsprozess sowie auf den öffentlichen Diskurs haben wird – diese Fragen verlangen nach einem Dialog zwischen den Disziplinen und nach einer transdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Praxis, Forschung und Ausbildung. Denn in einer datengetriebenen Gesellschaft gehört das Beherrschen der „graphic modes“ (Engebretsen und Weber 2018) und der visuell-numerischen Sprache (graphicacy) zu den Schlüsselkompetenzen für das Kommunizieren und Verstehen von politischen, sozialen und kulturellen Phänomenen.

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Visual Storytelling in der Kommunikationsforschung Cigdem Bozdag und Sigrid Kannengießer

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Digitales Geschichtenerzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Visuelle Aspekte im klassischen digitalen Geschichtenerzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Visuelle Aspekte digitaler Geschichten in Foren, Blogs und sozialen Netzwerkseiten . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

So wie andere Kommunikationsformen, hat das Digitale auch die Praxis des Geschichtenerzählens verändert. In diesem Beitrag skizzieren wir das Forschungsfeld, das sich mit digitalem Geschichtenerzählen beschäftigt, und arbeiten dieses in Hinblick auf visuelle Aspekte des digitalen Geschichtenerzählens auf. Dabei ziehen wir zum einen den Forschungsstand zu klassischen Formen digitaler Erzählungen, die in Workshops produziert werden, heran sowie, zum anderen, jenen zu digitalen Geschichten in Foren, Blogs und sozialen Netzwerkseiten. Schlüsselwörter

Digitales Geschichtenerzählen · Selbst-Repräsentation · Digital Storytelling Workshops · Empowerment · Visuelle Kommunikation · Voice · Internet · Soziale Netzwerke

C. Bozdag (*) New Media, Kadir Has University, Istanbul, Türkei E-Mail: [email protected] S. Kannengießer (*) ZeMKI, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_20

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C. Bozdag und S. Kannengießer

Einleitung

Geschichtenerzählen ist eine uralte menschliche Kommunikationsform und ein zentraler Gegenstand der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Eine Geschichte definieren wir hier wie folgt: „For a given audience, a story is a sequence of content, anchored on a problem, which engages that audience with emotion and meaning.“ (Alexander 2011, S. 13, Hervorhebung im Original) Geschichten werden heute vis-à-vis, in eben solcher Kommunikation, oder medial vermittelt erzählt, wobei verschiedenste Medien für das Erzählen und das Zuhören genutzt werden können. Geschichten werden in Film und Fernsehen erzählt, in Zeitschriften und Büchern, aber auch auf verschiedenen OnlinePlattformen, sozialen Netzwerkseiten, Blogs und in Foren. Durch die Etablierung digitaler Medien konstituiert sich das sogenannte digitale Geschichtenerzählen, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass digitale Medien für die Produktion und die Rezeption der Erzählungen genutzt werden. Digitale Medien bieten nicht nur neue Möglichkeiten für die Verbreitung der Geschichten, sondern auch für das Erzählen selbst. Durch Digitalkameras kann fast jede/r zur ProduzentIn von Kurzfilmen werden; in Blogs werden Fortsetzungsgeschichten verfasst und Foren bieten die Option des gemeinsamen Erzählens. Während in früheren Formen des Geschichtenerzählens das gesprochene Wort und dann die Schriftsprache im Vordergrund standen, nimmt die Bedeutung der (audio-) visuellen Aspekte im Laufe der Geschichte zu, insbesondere mit der Entwicklung digitaler Kommunikationsmedien. In digitalen Geschichten wird die Erzählung häufig nicht nur sprachlich wiedergegeben, sondern auch mittels visueller Elemente wie Fotografien oder Bewegtbildern. Gleichzeitig erreichen digitale Geschichten durch den Wandel der Kommunikationsmedien und die Etablierung von Internetmedien potenziell ein breiteres Publikum: Die Erzählungen sind durch die Etablierung technischer Medien nicht mehr an Ort und Zeit gebunden. In diesem Beitrag skizzieren wir das Forschungsfeld, das sich mit digitalem Geschichtenerzählen auseinandersetzt. Dabei setzen wir den Fokus auf die visuellen Aspekte des digitalen Geschichtenerzählens und ziehen sowohl theoretische Überlegungen als auch empirische Studien heran. In diesem Rahmen geht es nicht um u. a. professionelle Film- und Fernsehproduktionen oder Printmedien wie Comic und Graphic Novels. Im Mittelpunkt steht das Geschichtenerzählen durch nichtprofessionelle Medienproduzierende, durch ProduserInnen (Nutzende, die selbst zu Produzierenden werden, siehe Bruns 2008 und 2009) mit der Hilfe digitaler Medien. Damit beschäftigen wir uns mit jenen Formen des digitalen Geschichtenerzählens, die z. B. über Video-Plattformen verbreitet werden, sowie mit Formen des Erzählens in Foren, Blogs und sozialen Netzwerkseiten. Dabei liegt ein Fokus auf der Selbstrepräsentation der Erzählenden, denn wie die Aufarbeitung des Forschungsstandes zeigen wird, werden im wissenschaftlichen Diskurs digitale Geschichten oft als Möglichkeit der Selbstrepräsentation diskutiert. Die GeschichtenerzählerInnen präsentieren sich über Kurzfilme, in Foren und Blogs und auf sozialen Netzwerkseiten, berichten von ihren Erfahrungen, ihrer Situation, aber auch ihren Wünschen und (politischen) Forderungen. Durch diese Möglichkeit der Selbstrepräsentation in

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digitalen Geschichten und die potenziell weltweite Verbreitung dieser über Internetmedien, wird dem digitalen Geschichtenerzählen eine große gesellschaftliche Relevanz zugeschrieben: Das digitale Geschichtenerzählen ermögliche die Teilhabe an Gesellschaft und habe damit ein Demokratisierungspotenzial (siehe z. B. Carpentier 2009; Couldry 2008). Nur wenige Arbeiten beschäftigen sich explizit mit der visuellen Ebene des digitalen Geschichtenerzählens. Daher arbeiten wir im Folgenden die Relevanz des Visuellen im digitalen Geschichtenerzählen auch aus den Arbeiten heraus, in denen dieser Aspekt nur implizit vorkommt. So können wir wiederholt aufzeigen, wo das Visuelle im Diskurs um die Selbstrepräsentation in digitalen Geschichten sowie in der Diskussion um das Partizipations- und Demokratisierungspotenzial digitaler Geschichten vorkommt. Wir unterteilen den Forschungsstand in zwei Blöcke, die sich durch die Formate ihres Gegenstands unterscheiden: 1) in den Forschungsstrang, der sich mit dem sogenannten „klassischen digitalen Geschichtenerzählen“ beschäftigt bei dem Kurzfilme innerhalb eines Workshop-Formats entstehen und 2) in das Forschungsfeld, welches sich mit dem digitalen Geschichtenerzählen über Internetmedien z. B. in Foren, Blogs und sozialen Netzwerkseiten auseinandersetzt. In den vom Center for Digital Storytelling1 in Kalifornien entwickelten Workshop-Formaten produzieren die Teilnehmenden Kurzfilme mit Hilfe einfachen Equipments. Aus dem Off, erzählen sie ihre Geschichte, die Bildebene besteht aus mitgebrachten Fotos oder Bildern, geschnitten wird in Windows Movie Maker oder Apple iMovie (eine detaillierte Beschreibung des Vorgehens siehe unten). Im Folgenden werden wir das Forschungsfeld anhand der beiden Schwerpunkte strukturieren und für beide Bereiche aufzeigen, wo das Visuelle im digitalen Geschichtenerzählen an Relevanz erfährt. Abschließend werden wir die Spezifika des Geschichtenerzählens in verschiedenen digitalen Medien in Hinblick auf visuelle Aspekte herausarbeiten und vergleichen, um zu einer übergreifenden Aussage über die Bedeutung des Visuellen im digitalen Geschichtenerzählen gelangen zu können. Zunächst aber wollen wir eine Definition des digitalen Geschichtenerzählens geben und zentrale Merkmale herausarbeiten.

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Digitales Geschichtenerzählen

Digitales Geschichtenerzählen wird von Joe Lambert, einem der oft zitierten AutorInnen in diesem Bereich sowie Gründer und Leiter des Center for Digital Storytelling in Kalifornien, definiert als: „all kinds of stories in our lives that we develop into multimedia pieces“ (Lambert 2006, S. 17). Digitale Geschichten werden jedoch nicht nur durch digitale Medien produziert, sondern auch in ihnen verbreitet (Kannengießer 2014, S. 19). Diese Geschichten können sowohl kurze Videos oder Filme

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Für weitere Informationen zum Center for Digital Storytelling siehe www.storycenter.org.

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als auch in Blogeinträgen verfasste Geschichten oder Einträge auf sozialen Netzwerkseiten wie Facebook sein (Lundby 2008b, S. 3). Nick Couldry listet vier Merkmale für die Spezifik digitaler Medien auf, die die Form der Geschichten und die Erzählpraxis beeinflussen: 1) der Druck, Text mit Ton, Bewegt- oder Standbild zu kombinieren und Geschichten zu visualisieren; 2) die Anpassung bzw. Verkürzung der Geschichtendauer wegen beschränkter Dateigrößen und/oder verkürzter Aufmerksamkeitsspanne der InternetnutzerInnen; 3) eine Standardisierung der Erzählform aufgrund etablierter Formate und Erwartungshaltungen; 4) die Berücksichtigung der Verbreitung digitaler Geschichten innerhalb unerwünschter NutzerInnenkreise (Couldry 2008, S. 49, zum Einfluss des Digitalen auf die Form der Geschichten siehe auch Lundby 2008b, S. 6; Bratteteig 2008). Betrachten wir die visuellen Aspekte im digitalen Geschichtenerzählen, können wir mindestens drei relevante Punkte des Digitalen im Geschichtenerzählen ausmachen. Erstens werden digitale Geschichten mit digitalen Medien, wie Digitalkameras, Smartphones, Laptops etc., produziert. Die Verwendung digitaler Technologien impliziert oft die Verwendung visueller Elemente, wie Couldry herausarbeitet (s. o.), sodass Standbild und Bewegtbild zu zentralen Bestandteilen des Geschichtenerzählens werden. Doch auch wenn der „Druck des Visualisierens“ besteht, so gibt es weiterhin Geschichten, die nur mit Sprache erzählt werden, wie z. B. in Foren (s. u.). Durch die Verwendung digitaler Technologien wie Smartphones und Digitalkameras, können nicht-professionelle Medienproduzierende ihre Geschichten erzählen: Die Produktion wird zugänglicher für viele, die ihre Geschichten erzählen möchten, was als Partizipationsmöglichkeit oder Demokratisierungspotenzial diskutiert wird (s. o.). Zweitens wird auch die Verbreitung von Geschichten durch digitale Medien vereinfacht. Digitales Geschichtenerzählen umfasst nicht nur die Produktion einer Erzählung, sondern auch das Teilen der Geschichten (Lundby 2008b, S. 3, siehe auch den Beitrag von Lobinger und Schreiber zu Photo-Sharing in diesem Band, zum Begriff des Teilens (Sharing) in Web 2.0-Medien siehe u. a. John 2012). Das Digitale beeinflusst die Distributionskanäle und Reichweite der Geschichten. Während traditionelles orales Geschichtenerzählen ortsgebunden bleibt, verspricht die Verbreitung digitaler Geschichten durch das Internet eine potenziell globale Reichweite (Bratteteig 2008, S. 278 ff.). Doch obwohl durch die Potenziale des Internets für die Geschichtenproduktion und -verbreitung mehr Menschen an der Praxis des digitalen Geschichtenerzählen teilnehmen und ihre Geschichten mit mehr Menschen teilen können, bleibt die Reichweite durch die digitale Kluft2 immer noch eingeschränkt, da Menschen v. a. in ökonomisch weniger entwickelten Ländern oft der Zugang zu Internetmedien fehlt (Kannengießer 2014, S. 52 ff.). Drittens verändert sich auch die Narration in Geschichten durch Digitalität:

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Mit dem Begriff der digitalen Kluft wird die Ungleichheit beim Internetzugang erfasst (siehe u. a. Castells 2005, S. 262). Dabei geht es nicht nur um den fehlenden Zugang zur technischen Infrastruktur, sondern auch um fehlende kognitiven Fähigkeiten, fehlende Sprachkompetenz oder eine fehlende Motivation der Nutzenden (siehe Haseloff 2007, S. 24).

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„A story has a beginning, a middle, and a cleanly wrapped-up ending. Whether told around a campfire, read from a book, or played on a DVD, a story goes from point A to B and then C. [. . .] A story is told by one person or by a creative team to an audience that is usually quiet, even receptive. Or at least that’s what a story used to be, and that’s how a story used to be told. Today, with digital networks and social media, this pattern is changing. Stories now are open-ended, branching, hyperlinked, cross-media, participatory, exploratory and unpredictable. And they are told in new ways: Web 2.0 storytelling picks up these new types of stories and runs with them, accelerating the pace of creation and participation while revealing new directions for narratives to flow“ (Alexander und Levine 2008, S. 1).

Das Digitale beeinflusst die Merkmale der Geschichten und auch die Praxis des Erzählens. Ola Erstad und James v. Wertsch untersuchen die Veränderung des Geschichtenerzählen durch digitale Medien (Erstad und Wertsch 2008). Sie konstatieren, dass sich die Rolle von Geschichten in unserem Leben durch digitale Medien verändert. In Hinblick an ein BBC- sowie ein EU-Projekt bringen sie diese Veränderung mit dem Konzept des „Telling Lives“ auf den Punkt: „‚Telling lives‘ for us represents the expressive element of storytelling defined of the new information and communication technologies, where people tell stories about their personal lives and share these with others“ (Erstad und Wertsch 2008, S. 22). Bereits hier wird der Aspekt der Selbstrepräsentation offenbar, auf den wir wiederholt zu sprechen kommen werden. Die Kategorisierung des digitalen Geschichtenerzählens kann anhand verschiedener Aspekte erfolgen. Das Geschichtenerzählen kann fiktional oder dokumentarisch, linear oder non-linear sein, mit Schrift und/oder (Bewegt)Bild erfolgen. Mit einem Fokus auf die Potenziale digitaler Geschichten für Bildungszwecke unterscheidet Robin (2008, S. 224 f.) zwischen persönlichen Erzählungen, informativen und belehrenden Geschichten und Geschichten, die historische Ereignisse analysieren. In Anlehnung an den Begriff des Web 2.0, der eine erste und zweite Phase des Internets impliziert, unterscheidet Alexander (2011, S. 18 ff.) zwischen der ersten und zweiten Welle des digitalen Geschichtenerzählens. Mit der Etablierung digitaler Netzwerkseiten, kann man dies durch eine dritte Welle des digitalen Geschichtenerzählens ergänzen. Die erste Phase ist demnach die Pre-Web-Phase von den 1960ernbis zu den 1980ern-Jahren als die ersten Formen des digitalen Geschichtenerzählens entstanden (Alexander 2011, S. 17 f.). Mit dem WorldWideWeb beginnt die zweite Phase des digitalen Geschichtenerzählens, in der die digitalen Geschichten in dem sogenannten Web 1.0 geteilt werden (Alexander 2011, S. 21 f.). Diese webbasierten Geschichten waren komplexer und reicher in ihrem visuellen Inhalt. Mit seinem partizipatorischen Charakter markiert das Web 2.0 die dritte Phase des digitalen Geschichtenerzählens, in der Geschichten viel schneller in den sozialen Netzwerken geteilt werden und von ihren LeserInnen kommentiert werden können. Gregori-Signes und Pennock-Speck (2012, S. 1) differenzieren zwischen sozialen und pädagogischen („educational“) Formen des digitalen Geschichtenerzählens. Lundby (2008b, S. 3) unterscheidet wiederum zwischen „klassischen Formen“ des digitalen Geschichtenerzählens in Form von Kurzfilmen, die wie oben erwähnt in den 1990er-Jahren entwickelt worden sind und durch Workshops gefördert werden, und anderen Formen des digitalen Geschichtenerzählens, die in verschiedenen

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Formen der Online-Kommunikation, wie Foren, Blogs, Computerspielen, sozialen Netzwerkseiten, entstehen können. Diese Differenzierung möchten wir zunächst aufgreifen, um die visuellen Aspekte des digitalen Geschichtenerzählens im Folgenden darzustellen.

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Visuelle Aspekte im klassischen digitalen Geschichtenerzählen

Das „klassische digitale Geschichtenerzählen“ findet in Kurzfilmen statt, die in Workshops produziert werden (Dunford und Jenkins 2017b, S. 3; Lundby 2008b, S. 2). Entsprechend wird hier eine digitale Geschichte definiert: „Digital stories are short (3–5 min) autobiographical multimedia narratives in video form, combining personal photographs and/or artworks, narration voiced by participants themselves, and sometimes music“ (Vivienne und Burgess 2013, S. 203). Das Visuelle ist aufgrund der Bildebene der Kurzfilme zentral für die klassische Form des digitalen Geschichtenerzählens. Die Bedeutung des Visuellen in den digitalen Geschichten geht auch aus der Teilüberschrift eines Aufsatzes von Gubrium et al. hervor: „New ways of Seeing and Being Seen“ (2014) – digitale Geschichten bieten neue Möglichkeiten des Sehens und Gesehenwerdens. Der Begriff des digitalen Geschichtenerzählens weist darauf hin, dass nicht nur die Endprodukte des klassischen digitalen Geschichtenerzählens relevant sind, sondern vielmehr der Prozess des Erzählens selbst. Hier steht insbesondere eine Praxisform im Vordergrund, die auf Workshops basiert: „Digital storytelling’ is a workshop-based practice in which people are taught to use digital media to create short audio-video stories, usually about their own lives. [. . .] It brings a timeless form into the digital age, to give a voice to the myriad tales of everyday life as experienced by ordinary people in their own terms.“ (Hartley und McWilliam 2009b, S. 3)

Diese Workshop-Praxis wird im Rahmen des klassischen digitalen Geschichtenerzählens durchgeführt, das im Center for Digital Storytelling in Kalifornien entwickelt wurde.3 In den Workshops erzählen die Teilnehmenden zunächst in einem Geschichtenkreis („story circle“) ihre persönlichen Geschichten. Diese werden anschließend in gesprochener Form digital aufgenommen. Die Teilnehmenden bebildern schließlich die von ihnen (aus dem Off) erzählte Geschichte mit eigenen Fotos, eingescannten Bildern, Zeichnungen und Malereien oder Abbildungen aus dem Internet, die unter der Creative-Commons-Lizenz gefunden wurden (Dunford und Jenkins 2017b, S. 3). Manche Abbildungen werden noch bearbeitet. In dieser Workshop-Form des klassischen digitalen Geschichtenerzählens ist die visuelle Mittlerweile finden solche Workshops fast weltweit statt (McWilliam 2009, S. 37). Diese Kurse werden v. a. in Ausbildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten, durch Kulturinstitutionen oder gemeinnützige Organisationen sowie durch öffentliche Träger (Regierungen, öffentlich-rechtliche Medieninstitutionen) angeboten (McWilliam 2009, S. 39).

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Ebene also oftmals eine nachträgliche Bebilderung der Tonebene. Zuerst wird der Ton aufgenommen, daran anschließend werden passende Bilder gesucht (Kannengießer 2014, S. 237). Durch die Reihenfolge dieser Arbeitsschritte scheint die visuelle Ebene der Kurzfilme zunächst eine untergeordnete Rolle zu haben. In den Workshops verwenden die Produzierenden jedoch üblicherweise mehr Zeit auf die Bildherstellung, -suche und -gestaltung als auf die Bearbeitung des Tons. Dadurch gewinnt die visuelle Ebene wiederum an Relevanz im Prozess des Geschichtenerzählens. Es liegt eine Vielzahl von Forschungen zum Workshop-basierten, digitalen Geschichtenerzählen vor (siehe z. B. die Sammelbände Lundby 2008a; Hartley und McWilliam 2009a; Dunford und Jenkins 2017a). Eine Vielzahl der Arbeiten beschäftigt sich mit den Möglichkeiten des digitalen Geschichtenerzählens für Bildung (siehe z. B. Robin 2008, 2016; Kearney 2011; Gregori-Signes und Pennock-Speck 2012). Ein weiterer Schwerpunkt im Forschungsfeld liegt auf der Rolle des digitalen Geschichtenerzählens in der Entwicklungskommunikation (siehe z. B. Tacchi 2009; Reed und Hill 2010; Kannengießer 2012, 2013, 2014; Rainbird 2017). Die Vielzahl der empirischen Fallstudien zeigt, dass die Ziele der Workshops abhängig vom jeweiligen Kontext und den Teilnehmenden sind: So kann das digitale Geschichtenerzählen der Ermächtigung4 dienen, als Computerschulung stattfinden oder auch eine therapeutische Funktion haben (Thumim 2012, S. 45, 60 f.). Nancy Thumim analysiert beispielsweise Selbstrepräsentationen in verschiedenen Formaten digitaler Kultur, u. a. das BBC-Projekt für digitales Geschichtenerzählen „Capture Wales“, und stellt dabei die politische und therapeutische Funktion der Selbstrepräsentation heraus (Thumim 2012, S. 9). Viele Arbeiten zum digitalen Geschichtenerzählen betonen seine politische Funktion, indem beobachtet wird, dass die ErzählerInnen eine Stimme („Voice“) bekommen (Hartley und McWilliam 2009b, S. 5; Tacchi 2009, S. 171 ff.; Dunford 2017, S. 316 ff.) oder die Hierarchien zwischen den Stimmen in der Gesellschaft durch die Verbreitung der Geschichten verändert werde (Couldry 2008, S. 384). Dem digitalen Geschichtenerzählen wird deshalb eine Partizipationsfunktion (siehe z. B. Carpentier 2009) sowie Demokratisierungspotenzial zugeschrieben, indem unterdrückte Stimmen durch digitale Geschichten gehört werden können (Lambert 2006, S. 1 ff.). Lundby nennt drei Merkmale der klassischen digitalen Geschichten: 1) eine kurze Dauer; 2) die Anwendung kostengünstiger Produktionsmittel; 3) eine inhaltliche Ausrichtung auf die eigenen Erfahrungen der/des Erzählenden, die mit ihrer/seiner Stimme wiedergegeben werden (Lundby 2008b, S. 2). Die Geschichten werden mit „kleinen Medien“ produziert, d. h. solchen, die Amateuren zugänglich und amateurhaft nutzbar sind (Dayan 1999, S. 28). Im klassischen digitalen Geschichtenerzählen werden die Bilder durch digitale (Foto)Kameras oder Smartphones aufgenommen und an Computern mit „einfachen“ Schnittprogrammen wie Windows Movie Maker

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Ermächtigung meint, dass Menschen Kontrolle über soziale und ökonomische Bedingungen erlangen, sowie demokratisch partizipieren und ihr Leben selbstbestimmt gestalten können (Hepp 2006, S. 47).

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oder Apple iMovie bearbeitet. Verbreitet werden die Geschichten dann sowohl „offline“ als auch in Internetmedien wie Blogs, Webseiten und Foren oder auf Plattformen wie YouTube. Durch die nicht-professionellen Produktionsmittel können auch Amateure in den digitalen Geschichten eine Stimme bekommen (Lundby 2008b, S. 4). Aufgrund der inhaltlichen Fokussierung des klassischen digitalen Geschichtenerzählens auf die Lebenserfahrungen der Produzierenden, werden die Kurzfilme zu Selbstrepräsentationen, das Geschichtenerzählen zu „Telling Lives“ (s. o.): „They are representations in the first person. The ‚self‘ is social, shaped in relationships, and through the stories we tell about who we are. This applies in ‚classic‘ Digital Storytelling as in new forms of social networking“ (Lundby 2008b, S. 5). Für die Selbstrepräsentationen in den digitalen Geschichten werden oftmals persönliche Fotografien verwendet (Vivienne und Burgess 2013, S. 282 ff.). Die Erzählenden bedienen sich etwa ihres Familienfotoalbums, um ihre digitale Geschichte zu erstellen (Meadows 2003, S. 190). Die Fotografien werden manchmal bearbeitet und/oder mit Schrift versehen (Kannengießer 2014, S. 232 ff.; Vivienne und Burgess 2013, S. 287 ff.). Die GeschichtenerzählerInnen verwenden aber auch eigene Malereien oder Zeichnungen, welche eingescannt werden um digital verwendbar zu sein (s. o., Kannengießer 2014, S. 232 ff.; Vivienne und Burgess 2013, S. 292 ff.). Als Selbstrepräsentationen sind die digitalen Geschichten Autobiografien, da der/die Produzierende eigene Erfahrungen aus der eigenen Perspektive darstellt (Hertzberg und Lundby 2008, S. 108 f.) und dieser autobiografische Charakter verleiht den Geschichten Authentizität (Hertzberg und Lundby 2008, S. 110; Burgess 2006, S. 202). Hertzberg und Lundby beispielsweise analysieren norwegische digitale Glaubensgeschichten im Hinblick auf ihre autobiografischen und authentischen Merkmale. Sie kommen zu dem Schluss, dass der authentische Charakter digitaler Geschichten weniger von den autobiografischen Beweisen geprägt ist, als von den Bedingungen und der Art, in der die digitale Geschichte erzählt werde (Hertzberg und Lundby 2008, S. 119). Durch die autobiografische Erzählform sind die digitalen Geschichten Dokumentationen. Hierfür spielt v. a. die visuelle Ebene eine große Rolle, denn durch das „Bebildern“ der eigenen Erfahrungen, durch Fotos der Produzierenden und/oder des Erlebten, wird das Gezeigte glaubhaft, da die Fotos als eine Art „Beweis“ fungieren (auch wenn sie natürlich montiert sein können). Das Dokumentarische wird z. B. durch die Integration von Zeitungsartikel in die Filme unterstrichen, die das Erzählte „belegen“ (Kannengießer 2014, S. 258). Im klassischen digitalen Geschichtenerzählen dominiert der Einsatz von Standfotos auch wenn in den sogenannten Industrienationen ein Großteil der Bevölkerung über Smartphones oder digitale (Foto)Kameras verfügt (Medientechnologien, die es auch nicht-professionellen Medienproduzierenden erlauben, Kurzfilme mit Bewegtbild in oftmals guter Qualität zu drehen). In Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas dagegen, in denen Workshops für digitales Geschichtenerzählen als Ermächtigungsstrategie durchgeführt werden (Kannengießer 2014, S. 211 ff.), werden die Bilder für die Kurzfilme oftmals mit „einfachen“ Digitalkameras aufgenommen. Obwohl die Teilnehmenden teilweise über Mobilfunkgeräte verfügen, besitzen sie aufgrund fehlender finanzieller Mittel seltener Smartphones. In den Workshops

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werden daher oftmals einfache digitale Fotokameras zur Verfügung gestellt, mit denen Fotos, aber aufgrund der meist schlechten Bildqualität selten Filme, aufgenommen werden. Die Bildebene der hier produzierten Kurzfilme setzt sich demnach großteils aus Fotografien zusammen. Diese werden nicht nur selbst aufgenommen, die Teilnehmenden solcher Workshops suchen auch im Internet nach Bildern, die für ihre Filme relevant sind. Diese werden bearbeitet, indem z. B. Schriftzüge über die Bilder aus dem Internet gelegt werden, um diese an die jeweilige Geschichte anzupassen. Hier wird die Rolle des Teilens von Fotografien über Internetplattformen wie Flickr oder Instagram offenbar (Vivienne und Burgess 2013, S. 281): Die Erzählenden können aufgrund dieser Netzwerke auf Fotografien anderer Personen zurückgreifen und diese in ihre eigenen Filme integrieren. Aber auch eingescannte Zeichnungen der Erzählenden werden oftmals in die Filme integriert (siehe z. B. Reed und Hill 2010, S. 272; Kannengießer 2014, S. 256). Visuelle Selbstrepräsentationen können beim digitalen Geschichtenerzählen jedoch auch problematisch oder sogar gefährlich werden: Thematisiert der/die GeschichtenerzählerIn gesellschaftlich tabuisierte oder politisch brisante Themen, so steht er/sie vor der Entscheidung, ob die eigene Identität z. B. durch ein Foto des Selbst preisgegeben werden soll (Kannengießer 2012, 2013; Vivienne und Burgess 2013, S. 284). Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Sexarbeiterinnen in Südafrika oder Homosexuellen in Simbabwe (Kannengießer 2012, 2013). In der Analyse eines Workshops für digitales Geschichtenerzählen mit Sexarbeiterinnen in Südafrika wird das Spannungsverhältnis zwischen Selbstrepräsentation und Tabuisierung offenbar. Das Seminar wurde von einer feministischen Nichtregierungsorganisation durchgeführt, um Sexarbeiterinnen in Johannesburg zu ermächtigen, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung zu äußern und über ihr Leben und ihre Erfahrungen zu berichten. Da Sexarbeit in Südafrika jedoch kriminalisiert ist und Sexarbeiterinnen gesellschaftlich diskriminiert und polizeilich verfolgt werden, laufen die am Workshop teilnehmenden Frauen Gefahr, mit der Selbstrepräsentation in den von ihnen produzierten Filmen weitere Diskriminierungen zu provozieren. Hier entwickeln die Produzentinnen Strategien, sich selbst auch auf der visuellen Ebene zu inszenieren, ohne dabei erkannt werden zu können. So zeigen die Sexarbeiterinnen z. B. nicht ihr Gesicht, sondern andere Körperteile, wie den Rücken oder ihre Hände, wenn sie sich selbst in ihren Filmen darstellen möchten (Kannengießer 2012, S. 244). Die Brisanz der Verbreitung der digitalen Geschichten wird auch am Beispiel eines Workshops für digitales Geschichtenerzählen deutlich, an dem eine lesbische Künstlerin aus Simbabwe teilnahm. Sie erzählt in ihrem Kurzfilm von sich und ihren Erfahrungen als Homosexuelle in Simbabwe und möchte ihren Film nur in einem geschützten Rahmen in Simbabwe zeigen, um z. B. zu vermeiden, dass ihre Familie, die nicht von ihrer Homosexualität wisse, den Film sieht (Kannengießer 2013, S. 125). Dass die Problematik des Visualisierens des Selbst auch ein Thema in demokratischen Industrienationen ist, zeigen die Fallbeispiele von transgender und lesbischen Geschichtenerzählenden in Australien (Vivienne und Burgess 2013, S. 284). Die Erzählenden manipulieren ihre persönlichen Fotografien, indem sie Gesichter mit einer Software verwischen, um nicht erkannt zu werden (Vivienne und Burgess

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2013, S. 289). Hier zeigen sich auch die Grenzen des nicht-professionellen Geschichtenerzählens, denn einige Erzählende benötigen Hilfe in der Bildbearbeitung (Vivienne und Burgess 2013, S. 290; siehe z. B. Kannengießer 2014, S. 272). Das Visuelle stellt hier also in technischer Hinsicht eine Herausforderung dar, denn die Bearbeitung der Bilder setzt eine Kompetenz im Umgang mit der entsprechenden Software voraus, über die nicht alle Teilnehmenden verfügen. So sind die Workshops zwar ein sicherer Raum, in dem die eigenen Geschichten (unter Gleichgesinnten) mitgeteilt werden (Thumim 2012, S. 61) und persönliches Bildmaterial gezeigt werden kann, jedoch ist die Integration visuellen Materials in die Kurzfilme im Hinblick auf deren Verbreitung ambivalent. Dennoch ist eine Überzeugung des Center for Digital Storytelling im Hinblick auf das von ihnen entwickelte Workshop-Format, dass Menschen in diesen Kontexten ihre Geschichten erzählen: „People open up and share their stories when they are provided an environment where they feel that their ideas will be valued, their stories have resonance, and they feel safe“ (Lambert 2009, S. 86). Dass Menschen sich öffnen und ihre persönlichen Geschichten erzählen und hierfür Bilder im Zuge dieser Erzählungen eine zentrale Rolle spielen, zeigt nicht nur der Forschungsstand zum klassischen digitalen Geschichtenerzählen, sondern auch der zum Geschichtenerzählen in Foren, Blogs und sozialen Netzwerkseiten.

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Visuelle Aspekte digitaler Geschichten in Foren, Blogs und sozialen Netzwerkseiten

Betrachten wir den Forschungsstand zu digitalem Geschichtenerzählen, so zeigt sich, dass hier nicht nur die oben-skizzierten klassischen Formen des digitalen Geschichtenerzählens analysiert werden. Vielmehr wird der Begriff des digitalen Geschichtenerzählens von einigen AutorInnen breiter definiert, so dass weitere Formen des Geschichtenerzählens unter der Klammer des Digitalen betrachtet werden können (siehe z. B. Alexander und Levine 2008; Robin 2008; Alexander 2011; Park 2014; Lewis Ellison 2017). Entsprechend beschränken sich die Definitionen in diesem Feld nicht auf ein Format des digitalen Geschichtenerzählens, wie es in der Forschung zum klassischen digitalen Geschichtenerzählen durch den Fokus auf Kurzfilme geschieht. Digitale Geschichten werden hier deutlich breiter definiert: „Digital stories are narratives built from the stuff of cyberculture“ (Alexander 2011, S. 3). Diese Definition umfasst auch digitale Geschichten, welche in Internetmedien produziert und verbreitet werden. Diese digitalen Geschichten entstehen nicht in Workshops bzw. in einem Geschichtenkreis, sondern durch die Initiative einzelner InternetnutzerInnen. Diese digitalen Geschichten können verschiedene Formen haben wie z. B. Kurzfilme, PowerPoint-Präsentationen, Erzählungen in Spielen wie z. B. Second Life oder Minecraft, seriell erzählte Geschichten in sozialen Netzwerken, Foren oder Blogs. Im Unterschied zu klassischen Formen des digitalen Geschichtenerzählens, in denen die Selbstrepräsentation der Erzählenden im Vordergrund steht, sind diese Formen von digitalen Geschichten neben Selbstrepräsentationen auch dokumentarische oder

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fiktive Geschichten, in denen nicht der/die Erzählende im Mittelpunkt steht. Digitalen Geschichten, in diesem breiteren Sinne, können beispielsweise eine Fotogeschichte über Pflanzenzüchtung als Hobby sein; ein Video-Podcast zu mittelalterlicher Geschichte; ein Video über eine Mutter-Tochter Beziehung; ein Blog über die U.S.A. im Jahr 1968 sowie Autobiografien, die in Facebook in dem Stream-Verlauf erzählt werden (siehe z. B. Alexander 2011, S. 3). Die Potenziale digitaler Medien für die Produktion digitaler Geschichten in verschiedensten Formen werden daher nicht nur von denjenigen genutzt, die Workshops zum digitalen Geschichtenerzählen organisieren bzw. an diesen teilnehmen, sondern auch von individuellen NutzerInnen dieser Medien. Wie bereits oben erwähnt, erlauben heutige digitale Geräte das einfache Produzieren von kurzen Filmen, digitalen Texten, Tonaufnahmen, Fotografien und sogar Animationen. Das Produzieren und Publizieren digitaler Geschichten gewann bereits in den früheren Phasen des Internets an Relevanz (Alexander 2011, S. 17 ff.). Alexander argumentiert, dass sich die digitalen Geschichten mit der Entstehung des Web 2.0 grundlegend geändert haben (2011, S. 29). Die erste Veränderung besteht darin, dass NutzerInnen für die Erzählung ihrer Geschichten Microcontent nutzen können (Alexander 2011, S. 29). Unter dem Begriff Microcontent versteht man kleinere Teile einer gesamten Webseite, wie z. B. Blogposts, Wiki-Einträge, Bilder aus Picasa, Audio-Podcasts, Videos oder Flash-Anwendungen, die in Webseiten integriert werden können (Alexander und Levine 2008, S. 42). Zweitens verändert sich auch die soziale Architektur des Webs, indem verschiedene Formen der Kommunikation zwischen NutzerInnen sowie zwischen NutzerInnen und Produzierenden einer Webseite möglich werden (Alexander und Levine 2008, S. 31). Drittens entstehen mit dem Web 2.0 neue Plattformen, die sogenannten sozialen Medien, die nutzergenerierte Inhalte fördern und für die Veröffentlichung digitaler Geschichten genutzt werden können. So werden digitale Geschichten, die in Form von Kurzfilmen produziert werden (solche des oben skizzierten klassischen digitalen Geschichtenerzählens, aber auch solche, die außerhalb solcher Workshops produziert werden), z. B. auf YouTube veröffentlicht. Durch die Video-Plattform YouTube können die Erzählenden ihre Geschichten verbreiten, während diese gleichzeitig archiviert werden. Da wir auf die visuellen Aspekte der Kurzfilme bereits oben eingegangen sind, sollen im Folgenden die Geschichten in Blogs, Foren und sozialen Netzwerkseiten im Fokus stehen. Soziale Medien sind interaktive und offene Plattformen, die verschiedene Formen der nutzergenerierten Inhalte wie Videos, Tonaufnahmen, Bilder und Texte erlauben. Sie bieten damit einen Raum für verschiedene Formen des digitalen Geschichtenerzählens beispielsweise auf Videoplattformen wie YouTube oder Vimeo, in thematischen Diskussionsforen, auf Blogging-Plattformen wie Blogspot oder Wordpress, auf Microblogging-Webseiten wie Twitter, auf sozialen Netzwerkseiten wie Facebook oder Instagram. Alexander und Levine (2008, S. 40) nutzen den Begriff der Web 2.0-Geschichten („Web 2.0 Stories“), um diese Formen von digitalen Geschichten in verschiedenen sozialen Medien zu bezeichnen. In der Literatur zu diesem Thema findet man insbesondere Forschungen zu digitalen Geschichten in Diskussionsforen (siehe z. B. Cianciolo et al. 2007; Bozdag 2013); in Blogs und Microblogs

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(Alexander und Levine 2008, S. 3 f.) und in sozialen Netzwerken (Alexander 2011, S. 71 ff.). Die digitalen Geschichten, die in den sozialen Medien geteilt werden, können in einem einzelnen Beitrag in verschiedenen Formen (Blogpost, Video, Tonaufnahmen, Bilder oder einer Kombination) erzählt werden. Sie können aber auch seriell, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, erzählt werden (Alexander 2011, S. 41; Bozdag 2013, S. 193). Aufgrund des seriellen Charakters dieser Geschichten entwickeln die AutorInnen bestimmte Strategien, um die Aufmerksamkeit der ZuhörerInnen an einer Geschichte zu erwecken (Bozdag 2013, S. 193 f.). Diese Strategien ähneln zum Teil anderen seriellen Formen wie TV-Serien oder Fotoromanen; z. B. werden „Cliffhanger“ eingesetzt: Am Ende jedes Geschichtenteils wird ein Spannungsbogen aufgebaut, so dass die LeserInnen die Erzählung weiterverfolgen wollen. Die Dauer dieser Geschichten kann variieren. Manche Geschichten, die in Foren verfasst werden, können beispielsweise fast ein Jahr dauern und diese erschaffen damit eine Leserschaft, die auf Basis der jeweiligen digitalen Geschichten eine virtuelle Gemeinschaft formen kann. Während die klassischen Formen des digitalen Geschichtenerzählen vornehmlich von einer Person, die ihre/seine eigene Geschichte erzählt, konzipiert werden, so können die in diesem Teil diskutierten Formen digitalen Geschichtenerzählens, von einer oder mehreren Personen fortgesetzt werden (Alexander und Levine 2008, S. 40; Bozdag 2013, S. 189 ff.). Dies erfolgt dann in einer seriellen Form, wobei eine Person die Erzählung beginnt und andere diese fortsetzen. Mit den interaktiven Kommunikationsmöglichkeiten der sozialen Medien wird damit eine kollaborative Form des digitalen Geschichtenerzählens möglich (siehe z. B. Park 2014, S. 513). Ob seriell oder nicht-seriell, erzählt von einer Person oder mehreren Personen, gemeinsam haben alle oben erwähnten Formen digitaler Geschichten in sozialen Medien zumindest drei Aspekte: Interaktivität, Multimedialität und Visualität. Digitales Geschichtenerzählen in den sozialen Medien erfolgt interaktiv in der Hinsicht, dass sowohl der/die ErzählerInnen als auch der/die ZuhörerInnen einer digitalen Geschichte diese kommentieren und/oder eine positive, aber auch negative Bewertung abgeben können – oder diese mit anderen in ihrem Netzwerk teilen. Durch diese Interaktivität können die Reaktionen auf die Erzählung beobachtet werden, also inwieweit eine digitale Geschichte von anderen rezipiert wird. Digitale Geschichten in sozialen Medien sind des Weiteren multimedial in der Hinsicht, dass diese verschiedene Kommunikationsformen wie textuelle, auditive, linguistische und (audio)visuelle Elemente beinhalten (Fulwier und Middleton 2012, S. 40 ff., siehe auch den Beitrag von Bucher zu Multimodalität in diesem Band). Wie bereits oben erwähnt spielen hier verschiedene Formen von Microcontent eine wichtige Rolle. Die LeserInnen und AutorInnen der digitalen Geschichten können auch die Hypertextualität digitaler Geschichten nutzen und beispielsweise externe Links in eine Geschichte einbauen bzw. externe Informationen über eine Geschichte lesen (Alexander und Levine 2008, S. 42). In dieser multimedialen Kommunikationsumgebung werden die digitalen Geschichten zunehmend mithilfe visueller Elemente dargestellt, indem insbesondere durch die Breitbandtechnologie die Verbreitung von größeren Bild- und Videoda-

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teien möglich wurde. Wie stark visuelle Elemente in diesen Formen der digitalen Geschichten integriert werden, hängt von der jeweiligen sozialen Plattform ab, auf der die Geschichten veröffentlicht werden. In den Foren und Blogs dominiert beispielsweise die Textform (siehe z. B. Bozdag 2013, S. 195 f.). Jedoch werden auch hier durch das Posten von Fotos, Links zu Videos, Emoticons (Ikons, wie z. B. Smileys, die eine Emotion andeuten sollen) verschiedene visuelle Elemente eingebaut. Diese dienen zum Teil als visuelle Ergänzung der Erzählung oder als Ausdruck von Emotionen. Da in den Foren häufig Pseudonyme verwendet werden und die eigene Identität nicht veröffentlicht wird, werden hier weder eigene Fotografien noch Videoaufnahmen aus dem eigenen Leben verwendet, auch wenn die Geschichten zum Teil Elemente aus dem eigenen Leben der Erzählenden beinhalten mögen (Bozdag 2013, S. 199 f.). Im Gegensatz zu Foren steht in den sozialen Netzwerkplattformen wie Facebook oder Instagram das Selbst im Vordergrund. Diese sozialen Netzwerke werden nicht nur zur Vernetzung mit anderen verwendet, sondern auch für Selbstrepräsentationen. Nicht selten werden hier persönliche Geschichten aus dem eigenen Leben (oft unabsichtlich) in Form von digitalen Geschichten erzählt, indem Text-, Bild-, Videound Audiomaterialien zusammengeführt werden, um eine Erzählung darzustellen. Visuelle Ausschnitte aus dem eigenen Leben stehen auch hier im Vordergrund, ähnlich wie in klassischen Formen des digitalen Geschichtenerzählens. Die Relevanz des Visuellen in diesen sozialen Netzwerkseiten steigt insbesondere durch Plattformen wie Instagram, wo das Bild das Hauptelement eines geteilten Beitrags wird. Auch Blogs werden verwendet, um persönliche Geschichten mittels Text und Bildern zu erzählen. Während frühere Blogs eher nur auf Text und Bildern basierten, nutzen viele BloggerInnen heute auch Videos und GIFs, um zu bloggen oder ihre Blogartikel zu bereichern. Obwohl soziale Netzwerkseiten und Blogs zu wichtigen Plattformen für das Teilen von digitalen Geschichten geworden sind, gibt es leider kaum Forschung, die diese im Rahmen des digitalen Geschichtenerzählens diskutieren.

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Fazit

Ziel dieses Beitrags war es, den Forschungsstand des digitalen Geschichtenerzählens im Hinblick auf die visuellen Aspekte digitaler Geschichten aufzuarbeiten. Da sich kaum Arbeiten in diesem Forschungsfeld explizit mit dem Visuellen beschäftigen, haben wir, die Relevanz des Visuellen aus den verschiedenen Texten herausgearbeitet. Festzustellen ist, dass das Visuelle in allen Formen der digitalen Geschichten eine wichtige Rolle spielt. Im klassischen digitalen Geschichtenerzählen, bei dem Kurzfilme in Workshops hergestellt werden, ist das Visuelle durch die Bildebene der Filme offensichtlich. Bei diesem Geschichtenerzählen, welches nach dem Workshop-Format des Center for Digital Storytelling in Kalifornien entwickelt wurde, dient die Bildebene zunächst der nachträglichen Bebilderung der Tonebene, welche üblicherweise zuerst produziert wird. Dennoch ist die Bildebene im Prozess der Geschichtenproduktion sehr relevant, da durch die Bearbeitung der verwendeten Fotos, Malereien und Zeichnungen die Arbeit am Visuellen oft intensiver ist, als die

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am Ton. Dabei dient die Bearbeitung der Bilder u. a. der Unkenntlichmachung der Erzählenden, denn einige empirische Arbeiten weisen darauf hin, dass die Selbstrepräsentation der Erzählenden je nach gesellschaftlichem Kontext gefährlich sein oder zu Diskriminierungen führen kann. Das Visuelle wird zunehmend auch in anderen Formen des digitalen Geschichtenerzählens in Foren, Blogs und auf sozialen Netzwerkseiten relevant. Die Bedeutung von visuellen Elementen variiert hier jedoch je nach Kommunikationsplattform, Inhalt und Zweck der Geschichten. Während in den Foren vornehmlich Texte im Vordergrund stehen und Bilder, Videos und Emoticons als Ergänzung verwendet werden, sind Bilder, GIFs und Videos zunehmend Teil digitaler Geschichten in sozialen Netzwerkseiten und Blogs. Das digitale Geschichtenerzählen (v. a. das klassische digitale Geschichtenerzählen, aber auch digitale Geschichten in Foren, Blogs und Sozialen Netzwerkseiten) wird oftmals im Hinblick auf sein Potenzial für Partizipation- und Demokratisierung diskutiert. Daniel Meadows schreibt euphorisch: „If we will only learn the skills of Digital Storytelling then we can, quite literally, ‚take the power back‘. [. . .] Digital Storytelling isn’t just a tool; it’s a revolution“ (2003, S. 192). Doch um von einem Demokratisierungspotenzial des digitalen Geschichtenerzählens sprechen zu können, sollte man nicht nur berücksichtigen, wer Geschichten erzählt, sondern auch, von wem die Geschichten eigentlich gehört werden (Burgess 2006, S. 203; Lewis und Matthews 2017). Hierbei ist die Euphorie oftmals etwas gedämpfter, denn in hegemoniale Diskurse finden digitale Geschichten oftmals keinen Einzug. Digitales Geschichtenerzählen erfüllt das Versprechen einer starken Stimme nur zu einem gewissen Grad (Dreher 2012, S. 158). In dem Diskurs um Partizipation, Demokratisierung und digitales Geschichtenerzählen wird die Relevanz der Stimme, die der Selbstrepräsentation dient, betont. Das digitale Geschichtenerzählen ermögliche, eine Stimme zu finden und gehört zu werden (Hartley und McWilliam 2009b, S. 5; Couldry 2008, S. 384). Aber nicht nur das Wort in Text oder Ton bildet diese Stimme, sondern auch das Visuelle. Fotografien, Videomaterialien und Zeitungsartikel geben den digitalen Geschichten einen authentischen Charakter und können damit die Erzählungen in digitalen Geschichten „belegen“. Ob in Kurzfilmen, Blogs, Foren oder sozialen Netzwerkseiten: digitale Geschichten ermöglichen dem Erzählenden sichtbar zu werden – nicht zuletzt durch die visuelle Ebene der Geschichten.

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Comics und Karikaturen in der Kommunikationsforschung Clemens Schwender, Doreen Grahl und Thomas Knieper

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Comics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Karikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Comics und Karikaturen sind visuelle Darstellungen von Handlungen, Situationen und Akteuren. Beide haben unterschiedliche historische Entwicklungen, Verwendungen und Zugänge. Comics weisen narrative Strukturen auf. Ihre wissenschaftliche Betrachtung zielt auf das Verständnis der Erzählweisen und der soziokulturellen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen. Ebenso steht die Ästhetik der Darstellung im Fokus, was Comics der Kunstgeschichte und -wissenschaft zugänglich macht. Karikaturen kann man der politischen Kommunikation zuordnen. Dies zieht Betrachtungsweisen nach sich, die auf das Verstehen der kulturellen Verwendung ausgerichtet sind. Fragen zwischen Meinungsfreiheit und Verantwortung gehören ins Spektrum dieser Auseinandersetzung.

C. Schwender (*) SRH Hochschule der populären Künste (hdpk), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Grahl (*) Universitätsbibliothek, Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Knieper (*) Lehrstuhl für Computervermittelte Kommunikation, Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_15

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Schlüsselwörter

Comics · Karikatur · Geschichte · Zensur · Rezeption · Gestaltung

1

Einleitung

Gemeinsam ist den beiden Darstellungsformen der Comics und Karikaturen die visuelle Darstellung von Handlungen, Situationen und Akteuren. Beide sind oft – aber nicht notwendigerweise – gezeichnet. Unabhängig von der Art und Weise der bildlichen Darstellung stehen sie für sich selbst und grenzen sich damit von Illustrationen als erläuternde Beigabe zu Texten ab. Karikaturen wollen primär kommentieren, Comics hingegen erzählen. Daher benötigt der Comic mindestens zwei Bilder, die in einer narrativen Beziehung stehen. Beide besitzen gemeinsame Elemente, sind aber in ihren Definitionen und historischen Entwicklungen unterschiedlich, auch wenn es vereinzelt ZeichnerInnen gibt, die sich in beiden Darstellungsformen ausdrücken. Im Folgenden werden die beiden Darstellungsformen hinsichtlich ihrer historischen Entwicklungen, ihrer gesellschaftlichen Relevanz und ihrer spezifischen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen getrennt betrachtet, um aber dennoch auf Parallelen und Gemeinsamkeiten aufmerksam zu machen.

2

Comics

2.1

Comics – Definition und Geschichte

Laut Eckart Sackmann (2007) und Scott McCloud (2001a) ist das Komische kein konstituierendes Element von Comics. Auch lassen sich Comics nicht auf eine Literaturform für Kinder reduzieren. McCloud (2001a, S. 17) etwa beschreibt Comics, ohne Einschränkung auf eine Zielgruppe, als „zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen“. Damit ist diese Definition offen für eine große Spannweite an Darstellungsformen. Wichtig ist, dass in allen Fällen das Bild gegenüber dem Text dominant ist. Comics ohne Bilder gibt es nicht, Text hingegen ist kein notwendiger Bestandteil der Darstellungsform. Knieper (2006a) definiert den Comic als „sequenzielle bildhafte Erzählung. . . [Er] verwendet [. . .] ikonische Zeichen, grafische Indizes (etwa Speedlines, also Linien zum Anzeigen von Geschwindigkeit), lautmalende Wörter (Onomatopöien) sowie Untertexte oder Sprechblasen“. Der Begriff „Comics“ ist seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nachweisbar (siehe beispielsweise Sackmann 2007, S. 6). Das Komische ist kein konstituierendes Element von Comics, selbst wenn zahlreiche Abhandlungen darauf verweisen. Möglicherweise erklärt sich das daher, dass Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Zeitungen in den USA insbesondere mit humorvollen Comic-Strips Leser gewinnen wollten. Durch die regelmäßig erscheinenden Comic-Strips konnten neue Leserschichten an die Zeitungen gebunden werden.

Comics und Karikaturen in der Kommunikationsforschung

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Sonntags enthielten die Zeitungen dicke Beilagen mit humoristischem Inhalt, die neben Witzen und Karikaturen auch Comics abdruckten. Vor allen Dingen der Zeitungskrieg zwischen Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst hat den Aufstieg der Zeitungscomics gefördert (Knieper 1996, 2006a). In Deutschland gab es eine Spielart dieser Comics bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts, doch als Beschreibung hat sich zunächst der Begriff „Bildergeschichte“ eingebürgert. Nimmt man die Erklärung von Comics als Bildergeschichte, lässt sich Definition und Historie der Darstellungsform sehr weit fassen. Comics sind keine Textsorte, sondern ein Darstellungsformat, das sich in vielen Medien (Print, Online, auch Skulptur) ausdrücken und viele Textsorten (Roman, Erzählung, Gebrauchsanleitung, Drehbuch, Dokumentation oder Sachtext) darstellen kann (Jüngst 2004, S. 69). Der Comic ist auch weder Gattung noch Genre, da die Inhalte allen möglichen Genres und Gattungen zugerechnet werden können. Sackmann spricht vielmehr von einer „literarisch-künstlerischen Ausdrucksform“ (Sackmann 2007, S. 7, Fußnote 4), ohne sich auf ein Medium festzulegen. Sackmanns Definition lässt sich durch eine Reihe von historischen Belegen bestätigen. Die wahrscheinlich älteste Darstellung, die alle genannten Bedingungen erfüllt, findet sich auf einem ägyptischen Papyrus etwa aus der Zeit um 1.300 v. Chr. (Sackmann 2007, S. 7–8, siehe Abb. 1). Es zeigt drei Szenen vom Wiegen des Herzens im Reich der Toten. Den Figuren ist durch Schrift ein gesprochener Text zugeordnet, der bei jeder Figur aus dem Mund kommt. Bildergeschichten sind aber nicht auf zweidimensionale Träger gebunden. Sehr unterschiedliche Materialien können fortlaufende Geschichten erzählen. Die Trajansäule in Rom (113 n. Chr.) stellt Szenen aus den Kriegen gegen die Daker dar, die in einem um eine Säule fortlaufenden Band einzelne Momente des Krieges als Reliefs zeigt. Dies erweitert die narrative Darstellungsweise auf dreidimensionale Medien. Skulpturen mit Darstellungen der biblischen Passionsgeschichte finden sich am Eingangsportal des Straßburger Münsters (um 1300 n. Chr.). Der etwa 50 cm hohe und über 68 m lange Wandteppich von Bayeux (1170 n. Chr.) stellt die Eroberung

Abb. 1 Totenpapyrus des Hunefer (ca. 1300 v. Chr.). (Quelle: Meisterwerke der vorgeschichtlichen Kunst aus dem Britischen Museum, Creative Commons Lizenz)

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Englands in gestickten Bildern dar. Selbst Elfenbeinschnitzerei (9. Jhdt.), Bronzeplastiken (9. Jhdt.) oder Mosaike aus der Römerzeit (etwa Cosh und Neal 2005) lassen sich narrativen Erzählformen zuordnen. Bei der gezeichneten und gedruckten Comicgeschichte im engeren Sinn nennt Scott McCloud (2001a, S. 24) als Vorläufer der Comics die Bilder von William Hogarth (1697–1764), der seine Zeichnungen als Sequenzen konzipiert hat. Als Vorbild des modernen Comics sieht McCloud (2001a, S. 25) außerdem die Arbeiten von Rodolphe Töpffer (1799–1846), einem französischsprachigen Schweizer, dessen Bildergeschichten bereits vor Wilhelm Busch das syntaktische Inventar der modernen Comics entwickelten. Sie erzählten lustige, satirische Geschichten, die in Panels angeordnet waren. Auch der karikaturhafte Zeichenstil ist bei Töpffer voll ausgebildet (McCloud 2001a, S. 25). Ein Problem der historischen Comic-Forschung und ihrer Vorläufer benennt Andreas C. Knigge (1986, S. 11–12): Da viele der Bildergeschichten in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, die nach Gebrauch entsorgt wurden, fehlen verlässliche systematische Sammlungen. Erst durch das serielle Erscheinen bleiben einzelne Reihen länger im Gedächtnis und werden gesammelt. Die ersten in Deutschland erschienenen humoristischen Blätter hatten noch karikierende und damit bisweilen politisch kritische Vorbilder. Doch sie vernachlässigten bald die abneigende Grundhaltung und konzentrierten sich mehr auf humoristisch-witzige Formen (Knigge 1986, S. 16–17). Hier kreuzen sich die historischen Linien von Karikatur und Comics, um dann wieder in unterschiedliche Richtungen zu verlaufen. In dieser Phase zwischen Karikatur und nichtpolitischem Humor wurde Wilhelm Busch zu einem nachgefragten Texter und Zeichner, der seit 1859 für die im Verlag Braun und Schneider erscheinenden Münchner Bilderbogen und Fliegenden Blätter arbeitete. Die erfolgreichste und kreativste Zeit der humoristischen Blätter lag zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg, einer Zeit, in der viele Entwicklungen zwischen satirischer Karikatur und Bildergeschichten für Kinder und Erwachsene ausprobiert werden konnte (Knigge 1986, S. 26). Zu den bekanntesten und einflussreichsten gehörten Simplizissimus, der Wahre Jakob, Ulk, Kladderadatsch und Meggendorfers humoristische Blätter, einer Zeitschrift für Humor und Kunst. Der Mitherausgeber der Fliegenden Blätter – Kaspar Braun – war 1865 verantwortlich für die Buchausgabe von Max und Moritz, dem bekanntesten Werk von Wilhelm Busch. Viele deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften lagen in den Kaffeehäusern und Bibliotheken in New York oder Chicago für deutsche Einwanderer aus. Der Einfluss dieser Blätter auf die US-amerikanische Comicgeschichte gilt nicht nur deswegen als nachweisbar. Deutsche Zeichner wurden in die USA geholt, um an gezeichneten Geschichten zu arbeiten (Knieper 1996). Je nach ForscherIn variiert das vermeintliche Geburtsdatum des modernen Comics. Am 5. Mai 1895 veröffentlichte Joseph Pulitzer in der Sonntagsbeilage seiner New York World einen farbigen Cartoon aus der Serie Hogan’s Alley. „Unter dem Titel ‚At the Circus in Hogan’s Alley‘ zeigt die humoristische Milieustudie aus der Feder von Richard Felton Outcault (1863–1928) eine selbst inszenierte Zirkusvorstellung New Yorker Straßenkinder. Unter den Zuschauern am rechten Bildrand findet sich auch der kurzbeinige, kahlköpfige und segelohrige Mickey Dugan, der nur mit einem – damals noch blauen – Nachthemd bekleidet war. Er war die erste mehrmals und

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regelmäßig wiederkehrende Serienfigur. Da sein Nachthemd schon bald gelb eingefärbt wurde, ging er als das Yellow Kid in die Pressegeschichte ein.“ (Knieper 2006a). Am 12. Dezember 1897 erschien im American Humorist, einer Sonntagsbeilage des New York Journal, die erste Episode der The Katzenjammer Kids. Der in Heide (Schleswig-Holstein) geborene Rudolph Dirks (1877–1968) kann als Zeichner dieser Serie alle Bedingungen der Definition eines Comics erfüllen: Narrative, in einzelnen Panels umgesetzte und mit dialogischen Sprechblasen versehene Geschichten. Seine Hauptfiguren, die Zwillinge Hans und Fritz, sehen Max und Moritz unverkennbar ähnlich. Sie begehren gegen alle Autoritäten im sozialen Umfeld auf. Dazu gehören etwa Mutter Mama, der viele Streiche gelten, oder der Captain, ein schiffbrüchiger Seemann und Ersatz-Vater. In den Sprechblasen findet sich ein Englisch mit stereotypem, deutschem Akzent. In Erinnerung an diese Pionierleistung erschien 1995 von der US-amerikanischen Postbehörde eine Briefmarke, die die Figuren im Kleinformat darstellt und damit gleichzeitig einen intermedialen Wechsel von der Zeitung zur Verwendung als Postwertzeichen vollzieht (siehe Abb. 2). Die ersten Comics erscheinen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Zeitungen. Sie werden darüber hinaus in Zeitschriften, in Heften und Heftchen mit unterschiedlichen Formaten, in Büchern mit festem Einband und schließlich im Internet (Dittmar 2012) veröffentlicht. Comics sind selbst in den Printmedien nicht auf gezeichnete Darstellungen eingeschränkt. So gibt es Geschichten, die einen für Comics typischen Aufbau haben, und Fotos mit Sprechblasen ergänzen (Hecker 1985). Selbst Fassungen für Blinde sind entstanden (Dittmar 2014).

2.2

Die wissenschaftliche Beschäftigung

Schwender (1989) und im Anschluss daran Schwender und Grahl (2016) haben systematisch erforscht, wie sich die deutschsprachige Scientific Community mit Abb. 2 Katzenjammer Kids auf US-Briefmarke (1995). (Quelle: United States Postal Service 1995, Privatbesitz)

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Comics wissenschaftlich auseinandergesetzt hat. Sie haben hierbei drei Phasen identifiziert. • Phase 1: Rezeption (1949–1963) • Phase 2: Didaktik (1964–1983) • Phase 3: Werk (ab 1984)

2.3

Phase 1: Rezeption (1949–1963)

„Wie unsere Jugend von heute von den bebilderten Heften, die wir erst nach 1945 kennenlernten, als sie ‚im Gepäck von fremden Soldaten‘, und in den ‚Beutetaschen des weiblichen Gefolges‘ (Dr. Baumgardt in der ADLZ Nr. 18/52) zu uns gelangten, bedroht wird, weiß jeder, der die mit brünstig roten, sengend gelben und kreischend violetten Heften tapezierten Wände[n] unserer Zeitungskioske ansieht.“ So Willi K. Cordt (1954, S. 4) über die Comics in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre. Viele befürchteten damals, diese kulturellen Produkte Amerikas können die abendländische Kultur zum Untergang führen. Betrachtet man die Aufsätze über Comics während der ersten Phase in der Allgemeinen deutschen Lehrerzeitung, in ihren Beilagen Jugendschriften-Warte und Zeitschrift für Jugendliteratur oder in der Jugendliteratur, muss man die Vorstellung gewinnen, der Comic sei eine lebensbedrohliche Gefahr: „Was die Atombombe der Welt antun kann, nämlich ihr Ende herbeiführen, das kann das Comic book der Welt der Literatur antun – nämlich das Lesen ausrotten.“ (Comics 1956, S. 349). Die pädagogische, publizistische und wissenschaftliche Beschäftigung mit Comics beschränkte sich weitestgehend auf deren Kritik; lediglich in der Abstufung der Gegenmaßnahmen und in der Einschätzung der Reichweite von Comics unterscheiden sich die Auseinandersetzungen. Folgende Befürchtungen werden dabei immer wieder laut: (1) Comics würden dumm machen, (2) sie würden den Analphabetismus fördern und die Fantasie zerstören, (3) sie würden kriminell machen und als Vorbild für Gewalt und Verbrechen dienen und (4) sie würden die sich entwickelnde Sexualität der Jugendlichen stören. Insbesondere Frederic Wertham (1895–1981) vertrat die These vom Zusammenhang zwischen Analphabetismus und Comic-Lesen: „Die Form des Comic-Heftes, mit seinen mit Haken versehenen Ballons; die über die Seite verstreut sind, mit dem Nachdruck auf den Bildern und deren Zusammenhang, mit den Pfeilen, die die Augen von rechts nach links und sogar hinauf und hinunter lenken, mit den vielen undeutlichen Wörtern, die gar keine Wörter sind, vermittelt mit dem Lernen eigentümliche Lesegewohnheiten. In dieser Beziehung sind die sogenannten ‚guten‘ Tier-Comic-Hefte am schlimmsten, weil sie die jüngsten Kinder erreichen. Ich stelle eine besondere Lesestörung fest, die ich ‚linear dyslexia‘ nannte. Sie wird charakterisiert durch eine Anzahl von speziellen Symptomen, die direkt vom Lesen der Comic-Hefte herrühren. Viele Kinder haben sie.“ (Wertham 1956, S. 325–326) Hilde Mosse, eine Mitarbeiterin des Psychiaters Frederic Wertham, unterstellte einen Zusammenhang von kriminellem Verhalten und der Rezeption von Comics. Sie hatte in einem New Yorker Vorort mit einem hohen

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383

Anteil schwarzer, oft arbeitsloser BewohnerInnen gleichzeitig eine hohe Rate von Jugendkriminalität und hohem Comic-Konsum festgestellt (Brinkmann 1955, S. 68–69). In unzulässiger Verkürzung konstruierte sie einen ursächlichen Zusammenhang. Sie übersah jedoch, dass der Comic-Konsum über alle Sozial- und Bildungsschichten gleichermaßen sehr hoch war. Zudem verschwieg sie, dass eine hohe Arbeitslosigkeit sowohl den Comic-Konsum fördert als auch die Kriminalitätsrate. Der Comic-Konsum wäre damit eine Folge der Arbeitslosigkeit, aber keine Ursache der Kriminalitätsrate. Zur Sexualität in Comics stellte Cordt 1954 in seinem Aufsatz „Lesen ihre Kinder auch Comic-Books“ fest, pornografische Bilder bewirkten sexuelle Frühreife. Auch Hilde Mosse führt dieses Argument gegen das ComicLesen ins Feld (Brinkmann 1955, S. 68–69). Theodor Spitta (1955) räumt die Möglichkeit ein, Jugendliche könnten durch Comics auf Homosexualität fixiert werden. Greift man andere Artikel aus Fachzeitschriften heraus, unterscheiden sie sich in Ton und Tendenz kaum. Die Beschäftigung mit Comics blieb weitgehend auf die warnende Kritik vor ihrer moralischen Verwerflichkeit beschränkt. Die unterstellte Gefährlichkeit von Comics basierte primär auf Meinung und in keiner Weise auf gestütztem empirischen Wissen. Dennoch kam es aus Angst um die Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen in der Folge zu Umtauschaktionen und Comic-Verbrennungen.

2.4

Phase 2: Didaktik (1964–1983)

Gründe für eine einsetzende veränderte Haltung können an verschiedenen Stellen ausgemacht werden. Die Comic-Leserschaft der ersten Phase ist älter geworden, ohne dass die Lektüre in erkennbarem Umfang zu den befürchteten Schäden geführt hätte. Die Generation ist mittlerweile erwachsen geworden und nun ihrerseits für die Erziehung verantwortlich. Dies zeigt sich daran, dass die Forschungsliteratur einerseits die Comic-Lektüre pädagogisch begleitet und andererseits Comics im Unterricht als didaktisches Mittel einsetzt. Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass sich auch die Comics gewandelt haben. Konnten die Bildergeschichten der ersten Phase von Intellektuellen noch als Unterschicht-Phänomen abgetan werden, gelingt das in der zweiten Phase nicht mehr. Mit Asterix, Charly Brown, Pogo, Doonesbury und anderen wurden die Comics intellektuell. Dank Roy Lichtenstein (1923–1997) (1967, S. 161) erfolgte deren Hommage durch die Hochkultur. Seine Bilder (siehe Abb. 3) machen direkte Referenzen nicht nur auf die Inhalte der Comics, sondern auch auf den Rasterdruck der Herstellungsweise der Comics. Dass sich das intellektuelle Verdikt über die Lektüre von Comics gelockert und modifiziert hat, jedoch damit nicht unwirksam geworden ist, zeigt die oft zitierte Äußerung Max Horkheimers, er habe die Comics „ganz naiv gern“ (Comics 1969, S. 65–67). Und weiter heißt es zur erklärenden Rechtfertigung: „der Freiburger Germanistik-Ordinarius Dr. Hugo Steger, 40, der solches Verhalten untersucht, kam zu dem Schluss: ‚Wer tagsüber seinen Verstand strapazieren muss,‘ sucht in

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Abb. 3 Roy Lichtenstein: „Vicki! I-I Thought I Heard Your Voice!“ (1964). (Quelle: Riha 1970, S. 109)

den wenigen Augenblicken seiner Freizeit instinktiv nach geistiger Entspannung. Mit den banalen Comic strips wäscht er sozusagen das Gehirn rein.“ Kritik am Comic fand auch im Spiegel statt, doch keineswegs pauschal und radikal. Sie richtete sich gegen einzelne Phänomene, etwa im Vorwurf rassistischer Vorurteilsverbreitung in einigen Produktionen des Rolf Kauka-Verlages. Eine der direkten Auswirkungen der Kampagnen gegen den Comic war, dass es in der Bundesrepublik keine nennenswerte Produktion gab. Nur wenige ZeichnerInnen, TexterInnen und ProduzentInnen können sich in den 1950er- oder 1960er-Jahren behaupten, von einer Weiterentwicklung der Formen und Ideen konnte keine Rede sein. Der Großteil des deutschen Marktes wurde von US-Importen bestimmt. Ergänzt wurden sie durch Produktionen aus Frankreich, Italien und Belgien. Ein Wendepunkt in der Beschäftigung mit den Comics lässt sich recht genau datieren. Es war die Jahreswende 1969/70, etwa zehn Jahre nachdem die radikale Comic-Kritik zum Erliegen gekommen war. Anlass für die erneute Beachtung von Comics war die Ausstellung „Comic-Strips – Geschichte, Struktur, Wirkung und Verbreitung der Bildergeschichten“ in der Berliner Akademie der Künste von Dezember 1969 bis Januar 1970 (Zimmermann 1969). Dies war sicher nicht die Ursache, aber es markiert die Wende. Danach war der Comic Gegenstand der Hochkultur. Nach dem Desinteresse am Ende der ersten Phase zeigten die Fachzeitschriften nun wieder verstärkt Interesse am Comic. Dietrich Fischer (1970) resümierte über die XVI. Internationale Jugendbuchtagung vom 1.-8.4.1970, die in einer Arbeitsgruppe auch den Comic thematisierte: „In der Gruppe der ‚Comics‘ wurde zwar auch der Humor herausgefiltert, aber im Vordergrund stand doch der soziologische Stel-

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lenwert dieser Literatur. Wider Erwarten waren sich die Teilnehmer einig, dass Comics bislang zu pauschal abgewertet worden seien. Es gilt, differenzierter zu betrachten und literatur-pädagogische Konsequenzen zu ziehen.“ Im Juli 1971 beginnt Werner Schmidmaier (1971a, b, c, d, e, f) in der Zeitschrift Grafik eine sechsteilige Serie über Comication Art, den Einsatz von Comics in der Werbung. Schmidmaier beschreibt den Stellenwert von Comics in der Gesellschaft als allgegenwärtig und schließt daraus, dass auch die Werbung erkennen muss, dass Comics bedeutsam sind, was sich in einer Zunahme der Kampagnen äußert, die sich der Darstellungsform bedienen. Dabei sind Comic-Strips Eye Catcher und ComicHeftchen Werbeträger (Schmidmaier 1971b, S. 48–49). Comics seien für keine Leserschaft als Werbeträger von großer Reichweite mehr tabu. Zudem sind sie als Dolmetscher von Werbeaussagen weit preiswerter als ein teures Testimonial und von den Werbefachleuten erst noch richtig zu entdecken. Was den Comic für die Werbung interessant macht, ist der schnelle Wiedererkennungswert der Figuren, die nicht altern, ein hohes Identifikationsangebot haben und eine charakterliche Stabilität zeigen – Eigenschaften, wie sie realen Personen in diesem Maße kaum zukommen. Waren Comics in den 1950er-Jahren noch hauptsächlich für Jugendliche gedacht, so ist dieses Publikum in den 1970er-Jahren erwachsen. Viele bleiben ihrem alten Lesevergnügen treu. Originalausgaben aus der Anfangszeit der bundesdeutschen Comics sind inzwischen gesuchte und hochpreisige Sammelobjekte. Die Fan-Kultur und die Entstehung von Comic-Fachzeitschriften ist ein weiteres Phänomen der Comic-Landschaft der zweiten Phase. Das Spektrum dieser Fachzeitschriften ist breit: Es reicht von sogenannten Fanzines, xerokopierten, aber mit viel Zuwendung erstellten Heften mit geringer Auflage von und für Comic-Liebhaber, bis zu von großen Verlagen finanzierten Hochglanzheften, in denen die Werbeseiten dominieren. Dazwischen liegt das Feld der eigentlichen Comic-Fachzeitschriften. Hier ist der einzige Ort, wo fortlaufende Diskussionen, Besprechungen, Stilvergleiche, Geschichtsforschung einzelner Sparten, Figuren und Genres, Biografien von ZeichnerInnen, TexterInnen und VerlegerInnen mit Kontinuität präsentiert werden. Recht schnell wuchs das Interesse und Mitte der 1970er-Jahre waren die Publikationen auf diesem Sektor kaum noch zu übersehen (Skodzik 1978). Eine Vielzahl von Zeitschriften wurde gegründet, und viele gingen ebenso rasch, wie sie auftraten, wieder ein. Die für die Comic-Forschung im engeren Sinne wichtigste Zeitschrift war die Comixene, gegründet 1974 von René Lehnerer, Thilo Rex und Andreas C. Knigge (Grünewald 2014, S. 44). Hier versammelten sich um die Herausgeber Autoren wie Paul Burgdorf, Martin Compart, Wolfgang J. Fuchs, Jürgen Kagelmann oder Achim Schnurrer, von denen jeder einzelne auch außerhalb dieser Zeitschrift Beiträge für die Comic-Forschung geleistet hat. Weitere Zeitschriften, die eine rege Debatte führten, waren auch das Wiener Comicforum von 1979 bis 1998, Rrraah! aus Hildesheim zwischen 1978 und 2001 oder die Sprechblase aus Schönau von 1978 bis 2008. Seit 1984 präsentiert Reddition. Zeitschrift für Graphische Literatur aus Barmstedt Schwerpunktthemen zu europäischen und amerikanischen Comics. Das gleiche Team gibt seit 2012 auch die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Alfonz,

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C. Schwender et al.

der Comicreporter heraus. Solche Fanzines bieten dem Forschungs- und Sammlereifer der Fans Raum und liefern einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Comics (Grünewald 2014, S. 44). Resümiert man die zentralen Sichtweisen und Entwicklungen der zweiten Phasen, lassen sich folgende Befunde festhalten: Die Comic-Schelte der ersten Phase konnte der Entwicklung offenbar nicht viel anhaben. Die Leserschaft wuchs unbeeindruckt. Waren viele der Comic-LeserInnen in der ersten Phase noch Kinder und Jugendliche, waren diese in der zweiten Phase nun erwachsen und zum Teil selbst Eltern, LehrerInnen oder PädagogInnen. Sie konnten die Warnungen kaum weitertragen. Dafür begleiteten sie die Comic-Lektüre der nachgewachsenen Generation in zweifacher Weise: (1) Sie nahmen Comics in den Unterricht auf und behandelten deren Geschichten im Deutsch-, Kunst- oder Religionsunterricht. (2) Daneben nutzten sie den Comic selbst als didaktisches Mittel. Es gab Comics, die für den Unterricht geschaffen wurden. Mithilfe von Asterix konnte man Latein oder Französisch lernen. Es gab Comic-Fassungen der biblischen Geschichte und von historischen Ereignissen. Damit war die Beschäftigung mit der Darstellungsform eingeführt. Unterstützt wurde die Entwicklung durch die neuen Sichtweisen von führenden Intellektuellen der Zeit. Die Kritik an der Kulturindustrie im Geiste Max Horkheimers und Theodor W. Adornos machte zwar vor den Comics nicht halt, doch wurden sie als Entspannung gebilligt. Mit der Verwendung von Comics in der Werbung kann man von einer gesellschaftlichen Akzeptanz ausgehen. Damit waren Comics kein Gegenstand der Kontroverse mehr. Die publizistischen Aktivitäten ließen zum Ende der Phase deutlich nach und man könnte ein Erliegen der Debatte vermuten. Comics bedurften keiner Verteidigung mehr und man musste nicht mehr begründen, dass man sich mit ihnen beschäftigte.

2.5

Phase 3: Werk (ab 1984)

In der dritten Phase intensiviert sich die Beschäftigung mit der Darstellungsform in vielen verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern. Neben den PädagogInnen entdecken nun auch verstärkt WissenschaftlerInnen der Sprach- und Literaturwissenschaft, Kultur- und Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und der Kommunikations- und Medienwissenschaft den Comic als Forschungsgegenstand. Die Untersuchungen wenden sich nun dem Comicwerk zu. ComiczeichnerInnen, Comicszenen in unterschiedlichen Ländern, Figuren und Motive werden unter den Perspektiven der jeweiligen Fächer beleuchtet. Die Grafic Novel Maus von Art Spiegelman war ein „wichtiger Impuls für die kulturelle Akzeptanz des Comics in Deutschland“ (Grünewald 2014, S. 45) und erweiterte das Comicangebot für die Zielgruppe der Erwachsenen. In Maus geht es um die autobiografische Geschichte der Familie Spiegelman in der Zeit des Nationalsozialismus. Stark diskutiert wurde, dass Juden als Mäuse, Polen als Schweine und Nazis als Katzen (siehe Abb. 4) dargestellt wurden. Die Gattung Grafic Novel zeichnet sich durch die Verbindung von meist literarisch-künstlerisch komplexen und abgeschlossenen Erzählungen mit ernsten The-

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Abb. 4 Art Spiegelman: Maus. (Quelle: Spiegelman 2002, S. 25)

men wie Gewalt, Krieg, psychologische Grenzsituationen, Erotik, Philosophie, Politik, Geschichte und Zeitgeschehen in Buchform aus. Mit der Herausgabe der deutschsprachigen Ausgabe von Maus im Jahr 1989 ist der Inhalt der Bildergeschichten für Erwachsene erschlossen. Die Wertschätzung der ComiczeichnerInnen zeigt sich folglich in der Akzeptanz als eigenständige Künstlerpersönlichkeiten in der „neunten Kunst“, die Francis Lacassin (1971) neben Malerei, Bildhauerei, Zeichnung, Grafik, Architektur sowie Fotografie, Fernsehen und Film stellte. Auch die Forschung zum Comic im intermedialen Kontext beginnt in der dritten Phase. Das ist ein Beleg für das verstärkte Interesse verschiedener Disziplinen am Forschungsobjekt Comic. Comics treten in einen „immer engeren Dialog mit den zeitgenössischen Ausdrucksformen (Roman, Film, gestaltende Kunst, Videospiele, Multimedia)“ und nehmen einen „entscheidenden Platz in der modernen, von Bildern und Freizeitvergnügen dominierten Gesellschaft“ ein (Groensteen 2000, S. 9). Von besonderer Bedeutung sind dabei Untersuchungen über Comic und

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Film. Zudem werden in der dritten Phase verstärkt soziologische Themen im Comic untersucht. Die Spannbreite reicht dabei von Gender, Gewalt, Sexualität, Religion, Politik, Geschichte, Zeitgeschehen, Heldentum bis hin zu philosophischen Fragen. Sie werden in Einzelwerken, Serien, in Bezug auf ZeichnerInnen und Länder untersucht. Gut ein Fünftel der Aufsätze mit geografischem Bezug behandeln Japan und deren Manga, wie die Comics dort heißen. Erst danach folgen Untersuchungen mit US-amerikanischem, deutschem und französischem Länderbezug. Seit 2000 steigt die Anzahl der Veröffentlichungen rapide und es wird differenzierter zu (trans-)kulturellen und soziologischen Fragestellungen geforscht. Alte werden neu betrachtet, wie Adaptionen an Literatur, Popkultur oder Architektur; neue kommen hinzu, darunter Webcomics und queer-feministische Inhalte (Eder et al. 2011). Zusammenfassend lässt sich für Phase drei folgendes feststellen: (1) Die Comicforschung findet in unterschiedlichsten Disziplinen Beachtung, insbesondere aus den Geistes- und Kulturwissenschaften. (2) Es entsteht die Comicgattung „Graphic Novels“, die vornehmlich ernste Themen aufgreift, in Buchformat erscheint und abgeschlossene Geschichten erzählt. Sie richtet sich primär an eine erwachsene Leserschaft. (3) Die Untersuchungen sind im Gegensatz zu den ersten beiden Phasen werkorientiert. (4) Besonders beliebte Forschungsthemen sind Superhelden und ComiczeichnerInnen bzw. -autorInnen, die mittlerweile die Anerkennung als KünstlerInnen erreicht haben. Ihren Comicfiguren oder -serien wird inzwischen (populär)kulturelle Bedeutung beigemessen. (5) Es zeigt sich ein Anstieg in der Forschung zu intermedialen Themen, insbesondere zwischen Comic und Film. (6) Im interkulturellen Forschungsfeld hebt sich die Beschäftigung mit dem japanischen Manga hervor (Schwender und Grahl 2016). Darunter findet sich auch eine neue Gattung von Literatur, nämlich Hinweise, wie man sich den Zeichenstil der Mangas aneignet, was ebenfalls ein Hinweis auf die große Akzeptanz dieser Form darstellt (siehe Abb. 5). Publikationen, die einen Überblick über die Darstellungsform in seiner ganzen Breite geben sind selten. Für den englischsprachigen Bereich kommt man an McCloud (2001a, b) nicht vorbei. Cohn (2013) aktualisiert die Debatte und konzentriert sie auf linguistische Aspekte. Speziell für die Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Text und Bild sei beispielhaft Baetens und Surdiacourts (2012) Untersuchung genannt. Für den deutschen Sprachraum können das Comics-Handbuch von Fuchs und Reitberger (1978) und „Fortsetzung folgt – Comic Kultur in Deutschland“ von Knigge (1986) immer noch als Standard-Werke angesehen werden. Aktueller ist die Comic-Analyse von Dittmar (2011) und vor allem das umfangreiche Lehrbuch Comics und Grafic Novels von Abel und Klein (2016). Hier werden die Aspekte der historisch-kulturellen, der theoretischen und der analytischen Dimensionen fundiert dargestellt. Große Teile der Debatten über visuelle Darstellungen werden ausschließlich für die Darstellungsform der Comics geführt, ohne auf Funktionen und Darstellungsweisen der Karikaturen einzugehen. Gemeinsame und übergreifende Diskussionen gibt es kaum. Das macht eine gesonderte Beschäftigung mit der Karikatur erforderlich. Dessen Entwicklung verläuft von Anfang an autonom.

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Abb. 5 Figuren im MangaStil aus dem Lehrbuch Grundlagen der MangaKunst. (Quelle: Narita 2013, S. 158)

3

Karikatur

3.1

Die Definition der Karikatur

Karikatur geht etymologisch auf das italienische Verb „caricare“ zurück, das beladen oder überladen bedeutet, bzw. auf dessen Substantivierung „caricatura“. „Caricare la dose“ bedeutet „das Maß steigern“ und „eins obendrauf setzen“. „War auch das Zeichnen übertriebener Bildnisse im 17. Jahrhundert eine beliebte Kunstübung, so sind Äußerungen über die Karikatur als einer eigenen künstlerischen Gattung eher selten. Stets klingt jedoch die [. . .] Definition von Annibale Carraccis nach, Karikaturen seien Bildnisse, in denen die natürlichen Fehler durch den Künstler hervorgehoben statt gemildert werden.“ (Unverfehrt 1984, S. 347). Knieper (2002, S. 15) weist ergänzend darauf hin, dass nach Carracci (1560–1609) in der Natur weder die ideale Schönheit noch die absolute Hässlichkeit zu finden sei. Vollkommene Gegenstände könne nur die Kunst schaffen. Um zur perfekten Hässlichkeit zu gelangen, müsse man die vorhandenen Formen übertreiben. In der Wortschöpfungsphase, also beim Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert, verstand man unter Karikatur vor allen Dingen die Herausarbeitung und die Her-

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vorhebung physiognomischer Eigenschaften und damit die Anfertigung übertriebener Bildnisse. Über das Französische kam der Begriff im 18. Jahrhundert in die deutsche Sprache. Die Kunstform selbst war aber dort bereits unter Begriffen wie Aftergestalt, Missgestalt, Missbild oder Fratzenbild bekannt. Schnell entwickelte sich „Karikatur“ zu einem Sammelbegriff, der über verzerrte Gesichtsdarstellungen bis hin zur Bildsatire ein großes Spektrum abdeckte. Heute wird der Begriff insbesondere synonym zur politischen Karikatur verwendet (Knieper 2006b, 2008). Damit ist der aktuelle Gebrauch des Begriffs „Karikatur“ in der deutschen Sprache zumindest zweideutig. Zum einen versteht man darunter die in wenigen Strichen erzielte, übertriebene Porträtzeichnung. Doch auch die ausführlichere, komponierte Bildsatire fällt unter den Begriff Karikatur (Plum 1998, S. 27). Im Englischen ist das erstere eine „Caricature“, das zweite ein „Editorial Cartoon“. Bezieht sich der Editorial Cartoon auf ein politisches Thema, dann spricht man auch von einem Political Cartoon. Hier ist die deutsche Entsprechung die politische Karikatur. Ein Editorial Cartoon ist ein visueller Kommentar und damit eine meinungsbetonte journalistische Darstellungsform. Als Gegenstand behandelt sie ein zeitnahes bzw. aktuelles Thema, dessen Rahmendaten bei den BetrachterInnen als bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Der Editorial Cartoon ist fester Bestandteil der Medienberichterstattung, hat aber seine Heimat bis heute primär im Printbereich. Formal ist ein Editorial Cartoon gleichzeitig eine visuelle journalistische Stilform und ein verfremdendes und verdichtendes bildkünstlerisches Verfahren, das sich durch primär handgrafische Technik, eine grafisch-satirische Verkehrssprache und die Anwendung von Witztechniken auszeichnet. Im Idealfall vermag es ein Editorial Cartoon Sinnzusammenhänge, Problemfelder oder Widersprüche aktueller Themen auf den Punkt zu bringen. Eine Karikatur im Sinne eines Editorial Cartoons erfüllt damit eine wichtige Kritik- und Kontrollfunktion in der Gesellschaft (Knieper 2006b, 2008). Der Text steht bei der Karikatur oft nicht im Vordergrund, selbst wenn er den Inhalt zentral erläutert. Die Zeichnung transportiert die Botschaft, der Text weist darauf hin. So werden Wortspiele visualisiert und Text-Bild-Konflikte aufgedeckt. Beide Modi bilden eine Einheit, deren Zusammenspiel den verborgenen Hintergrund hervortreten lässt.

3.2

Karikaturistische Frühwerke

Die Beschäftigung mit der Geschichte der Medien und seinen Darstellungsformen schärft den Blick für deren Verwendungszusammenhänge und Funktionen. Aus der Distanz sind diese besser zu erkennen und Erkenntnisse sind bedeutsam, um aktuelle Faktoren besser zu verstehen. Wie es die Herkunft des Wortes aus dem Italienischen nahelegt, finden sich erste nachweisbare Karikaturen auch im Römischen Reich. Graffiti in Pompeji können eindeutig der Darstellungsweise zugeordnet werden. Die Darstellung eines Gesichts im Profil mit übertrieben großer Nase und Kinn fand sich bei Ausgrabungen nicht weit von Pompeij im Atrium der Mysterienvilla. Abgebildet ist der Kopf eines mutmaßlichen Politikers mit angedeuteter Toga und einem Kranz auf dem kahlen Haupt. Die Inschrift verrät: „Das ist Rufus.“ (siehe Abb. 6).

Comics und Karikaturen in der Kommunikationsforschung

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Abb. 6 Karikatur an einer Hauswand in Pompeji in der Mysterienvilla, Raum 64, Nordwand. Skizze eines Kopfes eines alten Mannes mit der Inschrift: „Das ist Rufus“, (ca. 79 n.Chr,), (digital nachgezeichnet, Creative Commons Lizenz)

Ein anderes Beispiel aus der römischen Zeit zwischen dem ersten und dritten Jahrhundert nach Christus zeigt eine menschliche Figur mit einem Eselskopf, die an ein Kreuz geschlagen ist (siehe Abb. 7). Eine Person steht mit erhobener Hand daneben. Darunter ist zu lesen: „Alexamenos sebete theon“ (Alexamenos betet zu seinem Gott). Für Zeitgenossen war dies als Beleidigung des christlichen Glaubens zu verstehen (Wright und Fairholt 1875, S. 39). Einen kunsthistorisch bedeutsamen Beitrag lieferte Leonardo da Vinci (1452–1519) zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert. In einer Reihe von Zeichnungen sind groteske Gesichter mit übertriebenen und untertriebenen Gesichtspartien zu sehen. Sicher sind diese Bilder auch das Ergebnis seiner anatomischen Arbeiten, durch die er die Grundlagen des menschlichen Körpers erforschte (Kwakkelstein 1991). Bei Leonardo da Vincis grotesken Köpfen handelt es sich vermutlich weniger um Karikaturen mit dem Ziel einer Kritik, da die Porträts keine einzelnen Personen hervorheben und verunglimpfen, sondern eher um Studien über die Vielfalt des menschlichen Charakters und dessen Ausdruck. Einige Figuren entstammen dem alltäglichen Leben (siehe Abb. 8), andere medizinischen Studien. Ältere Männer und Frauen in verärgerter Stimmung, böse oder auch lachend, werden immer wieder portraitiert (Veltman 1985, S. 37). Seit der Reformation werden Karikaturen als Mittel der politischen Propaganda eingesetzt. Ein Beispiel ist etwa „der Papstesel zu Rom“. Es ist eine Schmähschrift,

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Abb. 7 Graffiti „Alexamenos betet zu seinem Gott.“ (ca. 1.-3. Jhdt.), digital nachgezeichnet. (Quelle: Grafik aus Lanciani 1898, S. 122)

die von Luther und Melanchthon in Wittenberg im Jahre 1523 herausgegeben wurde und den Holzschnitt mit einem Kommentar enthielt. Hergestellt wurde das Bild von Lucas Cranach. Er stellt ein hybrides Wesen dar mit Eselskopf, weiblichen Brüsten, Hufen und Klauen an den Füßen (siehe Abb. 9). Um alle Zweifel zu vermeiden, wer damit gemeint ist, sieht man im Hintergrund die Engelsburg und die päpstliche Flagge (Frohne 2008, S. 20–26). Das Verständnis von Karikaturen setzt das Wissen um die Figuren und gegebenenfalls den Ereigniskontext voraus. Oft ist die Information nur auf der Textebene mitgegeben. Dabei werden bisweilen Namen genannt oder angedeutet. Die De-Kontextualisierungsleistung muss der Betrachtende im Decodierungsprozess erbringen. Eine Karikatur führt in die Irre, falls Encodierung und Decodierung unterschiedlich erfolgen. Wichtig ist es für den Zeichner oder die Zeichnerin, mit Personifizierungen, Allegorien oder Symbolen zu arbeiten, die auf Seiten der Betrachtenden als bekannt unterstellt werden dürfen. Leicht sind für Betrachtende nationale Repräsentationen zu entschlüsseln: Deutsche können als nationale Personifikation wie Marianne oder Michel dargestellt werden. Im Ausland kommen auch Gretchenstereotype (blond, Zöpfe etc.) und typische Attribute wie Bier, Brezel, Bratwürste oder Lederhose zum Einsatz. Franzosen sind zu erkennen an Baskenmütze und Baguette oder an Ortsmarkern wie etwa dem Eiffelturm. Uncle Sam steht für die USA. Russland wird durch einen Bären repräsentiert, China durch einen Drachen oder seltener einen Panda. In wirtschaftskritischen Karikaturen ist der Kapitalist am Hut, an der Zigarre

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Abb. 8 Leonardo da Vinci: Studie grotesker Köpfe (1490). (Quelle: Boussel 1989, S. 99)

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Abb. 9 Lucas Cranach d. Ä.: Der Papstesel zu Rom (1523). (Quelle: Meuche 1976, S. 40)

und an seiner Leibesfülle zu erkennen. Auch einzelne Personen werden anhand typischer Attribute charakterisiert: Wilhelm II. wurde gleichförmig mit Pickelhaube dargestellt (May 2013a, S. 17, siehe Abb. 10). Auch Adolf Hitler ist durch seinen markanten Schnurrbart und seinen Seitenscheitel leicht zu karikieren. Er braucht keine weiteren Insignien. Karikiert man heute eine Persönlichkeit mit Seitenscheitel und Schnurbart, dann charakterisiert man sie allein über diese Attribute als Demagogen und Diktator. Durch die bisherigen Betrachtungen lassen sich der Karikatur geeignete Trägermedien zuordnen: Zunächst sind es Wände, an die man seine Botschaften für PassantInnen anbringt. Der oder die UrheberInnen sind anonym oder bekannt. Einblattdrucke und Flugschriften nehmen seit dem Mittelalter medial Stellung zu relevanten Themen der Öffentlichkeit und kritisieren die MeinungsführerInnen der jeweiligen Lager. Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg kam ein weiteres Verbreitungsmedium hinzu: Postkarten wurden genutzt, um Propaganda bei den Landsleuten zu verbreiten (May 2013b, S. 253–258). Die jeweiligen Feinde wurden verunglimpft, der Lächerlichkeit preisgegeben und sollten so ihren Schrecken verlieren. In der Nachfolge der Flugschriften kommen seit dem 17. Jahrhundert Zeitungen hinzu.

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Abb. 10 Wilhelm II auf einer französischen Postkarte (ca. 1914). (Quelle: May 2013a, S. 17)

Die MacherInnen sehen sich als BerichterstatterInnen und KommentatorInnen der sozialen Wirklichkeit. Bei Stellungnahmen arbeiten sie auch mit dem Mittel der Karikatur. Plakate knüpfen wiederum an den Graffiti an, da sie sich an Menschen richten, die gezielt oder zufällig an den gedruckten oder gezeichneten politischen Botschaften vorbeikommen und deren Botschaft wahrnehmen. Politische Plakate sind legal oder illegal an Wänden fixiert, um ein zufälliges Publikum mit meist oppositionellen Ansichten zu konfrontieren. Auch dreidimensionale Medien sind geeignete Träger für Karikaturen. So werden in den Karnevalshochburgen wie Mainz, Köln oder Düsseldorf bei den Umzügen Motivwagen mitgeführt, die auf Personen und Ereignisse des vergangenen Jahres eingehen und diese kritisch kommentieren.

3.3

Juristische und gesellschaftliche Debatte

Regelmäßig ärgern sich die in Karikaturen dargestellten Personen; bestenfalls bleibt ihnen das Lachen im Hals stecken. Ist die narzisstische Kränkung jedoch zu stark, dann geht es vor Gericht. Werden durch die Karikaturen gar religiöse Gefühle verletzt, dann nehmen die Gekränkten auch schon mal das Recht in die eigene Hand

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und verüben Selbstjustiz. Morddrohungen und terroristische Akte gegen KarikaturistInnen und ihre Redaktionen gehören heute leider zum Alltag (Tinnefeld und Knieper 2016, S. 156–158). Die Geschichte der Karikatur ist damit auch eine Geschichte der juristischen Auseinandersetzung. So stand etwa George Grosz 1928 wegen eines Bildes vor Gericht, das Jesus am Kreuz mit einer Gasmaske und in Soldatenstiefeln darstellte (siehe Abb. 11). Der zunächst ergangene Freispruch wurde von der nächsten Instanz mit dem Hinweis aufgehoben, das Gericht habe in seiner ersten Entscheidung außer Acht gelassen, dass es nicht nur auf die Absichten des Künstlers ankomme, sondern auch auf die Wirkung, die ein Bild auf den Betrachtenden ausüben müsse (Hess 1982, S. 154). Erst in letzter Instanz wurde der Freispruch bestätigt. Das aktuelle Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt Beleidigung von Religion und deren Anhänger in § 166 STGB. Dort heißt es zu Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen: „(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Das Schweizer Strafgesetzbuch thematisiert in Artikel 261 die „Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit“, in Österreich regeln die Paragrafen 188 und 189 des Strafgesetzbuchs die „Herabwürdigung religiöser Lehren“ und die „Störung einer Religionsausübung“. In Deutschland wird das „Menschenrecht der Religionsfreiheit . . . als Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit im Grundgesetz garantiert (Art. 4 I und II G). . . . Im Hinblick auf die europäische Dimension . . . sei auch die Religions- und Weltanschauungsfreiheit betont, die nach der EMRK (Art. 9) und der EU-Grundrechtscharta (Art. 10) das forum internum und die Religionsausübung in einem umfassenden Sinn schützt. Der Schutz beinhaltet die religiöse Freiheit im privaten und öffentlichen Raum, dies allerdings im Rahmen der Grunderfordernisse eines sozialen Zusammenlebens. . . . Damit öffnet das Recht den Weg zu religiöser Abb. 11 George Grosz: Maul halten und weiter dienen (1928). (Quelle: Schuster 1995, S. 478)

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Toleranz im Rahmen der staatlichen Rechtsordnung.“ (Knieper und Tinnefeld 2008, S. 477). Gerichtsverfahren und Verurteilungen sind in europäischen Ländern jedoch selten, da in der Güterabwägung die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 11 GRC) in der Regel als höherwertig eingestuft wird. Im Sinne einer freien Kommunikation kommt zudem der Meinungs- und Willensbildung eine überragende Bedeutung zu (Art. 10 EMRK, Art. 11 GCR, Art. 5 Abs. 1 GG). Am 30. September 2005 druckte die dänische Tageszeitung Jyllands-Posten Zeichnungen, die den Propheten und islamischen Religionsstifter Mohammed zum Thema hatten. Sie wurden in der islamischen Welt als blasphemisch angesehen. Zudem sahen sie durch die Zeichnungen den Achtungsanspruch gläubiger Muslime verletzt. Die eingeforderte Rücksicht auf religiöse Gefühle ist in diesem Fall aber weniger eine juristische Frage als eher eine Frage der Respekttoleranz. Die Debatte um die Karikaturen wird inzwischen intensiv geführt (z. B. Müller und Özcan 2007; Müller 2011; Tinnefeld und Knieper 2016). „Es ist nicht die Aufgabe des Staates, die Religion vor öffentlicher Herabsetzung zu schützen. Die Freiheit der Meinungsäußerung und der Kunst stehen dem strikt entgegen.“ (Knieper und Tinnefeld 2008, S. 481). Insbesondere das Privileg der Kunstfreiheit, also die vorbehaltlose Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, ist nicht an bestimmtes geschmackliches, ästhetisches oder moralisches Niveau gebunden, sondern ausschließlich dann eingeschränkt, wenn es mit anderen Verfassungsgrundsätzen in Konflikt gerät (Knieper und Tinnefeld 2008, S. 478). In diesem Fall darf der Staat daher die Verbreitung der Mohammed-Karikaturen nicht beschränken. Ein Verbot der beanstandeten Karikaturen zum Schutz religiöser Gefühle würde die Meinungs- und Pressefreiheit unzulässig beschneiden (Knieper und Tinnefeld 2008, S. 482). Am 7. Januar 2015 wurden Zeichnungen in der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo von islamistischen Terroristen zum Anlass genommen, um einen Mordanschlag auf die Redaktion zu rechtfertigen. Das Magazin hatte nicht nur die Mohammed-Karikaturen aus Jyllands-Posten nachgedruckt, sondern zudem seinerseits immer wieder polemische Karikaturen gegen jegliche Religionsgemeinschaften publiziert. Unter den zwölf Ermordeten waren die Zeichner Jean Cabut (aka Cabu), Georges Wolinski, Stéphane Charbonnier (aka Charb), Philippe Honoré und Bernard Verlhac (aka Tignous). Die Attentäter verließen die Redaktion und riefen: „Gott ist am größten!“ „Wir haben den Propheten gerächt!“ und „Wir haben ‚Charlie Hebdo‘ getötet!“ (Reinbold 2015). Als Reaktion auf diesen Terroranschlag erschien eine Ausgabe von Charlie Hebdo, die einen weinenden Mohammed zeigt, der die Solidaritätsbekundung „Je suis Charlie“ in den Händen hält (Tinnefeld und Knieper 2016, S. 157). Die hier zu führende Debatte um religiöse Toleranz muss die Dimensionen zwischen Meinungsfreiheit und Zensur, zwischen Wahrung der Würde der Dargestellten und der Autonomie der Kunst, zwischen Respekttoleranz und Gesetz sowie zwischen Verantwortung und Eigenständigkeit ausloten (Seim 2003, zudem Vauclair 2015). In einem Überblick betrachten Yüksel und Akbulut (2015) die Debatte um die Mohammed-Karikaturen in US-amerikanischen Tageszeitungen. Die Diskussion wird sicherlich nicht leichter, „wenn Anhänger des Islams betroffen sind, die zu säkularisiertem Staat und Religionsfreiheit in einem Spannungsverhältnis stehen oder beides ablehnen“ (Knieper und Tinnefeld 2008, S. 475–476).

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Allgemein sind es drei Themenbereiche, weswegen kritische Künstler vor Gericht geladen werden können: Neben Kirche/Religion sind es Staat/Politiker sowie Sexualität. Letztes unter der Perspektive der Jugendgefährdung (Solms 1997, S. 12). Die Beschäftigung mit der Gesetzgebung und der Spruchpraxis ist aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht bedeutsam, da hier die Grenzen der Freiheit in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten diskutiert werden können.

3.4

Aktuelle Verwendung und Auseinandersetzung

Um Karikaturen in der Breite des Phänomens zu verstehen, müssen Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen gleichzeitig gedacht werden: Kunst- und Kulturgeschichte werden benötigt, um die historische Dimension der Darstellungen zu erfassen (Oßwald 2013). Die Kunsttheorie hilft dabei die Bildinhalte und deren Aussagen ikonografisch bzw. ikonologisch zu verstehen (Müller 2011). Die Journalistik setzt sich mit der Karikatur als meinungsbetonte, visuelle Darstellungsform auseinander (BojenkoIzdebska 2013). Die biografische Mediengeschichte verfolgt KarikaturistInnen und deren Bedeutung für die Darstellungsform (Brown 2015). Die Psychologie gibt Aufschluss über die unterschiedlichen Humortechniken und kann Wirkungen über Humortheorien (Shultz 1972) erklären. Für die Politikwissenschaft können Karikaturen im Kontext der politischen Markenführung oder Politikfeldanalysen aufschlussreich sein (Sinram 2015). Nicht zu vergessen sind auch noch Sprachwissenschaften, Soziologie, Semiotik, Bildwissenschaften und auch Religionswissenschaft (Glavac 2013). Als Dimensionen der Einordnung nennt Marienfeld (1990, S. 16–18) sechs unterschiedliche und nicht immer trennscharfe Ausprägungen: Die Sachkarikatur stellt Sachen oder Gegenstände dar, die mit politischen Ereignissen, mit politischem Handeln oder mit PolitikerInnen in Verbindung gebracht werden können. Nicht nur Insignien und Symbole der Macht wie Zepter, Krone oder Waffen sind hier zu finden, sondern auch solche der persönlichen Identifizierung einer Person. Die personale Typenkarikatur metaphorisiert handelnde Einheiten wie Staaten, Völker, soziale Gruppen, Institutionen und Verbände auf einen Individualtypus, dessen Ausstattungsmerkmale Schlüsse auf die gemeinte Einheit zulassen. Hier werden Stereotype genutzt, um Aussagen über Gruppen als Ganzes zu treffen (siehe auch den Beitrag von Schwender und Petersen in diesem Band). Die personale Individualkarikatur stellt bekannte Persönlichkeiten ins Zentrum, bei denen oftmals ein markantes Merkmal überzeichnet wird. Die Ereigniskarikatur dient der Kommentierung eines aktuellen Vorgangs. Bei der Prozesskarikatur wird ein Verlauf oder eine Entwicklung beschrieben, während die Zustandskarikatur anhand aktueller Ereignisse gesellschaftliche Strukturen thematisiert.

4

Fazit

Obgleich sich Comics und Karikaturen sowohl in ihren Definitionen als auch in ihren historischen Entwicklungslinien deutlich unterscheiden, gibt es bisweilen Überschneidungen und funktionale Ähnlichkeiten. So gehören Karikaturen zwar

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eher den politischen Debatten an, was aber ComicszeichnerInnen nicht daran hindert, sich politisch zu positionieren. So finden Comics im Rahmen von politischen Kampagnen durchaus Anwendung und übernehmen ähnliche Funktionen in der Behandlung von Freund und Feind (Brantner und Lobinger 2014; Wodak und Forchtner 2014). Es gibt auch Zeichnerinnen und Zeichner, die sich nicht uneingeschränkt einer der beiden Darstellungsformen zuordnen lassen. Gerhard Seyfried etwa sieht sich als Comiczeichner, Karikaturist und Schriftsteller, der sich nicht festlegen will und daraus auch seinen Stil und seine wiederkehrenden Figuren entwickelt. Wenn es auch Überschneidungen in funktionaler und personeller Hinsicht gibt, lassen die Definitionen eine klare formale Unterscheidung zu: Karikaturen bestehen aus einem Einzelbild, Comics brauchen mindestens zwei Panels mit einem narrativen Bezug. Die methodischen Zugänge zu ihrer Betrachtung sind ähnlich: Interpretationen der Inhalte, der Geschichte und der Ästhetik dominieren, Untersuchungen zur Wirkung sind pauschal und nicht auf individuell-psychologischer Ebene angesiedelt. Beide Formen durchleben die Folgen einer Globalisierung, die aber auch die Unterschiede radikal bewusst macht. Comics erfuhren durch die weltweite Entdeckung der japanischen Mangas in den 1990er-Jahre einen Popularitätsschub sowohl bei der Leserschaft als auch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Inhaltlich und formal werden neue Ausdrucksweisen ausprobiert, durchdringen sich mit bestehenden regionalen und wirken auf traditionelle. Die Wissenschaft folgt diesen Entwicklungen mit aufmerksamer Spannung, um die Innovationen reflexiv zu begleiten. Karikaturen erleben ebenfalls eine globale Wahrnehmung, die sich jedoch im Unverständnis zwischen freiheitlichen Gesellschaften und deren Meinungs- und Pressegesetzen einerseits und andererseits als blasphemische Angriffe auf rigorosere Kulturen darstellt. Ausgleichende und befruchtende Debatten scheinen immer weniger möglich, da sie nicht mehr nur als künstlerische Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Die Unterschiede zwischen Karikaturen und Comics sind in ihren historischen Entwicklungen angelegt. Karikaturen sollen und wollen bloßstellen und beleidigen. Seit römischer Zeit geht es um das Spannungsverhältnis zwischen kritisieren und kritisiert werden. Seit dem Mittelalter nehmen die Dargestellten die Angriffe nicht nur hin, sondern setzen sich zur Wehr. Comics haben sich in ihrer modernen Variante zu einer neuen Kunstform entwickelt, die heute autonom und gleichberechtigt neben anderen stehen kann.

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Theoretische Perspektiven auf mediale Geschlechterbilder Tanja Maier und Martina Thiele

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Realistische und konstruktivistische Forschung in der Kommunikationswissenschaft . . . . 3 Geschlechterbilder und -stereotype: realistische und konstruktivistische Positionen in der Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Forschungsüberblick: realistische und konstruktivistische Analysen von Geschlechterbildern in der Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ausdifferenzierung: dekonstruktive und queere Analysen von Geschlechterbildern . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Das Doing Gender und die symbolische Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit in und durch Medien sind für die sich seit den 1970er-Jahren im deutschsprachigen Raum etablierenden Gender Media Studies zentral. Dabei ist im deutschsprachigen Raum nicht nur die stärker sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft als „kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung“ mit dem Zusammenhang von Kommunikation, Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht befasst, sondern auch die geistes- und kulturwissenschaftlich verortete Medienwissenschaft. Im Folgenden wird von Gender Media Studies die Rede sein (Lünenborg und Maier 2013), um transdisziplinäre wie transnationale Perspektiven zu ermöglichen. Der Beitrag liefert zunächst einen Überblick über frühe T. Maier (*) Freie Universität Berlin, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Thiele Fachbereich Kommunikationswissenschaft, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_14

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T. Maier und M. Thiele

kommunikationswissenschaftliche Studien zu Geschlechterbildern und -stereotypen. Daran anschließend werden verschiedene Theorien, Ansätze und Perspektiven innerhalb der transdisziplinären Forschungsfelder Visuelle Kommunikationsforschung und Geschlechterforschung vorgestellt. Abschließend werden Herausforderungen der Gender Media Studies mit Blick auf die Forschung zu Geschlechterbildern und Medien diskutiert. Schlüsselwörter

Geschlechterbilder · Gender Media Studies · Gender Studies · Queer Theory · Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung

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Einleitung

Das Doing Gender und die symbolische Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit in und durch Medien sind für die sich seit den 1970er-Jahren im deutschsprachigen Raum etablierenden Gender Media Studies zentral (z. B. Van Zoonen 1994; Klaus 2005; Lünenborg und Maier 2013). Dabei ist im deutschsprachigen Raum nicht nur die stärker sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft als „kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung“ mit dem Zusammenhang von Kommunikation, Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht befasst, sondern auch die geistesund kulturwissenschaftlich verortete Medienwissenschaft (z. B. Seier und Warth 2005; Wagner 2008; Peters und Seier 2016). Im Folgenden wird von Gender Media Studies die Rede sein (Lünenborg und Maier 2013), um diese disziplinäre Trennung zwischen Kommunikations- und Medienwissenschaft aufzuheben und zugleich transdisziplinäre wie transnationale Perspektiven zu ermöglichen. Speziell Bilder, Bildmedien und visuelle Kommunikation erfahren gerade in der stärker kommunikationswissenschaftlichen Tradition der Gender Media Studies erst seit einigen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit, während sie in den medienwissenschaftlichen Perspektiven zentral sind. Den Ausgangspunkt des Beitrags bilden erkenntnistheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Geschlechterforschung, Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie den Bildwissenschaften. Nach einem Überblick über frühe kommunikationswissenschaftliche Studien zu Geschlechterbildern und -stereotypen werden verschiedene Theorien, Ansätze und Perspektiven innerhalb der transdisziplinären Forschungsfelder Visuelle Kommunikationsforschung und Geschlechterforschung vorgestellt. Abschließend werden einige Herausforderungen der Gender Media Studies mit Blick auf die Forschung zu Geschlechterbildern und Medien kurz diskutiert.

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Realistische und konstruktivistische Forschung in der Kommunikationswissenschaft

Sowohl von „Geschlecht“ als auch von „Bild“ liegen zahlreiche, äußerst disparate Definitionen vor. Sie deuten auf unterschiedliche theoretische Standpunkte und Perspektiven, die wiederum Aufschluss geben über wissenssoziologische Entwicklungen,

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Paradigmenwechsel sowie die Entstehung neuer Disziplinen und multidisziplinärer Forschungsfelder etwa den Bildwissenschaften, den Visual Culture Studies und den Gender Studies. Als eine Möglichkeit, Ordnung in die Vielzahl an Definitionen, fachlichen und theoretischen Perspektiven zu bringen, bietet sich die Unterscheidung zwischen „realistischer“ und „konstruktivistischer“ Forschung an. Eine solche Unterscheidung hat Winfried Schulz 1989 in der Auseinandersetzung mit „Massenmedien und Realität“ getroffen und zur Veranschaulichung dem ptolemäischen Weltbild das kopernikanische gegenübergestellt. Medien werden nach realistischer Auffassung bzw. dem ptolemäischen Ansatz entsprechend als „Spiegel der Wirklichkeit“ begriffen, nach konstruktivistischer Auffassung bzw. dem kopernikanischen Weltbild entsprechend als „Weltbildapparate“ (Schulz 1989, S. 140–141). Realistische Forschung meint, dass den Studien explizit oder implizit ein Repräsentationsbegriff zugrunde liegt, der davon ausgeht, dass Medieninhalte zumindest einen Ausschnitt „der Realität“ wiedergeben und dass die „Darstellung in den Medien“ in Relation zu einer außermedialen Realität als „adäquat“ oder „verzerrt“ bewertet werden kann. In einer konstruktivistischen Perspektive hingegen wird ein solches Verhältnis von Realität und Medientext verworfen. Denn, so Kenneth Gergen: „Die Begriffe und Formen, mittels derer wir ein Verständnis der Welt und von uns selbst erreichen, sind soziale Artefakte, Produkte historisch und kulturell situierter Austauschprozesse zwischen Menschen“ (Gergen 1994; zit. n. Flick 2002, S. 22). Statt eines Abgleichs zwischen Medieninhalten und Realität interessieren Konstruktionen von Realitäten, an denen Medien maßgeblich beteiligt sind. Konstruktivistische empirische Medienforschung zielt damit auf den intermedialen Vergleich und die Untersuchung konkurrierender, alternativer Medienrealitäten (Weber 2003, S. 193). Realistische und konstruktivistische Ansätze sind auch in der Geschlechterforschung auszumachen: Realistische Forschung geht von der Kategorie Geschlecht als soziale Realität aus, häufig auch von Geschlecht als biologische Tatsache. Konstruktivistische Ansätze begreifen hingegen Geschlecht als soziale und kulturelle Konstruktion (gender) und kritisieren den „heimlichen Biologismus“, der auch der sex/ gender-Unterscheidung inhärent sei. Candace West und Don Zimmermann (1987) unterschieden 1987 zwischen sex, sex category und gender. Dabei meint sex die Geburtsklassifikation, sex-category die soziale Zuschreibung von Geschlecht und doing gender die „unvermeidlichen“, an sozialen Geschlechterzuschreibungen (sex categories) orientierten und Geschlecht erzeugenden situativen Praktiken. Radikal und folgenreich dekonstruierte dann Judith Butler (1991) Geschlecht und stellte die Trennung zwischen sex und gender in Frage. Denn sie bestätige die Vorstellung einer biologischen Eindeutigkeit, die wiederum den Geschlechterdualismus und Heteronormativität begründet. Die Unterscheidung zwischen realistischen und konstruktivistischen Positionen ist auch anschlussfähig an Überlegungen zum Bildbegriff. Gemäß der realistischen Auffassung wäre ein Bild (etwa eine Fotografie) eine Abbildung von Wirklichkeit. Der konstruktivistische Bildbegriff geht von Bildern als individuelle und soziale Konstruktionen aus, die in einem bestimmten Kontext entstanden sind und zirkulieren. Ihr Vorhandensein zeugt von der Existenz einer bzw. mehrerer Medienrealitäten. Mit „der“ – letztlich nicht erfassbaren – Realität haben sie nur ansatzweise zu tun.

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Wenn nun Geschlechterbilder in Bildmedien Gegenstand wissenschaftlicher Studien sind, sehen sich ForscherInnen mit verschiedenen theoretischen und empirischen Herausforderungen konfrontiert. Sie sind für VertreterInnen konstruktivistischer Positionen vielfältiger und folgenreicher, weil vermeintliche Gewissheiten – Was ist Realität? Was Geschlecht? Was ein Bild? – in Frage gestellt sind und weil „die mediale Inszenierung der Geschlechter je eigene kommunikative Wirklichkeiten herstellt“ (Moser 2003, S. 241). Empirische Forschung zielt daher darauf, dass statt „Unterschieden“ „Prozesse der Unterscheidung“ (Gildemeister 2010, S. 141) in den Blick genommen werden. Von einer realistischen Position aus gestaltet sich die empirische Forschung einfacher. Ausgehend von der Annahme, dass die Untersuchungsgegenstände „Medienbilder“ und „Geschlecht“ bereits in der sozialen Realität existieren, und ausgehend von der Beobachtung, dass sich in Bildmedien Geschlechterbilder manifestieren, erscheinen Bildmedien und Geschlecht als zwei Entitäten, die sich lediglich an einer bestimmten Stelle überschneiden. Ihr Aufeinandertreffen kann empirisch erforscht werden. Dabei erscheint das Verhältnis von Medienbild und Geschlecht als ein numerisches und repräsentatives. Das Ergebnis der Studien lautet überwiegend, dass die soziale Realität, konkret die quantitativen und qualitativen Geschlechterverhältnisse, nicht adäquat abgebildet werden. So sind mit den beiden erkenntnistheoretischen Positionen verschiedene Zugänge zum Verständnis und Verhältnis von Bild, Medium und Geschlecht verbunden. Wenn im weiteren Verlauf Studien vorgestellt werden, die die Darstellung oder das Bild der Frau (seltener des Mannes) in den Medien thematisieren oder die Geschlechterstereotype, Geschlechterbilder, Visualisierungen von Geschlecht und Geschlechterkonstruktionen untersuchen, deuten sich schon durch die Begrifflichkeiten theoretische Positionen an, die sich wiederum auf das methodische Design auswirken. Das soll hier am Beispiel Bild und Stereotyp, bzw. Geschlechterbild und Geschlechterstereotyp noch einmal verdeutlicht werden (siehe auch den Beitrag von Schwender und Petersen in diesem Band).

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Geschlechterbilder und -stereotype: realistische und konstruktivistische Positionen in der Kommunikationswissenschaft

Walter Lippmann hat Stereotype in seinem viel zitierten Werk Public Opinion von 1922 als „pictures in our heads“ (Lippmann 1998) beschrieben – eine sozialkonstruktivistische Sicht, die aber zeitweise in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Stereotypen nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Vielmehr war und ist insbesondere die Forschung zu medialen Stereotypen stark realistisch geprägt. Stereotype dienen dort als Beleg für eine nicht angemessene, „realitätsinadäquate“ Darstellung. Außer Acht lässt diese Konzeption von Stereotyp – oder eine Definition, die ausschließlich funktionalistisch fundiert ist (Stereotype zur Orientierung, Komplexitätsreduktion, Identitätsbildung etc.) – die wichtige Unterscheidung zwischen einerseits Stereotypen als Kognitionen und andererseits Stereotypen als materialisierten Bildern (in Bildern und Texten). Nur so können die entsprechenden Forschungsbereiche

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abgesteckt und passende Untersuchungsmethoden ausgewählt werden. Je nachdem, ob Stereotypenforschung als Medieninhalts- bzw. Repräsentationsforschung betrieben wird oder sich mit denen befasst, die stereotype Inhalte (re-)produzieren („KommunikatorInnen“ wie „RezipientInnen“), kommt ein anderer Stereotyp-Begriff zum Tragen. Auch sollte unterschieden werden zwischen Stereotypisierung als Prozess und dem Stereotyp als Ergebnis der Stereotypisierung. Stereotype sind also perzeptuelle wie materielle, individuell wie sozial reproduzierte, sprachlich fassbare Bilder. Bild ist im Vergleich zu Stereotyp der neutralere, weniger wertende (Ober-)Begriff. Doch meint auch Bild meist zweierlei; zum einen das konkrete Medienbild und zum anderen das Image, bzw. mentale oder geistige Bild von einer Personengruppe, das durch die Rezeption entsprechender Medienbilder entsteht. Im Englischen stehen mit picture und image zwei Begriffe für materielle und immaterielle Bilder zur Verfügung, doch ist auch hier die Verwendung nicht immer eindeutig (Müller 2007). Im Deutschen hat Bild verschiedene Bedeutungen und bezeichnet so unterschiedliche Dinge wie Sprachbilder (Symbole, Metaphern, Allegorien, . . .), Klangbilder, gemalte und gerahmte Bilder („Kunstbilder“), Fotografien, bewegte Bilder im Film oder auch mittels bildgebender Verfahren erzeugte Bilder der (Natur-)Wissenschaften (Wulf 2006, S. 201). William J. T. Mitchells Aufzählung dessen, was unter Bild gefasst wird, ist noch umfangreicher (Mitchell 2008, S. 20). Er warnt jedoch vor der Annahme, dass allen Dingen, die den Namen Bild tragen, etwas gemein sei. Trotzdem versucht er sich an einer Genealogie des Bildes und stellt einen „Familienstammbaum“ auf. Zu den dort genannten „perzeptuellen“ und „geistigen“ Bildern zählen auch Stereotype. Sie beruhen auf Kategorisierung und Attribuierung – Geschlechterstereotype dementsprechend auf der Kategorisierung nach Geschlecht und sexueller Orientierung sowie Attribuierung. Stereotype können materialisiert, in grafische und optische Bilder transformiert und mittels Sprache und sprachlichen Bildern medial vermittelt werden. Auf Differenzierung zwischen text- und bildbasierten Stereotypen zielen die Begriffe visuelles Stereotyp und Visiotyp. Thomas Petersen und Clemens Schwender meinen mit „visuellen Stereotypen“ ganz allgemein stereotype Darstellungen in der Bildberichterstattung der Medien (Petersen und Schwender 2009). Katharina Lobinger beschreibt visuelle Stereotype als „besondere Medienbilder“ und erläutert unter Zuhilfenahme des mit Stereotyp häufig gleichgesetzten und ebenfalls aus der Druckersprache stammenden Begriffs Klischee: „Ihre Charakteristika entstehen durch konstantes Zusammenspiel aus Bild und Text, oder noch weiter gefasst aus Bild und Kontext. Ein visuelles Stereotyp leistet das, was Bilder an sich nicht können: Es stellt allgemeine Konzepte anschaulich dar. Nicht das Individuelle sondern das Klischeehafte wird in den Vordergrund gerückt. Die Bedeutungszuweisung erfolgt nicht mehr aufgrund der Wahrnehmungskompetenzen und der bildimmanenten Bedeutungen, sondern aufgrund einer erlernten standardisierten Lesart“ (Lobinger 2009, S. 119–120). Der Germanist Uwe Pörksen (1997) versteht unter Visiotypen schematisierte und auf extreme Vereinfachung zielende Visualisierungen hochkomplexer Zusammenhänge. Als Beispiele für Visiotype führt er Schaubilder, sog. „Infografiken“, Karten und Kurven, Stammbäume, Tabellen, Übersichten, Piktogramme und Symbole an, die der Komplexitätsreduktion dienen sollen. Zahl und Bild gehen in

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ihnen eine enge Verbindung ein. Mit Hilfe von Visiotypen werden so komplexe Dinge wie Gentechnik oder die indogermanische Sprachfamilie, Militärschläge oder die Bevölkerungsentwicklung vor Augen geführt. Auch wenn manches für die Unterscheidung zwischen Stereotypen und Visiotypen spricht, lassen sich doch beide, so die Linguistin Uta Quasthoff (1973), verbalisieren. Ein performatives Dilemma der Stereotypenforschung besteht darin, dass jede Befassung mit Stereotypen, diese zugleich reproduziert und möglicherweise festschreibt. Trotz aller „Rigidität“ von Stereotypen, ist jedoch auch ein Stereotypenwandel in manchen Zusammenhängen zu erkennen. Stereotype als individuelle und soziale Konstruktionen können in Frage gestellt, dekonstruiert werden. Ironie und Humor sind dabei ein mögliches Instrument. Statt aber Möglichkeiten der Dekonstruktion von Stereotypen auszuloten, dreht sich im wissenschaftlichen Diskurs wie in Alltagsgesprächen meist alles um die Frage, ob Stereotype nicht doch ein Körnchen Wahrheit enthalten. Diese kernel-oftruth-debate beruht letztlich auf einer realistischen Position, unabhängig davon, wie viel „Wahrheit“ Stereotypen attestiert wird. VertreterInnen konstruktivistischer Positionen finden die Frage nach dem „Körnchen Wahrheit“ unergiebig. Interessanter seien die Gründe für die Bildung und Verwendung von Stereotypen sowie die individuellen und sozialen Folgen des Rückgriffs auf sie. Realistische vs. (sozial-) konstruktivistische Positionen sind somit auch innerhalb der Stereotypenforschung identifizierbar (Thiele 2015, S. 57).

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Forschungsüberblick: realistische und konstruktivistische Analysen von Geschlechterbildern in der Kommunikationswissenschaft

In den 1970er- und 1980er-Jahren entstehen im Zuge der Zweiten Frauenbewegung Studien, die nach „dem Bild“ oder „der Darstellung“ der „Frau in den Massenmedien“ fragen. Dieser Typ von Repräsentationsstudien stellt auf die bestehende Ungleichheit in der medialen Repräsentation von Frauen und Männern ab. Erkenntnisleitend war und ist in solchen Arbeiten ein gesellschaftspolitisches Interesse an gleichwertiger Teilhabe und Anerkennung von Frauen im öffentlichen Raum. Bezogen auf Medienbilder verfolgen die Untersuchungen das Ziel, die quantitative Sichtbarkeit von Frauen und die visuelle Annihilierung, Marginalisierung und Trivialisierung von Frauen in verschiedenen Medienangeboten zu thematisieren (Tuchman 1978). Es werden also vor allem Dimensionen von Ungleichheit identifiziert, aber auch eine gleichwertige Teilhabe und Sichtbarkeit gefordert. Die erste deutschsprachige systematische Studie in diesem Feld führte 1975 ein ForscherInnenteam unter Leitung von Erich Küchenhoff durch. Sie trägt den Titel „Die Darstellung der Frau und die Behandlung von Frauenfragen im Fernsehen“. Das Bild der Frau, so lässt sich resümieren, ist auf Kinder, Küche, Familie und Emotionalität beschränkt. Diese Ergebnisse bestätigt Christine Leinfellner (1983) weitgehend für das erste Programm (FS1) des österreichischen öffentlichen Rundfunks ORF. Monika Weiderer hat an die Küchenhoff-Studie anschließend „Das Frauen- und Männerbild im Deutschen Fernsehen“ untersucht. Sie stellt fest: „Die Verweisung der Frau auf den

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zweiten Platz, welche sich in der Zuteilung von nachrangigen Positionen und Aufgaben äußert, ist in den letzten zwanzig Jahren in weiten Bereichen unverändert geblieben“ (Weiderer 1993, S. 311). Ausnahmslos gelangen die Studien zu dem Ergebnis, dass das Fernsehen nicht „die Realität“ wiedergibt, sondern zu einem verzerrten Bild von der Wirklichkeit beiträgt. Ein unrealistisches Bild zeichneten Medien schon dadurch, dass Frauen dort deutlich unterrepräsentiert seien. Ihre Lebenswelten scheinen weniger wichtig oder kommen gar nicht erst vor. Wenn Frauen in den Medien präsent seien, so lediglich in einem engen Rollenspektrum und in letztlich stereotyper Art und Weise. Mehr noch als in redaktionellen, fiktionalen wie nicht-fiktionalen, Programmangeboten finden sich stereotype Geschlechterbilder in der Werbung. Das hat Erving Goffman in seinen Studien zu „Gender Advertisements“ (1976, 1979), für die er über 500 Anzeigen analysierte und kategorisierte, eindrucksvoll belegt. An Beispielen aus der Printwerbung zeigt er, wie Geschlechterunterschiede (aber auch Statusunterschiede und Unterschiede innerhalb einer Geschlechterkategorie) in der Werbung hergestellt werden. Eine wichtige Rolle spielen Größenverhältnisse („relative size“), Berührungen („the feminine touch“), Rangordnungen („function ranking“), die sich sowohl in beruflichen als auch privaten familiären Kontexten widerspiegeln, ritualisierte Unterwerfungsgesten („the ritualization of subordination“) sowie ein Widerrufen und Einschränken spontan geäußerter Gefühle („licensed withdrawal“). Goffmans Studie hat visuelle Verfahren der Hierarchisierung und Geschlechterstereotypisierung bewusst werden lassen und das wissenschaftliche Interesse auf Körperlichkeit und Interaktionsrituale gelenkt. Andere Studien, so die der US-amerikanischen ForscherInnengruppe um Dane Archer, zielen darauf ab, die Unterschiede in der Repräsentation der Geschlechter messbar zu machen. Archer et al. berechnen einen Face-ism-Index. Er drückt das Verhältnis zweier Längenmaße, nämlich Kopflänge geteilt durch Körperlänge, aus und variiert je nach Geschlecht der dargestellten Personen (Archer et al. 1989, S. 55–56). Während von Frauen bevorzugt Ganzkörperfotos verbreitet oder nur die Brüste oder Beine gezeigt werden, sind Männer überwiegend als „Kopfmenschen“ medial präsent, so ein Ergebnis der Inhaltsanalysen, die zuerst für US-amerikanische Printmedien und dann international vergleichend durchgeführt wurden. Zusätzliche Befragungen belegen: „Fotos mit hoher Gesichtsbetonung erhielten mehr positive Beurteilungen in Intelligenz, Ehrgeiz und äußerer Erscheinung. Dieses Ergebnis lässt vermuten, daß Urteile über intellektuelle (und andere) Qualitäten signifikant und positiv durch etwas so Einfaches wie die relative Betonung des Gesichts einer Person beeinflußt werden können“ (Archer et al. 1989, S. 71). Die internationalen Vergleichsstudien bestätigen durchgängig einen geringeren Face-ism-Wert bei den medial vermittelten Frauenbildern. Face-ism, so die ForscherInnen, trage zur Geschlechterstereotypisierung bei. Christiane Schmerl greift diesen Befund 2004 in einem Beitrag für die Publizistik auf und referiert weitere Studien, die die Ergebnisse von Archer et al. stützen und ergänzen (Schmerl 2004, S. 50). Sie selbst prüft die Face-ism-These anhand einer Untersuchung von Personenfotos in Bild, die tageszeitung, Der Spiegel und stern, die ProbandInnen zur Bewertung vorgelegt werden. Die 111 ProbandInnen, 57 Frauen und 54 Männer zwischen 19 und 67 Jahren, sollen Ehrgeiz, Intelligenz, Attraktivität und Emotionalität

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der auf den Fotos zu sehenden Personen auf einer zehnstufigen Skala einschätzen. Das Geschlecht der Stimuluspersonen auf den Fotos und das der ProbandInnen, so eine Vermutung, wirken sich auf die Beurteilung der genannten Eigenschaften aus. Ebenso das Alter. Schmerl erhält eine Vielzahl interessanter Einzelergebnisse, die die Face-ism- and Body-ism-Thesen und ihre stereotypisierenden Auswirkungen weitgehend verifizieren. Sie fasst zusammen: „Bleibt festzuhalten, dass die optische Relativierung weiblicher Gesichter durch deren proportionale Verkleinerung und durch das Ablenken vom Kopf auf den Körper ein wirksames stilistisches Mittel ist, Frauen geistige Kapazitäten abzusprechen“ (Schmerl 2004, S. 64). Einige VertreterInnen einer solchen realistischen Forschung argumentieren sowohl mit kulturellen als auch mit biologischen, psychologischen, sexuellen Unterschieden und deuten „Frau-Sein“ in Differenz und Abgrenzung zum „Mann-Sein“. Diese Position ist innerhalb der Gender Media Studies vielfach kritisiert und revidiert worden, weil sie keinen Ausweg aus dem „System der Zweigeschlechtlichkeit“, bei dem Männer und Frauen im Verhältnis zueinander betrachtet werden, bietet. Die Vorstellung einer solchen eindeutig gegebenen und unveränderlichen (Geschlechter-) Identität wird durch die konstruktivistische Forschung grundsätzlich in Frage gestellt. Von Interesse ist nun, wie Vorstellungen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ bildlich hergestellt und auch verändert werden und welche Rolle Medien und visuelle Kommunikation dabei spielen. Statt zu fragen, welche Geschlechterbilder die Medien vermitteln, interessiert, wie visuelle Medien und ihre Bilder Vorstellungen und Diskurse von Geschlecht reproduzieren, herstellen und immer auch verändern. Vor dem Hintergrund sich wandelnder Geschlechterverhältnisse werden dabei immer öfter Medienbilder von starken und erfolgreichen Frauen untersucht. Aus konstruktivistischer Sicht rücken aber auch Bilder von Männern und von Männlichkeiten in den Blick, wenn auch, im Vergleich zu Bildern von Frauen vergleichsweise selten. Das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ von Robert W. Connell (1999) stellt einen wichtigen theoretischen Ausgangspunkt dar, um Bilder und Blickpositionen auf ihre Vergeschlechtlichung hin zu untersuchen. Daran anschließend werden die Bilder von hegemonialer Männlichkeit sowie deren Verhältnis zu marginalisierten und untergeordneten Männlichkeiten thematisiert. So hat beispielsweise Andrea Nachtigall (2009) die visuellen und sprachlichen Männlichkeitskonstruktionen in Mediendiskursen zum 11. September 2001 analysiert und dabei vor allem die Medienbilder von Osama bin Laden, George W. Bush, Joschka Fischer und Gerhard Schröder untersucht. Sie kommt zu dem Schluss: „Über Männlichkeitsbilder werden politische Akteure auf- und abgewertet, sie sind das diskursive Material, mit dem Werthierarchien konstruiert und politische Handlungsoptionen wie zum Beispiel die Entscheidung für eine militärische Intervention öffentlich verhandelt und (de) legitimiert werden“ (Nachtigall 2009, S. 220–221). Besonderen Auftrieb erhält die Forschung, die nach den Auswirkungen sich wandelnder Geschlechterverhältnisse in non-fiktionalen und fiktionalen Medienangeboten fragt, mit der zunehmenden Sichtbarkeit von Frauen in der Politik. Oftmals werden dabei die Darstellungen von Frauen mit denen von Männern verglichen und in Bezie-

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hung gesetzt. Bisherige Untersuchungen sind noch immer auf die sprachliche Berichterstattung konzentriert, es liegen aber auch erste Studien zu Geschlechterbildern vor. Diese inhaltsanalytischen Studien untersuchen u. a. den Tenor der visuellen Berichterstattung, die Visualisierung des Privatlebens und der äußeren Erscheinung. Mit Blick auf politische Persönlichkeiten in Spitzenpositionen können die Studien keine offene Trivialisierung und geschlechterstereotype visuelle Darstellung belegen (siehe auch die Beiträge zu Bildern in Holtz-Bacha und König-Reiling 2007; Holtz-Bacha 2008). Den Studien fehlt in den meisten Fällen aber eine explizit theoretische Perspektive auf mediale Geschlechterkonstruktionen, sex/gender wird lediglich als eine unabhängige Variable erfasst und als essenzielles Differenzmerkmal zwischen Frauen und Männern begriffen. Einige neuere Studien setzen einen anderen theoretischen Bezugspunkt, indem sie davon ausgehen, dass „die Medien“ gar nicht die sozialen Geschlechterverhältnisse abbilden können, sondern eigene vergeschlechtlichte Medienrealitäten konstruieren. Sie folgen also einer konstruktivistischen Sicht von Geschlecht und Medien. Im internationalen Kontext haben etwa Lundell und Ekström (2008) drei relevante Faktoren herausgearbeitet, die geschlechterdifferenzierende bildliche Darstellungen von Frauen in der Politik beeinflussen: „a male-dominated press culture, women’s alleged abilities to conform to conventional standards of attractiveness and their respective previous relations with the media“ (Lundell und Ekström 2008, S. 906). Susanne Kinnebrock und Thomas Knieper (2008) haben an den Gleichheitsansatz sowie konstruktivistische Ansätze der Geschlechterforschung angeschlossen und die Bildberichterstattung zweier politischer Nachrichtenmagazine (Spiegel und Focus) aus dem Jahr 2005 untersucht. Berücksichtigt wurden alle visuellen Personendarstellungen auf dem Titelblatt, wobei im Sinne des quantitativen Paradigmas die Zu- und Abnahme von Geschlechterstereotypen in den beiden politischen Nachrichtenmagazinen interessierte. Basierend auf der Stereotypenforschung gehen sie davon aus, dass es kulturell verankerte, feststehende Gesichtsausdrücke, Gesten und Körperhaltungen gibt, die innerhalb der Alltagskommunikation eindeutige Zuschreibungen signalisieren (so stehe etwa ein seitlich geneigter Kopf für eine Unterwerfungsgeste). Insgesamt ziehen Kinnebrock und Knieper die Bilanz, dass die Geschlechtsstereotype zwar an Rigidität, nicht aber grundsätzlich an Gültigkeit verloren haben (Kinnebrock und Knieper 2008, S. 101). Elke Grittmann wiederum hat anschließend an konstruktive Geschlechtertheorie und Ikonografie (also die Lehre von den Bildinhalten) die medialen Bilder von politischem, aber auch wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Spitzenpersonal darauf hin untersucht, wie es geschlechtlich konstruiert wird (Grittmann 2012). Mittels Vergleich von Frauen- und Männerbildern kann sie zeigen, wie Medienrealität und eine geschlechterdifferente Visualisierung durch journalistische Selektions- und Darstellungskonventionen im Bild und durch das Bild überhaupt erst hervorgebracht werden. Die kommunikationswissenschaftliche Forschung stellt also fest, dass sich die Geschlechterbilder in den Medien verändern und sie auf den ersten Blick auch zahlreicher sind, bei genauerer Betrachtung aber nicht weniger stereotyp. Obwohl zuweilen traditionelle Geschlechterrollen in Frage gestellt werden und gerade auch in unterhaltenden Formaten oder der Werbung mit Geschlechterstereotypen und

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Klischees gespielt wird, bleibt das System der Zweigeschlechtlichkeit erhalten und wird permanent fortgeschrieben. Bis heute bestätigen nationale wie internationale Studien ein Missverhältnis in der medialen Geschlechterdarstellung, das nicht allein mit der ungleichen gesellschaftlichen Aufgaben- und Machtverteilung erklärt werden kann (GMPP 2015; Jia et al. 2016). Stereotype Geschlechterbilder sowohl von Frauen als auch von Männern sind weiterhin in allen journalistischen Gattungen und auch in der Werbung zu finden.

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Ausdifferenzierung: dekonstruktive und queere Analysen von Geschlechterbildern

Während mit Konzepten des Konstruktivismus Prozesse der Herstellung von (Vorstellungen über) Geschlecht durch Medien und ihre Bilder in den Blick rücken, setzt das Konzept der diskurstheoretischen Dekonstruktionen auf eine analytischdiskursive Dekonstruktion von Geschlechterbildern und -konzepten in, durch und mit Medien (siehe hierzu und zum Folgenden auch Lünenborg und Maier 2013; Maier 2015). Eine wichtige Rolle spielen dabei poststrukturalistische Theorien, etwa von Michel Foucault, Jacques Derrida oder Judith Butler. Zentral sind zugleich psychoanalytische Theorien, etwa von Jacques Lacan. Für die Auseinandersetzung mit Geschlecht sind unter anderem die Arbeiten der Philosophin Judith Butler von großer Bedeutung (1991), die mit dem Konzept der Performativität von Geschlecht betont, dass Geschlecht durch Sprache in gesellschaftlichen Diskursen hervorgebracht wird. Eine weitere für die Gender Media Studies relevante Konzeption von Geschlecht hat Teresa de Lauretis in Analogie zu Foucaults „Technologie des Sex“ folgendermaßen beschrieben: „Die Konstruktion des Geschlechts ist Produkt und Prozess von Repräsentation und Selbstrepräsentation“ (de Lauretis 1996, S. 68). Mit Judith Butler und Teresa de Lauretis sind auch zwei der Autorinnen angesprochen, denen in queertheoretischen Arbeiten eine wichtige Rolle zukommt. Die Queer Theory beschäftigt sich u. a. mit dem Problem der Heteronormativität und ist an einem Aufbrechen der heterosexuellen Matrix interessiert (siehe z. B. den Überblick bei Jagose 2001). Der Begriff der Heteronormativiät ist eng mit den Arbeiten von Michel Warner verbunden. Er versteht darunter „the institutions, structures of understanding, and practical orientations that make seem heterosexuality not only coherent – that is, organized as a sexuality – but also privileged“ (Berlant und Warner 1998, S. 565; siehe auch Warner 1993). Der zweite zentrale Begriff, die „heterosexuelle Matrix“, geht auf Butler zurück (Butler 1991, S. 63). Butler bezweifelt – wie viele andere auch – eine Kohärenz zwischen Körper, Geschlechtsidentität und Begehren, zwischen diesen Kategorien bestehen ihr zufolge „keine direkten, etwas ‚ausdrückenden‘ oder kausalen Verbindungen“ (Butler 1996, S. 31). Der Begriff der heterosexuellen Matrix bezieht sich auf diese vermeintlich natürliche Verschränkung von sex, gender und Begehren als Zwangsordnung. Das Anliegen der Queer Theory richtet sich auf die Dekonstruktion der Heteronormativität sowie der performativen Akte, die im Sinne Butlers sex, gender und Begehren als kohärente Beziehung herstellen. In einer Einführung in die Queer Theory fasst Annamarie Jagose die Grundzüge des Projektes wie folgt zusam-

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men: „Allgemein gesagt, beschreibt queer Ansätze und Modelle, die Brüche im angeblich stabilen Verhältnis zwischen chromosomalem, gelebtem Geschlecht und sexuellem Begehren hervorheben. Im Kampf gegen diese Vorstellung von Stabilität – die vorgibt, Heterosexualität sei ihre Ursache, während sie tatsächlich ihre Wirkung ist – lenkt queer den Blick dahin, wo biologisches Geschlecht (sex), soziales Geschlecht (gender) und Begehren nicht zusammenpassen.“ (Jagose 2001, S. 15) In der Kommunikationswissenschaft ist die Bezugnahme auf die diskurstheoretische Dekonstruktion und die Queer Theory bislang eher zurückhaltend (siehe aber z. B. Loist et al. 2014). Das ist u. a. darauf zurückzuführen, dass sich die Theorien und Konzepte nicht originär als empirisch bearbeitbar verstehen. Zwar entwickeln die Studien ihre Theorien und Analysen in Auseinandersetzung mit beispielsweise Film- oder Werbebildern, allerdings basieren die Arbeiten nicht auf einer im sozialwissenschaftlichen Sinne empirischen und systematischen Analyse von Medienbildern. Ein Anliegen, dass diese Ansätze auch gar nicht verfolgen, da es sich um theoretisch-analytische Konzepte handelt, die sich einer im engeren Sinne empirischen Überprüfbarkeit sogar regelrecht entziehen. Analysen in dieser theoretischen Konzeption werden vorwiegend in der Medienkulturforschung und der sich kulturwissenschaftlich verstehenden Medienwissenschaft entwickelt. Mit Bezug auf diskurstheoretische und dekonstruktive Positionen wird das Verhältnis von Geschlecht und Medium bzw. werden visuelle Kultur(en) erforscht, wobei Fragestellungen aus den Cultural, Gender, Queer und Postcolonial Studies ebenso wie Ansätze aus der Medien- und Kunstwissenschaft aufgenommen werden. Ausgehend von konstruktivistischen Geschlechter- und Repräsentationstheorien wird grundlegend argumentiert, dass Medien nicht einfach gesellschaftlich bestehende Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit aufgreifen, reflektieren und visuell vermitteln, sondern mediale Bilder und Diskurse bringen geschlechtliche und sexuelle Körper und Identitäten sowie das heteronormative System der Zweigeschlechtlichkeit überhaupt erst hervor. In einer medienwissenschaftlichen Ausrichtung wird dann nicht nur die „Vergeschlechtlichung durch Medien“ untersucht, sondern auch die „Medialität des Geschlechts“ (Seier 2007, S. 21–25; auch Seier und Warth 2005). Solche Studien interessieren sich dann für den konstitutiven Zusammenhang von Geschlechterbildern und den medienspezifischen Anteilen vergeschlechtlichter Selbstund Körperbilder (Seier 2007, S. 21–25). Dabei wird davon ausgegangen, dass weder Geschlecht noch Medien vordiskursiv gegeben sind. Wie eng in dieser Perspektive die Kategorien Geschlecht und Medium aufeinander bezogen werden, zeigt sich beispielsweise schon, wenn dem Zusammenhang von Gender Studies und Medienwissenschaft unter dem Begriff „Gender Media Studies“ (Wagner 2008) nachgegangen wird. Medium und Gender sind in diesem Denken zwei Kategorien, die in einem immer wieder neu zu beschreibenden Wechselverhältnis zueinander stehen und sich dabei gegenseitig konstituieren. So wird beispielsweise untersucht, wie der weibliche Körper als Bild und als Medium fungiert, dem eine gemeinschaftsstiftende Funktion zukommt. In einer solchen Perspektive hat Astrid Deuber-Mankowsky (2001) in einer frühen Studie zu virtuellen Welten und Cyberheldinnen das Bild von Lara Croft als Medium analysiert, welches in zahlreichen Einzelmedien wie Internet, Fernsehen, Presse oder Kino zirkuliert und über das sich die Einzelmedien verständigen und zu einem Medienensemble verbinden.

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Einen wichtigen Bezugspunkt für die Gender Media Studies und die Forschung zu Geschlechterbildern stellen die Visual Culture Studies dar. Diese haben starke Bezugspunkte nicht nur zu den Gender Studies sondern auch zu den Cultural Studies. Nach Irit Rogoff beschäftigen sich die Visual Culture Studies mit drei Komponenten: den Bildern, den Apparaturen des Sehens und den dadurch hergestellten Subjektivitäten (Rogoff 2002, S. 28). Und Nicholas Mirzoeff hebt hervor, dass sich die Visual Culture Studies in erster Linie mit der Interaktion zwischen den Betrachtenden und den Betrachteten selbst beschäftigen: „Visual Culture directs our attention away from structured, formal viewing settings like the cinema and art gallery to the centrality of visual experience in everyday life“ (Mirzoeff 1998, S. 7). Von der erkenntnistheoretischen Prämisse der Konstruktion von Wirklichkeit ausgehend geraten in den Visual Culture Studies die Bilder, das Sehen, die Apparaturen des Sehens und die Subjektivitäten als Techniken und Praktiken, die geschlechtlich strukturiert sind und Geschlecht zuallererst herstellen und konstruieren, in den Blick. Im engen Austausch mit Psychoanalyse, Diskurstheorie und Poststrukturalismus wird argumentiert, dass mediale Repräsentationen, Diskurse, Techniken und Apparaturen sowie das Sehen selbst an dem mitwirken, was innerhalb spezifischer Kontexte unter Geschlecht und Sexualität verstanden wird. Medien und Bilder geraten hier weniger als Akteure und Institutionen in den Blick, die Geschlecht präsentieren und Geschlechterbilder vermitteln. Vielmehr wird argumentiert, dass visuelle Repräsentationen und Diskurse, Techniken und Praktiken des Sehens in die Subjektivitäten und Körper der Individuen eingeschrieben sind, diese hervorbringen und in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen. Forschende wie Johanna Schaffer oder Sushila Mesquita haben in diesem Kontext ein weiteres grundlegendes Forschungsinteresse ergänzt: nämlich Sichtbarkeitsverhältnisse (Schaffer 2008; Mesquita 2008). In den Gender Media Studies, auch in ihrer kommunikationswissenschaftlichen Tradition, werden Fragen der Sichtbarkeit zunehmend relevant, worauf Buchtitel wie „Media Queered: Visibility and its Discontents“ (Barnhurst 2007), „Circuits of Visibility. Gender and Transnational Media Cultures“ (Hegde 2011) oder „Anerkennung und Sichtbarkeit. Perspektiven für eine kritische Medienkulturforschung“ (Thomas et al. 2018) verweisen. So betrachten auch Schade und Wenk in einer Einführung in die Studien zur Visuellen Kultur Bilder als etwas „Zu-Sehen-Gegebenes“, als „Inszenierungen von (Un-Sichtbarem)“ und als Mittel zur „Herstellung von Bedeutung“ (Schade und Wenk 2011, S. 9). Statt eine Trennung zwischen Wort und Bild vorzunehmen, wie dies in anderen mit Bildern beschäftigten Traditionen und Disziplinen geschieht, begreifen sie das Bild als „ein Element in einem Gefüge, das sich über Verhältnisse räumlicher und visueller Ordnungen, in den besonderen Verknüpfungen von Wort und Bild und in den je spezifischen ästhetischen und materialen Eigenschaften ihrer Medien herstellt“ (Schade und Wenk 2011, S. 8). Geschlechterbilder und Sichtbarkeitsverhältnisse werden in dieser Sicht weniger quantitativ oder phänomenologisch untersucht als vielmehr auf die Reproduktion von Machtverhältnissen hin: Geschlechterbilder, wie auch die damit zusammenhängenden Technologien des Sehens, der Sichtbarkeit und der Subjektivitäten werden immer im Zusammenhang mit politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Macht relevant. Zugleich rücken damit Fragen nach der Brechung des heteronorma-

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tiven Systems der Zweigeschlechtlichkeit in den Blick. Thematisiert werden u. a. Strategien der Ironie, Distanz und der Umdeutungen. Stuart Hall (2004, S. 159) spricht etwa von „Umkehrungen“ – als Reaktionen auf hegemoniale, massenmedial verbreitete Inszenierungen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ bzw. „Vorbilder“. In queertheoretischen Arbeiten werden Bilder und Bildmedien wie der Film oder auch künstlerische Bildproduktionen, in denen beispielsweise lesbische, schwule, intersexuelle oder transsexuelle Personen dargestellt werden, daraufhin untersucht, ob diese die heterosexuelle Matrix aufzubrechen vermögen. Parodie, Travestie, Drag, Maskerade und Camp sind hier einige der Begriffe und Konzepte, mit denen Bilder analysiert werden. So hat etwa Peter Rehberg (2011) das queere und kritische Potenzial der schwulen Comic-Helden von Tom of Finland analysiert. Er schlägt anschließend an die Ausführungen von Leo Bersani zu schwulen Subjektivitäten vor, „das sexuelle Theater der Tom-of-Finland-Cartoons nicht als parodistische Umschrift psychoanalytischer Kulturgesetze zu lesen, sondern als Illustration einer grundsätzlich identitätszerrüttenden Sexualität, die die Erfahrung eines Genusses bedeutet, der sich im Modus der ‚sameness‘ auf den Oberflächen der Männerkörper und ihrer Öffnungen unendlich vervielfältigt“ (Rehberg 2011, S. 395). Ausgehend von hegemonietheoretischen Überlegungen wird aber auch kritisch diskutiert, ob solche Bilder, die auf Vielfalt, Zerrüttung, Travestie, Maskerade etc. setzen, neoliberale Diskurse unterstützen (z. B. Engel 2009; Paul und Schaffer 2009). Aus queertheoretischer Sicht werden auch Bilder analysiert, die auf den ersten Blick nichts mit schwulen, lesbischen oder queeren Themen und Diskursen zu tun haben. Ansätze bilden in der Filmtheorie „queer readings“ und „Camouflage“, womit dekonstruktive Lektürepraktiken angesprochen sind, die etwa klassische Hollywoodfilme gegen den Strich lesen (z. B. Doty 1993, 2000; Benshoff 1997; Halberstam 2005). Mit Konzepten der Heteronormativität und der Homonormativität werden populäre Fernsehformate wie Fahndungssendungen und das Reality-TV untersucht (z. B. Pinseler 2008, 2013). Über die Bildproduktionen hinaus wird Queerness auch für die Praktiken des Sehens analysiert. So wird dann beispielsweise in Erweiterung der feministischen Filmtheorie ein „transgender gaze“ identifiziert, der die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit durchkreuzt (z. B. Halberstam 2001) oder bestimmte Formen des Fernsehens wie das Zuschauen und das Zappen als eine queere Praxis diskutiert, wie von Jaap Kooijman (2009) in dem Text „Cruising the channels: The queerness of zapping“. Insgesamt ist Queerness dann nicht nur an die explizite Visualisierung von etwa schwulen, lesbischen, transsexuellen Charakteren oder queeren Themen, Filmen, Figuren und Medienangeboten gebunden, sondern wird dort sichtbar und erkennbar, wo man es nicht immer auf den ersten Blick vermutet (Kooijman 2009, S. 161).

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Fazit

Die Medienwissenschaft sowie die visuelle Kulturforschung sind an deutschsprachigen Universitäten im Fächerkanon der Geisteswissenschaften angesiedelt und kulturwissenschaftlich orientiert, die Kommunikationswissenschaft ist hingegen sozialwissenschaftlich ausgerichtet. Den Disziplinen ist allerdings gemein, dass sie

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sich mit dem Zusammenhang von Gender und Medien beschäftigen. Auffällig ist, dass die Bezugnahme auf die Visual Culture Studies sowie die Film- und Medienwissenschaft in der deutschsprachigen kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung weit zurückhaltender als im internationalen Kontext erfolgt. Besonders film- und medienwissenschaftliche Positionen, die sich mit der Geschichte und der Theorie von Bildern und visuellen Medien beschäftigen, sucht man oft vergebens. Das Verhältnis zwischen kulturwissenschaftlich orientierten Film- und Medienwissenschaften und sozialwissenschaftlich ausgerichteter Kommunikationswissenschaft ist im deutschsprachigen Raum noch immer von Polarisierung und auch von „struktureller Amnesie“ (Wenk 2001, S. 113–114) bestimmt, einem „Vergessen, das der Aufrechterhaltung bestimmter sozialer und vor allem kultureller Strukturen der Disziplinen dient“ (Wenk 2001, S. 113–114, Herv. im Orig.) und das in Zeiten neoliberaler Umorganisation und finanzieller Unterausstattung der Hochschulen um sich greift. Auf die Entstehung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der unterschiedlichen Forschungsfelder und Disziplinen konnte hier nicht im Detail eingegangen werden. Es wurden vielmehr verschiedene theoretische Anknüpfungspunkte und Forschungsschwerpunkte aufgezeigt, die für die Analyse von Medienbildern relevant sind. Elisabeth Klaus und Margreth Lünenborg haben bereits 2011 in einem Rückblick und einer Revision der Frauen- und Geschlechterforschung in der Kommunikationswissenschaft auf die Notwendigkeit hingewiesen, neue Wissensbestände zu erarbeiten: „In diesem Bereich der Theorie- und Modellentwicklung liegt für die Kommunikationswissenschaft insgesamt das relevante Potenzial: Die Gender Studies in der Kommunikationswissenschaft generieren Theorieperspektiven, die gesellschafts- und kulturorientierte Ansätze nicht als Gegensätze, sondern komplementäre Bestandteile zum Verständnis öffentlicher Kommunikation betrachten. Das macht sie für die Kommunikations- und Medienwissenschaft auch zukünftig innovativ und ertragreich.“ (Klaus und Lünenborg 2011, S. 112) Eine kommunikationswissenschaftliche Analyse von Medienbildern insgesamt in einer wie hier vorgeschlagenen transdisziplinären Perspektive zu verorten, würde diesen integrativen Anspruch einer Verbindung von sozial- und kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen einlösen. Herausforderungen für die Theoriebildung bestehen dabei unter anderem in einer stärkeren Berücksichtigung der Bildlichkeit und der Medialität bei der Herausbildung und der Konstituierung von Geschlechterbildern, von Seh- und Sichtbarkeitsverhältnissen, von heteronormativen Geschlechterordnungen und visuellen Stereotypen ebenso wie bei der Dekonstruktion von essenzialistischen Dualismen, Universalismen und Identitätspolitiken. Zugleich gälte es die Medialität und Bildlichkeit von öffentlichen Geschlechterordnungen, ihren Seh- und Sichtweisen etc. zu theoretisieren. Die Theoriearbeit der Gender Media Studies in der Kommunikationswissenschaft steht mit Blick auf solche Probleme ganz sicher nicht am Anfang. Ohne Zweifel können hier aber Theorien und Konzepte der Visual Culture Studies, der dekonstruktiven Geschlechtertheorie, der Queer Theory und der Medienwissenschaft weiterführende Impulse liefern.

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Körperbilder in der Kommunikationsforschung Dagmar Hoffmann

Inhalt 1 Körperbildforschung unter kommunikationswissenschaftlicher Prämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theorie- und Forschungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Beispielhafte Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Kritischer Forschungsausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag unternimmt den Versuch einer Systematisierung der visuellen Körperbildforschung in der Kommunikationswissenschaft. Es werden die Besonderheiten einer Körperbildforschung unter kommunikationswissenschaftlicher Prämisse herausgearbeitet sowie relevante Theorie- und Forschungsansätze und ihre disziplinären Bezüge vorgestellt. Zudem verdeutlichen beispielhafte Forschungsfelder die aktuellen methodischen Herausforderungen und auch Ansprüche an die Theoriebildung für den Konnex Mensch-Körperbild-Medien.

Schlüsselwörter

Körperpraktiken · Körperdarstellungen · Kultivierung · Soziale Vergleiche · Bildund Mediensozialisation

D. Hoffmann (*) Medienwissenschaftliches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_13

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D. Hoffmann

Körperbildforschung unter kommunikationswissenschaftlicher Prämisse

Die Forschung zum Thema Körperbild, Körpererleben und Körperpraktiken erfährt derzeit in verschiedenen Fachdisziplinen einen immer größeren Stellenwert, wobei jeweils unterschiedliche Begriffsverständnisse und zuweilen auch Forschungsprämissen existieren. Die Kommunikationswissenschaft orientiert sich als Querschnittwissenschaft an anderen Fachrichtungen; im Hinblick auf die visuelle Körperbildforschung bemüht sie sich aber ebenfalls um eigene Forschungsansätze. Zunächst wird ein Blick auf die psychologisch orientierte und soziologische Körperbildforschung geworfen, nachfolgend dann auf gegenwärtige Ansätze der Visuellen Kommunikationsforschung. In der Psychologie bezieht sich der Begriff Körperbild in der Regel auf das Bild, das Menschen von ihrem Körper haben (im Überblick zur Begriffsbestimmung siehe Röhricht 2009a; Slade 1994). Dieses Bild schließt entwicklungsbezogene Körpererfahrungen ein, die sich vor allem aus der psychosexuellen Entwicklung ergeben und als Repräsentanzen zu verstehen sind, die aufgrund von Empfindungen und Wahrnehmungen des Körperinneren und des Körperäußeren, d. h. seiner subjektiven Erscheinung, entstehen. In vielen Untersuchungen konzentriert man sich auf die individuelle Beurteilung der äußeren Körpererscheinung sowie auf das Gefühl der Stimmigkeit, das ein Mensch in seinem eigenen Körper hat (siehe zu den verschiedenen Ansätzen, diagnostischen Verfahren und Skalen Röhricht 2009b). Körperbilder basieren auf Körperwahrnehmungen, also den Empfindungen gegenüber dem eigenen Körper. Sie variieren je nach situativer Stimmung und psychosozialer Befindlichkeit und sind abhängig von der basalen Akzeptanz sowie Stabilität des Körperselbstbildes. Das subjektive Erleben des eigenen Körpers schließt in der Regel Wahrnehmung, Kognition, Affekt, aber auch Verhalten ein und ist zudem – so Slade (1994, S. 502) – von historischen, kulturellen und sozialen sowie biologischen Faktoren abhängig, die sich im Lebensverlauf durchaus ändern. Diese Komplexität und auch die Berücksichtigung größerer Zeitspannen werden in der Empirie jedoch kaum beachtet. Der Fokus der körperbezogenen Forschung in der Psychologie liegt im Allgemeinen auf gegenwärtigen, temporären Körperbildstörungen, der Attraktivitätswahrnehmung und der Körperunzufriedenheit sowie zugehöriger psychischer Erkrankungen (vor allem Essstörungen). Der Einfluss der Medien wird dabei in unterschiedlicher Weise mal stärker, d. h. als singulärer, mal als zusätzlicher oder moderierender Effekt berücksichtigt. Es liegen vor allem Studien vor, die sich auf die Wirkung von Körperdarstellungen in der Werbung (z. B. Gläßel 2010; Jäckel et al. 2009; Petersen 2005; Monro und Huon 2005) und in Mode- und Fitnessmagazinen (z. B. Jonason et al. 2009) konzentrieren. Eher selten finden sich Studien, die medienvergleichend Einflüsse erfassen (Tiggemann und Slater 2015). In jüngster Zeit rücken vermehrt inszenierte Körper-, Schönheits- und Fitnessbilder in Sozialen Medien wie etwa Facebook und Instagram in den Mittelpunkt des Interesses. Die Vielzahl an vorliegenden internationalen Studien ist aktuell kaum zu überblicken. Untersucht werden die Zusammenhänge einer intensiven Zuwendung zu entsprechenden Bildern (auch so genannten Fitspiration Images) und Verschönerungspraktiken (so genannte Beautification), soziale Vergleiche, eine etwaig zunehmende Körperunzufriedenheit und auch

Körperbilder in der Kommunikationsforschung

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der Ansporn zur physischen Selbstoptimierung (Body Shaping) insbesondere junger Menschen (u. a. Cohen et al. 2017; Fardouly et al. 2015, zum Forschungsüberblick und verschiedenen Untersuchungsmethoden siehe Fardouly und Vartanian 2016). In der Soziologie wird ein „body turn“1 für die 1990er-Jahre konstatiert, wobei man sich schon früher mit dem Körper als Forschungsgegenstand beschäftigt hat. Die performativen Aspekte von Körperlichkeit sowie Körperpraktiken wurden gerade in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkt in den Blick genommen (Gugutzer 2006), wobei jedoch Medienvermittlungen und Mediatisierung keine primär zu berücksichtigenden Forschungsprämissen darstellen. Selten finden sich fusionierte medien- und körpersoziologische Perspektiven auf den Körper, auf Körperlichkeiten und Körperpraktiken (Hoffmann 2017). Im Fokus des Interesses stehen eher Verkörperungen, d. h. das Körperhaben und Körpersein, das Besitzen und Spüren von Leib und Körper2 und zugehörige soziale sowie kulturelle Prägungen und Aneignungen. Körperaneignungen erfolgen gesellschafts- und kulturspezifisch, wobei man einzelne Faktoren, die Leiberfahrungen generieren und Körperwissen ermöglichen, kaum singulär betrachtet (Gugutzer 2012, S. 39–58). Hinzu kommt, dass der Körper des Subjekts selbst als Produzent und Instrument begriffen wird. Er stellt immer das Ergebnis von sozialen Prozessen dar und wirkt selbst wiederum auf soziale Situationen ein. Der Subjekt-Körper interagiert mit medienvermittelten Körpern, aber eben nicht ausschließlich, was die Erforschung der Aneignung von Körperwissen und von Verkörperungen insbesondere über einen längeren Zeitraum respektive in biografischer Perspektive erschwert. So wird etwa das praktizierte Schönheitshandeln von Menschen nicht ausschließlich als medialer Kultivierungseffekt betrachtet, sondern möglichst auch im Kontext anderer Bedingungsfaktoren wie etwa den ökonomischen und sozialen Verhältnissen, Habitualisierungen oder Wertekonzepten der Subjekte (siehe z. B. Reißmann und Hoffmann 2017). Der Subjekt-Körper ist ein Wahrnehmungsapparat, der nicht nur Face-to-faceSituationen, sondern auch mediale Sinnesreize erfasst und verarbeitet. In soziologischer Perspektive ist er ein mitunter intuitiver sowie ein erfahrender oder auch analytischer Betrachter von Artefakten. Auch im Hinblick auf medial vermittelte Körperbilder gilt es zu berücksichtigen, dass diese Medientexte vieldeutig sind und sich als Handlungs- und Kommunikationsprodukte anhand technischer Gegebenheiten und sich verändernder Produktionsweisen und -ästhetiken variabel gestalten (siehe z. B. Raab 2008, S. 130–133). Insbesondere in der Visuellen Soziologie interessiert man sich für die Produktionsprozesse, für die Ästhetik und Gestaltung von Bildern, Videos und Filmen, für die Anordnung des Sichtbaren, die Arrange-

Es finden sich auch Bezeichnungen wie „somatic“ respektive „corporeal turn“. In der Soziologie differenziert man in analytischer Hinsicht zwischen Leib und Körper. Der Mensch hat einen Leib und macht Leiberfahrungen. Diese Leiberfahrungen hängen aber immer sowohl vom kulturspezifischen Wissen als auch von kulturspezifischen Körperpraktiken ab (Gugutzer 2006, S. 16–17). Der Begriff des Leibes fokussiert – grob formuliert – auf das Innenleben und das leibliche Spüren. Der Begriff des Körpers stellt die Selbstbetrachtung und Außenperspektive heraus. Leib und Körper sind zwar phänomenal verschieden, gleichwohl keine voneinander getrennten und unabhängigen Entitäten. Sie sind ineinander verschränkt (Gugutzer 2012, S. 40–41).

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D. Hoffmann

ments und Ordnung von Objekten. Ferner steht die Erforschung der Wahrnehmung, der kognitiven Konstruktionsleistung und Nachvollziehbarkeit des Gesehenen durch die RezipientInnen im Mittelpunkt, folglich also ihre Sinnproduktionen und Deutungen (u. a. Bachleitner und Weichbold 2015). Dabei gilt es herauszufinden, inwieweit sich „mediales Sehen“ als menschliche Konstruktionsleistung von „sozialem Sehen“ unterscheidet, wie sich beide Aspekte aufeinander beziehen oder aber per se untrennbar sind (Raab 2008, S. 208–209). Bild-Betrachter-Verhältnisse werden als Interaktion verstanden, die neben der sozialen auch eine affektive Komponente besitzt und damit den Körper bewusst oder auch unterbewusst (heraus)fordert. Goffmans Untersuchung zur Darstellung von Frauen und Männern in der Plakatwerbung (1981) gilt auch in der Visuellen Soziologie noch immer als ein klassisches Beispiel dafür, inwieweit medial inszenierte Geschlechterstilisierungen und Interaktionsordnungen Arrangements von Geschlechtern produzieren und reproduzieren. Goffman untersuchte die Verhaltensstile der Geschlechter im „wirklichen“ Leben sowie verzerrte Bilder in der Reklame und die Regeln der Szenen-Produktion (zum methodischen Vorgehen siehe Goffman 1981, S. 104–113). Ritualinszenierungen menschlicher Körper knüpfen an Realitäten der lebenswirklichen Geschlechterordnung an, steigern und überhöhen hierarchische Ordnungen. Wenngleich sich im Vergleich zu den 1970er-Jahren die (Hyper-)Stilisierungen von Geschlechtern in der Werbung durchaus ausdifferenziert haben (Kautt 2008, S. 218), fungieren die Geschlechter immer noch als differente Images (siehe auch den Beitrag von Maier und Thiele in diesem Band). Es werden demzufolge in der Werbung der Gegenwartsgesellschaft weiterhin signifikante Weiblichkeits- und Männlichkeitsattribute vermittelt, da noch immer mit eindeutigen, „trennschaften“ Werten operiert wird. Körperbilder werden in der Soziologie als grundsätzlich kulturell und geschichtlich bedingt verstanden. Die Vorstellungen und variierenden Sehweisen der Menschen orientieren sich – so die Annahme – immer an vorgängigen Bezugsrahmen ästhetischer Praktiken (Kautt 2008, S. 78–79 mit Bezug auf Belting 2000), was Traditionsund radikale Konventionsbrüche erschwert. Die Visuelle Kommunikationsforschung kommunikationswissenschaftlicher Provenienz, die sich der Untersuchung von Körperbildern widmet, lässt sich nur schwer überblicken. Dies liegt zum einen an der disziplinären Vielfalt in Bezug auf Theorien und Methoden, die in der Kommunikationswissenschaft zu finden ist (und sich auch intendiert abbilden soll); und zum anderen an dem rasanten Medienwandel, an Medienkonjunkturen und an der Mediatisierung, die in allen Facetten und Ausprägungen für individuelle und kollektive Körperpraktiken und -strategien (z. B. „Doing Bodyfication oder Beautyfication“) kaum zu erfassen ist. Zudem variieren die Bemühungen darum, das Verständnis von medialem und mentalem Körperbild grundsätzlich zu klären und vor allem einzugrenzen sowie die Interdependenz dieser Bilder zu reflektieren. Betrachtet man den Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte,3 so

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Eine zeitliche Zäsur im Zusammenhang der Öffnung des Internet für die allgemeine Bevölkerung im Jahre 1993 bietet sich hier an.

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lassen sich kommunikationswissenschaftliche Körperbilduntersuchungen grob in zwei Bereiche gliedern: 1. Massenmediale (konventionalisierte) Darstellungen von Körperbildern, ihre Rezeption und Wirkung. Es werden vornehmlich die medial produzierten und vermittelten Körper als mediale Darstellungen – häufig, aber nicht nur – im Kontext von Werbung und in Printmedien analysiert. Zum einen interessiert man sich für Medienkörperideale und Schönheitsbilder inklusive der Attraktivität von Menschen und zum anderen für Geschlechter- und in jüngster Zeit auch vermehrt für Altersdarstellungen und jeweils zugehörige Stereotype bzw. Visiotype4 (siehe im Überblick Lobinger 2012). Analysiert werden die Medienprodukte, welche Geschlechterstereotype, Körper- und Schönheitsideale (re-)präsentieren (sollen) und die Formate, in denen idealisierte Körperbilder kommuniziert werden sowie die mit ihnen verbundenen Wirkungsweisen und Perzeptionsformen. Man interessiert sich zudem für die Rezeptionsweisen, also die emotionale und kognitive Involviertheit und Verarbeitung medial vermittelter Körperbilder. Hier werden vornehmlich Querschnittsanalysen mit experimentellen Untersuchungsdesigns durchgeführt. In einer Drei-Ebenen-Perspektive spielen neben Medienangeboten und Rezeption auch die Wirkungsweisen eine bedeutsame Rolle. Es wird prinzipiell von einer Wirkmächtigkeit der medialen Körperbilder und von Kausalannahmen – im Sinne von Medieneffekten – ausgegangen. Doch vorherrschende kommunikationswissenschaftliche Forschungsperspektiven und Theorieansätze mittlerer Reichweite, die das Einflusspotenzial der Medienangebote im Hinblick auf Körperbilder zu erklären und zu deuten vermögen, werden zunehmend auch kritisch betrachtet und sie differenzieren sich zudem entsprechend aus. Kritik und Weiterentwicklung bestehender Ansätze liegen nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Medienpluralismus, der Transmedialität, der Aneignungskompetenzen und Kritikfähigkeit der NutzerInnen sowie auch Counter Cultures5 und Prosuming nahe. Eine singuläre Wirkmächtigkeit – d. h. der Einfluss der Betrachtung einzelner Medien oder Medienformate – scheint kaum noch zu rechtfertigen zu sein, ebenso wenig wie eine Verhandlung medialer Körperbilder ohne Berücksichtigung der sozialen Einbettung und des Austausches des Individuums mit anderen (u. a. Blake 2014; Hoffmann 2012; Baumann 2009). 2. Nutzergenerierte Produktion von Körperbildern und ihre Aneignung. Durch die Zunahme nutzergenerierter Inhalte insbesondere in sozialen Netzwerken und auf Bild- sowie Videoportalen werden seit gut zehn Jahren vermehrt die Selbstinsze-

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Zum Begriff der Visiotype siehe Petersen und Schwender (2009) sowie auch Pörksen (1997, S. 27), der damit auf die „rasch standardisierte Visualisierung“ aufmerksam machen möchte, die durch neue Informationstechniken ermöglicht wird. Typisierte Veranschaulichungen werden wiederkehrend in den Medien verwendet und (zuweilen global) kanonisiert, sodass sie zu öffentlichen Sinn- und Schlüsselbildern avancieren. 5 Zu nennen sind hier Bewegungen wie z. B. die Fat Acceptance Movement und wirksame Hashtag Publics u. a. #bodylove, #loveyourbody und #bodypositive. Zum Begriff der Hashtag Publics siehe Antonakis-Nashif (2015).

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nierungen von Amateuren (gewöhnliche NutzerInnen) und auch (Semi-) Professionellen (z. B. InfluencerInnen) in den Blick genommen. Das private Bild, das medienvermittelt in einem öffentlichen, respektive halböffentlichen Raum kommuniziert wird, so genannte „Ich-Bilder“ oder „Bild Egos“ (Richard 2010), sind verstärkt Gegenstand der Forschung (siehe auch Lobinger 2012, S. 163–165; Reißmann 2012, 2015). Man konzentriert sich u. a. auf die Erforschung der Selbstdarstellungen von Jugendlichen, aber auch auf Familien- sowie Kinderbilder (z. B. Autenrieth 2014a, b, 2017). Körperbildpraktiken werden u. a. auf ihre Funktionalität hin analysiert – etwa unter Aspekten der Selbstthematisierung, Selbstoffenbarung (Self-Disclosure),6 des Experimentierens mit dem Körper (inklusive des Posierens) und zugehörigen Stilen (Reißmann 2015, S. 201–216; Autenrieth 2014b). Des Weiteren widmet man sich den medientechnischen Möglichkeiten, also der Bildbearbeitung und -optimierung und fragt danach, inwieweit sie angewendet und ausgeschöpft werden. Bevorzugt werden Untersuchungen in Anlehnung an die Cultural Studies und zunehmend auch medienethnografische Forschungen. Sie fokussieren auf die Aushandlungsprozesse und Aneignungspraktiken, die beobachtet, in Interviews erfragt und fallkontrastiv oder typologisierend ausgewertet werden. Performative Bildpraktiken in sozialen Netzwerken werden dabei zu konventionalisierten Bildproduktionen (etwa Werbe- und Celebrity-Fotografie), medienkulturellen Entwicklungen und gesellschaftlichen Erwartungen in Beziehung gesetzt. Rezeptions- und Aneignungsmodi schließen in diesem Zusammenhang durchaus an etablierte Medienlogiken7 an, allerdings werden im Zusammenspiel der Akteure (peer-to-peer, Amateure-Professionelle) und Plattformen auch neue, eigene Medienlogiken entwickelt, die retrospektiv oder in Längsschnittstudien (noch) weiter zu untersuchen sind.

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Theorie- und Forschungsansätze

Im Folgenden werden einige klassische, modifizierte und erweiterte zeitgenössische Theorie- und Forschungsansätze vorgestellt, die sich dem Zusammenhang MenschKörperbild-Medien in kommunikationswissenschaftlicher Perspektive widmen bzw. in diesem Kontext relevant sind:8 Die Theorien sind von unterschiedlicher Reich6

Prozesse der Self-Disclosure spielen auch bei außergewöhnlichen Körperpraktiken wie etwa selbstverletzendem Verhalten, Anorexia etc. eine bedeutsame Rolle. Diese öffentlich kommunizierten Körperbildpraktiken werden bislang in der Forschung aber nur marginal berücksichtigt (z. B. Misoch 2012). 7 Der Begriff der Medienlogik wird hier im Sinne Altheide und Snow (1979) benutzt und bezieht sich auf die regulären Produktionsweisen, die Selektionsmechanismen, die Präsentation und die Verbreitung von Medieninhalten. Medienlogiken richten sich nach den Bedürfnissen des Publikums und Werten der Gesellschaft. Sie sind aber nicht statisch, sondern passen sich dynamisch an. 8 Überlegungen zur Systematisierung der Ansätze erfolgten in einem Aufsatz von Hoffmann (2019) und wurden hier ausgebaut und weiterentwickelt.

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weite, variieren in Bezug auf den Erklärungsanspruch und die empirische Aussagefähigkeit. Bildinhaltsanalysen. Es existieren unterschiedliche Methoden, die Körperdarstellungen bildanalytisch vor allem quantitativ auswerten. Oftmals werden einschränkend Mädchen-/Frauen- und Männerbilder untersucht, um speziell Geschlechterrepräsentationen und -stereotype zu identifizieren und diese zu sortieren respektive zu typisieren (Thiele 2015). Großer Beliebtheit erfreuen sich nach wie vor Untersuchungen von Werbung im Hinblick auf ihre besonderen Körpervisualisierungen und der Idealisierung von Körpern. Als wichtige Referenz wird dabei oftmal Goffmans Systematisierung aus den 1970er-Jahren bemüht und um weitere Kategorien wie z. B. Werte und Schönheitsideale ergänzt (z. B. bei Jäckel et al. 2009). Mitunter fokussiert man sich auf selektive Körpermerkmale, die in Bezug auf Rollenzuschreibungen von Interesse sind z. B. in der Studie von Katheder (2008). Ein neues Forschungsfeld widmet sich der stereotypen Abbildung älterer Menschen in verschiedenen Medienformaten (u. a. Schwender et al. 2013). Schwender (2015) codiert beispielsweise Altersmarker und an Alter gekoppelte Attributionen, Rollen sowie Kontexte, in denen sich ältere Menschen aufhalten – wiederum in Werbeanzeigen. Körperbildanalysen von vier Fernsehprogrammen (insgesamt 292 Programmstunden) liegen in Bezug auf dargestellte Nacktheit und Sexualität vor, für die ein eigenes Kategoriensystem entwickelt werden musste (Hoffmann 2010). Demzufolge finden sich nackte Körper und sexuelle Handlungen anteilig primär in der Werbung. Nach dem Motto „Sex sells“ erhofft man sich, ein Produkt im Kontext schöner Körper oder anzüglicher Posen besser vermarkten zu können. Verstärkt beinhalten zudem Trailer zu bestimmten Sendungen und Filmen audiovisuelle Darstellungen von Nacktheit und Sexualität, wobei den RezipientInnen erotische Szenen komprimiert gezeigt werden, die in den realen Sendungen bzw. Filmen dann meist im Gesamtkontext marginal präsentiert werden. Des Weiteren können im Prinzip auch neuere Ansätze des Visual Framing den Bildinhaltsanalysen zugeordnet und ebenfalls für die Erforschung von medialen Körperbildern genutzt werden (Geise und Lobinger 2013). Eine Pilotstudie ist etwa von Rössler (2013) vorgenommen worden, die sich den Frauenbildern in der illustrierten Massenpresse der 1920er-Jahre widmet. Er konnte 500 fotografische Frauenportraits dem Typ „Neue Frau“ zuordnen, die fünf Subtypen beinhaltet: Die Diva, die Garçonne, die Kindfrau, das Girl und die berufstätige Frau. Rezeptions- und Involvement-Forschung. Die Medienrezeptionsforschung ist ein etablierter Teilbereich der Kommunikationswissenschaft, der breit ausgerichtet ist, sich in den letzten Jahren weiter geöffnet hat und somit eine Neukonturierung erfuhr. Im Zentrum steht das Erleben und die Verarbeitung medienvermittelter Inhalte und Medientexte, zu denen auch Bilder zählen. Der Aspekt der Verarbeitung fokussiert auf die mentalen Vorgänge, die ablaufen, während sich Menschen einem Medientext zuwenden. Der Aspekt des Erlebens beschreibt die Art und Weise, wie Medientexte empfunden, interpretiert und eingeordnet werden (Bilandzic et al. 2015, S. 12–13). Körperbilduntersuchungen sind kein fester Teilbereich der Rezeptionsforschung, aber die Ansätze bedienen sich mitunter des emotionalen und kognitiven Involvements in der Rezeptionssituation sowie der Wahrnehmung von Medienfiguren –

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nicht zuletzt in der Werbung. Medienfiguren werden in der Rezeptionsforschung in der Regel nicht auf ihre Körperlichkeit reduziert betrachtet (Bilandzic et al. 2015, S. 129–147). Rezipierende nehmen Medienfiguren wahr, indem sie von diesen sozial – non-verbal und/oder verbal – angesprochen werden und sich so eine räumliche Nähe aufbaut (Bilandzic et al. 2015, S. 130–131). Wenn eine Affizierung durch die Visualisierung von bestimmten Körperbildern stattgefunden hat, interessiert man sich für Muster der Wahrnehmung und Einstellungen zum Gesehenen, wobei das Selbstbild der RezipientInnen mitberücksichtigt wird. Es wird danach gefragt, welche persönliche Relevanz das Körperbild für die Rezipierenden hat, und wie sich deren inneres Engagement in Auseinandersetzung mit dem Bild äußert und steigert bzw. inwieweit Rezipierende kognitiv, affektiv oder/und konativ involviert sind. Ho et al. (2016) haben etwa herausgefunden, dass junge Männer, die in sozialen Netzwerken ein hohes Involvement in der Beziehung zu Prominenten (Celebrities) zeigen, sich unzufriedener mit ihrem eigenen Körper fühlen. Nicht zuletzt deshalb, weil bzw. wenn das Bild der Celebrities mit idealisierten männlichen Körpern assoziiert ist. Ähnliche Befunde zeigen sich auch für junge Frauen, die sich aber nicht nur mit Celebrities, sondern auch stark mit Gleichaltrigen in ihren sozialen Netzwerken vergleichen. Frauen tendieren eher dazu, sich nach hohem Involvement und intensivem Vergleich unzufriedener zu fühlen und vor allem schlanker werden zu wollen. Für sie haben die Medien ein klarer definiertes Bild des Ideals (Schlankheit) als für Männer. Männerbilder werden nicht – wie anzunehmen ist – auf Muskulösität reduziert, sondern können auch auf nicht-physische Attribute wie Intelligenz abzielen. Involvement wird folglich mehrdimensional untersucht und geht deutlich über ein allgemeines Themen- respektive Bildinteresse und Unterhaltungserleben hinaus. Bilandzic, Schramm und Matthes (2015, S. 86–89) ordnen der Involvement-Forschung, die in der Medienpsychologie relativ häufig angewendet wird, auch jegliche Formen des selbstbezogenen, selbstreferenziellen Rezipierens zu. Ich-Bezüge und selbstbezogene Motivationen spielen aber auch in der Kultivierungs- und Sozialen Vergleichsforschung eine essenzielle Rolle, wie im Folgenden gezeigt wird. Kultivierungsforschung. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass eine regelmäßige Zuwendung zu Medienformaten, die bestimmte Körper- und Schönheitsbilder thematisieren und propagieren, eine entsprechende, d. h. „medienkonforme“, Beeinflussung zur Konsequenz hat. Diese These geht auf den US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftler George Gerbner zurück, der zusammen mit seinen MitarbeiterInnen VielseherInnenforschung an der Annenberg School of Communication in Pennsylvania betrieb. Seit den 1970er-Jahren wird dabei die Bedeutung des Fernsehens – als primäres Medium bzw. Leitmedium – im Zusammenhang mit der Vermittlung des Weltbildes der RezipientInnen untersucht. Dem Fernsehen wird der Stellenwert eines „centralized system of storytelling“ (Gerbner et al. 1986, S. 18) zugeschrieben. Demzufolge wird eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit konstruiert, in die eigene Lebenswelt adaptiert und somit kultiviert (etwa das Vorhandensein bestimmter Verhaltensweisen in der Gesellschaft). Durch kontinuierliche mediale Wiederholung sozialer Phänomene, Narrative und Stereotype werden bestimmte Eindrücke dauerhaft verstärkt. Demzufolge tritt bei RezipientInnen, die besonders

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viel fernsehen, der Effekt ein, dass sich für sie die gesellschaftliche Realität verzerrt und zwar in Richtung der dargestellten Medienbilder/-welt. Gerbner attestierte seinerzeit dem Fernsehen die Funktion einer wichtigen Sozialisationsinstanz. Der Fokus seiner Forschung lag über längere Zeit auf der Darstellung, Rezeption und Wirkung von Gewalt. Sein Forschungsansatz wurde später auch von anderen WissenschaftlerInnen auf medienvermittelte Schönheits- und Körperbilder und ihre kultivierende Funktion angewendet (im Überblick Blake 2014). Die Vielzahl an Studien in diesem Bereich kommen zu unterschiedlichen Befunden, was jeweils dem Forschungsdesign und zudem oft der Stichprobenzusammensetzung geschuldet ist. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang exemplarisch die Befunde der MetaAnalyse von Grabe et al. (2008), demzufolge experimentelle und korrelative Studien (N = 77) mehrheitlich zu dem Ergebnis kommen, dass mediale Darstellungen von idealisierten dünnen Körpern und deren Rezeption mit Körperbildstörungen von Frauen einhergehen. Allerdings fehlt es in der Kultivierungsforschung an Längsschnittstudien und der Berücksichtigung des vollständigen Medienrepertoires der RezipientInnen, was viele Ergebnisse in Frage stellt und relativiert. Theorie des sozialen Vergleichs. Folgt man dem US-amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger (1954), so haben Individuen grundsätzlich das Bedürfnis, sich ein realistisches Bild von der Welt zu machen. Dazu zählt auch das Bild vom eigenen Selbst. Soziale Vergleichsprozesse finden vor allem dann statt, wenn ein objektiver Maßstab fehlt. Da Individuen in der Regel bestrebt sind, die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verbessern, dienen ihnen andere Menschen mit ihren Einstellungen und Kompetenzen als Vergleichsgröße. Aussichtsreich sind Vergleiche mit Personen, die einen ähnlichen sozialen Hintergrund sowie ähnliche Fähigkeiten und Meinungen haben. Menschen vergleichen sich horizontal, d. h. mit eher Gleichgesinnten (peers), oder aber abwärts, d. h. mit Menschen, die ihnen eher unterlegen sind, um sich selbst zu schützen und aufzuwerten. Ziel des Abwärtsvergleichs ist es, durch die wahrgenommene Überlegenheit das subjektive Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl zu steigern. Abwärts- und Aufwärtsvergleiche funktionieren ebenso mit fiktiven und/oder realen Medienpersonen (z. B. Bilandzic et al. 2015, S. 143–145). Der Aufwärtsvergleich beinhaltet dagegen eine motivationale sowie informative Dimension. Ausgetestet und geprüft werden Möglichkeiten der Verbesserung und des noch Erreichbaren. Viele experimentelle Untersuchungen in der sozial- und medienpsychologisch orientierten Kommunikationswissenschaft bauen auf der Theorie sozialer Vergleichsprozesse auf. Häufig kommt man hier zu dem Ergebnis, dass bei einer starken Konfrontation der Studienteilnehmenden mit medialen Attraktivitätsnormen und Werbemodels Aufwärtsvergleiche vorgenommen werden, die bei einem weiblichen Publikum mit einem niedrigen Selbstwertgefühl zu einer weiteren Geringschätzung der eigenen Attraktivität beitragen. Frauen mit geringem Selbstwertgefühl profitieren mehr von Abwärtsvergleichen mit weniger attraktiven Medienpersonen als Frauen mit hohem Selbstwertgefühl (z. B. Schemer 2007). Es dominieren in dieser Forschung experimentelle Designs (siehe u. a. Arendt et al. 2017; Gartmann 2008; Petersen 2005). Lernen an Rollenmodellen. In einem Mehrphasenmodell versuchte der kanadische Psychologe Albert Bandura (2002 [1986]) zu beschreiben, welche Lernpro-

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zesse und Beziehungen zwischen einem Individuum, den Medien und der sozialen Umwelt bestehen. Er interessierte sich für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen im Kontext medial vermittelter Modelle mit Vorbildcharakter. In seinem Ansatz wird danach gefragt, ob und wie RezipientInnen sich Einstellungen und Verhaltensmuster, die in und über Medien dargeboten werden, zu Eigen machen. Nach seinen Erkenntnissen durchlaufen Beobachtende vom Erlebten bis zur Ausführung eines Verhaltens vier Verarbeitungsphasen, die das Beobachtungslernen steuern: 1. Aufmerksamkeitszuwendung, 2. Behaltensphase, 3. Reproduktionsphase und 4. Motivationale Phase. In seinen zahlreichen Experimenten fand er heraus, dass Menschen zunächst ein Verhalten am Modell wahrnehmen müssen, das sie selbst realisieren möchten. Dieses beobachtete Verhalten müssen sie kognitiv speichern und vor allem reproduzieren wollen. Favorisierte Verhaltensweisen von Medienpersonen werden auf eine mögliche Adaption hin überprüft und zwar in Abhängigkeit zu den eigenen vorhandenen Fähigkeiten. Eine Grundvoraussetzung ist, dass einem die Person nahe ist und dass man sich mit ihr in irgendeiner Weise identifiziert. Vermutet der/die Rezipierende hinter dem gesehenen Verhalten der Medienperson einen Erfolg, dann ist die Wahrscheinlichkeit der Nachahmung größer. Personen, die einen höheren sozialen Status als die Beobachtenden haben, werden eher nachgeahmt als Personen mit gleichem oder niedrigerem Status. In seinen Untersuchungen konnte Bandura (2002 [1986]) zeigen, dass – wenn überhaupt – prozesshafte, selektive Erprobungen und kaum vollständige, nachhaltige Imitationen erfolgen. Die jeweilige Übernahme von medialen Modellen hängt sehr davon ab, inwieweit die übernommenen Verhaltensweisen im sozialen Umfeld positiv sanktioniert, d. h. verstärkt und unterstützt werden. Perloff (2014, S. 366) weist darauf hin, dass in sozialen Netzwerken die Beziehungen zu Rollenmodellen persönlicher sind als in konventionellen Medien. Rollenmodelle haben Vorbildcharakter im Hinblick auf Wertevermittlung, Lebensstilorientierung und zuweilen auch idealisierte Körpermaße. Handlungstheoretische Zugänge und multiple Bildaneignung. Der Begriff der Aneignung ist den Cultural Studies zugehörig und nicht mit Adaption oder Anpassung gleichzusetzen. Im Gegenteil: Es wird davon ausgegangen, dass Medientexte in jeglicher Form – als Bild, Film, Akteur etc. – nicht einfach von den Rezipierenden im Sinne der dominanten Lesart übernommen werden, sondern, dass Ästhetiken ausgehandelt werden und mitunter oppositionell kognitiv und emotional verarbeitet werden (Fiske 2011 [1989]). Sich Bilder anzueignen heißt, sie kulturell einzuordnen und sie für den eigenen Lebenskontext, die Biografie und Identität nutzbar zu machen (siehe auch den Beitrag von Reißmann und Hoffmann in diesem Band). Bildaneignung erfordert also mehr als nur das Sehen und Wahrnehmen bestimmter visueller Angebote. Der Prozess der Aneignung umfasst verschiedene Stufen des Wahrnehmens, Erlebens, Erfahrens, Abspeicherns und wiederum Verfügbarmachens. Allein das Sehen und Wahrnehmen ist bereits eine komplexe Tätigkeit, die als sinnlicher und kognitiver Vorgang verstanden werden muss. Die Betrachtung von medialen Körperbildern impliziert eine besondere ästhetische und kognitive Verarbeitung (Hoffmann 2012). Mit Verweis auf Schürmann (2008) ist anzunehmen, dass die Tätigkeit des Sehens eine Praxis ist, die stets in soziale Kontexte eingebunden ist,

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die wiederum die Bedeutung und Folgen des Sehens mitgenerieren. Es ist ein komplexer Registrierungsvorgang, der an gesellschaftliche und historische Bedingtheiten gekoppelt ist. Sehen begreift die Philosophin als soziale und performative Praxis, die einen individuellen Blick ermöglicht und mitunter auch verstellen kann (Schürmann 2008, S. 64). Sehen ist für sie „eine je individuierte Aufmerksamkeitsleistung [. . .], obwohl es zugleich sozial und interpersonal verankert ist“ (Schürmann 2008, S. 63). Die Tätigkeit des Sehens ist als ein Konstitutionsakt zu verstehen, der auch vermittelnde Qualitäten hat. Wie jedes andere Handeln auch erfolgt es nicht nur aktiv, sondern ist es auch reaktiv, d. h. die Sehenden reagieren „auf die sichtbare Welt in ihrer sozialen Konfiguriertheit“ (Schürmann 2008, S. 68). Folglich ordnen Menschen das Gesehene ein, strukturieren es, verbinden und vergleichen es mit Bekanntem. Es gilt, dem Gesehenen eine Bedeutung zuzuschreiben. Diese Bedeutungszuschreibungen erfolgen prozesshaft, indem an individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Erwartungen, an Werte und Konventionen angeknüpft wird. Nur so kann ein mediales Körperbild anschließend bewertet werden, zum Beispiel als schön oder hässlich, als gewöhnlich oder besonders, als moralisch akzeptiert oder verwerflich. Nicht jegliche von den ProduzentInnen intendierte Ästhetik wird als solche erkannt und unhinterfragt decodiert. Insofern kommt es bei diesen komplexen Aneignungsprozessen oftmals zu Transformationsverlusten und Modifizierungen. In ihrer quantitativ-qualitativen Untersuchung zur Medienaneignung von essgestörten Patientinnen kommt Baumann zu dem Schluss, dass sich die Betroffenen im Verlauf der Krankheit ihres Medienumfeldes je nach ihrer psychischen, physischen und sozialen Lage in vielfältiger Weise bedienen, wobei Realitätsdeutungen zumeist mit starkem Selbstbezug erfolgen (Baumann 2009, S. 380). In den Interviews sind Narrationen evident, die die Opferposition betonen. Demzufolge unterwerfe man sich den Medienvorbildern. Zugleich wird aber auch berichtet, dass man die Medienscheinwelt durchschaue und man sich abzugrenzen wisse (Baumann 2009, S. 294–301). Bild- und Mediensozialisation. Menschen werden im Laufe ihres Lebens mit einer Vielzahl von Bildern konfrontiert. Einige davon überraschen sie, andere bleiben flüchtig oder auch langfristig im Gedächtnis. Warum bestimmte mediale Bilder Menschen faszinieren und andere sie mitunter verstören, ist nicht leicht zu beantworten. Im Vergleich zu Sprache und Schrift haben Bilder ikonische und symbolische Qualitäten, sind aber prinzipiell bedeutungsoffener als Sprache und Schrift. Visuelle Kommunikation ist mitunter früher zugänglich, denn Sprechen, Lesen und Schreiben muss erlernt werden, wohingegen sich bestimmte Bildkompetenzen früh und informell im Sozialisationsprozess ausbilden (Mikos 2010, S. 242–244). Zu nicht-sprachlicher Kommunikation wie Mimiken und Gesten verhält man sich gezwungenermaßen, d. h. man kann sich ihnen kaum entziehen und ist zur Reaktion aufgefordert. Die Bildsozialisation ist wissenschaftlich bislang noch nicht hinreichend konturiert worden, zuweilen wird auch von Sehsozialisation gesprochen; sie gilt als Teil einer umfänglichen Mediensozialisation. Einige Besonderheiten der Bildsozialisation arbeitet Reißmann (2015, S. 120) heraus, der davon ausgeht, dass diese „ohne praktisches Tun, Mimesis und Learning-by-Doing unvorstellbar“ ist. Bildsozialisation umfasst in jedem Fall deutlich mehr als bloßes Bild-

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verstehen. Unsere Kultur ist primär vom Sehen und – folgt man Welsch – auch von einer „Hyperästhetik des öffentlichen Raumes“ (Welsch 1996, S. 208) bestimmt, die mitunter zur Abstumpfung führen kann, auch im Hinblick auf dort präsente mediale Körperbilder. Hyperästhetisierten Körperbildern fehlt mitunter das Moment der Überraschung und des Ungewöhnlichen. Um Bild- und Mediensozialisation aussichtsreich zu deuten, bedarf es verschiedener Forschungszugänge und in der Regel Langzeitstudien. Diese berücksichtigen die strukturellen und soziokulturellen Bedingungen der Sozialisation, biografische Erfahrungen, individuelle Kompetenzen und Decodierungsfähigkeiten sowie Prozesse der wechselseitigen Ko-Konstruktion von Individuum und Umwelt. Man versucht herauszufinden, inwieweit sich das Individuum an bestimmte Gegebenheiten – etwa an einen Schönheits- und Attraktivitätsimperativ – anpasst, es sich ihm widersetzt, sich ihm temporär unterordnet und inwieweit generell die Auseinandersetzungen mit „Schönheitsanforderungen“ gesellschaftlich und individuell biografisch relevant werden, d. h. sich als Facette des Selbst bzw. in der Identität wiederfinden lassen (Reißmann und Hoffmann 2017; Abraham 2015). Sozialisation ist nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt messbar, sondern nur als Prozess annähernd interpretativ abbildbar. Ebenso lassen sich „Sozialisationseffekte“ nur ungenau rekonstruieren, die im Übrigen immer an gesellschaftliche Verhältnisse rückgebunden werden müssen. Medienhandeln, d. h. der Umgang und die Zuwendung etwa auch zu medialen Körperbildern, wird immer – wie in handlungstheoretischen Ansätzen – als soziales Handeln begriffen, das Kommunikation, Vergemeinschaftung und soziokulturelle Zugehörigkeit ermöglicht. Es erfolgt aktiv, intentional, nutzenorientiert, ist sinnhaft und identitätsstiftend im Sinne einer Annäherung oder auch sozialen Distinktion (siehe auch Baumann 2009, S. 155–159). Die Mediensozialisationsperspektive wird für die Kommunikationswissenschaft seit Jahrzehnten reklamiert (zuerst von Bonfadelli 1981) und konnte auch in Bezug auf die Rolle und Bedeutung von medialen Körperbildern noch nicht zufriedenstellend umgesetzt und eingelöst werden. Mediatisierung. Diese Meta-Theorie9 baut partiell auf Erkenntnissen der Mediensozialisationsforschung, dem Symbolischen Interaktionismus und den Cultural Studies auf, indem – bezogen auf das Beispiel der Körperbilder – mediale und soziale Einflüsse auf die Aneignung von Körperwissen und die Ausübung von Körperpraktiken (inklusive Schönheitshandeln und Fitnesstraining) angenommen werden. Die bestimmenden Einflussgrößen und Prägekräfte lassen sich aber nicht einzeln extrahieren. Beim Mediatisierungskonzept handelt sich nicht um ein „stabile [s] Theoriegebäude“, sondern um „Theoretisierungen spezifischer Entwicklungen“ (Krotz 2018, S. 96). Mediatisierungsforschung wird in der Auffassung von Krotz als offener Prozess verstanden, sie geht historisch-rekonstruktiv vor und ist kritisch (Krotz 2018, S. 94–96). Medien werden im Mediatisierungskonzept als etwas verstanden, „das Kommunikation modifiziert, verändert, sie sich ausdifferenzieren lässt und zum Entstehen neuer Interaktions- und Kommunikationsformen führt. Sie

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Es existieren verschiedene Mediatisierungsansätze. Ich orientiere mich bei den Grundannahmen an dem Konzept von Krotz (siehe im Überblick Krotz 2018).

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sind [. . .] Inszenierungsmaschinen, insofern sie Kommunikate bereitstellen, andererseits Erlebnisräume, insofern sie genutzt, rezipiert, angeeignet werden“ (Krotz 2003, S. 23). Man begnügt sich beim Mediatisierungsansatz nicht mit den beobachtbaren Instanzen der Sozialisation, sondern ist ambitioniert, den Prozess sozialen und kulturellen Wandels abzubilden, der maßgeblich dadurch zustande kommt, „dass immer mehr Menschen immer häufiger und differenzierter ihr soziales und kommunikatives Handeln auf immer mehr differenzierte Medien beziehen“ (Thomas und Krotz 2008, S. 53). Dabei muss berücksichtigt werden, dass moderne Individuen sich immer neuer und veränderter medialer Potenziale bedienen. Dies hat Folgen für den Alltag, für die Identität, für soziale Beziehungen und im Grunde alle Lebensbereiche sowie Wissensbestände (Thomas und Krotz 2008, S. 29; siehe auch Krotz 2018, S. 90). Für die Komplexität von Bildaneignungsprozessen der Individuen bedeutet dies, dass wie auch immer sich der Körper verhält und gestaltet wird, was und wie er fühlt, nicht losgelöst von gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen betrachtet werden kann, die sich durch und mit Medien(technologien) konstituieren und kontinuierlich verändern. So ist es zum Beispiel fraglich, inwieweit es in einer mediatisierten Gesellschaft etwa eine dominante Bildpraxis und Körperästhetik gibt, wo doch vieles erlaubt, verhandelt und ausprobiert wird (u. a. Piercing, Branding, Tattooing, Cutting, vielfältige Formen der plastischen Chirurgie). Je nachdem wie mediatisierte Gesellschaften strukturiert sind und wie sich in deren (vor-)gegebenen Ordnungsrahmen sozio-kulturelle Skripte und Ästhetiken ausbilden und mitunter verfestigen (können), entscheidet sich, ob sich bestimmte Bilder von Schönheit und Attraktivität in weiten Teilen der Bevölkerung durchsetzen oder ein breites Spektrum an präferierten Körperbildern auszumachen ist. Aufgrund soziokultureller Ausdifferenzierungen und Pluralisierungen ist prinzipiell von einer Kontingenz vorhandener Bilder von Schönheit, Attraktivität, Erotik und Sexyness auszugehen (Hoffmann 2012).

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Beispielhafte Forschungsfelder

Nimmt man die Vielzahl von Studien in den Blick, die der kommunikationswissenschaftlich orientierten Körperbildforschung zugeordnet werden können, so lassen sich drei größere Forschungsfelder ausmachen: Das Forschungsfeld, das sich mit der Ästhetisierung und Idealisierung von Körpern (I), ihrer Rezeption und Aneignung beschäftigt, hat bereits eine längere Tradition und ist offenkundig dominant. Vorrangig wird die kommunikative und postkommunikative Medienwirkung zu erforschen versucht und speziell Effekte auf körperliches Wohlbefinden, Körperselbstbild, Ernährungsverhalten und mitunter sportliche Aktivitäten sowie Körpergestaltungspraktiken. Wenngleich hier keine systematische Auswertung international vorhandener Untersuchungsdesigns vorgenommen werden kann, so besteht aber der Eindruck, dass es sich in diesem Forschungsfeld mehrheitlich um experimentelle und randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) handelt. Diese Art der Forschung arbeitet zumeist mit einer Studiengruppe, die man mit bestimmten medialen Körperbildern konfrontiert, und einer Kontroll-

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gruppe, die keinen besonderen Stimuli und Einflüssen ausgesetzt wird. Oder man sucht explizit Gruppen von Menschen, die eine besondere Medienaffinität und/oder eine hohe Körperunzufriedenheit haben und analysiert Besonderheiten ihrer Mediennutzung (z. B. Mills et al. 2017). Nicht wenige Studien sind medienpsychologisch oder klinisch ausgerichtet und mitunter dem Bereich der Gesundheitskommunikation zugehörig. Mit Aufkommen der sozialen Online-Netzwerke wie z. B. Facebook (2004), StudiVZ (2005) und Instagram (2010) entwickelte sich sowohl national als auch international ein weiteres größeres Forschungsfeld, das seither Selbstinszenierungen und zugehörige Bildpraktiken (II) vornehmlich junger Menschen untersucht (u. a. Reißmann 2015; Autenrieth 2014b). Die Forschungsprämissen und angewandten Methodiken differenzieren sich in diesem Feld aktuell stark aus. Es stehen die (re)präsentierten Körperbilder als Elemente der Eindruckssteuerung (Impression Management) im Mittelpunkt der Betrachtungen, aber auch Fragen nach der Authentizität von Körperbildern, Fragen nach Möglichkeiten der Identitätskonstruktionen und des Self-Branding (im Überblick Kneidinger-Müller 2017). Gefragt wird danach, inwieweit sich Fotos von Körpern in den sozialen Medien und auch dem Smartphone an ästhetisch konventionellen Genres orientieren (z. B. Schreiber und Götzenbrucker 2018) oder inwieweit Körperbilderpräsentationen plattformspezifischen Bedingungen unterliegen bzw. sich an verschiedenen AdressatInnenkreisen ausrichten. Eine besondere Form der Selbstinszenierung stellt das Selfie dar, zu dem inzwischen eine Reihe an Studien existiert. Ihre funktionale Bedeutung liegt sowohl in der Selbstpräsentation als auch dem „visuellen Ausdruck von Gefühlen, Ängsten und Hoffnungen“ (Lobinger 2016, S. 48). Selfies werden oftmals im öffentlichen Diskurs belächelt und abgewertet, gelten sie doch als narzisstisch (siehe auch den Beitrag von Autenrieth in diesem Band). Allerdings weisen Studien daraufhin, dass sie insbesondere im Jugendalter der Selbsterkundung und Selbstreflexion dienen. Das vorgeschaltete, vielfältige Posieren und auch Stilexperimente ermöglichen Aushandlungen und entwicklungsrelevantes Probehandeln des Selbst, wobei es auch zu demonstrativen Idealisierungen der eigenen Person respektive des Körpers kommt (Reißmann 2015, S. 203–210). Im günstigsten Fall werden in der SelfieForschung Bildanalysen mit Interviews der BildproduzentInnen kombiniert, sodass Bildpraktiken erklärt und Motive der Selfie-Herstellung erfasst werden können. Vor dem Hintergrund des soziodemografischen Wandels und der sich damit veränderten Werbezielgruppen werden – vor allem in den etablierten Medien (Fernsehen, Zeitschriften, Zeitungen, Magazinen) – vermehrt auch ältere Menschen abgebildet (Mayer 2009, S. 118). Eine repräsentative Berücksichtigung dieser Bevölkerungsgruppe ist zweifellos geboten, doch in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung spielte die Gruppe 50+ bislang eine eher untergeordnete Rolle. Lange Zeit wurden die normativen Körperbildpräsentationen von jüngeren und mittleren Altersgruppen erforscht und so nehmen erst seit kurzem Studien zu, die sich mit der Präsentation und Repräsentation von älteren Menschen und deren Körperbildern (III) beschäftigen. So genannte Altersbilder beschränken sich nicht auf die Darstellung von Körpern, sondern auch auf Eigenschaften sowie Lebenslagen älterer Menschen und auf Prozesse des Alterns bzw. Älterwerdens („doing

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age“). Neben der Untersuchung realistischer sowie verzerrter (Thimm 2009) und ebenso übergeneralisierter Darstellungen des Alterns fokussiert man in diesem Feld besonders auf die visuelle Stereotypisierung älterer Menschen (u. a. Mayer 2009, Schwender et al. 2013). Bilder vom produktiven, gelingenden Alter stehen Bildern mit defizitären, gebrechlichen Körpern gegenüber. Eine quantitative Bildinhaltsanalyse der Darstellung und Kontextualisierung älterer Menschen in zielgruppenspezifischen Gesundheitsmagazinen (Apotheken Umschau und Senioren Ratgeber) ergab, dass dort Defizite kaum sichtbar gemacht werden, sondern vielmehr die Potenziale und positiven Bewältigungsstrategien des Alterns betont werden (Hoffmann und Schwarz 2015). Die Autorinnen heben hervor, dass mediale Entwürfe vom stets reisefreudigen, selbstbestimmten Aktivsenior die Lebenswirklichkeiten älterer Menschen verklären können und eine Überrepräsentanz von positiven Bildern vom Älterwerden und Ältersein mitunter überfordern oder/und als unrealistischer Imperativ verstanden werden (Hoffmann und Schwarz 2015, S. 59). Ebenso ist davon auszugehen, dass nicht nur Gesundheits-, Fitness-, Vitalitäts- sondern auch Schönheitsdiskurse von älteren Menschen wahrgenommen werden. So kommt Höppner (2011) in ihrer fallkontrastiven, qualitativen Untersuchung zu dem Schluss, dass sich das Schönheitshandeln ihrer Befragten eng an gesellschaftlichen Normvorstellungen von Schönheit orientiert, wobei es den älteren Frauen und Männern weniger um Attraktivität, sondern mehr um das Gepflegtsein des Körpers und des äußeren Erscheinungsbildes geht (vgl. auch Reißmann und Hoffmann 2017, S. 143–145). Medieneinflüsse werden in den problemzentrierten Interviews thematisiert, aber diese werden unterschiedlich eingeschätzt und bewertet. Neben den angeführten Forschungsfeldern ließen sich noch andere selektive Studien nennen, so zum Beispiel medienhistorische Forschung zum Wandel der Frauenkörper im Sport und auch deren Sexualisierung (z. B. in der Tagespresse, siehe Pfister 2011). Zudem liegen einige Studien vor, die das Framing von behinderten SportlerInnen in den Nachrichten und die Rezeption dieser Körperbilder untersucht haben (z. B. von Sikorski et al. 2012). Gerade inklusive Visuelle Kommunikationsforschung scheint noch deutlich ausbaufähig. Diversität wird bislang noch unzureichend in der Körperbildforschung berücksichtigt, die sich – wenn man es insgesamt betrachtet – stark an Mainstreammedien, gesellschaftlichen Erwartungen sowie hegemonialen Diskursen ausrichtet.

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Kritischer Forschungsausblick

Die obigen Ausführungen zu den Besonderheiten der Körperbildforschung, zu den Forschungsansätzen und Forschungsfeldern sollten deutlich gemacht haben, dass mediale Körperbilder und die Selbstbilder der RezipientInnen in verschiedenen Disziplinen sowohl korrelativ als auch zum Teil multifaktoriell betrachtet und analysiert werden. Klassische Zugänge wie der Kultivierungsansatz und die Theorie des sozialen Vergleichs haben nicht an Attraktivität verloren, d. h. sie finden vielfach und disziplinübergreifend Anwendung, wenngleich sie methodologisch und von ihrem Erklärungsanspruch her eher unterkomplex sind. Ansätze wie die Bildaneig-

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D. Hoffmann

nungs- und Bildsozialisationsforschung werden bislang vornehmlich konzeptioniert und müssen sich erst noch in der Forschungspraxis bewähren. Sie verlangen nach komplexen Untersuchungsdesigns und zumeist Längsschnittdaten, was große Ressourcen benötigt und bestimmte strukturelle Bedingungen für die Datenerhebungen erforderlich macht. Langzeitbeobachtungen und -analysen der körperbezogenen Medienangebote (Medienmonitoring) werden bislang nicht systematisch und über längere Zeiträume realisiert. Ebenfalls mangelt es an Panelstudien, die die zuverlässige Bereitschaft der Studienteilnehmenden voraussetzen und zudem ein Vertrauensverhältnis zwischen ForscherInnen und Beforschten. Ein gängiges Desiderat – vor allem in den Cultural Studies und in der Körpersoziologie – zielt auf die konsequente Reflexion der Subjektivität des Forschers/der Forscherin im Forschungsprozess ab. Das Ergebnis der Reflexion gilt es auch transparent zu machen, denn gerade qualitative körperbezogene Forschung kann nicht unabhängig von der Körperlichkeit, dem Wohlbefinden und der Performanz des Forschers/der Forscherin (beispielsweise im Interview und/oder in Beobachtungssituationen) vollzogen werden. Diesem Anspruch kommt in der Visuellen Kommunikationsforschung, die nicht nur aber auch Rezeptions- und Aneignungsprozesse in den Blick nimmt und die künftig verstärkt bildsozialisationstheoretische Perspektiven einnehmen möchte, leider kaum jemand nach.

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Visuelle Stereotype in der Kommunikationsforschung Clemens Schwender und Thomas Petersen

Inhalt 1 Der Ursprung des Begriffs und eine erste Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Walter Lippmanns Entdeckung des Stereotyps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Altersstereotype . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Wirkung der stereotypen Altersbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Stereotype sind einfache Muster, die aktiviert werden, wenn Wahrnehmungen in Kategorien eingeteilt werden, die ihrerseits Grundlage f€ur Einstellungen und Handlungen sein können. Das geht meist schnell, ist aber auch nicht immer akkurat. Walter Lippmann hat den Begriff in die Publizistik eingef€uhrt und ausf€ uhrlich beschrieben. Um Ausprägungen und Verwendungsweisen zu diskutieren, konzentriert sich das Kapitel auf Altersstereotype. An diesem Beispiel werden die Aspekte anhand einer aktuellen gesellschaftlichen Debatte thematisiert. Alter wird visualisiert in Karikatur, Film, Werbung und Journalismus. Dabei wird auch die Wirkung von Altersstereotypen betrachtet. Schlüsselwörter

Altersstereotype · Karikatur · Film · Journalismus · Werbung · Wirkung

C. Schwender (*) SRH Hochschule der populären Künste (hdpk), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Petersen (*) Institut f€ur Demoskopie Allensbach, Allensbach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_12

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C. Schwender und T. Petersen

Der Ursprung des Begriffs und eine erste Annäherung

Walter Lippmann hat den Begriff „Stereotyp“ in seinem grundlegenden Werk Public Opinion eingef€ uhrt und definiert. Stereotype sind – was die Geschwindigkeit der Aufnahme betrifft – sehr effizient, dabei aber gleichzeitig nicht besonders akkurat. Sie dienen dazu, große Mengen an Informationen zu bewältigen, denn mit jedem Stereotyp werden viele unausgesprochene Botschaften mitgeliefert. Dies gilt insbesondere f€ ur visuelle Stereotype. WebdesignerInnen, Foto- und VideografInnen, FilmemacherInnen, Grafik-K€unstlerInnen oder KarikaturistInnen nutzen Stereotype, da sie schnell verstanden werden und eine klare – wenn auch bisweilen unfaire oder gar verletzende – Botschaften zeichnen (Dennis 2011, S. ix). Anscheinend ist die Stereotypisierung eine grundlegende menschliche Eigenart, effektiv mit Informationen umzugehen. Personen, Gegenstände und Ereignisse werden bereits vor jeder Erfahrung Kategorien zugeordnet. Die Funktion der Stereotype liegt unter anderem darin, schnelle Entscheidungen zu ermöglichen, in Situationen, in denen nicht gen€ugend Informationen vorliegen. Immer wieder aktuell untersucht und gut dokumentiert sind Stereotype in den Bereichen Geschlecht (Kaufman und Sumerson 2015, S. 1) und Ethnizität (Tukachinsky 2015). Selten und erst in neuer Zeit entdeckt (Mayer 2009; Kessler 2009) ist die Auseinandersetzung mit Altersstereotypen. Anhand dieses Gegenstandes und der dazugehörigen Forschung soll vor allem das visuelle Stereotyp umrissen werden. Davon ausgehend werden am Beispiel der Altersbilder in Karikatur, Journalismus, Film und Werbung unterschiedliche Darstellungen und die jeweiligen Analyseinstrumente vorgestellt. Anhand einschlägiger Untersuchungen werden schließlich deren Methoden und Ergebnisse exemplarisch diskutiert. In Karikaturen dominieren in Bezug auf Altersbilder negative Bilder von Leid und Verfall, in der Werbung eher positive Altersbilder. Im Film werden Altersstereotype gebraucht, um schnell und effektiv Funktionsrollen und Konflikte der ProtagonistInnen erlebbar zu machen. Fotos als Illustrationen zum Thema Demenz im Printjournalismus sind wiederum €uberraschend positiv, da sie die Kranken unter anderem eher als sozial integriert zeigen. Es schließen Untersuchungen an, die die Wirkung positiver und negativer Altersstereotype pr€ufen. Hier zeigt sich ein scheinbar widerspr€ uchliches Bild: Ältere Menschen, die ein negatives Selbstbild haben, f€ uhlen sich besser, nachdem sie negative Stereotype gesehen haben. Durch den Abwärtsvergleich wird ihre Stimmung gehoben. Als Einstieg ins Thema sei auf ein Beispiel verwiesen. Am 29. Juni 2011 eröffnete in Potsdam die Ausstellung „Trau keinem unter 60!“, in der Karikaturen zum demografischen Wandel gezeigt wurden, darunter auch eine Zeichnung der Dresdner Karikaturistin Barbara Henniger. Sie zeigt einen Rastplatz mit einem Baum, an dem zwei Hunde, eine Katze und zwei ältere Menschen angebunden sind. Das Alter der Menschen ist durch Falten im Gesicht und durch schlaffe Wangen und Kinn der älteren Generation zuzuordnen. Der Mann hat eine Glatze, die Frau einen kleinen Dutt. Die Frau trägt ein Kleid, das deutlich €uber die Knie reicht, der Mann hat eine Brille. Ebenso wie die ausgesetzten Tiere sitzen sie bewegungslos und apathisch und zeigen keine Anstalten, sich selbst aus der misslichen Lage zu befreien (Abb. 1).

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Abb. 1 Barbara Henniger: Das Aussetzen von Haustieren und Großeltern vor Ferienbeginn. (Quelle: Polanski (2014, S. 59))

St€ unde man vor der Aufgabe, das Prinzip des visuellen Stereotyps in Bezug auf das Alter auf einer halben Seite zu erläutern, wäre es vielleicht nicht die schlechteste Idee, statt eines gesonderten Textes diese Karikatur abzubilden, denn sie b€undelt die Merkmale eines visuellen Stereotyps am Beispiel von Altersbildern auf anschauliche Weise. Wie jede Satire €uberzeichnet sie die Wirklichkeit. Wer in der GoogleBildersuche das Stichwort „Alte Menschen“ eingibt, erhält gleich auf den ersten Ergebnisseiten viele Verweise, die die hier verwendeten Alterssignale darstellen. Weder die Personen oder die Tiere noch die vorbeifahrenden Autos im Hintergrund, die Indizien f€ur Urlaubsreisen darstellen, werden um ihrer selbst willen abgebildet, sondern sie verstärken symbolhaft die Darstellung von Ausgrenzung: Wie man sich herzlos der Tiere entledigt, denen man keine Versorgung in der Urlaubszeit bieten kann oder will, so wird das ältere Paar an einen Baum gebunden zur€ uckgelassen. Mit der Wirklichkeit des Alterns hat die Abbildung wenig zu tun. Nichts spricht daf€ ur, dass Eltern oder Großeltern tatsächlich auf diese Weise behandelt werden. Doch f€ur die Funktion des Bildes als Symbol f€ur Ausgrenzung der Alten ist es nicht wichtig, ob es die Wirklichkeit treffend illustriert oder absurd € uberdehnt. Zwei Elemente tauchen wiederholt gemeinsam in der Medienberichterstattung auf: Nachrichten zum Thema demographischer Wandel und ein Bild von älteren Menschen, die das soziale Leben der J€ungeren stören. Beide Elemente werden vom Leser bzw. der Leserin gemeinsam wahrgenommen und womöglich

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im Gedächtnis behalten. Wird nun eines der Elemente aufgerufen, wird das zweite mitaktiviert. Man sieht das Bild und weiß: Hier geht es um Alter. Das Bildsignal als grob vereinfachte Metapher f€ur das eigentlich recht komplexe und in mancherlei Hinsicht abstrakte Thema demografischer Wandel hat sich ins Gedächtnis eingegraben, ein beliebig in gleicher oder ähnlicher Form reproduzierbares „Bild in den Köpfen“, ein Stereotyp.

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Walter Lippmanns Entdeckung des Stereotyps

Selten ist die Herkunft eines Begriffs und eines Konzeptes so eindeutig nachvollziehbar wie beim Stereotyp. Die Formulierung von den „Bildern in den Köpfen“ und das Stichwort des Stereotyps zur Beschreibung vereinfachter Denk- und Interpretationsmuster stammen von dem amerikanischen Journalisten Walter Lippmann. Er widmet dem Begriff „Stereotyp“ mehrere Kapitel in seinem grundlegenden Buch Public Opinion aus dem Jahre 1922, welches als eines der wichtigsten Gr€undungsdokumente der modernen Kommunikationswissenschaft gilt. Als Kriegsberichterstatter im Ersten Weltkrieg und als Berater des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson hatte Lippmann Zugang zu Informationen €uber den Kriegsverlauf, €uber die die Bevölkerung nicht verf€ugte, und stellte fest, wie sehr die Wirklichkeitswahrnehmung der B€ urgerInnen von der Zeitungsberichterstattung verzerrt wurde. Die Kriegsnachrichten wurden durch die Propaganda gefiltert und verfälscht, durch die JournalistInnen dann unvermeidlich grob vereinfacht weitergegeben, und dies wurde von den ZeitungsleserInnen wiederum grob vereinfacht aufgenommen. Die „Bilder in den Köpfen“ der LeserInnen hatten schließlich, so Lippmann, nicht mehr viel mit der Wirklichkeit gemeinsam. Doch eben diese Bilder und nicht die tatsächlichen Ereignisse bestimmten und bestimmen auch heute noch das Handeln der Menschen. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass es kein Wissenschaftler, sondern ein Journalist war, der diese Mechanismen entdeckte und ihnen den Begriff des Stereotyps zuordnete. Lippmann d€urfte den technischen Prozess der Stereotypisierung täglich in der Druckerei seines Magazins The New Republic vor Augen gehabt haben. Der Schritt, bei dem der urspr€unglich aus beweglichen Lettern zusammengesetzte Bleisatz auf eine starre, unveränderbare Druckplatte €ubertragen wird, von der dann nahezu beliebig viele identische Drucke hergestellt werden konnten, war in jeder Zeitschriftendruckerei eine tausendfach ge€ubte Routine. Die Analogie zu dem Vorgang, bei dem die Vorstellungen der Bevölkerung von der Welt mit Hilfe der Berichterstattung der Massenmedien eine feste Form annehmen konnten, ein starres Muster, das dann auf die verschiedensten Lebenssituationen angewandt wurde und die Urteile auch € uber Dinge prägte, von denen die Menschen streng genommen gar keine Kenntnis hatten, musste sich ihm geradezu aufgedrängt haben. Bemerkenswert ist, dass der Begriff in seinem sozialwissenschaftlichen Gebrauch die technischen Veränderungen in der Drucktechnik unbeschadet €uberstanden hat. Nur noch wenige d€urften heute wissen, was der Begriff Stereotyp in der Drucktechnik bedeutet, doch was er in der Sozialwissenschaft bedeutet, steht auch vielen NichtwissenschaftlerInnen mehr oder weniger klar vor Augen.

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F€ ur Lippmann war der Begriff so zentral, dass er dem Thema f€unf Kapitel seines Buchs (Lippmann 1990, S. 61–114) widmete. Nicht nur, dass Personen den Berichten von anderen nicht trauen können, nicht einmal sie selbst sind frei von Wahrnehmungen, die durch ihre Persönlichkeit und kulturelle Herkunft vorbestimmt sind: „Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen unserer Sicht der Dinge und den Fakten, aber es ist oft ein wunderlicher Zusammenhang“, bemerkt Lippmann (1990, S. 67) dazu. Da die Welt zu komplex ist, als dass wir sie mit allen Details und Kontexten erfassen könnten, tendieren Menschen dazu, Typen zu bilden, was die Einschätzungen und Zuordnungen vereinfacht. Diese Typisierung bringen sie in den Prozess der Wahrnehmung ein. „Hierin liegt die Ökonomie. Denn der Versuch, alle Dinge frisch und im Detail zu sehen statt als Typen und Verallgemeinerungen, erschöpft und kommt bei eiligen Angelegenheiten praktisch €uberhaupt nicht in Frage“ (Lippmann 1990, S. 67). Damit haben Menschen ein Bild von der Realität, bevor sie diese sehen. Vor jeder Erfahrung werden Stereotype aktiv, die den Prozess der Wahrnehmung steuern. F€ ur Lippmann bilden sich diese durch die kulturelle Weitergabe von einer Generation zur nächsten. Die Tradierung ist f€ur Lippmann so stark, dass sie ihm „fast wie eine biologische Grundtatsache erscheint“ (Lippmann 1990, S. 70–71). Auf individualpsychologischer Ebene hat dies Konsequenzen: Ein geordnetes, mehr oder minder beständiges Weltbild dient der Aufrechterhaltung der eigenen Identität, die sich in Gewohnheiten, Geschmack oder Fähigkeiten niederschlagen. Damit werden Stereotype zu einem defensiven und stabilisierenden Faktor des Selbst bis hin zur Selbstachtung (Lippmann 1990, S. 72). Wenn Stereotyp und Wahrnehmung einander widersprechen, gibt es nach Lippmann zwei Möglichkeiten. Entweder das Stereotyp muss revidiert werden, was selten passiert, oder man ordnet die Beobachtung als Ausnahme von der Regel ein. Dieser zweite Fall ist einfacher, da die grundlegende Welt- und Selbstsicht nicht in Frage gestellt werden muss (Lippmann 1990, S. 75). Stereotype stellen somit eine Komplexitätsreduktion her, denn auf Ambivalentem lässt sich keine Entscheidungen aufbauen. Lippmann erkennt den Zusammenhang zwischen der Makro- und Mikroebene, zwischen Gesellschaft und Individuum: „Unter dem Begriff ‚Moralkodices‘ fasse ich alle ihre Formen zusammen: persönliche, familiäre, wirtschaftliche, berufliche, rechtliche, vaterländische, internationale Vorschriften. Im Mittelpunkt eines jeden Sittengesetzes steht ein psychologisches, soziologisches und geschichtliches Stereotypenmodell“ (Lippmann 1990, S. 91). Er beschreibt an vielen Beispielen die Wirkung der Stereotype auf Haltung und Verhalten. Gerade die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges lieferten ihm viele Beispiele, an denen er die Effekte von Stereotypen belegen konnte. Etwa wie aus subjektiven Interessenswahrnehmungen vaterländische Gef€uhle erwachsen, die die Massen gegeneinander schickte. „Denn wenn ein System von Stereotypen gut verankert ist, wendet sich unsere Aufmerksamkeit den Tatsachen zu, die es st€utzen“ (Lippmann 1990, S. 87). Damit werden sie zu selbsterf€ ullenden Prophezeiungen und sind noch schwerer zu widerlegen. „Was fremd ist, wird abgewiesen, was anders ist, wird blinden Augen begegnen“ (Lippmann 1990, S. 88). Damit beschreibt Lippmann exakt, was Leon Festinger (2012) mit dem Begriff der kognitiven Dissonanz beschrieb. Die Verarbeitung der Wahrnehmung passt sich den vorgefassten Weltbildern an.

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Lippmann machte sich wenig Hoffnung, dass man Stereotypen durch Maßnahmen begegnen könne. Moral, Geschmack oder Gesinnung bauen auf ihnen auf, um sie dann zum allgemeinen Codex zu erheben. Das macht das Zusammenleben einfacher, da die meisten den gleichen Regeln folgen. Diese Regeln werden von gesellschaftlichen Institutionen immer wieder aufs Neue interpretiert, ausgelegt und auf Einzelfälle r€ uck€ubersetzt. Jäckel (2016, S. 204) bestätigt diese Beobachtung, wenn er auf die Logik der Massenmedien verweist: „Bestimmte Formen der Medienabhängigkeit sorgen f€ur eine Penetranz von Botschaften, die sich formal-inhaltlich zwar unterscheiden mögen, aber in der Regel auch bestimmten Sichtweisen den Vorzug geben.“

2.1

Die Funktionen der Stereotype

Die Bedeutung von Lippmanns Buch zeigt sich unter anderem darin, dass er letztlich die Grundz€ uge der Schema-Theorie vorwegnahm, die erst mehr als sechs Jahrzehnte später als Ableitung aus der Psychologie f€ur die Wirtschafts- und Kommunikationswissenschaft nutzbar gemacht wurde (Graber 1984; Tversky und Kahnemann 1986; Kepplinger 2009, S. 687–688). Das Stereotyp erf€ullt letztlich die gleiche Aufgabe wie Frames, von denen die Schema-Theorie spricht. Es bildet einen Bezugsrahmen, in den Informationen aus den Massenmedien oder jeder anderen Informationsquelle eingeordnet werden. Trotz des negativen Beiklangs, der dem Begriff anhaftet, ist er nicht wertend zu verstehen. Das Stereotyp ist als notwendiges, vereinfachendes Ordnungsprinzip aufzufassen, das es erst ermöglicht, die komplexe Wirklichkeit zu strukturieren. Stereotype erfordern keine mentale Anstrengung und werden durch Hinweisreize in der Umwelt ausgelöst (Shiffrin und Dumais 1981). In der Alltagssprache sind die Begriffe Stereotyp, Vorurteil, Feindbild meist nicht trennscharf verwendet. Werner Bergmann empfiehlt, als Vorurteil nur solche sozialen Urteile zu fassen, „die gegen anerkannte menschliche Wertvorstellungen verstoßen“ (Bergman 2001, S. 3). Dazu zählt er vorschnelle Urteile ohne Kenntnisse der Sachverhalte, die Ungleichbehandlung aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit, oder Formen empathieloser Ablehnung. Ein Stereotyp wird demzufolge erst durch die negative Bewertung zum Vorurteil (Wentura und Rothermund 2005, S. 627). Neben dem Begriff des Stereotyps hat sich auch das Stichwort vom Klischee eingeb€ urgert. Interessanterweise kommt auch dieser aus der Druckersprache und meint dort eine Hochdruck-Vorlage, also einen Druckstock, von dem viele Kopien gezogen werden können. In der Filmwissenschaft und in der Alltagssprache bezeichnet man abgedroschene Muster von Eigenschaften und Verhaltensweisen, schablonenhaftes Verhalten und standardisierte Ausstattungsmerkmale als Klischee. So können – Klischees zufolge – Asiaten immer gut Karate und „Indianer“ können die Zeichen der Natur lesen. Stereotype sind – was die Geschwindigkeit der Aufnahme betrifft – sehr effizient, dabei gleichzeitig aber nicht besonders akkurat. Sie dienen dazu, große Mengen an Informationen zu bewältigen, denn mit jedem Stereotyp werden viele unausgesprochene Botschaften mitgeliefert. Anscheinend ist die Stereotypisierung eine grundle-

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gende menschliche Eigenart, die uns hilft, effektiv mit Informationen umzugehen. Personen, Gegenstände und Ereignisse werden bereits vor jeder Erfahrung Kategorien zugeordnet. Die Funktion der Stereotype liegt unter anderem darin, schnell Entscheidungen zu treffen, etwa in Situationen, in denen nicht gen€ugend Informationen vorliegen. Man kann annehmen, dass die „Bilder in den Köpfen“ darum auch ein Element der Meinungsbildung sind, das in besonderer Weise dem Einfluss der Berichterstattung in den Massenmedien ausgesetzt ist, denn durch die Medien beförderte stereotype Vorstellungen von unbekannten Gegenständen, fremden Menschen, Völkern und Verhaltensweisen werden oft nicht durch eigene Erfahrungen korrigiert. „Wir m€ ussen zusammenfassen und verallgemeinern. Wir greifen Musterfälle heraus und behandeln sie als typisch“ (Lippmann 1990, S. 109). Mit „wir“ meint Lippmann an dieser Stelle seine eigene Berufsgruppe der JournalistInnen. Dar€ uber hinaus ist es nicht gewagt zu vermuten, dass es sich bei der Vereinfachung und Verallgemeinerung von Informationen, seien sie aus den Medien oder auf anderem Wege gewonnen, um einen weitgehend unbewussten Prozess handelt. Der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Gregor Daschmann hat in Laborexperimenten eindrucksvoll demonstriert, dass die meisten Menschen ihr Urteil €uber die Meinungsverteilung in der Gesellschaft – und wahrscheinlich auch €uber andere Dinge – oft auf Quellen st€ utzen, die bei rationaler Betrachtung als vollkommen unzureichend angesehen werden m€ ussten, nämlich Einzelfälle oder spontane Eindr€ucke (Daschmann 2000, S. 169–172). Dies wiederum ist eine Art der Informationsaufnahme, die tendenziell stärker durch Bilder befördert wird als eine kognitiv-rationale Informationsverarbeitung, die sich eher auf Texte zu st€utzen scheint. So gehen etwa moderne „DualProcessing“-Theorien der Informationsverarbeitung von der Annahme aus, dass die Kommunikation € uber audiovisuelle Medien die periphere Aufnahme von Informationen fördert, etwa bei der Präsentation einer Rede die Aufmerksamkeit eher auf die Person des Redners oder der Rednerin als auf den Inhalt seiner bzw. ihrer Rede lenkt (Schenk 2002, S. 420–421; siehe auch Chaiken 1980; Chaiken und Eagly 1983; Petty und Cacioppo 1986). Wer sich also mit der Bildung von Stereotypen befasst und wer dabei die Rolle der (Massen-)Medien in diesem Prozess untersuchen möchte, kommt an einer Analyse der Rolle, die Bilder in diesem Zusammenhang spielen, nicht vorbei. F€ ur medienbasierte Stereotype werden in der Literatur weitere Begriffe verwendet. Newton und Williams (2011, S. 197) sprechen von Mediatypen. Andere (Marquardt 2005; Pörksen 1997, 2000) nutzen den Begriff der Visiotypen und meinen damit alle Formen der Standardisierung der Visualisierungsformen und -substanzen. Gemeint sind Bilder im herkömmlichen Sinne, ebenso Grafiken, die Zahlen verdeutlichen, bis hin zu visuell argumentierenden Verk€urzungen und zu kollektiven Symboliken. Bei Prase und Kretzschmar (2003, S. 41) bezeichnet er in Bezug auf Pörksen „ein Bild, das sich in der Bilderflut der Neuzeit im Gedächtnis fest- und durchgesetzt hat.“

2.2

Eigenschaften visueller Stereotype

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema der visuellen Stereotype stößt rasch auf eine ganze Reihe von Methodenproblemen, vor allem dann, wenn ange-

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strebt wird, nicht allein Fallbeispiele zu beschreiben, sondern systematische, verallgemeinerbare, idealerweise quantitativ verlässliche Ergebnisse zu erzeugen. Die Methode der Medieninhaltsanalyse, die sehr gute Dienste bei der Analyse journalistischer Texte leistet, ist f€ur die Auswertung von Bildinhalten nur bedingt geeignet, bzw. bedarf erheblicher Modifikationen, um den spezifischen Charakteristika von Bildern gerecht zu werden (Petersen 2011). Beim Spezialfall der Untersuchung visueller Stereotype kommt noch das Problem hinzu, dass man dem Gegenstand nur dann gerecht wird, wenn die Analyse nicht nur den manifesten Inhalt der betreffenden Abbildungen korrekt entschl€usselt, sondern auch das Element der Abstraktion und Verallgemeinerung erfasst, durch das die Abbildung erst zum Stereotyp wird. Hierzu scheint am ehesten die Methode der quantitativen Bildtypenanalyse (siehe den Beitrag von Grittmann zur Visuellen Inhaltsforschung in diesem Band) geeignet zu sein, bei der versucht wird, die Bilder nicht nur anhand formaler Kategorien, sondern auch hinsichtlich inhaltlicher Elemente zu Gruppen von Bildtypen zusammenzufassen, wie dies Elke Grittmann und Ilona Ammann am Beispiel der Bildberichterstattung zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 unternommen haben. Sie teilen die untersuchten Abbildungen in Typen wie „trauernde Menschen“, „trauernde Menschen mit Symbolen“ oder „politischer Gedenkakt“ ein (Grittmann und Ammann 2009, S. 153). Ein Beispiel f€ur eine gelungene Kategorisierung bietet auch eine Langzeit-Inhaltsanalyse von J€urgen Wilke (2004) €uber die Bildberichterstattung zu den Bundestagswahlkämpfen 1949 bis 2002. Die wissenschaftliche Beschäftigung visueller Stereotype ist rar. Eine Ausnahme bildet der Sammelband Visuelle Stereotype, herausgegeben von Petersen und Schwender (2009). Darin finden sich Beiträge zur Geschichte politischer Plakate, die reduzierte Botschaften €uber Bilder vermitteln und es werden marginalisierte gesellschaftliche Gruppen wie MigrantInnen betrachtet. Schließlich werden auch Wirkungspotenziale und spezifische methodische Fragen der Text-Bild-Relation oder des Bewegtbildes diskutiert. Wenig aussichtsreich erscheint dagegen der Versuch, allgemeing€ultige formale Elemente visueller Stereotype zu identifizieren. Ein visuelles Stereotyp sieht nicht grundsätzlich anders aus als ein nicht stereotypes Bild. Nicht formale Merkmale machen ein Bild zum Stereotyp, sondern die durch wiederholte Nutzung in einem bestimmten inhaltlichen Zusammenhang erzeugte symbolische Aufladung (siehe auch den Beitrag von Bucher in diesem Band). In welchem Ausmaß visuelle Stereotype die Berichterstattung der Massemedien prägen können und welche konkrete Form sie annehmen können, ist in Abschn. 3 zu zeigen. An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass visuelle Stereotype unter Umständen ebenso wenig mit der Realität €ubereinstimmen m€ussen wie die durch Texte erzeugten „Bilder in den Köpfen“. Prägnant lässt sich dies an Karikaturen illustrieren, die mit ihrer spezifischen Symbolsprache gleichsam als Zuspitzung des visuellen Stereotyps angesehen werden können (siehe auch den Beitrag von Schwender et al. in diesem Band). Der Passauer Kommunikationswissenschaftler Thomas Knieper (2002) ließ einmal verschiedene KarikaturistInnen abstrakte Konzepte wie „Zensur“, „Deutschland“, „Frankreich“ oder „Kapitalist“ als Zeichnungen darstel-

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len. Das Ergebnis: Von neun KarikaturistInnen, die gebeten worden waren, einen „Kapitalisten“ zu zeichnen, zeichneten sieben einen Mann mit Zigarre, ein weiterer eine Zigarre allein (Abb. 2). Nun liegt nach Umfrageergebnissen des Instituts f€ur Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2013 der Anteil der Zigarre- und ZigarilloRaucherInnen an der Bevölkerung bei 2 Prozent (IfD-Umfrage Nr. 11004), und in den oberen sozialen Schichten ist die Zahl der RaucherInnen noch einmal deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung (Bruttel 2011), so dass es im realen Leben schwierig sein d€ urfte, tatsächlich einen eine Zigarre rauchenden Großunternehmer oder Großunternehmerin aufzufinden. Doch die Zigarre als Symbol f€ur Wohlstand und Erfolg hat in der Bildersprache der KarikaturistInnen ihre Existenz in der Wirklichkeit € uberlebt. Eine ähnliche Loslösung der Stereotype von der Realität findet man auch bei anderen Karikatur-Motiven. So stellten immerhin drei von zehn ZeichnerInnen das Thema „Zensur“ durch eine Schere dar, obwohl vermutlich seit mindestens drei Jahrzehnten niemand mehr Zeitungsartikel mit der Schere k€urzt (Knieper 2002, S. 296). Deutschland wurde häufig durch die Figur des deutschen Michels symbolisiert (Knieper 2002, S. 195), die im Jahr 2015 gerade noch 41 Prozent der Deutschen erkennen, in der jungen Generation der Unter-30-Jährigen sind es sogar nur 17 Prozent (Petersen 2015), und Frankreich wurde nicht selten durch einen Mann mit Baskenm€utze, gestreiftem Hemd und Baguette unter dem Arm dargestellt (Knieper 2002, S. 101). Es ist nicht gewagt anzunehmen, dass man sehr lange durch Frankreich reisen muss, um jemanden auf der Straße zu treffen, der tatsächlich besagte Merkmale aufweisen kann. Stereotype können sich auf alle Phänomene beziehen, die man in Gruppen einteilen und denen man generalisierende Eigenschaften zuordnen kann. Da diese Merkmale reduzierend €ubertrieben werden können, sind sie f€ur Karikaturen und andere Medienbereiche, die auf Vereinfachung angewiesen sind, sehr gut geeignet.

Abb. 2 Neun Zeichner skizzieren das Motiv „Kapitalist“. (Quelle: Knieper (2002, S. 216))

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Neben den inhaltlichen Darstellungen von Personen und deren Kontexten spielt auch die Dramaturgie der Repräsentation eine Rolle. Die Art und Weise der Darstellung lässt eine positive, neutrale oder negative Zuweisung zu. Am Beispiel der mittleren Figur in Abb. 2 wird die Negativität durch metaphorische und bildergänzende Elemente deutlich: Dollar-Zeichen statt Augen suggeriert die Fokussierung auf Finanzielles, die Sichtbarkeit der Zähne macht die Figur gefräßig und die Effektlinien betonen diese Eigenschaften, da diese scheinbar ausstrahlen. Auch die Einstellungsgröße der Darstellung hat nachweisbare Effekte. Lobinger (2012, S. 235) verweist auf den Face-ism-Index, mit dem die Betonung des Gesichts bei Personenabbildungen gemessen werden kann. Die unterschiedliche Darstellung der Geschlechter, wobei Männer eher durch das Gesicht und Frauen eher durch ihren Körper repräsentiert werden, enthält bereits in der Darstellungsweise stereotype Geschlechterdarstellungen. Schwarz und Kurz (1989) konnten experimentell nachweisen, dass die nähere Kameradistanz Auswirkungen auf die stärkere Einschätzung von Kompetenz, Intelligenz oder Durchsetzungsfähigkeit mit sich bringt. Der gesamte Bereich der Marginalisierung, Sichtbarmachung und Stigmatisierung durch visuelle Darstellungskonventionen sind damit zu erfassen und zu analysieren. Die stereotype Visualisierung ist dabei unbedingt auf formale Aspekte auszuweiten. Diese lassen sich als gestalterisches Framing auffassen, das die Wahrnehmung und deren Bewertung in eine bestimmte Richtung suggeriert. Die vier Aspekte des Framing-Konstrukts (Definition des Problems, Ursachenzuschreibung, Bewertung und Handlungsempfehlungen) können ohne Weiteres auf Bilder angewendet (Geise et al. 2013, S. 44) und als Stereotypisierung verstanden werden.

3

Altersstereotype

Wenn die Zuordnung zu einer Gruppe zum Anlass genommen wird, eine Benachteiligung abzuleiten, spricht man von Diskriminierung. In der englischen Sprache haben sich Begriffe wie racism, sexism oder auch ageism f€ur die wichtigsten gesellschaftlichen Faktoren gebildet, die mit Ungleichbehandlungen in Verbindung stehen (Nelson 2002, S. 158–191). Rassismus und Sexismus wurden in den deutschen Sprachgebrauch € ubernommen. F€ur ageism gibt es keine analoge Wortschöpfung. Ageism meint eine Verbindung von Altersstereotyp, altersbezogenen Vorurteilen und Altersdiskriminierungen, wenngleich er nicht zwingend eine Beschränkung auf das hochaltrige Lebensalter vorsieht (Thiele et al. 2013, S. 40). Dennoch verstehen viele unter dem Begriff ausschließlich die Diskriminierung Älterer. Thiele, Atteneder und Gruber folgen in ihrer Argumentation explizit Lippmann, wenn sie die Fehlerhaftigkeit und Realitätsinadäquanz betonen, dabei aber von der Wirkmächtigkeit der „Bilder in unseren Köpfen“ ausgehen: Nehmen Menschen an, dass etwas einem Muster entspricht, verhalten sie sich so, dass ihre Annahmen zu sozialen Realitäten werden, was wiederum ihre Haltungen bestätigt (Thiele et al. 2013, S. 40–41). Alter bezeichnet nicht nur das fortgeschrittene Alter als spezifische Kategorie, sondern ist zunächst eine Dimension, nach der alle Personen eingeteilt werden

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können. Entwicklungspsychologische Theorien endeten in ihren Beschreibungen der menschlichen Entwicklung meist nach der Pubertät. Danach schien der Mensch ausgereift und man sah die weiteren Veränderungen nicht mehr als Reifungen an. Erst Erik H. Erikson begriff, dass das gesamte Leben dem Prozess physischer und psychischer Veränderungen unterliegt, die bestimmbare Entwicklungsstufen durchlaufen. Postulierte Freud noch f€unf Stadien der Reifung (oral, anal, phallisch, latent und genital), findet man bei Erikson (1966, S. 148–152 und S. 213–215, 1961 S. 228–247) acht, die hier als Grundlage f€ur eine Segmentierung in Altersstufen dienen können. Diese acht Stufen beschreiben körperliche, mentale und vor allem motivationale Entwicklungen, die auch in die aktuelle Entwicklungspsychologie Eingang gefunden haben: Säuglingsalter (0–1 Jahre), Kleinkindalter (1–3), Kindesalter (3–6), Schulalter (6–12), Jugendliche (13–17), junges Erwachsenenalter (18–40), mittleres Erwachsenenalter (40–65) und schließlich das Alter (65+). Es ließe sich unter Ber€ucksichtigung der Tatsache, dass die Lebensdauer noch weitere Lebensjahre erlaubt, eine weitere Phase anf€ ugen. Nach dem Austritt aus dem aktiven Berufsleben sind heutzutage noch gut 20 Jahre aktive Teilnahme an sozialer Interaktion möglich. Erst jenseits des achten Lebensjahrzehnts tritt die letzte Phase ein, die mit dem Tod endet und in gewisser Weise mit der Vorbereitung darauf befasst ist (Schwender und Gschwendtner 2010, S. 210–212). Alter ist ein schwieriges Konstrukt, weil es selbst kein stabiles Merkmal ist, sondern bei jedem Individuum einer kontinuierlichen Veränderung unterliegt. Menschen altern. Darum ist Alter ein relatives Merkmal. Ein 10-Jähriger mag im Vergleich zu seinen Eltern sehr jung sein, im Vergleich zu einem Neugeborenen ist das Kind jedoch ziemlich alt. Einige Zuordnungen wie Geschlecht, ethnologische bzw. nationale oder lokale Zugehörigkeiten, Glaube oder Ideologie sowie der sozialökonomische Status können im Laufe des Lebens relativ stabil bleiben. Die Grenzen sind keine naturgesetzliche Unveränderlichkeit, dennoch können sie festen Bestand haben. Durch das Aussehen oder durch stimmliche und sprachliche Besonderheiten werden Menschen als Mitglieder einer Gruppe wahrgenommen. Anders beim Alter: Die Fremdzuschreibung wird im Laufe der Zeit zur Selbstbeschreibung. Die urspr€ ungliche Out-Group wird zur In-Group. Diese Veränderungen unterliegen keiner willentlichen Entscheidung, sondern gehören zum biologischen Verlauf des Lebens. F€ ur eine Debatte um den Einsatz von Altersstereotypen muss geklärt werden, woran Alterseinschätzungen festgemacht werden. Die Einstufung erfolgt meist intuitiv und ist dabei dennoch meist sehr akkurat am chronologischen Alter. Die Merkmale, die man heranzieht, wenn man das Alter einer Person einschätzt, sind verbunden mit Markierungen, mit Verlusten und mit Gewinnen. Zu den Merkmalen, die durch Verluste gekennzeichnet sind, gehören biologische Alterungsprozesse, die an körperlichen Veränderungen sichtbar sind. Nicht direkt erkennbar sind biologische Alterungsprozesse der Organe. Es zeigen sich bisweilen kohortenspezifische und altersbedingte Verhaltensweisen und Präferenzen. Auf der anderen Seite gibt es Merkmale, die mit Gewinn verbunden sind, darunter das Ansammeln von Ressourcen oder Erfahrung und Weisheit. Diese Merkmale der Alterszuordnung

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lassen sich als Analysedimensionen heranziehen. Wenn Alter zwischen Gewinnen und Verlusten differenziert zu betrachten ist, sind daraus auch die narrativen Funktionen einer Medienfigur zu ermitteln (Schwender 2015, S. 70–71). Interessant ist, dass die meisten Merkmale, die zur Ermittlung des Alters herangezogen werden, f€ur sich genommen noch keine eindeutige Erkenntnis €uber das Alter einer Person und die Erwartungen gegen€uber deren physischen und psychischen Fähigkeiten darstellen. So können auch j€ ungere Menschen graue Haare, schlechte Zähne oder altmodische Kleidung haben, können eine Brille oder ein Hörgerät tragen, können mit Stock gehen oder eine konservative Meinung äußern. Ältere Menschen können dunkle Haare haben, Mountainbike fahren oder eine „coole“ Sonnenbrille tragen. Die Merkmale sind also nicht nur Merkmale f€ur Alter, sondern allgemein Merkmale f€ur Fitness, die im Alter abnimmt und das multiple Auftreten der Indikatoren wird als Zeichen nachlassender körperlicher Leistungsfähigkeit interpretiert. Der Begriff Fitness wird hier streng in Sinn der Evolutionstheorie benutzt, wo er allgemein f€ur die Attraktivität und Reproduktionsaussichten steht (Buss 1997, S. 89–101, 2004, S. 199). Vor allem die Haut – eine der zentralen Eigenschaften f€ ur Alter – stellt einen wichtigen Indikator f€ur Gesundheit dar und wird auch zur Einschätzung von Attraktivität und f€ur die geschätzte Einstufung des Alters herangezogen. Da das Erkennen von Alter vorrangig visuell wahrnehmbar ist, lässt sich vermuten, dass sich Stereotype vor allem visuell präsentieren. Diverse Mediengattungen und deren Darstellungsformen können darauf untersucht werden, wie sie sich jeweils spezifisch ausdr€ ucken: Karikaturen sind in besonderem Maße geeignet, da sie sichtbare Merkmale ins Zentrum r€ucken und dabei nicht nur betonen, sondern auch € ubertreiben. Filme nutzen Stereotype, um Handlungsweisen von Personen schnell und effektiv zu vermitteln. Werbung hat in aller Regel nicht viel Zeit, um einen Standpunkt in aller Komplexität zu vermitteln. Das erfordert eine eindeutige und schnelle Vermittlung, was effektiv mit stereotypen Darstellungen gelingt. Da auch in journalistischen Kontexten Bilder verwendet werden, sind auch diese auf ihr stereotypes Potenzial zu untersuchen. Überall wo Bilder vorkommen – gleichg€ultig ob fotografiert oder gezeichnet, ob als Standbild oder bewegt – enthalten sie die Möglichkeit der Stereotypisierung.

3.1

Altersstereotype in der Karikatur

In der 2014 von Franziska Polanski herausgegebenen Sammlung „Das Alter in der Karikatur“ finden sich beispielsweise keine positiven Altersbilder. Bewegungseinschränkungen, Vergesslichkeit und Einsamkeit werden ebenso thematisiert wie Generationenkonflikte, Altersarmut und Pflege (siehe Abb. 1). Das am häufigsten verwendete Bildmotiv bezieht sich auf die Nähe des Alters zum Tod. Die Welt des schönen und positiven Alterns wird schonungslos diskreditiert. Polanski begr€undet dies mit der prinzipiellen Sichtweise der KarikaturistInnen, sich mit den Ängsten und Sichtweisen zu befassen, die sich hinter den Fassaden des politisch Korrekten befinden (Polanski 2014, S. 7). Sie kritisieren mit ihren Werken die Fokussierung

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auf Alter als konsumierende Best-Ager, die an ihrem Körperbild arbeiten und dabei das finale Ende des Lebens ausblenden. Karikaturen kann man in zwei Ausrichtungen finden: als visuelle Übertreibungen von körperlichen Merkmalen und als kritisierender Teil des politischen Diskurses. Unter den ersten Aspekt fallen Visualisierungen von Altersverlusten, unter den zweiten die aufkommenden sozialen und politischen Probleme, die sich durch die Versorgung von älteren Menschen ergeben. Beide Aspekte finden sich in den Karikaturen €uber das Alter. Weitere Beispiele finden sich in den Sammlungen „Alte Schachteln (2014b)“ und „Alte Säcke (2014a)“ des Karikaturisten Knox.

3.2

Altersstereotype im Film

Die Betrachtung der Altersstufen hat einige Vorteile in der Analyse von Filmen. Zum einen ist eine Altersidentifizierung durch die genannten äußeren Merkmale leicht möglich. Zum anderen bieten die entwicklungspsychologischen Einteilungen einen Rahmen f€ ur die Handlungsmotive der Figuren. Mit jeder Altersstufe stehen andere zentrale Entscheidungen an, deren Gelingen und Misslingen im Filmplot angelegt sind. Damit ermöglicht die Betrachtung der Körper auch einen Zugang zur narrativen Ebene der filmischen Handlung (Schwender und Gschwendtner 2010, S. 212–214). In Anlehnung an Geraghty (1981), Smith (1995) und Chatman (1989) unterscheidet Mikos (2015, S. 162–165) grundsätzlich zwischen Funktionsrollen und Handlungsrollen. Fiktive Figuren, die eine Funktionsrolle repräsentieren, sind in Bezug auf die Rolleninszenierung von Eindimensionalität gekennzeichnet. Im szenischen Kontext fungieren diese Figuren als Informationselemente, um die Glaubw€urdigkeit und Nachvollziehbarkeit einer szenischen Situation aufzubauen. Dar€uber hinaus wird € uber das Auftreten dieser Figuren kein handlungstragendes erzählerisches Wissen vermittelt. Die Konstruktion €uber filmische Gestaltungsmittel ist deshalb meist eindimensional und somit stereotyp strukturiert (Mikos 2015, S. 162–165). Über das Modell der Handlungsrollen in Kombination mit dem Verständnis der Altersstufen können filmspezifische Darstellungsmuster in den Rolleninszenierungen, die verschiedene Altersstufen repräsentieren, herausgearbeitet werden. Versteht man den Spielfilm als k€unstlerischen Diskurs €uber gesellschaftliche Entwicklungen, so können filmwissenschaftliche Studienergebnisse Erkenntnisse €uber soziale Veränderungen und Dynamiken in gesellschaftlichen Strukturen beschreibbar machen. Welche genrebedingten und welche sozial bedingten Altersrollen werden im Spielfilm inszeniert? Welche szenischen Interaktionsmuster und welche Emotionsstrukturen sind dabei f€ ur die Rollen in den verschiedenen Altersstufen €uber die filmischen Inszenierungen aufgebaut? Welche Rollenschemata werden repräsentiert? Antworten auf diese Fragen können r€uckgespiegelt werden auf Prozesse der Veränderung in den sozialen und hierarchischen Strukturen einer Gesellschaft, die sich €uber Rollenfunktionen und dem damit verbundenen motivationalen Handeln und F€uhlen manifestieren (Schwender und Gschwendtner 2010, S. 214). Wulff (2014) untersucht beispielsweise Altern und Sterben im Spielfilm. Er findet eine Reihe von Mustern, die auf Selbstbestimmung verweisen und erkennt den Tod

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als medizinische und kulturelle Tatsache (Wulff 2014, S. 27). Tod und Sterben sind biologisch unvermeidlich, aber auch Teil des sozialen Handelns. Sie folgen immer wieder Vorstellungen von Belohnung und Bestrafung, als sei der Tod Teil einer Lebensbilanz. Dies passt in die Funktion des Kinos als Vermittler von Moral. Wichtig ist zudem die Selbstbestimmung, die sich im Sterben ausdr€ucken kann. Es geht dabei darum, die Kontrolle bis zuletzt in eigenen Händen zu haben. Schwender (2011) identifiziert vier zentrale Motive in Spielfilmen, in denen ältere ProtagonistInnen die Hauptrolle spielen. So geht es etwa um Alter als Standpunkt eines R€ uckblickes, um Alter als Resultat einer Karriere, um Altern als Entwicklungsaufgabe oder um stereotype Erwartungen an das Alter, mit den Varianten soziale Erwartungen an altersadäquates Verhalten, und um Erwartungen aufgrund altersbedingter körperlicher und mentaler Schwächen (Schwender 2011, S. 66). Schwender und Gschwendtner (2010) konnten bei der Analyse des Films „There will be blood“ zeigen, dass die Funktionsrollen den erwarteten Mustern entsprechen, da alle Rollen, die Erfahrung signalisieren sollten – darunter ein Arzt und ein Rechtsanwalt – mit älteren Männern besetzt sind. Auch die Handlungsrolle der Hauptfigur stellt im zentralen Konflikt das Problem der Generativität dar – nämlich die Weitergabe von Wissen und Ressourcen an die nächste Generation. In der Werbung findet das filmanalytische Kriterium der Funktionsrolle in besonderer Weise Anwendung. Ein Werbeclip im Fernsehen dauert im Schnitt 20 Sekunden. In dieser Zeit lassen sich keine Figuren in all ihren Facetten und Konflikten aufbauen. In der zur Verf€ugung stehenden Zeit kann die Argumentation eigentlich nur auf Stereotype aufbauen. Zu erkennen, dass eine Figur älter ist, bringt alle Möglichkeiten zwischen Altersmarkierungen, -verlusten und -gewinnen mit sich.

3.3

Altersstereotype in der Werbung

Michael Jäckel (2016, S. 199) bezieht sich auf Noelle-Neumann, wenn er Stereotype als „Verkehrsmittel“ bezeichnet und dies explizit auf Werbung anwendet. In der Werbung geht es nicht um das Besondere und Unverwechselbare, sondern um das Typische, das als Argument dienen kann (Jäckel 2016, S. 213). Das Alter ist in der Werbung weniger von Verlusten begleitet, nicht zuletzt deshalb, weil man die Alten als relevante Zielgruppe im Auge hat. Will man die narrativen Funktionen ermitteln, ist die tiefergehende Analyse der verwendeten Stereotype angebracht. In der Werbung kommen oftmals Menschen zu Wort, die sich €uber das beworbene Produkt äußern oder €uber Probleme berichten, die das Produkt lösen kann. Dabei ist dieses „Zuwortkommen“ nicht immer wörtlich zu nehmen. Personen können einfach nur in Aktion in Bezug auf das Produkt oder dessen Verwendungskontext gezeigt werden. Aus den Erfahrungen mit der Bild-Ton-Schere (Wember 1976) ist zudem die Dominanz des Visuellen bei gleichzeitiger verbaler Äußerung oder Kommentierung abzuleiten. Da Medien kein Abbild von Realität sind, sondern Vorstellungen und W€unsche ansprechen, sind Identifikation und Hineinversetzen in die fiktionalen und nichtfiktionalen Welten zu erwarten (Schwab und Schwender 2010, S. 26). Auch Wer-

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bung macht diesbez€uglich Angebote und konstruiert Figuren, die es den RezipientInnen ermöglichen sollen, sich in ihre Gedanken und Gef€uhle hineinzuversetzen. Dies muss aufgrund der sehr beschränkten Zeit äußerst effektiv vonstattengehen. Reibungsverluste werden vermieden, indem Stereotype angeboten werden, die an bereits vorliegende Muster ankn€upfen und diese wenn möglich nur noch aktivieren. Jede Person ist in fiktionalen Genres in Film und Fernsehen – das gilt in ganz besonderem Maße f€ur Werbeclips – f€ur ihre Rolle ausgewählt. Die Entscheidung, eine Rolle mit einer/m bestimmten SchauspielerIn zu besetzen, wird nach der Einschätzung getroffen, wie diese/r die Botschaft, die es zu transportieren gilt, im Rahmen der Argumentation am besten vermitteln kann. Die narrative Funktion legt die Besetzung fest. Insofern muss man vor allem beim Casting von älteren Menschen davon ausgehen, dass eine bewusste Entscheidung getroffen wurde. Diese lässt sich durch eine genaue Betrachtung rekonstruieren, um die narrative Funktion zu destillieren. Im Rahmen einer systematischen quantitativen Inhaltsanalyse zur Darstellung von geschlechtsspezifischen Altersrollen in TV-Werbespots wurden Kategorien entwickelt, mittels derer stereotype Rollenzuweisungen identifiziert werden konnten (Schwender 2015, S. 76). Auch hier ist das Sichtbare leitend, denn die Zuordnung der Figuren zu Alter und Geschlecht sind €uber deren visuelle Anzeichen erkennbar. Gleichg€ ultig was die Personen machen oder sagen, können sie einem Geschlecht und einem Alterssegment zugeordnet werden. Zu unterscheiden sind zunächst die Zielgruppen der Werbung. Bei der Untersuchung der Altersstereotype stehen an erster Stelle Produkte speziell f€ur SeniorInnen, daneben gibt es Angebote, die der Altersvorsorge dienen. Dies können sowohl Körperpflegemittel, die Altersmerkmale kompensieren, als auch Produkte, die finanzielle Vorsorge bieten, sein. Schließlich gibt es Produkte, die sich an ein unspezifisches Publikum richten und explizit oder implizit auch ältere Menschen einschließen. Desweiteres gibt es Waren, bei denen ältere ProtagonistInnen mit anderen narrativen Funktionen als die von exemplarischen ProduktnutzerInnn verwendet werden. Es konnte gezeigt werden, wie sich Altersgewinne (Erfahrung und Ressourcen) und Altersverluste (Bed€urftigkeit) quantitativ verteilen. Um eine weitere Differenzierung vorzunehmen, wurden die Merkmale auch geschlechtsspezifisch betrachtet. Wenn es in der Werbung um Altersverluste geht, werden diese als behebbar dargestellt. Lösungen werden auf zwei Weisen angeboten. Auf der einen Seite gelingt es einem Produkt einen Mangel zu kompensieren und die Lebensfreude ist trotz der Einschränkung ungebrochen. So kann man etwa mit dem beworbenen Hörgerät wieder besser am sozialen Leben teilnehmen. Ein größerer Teil der Werbespots nutzt aber die Potenziale der älteren Erwachsenen: Rat geben, emotionale Unterst€ utzung und Hilfeleistung sind die vorherrschenden Eigenschaften und Verhaltensweisen. Essenszubereitung und Essensweitergabe (dazu zählen auch S€ußigkeiten) werden gerne durch die Großeltern-Generation vorgef€uhrt. Prominente wie Franz Beckenbauer und Alfred Biolek unterst€utzen die Befunde, wenn sie als (einst) Erfolgreiche immer noch ihre Erfahrungen einbringen und weitergeben. Von ihrer Ausstrahlung erhoffen sich die Werbetreibenden, dass auch die Produkte etwas an Kraft mitbekommen, denn Prominente haben Status und Macht und damit ein

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besonderes Gewicht bei ihren Kaufempfehlungen. Es finden sich zudem wiederholt Muster, die das Alter in Verbindung mit Natur und Nahrungsmitteln bringen. Dies verweist metaphorisch auf nat€urliche Produktionsweisen, auf eine lange Tradition von Herstellungsverfahren und dar€uber hinaus auf entspannte Genuss-Situationen. Als mit „Altersmarker“ versehen, ist eine Darstellung einzustufen, wenn die gezeigten Personen zwar den „älteren Erwachsenen“ zugewiesen werden konnten, aber keine Zuordnungen zu Gewinn oder Verlust erkennbar sind. Kritisch sind die Einzelfälle darauf zu hinterfragen, ob nicht implizit negative Altersstereotype verwendet sind, um einer Szene ein tristes und graues Flair zu geben. Das Argument „Dispersität“ liegt vor, wenn in einem Werbespot verschiedene Personen unterschiedlichen Geschlechts und Alters ein Produkt nutzen. Dies ist ein symbolischer Hinweis darauf, dass eine breite Konsumentenschicht angesprochen werden soll. Bei technischen Produkten und Dienstleistungen verweist der narrative Einsatz von älteren Menschen zudem darauf, dass sogar ältere Menschen diese Angebote nutzen können. Implizit wird damit auf den Verlust-Aspekt des Altwerdens mit verminderten kognitiven Fähigkeiten hingewiesen, ohne dass er explizit dargestellt ist. In der Regel sieht man fröhliche Alte, wie sie im Internet surfen oder einen Telefondienst in Anspruch nehmen. Tab. 1 wurde erstellt, indem f€ur Frauen und Männer getrennt der prozentuale Anteil ermittelt wurde, auf die das entsprechende Merkmal zutrifft. Anschließend wurde daraus der Anteil der weiblichen Figuren berechnet. Somit lässt sich erkennen, wie stark ein Merkmal als typisch f€ur ein Geschlecht in der Werbung als Argument genutzt wird. Man erkennt, dass die gesamte Spannbreite der Möglichkeiten genutzt ist und die stereotypen Argumentationsmöglichkeiten weit ausgeschöpft sind. Nahezu alle Zellen sind besetzt und auch die leeren verweisen auf bedeutsame Befunde. Dabei findet Tab. 1 Verteilung der Altersmerkmale in TV-Spots nach Geschlecht, sortiert nach dem Anteil der weiblichen Figuren. (Quelle: eigene Daten)

Merkmal Altersmarker Altersverlust Gegen-Stereotyp Zuwendung/Nahrung geben Kooperation mit anderen als Kind/ern oder Enkel/n Kooperation mit Kind/ern oder Enkel/n Hilfe oder Zuwendung bekommen Kooperation insgesamt Altersgewinn Dispersität Weisheit/Ratschlag geben Alt vs. Neu

Weiblich (in %) n = 48 6,3 31,3 16,7 27,1 41,7 14,6 25,0 45,7 33,3 20,8 14,6 0

Männlich (in %) n = 68 0 13,2 8,8 16,2 32,4 11,8 20,6 39,7 41,2 32,4 27,9 8,8

Anteil Weiblich (in %) 100 70,2 65,4 62,6 56,3 55,3 54,8 53,6 44,7 39,2 34,3 0

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sich zunächst keine Bestätigung, dass alte Menschen vorwiegend in negativen Mustern vorkommen, in denen sich Verluste und Einschränkungen zeigen. Unter dem Merkmal „Verluste“ finden sich zum Beispiel Mobilitätseinschränkungen, die durch angebotene technische Hilfsmittel kompensiert werden können. Hier könnte das Geschlechtsstereotyp der körperlichen Schwäche bei Frauen als Erklärung herangezogen werden. Wenn jemand durch sein Geschlecht von vornherein als schwächer wahrgenommen wird und diese Person durch Altersentwicklungen noch weiter abbaut, muss die angebotene Hilfe entsprechend groß sein. Dies können nur entsprechend starke Hilfsmittel leisten. Bemerkenswert ist, dass bei keiner einzigen männlichen Figur „Altersmarker“ als Kategorie vorkommt. Neben Hinweisen auf Verluste und Gewinne gibt es Merkmale, die neutral zu werten sind, aber dennoch auf das Alter der Figuren verweisen. So haben Hautfalten, Ergrauen oder Verlust der Haare keine medizinischen oder psychologischen Einschränkungen, können aber als Markierung des fortgeschrittenen Alters dienen. Das Merkmal „Gegen-Stereotyp“ kann argumentativ mit dem Merkmal „Altersmarker“ in Verbindung stehen. Gemeint sind hier Darstellungen, die allgemeinen Erwartungen zu widersprechen scheinen: Ältere Menschen skateboarden und tanzen mit einer Boombox (Drewniany 2011, S. 213). So wird ein Produkt Klischees von Jugend zugeordnet, auch wenn die visuelle Botschaft dem widerspricht. Wenn es bei älteren Personen leichter ist, die visuelle Darstellung mit höherem Alter zu verbinden, steht zu erwarten, dass auch die visuelle Negation des Stereotyps deutlicher wird. Eines der typisch „männlichen“ Merkmale lässt sich mit „Alt vs. Neu“ beschreiben. Dies verweist auf ein Werbeargument, das mit Tradition umschrieben werden kann. Dieses Argument kann positiv eingesetzt werden, indem mit der Besetzung der Rolle mit einer älteren Figur auf die alte Herstellungsgeschichte oder auf die nat€ urliche Produktionsweise hingewiesen wird. Negativ verwendet bedeutet das Argument, dass eine Figur in ihrer Tradition verharrt und nicht aufgeschlossen f€ur Neues ist. „Alt“ steht dann nicht nur als Gegenbegriff zu „jung“, sondern kann auch als Antonym zu „neu“ verstanden werden. Dieser Widerspruch kann durch einen älteren Mann, dem man offenbar eher unterstellt, dass er f€ur traditionelle Werte und deren Verteidigung steht, visualisiert werden. Damit verbunden ist auch das Merkmal „Weisheit/Ratschlag geben“. Vor allem Testimonials, die als erfahren und erfolgreich gelten, werden in diesem Zusammenhang verwendet. Ihr Ratschlag wird als glaubw€ urdig eingestuft, da sie in ihrem Leben schon bewiesen haben, dass sie €uber Strategien verf€ugen, die zu Leistung und Anerkennung f€ uhren. Medien geben nicht die Wirklichkeit im Sinne einer demografischen Repräsentanz wieder, sondern sind – wie Siegfried Kracauer (1977, S. 280) es ausdr€uckte – „Tagträume der Gesellschaft“. Das heißt, sie zeigen nicht, was ist, sondern was gesellschaftlichen Wunsch- oder Angstvorstellungen entspricht. Das gilt im besonderen Maße f€ ur die Werbung. Die Rollenbesetzung in den untersuchten Werbespots ist sehr gut durch deren narrative Funktion zu erklären. Diese wiederum ist durch das Stereotyp bestimmt, da es unmittelbar Erwartungen auf Kompetenz und Verhalten einer Person zuweist.

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Die geschlechtsspezifischen Unterschiede deuten darauf hin, dass es bei der Betrachtung der Dimensionen Alter und Geschlecht nicht ausreicht, diese getrennt zu behandeln. Gerade im Zusammenhang zeigt sich, dass die Stereotype umfassender sind, als sich dies bei einer Einzelbetrachtung darstellt. Es gilt also, Alter nicht losgelöst von Geschlecht und auch Geschlecht nicht unabhängig von Alter zu betrachten. Die Ergebnisse werden gest€utzt durch die Untersuchung von Vernon et al. (1991). In ihrer Inhaltsanalyse von TV-Programmen fanden sie, dass generell traditionelle Altersstereotype zu beobachten sind, wobei Männer eher w€unschenswerte Merkmale aufwiesen, während Frauen vermehrt unliebsame Z€uge zeigten. Was Altersbilder in der Printwerbung angeht, gibt es mittlerweile eine Reihe von Befunden, die sich weitgehend mit den dargestellten decken, auch wenn die methodischen Zugänge differieren. Fehmers (2007) geht in ihrer Untersuchung €uber die Rolle von älteren Menschen in der Werbung qualitativ vor und schließt eine deutliche Kritik an den bestehenden Verwendungsformen von Altersstereotypen ein. Wanglers Befunde (2012) passen trotz seines unterschiedlichen Zugangs zu den Erkenntnissen aus der Analyse der TV-Werbung. Er nutzt den Framing-Ansatz und identifiziert mit diesem Konstrukt in seiner Studie eine Reihe von Frames, durch die sich Printwerbung mit Alten sortieren lassen: der erste beschreibt Mittel, Methoden und Produkte, die Altersdefizite behandeln. Ältere Menschen können sich sportlich betätigen oder sind sozial integriert, ohne dass Unterschiede zu j€ungeren zu erkennen wären. Der zweite Frame fasst Darstellungen zusammen, in denen A¨ ltere als RatgeberInnen gefragt sind. Hier werden also Altersgewinne thematisiert. Schließlich gibt es in der Printwerbung Hinweise, wie man sich sein jugendliches Aussehen bewahren kann. Es geht um die Verdra¨ngung des Alters. Ein weiterer Frame setzt alt in den Gegensatz zu jung. Der f€unfte Frame ordnet Alter einem positiven Image zu.

3.4

Altersstereotype im Journalismus

Zu journalistischen Darstellungsformen sind Untersuchungen seltener. Wangler (2013, S. 208–212) identifiziert in Fortf€uhrung des Framing-Ansatzes f€ur die journalistischen Beiträge drei Muster: Zunächst gruppieren sich Bilder, die der Thematik „Alter als Niedergang“ zuzuordnen sind. Dann finden sich Bilder, die im Kontext der Debatte um den demografischen Wandel das „Alter als (U¨ber)Macht“ darstellen. Schließlich finden sich Bilder, die das Alter als „neuen Aufbruch“ darstellen. Begriffe wie die Best-Ager passen in diesen Zusammenhang. Kessler und Schwender (2012) haben zudem visuelle Repräsentationen von Demenzkranken betrachtet. Diese Krankheit betrifft nicht ausschließlich, aber hauptsächlich alte Menschen. Darum steht sie f€ur die ultimativen Altersverluste. Sie ist nicht heilbar, der gesundheitliche Zustand der Betroffenen verschlechtert sich zunehmend und endet mit dem Tod. Demenz ist den Menschen nicht anzusehen und selbst die Diagnose ist schwierig. Das macht die Analyse zu einer interessanten Herausforderung – vor allem f€ur visuelle Kommunikation: Wie wird etwas Unsichtbares sichtbar gemacht? Untersucht wurden alle Bilder in den vier großen Wochenmagazinen Stern, Spiegel, Focus und Zeit zwischen 2000 und 2009 mit der Darstellung von

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Demenzkranken, was durch Bildunterschrift oder durch Hinweise im Text ermittelt wurde. Darunter waren 109 Fotos mit 136 Personen mit Demenz und 89 ohne. Durch ausgebildete CodiererInnen wurden die Kriterien Alter, Geschlecht, Emotionsausdruck, gesundheitliche Funktionalität, Umgebung und sozialer Kontext inhaltsanalytisch erfasst. Das zentrale Konstrukt, dessen visuelle Medienrepräsentanz untersucht wurde, ist die Lebensqualität. Insgesamt wird ein eher positives potenzialorientiertes Bild der Demenzkranken gezeigt. Die abgebildeten Kranken lebten weitgehend autonom und schienen sozial integriert zu sein. Ihre Lebensqualität ist hoch, was sich durch den eigenen positiven Emotionsausdruck zeigte. Mögliche Gr€unde f€ur die positiven Darstellungen eines negativen Krankheitsbildes könnten im Selbstbild der JournalistInnen liegen. So könnte es sein, dass viele von ihnen zögern, in diesem Kontext negative Bilder € uberwiegen zu lassen, um das Publikum – und auch sich – nicht zu erschrecken. Man tut sich schwerer, schlechte Nachrichten zu präsentieren, wenn man selbst betroffen ist oder sein kann. Ein positives Bild erleichtert die Beschäftigung mit dem Thema. Die Mediendarstellungen können die Wahrnehmung von Demenz und Demenzkranken beeinflussen und damit im Sinne der Stereotypen-Wahrnehmung die eigenen Erwartungen, wie es sein wird, wenn man selbst oder, wenn Angehörige zum Pflegefall werden. Die Studie ergab auch, dass die Zahl der Beiträge zum Thema Demenz im Untersuchungszeitraum zunahm. Das könnte zur Folge haben, dass das Thema zunehmend aus der gesellschaftlichen Tabuzone r€uckt. Betroffene und Angehörige erkennen, dass es von öffentlichem Interesse ist. Dies kann Einfl€usse bis zur eigenen Altersvorsorge oder zur Gesetzgebung auf nationaler Ebene haben. Es darf dabei jedoch nicht unterschlagen werden, dass positive Darstellungen auch negative Folgen haben können, etwa eine Unterschätzung der Konsequenzen der Krankheit. Positive Bilder können die Betroffenen auch psychologisch, finanziell und sozial unvorbereitet lassen, wenn kein Grund f€ur eine Vorbereitung zu erkennen ist. Schließlich bietet eine zu idealisierte Sichtweise auch keine Veranlassung zum politischen Handeln. Die Beschreibung und Systematisierung der Altersbilder €uber Medien und Darstellungsformen hinweg kann sich als fruchtbar erweisen. Nicht zu erfassen ist damit aber die Wirkung dieser Bilder. Dies erfordert Methoden, die auf die Rezeption zielen. Generelle Befunde sind aus der gerontologisch-psychologischen Altersforschung bekannt und können auf Wahrnehmung der visuellen Stereotype €ubertragen und € uberpr€ uft werden (Kohn und Smith 2003).

4

Die Wirkung der stereotypen Altersbilder

Martin Pinquart (2002) untersuchte, ob die Konfrontation mit negativen Altersstereotypen bei älteren Menschen zu einer Verschlechterung der Selbstwahrnehmung f€uhrt. Die Experimentalgruppe erhielt negative Informationen €uber Kompetenzen im Alter. Die generellen Einschätzungen €uber Alte verschlechterten sich, während sich die Selbstwahrnehmungen verbesserten. Das lässt sich erklären, wenn man annimmt, dass ältere Menschen negative Altersstereotype eher als Referenzwert f€ur

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einen Abwärtsvergleich heranziehen, als das negative Bild auf sich zu beziehen. Die AltersforscherInnen Baltes und Baltes (1990, S. 27) sehen ein positives Selbstkonzept als wesentliche Grundlage f€ur ein erfolgreiches Altern. Julian Wangler (2013) unterzieht den Befund, dass ein negatives Stereotyp einen positiven Effekt haben kann, einer erneuten Pr€ufung. Er kann die Ergebnisse bestätigen. Zum einen schlägt das Fremdbild deutlich stärker aus als das Selbstbild. Zum anderen klaffen Selbst- und Fremdbildindikatoren im Vorher-Nachher-Vergleich auseinander. Bei der Vorlage von negativen Bildern verbessert sich das Selbstbild moderat; das Fremdbild hingegen verschlechtert sich deutlich. Der exakt konträre Trend lässt sich f€ur positive Bilder beobachten: Bezeichnenderweise verbessert sich hier das Fremdbild erheblich, wohingegen das Selbstbild in Teilen Einbußen erleidet (Wangler 2013, S. 215–216). F€ur die Interpretation der Ergebnisse bietet die Theorie sozialer Vergleichsprozesse eine nachvollziehbare Erklärung: „Ihr zufolge offerieren Medien ihren RezipientInnen Vergleichsmaßstäbe und -relationen. F€ ur die erste Experimentalgruppe kann vermutet werden, dass deren ProbandInnen einen sozialen Abwärtsvergleich vornehmen. Konfrontiert mit der Dramatik des Altseins – die rezeptionsunmittelbar zunächst negative Gef€uhle, Betroffenheit und Nervosität stimuliert [. . .] –, kommt es letztlich zu einer Aufwertung des Selbstbilds: Den Probanden wird bewusst, wie gut es ihnen im Vergleich zu den musterweise modellierten Altersverwandten geht.“ (Wangler 2013, S. 216). Wenn es den dargestellten Alten besser geht als den älteren Betrachtenden selbst, reagieren sie eher mit Selbstzweifel. Die medial präsentierten „Best Ager“ f€uhren durch ihre Aktivität traditionelle Altersvorstellungen ad absurdum. Hier unterliegen die RezipientInnen. Alt sind also tendenziell eher die anderen. Nur wenn die Medienbilder einem das eigene Alt sein bewusst machen, kann sich dieses Erleben in Frustration äußern (Wangler 2013, S. 216). Diese komplexe Beziehung von Altersfremd- und -selbstbild muss bei der Wirkung von Stereotypen beachtet werden.

5

Fazit

Stereotype sind schnelle und spontane Zuordnungen von Individuen zu Gruppen, wobei Gruppenmerkmale den einzelnen Personen zugeordnet werden, ohne dass dies € uberpr€ uft werden muss. Stereotype funktionieren unabhängig von Wahrnehmung und Erleben und brauchen somit keine Erfahrungen, sondern können verallgemeinernd auf ein Individuum €ubertragen werden. Ein Stereotyp wird erst durch die negative Bewertung zum Vorurteil. Zuordnungen zu Gruppen werden schnell und spontan durch visuelle Merkmale und Gestaltungsaspekte vorgenommen: Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Alter – als Beispiele f€ur Stereotype – werden oft €uber sichtbare Anzeichen zugeordnet. Hier rechtfertigt es sich von visuellen Stereotypen zu sprechen. Am Beispiel des Alters kann man alle Medienbereiche und deren Verwendungslogik umfassend betrachten. Die hier gewonnenen Erkenntnisse, genutzten Methoden und theoretische Implikationen lassen sich ohne Aufwand auf andere Bereiche €ubertragen.

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Von Geovisualisierung bis zur verorteten Bildlichkeit Lokative Medien und Geomedien in der Visuellen Kommunikationsforschung Cornelia Brantner

Inhalt 1 2 3 4 5

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitorische Grundlagen von lokativen Medien und Geomedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geomedien als soziale Konstrukte und ihre Implikationen für Machtverhältnisse . . . . . . . . Die „Turns“ in der Betrachtung von lokativen Medien und Geomedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Aspekte lokativer Medien und Geomedien: Von der Geovisualisierung zur Analyse visueller Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag behandelt lokative Medien und Geomedien aus interdisziplinärer Perspektive und fokussiert visuelle Aspekte. Zunächst werden Geomedien als soziale Konstrukte definiert und ihre Implikationen für Machtverhältnisse diskutiert. In der Auseinandersetzung mit den verschiedenen turns in der Betrachtung von lokativen Medien und Geomedien und der Medien- bzw. Kommunikationsgeografie wird auf die Mediatisierung von Räumlichkeit und auf den visual algorithmic turn fokussiert. Der abschließende Überblick über visuelle Aspekte startet mit Geovisualisierung und Geovisual Analytics, bevor der Einsatz von PGIS sowie die „verortete Bildlichkeit“ behandelt werden. Schlüsselwörter

Geomedien · Lokative Medien · Geotagging · Visual algorithmic turn · Geovisualisierung · PGIS · Verortete Bildlichkeit

C. Brantner (*) IWAF – Institut für Wissenskommunikation und angewandte Forschung, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_18

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Einleitung

Lokative Medien und digitale Geomedien haben in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung erlangt und sind Teil der Lebenswelt vieler Menschen geworden. Lokative Medien nutzen beispielsweise GPS, Mobilfunkmast-Triangulation oder WiFi-Signale zur Lokalisierung im physischen Raum. Mit der Ausbreitung von Smartphones nahm auch die mobile Nutzung und Ausdifferenzierung standortbasierter und -nutzender Dienste zu. Anzunehmen ist, dass die Bedeutung lokativer Medien und Geomedien mit der weiteren Zunahme „verorteter“ mobiler Endgeräte steigen wird und sie auch die Repräsentation, Wahrnehmung und Bewusstsein von Ort und Raum verstärkt prägen werden, denn wir leben in einer Zeit der „networked locality“ bzw. „net locality“ (de Souza e Silva 2011), in der praktisch alles verortet oder lokalisierbar ist und in der Ortsvisualisierungen eine hohe Bedeutung haben (Dodge 2014). Durch die Konvergenz von Ortsmedien und „mediated localities“ (Thielmann 2010), also mit diesen vermittelten Ortsvorstellungen, vollzieht sich eine Neubewertung des Ortes (Buschauer und Willis 2013, S. 10; Lapenta 2011). Diese Konvergenz von Geosphäre, der materiellen, physischen Welt und Infosphäre, der symbolischen Repräsentation der physischen Welt, schafft und formt einen vermittelten Raum, einen „mediated space“ (Lapenta 2011). Lokative Medien verbinden Orte mit entfernten Datenbanken, erlauben Bewegung durch Orte und zwischen Orten und bieten gleichzeitig räumliche und nicht-räumliche Informationen an (Adams und Jansson 2012). Der physische Raum wird zum Interface für Informationen, und Informationen werden zum Interface für den physischen Raum (de Souza e Silva 2011, S. 31). Dabei verbinden lokative Medien Menschen und sie verbinden Menschen mit Orten, wodurch hybride Räume entstehen. Dieser Beitrag befasst sich mit lokativen Medien und Geomedien aus interdisziplinärer Perspektive und fokussiert visuelle Aspekte. In Bezug auf letztere stehen vor allem Fragen danach, wie Orte und Räume repräsentiert und gesehen werden und nach (visuellen) (Re-)Produktionspraktiken im Fokus. Raum und Ort sind soziale (Re-)Produktionen, weswegen die Analyse ihrer visuellen Repräsentationen auch geeigneter Instrumente bedarf, die berücksichtigen, dass Raum kommunikativ geformt wird. Die Analyse darf dabei aber nicht bei den Repräsentationen von Ort stehen bleiben, sondern muss auch andere Aspekte, wie beispielsweise Nutzungspraktiken, in den Blick nehmen (Brantner und Rodriguez-Amat 2016).1 In der Forschung zu lokativen Medien und Geomedien werden nicht nur die Praktiken analysiert, sondern auch die lokativen Medien und Geomedien selbst, beispielsweise Smartphone-Kameras oder partizipative Geoinformationssysteme (PGIS), als Forschungsinstrumente eingesetzt. Dementsprechend erfolgt im Beitrag nach der Darlegung definitorischer Grundlagen die theoretische Einführung und Auseinandersetzung aus interdisziplinärer Perspektive. Hier werden lokative Medien und Geo-

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Auf Inhaltsanalysen von Fotografien, etwa aus der Visuellen Tourismusforschung (z. B. Rakić und Chambers 2012), kann im Artikel nicht ausführlich eingegangen werden.

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medien zunächst als soziale Konstrukte definiert und ihre Implikationen für Machtverhältnisse diskutiert. Darauf werden die verschiedenen turns und gegenseitigen Annäherungen verschiedener Disziplinen behandelt und dabei besonders auf die Mediatisierung von Räumlichkeit in Geomedien und auf den visual algorithmic turn eingegangen. Dem schließt sich ein Überblick über visuelle Aspekte lokativer Medien und Geomedien und deren Erforschung an.

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Definitorische Grundlagen von lokativen Medien und Geomedien

Was wird unter lokativen Medien und Geomedien verstanden? Der Begriff locative media erfasst die mit Lokalisierungstechniken ausgestattete Hardware. Demgegenüber ist der Begriff Geomedien weiter gefasst und schließt „locative media + mediated localities“ (Thielmann 2010, S. 5) ein, da er neben den Geräten auch das Geoweb und seine (laien)kartografische Software (z. B. OpenStreetMap) erfasst (Döring und Thielmann 2009, S. 13; Lapenta 2011, 2012; Thielmann 2013). Geomedien sind technisch gesehen (teilweise) ortsunabhängig, ihre Inhalte jedoch an Orte gebunden (Thielmann 2013). Vereinfacht gesagt, ermöglichen Smartphones und andere mobile Geräte mit aktivierten Ortungsdiensten (lokative Medien), den eigenen Standort auf einer digitalen Karte (Geomedien) zu verorten. Der Gerätestandort wird, beispielsweise auf Google Maps oder Yelp, als blauer Punkt angezeigt, man kann die Karte zur Orientierung oder Suche nach dem nächsten Café nutzen, man kann sie aber auch mit Material anreichern, indem man selbst Cafés einträgt, Rezensionen schreibt oder Bilder hoch lädt. Der Ursprung des Begriffs lokative Medien wird unter anderem auf die Kunstund Kulturszene sowie auf die kritische Kartografie zurückgeführt (Thielmann 2010; Zeffiro 2012), die sich mit partizipativen Kartografierungspraktiken in Geomedien beschäftigten. Lokative Medien können aber ganz „banal“ auch zur Suche von Adressen in Geobrowsern (z. B. Google Maps), zum Bestellen des nächstgelegenen freien Autos in der Taxi-App, zum Aufnehmen und Teilen von mit Georeferenzen versehenen Fotografien oder zum Tweeten mit aktiviertem Ortungsdienst genutzt werden. Der folgende Überblick bietet eine Einteilung verschiedener Anwendungen: Kartendienste, nutzergenerierte und interaktive Karten, standortbasierte Dienste, ortsbasierte Augmented Reality-Anwendungen und ortsbasierte Features Sozialer Medien. • Zu den Kartendiensten zählen etwa Google Earth, Google Maps, Bing Maps, oder das Open- Source Angebot OpenStreetMap, das sowohl für kommerzielle als auch nicht-kommerzielle Projekte genutzt werden kann. Diese Karten können die NutzerInnen zu sogenannten „Neogeografen“ (Goodchild 2009) machen, wenn sie freiwillig geografische Inhalte (Volunteered Geografic Information – VGI) beitragen. • NutzerInnengenerierte interaktive Karten, auch Mashup-Karten (Goodchild 2007, S. 214), Crowdmaps (Brantner und Rodriguez-Amat 2015) oder partizipa-

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tive Geoinformationssysteme (PGIS) genannt, werden beispielsweise von sozialen Bewegungen und AktivistInnen, Kunstprojekten, öffentlichen Beteiligungsprojekten auf kommunaler Ebene (siehe z. B. http://www.ppgis.net/), (semi-) öffentlichen Plattformen wie Citysourced.com, auf denen BürgerInnen Fotos und Texte über Falschparker, verschmutze oder beschädige Straßen, etc. via App hochladen können oder für das Krisenmapping, etwa im Rahmen von Naturkatastrophen, genutzt. Andere Beispiele sind die Geograph-Projekte (z. B. Geograph Britain and Ireland), die zum Ziel haben, für die jeweiligen Regionen repräsentative Fotos und Informationen zu sammeln, die in interaktiven Karten angezeigt werden können. Die (freiwilligen) Informationen – etwa in Form von Texten, Fotos, Videos – werden auf interaktiven Karten, standortbasierten Diensten (Location Based Services – LBS) oder Augmented Reality (AR)Anwendungen geteilt. Bei der Nutzung von Mashup-Karten werden die BürgerInnen zu „human sensors“ (Goodchild 2007, S. 218) und von reinen KonsumentInnen zu „Prosumern“ oder „Produsern“ (Bittner und Michel 2013, S. 112). In einem weiten Begriffsverständnis ist Neogeografie durch die Verwischung der Grenzen zwischen ProduzentInnen, KommunikatorInnen und KonsumentInnen von geografischen Informationen gekennzeichnet (Goodchild 2009, S. 82), d. h., Laien nehmen mit ihren freiwillig preisgegebenen Informationen an Praktiken teil, die früher ExpertInnen vorbehalten waren. • Zu den standortbasierten und -nutzenden Diensten zählen LBS und Apps mit „check in“-Funktion. LBS sind typischerweise kommerzielle Anwendungen, die durch Werbung, Einschreibgebühren oder Risikokapital finanziert werden (de Souza e Silva 2010). Anwendungen wie Foursquares Swarm, die es erlauben, Standorte mit „Freunden“ zu teilen, werden als Locative Mobile Social Networks bezeichnet, als eine spezifische Form von LBS, die den NutzerInnen nicht nur ortsspezifische Informationen bieten, sondern auch erlauben, ihre physischen Standorte auf einer Karte auf den Displays der Geräte anzuzeigen und sich gegenseitig zu finden und miteinander zu kommunizieren oder zu spielen (de Souza e Silva 2010). Weitere LBS sind Such- und Empfehlungs-Apps wie Yelp, Foursquare oder Google Places, Self-Tracking-Apps, z. B. RunKeeper, oder Dating-Apps wie Tinder oder Lovoo. In der Such- und Empfehlungs-App Yelp können wir uns etwa eine Liste der nächstgelegenen Restaurants, Tankstellen, Sehenswürdigkeiten, Dienstleistungsanbieter (von ÄrztInnen bis zum Schlüsseldienst) etc. anzeigen lassen und diese auf einer Karte visualisieren, Bewertungen lesen, Fotos betrachten und auch selbst unsere Bewertungen und Bilder beitragen. Auch Facebook hat das Marktpotenzial erkannt und integriert verschiedene LBS. Die Such- und Empfehlungsfunktion Orte in der Nähe bietet bei aktivierten Ortungsdiensten ähnliche Möglichkeiten wie Yelp, die Funktion Freunde in der Nähe ermöglicht im Sinne der Locative Mobile Social Networks, FreundInnen anzuzeigen, die ebenfalls die Ortungsdienste nutzen. Des Weiteren kann man beim Posten den Standort (via Ortungsdienste) teilen. Die Integration dieser Leistungen hat Facebook zu einem Unternehmen mit umfangreichen geodemografischen Profilingkapazitäten gemacht und dessen Position am lokalen Werbemarkt gestärkt (Wilken 2014a).

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• Des Weiteren zählen ortsbasierte Augmented Reality (AR)-Anwendungen, die AR-Browser wie Wikitude oder Layar nutzen, zu LBS. AR wird als eine Technologie definiert, welche die physische, reale Umgebung mit der „virtuellen“ Umgebung mischt, die physische Umgebung also „anreichert“ (Liao und Humphreys 2015). Richtet man etwa die Smartphone-Kamera auf Objekte im physischen Raum, wird auf dem Display des Geräts das Bild des realen Raums mit grafischen Informationen überlagert. AR-Apps zeigen beispielsweise Informationen über Objekte und Orte von Interesse sowie die Entfernung zu bzw. den Standort von Einrichtungen wie Restaurants, Geldautomaten, Museen, Parkplätzen usw. an. Zu einem regelrechten Hype, der aber schnell wieder abflachte, entwickelte sich 2016 das Augmented Reality LBS-Spiel Pokémon Go. • Darüber hinaus erlauben auch nicht per se ortsbasierte Soziale Medien die Nutzung von „check-in“ Funktionen, wie etwa (oben beschrieben) Facebook, Instagram oder Twitter. Ein weiterer Bezug zu geografischen Informationen ergibt sich auf diesen Plattformen beim Teilen von Bildern und Videos, die mit Ortsinformationen versehen werden. Dies kann mittels Aktivierung der Ortungsdienste (automatisches Geotagging, indem Koordinaten, d. h. Längen- und Breitengrad, des Aufenthaltsorts mitgesendet werden) oder aktivem, manuellem Geotagging (z. B. durch aktive Zuordnung der mittels Ortungsdienste ermittelten Koordinaten eines spezifischen Orts, der aber nicht der aktuelle Aufenthaltsort sein muss oder Nennung des Aufnahmeorts in Textform) seitens der NutzerInnen passieren. Manche Plattformen (z. B. Flickr oder Instagram) bieten die Möglichkeit, auf einer „Weltkarte“ Bilder mit Geotags anzuzeigen und zu suchen. Oftmals beinhalten die Bilder und Videos, wenn bei der Aufnahme die Ortungsdienste aktiviert waren, auch in den Metainformationen Geotags. Manche NutzerInnen entfernen die in den Metadaten enthaltenen Ortsinformationen (wie auch andere Informationen) selbst vor dem Teilen der aufgenommenen Fotografien. Einige Soziale Medien (Facebook, Twitter), Fotoplattformen (Instagram) und Messenger-Dienste (WhatsApp) löschen die Metadaten aber standardmäßig beim Veröffentlichen der Fotos. Andere (Flickr, Google Photo, Tumblr, Pinterest) tun dies nicht (IPTC 2016), erlauben aber in den Privatsphäreeinstellungen das Verbergen der Daten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Plattformen die Metadaten nicht selbst sammeln und auswerten (können), sie löschen oder sperren sie lediglich für Dritte. Dies sind nur einige Beispiele für Anwendungen von lokativen Medien und Geomedien. Durch deren Ausbreitung wächst nicht nur die Zahl der von UserInnen freiwillig und aktiv preisgegebenen geografischen Information (VGI), sondern auch jene der unfreiwillig oder unabsichtlich preisgegebenen, kurz NVGI (Non-volunteered Geographic Information) genannt (Weiser und Abdalla 2013). Eine zusätzliche Abgrenzung zu VGI wird mit Ambient Geospatial Information (AGI) vorgenommen (Stefanidis et al. 2013). Dies bezeichnet mit Geoinformationen (z. B. durch Aktivierung der Ortsfunktion, durch Ortsinformationen im Profil oder in Postings) versehene Beiträge in Sozialen Medien, ohne damit die Absicht zu verfolgen, geografische Informationen im Sinne der Neogeografie, z. B. auf einer Crowdmap

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oder in einem LBS, zusammenzutragen. Diese, ob nun bewusst oder unbewusst freigegeben, geografischen Informationen können wiederum von anderen analysiert werden, sei es von Seiten der Wissenschaft, staatlichen Stellen oder privaten Unternehmen. Dass standortbezogene Daten auch hohes Missbrauchspotenzial bergen, und Fragen zu Privatheit, Privatsphäre, Sicherheit und Überwachung (beispielsweise wenn die Polizei oder Plattformbetreiber räumliche Mobiltelefondaten sammeln und auswerten) genauso nach sich ziehen, wie solche nach forschungsethischem Datenumgang, liegt auf der Hand, kann aber hier nicht näher diskutiert werden (weiterführend z. B. Poorthuis et al. 2016; Stefanidis et al. 2013; Weiser und Abdalla 2013).

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Geomedien als soziale Konstrukte und ihre Implikationen für Machtverhältnisse

Die Produkte lokativer und geomedialer Praktiken sind Schnittstellen hybrider, virtueller und physischer, Räume, in denen die Grenzen zwischen „online“ und „offline“ verschwimmen, sie sind also mehr als reine Repräsentationen räumlicher Phänomene. Für ein adäquates Verständnis von Geomedien und geomedialen Praktiken bedarf es demnach der Überwindung einiger vorherrschender Apriorismen. Einerseits wird die Dichotomisierung von „realem“ Raum und „virtuellem“ Raum genauso obsolet wie ein rein physisch-geografischer Zugang, der Karten lediglich als Repräsentationen versteht. Andererseits wäre auch ein rein technologisches Verständnis von digitalen geomedialen Praktiken, das den Fokus auf Geräte und Interfaces legt, zu kurz gegriffen (Brantner und Rodriguez-Amat 2015, 2016). Darauf wird im Folgenden eingegangen. Durch Geomedien entstehen neue Wissenspolitiken. Dies bezieht sich auf die Art und Weise, in der die räumlichen Daten und Lokalisierungstechnologien von Individuen und Institutionen in der Aushandlung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Prozesse genutzt werden (Elwood und Leszczynski 2013). Geomedien besitzen dabei aufgrund ihrer Visualität eine besondere Form von Autorität: Sie gelten als glaubwürdig (Dodge 2014). Anhand von Beispielen des kollektiven Mappings und der verwendeten (Foto-)Praktiken – etwa bei interaktiven Online-Karten im Rahmen von Protestaktionen, auf denen u. a. Informationen zu Demonstrationsrouten und Absperrungen visualisiert und geogetaggte Fotos hochgeladen werden – konnte gezeigt werden, dass die Technologien und die verwendeten Karten keinesfalls neutral sind. Sie setzen Rahmen und Bedingungen für Inhalte und geben Lesarten vor (Brantner und Rodriguez-Amat 2015; Rodriguez-Amat und Brantner 2016). Gleichzeitig schränkt die Sichtbarmachung mittels lokativer Medien und Geomedien die Möglichkeiten der Aushandlung ein, da niemand sieht, was nicht gezeigt wird (siehe Abschn. 4.2 und 5.3). Dementsprechend dürfen Karten nicht als Spiegel der Realität gelesen werden, sondern als subjektive Repräsentationen von Raum, als soziale Agenten mit politischen Implikationen: Und zwar betreffen diese die hinter den digitalen Karten stehende Politik, die Politik innerhalb der Karten und die Politik durch die Karten (Dodge 2014, S. 299–300). Und auch die Räume selbst sind als soziale Konstrukte zu betrachten. In diesem Sinn hat Lefebvre (1991) den

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kulturellen Prozess der Produktion von Raum analysiert. Karten bzw. Geomedien als soziale Konstrukte (Crampton 2001) sind, wie erwähnt, nicht wertneutral. Sie können einerseits als Agenten für die Normalisierung von Machtverhältnissen agieren, da eine spezifische dominante Gesellschaftsordnung sowie Praktiken, die als vernünftig und selbstverständlich angesehen werden, reproduziert werden (Bourdieu 1989); sie können, andererseits, aber auch für sozialen Wandel eintreten und diese Konventionen aufbrechen (Dodge 2014; Liao und Humphreys 2015; Zeffiro 2012; Abschn. 4.2 und 5.5). Damit stellen lokative Medien und Geomedien auch Räume der Macht und von Machtdiskursen dar (Hoelzl und Marie 2016; Zeffiro 2012). Und zwar auf mehreren Ebenen: Sie ermöglichen die Kontrolle und Überwachung durch Herausgabe und Nutzung standortbezogener Informationen. Bestimmte Akteure haben dabei, je nach Ausrichtung mehr oder weniger, Einfluss auf Inhalte und Diskurs- und Definitionsmacht. Auf struktureller Ebene lenken Medien- und Technologie-Governance und die Governance des öffentlichen Raums den Informationsfluss (Brantner und Rodriguez-Amat 2015, 2016). Informationen in Geomedien, so Lapenta (2011, S. 22), sind nicht allein mit ihren lokalen Referenten, also dem physischen Raum und dem Körper der NutzerInnen, verbunden. Auch die NutzerInnen selbst und der sie umgebende Raum werden in Informationen transformiert und die daraus entstehenden Daten (Texte, Bilder, Videos, usw.) können kommerzialisiert werden. Wichtig, so auch Poorthuis et al. (2016), wird damit die Frage nach der politischen Ökonomie des Geoweb und geosozialer Medien und wer auf welche Art und Weise Kapital und Profit akkumuliert.

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Die „Turns“ in der Betrachtung von lokativen Medien und Geomedien

Die Auseinandersetzung mit lokativen Medien und Geomedien hat sich in den letzten Jahren intensiviert und ist zum Thema verschiedener Disziplinen geworden. Der erst jüngst angestoßenen Überwindung disziplinärer Abgrenzungen widmen sich mehrere Sammelbände und AutorInnen (z. B. Adams und Jansson 2012; Buschauer und Willis 2013; Döring und Thielmann 2009; Goggin und Hjorth 2014; Wilken und Goggin 2015). Im Folgenden soll auf die turns und gegenseitigen Zuwendungen in verschiedenen Disziplinen, die sich mit lokativen Medien und Geomedien befassen, eingegangen werden. Jüngst wurde in den Geistes- und Sozialwissenschaften, so auch insbesondere in Medienwissenschaft (Döring und Thielmann 2009; Thielmann 2010) und Kommunikationswissenschaft (Adams und Jansson 2012; Jansson 2007) ein spatial turn bzw. seine Erweiterung in Ausgestalt eines mobility turn (Urry 2007) konstatiert. Dieser spatial turn hat dazu geführt, dass eine große Bandbreite von Disziplinen die Wichtigkeit von räumlichen Faktoren für das kulturelle und soziale Leben erkannt hat (McKinnon 2011). Der spatial turn ist aber auch nicht ohne material turn zu denken (Jansson 2007). Dieser Wandel impliziert das Verständnis lokativer Medien

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als Form kultureller Praxis und erfasst auch materielle Bedingungen wie Transport, Mobilität und Örtlichkeit. Nicht nur die turns in der Medien- und Kommunikationsforschung verweisen auf die Interdisziplinarität der Thematik, denn auch die Geografen räumen ihrerseits einen cultural, communicational oder media(l) turn (Adams und Jansson 2012; Döring und Thielmann 2009; Thielmann 2010) bzw. den digital turn (Ash et al. 2016) ein. Döring und Thielmann (2009) argumentieren dementsprechend für eine interdisziplinäre Mediengeografie, ähnlich wie Adams und Jansson (2012; Jansson 2007) für eine Kommunikationsgeografie plädieren. Nicht vergessen werden darf auf den etwa im gleichen Zeitraum ausgerufenen iconic, visual oder pictorial turn (Schröter 2009), der die zunehmende Bedeutung von Bild und Bildlichkeit in der Gegenwartsgesellschaft betont. Und schon Lefebvre (1991) hat auf die „Logik der Visualisierung“ verwiesen, welche nun in jegliche gesellschaftliche Praxis eingeschrieben sei. Vor dem Hintergrund zunehmend verbreiteter Geomedien- und Augmented Reality-Anwendungen und ihrer algorithmischen Konfigurationen hat William Uricchio (2011) entsprechend den (visual) algorithmic turn ausgerufen (siehe auch Lapenta 2011, 2012; Rubinstein und Sluis 2013), auf den wir in Abschn. 4.2 wieder zurückkommen.

4.1

Mediatisierung von Räumlichkeit in Geomedien

Der cultural, communicational oder media(l) turn in der Medien- und Kommunikationsgeografie schließt auch die schon angesprochene Aushandlung von Macht ein und kann fruchtbar aus der sozialkonstruktivistischen Perspektive der Mediatisierung erfasst werden, da sie ein holistisches Verständnis der sozialen Phänomene und kulturellen Prozesse im Rahmen geolokalisierter Aktivitäten erlaubt. Wie Hepp et al. (2010, S. 223) ausführen, werden Medien nicht länger als etwas außerhalb der Gesellschaft Stehendes betrachtet, sondern werden adaptiert und in alltägliche Handlungen einbezogen. So können lokative Praktiken, etwa digitales Mapping, als Teil des Mediatisierungsprozesses gegenwärtiger Medienkulturen (Krotz 2012) verstanden werden, wobei, vor allem wenn es um die Mediatisierung von Räumlichkeitsvorstellungen geht, visuelle Kommunikation eine wichtige Rolle spielt (Lobinger 2012; Schilling und Vietze 2013). Man denke etwa an die Kommunikation mit lokativen Medien und Computern in Orten und über Orte sowie über Orte hinweg, wie dies etwa mit dem Taggen und Teilen von ortsbezogenen Alltags- und Urlaubsbildern auf Instagram oder im Zuge kollektiver Mappingpraktiken passiert. Neue Kommunikationstechnologien und -praktiken erzeugen vielfältige Verschränkungen von Kommunikation und Ort (Adams und Jansson 2012, S. 310). Dabei überschneiden sich die Texturen der Orte und Strukturen der Räume, weil GPS- und WLAN-verlinkte Daten mit geografischen Datenbanken verbunden sind. Es wird eine hybride räumliche Struktur geformt – teils Mobiltelefon, teils GPS-Satellit, teils Internet, teils entfernte Datenbank –, die in Geomedien sichtbar wird (Adams und Jansson 2012, S. 311). Dieser in die soziale Praxis eingeschriebene

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integrierte Kreislauf von Geräten und Datenflüssen hat einerseits eine symbolische Bedeutung, gerät aber gleichzeitig aus dem Blickfeld, da die BenutzerInnen mobile Geräte in ihr Alltagsleben integrieren, ohne bewusst Notiz von ihnen zu nehmen. Dourish und Bell (2011) sprechen in diesem Zusammenhang von „ubiquitous computing“, Hand (2016) in Bezug auf die zunehmende (Alltags-)Bilderflut von „ubiquitous photography“. Dies verweist auch darauf, dass uns geografische Praktiken nicht immer bewusst sind (siehe Abschn. 2). Die Mediatisierung von Räumlichkeit in Geomedien ist vor allem durch die Konvergenz unterschiedlicher Einzelmedien gekennzeichnet. Wie ausgeführt bieten Geomedienanwendungen wie Google Maps nicht nur Karten, sondern auch die Möglichkeit der geografischen Zuordnung von Fotos, Videos, Wikipedia-Einträgen, Infografiken, usw. Die einhergehende Mediatisierung von Räumlichkeit führt dabei zu einer „zunehmenden Verbildlichung der Aneignung und Kommunikation von Wissen“ (Schilling und Vietze 2013, S. 220). Schilling und Vietze (2013) entwerfen aus wissenssoziologischer Perspektive ein Forschungsprogramm, das sich der Frage zuwenden soll, wie sich die Raumvorstellungen von Akteuren durch digitale Geomedien verändern. Dabei müsse auch die Fragmentierung und Pluralisierung von Raumvorstellungen berücksichtigt werden, die u. a. durch die subjektiven Erfahrungen und visuellen Erzählungen der ProduserInnen geprägt sind. Einen vielversprechenden Ansatz am Beispiel von AR-Anwendungen bieten hier Liao und Humphreys (2015), die auch die zunehmende Bedeutung von Algorithmen betonen (siehe Abschn. 5.5). Damit kommen wir zurück zum visual algorithmic turn.

4.2

Visual Algorithmic Turn

Uricchio (2011) erläutert den algorithmic turn und dessen Implikationen für Bilder am Beispiel von AR-Anwendungen (wie z. B. Layar oder Wikitude) und der Geomedienanwendungen Photosynth. Photosynth ist eine Panorama- und 3DModellierungssoftware, die auf Bing Maps und geogetaggten Flickr-Fotografien basiert. Sie erlaubt das Zusammenführen unterschiedlicher Fotografien von Objekten. Die Software arbeitet beim Zusammenfügen („stiching“) mit Algorithmen, die Umrisse, Gegenstände, Kamerapositionen und -winkel erkennen. Die mit Photosynth erstellten Panoramen („Panos“) und 3D-Bilder („Synths“) können in Bing Maps integriert werden; ebenso wie Fotos von Innenräumen oder von Objekten, die abseits von Wegen liegen. Uricchio (2011, S. 25) geht dabei von einer algorithmischen Rekonfiguration der Beziehungen zwischen sehendem Subjekt und betrachtetem Objekt im entstehenden visuellen Regime aus. Während Photosynth (siehe Abb. 1) und andere Geomedien-Anwendungen, wie etwa Google Earth, Bewegung im Bild erlauben, beispielsweise mittels der Navigationsbuttons, ermöglichen AR-Anwendungen Bilder in Bewegung. In AR-Angeboten ist Bewegung in der physischen Welt situiert; die Perspektive ist dabei auf die des sehenden Subjekts limitiert. Entscheidend für die Medialität der Geomedien ist die repräsentationale Kopplung von Zeichen (Ortsbild) und Ort (Bildort) bzw. Code und Raum „als strukturelle

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Abb. 1 Screenshot der Photosynth-Karte der Wiener Innenstadt (https://photosynth.net). (Die Photosynth-Software, -Apps sowie die Webseite photosynth.net wurden im Februar 2017 endgültig eingestellt, laut Microsoft wurden die wichtigsten Features von Photosynth aber Ende des Jahres in die Kamera-App Pix eingebracht (Budd-Thanos 2017). Dies ist ein Beispiel für den sich permanent wandelnden Markt, auf dem ständig neue Funktionen sowie Anwendungen hinzukommen und alte verschwinden. Die Abbildung veranschaulicht aber die Funktionalitäten, die es auch in anderen Geomedien-Anwendungen in ähnlicher Form gibt.) Gezeigt wird ein Kartenausschnitt der Bing Map auf dem „Panos“ und „Synths“, die in dieser Gegend aufgenommen wurden, mit Punkten angezeigt werden. Das auf der Karte angeklickte Bild ist ein „Pano“ des Innenraums des Stephansdoms. © 2016 Blom © 2016 Microsoft Corporation

Determinante von Vernetzung“, die auf den Karten sichtbar wird (Thielmann 2013, S. 55). Die verwendeten Algorithmen bestimmen aber auch mit, was wir sehen und sogar wie wir es sehen (Uricchio 2011, S. 33). Sie reorganisieren die visuellen Informationen, dienen der Objekterkennung, verlinken Objekte mit Datenbanken und visualisieren Objekte. Die Visuelle Kommunikationsforschung ist gefordert, genau zu untersuchen und zu reflektieren, welche Auswirkungen auf Sehordnungen und visuelle Regime diese algorithmischen Techniken der Sichtbarmachung mit sich bringen (Liao und Humphreys 2015; Uricchio 2011). Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund bedeutsam, dass die moderne Welt weitgehend ein gesehenes Phänomen ist und ihr Verständnis von einem visuellen Regime abhängt, das Sehen mit Wissen gleichsetzt (Rose 2016, S. 3). Wir werden darauf später wieder zurückkommen.

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Visuelle Aspekte lokativer Medien und Geomedien: Von der Geovisualisierung zur Analyse visueller Praktiken

Es gibt eine Vielzahl an Forschungsansätzen zur Auseinandersetzung mit visuellen Aspekten lokativer Medien und Geomedien. Ausgewählte Ansätze werden im Folgenden behandelt. Zunächst steht die Visualisierung von geomedienbasierten Daten im Fokus. Die Beschäftigung startet mit Geovisual Analytics und mit Methoden der Geovisualisierung und Informationsvisualisierung raumbezogener Daten und wird am Beispiel von geogetaggten Tweets vertieft. Danach folgt die Auseinandersetzung mit der Analyse und Visualisierung von georeferenzierenden Fotografien. Anschließend wird der Einsatz und die Erforschung interaktiver partizipativer Karten (PGIS) behandelt. Fotografien waren natürlich immer auch verortet, jedoch ist lokative Fotografie mit dem Aufkommen digitaler Kameras und insbesondere Mobiltelefonkameras verstärkt zum Forschungsthema der Visuellen Kommunikationsforschung geworden. Der Artikel widmet sich deswegen abschließend dem Konzept „verorteter Bildlichkeit“.

5.1

Geovisualisierung und Geovisual Analytics

Die Begriffe Geovisualisierung und Geovisual Analytics entstammen der Geografie und verwandten Disziplinen. Geovisualisierung umfasst die „explizit visuelle Darstellung von Phänomen, Kontexten und Problemen mit geografischen bzw. räumlichen Bezugspunkten“ (Elwood und Leszczynski 2013, S. 547, eigene Übersetzung). Geovisualisierung hat sich als Teilbereich der Visual Analytics etabliert und zu Geovisual Analytics weiterentwickelt, welche Ansätze aus der Kartografie und GIScience (Geografische Informationswissenschaft) mit jener der Visual Analytics integriert. Geovisual Analytics unterstützen das Schlussfolgern und Denken mit und über Geoinformationen, um damit Einblicke in jene Fragen zu bekommen, für die Orte und räumliche Beziehungen zwischen Orten wichtig sind. Karten – die hier aber nicht als reine Repräsentation verstanden werden, sondern als Interface, als externes kognitives Artefakt, das menschliches Denken mit computerbasierten Methoden verbindet – sind zentral für die Methoden der Geovisual Analytics (MacEachren 2013, S. 167). Typische Anwendungen nutzen dynamisch verknüpfte Ansichten, die es den NutzerInnen ermöglichen, geografische Veränderungen in den sie interessierenden Phänomenen zu beobachten (Nelson et al. 2015). Während in der Geovisualisierung nur räumlich aber nicht zeitlich gedacht wurde, überwinden Geovisual Analytics dieses Denken und erlauben raum-zeitliche Analysen (Nelson et al. 2015). Dieser Ansatz wird z. B. in den Projekten SensePlace 22 und SPoTvis (spatial patterns of Tweets visualization) vom GeoVISTA Center (Center for Innovation Across the GISciene Research Landscape) der Penn State University verfolgt. Beide 2

Siehe https://www.geovista.psu.edu/SensePlace2/.

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Anwendungen nutzen Twitter Meldungen und erlauben es, diese nach Schlagworten zu durchsuchen und nach Herkunfts- (Ort an dem ein geogetaggter Tweet abgesendet wird) und Zielorten (Ort auf den sich ein Tweet bezieht) sowie nach Zeitpunkten (ermittelt durch Time Stamps) zu analysieren und auf interaktiven Karten zu visualisieren. So können etwa auf der interaktiven SensePlace 2 Karte Tweets zu einer Flutkatastrophe visualisiert und auch die zeitlichen Abläufe, etwa unmittelbar nach der Katastrophe oder während laufender Hilfsmaßnahmen, nachverfolgt werden (MacEachren 2013; Nelson et al. 2015). Eine ähnliche Anwendung bietet beispielsweise der OECD eXplorer, mit dessen Hilfe regionale OECD Daten visualisiert werden können. Solche Anwendungen finden auch praktische Umsetzung in verschiedenen Crowdmapping Projekten. So stellt das Crisis Mappers Netzwerk (http://crisismap pers.net/) PGIS bzw. Mashup-Karten im Rahmen der (Natur-)Katastrophenhilfe zur Verfügung, auf denen Informationen über die betroffenen Gebiete zusammengetragen und visualisiert werden können.

5.2

Geovisualisierung am Beispiel von Twitter

Malik et al. (2015) sowie Wilken (2014b) fassen den Forschungstand der Studien zusammen, die geogetaggte Tweets (im Sinne von AGI) analysieren – Tweets, bei deren Absenden die Ortungsfunktion aktiviert ist. Dabei zeigt sich, dass hier verschiedene Forschungsinteressen, von der Analyse von Mobilitätsmustern, Netzwerkdynamiken und Informationsflüssen bis hin zur Vorhersage von Epidemien, abgedeckt werden. Diese Studien können methodisch entweder der Geovisualisierung zugerechnet werden, wenn die vorhandenen geografischen Daten auf Karten visualisiert werden, oder den Geovisual Analytics, wenn dabei auch die Zeitkomponente berücksichtigt wird. Die Visualisierung von geogetaggten Tweets kann auch in der Praxis, etwa in Katastrophensituationen (siehe Abschn. 5.1) oder im Rahmen von für Demonstrationen genutzten Crowdmaps (siehe Rodriguez-Amat und Brantner 2016), hilfreich eingesetzt werden. In Katastrophensituationen können Hilfsdienste geogetaggte Tweets mit wichtigen Informationen absetzen, sie können aber auch auf geogetaggte Tweets aus der betroffenen Region reagieren sowie geografische Informationen aus den Tweettexten extrahieren und diese auswerten und visualisieren, um ein Bild der Situation zu erhalten (Bruns und Burgess 2014). Abb. 2 zeigt die Visualisierung von mit Geodaten getaggten Tweets zum Thema Klimawandel und globaler Erwärmung auf einer Weltkarte. Die Visualisierung der geografischen Verteilung (man beachte jedoch, dass nur Englisch und EU-Sprachen komplett abgedeckt wurden) deutet darauf hin, dass zwar in Regionen mit hoher Einwohnerzahl eine höhere Dichte an Tweets zu verzeichnen ist, das Tweetaufkommen aber auch in Küstenregionen, also in Gebieten, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, höher scheint. Dies ist eine Vermutung, die jedoch gesondert empirisch geprüft werden müsste (Brantner und Pfeffer 2016).

Abb. 2 Visualisierung der geografischen Distribution von im Jahr 2014 geposteten geogetaggten Tweets (0,9 % aller 897.306 Tweets) zu Klimawandel. Zur Sammlung der Tweets zum Thema und der Extraktion der Metadaten wurden Phyton Skripts verwendet, Datenbasis war die Twitter Decahose, die ein repräsentatives 10 %-Sample aller weltweit gesendeten Tweets enthält. Die extrahierten Koordinaten der geogetaggten Tweets wurden mit der OpensourceSoftware QGIS auf der Weltkarte visualisiert (Brantner und Pfeffer 2016)

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C. Brantner

Natürlich können auch Geoinformationen anderer Sozialer Medien analysiert und auf Karten visualisiert werden. Dazu liegen auch zahlreiche Studien, z. B. aus dem Feld des Urban Computing, vor. So haben Cranshaw et al. (2012) die check-in Daten der LBS-Anwendung Foursquare analysiert und dabei auf Geovisualisierung zurückgegriffen. Jedoch sind Studien, die sich mit der Verortung von Inhalten auseinandersetzen, nicht alleine auf geogetaggte Inhalte und check-in Daten angewiesen. Beispielsweise kann Geoparsing zur Verortung großer Informationsmengen genutzt werden. Hier werden durch die automatisierte Erkennung von Ortsnamen in Profilinformation und Texten diese Namen in Koordinaten konvertiert. Sogenannte „Gazetteers“, digitale Ortsnamensverzeichnisse, dienen dann der weiteren geografischen Zuordnung. Da die angegebenen Ortsnamen oft uneindeutig sind, erfordert eine valide Zuordnung einiges an Zusatzarbeit (Wilken 2014b; zu weiteren Methoden siehe Leetaru et al. 2013). Gewarnt werden muss aber vor der Verallgemeinerung der Daten aus Social Media-Studien, denn weder sind etwa Geotagging-NutzerInnen (der Anteil an geogetaggten Tweets liegt bei 1–3 %) repräsentativ für Twitter-NutzerInnen, noch sind letztere repräsentativ für die Bevölkerung (Leetaru et al. 2013; Malik et al. 2015; Ruths und Pfeffer 2014). Studien, die sich mit dem geografischen Bias von Big Data auseinandersetzten, stellen eine Überrepräsentanz von reichen Orten und urbanen BewohnerInnen fest (Poorthuis et al. 2016), dies ist unter anderem der ungleichen Entwicklung der Infrastrukturen, die Kommunikationsflüsse erst erlauben (oder behindern) geschuldet (Adams und Jansson 2012; Brantner und Rodriguez-Amat 2016). Während wir uns in diesem Abschnitt mit georeferenzierenden Tweets auseinandergesetzt haben, erfolgt im nächsten die Auseinandersetzung mit der quantitativen automatisierten Analyse geogetaggter Fotografien.

5.3

Geovisualisierung geogetaggter Fotografien

Studien, meistens aus den Computerwissenschaften oder den Computational Social Sciences, die sich mit geogetaggten Bildern auseinandersetzen, befassen sich vor allem mit den Möglichkeiten der algorithmischen Analyse großer Datensätze von digitalen Bildern, die Sozialen Medien entnommen werden (für einen Überblick siehe Hochman und Manovich 2013). Diese Studien verfolgen vor allem Verhaltensmuster und räumliche Spuren, indem sie die räumlichen (und zeitlichen) Tags von Fotografien aggregieren. Beispiele sind etwa die Visualisierung der Metadaten von in Großbritannien geogetaggten Fotografien auf Flickr, die dazu dienen kann, menschliche Mobilitätsmuster mit Hilfe eines Machine-Learning-Algorithmus zu modellieren (Barchiesi et al. 2015). Ein weiteres Projekt, das auf die Geovisualisierung auf Karten zurückgreift, stammt von Datenkünstler und Softwareentwickler Eric Fischer. Die mittlerweile dutzende Großstädte umfassende Landkartenserie Geotaggers’ World Atlas nutzt die Search APIs von Flickr und Picasa und extrahiert und visualisiert die geografischen Daten von Bildern, die mit Geotags versehen und

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öffentlich geteilt wurden, auf OpenStreetMap. Im Teilprojekt Locals and Tourists, das Karten von 136 Städten erfasst, werden die Geotags der von TouristInnen und Einheimischen auf die Plattformen hochgeladenen Fotos in verschiedenen Farben visualisiert (siehe Abb. 3). Wenn wir das Fotografieren und Hochladen der Bilder als einen Akt der Bedeutungszuweisung interpretieren, zeigt die Karte, welchen verschiedenen Orten und Plätzen TouristInnen und Einheimische in einer Stadt Bedeutung geben. Die Visualisierung (in rot) auf dem Ausschnitt des Wiener Stadtplans zeigt, dass TouristInnen vor allem geogetaggte Fotos der touristischen Hotspots in und um die Innenstadt sowie Schloss Schönbrunn hochladen, während Einheimische ihre Spuren (in blau) auch außerhalb des Zentrums und der touristischen Hotspots hinterlassen. In einem ähnlichen Projekt analysieren Schwartz und Hochman (2014) die MetaInformationen geo- und zeitgetaggter Bilder, die auf der Foto-Sharing-Plattform Instagram sowie in der LBS-App Yelp geteilt und in öffentlichen Parks in New York verortet wurden.

Abb. 3 Screenshot von Wien aus dem Flickr Album Locals and Tourists des Geotaggers’ World Atlas, rote Spuren indizieren von TouristInnen, blaue Spuren von Einheimischen hochgeladene Fotos, gelbe sind nicht zuordenbar; (CC BY-SA 2.0 Eric Fischer, Flickr) (https://www.flickr.com/ photos/walkingsf/4671527727/in/album-72157624209158632/)

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Schwartz und Halegoua (2015) betonen, dass die durch NutzerInnen produzierten digitalen Fotografien Ausdrücke des „spatial self“, des räumlichen Selbst sind. Die Analyse geogetaggter Fotografien auf Plattformen wie Instagram oder Facebook ermöglicht demzufolge ein Verständnis der neuen Selbstinszenierungen sowie des Einschreibens des Körpers in Ort und Raum (Schwartz und Halegoua 2015, S. 1656). Ortsbasierte mobile Praktiken dienen dabei der Identitätskonstruktion und der Erinnerung (Frith und Kalin 2016), wobei Fotografien eine besondere Bedeutung zukommt (siehe z. B. Hand 2016; Pink 2011). Dieser Aspekt scheint auch den BetreiberInnen von Foto-Sharingplattformen bewusst zu sein. So meinte Instagram-Gründer Kevin Systrom zur Einführung des Features „Photo Map“: „We don’t want Instagram only to be about ‚now‘, (. . .) [i]nstead we want Instagram to be a visual collection of your memories – something beautiful and nostalgic“ (Bonnington 2012, zu nostalgischen Aspekten visueller Kommunikation siehe auch den Beitrag von Menke und Niemeyer in diesem Band). Die NutzerInnen der Plattformen entscheiden aktiv, welche Orte es wert sind, erinnert zu werden, wo sie „einchecken“ und wovon sie Bilder machen (Frith und Kalin 2016). Die digitalen Spuren, die NutzerInnen auf ortsbasierten sozialen Medien hinterlassen, unterstützen zwar die Analyse urbaner Erfahrungen und urbaner Mobilität, sollten aber im Sinne von Goffman (1956) nur als „aufgeführte“ oder „ausgestellte“ Fragmente der physischen Präsenz und räumlichen Realitäten verstanden werden, da sie nur Teile einer größeren Narration und Darstellung von Embodiment und Erfahrung von Ort sind. So dürfen die geolokalisierten Fotografien auch nicht als quantitative Informationen missverstanden werden, wenn sie doch tatsächlich einen Mix aus quantitativen und qualitativen Daten darstellen (Schwartz und Halegoua 2015, S. 1656–1657). Die Projekte verweisen darauf, dass mobile Medien unser Verständnis von und unseren Umgang mit Orten verändert haben, während gleichzeitig auf den Bias der Daten hingewiesen werden muss, der durch die Nutzerdemografie sowie durch die je nach Plattform unterschiedlichen sozialen Praktiken und Normen bedingt ist (Malik et al. 2015; Ruths und Pfeffer 2014; Schwartz und Halegoua 2015; Schwartz und Hochman 2014). Dies bedeutet, dass in der Betrachtung der durch die NutzerInnen generierten Inhalte die Politik und der Bias, die hinter den Interfaces stehen, nicht vergessen werden dürfen (Frith 2017). Die meisten der vorliegenden Studien, die Metadaten von Bildern analysieren, nutzen anders als die Geovisual Analytics lediglich räumliche, nicht aber zeitliche Daten. Auch nutzen diese Studien nur Metadaten und analysieren nicht die visuellen Charakteristiken der Fotos selbst. Einen möglichen Forschungsansatz, der über die Analyse der Metadaten der Fotografien hinausgeht und quantitative und qualitative Elemente integriert, bietet die „thick visualization“ (Hochman und Manovich 2013): Die Autoren exemplifizieren dies am Beispiel von auf Instagram hochgeladenen geogetaggten Fotografien. Sie visualisieren diese Fotos direkt, um damit zu veranschaulichen, wie diese zu kulturellen, sozialen und politischen Einsichten über bestimmte Orte, zu bestimmten Zeiten führen können. Diese Visualisierungstechniken erlauben es, Millionen von Fotos, die in verschiedenen Städten aufgenommen wurden, zu vergleichen und kulturelle Unterschiede zwischen den Städten aufzude-

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481

cken. Auch wie „Geschichten“ visualisiert werden, die sich aus den Bildsequenzen der einzelnen NutzerInnen ergeben, lässt sich untersuchen. Die Daten- und Geovisualisierungen geogetaggter Informationen oder Bilder können dazu dienen, die Nutzung urbaner öffentlicher Orte zu analysieren. Diese Informationen alleine liefern aber verzerrte Ergebnisse und nur durch eine Triangulation von qualitativen und quantitativen Methoden, die auch eine Berücksichtigung der visuellen Aspekte einschließt, können wir unser Verständnis öffentlicher Räume erweitern (Adams und Jansson 2012; Brantner und Rodriguez-Amat 2016; Poorthuis et al. 2016; Schwartz und Halegoua 2015; Schwartz und Hochman 2014).

5.4

Einsatz und Erforschung von partizipatorischen interaktiven Karten (PGIS) in der qualitativen Sozialforschung

Auch in der qualitativen visuellen Forschung werden interaktive Karten und Mapping für die Datensammlung, Datenexploration oder Datendarstellung genutzt (McKinnon 2011) und häufig mit anderen (visuellen) Forschungstechniken kombiniert. So erläutert Collins (2011) die Potenziale von PGIS für die visuelle Forschung am Beispiel eines Mixed-Method Projekts in der Tradition der partizipativen Aktionsforschung, in dem er die persönliche Geschichte und kulturellen Praktiken der TeilnehmerInnen erforschte (Collins 2011, S. 484). Er wendete induktive partizipatorische Methoden an und fokussierte auf die subjektiven Wahrnehmungen und qualitativen Verständnisse der Menschen und das kulturelle Leben der Gemeinschaft vor Ort. Unter anderem nutzte er die PGIS-Karte für Visual Elicitation (zu Techniken der Visual Elicitation siehe auch den Beitrag von Lobinger und Mengis in diesem Band). Pauwels (2016) erläutert die Potenziale visueller Methoden für das Gebiet der urbanen Kommunikationsforschung und verweist darauf, dass neue geolokative visuelle Technologien wie Actionkameras (wie etwa GoPro) oder life-logging Kameras für die Datengenerierung eingesetzt werden können. Die Visualisierung dieser Daten in PGIS würde nicht nur neue Möglichkeiten für die dynamische und unaufdringliche Erforschung urbaner Kontexte eröffnen, sondern auch erlauben, das Verhalten der BildproduzentInnen, ob ForscherIn oder Beforschte, zu dokumentieren, indem ihre „Ansichten“ auf der Karte sowohl zeitlich als auch räumlich markiert werden. Dies sind nur zwei Beispiele für den Einsatz von PGIS als Forschungsmethode und Methode der Wissensproduktion, der in den letzten Jahrzehnten u. a. in Geografie, Sozialanthropologie, Partizipatorischer Aktionsforschung oder Visueller Soziologie intensiviert wurde (Collins 2011; Lapenta 2012; McKinnon 2011). PGIS werden auch hohe Potenziale als Instrumente der (direkten) Visualisierung zugeschrieben. Mit ihnen können die sozialen Praktiken, persönlichen Identitäten, Interaktionen und „vorgestellten“ Gemeinschaften der NutzerInnen, die die Karten erschaffen, sichtbar gemacht und erforscht werden (Lapenta 2012; Pauwels 2016). Auf lokaler Ebene können sie für die Wissensproduktion und Entscheidungsfindung

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C. Brantner

eingesetzt werden (Collins 2011) und es wird für ihren Einsatz in der interdisziplinären und methodentriangulierenden Forschung plädiert (McKinnon 2011; Pauwels 2016). Ein solches Projekt wird beispielsweise von Nacher (2013) umgesetzt, die sich mit partizipativem Mapping als Form des datengetriebenen Aktivismus auseinandersetzt. Sie sieht die primäre Funktion der produzierten Visualisierungen nicht in ihren Repräsentationen der Stadt, sondern in der Rolle, die sie im dynamischen Prozess der Wissensproduktion auf der Grassroot-Ebene haben (siehe auch Elwood und Leszczynski 2013). Sie zeigt am Beispiel verschiedener Mapping-Projekte, dass nicht allein die visuellen Repräsentationen analysiert werden sollten, sondern auch deren Produktionspraktiken (Nacher 2013); eine Forderung auf die wir in Abschn. 3 bereits verwiesen haben. Im Folgenden soll deswegen abschließend diese Perspektive weiter im Fokus stehen.

5.5

Verortete Bildlichkeit: Praktiken der lokativen SmartphoneFotografie

Hjorth und Pink (2014; Pink und Hjorth 2012, 2014) entwickeln in ihren ethnografischen Studien zur mobilen Smartphone-Fotografie und geogetaggten Fotos das Konzept der verorteten, platzierten Bildlichkeit („emplaced visuality“) und plädieren dafür, vom Konzept der „networked visuality“ abzurücken. Dieses hat sich vor allem in der ersten Generation der Kameratelefon-Studien (siehe etwa Ito und Okabe 2006) durchgesetzt, die die Rolle der drei „s“ – „sharing, storing, saving“ – in der digitalen Alltagsfotografie betonten und auf die Rolle von Seiten wie Flickr und YouTube fokussierten. Hier standen nicht Ortsfragen im Fokus, sondern jene nach der die vernetzte Visualität der „banalen“ Alltagsfotografie und -videos prägenden Ästhetik (Hjorth und Pink 2014, S. 47). Das Neudenken der Smartphonepraktiken durch eine Theorie des Ortes impliziert auch eine theoretische Wegwendung von der vernetzten Bildlichkeit hin zu Konzepten des „emplacement and entanglement (Hjorth und Pink 2014, S. 47). „Emplaced visuality“ verweist darauf, dass die Praktiken nicht rein visuell sind, da die Interfaces Teil unserer Umwelt sind, man sich mit und in ihnen bewegt und sie körperlich erfahren werden (Pink und Hjorth 2012, S. 147). Am Beispiel von LBS-Spielen wie Foursquare erläutern sie, dass die verortete und multisensoriale Visualität der geogetaggten Smartphone-Fotografie neue Formen der georäumlichen Sozialität entstehen lässt (Pink und Hjorth 2012, S. 153). Durch das Aufnehmen und Teilen von Fotografien als Teil der alltäglichen Bewegungen bieten Smartphonepraktiken neue Möglichkeiten, Ort über das rein Geografische hinaus zu denken, da die NutzerInnen mit ihren Praktiken dazu beitragen, soziale, emotionale, psychologische und ästhetische Dimensionen zu einem Ort hinzuzufügen (Hjorth und Pink 2014, S. 42). Durch Geotagging werden die Bilder doppelt verortet: in der „realen“ Welt, in der sie aufgenommen werden und auf der digitalen Karte (siehe de Souza e Silva 2011). Auch hier ist eine Beschränkung auf Bilder als Repräsentationen nicht zielführend, weil so leicht übersehen wird, dass sie Produkte des Materiellen und des Digitalen

Von Geovisualisierung bis zur verorteten Bildlichkeit

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sind und auch Algorithmen dazu beitragen, wie die Praktiken verortet werden (Pink und Hjorth 2012, S. 151). Der Inhalt der sowohl digital als auch sozial und materiell verorteten SmartphoneBilder wird durch die Ortsbedingungen und -bestandteile geprägt, die wiederum die Verortung des Körpers der NutzerInnen vorgeben. Der Fokus auf Kameratelefone biete nun ein Prisma, durch das verstanden werden kann, wie die Beziehungen zwischen den Materialitäten und den digitalen Umgebungen des Ortes, verkörperten Erfahrungen und soziologischen Phänomenen zusammenlaufen (Pink und Hjorth 2012, S. 153). Der Akt der Fotografie kann als eine räumliche Praktik verstanden werden und durch das Aufnehmen, Sammeln und Teilen von Fotografien werden die physische Umwelt und Orte wahrgenommen und erfahren: „[As] we are moving perceiving beings, (. . .) the experience of place can be seen as the experience of moving through and participating in an environment, the taking, manipulation and viewing of amateur photographs becomes part of this perceptual and experiential activity“ (Pink 2011, S. 93). Ob geogetaggt oder nicht, Fotografien von und in Orten, eingesetzt in der LiveKommunikation mit physisch abwesenden Anderen, schaffen eine besondere Form von „mediated presence“ (Villi 2016, S. 109). Die Bildinhalte, die abgebildeten Orte und Situationen, werden Teil der Kommunikation, es wird durch Bilder kommuniziert. Fotografien erzeugen eine Art Ko-Präsenz (siehe auch den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band). Sie geben entfernten KommunikationspartnerInnen einerseits das Gefühl, am Ort des Geschehens zu sein und es zu sehen; andererseits liefern die FotografInnenen den indexikalischen Beweis ihr Präsenz vor Ort (Villi 2016, siehe auch Hjorth und Pink 2014) Dies gilt insbesondere auch für LBS. Aber anders als bei der vernetzten Visualität, in der Bewegungen durch Raum, Zeit und Ort in der geteilten Fotografie eingefroren sind, betonen „emplaced visualities“ in LBS-Praktiken die Ko-Präsenz von Smartphonebildern während der Bewegung durch Orte und Räume (Hjorth und Pink 2014, S. 51). Diese „verortete Bildlichkeit“ betont auch die neuen Wege, in denen Kartografien des Sozialen, Räumlichen und Geografischen verortet und miteinander verwoben werden. Die Praktiken werden als Teil von verorteten Kartografien begriffen und es wird berücksichtigt, dass Örtlichkeiten, Repräsentationen und Erfahrungen durch mobile Medien transformiert werden. Der Fokus auf die Präsenz der Technologien als Teil der alltäglichen Lebenswelt bringt neue Einsichten für nicht-repräsentationale Analysen des Alltagslebens, wie sie in Geografie oder Anthropologie entwickelt wurden und vermehrt auch in der Medien- und Kommunikationsforschung eingesetzt werden (Pink und Fors 2017; siehe auch Adams und Jansson 2012; Brantner und Rodriguez-Amat 2016; Nacher 2013). Auf Basis von qualitativen Interviews mit Early Adopters der AR-App Layar zeigen Liao und Humphreys (2015, S. 1418), wie mobile AR-Anwendungen die Praktiken urbanen Lebens vermitteln können. Sie finden v. a. zwei Nutzungsweisen. Erstens programmieren NutzerInnen Inhalte auf Layar, die über und durch den Ort kommunizieren, was ihre Beziehung und Interpretation der sie umgebenden Orte formt. Zweitens historisieren die von NutzerInnen bereitgestellten Inhalte die Bedeu-

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tung der Orte und fordern diese heraus. Dabei beeinflussen die erweiterten Realitäten nicht nur den Raum, der erweitert wird, sondern auch die NutzerInnen und ErschafferInnen der Technologie und wie sie über Raum denken. Sie können auswählen, welche Repräsentationen des Raums sie sehen möchten und wie der erweiterte Raum für sie aussieht. Auch dominante (Orts-)Erzählungen und Machtverhältnisse (Crampton 2001; Dodge 2014; Hoelzl und Marie 2016; sowie Abschn. 3 dieses Beitrags) können von den NeogeografInnen herausgefordert werden, wenn sie Objekte im physischen Raum für Geschichten nutzen, die nicht erzählt wurden oder verschwunden waren (Liao und Humphreys 2015, S. 1431). So können auch verschiedene Erzählungen zur gleichen Zeit existieren. Nicht vergessen werden dürfen auch die „Codes“ und in den Technologien eingesetzten Algorithmen und deren Implikationen (Frith 2017; siehe Abschn. 4.2).

6

Fazit und Ausblick

Der Beitrag setzte sich mit lokativen Medien und Geomedien aus interdisziplinärer Perspektive auseinander und fokussierte dabei vor allem visuelle Aspekte. Es wurde gezeigt, dass innovative soziologische aber auch digitale ethnografische Methoden in der Analyse von lokativen Medien und Geomedien die Vorteile neuer Technologien der Informationsvisualisierung nutzen, um interaktiv Daten nach entstehenden sozialen Mustern und kulturellen Praktiken zu untersuchen. Diese Möglichkeiten werden aber auch von kommerziellen, nicht-kommerziellen, (semi-)staatlichen Akteuren und Plattformbetreibern genutzt, mit verschiedenen Implikationen für Kontrolle, Überwachung, Privatsphäre und die Kommerzialisierung räumlicher Daten. Der Beitrag diskutierte Geovisual Analytics und Methoden der Geovisualisierung geomedienbasierter Daten. Dies wurde am Beispiel von geogetaggten Tweets und der Auseinandersetzung mit der Visualisierung von georeferenzierenden Fotografien vertieft. Zur (Weiter-)Entwicklung der visuellen Theorien im Rahmen der Geomedien sind vor allem qualitative Ansätze gewinnbringend. Erforscht werden einerseits Inhalte und Praktiken der NutzerInnen digitalen Mappings und anderer lokativer Medien, andererseits, und damit vereinbar, bieten digitale Karten und insbesondere PGIS-Karten auch hohes Potenzial als visuelle Forschungsinstrumente (Collins 2011; McKinnon 2011; Lapenta 2011, 2012; Pauwels 2016), aber auch für den praktischen Einsatz, etwa in Krisensituationen. Des Weiteren kann unter Bezugnahme auf die „emplaced visuality“ festgehalten werden, dass digitale Karten und deren Augmented Reality nicht rein visuell sind, sind sie doch Teil unserer Umwelt, da man sich mit ihnen und in ihnen bewegt und sie somit körperlich erfährt (Farman 2012; Pink und Hjorth 2012). In Frage standen auch der erkenntnistheoretische Wert der Beziehungen zwischen dem Objekt und seiner Darstellung und die Funktion der für die Repräsentation genutzten Algorithmen sowie die soziokulturellen Konsequenzen und sozialen Funktionen der entstehenden algorithmischen Regime.

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Die dem visual algorithmic turn innewohnende „Logik“ impliziert weitreichende Konsequenzen für die Visualisierung und das Verhältnis von Bild und Realität, die sich einerseits auf den epistemologischen Wert der Beziehungen zwischen Objekt und Repräsentation und auf die Funktion der Algorithmen beziehen. Andererseits geht es um die soziokulturellen Konsequenzen des algorithmischen, visuellen Regimes und seiner sozialen Funktionen und den damit verbundenen Wissenspolitiken. Beispielsweise entsteht durch AR eine hybride visuelle Situation, da die BetrachterInnen gleichzeitig im realen Ort sind und diesen sehen, diese (An-)Sicht aber durch die mit der digitalen Technologie verbundenen Algorithmen „erweitert“ (oder auch eingeschränkt) wird. Inwiefern verändern sich das Verhältnis von Objekt und Subjekt und das Sehen in der Augmented Reality? Dies sind Fragen, denen sich die Visuelle Kommunikationsforschung zukünftig vermehrt zuwenden sollte, um zu ergründen, ob hier überzeugend von einem neuen visuellen Regime gesprochen werden kann. Insgesamt hat die vorliegende Auseinandersetzung mit lokativen Medien und Geomedien gezeigt, dass das Visuelle zukünftig vermehrt Berücksichtigung finden sollte. Nimmt man den iconic oder pictorial turn und die zunehmende Forderung nach einer adäquaten Auseinandersetzung mit dem visuellen Modus und dem Bild zugesprochenen Funktionen ernst, ist es für die Analyse der lokativen Medien und Geomedien unabdingbar, einen stärkeren Fokus auf visuelle Komponenten zu legen. Dies gilt sowohl in Bezug auf visuelle Inhalte, deren Betrachtung sich nicht, wie bisher oft üblich, auf die Analyse von Metadaten beschränken sollte, sowie in Bezug auf die Nutzung, Nutzungspraktiken und Wirkungen der visuellen Aspekte von Geomedien.

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Teil III Methoden der Visuellen Kommunikationsforschung

Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung Patrick Rössler und Konrad Dussel

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Bilder als Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodik in der historischen Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Interdisziplinäre Blicke auf historische Medienbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Visuelle Darstellungen gewinnen als Quellenmaterial auch für die historische Forschung in der Geschichts- und Kommunikationswissenschaft an Bedeutung. Der Beitrag zeigt anhand beispielhafter Aspekte und Studien auf, wie sich dieser Quellenwert konkret niederschlägt, welche Formen des Zugriffs auf Bilder (auch methodisch) zu unterscheiden sind, und wie sich Schnittstellen zur interdisziplinären Forschung ergeben. Dabei wird auch der vermeintliche Wahrheitsgehalt von visuellen Informationen problematisiert und auf die trotz Digitalisierung oft eingeschränkte Zugänglichkeit von Bildquellen hingewiesen. Schlüsselwörter

Fotografie · Illustrierte Zeitschriften · Bildjournalismus · Authentizität · Propaganda

P. Rössler (*) Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Dussel (*) Seminar für Neuere Geschichte, Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_24

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1

P. Rössler und K. Dussel

Einleitung

Neben den über die Jahrhunderte hinweg überlieferten Texten gehören auch Bilder – im weitesten Sinn – zu den symbolischen Wirklichkeitsrepräsentationen, die der Forschung wichtige Aufschlüsse über Sachverhalte geben können, die einer unmittelbaren Beobachtung nicht mehr zugänglich sind. Anders als Texte präsentieren sie ihre Botschaft ohne Code (Barthes 1961, S. 128), weshalb ihre Dechiffrierung komplex ist, meist eine Vielzahl von Interpretationen zulässt (siehe auch die Beiträge von Bucher und von Pfurtscheller in diesem Band) und gerade im Rückblick einer sorgfältigen Kontextualisierung bedarf. Der vorliegende Beitrag widmet sich speziell diesem Quellenwert von Bildern für historische Fragestellungen und ist damit zwischen den Disziplinen Geschichts- und Kommunikationswissenschaft angesiedelt. In einer disziplinübergreifenden Betrachtung zeigt er die Potenziale, aber auch die Grenzen einer retrospektiven Auswertung von visuell codierten Informationen auf. Auf die Vielfalt der methodischen Ansätze zur Bildinterpretation braucht hier nicht näher eingegangen zu werden (siehe hierzu Petersen und Schwender 2011). Eine Aufgabenteilung liegt jedoch nahe: Zur Deutung einzelner Bilder und Bildkorpora geringen Umfangs eignen sich eher qualitative Methoden, wie sie die Kunstgeschichte, traditionelle Hermeneutik modifizierend, entwickelt hat; bei großen Bildmengen, wo es um die Untersuchung von hunderten oder tausenden von Bildern geht, müssen dagegen primär inhaltsanalytische Verfahren zum Einsatz kommen, sowohl in ihrer interpretativen wie in ihrer standardisierten Variante (Rössler 2010, bes. S. 84–89). Die daraus zu ziehenden Inferenzschlüsse beziehen sich einerseits auf die soziale Situation in der jeweiligen Gegenwart der Bildverwendung – das bevorzugte Interesse in der Geschichtswissenschaft – und andererseits auf die Intentionen der KommunikatorInnen, seien es JournalistInnen oder die redaktionelle Linie ganzer Medienorgane (ein zusätzliches Interesse der Mediengeschichtsschreibung). Beide Disziplinen treffen sich im Rückgriff auf Bilder in der Medienberichterstattung der Epoche: Für die Kommunikationswissenschaft stellen sie das quasi „natürliche“ Materialobjekt dar, für HistorikerInnen handelt es sich um Quellen, denen aufgrund ihrer weiten Verbreitung und institutionalisierten wie professionellen Selektion eine Relevanz im zeitgenössischen Diskurs unterstellt werden kann. Außerdem besitzt die journalistische Bildverwendung (im Gegensatz etwa zu Bildern im künstlerischen Schaffensprozess oder zu Schnappschüssen aus der privaten Lebensführung, siehe hierzu etwa den Beitrag von Autenrieth in diesem Band) den unabweisbaren Vorteil, dass sie in der Regel zumindest eine Deutung des gezeigten Sachverhalts anbietet und damit die angesprochene Ambiguität reduziert (siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Im Folgenden konzentrieren wir uns daher auf den Quellenwert von Medienbildern in journalistischen Darbietungsformen (siehe auch den Beitrag von Grittmann in diesem Band) und stellen zunächst einige grundsätzliche Positionen dar (Abschn. 2), bevor wir uns näher den unterschiedlichen methodischen Zugängen in der historischen Kommunikationsforschung widmen (Abschn. 3). Dabei stehen weniger die Details einzelner Analyseverfahren im Vordergrund, sondern vielmehr

Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung

493

die zentralen Zugänge zum Feld, die über eine Betrachtung der medialen Kontexte (3.2), des regionalen Kommunikationsraums (3.3), der individuellen BildurheberInnen und ihren Organisationen (3.4) oder über einen spezifischen Ereigniszusammenhang (3.5) erfolgen können. Unsere Betrachtungen schließen mit zwei exemplarischen Fallstudien zur Nutzung journalistischer Bildquellen in Nachbardisziplinen der Mediengeschichte (Abschn. 4), namentlich der klassischen Geschichtswissenschaft und der Kunstgeschichte, um beispielhaft einige Schnittstellen für übergreifende Forschungszusammenhänge aufzuzeigen.

2

Bilder als Quellen

Die heute schon fast selbstverständliche Betrachtung von Bildern als Quellen für die Kommunikationsforschung verdeckt, dass dies vor noch nicht allzu langer Zeit ganz und gar nicht üblich war. Und als noch viel schwieriger erwies sich der Weg, der in der Geschichtswissenschaft zurückgelegt werden musste (Paul 2009). Neben ganz grundsätzlichen Fragen der Aussagekraft von Bildern hatten, durch den beabsichtigten Inferenzschluss auf die Situation bedingt, eher pragmatische Einwände gestanden: Wie war es um ihre Authentizität bestellt? War nicht Fälschungen Tür und Tor geöffnet? Handelte es sich nicht im schlimmsten Fall um bloße Propaganda?

2.1

Der Quellenwert von Bildern in der Geschichtswissenschaft

Die seit dem 16. Jahrhundert zum Teil sehr intensive Beschäftigung mit Bildern vor allem auf Münzen und Gemälden (Haskell 1993) wurde fast ganz aufgegeben, als sich im Laufe des 19. Jahrhunderts – mit der Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaft – auch ihre Konzentration auf eine eng gefasste politische Geschichte durchsetzte. Bildquellen lieferten für deren Erkenntnisziele kaum über Texte hinausgehende Informationen. Dies änderte sich auch nicht, als seit dem Zweiten Weltkrieg mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gewichtige alternative Paradigmen Verbreitung fanden. Erst als bis dahin völlig randständige, nun aber methodologisch viel elaboriertere Strömungen von Kulturgeschichte an Bedeutung gewannen, war Platz für eine Neubewertung von Bildern als historischer Quelle (Burke 2010). Selbstverständlich hatten Bilder für die Beantwortung vergleichsweise einfacher Fragen schon früh eine große Rolle gespielt. Konkrete Vorstellungen von der materiellen Kultur vergangener Zeiten waren (und sind) in vielerlei Hinsicht nur durch Bilder zu gewinnen: über Kleidung und Möbel, Werkzeuge und Gerätschaften an sich und in ihrer Verwendung, um nur ein paar Stichworte zu nennen (siehe auch als ganz besondere Quelle: Zill 1979). Wie bei den kulturgeschichtlichen Ansätzen allgemein, so waren auch bei den an Bildern interessierten Forschungen Historiker der Frühen Neuzeit bahnbrechend. Das alte Thema der Reformationsgeschichte, das bereits durch den sozialgeschichtlichen Konfessionalisierungs-Ansatz aktualisiert worden war, erhielt

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durch umfassende bildgeschichtliche Analysen weitere Dynamik. Erleichtert wurden diese dadurch, dass die einerseits im Original schwer zugänglichen, andererseits aber doch in ihrer Zahl vergleichsweise überschaubaren Quellen in umfangreichen Dokumentationen veröffentlicht wurden (siehe auch Paas 1985–2011, bislang elf Bände; Coupe 1966/67; Schilling 1990; Oelke 1992; Harms und Schilling 2008). Die Einsicht, dass Bilder „nicht so sehr soziale Wirklichkeit als vielmehr soziale Illusionen“ dokumentieren (Burke 2010, S. 31) eröffnet ganz neue Themenfelder, auch für eine nicht allzu eng verstandene Politikgeschichte. Bilder werden hervorragende Quellen zur Rekonstruktion von Ideologie: Wie werden Herrscher dargestellt? Wie sieht man das Eigene, wie das Fremde – sei es als Klasse, Volk oder Nation? Auch Meilensteine der politischen Geschichte konnten auf diese Weise ganz neu betrachtet werden (Vovelle 1986). Zu den wichtigsten Feldern, auf denen die Arbeit mit Bildern als Quellen fruchtbar gemacht wurde, zählen jedoch mentalitätsgeschichtliche Studien, die sich immer wieder vor allem mit ganz existenziellen Themen beschäftigen – besonders Krieg und Tod (siehe auch Ariés 1977, 1983; Paul 2004, 2005). Bei der Erforschung der Kriegsbildberichterstattung, die im 20. Jahrhundert eine ganz neue Bedeutungsqualität erlangte (siehe auch den Beitrag von Müller und Knieper in diesem Band), sollte allerdings neben der Untersuchung der Prozesse der Bildvermittlungskontrolle die eigentliche Bildanalyse nicht vernachlässigt werden. Der „Übergang der Kriegsberichterstattung aus dem Zeitalter der Zensur in das der Desinformation durch Überthematisierung“, der mit dem ersten Irakkrieg 1991 begann, ist mittlerweile klar herausgearbeitet (Paul 2005, S. 19). Weniger genau wurden die Bildinhalte und nur ansatzweise deren Rezeption untersucht. Unübersehbar bleibt jedoch, trotz aller Öffnung gegenüber Bildern als Quellengattung, eine besondere Vorliebe gerade deutscher HistorikerInnen für künstlerische Bilder – vor allem Gemälde (Roeck 2004; Kotte 2014). Das wird zum einen durch die Quellenlage bedingt: Bis ins 19. Jahrhundert hinein bilden sie (zusammen mit Grafik) tatsächlich das einzige vorhandene Material. Zum anderen ist es gerade das Historiengemälde (Abb. 1), das sich nicht nur unter den Zeitgenossen besonderer Wertschätzung erfreute, sondern auch in der Geschichtswissenschaft auf besonderes Interesse stößt (Dussel 2004). Das Gebrauchsbild in Form von Fotografien, wenn möglich noch von mehr oder minder namenloser FotografInnen, hat es daneben schwer. Auch unter HistorikerInnen gilt das 20. Jahrhundert zwar mittlerweile als „Jahrhundert der Bilder“ (Paul 2008/09) und an der Betrachtung massenmedial verbreiteter Grafiken und Fotografien führt kein Weg mehr vorbei, doch zunächst standen die „Schlüsselbilder“, die strahlenden Ikonen der Bildwelt, im Vordergrund der Aufmerksamkeit (Paul 2008/09, 2011). Mittlerweile weitet aber auch Pionier Gerhard Paul die Perspektive und bezieht ganz alltägliche Bilder in seine Analysen ein (Paul 2016). Die Frage ist allerdings noch nicht zu beantworten, inwieweit seine Anregungen tatsächlich in Historikerkreisen aufgegriffen und neben die Text- tatsächlich auch in breiterem Maße die Bildanalyse treten wird.

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Abb. 1 Die offizielle Ansichtskarte zum 13. Deutschen Turnfest 1923 in München macht nicht gerade nebenbei augenfällig, woran es Deutschland für national denkende Deutsche damals am meisten mangelte: an einer guten Rüstung. (Quelle: Archiv Konrad Dussel)

2.2

Authentizität und Manipulation: Welchen Wert hat die Quelle?

Eine Grundfrage bei der Befassung mit journalistischen Bildern berührt den tatsächlichen oder vermeintlichen Wahrheitsgehalt des gezeigten Wirklichkeitsausschnitts (siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Solange die Presseillustration auf die Verwendung künstlerischer Produkte beschränkt war, stellte sich dieses Problem weniger, denn der einzelne Holzschnitt oder Kupferstich konnte die Handschrift seines Schöpfers nicht leugnen und präsentierte sich damit schon auf der Materialebene als eine mögliche Realitätsdeutung von vielen. Erst die Fotografie mit ihren Möglichkeiten, den Moment auf die Platte (und später auf den Rollfilm) zu bannen, konnte den Anspruch erheben, das „wahre“ Geschehen zu vermitteln (Weise 1991, S. 5). Zwar wurde die naive Vorstellung, bei dem KameraAuge handele es sich um einen neutralen Zeitzeugen und die Unbestechlichkeit des Objektivs könne zu einer neuen „Hygiene des Optischen“ (Moholy-Nagy 1925, S. 36) beitragen, schon bald wieder verworfen. Die Wahl der Perspektive und des Bildausschnitts, des Moments aus dem dynamischen Geschehen und die Eingriffe bei der erforderlichen Weiterverarbeitung (Entwicklung, Fixierung, Vergrößerung), rief aber nicht nur die übliche Kulturkritik auf den Plan (siehe auch Kracauer 1927). Auch dem als „Photoamateure“ mit diesen Phänomenen vertrauten Publikum war die Subjektivität selbst der fotografischen Repräsentationen geläufig: Man lernte sogar die spezifische „Handschrift“ berühmter Bildreporter wie Otto Umbehr (Molderings 1996) oder Martin Munkacsi (Gundlach 2005) zu schätzen. Der Faszination des fotografischen Mediums tat dies freilich kaum Abbruch, denn schließlich erhielt man über das Medium Zugang zu bislang verborgenen

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Realitätsausschnitten wie Gerichtssälen oder diplomatischen Verhandlungen (z. B. durch die verborgene Kamera von Erich Salomon 1931), Einblicke in das nächtliche Treiben in den Großstädten (z. B. Brassaï 1933) oder Eindrücke aus exotischen Welten (etwa in den Reisereportagen von Wolfgang Weber für die Berliner Illustrirte Zeitung; Eskildsen 2004). An die Stelle des Wahrheitsversprechens trat das der Authentizität des Gezeigten. Die Grenzen für den subjektiven Eingriff von BildurheberInnen und Redaktionen in die Bildgestaltung ziehen die medienethischen Diskurse zumeist dort, wo das abgelichtete Motiv durch Retuschen in seiner Aussage verändert wird: Anders als bei der Selektion von Standpunkt, Moment und Ausschnitt wird hier der Ablauf des Geschehens nachträglich abgewandelt (Reiche 1998, S. 14–17). In der strategischen Kommunikation von Werbung und PR weit verbreitet, verbietet sich dies für eine Bildberichterstattung mit journalistischem Anspruch. Dennoch existiert eine Reihe prominenter Beispiele, in denen Bildmanipulationen vorgenommen und verbreitet wurden; am offensichtlichsten vermutlich in der sowjetischen Zensurpraxis unter Stalin (Weber 1998; King 1997). Aufgrund der ideologischen Säuberungsaktionen, die auch vor Folter und Mord nicht zurückschreckten, schien es sogar geboten, aus bereits veröffentlichten Fotos nicht mehr genehme Personen zu entfernen. Bereits legendär ist das Verschwinden Trotzkis aus einem in der sowjetischen Propaganda weit verbreiteten Foto der Leninrede vor dem Bolschoi-Theater am 5. Mai 1920. Allerdings verdeutlichten diese Fälle auch, wie der Vorwurf der Bildmanipulation bis heute selbst wieder zu propagandistischen Zwecken eingesetzt werden kann (Hielscher 2015 mit Kritik zu Becker von Sothen 2013). Die Authentizität eines Fotos bestimmt dessen Quellenwert maßgeblich, aber dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein manipuliertes Bild wertlos ist. Sowohl für die Geschichts- wie für die Kommunikationswissenschaft können solche Fälle wichtige Rückschlüsse ermöglichen – auf die politischen Verhältnisse zu einer bestimmten Zeit im Allgemeinen; zur Rolle von Medien, zur Zensurpraxis und zur (staatlichen) Einflussnahme im Speziellen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Bildfälschungen als solche auch erkannt werden (was mitunter Jahre dauern kann). Während sich dies im Falle einer nachträglichen Manipulation bereits publizierter Bilder vergleichsweise einfach gestaltet und im analogen Zeitalter die Veränderung des Materials noch erhebliche Fertigkeiten verlangte, scheint dies bei digitalen Vorlagen ein Kinderspiel, das selbst gängige Consumer-Software ermöglicht. Als Korrektiv fungiert hier ironischerweise die oft beklagte Ubiquität von Fotos im Zeitalter der Smartphones und Digitalkameras: Wenn dasselbe Ereignis vielfach dokumentiert wird, erschwert dies die ungestrafte Manipulation einer einzelnen Bildvorlage – wie der gescheiterte Versuch einer Thüringer Tageszeitung belegt, aus einem Foto einer politischen Kundgebung ein missliebiges Plakat zu entfernen (Haus der Geschichte 1998, S. 23).

2.3

Die Macht der Bilder: klassische Propagandaforschung

Aufgrund der immer wieder behaupteten „Macht der Bilder“ (Goodman und Hoffmann 2015) avancierten diese schnell zu einem bevorzugten Stilmittel der Agitation,

Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung

497

weshalb eine wichtige Wurzel für (medien-)historische Bildanalysen in der frühen Propagandaforschung liegt. Propaganda sei dabei verstanden als „kommunikative Technik zur Erzeugung Wahrheit reklamierender, gleichwohl nicht hinterfragbarer Versprechen mit generalisierender Struktur“ (Merten 2000, S. 143), für die das Bild ein mächtiges Werkzeug darstellt. Wenn dort die eben beschriebenen Bildfälschungen besonders häufig anzutreffen sind, bedeutet dies im Umkehrschluss aber keineswegs, dass Propaganda immer (und noch nicht einmal regelmäßig) auf gefälschte Vorlagen zurückgreifen würde. Vielmehr geht es um den zweckgerichteten Einsatz von Bildern in der strategischen Kommunikation, wobei der Fotomontage (etwa in den antifaschistischen Arbeiten John Heartfields für die Arbeiter-Illustrierte Zeitung) nochmals eine spezielle Bedeutung zukommt (z. B. Evans 1992). Die wichtige Funktion von Bildern lässt sich besonders plastisch am Beispiel der Auslandspropaganda herausarbeiten, da zur Überwindung kultureller und Sprachbarrieren gerne die vermeintlich für sich selbst sprechenden visuellen Darstellungsformen verwendet wurden, die kein Textverständnis voraussetzten. Schon 1915 publizierte Avenarius seine „Bemerkungen zur Technik der Völkerverhetzung“ unter dem Titel „Das Bild als Verleumder“. Das heute weitgehend in Vergessenheit geratene Bändchen vergleicht Illustrationen in ihrem ursprünglichen Kontext mit deren propagandistischer Verwendung in Zeitungen und Zeitschriften der Alliierten im Ersten Weltkrieg. Ziel dieser Publikation war die Denunziation französischer und britischer Medien; gleichzeitig typologisierte der Verfasser bereits verschiedene Strategien, von der „Fälschung bildlicher Urkunden“ über „freie Illustrationen“, die „offene und verschleierte Karikatur“ und „Fälschungen des Ausdrucks“ (Avenarius 1915, S. 4–14). Die angeblichen Konsequenzen dieser Praktiken für den unwissenden Leser bzw. die unwissende Leserin wurden im zeitgenössischen Duktus durchaus drastisch geschildert: „Das Weltbild ist für Millionen Menschen im Sinne des Irrenarztes verrückt. Millionen [. . .] kommen bei der Deutung der Dinge von der fixen Idee der teutonischen Niederträchtigkeit nicht los“ (Avenarius 1915, S. 18). Mit der zunehmenden Verbreitungsmöglichkeit von Fotografien war seinem Katalog eine weitere Dimension hinzuzufügen, deren propagandistisches Potenzial sich beispielsweise anhand der Auslandspropaganda-Illustrierten USSR im Bau und Freude und Arbeit in den 1930er-Jahren nachzeichnen lässt (Rössler 2012). Gerade die Propaganda der Nationalsozialisten, die dafür ja sogar ein eigenes Ministerium eingerichtet hatten, fand schon früh intensive Beachtung. Je genauer jedoch ihre Bemühungen um die Förderung systemstabilisierender Inhalte und die größtmögliche Unterdrückung alles Systemgefährdenden untersucht wurden, desto deutlicher wurde, dass die alten Ansätze von Propaganda als Verführung, die im Prinzip die nationalsozialistischen Intentionen – wenn auch mit negativem Vorzeichen – bekräftigten, durch komplexere Modelle abgelöst werden mussten. Vor allem Filmanalysen zeigten, dass ideologiekritische Ansätze ins Leere laufen mussten, sobald auch die Rezeption der Produktion einbezogen wurde (Welch 1983). Derartige Einsichten mussten sich auch einstellen, als die zeitliche Perspektive geweitet wurde. An vielen Beispielen konnte gezeigt werden, dass einerseits die Regierungen immer mehr Aufwand in die Lenkung und Unterdrückung von Information investierten, dass andererseits aber die Grenzen ihres Bemühens vor allem dort offenkun-

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P. Rössler und K. Dussel

dig wurden, wo sie mit tiefverwurzelten Vorstellungen der Regierten kollidierten (Daniel und Siemann 1994; Welch 2015). Die gerade von den Propagandisten selbst behauptete „Macht der Bilder“ erfuhr so eine deutliche Relativierung.

3

Methodik in der historischen Kommunikationsforschung

Die Bildquellen sprudeln so reichlich, dass die Bilderfluten immer höher steigen. Was sich im 19. Jahrhundert noch einigermaßen überschauen lässt, ist im 20. Jahrhundert zu einem endlosen Meer geworden. Dessen Erforschung bedarf besonderer Methoden, und die Erträge hängen davon ab, an welchen Stellen welche Art von Netzen ausgeworfen wird. Um die Methoden im engeren Sinne – die Netze – soll es hier nicht gehen; dies ist in anderen Kapiteln nachzulesen. Stattdessen sind die Fangplätze zu thematisieren, wozu es zunächst einiger grundsätzlicher Überlegungen bedarf. Die weiteren Abschnitte thematisieren anschließend verschiedene Zugriffsmöglichkeiten, die jeweils ihrer eigenen Logik folgen.

3.1

Grundsätzliche Problemfelder: Korpuskonstruktion und Stichprobenziehung

Von der Forschungslogik her gesehen ist nicht die Frage der anzuwendenden Methode die primäre, sondern die nach dem konkreten Forschungsgegenstand, seinem Umfang und letztlich seiner Zugänglichkeit. Je nach Bildmedium resultieren hieraus bereits unterschiedlichste Problemfelder: Es ist leicht, einen grundsätzlichen Überblick über die Fülle der in der Neuzeit vorhandenen Bildmedien zu geben (Brocks 2012). Aber in welcher Form und in welcher Vollständigkeit sind sie zugänglich? Auf ausgefallenere Gattungen wie etwa Bildpostkarten (Brocks 2008) oder Buchumschläge (Holstein 2005) kann immer nur in Form von ausschnitthaften Sammlungen zugegriffen werden, deren Aussagekraft dann eigens zu reflektieren ist. Gängigere Medien wie Zeitungen, illustrierte Zeitungsbeilagen oder illustrierte Zeitschriften sind zumindest theoretisch leichter als in sich geschlossene Korpora zu betrachten. In der Praxis zeigen sich jedoch auch hier schon regelmäßig mehr oder minder gravierende Probleme. Eine vollständige Übersicht, beispielsweise über alle während der Weimarer Republik erschienenen Illustrierten, existiert nicht (vgl. die Ansätze bei Marckwardt 1982), ungeachtet des theoretischen Problems der Abgrenzung, was überhaupt unter einer „Illustrierten“ zu verstehen ist. Noch viel schwerwiegender erscheint aber das praktische Problem des fehlenden Quellenmaterials: In vielen Fällen kann keine sachgerechte Entscheidung getroffen werden, weil es an Heften zur konkreten Autopsie fehlt. Die Überlieferung des sensibel handzuhabenden Materials ist nicht nur aufgrund von Kriegsschäden lückenhaft; schon in ihrer Zeit wurden Illustrierte mangels intellektueller Relevanz nur selten von wissenschaftlichen Bibliotheken gesammelt, und falls doch, dann oft ohne Umschläge oder Werbeseiten und beschnitten gebunden.

Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung

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Es ist deshalb nahezu zwangsläufig, dass immer wieder auf dieselben Vertreter einer Gattung zurückgegriffen werden muss. Immerhin: Mit Beispielen wie der Berliner Illustrirten Zeitung, der Münchner Illustrierten Presse oder der Woche kann man – gemessen an der Auflagenhöhe – ein breites Segment des Illustrierten-Marktes der Weimarer Republik abdecken und aufgrund ihrer weiten Verbreitung sind deren Hefte auch relativ leicht zugänglich. Doch sofort zeigt sich das nächste Problem, denn schon jede Illustrierte für sich stellt im Laufe der Jahre und Jahrzehnte Bildmaterial in erheblichem Umfang zur Verfügung. Häufig wird daraus nach bestimmten Kriterien ausgewählt: Es interessiert die Arbeit eines bestimmten Fotografen bzw. einer bestimmten Fotografin oder die Berichterstattung über ein bestimmtes Ereignis (s. u.). Daneben muss sich das Interesse aber auch auf die publizierten Bildkorpora insgesamt richten, auf ihre innere Strukturierung und deren Veränderungen im Laufe der Zeit. Dann ist Vollständigkeit im Prinzip ausgeschlossen, weil die Zahl der Einzelbilder schnell in die Hunderttausende geht. Unverzichtbar ist in diesem Fall eine Stichprobenziehung nach statistischen Kriterien. Es hängt vom Thema ab, ob man sich für ein systematisch gestreutes Sample – jedes x-te Heft – oder für die blockhafte Auswahl einer Klumpenstichprobe mit Vollerhebung – etwa drei aufeinanderfolgende Wochen in einem bestimmten Monat – entscheidet (Rössler 2010, S. 59). Im Falle von Zeitungen kann auch auf die häufig angewendete, aber nicht unumstrittene Bildung künstlicher Wochen (Jandura et al. 2005) zurückgegriffen werden – mit einem Montag aus dieser, einem Dienstag aus einer anderen Woche usw. Beim Thema Zeitungsbilder darf ein spezifisches Problem nicht übersehen werden: Anders als im Falle der Illustrierten gibt es mit dem Dortmunder Institut für Zeitungsforschung zumindest einen Sammlungsort, der in großer Zahl Zeitungen aufbewahrt hat (und noch immer zusammenträgt). Über das mit ihm verbundene Mikrofilmarchiv der deutschsprachigen Presse ist eine Fülle von Zeitungen vergleichsweise leicht zugänglich gemacht worden. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Mikrofilme primär der Texterhaltung und -reproduktion gewidmet sind. Die Zeitungsbilder wurden hier nur gleichsam nebenbei miterfasst. Nimmt man hinzu, dass die Qualität des Zeitungsbilderdrucks lange Zeit äußerst beschränkt war, ist das auf den Mikrofilmen Wiedergegebene häufig kaum noch zu identifizieren. Genauere inhaltliche Analysen sind dann nur noch begrenzt möglich. Abhilfe verspricht auch hier die Digitalisierung, wenngleich sich die Initiativen deutscher Bibliotheken und Forschungseinrichtungen bisher auf traditionelle Quellenbestände des Mittelalters und der Neuzeit konzentrieren (siehe auch http://www. europeana.eu). Demgegenüber sind sowohl neuere Quellen aus dem 20. Jahrhundert als auch kommunikationsgeschichtlich relevante Ressourcen wie Periodika und frühe Massenmedien unterrepräsentiert. Einzelne Ausnahmen wie die digitalen Plattformen für die jüdische Massenpresse (http://www.compactmemory.de), für Satireblätter, wie die Fliegenden Blätter, den Wahren Jacob oder den Simplicissimus (www. simplicissimus.com) oder die kulturhistorisch interessanten Jahrgänge der Jugend (http://www.dla-marbach.de) bilden ebenso wie das Portal für historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften (http://anno.onb.ac.at) nur die Ausnahme von der Regel. Ein breiteres Sample an aktueller Publizistik hält die Website der Staatsbibliothek Berlin bereit (http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de), wobei der Schwerpunkt auf

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der tagesaktuellen Presse (und insbesondere den Tageszeitungen aus dem Großraum Berlin) liegt. Im Kontrast dazu umfasst das von der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe vorbildlich digitalisierte Korpus nur badische Zeitungen, dafür aber jeweils in großer Vollständigkeit (https://digital.blb-karlsruhe.de/blb/zeitungen/topic/view/ 2965491). Für Bildquellen deutlich interessanter ist das frei zugängliche Portal der SLUB Dresden zu illustrierten Zeitschriften der Weimarer Republik, darunter die wichtigsten Vertreter der Magazinpresse (www.illustrierte-presse.de). Für diese aus einem DFG-Projekt hervorgegangene Ressource liegt ein Bericht vor, der die technischen und inhaltlichen Hintergründe thematisiert und eine exemplarische Forschungsanwendung benennt (Rössler et al. 2012). Bislang kaum aufgenommen wurde die Beobachtung, dass die für die Digitalisierung erforderliche Verschlagwortung, die meist auch für Bildelemente erfolgt, in einer Reihe von Merkmalen durchaus Ähnlichkeit mit der Codierung im Rahmen einer standardisierten Inhaltsanalyse besitzt. Eine Reihe der im Rahmen der Erschließung von Digitalisaten zwingend erhobenen Metadaten können üblicherweise als formale Kategorien einer Inhaltsanalyse gelten. Die Verwendung dieser Metadaten, sofern klug geplant, kann die Durchführung von Bildanalysen gerade beim Screening eines Mediensamples oder der Codierung formaler Merkmale erheblich entlasten (Rössler 2014, S. 170–171).

3.2

Das veröffentlichte Bild und sein medialer Kontext

Die unmittelbare Bildentstehung – sei es als Grafik oder als Foto – ist ein vergleichsweise komplexer Prozess, bildet letztlich aber nur die erste Etappe auf dem langen Weg zur Veröffentlichung. So wichtig dessen Untersuchung für vielerlei Fragen auch ist, das am Ende veröffentlichte Bild bildet einen Untersuchungsgegenstand ganz eigener Art. Die Summe der in einer Zeitung oder Zeitschrift veröffentlichten Bilder spiegelt eine publizistische Position ebenso wie ihre Texte – auch wenn beide nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen. Es ist ein Irrtum, von vornherein anzunehmen, dass Bilder genau dasselbe „sagen“ würden wie die Texte, die sie illustrieren, nur eben in einem anderen Medium. Die „ikonische Differenz“ (Böhm 2011) darf nicht übersehen werden. Der Zugriff über einzelne Medienorgane hat für die systematische Nutzung von Bildern für die historische Kommunikationsforschung ganz besondere Bedeutung. Ganz gleich, ob das Organ stichprobenartig oder unter bestimmten Gesichtspunkten vollständig untersucht wird – es ist möglich, von einem genau umrissenen Publikationskontext aus nicht nur Rückschlüsse auf mögliche Kommunikatorintentionen, sondern auch auf Rezeptionsinteressen zu ziehen. Auf diesem fast unbegrenzten Feld sind bislang nur wenige Aspekte an einzelnen Beispielen untersucht worden. Sie zeigen jedoch schon die Möglichkeiten des Ansatzes. Vergleichsweise naheliegend ist die Untersuchung des propagandistischen Gebrauchs von Bildern zur Kriegsvorbereitung durch die Nationalsozialisten am Beispiel von zwei der auflagenstärksten Illustrierten während des NS-Staats (Unger 1984) und dem internationalen Vergleich von Bild-Propagandapraktiken während des Ersten Weltkriegs (Eisermann 2000). Aber auch die Analyse von eher verdeckten mentalitätsgeschichtlichen Positionen

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wie den in Bildern greifbaren Aspekten bürgerlichen Lebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Gartenlaube, einer der wichtigsten Familienzeitschriften jener Zeit (Wildmeister 1998) – und speziell hinsichtlich der bürgerlichen Töchtererziehung anhand von Abbildungen in verschiedenen Zeitschriften der Epoche (Otto 1990) – bringt genauso neue Einsichten wie die Frage nach dem Frauenbild in der eher konservativen Illustrierten Die Woche (Schlingmann 2007). Ein laufendes Forschungsvorhaben der Verfasser („Die Visualisierung des Politischen in deutschen Illustrierten 1905 bis 1945“, Dussel 2018) interessiert sich für die Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der visuellen politischen Kommunikation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da bislang nicht bekannt ist, in welchem Umfang und in welcher Form sich das Politische damals im durch Illustrierte, Zeitungen und illustrierte Zeitungsbeilagen massenhaft verbreiteten Bild zeigte, vergleicht das Projekt konkrete Bildangebote aus fünf verschiedenen historischen Phasen in zweierlei Hinsicht: Zum einen zwischen den drei politischen Systemen der konstitutionellen Monarchie des späten Kaiserreichs, der Demokratie der Weimarer Republik (siehe Abb. 2) und der totalitären Diktatur des Nationalsozialismus und, zum anderen, zwischen Kriegs- und Friedenszeiten in Kaiserreich und Diktatur und zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg. Aufbauend auf dem Ansatz des Visual Framing (z. B. Geise und Lobinger 2013) erlaubt eine standardisierte Inhaltsanalyse von rund 30.000 Bildern in drei Illustrierten aus dem Zeitraum von 1905 bis 1945 nicht nur deskriptive Aussagen über die Bildverwendung im Zeitverlauf, sondern auch die Ermittlung visueller Frames und die Bestimmung von Vielfaltsmaßen für die jeweiligen Epochen. Die dazu herangezogenen Medienorgane von Kontinuität und nennenswerter Publikumswirksamkeit umfassen zunächst die Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ, 1891–1945), die mit einer Auflage von zuweilen bis fast zwei Millionen Exemplaren einsamer Marktführer innerhalb der deutschen Presse war. Für die NS-Jahre erscheint die Berücksichtigung des seit 1926 im Eher-Verlag erscheinenden Illustrierten Beobachters (IB, 1926–1945) zwingend geboten, der mit seiner Druckauflage (1936) von fast 700.000 Exemplaren ein publizistisches Gegengewicht zur BIZ darstellte. Das Sample komplettiert die im Scherl-Verlag erschienene, reichsweit vertriebene Die Woche – Moderne illustrierte Zeitschrift (DW, 1899–1944) als Konkurrenzprodukt zur BIZ. Um erste Indizien zur Bildberichterstattung in der Illustriertenpresse zu erhalten, wurden in einer Vorstudie insgesamt fast 1.700 Abbildungen codiert; für die Jahre 1910, 1916, 1924 und 1930 aus BIZ und DW, sowie für die Jahre 1936 und 1942 aus BIZ und IB. Die Ergebnisse verdeutlichen zunächst markante Unterschiede zwischen den Bilderangeboten der drei Publikumsmedien, und außerdem wichtige Veränderungen während der NS-Jahre, die jenseits der gängigen Phasengliederung Vorkriegszeit vs. Kriegszeit liegen.

3.3

Die Region als Kommunikationsraum

Der Vielfalt gerade des deutschen Pressewesens wird man nur begrenzt gerecht, wenn man sich auf einzelne Organe beschränkt, und mögen sie auch noch so auflagen-

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Abb. 2 Vor der Schlüsselwahl um das Reichspräsidentenamt am 26. April 1925 stellte die damals auflagenstärkste deutsche Illustrierte, die „Berliner Illustrirte Zeitung“, die beiden Alternativen auf sehr charakteristische Weise gegeneinander: auf der einen Seite Wilhelm Marx, der zivile, aber auch biedere Reichskanzler der Jahre 1923/24, auf der anderen der alte Militär Paul von Hindenburg, der weniger als Verlierer des Ersten Weltkriegs, denn als Sieger von Tannenberg (über die russische Armee) in Erinnerung geblieben war. (Quelle: „Berliner Illustrirte Zeitung“, Titelseite, 26. April 1925)

Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung

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stark sein. Vor allem die Tageszeitungen weisen nach wie vor eine massive regionale Prägung auf. Wie bei den Texten so genügt es auch bei den Bildern nicht, sich auf die immer gleichen Beispiele zu beschränken, für die Bundesrepublik etwa Frankfurter Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung und Welt. Was die Bildberichterstattung angeht, sollte zumindest verstärkt auch jene Zeitung einbezogen werden, die das Bild zu ihrem Titel gemacht hat. Dasselbe gilt mit leichten Abwandlungen selbstverständlich auch für frühere Perioden. Nimmt man die regionale Rückbindung der deutschen Tagespresse ernst, so sind auch verstärkt Untersuchungen zu einzelnen Regionen zu fordern. Forschungspraktisch wird dies auch dadurch unterstützt, dass von den einschlägigen Institutionen vielerorts neben den wenigen allgemein verbreiteten Zeitungen nur die jeweils in der eigenen Region verbreiteten Organe gesammelt werden. Vor diesem Hintergrund ist gerade der Vergleich der Bildangebote einer regionalen mit der einer überregionalen Zeitung kein Problem (Hoppe 2007). Noch größeren Gewinn verspricht die Untersuchung der Bildangebote mehrerer Tageszeitungen in einer Region, vor allem während der Weimarer Republik, als einerseits die Bebilderung in breitem Stil in die Zeitungen Einzug hielt und andererseits das publizistische Angebot noch die Vielfalt des späten Kaiserreichs fortsetzte. Im Vergleich zu heutigen Gegebenheiten war das Angebot damals jedoch so groß, dass zwangsläufig eine regionale oder gar lokale Beschränkung erfolgen muss, wenn wirklich die ganze Vielfalt ausgeschöpft werden soll. Selbst in einer Großstadt von eher überschaubarer Größe wie Karlsruhe (mit knapp 150.000 Einwohnern 1925) erschienen 1930 zehn Tageszeitungen parallel (Dussel 2012, v. a. S. 85–89). Eine genauere Beschäftigung mit dem Bildangebot der Tagespresse jener Zeit macht überdies deutlich, dass auf die Untersuchung der damals weit verbreiteten illustrierten Zeitungsbeilagen kaum verzichtet werden kann. So selbstverständlich waren diese Miniaturausgaben der Illustrierten größeren Formats und Umfangs, dass selbst ausgesprochene Parteizeitungen nicht darauf verzichten konnten: Nicht nur die Sozialdemokratie präsentierte zum Teil mehrere Versionen ihrer Beilage Volk und Zeit und die Kommunisten ihren Roten Stern, auch die Nationalsozialisten lieferten zeitweise eine Beilagen-Version ihres Illustrierten Beobachters. Die im Vergleich zu Kaiserreich und Weimarer Republik ganz anders strukturierte Zeitungswelt der Bundesrepublik legt dagegen weitere Forschungsoptionen nahe. Denn sie wird kaum noch durch das Nebeneinander verschiedener publizistischer Einheiten, sondern durch die Vielfalt lokaler und regionaler Ausgaben bestimmt. Deren Attraktivität für das Publikum (die sicherlich oftmals die des sogenannten Mantels weit übersteigt), dürfte zunehmend weniger durch die Texte als durch die Bilder bestimmt sein. Entsprechende Analysen bilden jedoch bislang seltene Ausnahmen (Jungmeister 1991).

3.4

BildurheberInnen als KommunikatorInnen

Ein mögliches Erkenntnisinteresse bezieht sich auch bei journalistischen Bildern auf deren UrheberInnen, die als KommunikatorInnen einen wesentlichen Einfluss auf

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die vermittelte Botschaft nehmen. Da Bilder als geschlossene Entitäten im Gatekeeping-Prozess deutlich schwerer zu modifizieren sind (s.o.) als beispielsweise Texte, bei denen die Redaktion leicht einzelne Worte oder Sätze verändern kann, kommt den BilderproduzentInnen zunächst eine vergleichsweise hohe Autonomie zu. Im Vergleich zu ihrer Kontrolle über die Gestalt des einzelnen Bildes ist ihr Einfluss auf die anschließenden Selektionsmechanismen freilich begrenzt: Gerade die Produktion freier FotografInnen (eigene BildreporterInnen konnten sich die wenigsten Organe leisten) war zuerst der Auswahl durch die Agentur, die sie vertrat, und später der durch die die Veröffentlichung vorbereitende Redaktion unterworfen (Kerbs und Uka 2004, bes. S. 32–38). In den 1920er-Jahren entwickelten verschiedene FotografInnen, oft Autodidakten, eine eigene Handschrift, die ihre Werke auszeichnete. Zuweilen waren sie (wie im Fall von Erich Salomon; vgl. Erich Salomon 1931) gesellschaftlich etabliert und selbst Teil der Szene, über die sie berichteten; wesentlich häufiger jedoch bewegten sie sich (wie etwa der Ex-Bauhäusler Otto Umbehr) am Rande des Existenzminimums und konnten sich nie sicher sein, ob ihre Tätigkeit sie tatsächlich ernähren würde (Molderings 1996, S. 44–49). Aus der jüngst veröffentlichten Studie über Sasha Stone – einem wichtigen Protagonisten der Szene, der u. a. prominent auf der Stuttgarter Werkbund-Ausstellung „Film und Foto“ (1929) vertreten war – lassen sich deutlich die schwierigen Bedingungen entnehmen, unter denen FotoreporterInnen damals arbeiten (Hammers 2014, S. 16–25). Am Beispiel von Stone lässt sich aber genauso die Bedeutung der Bewegung des „Neuen Sehens“ für die Illustriertenpresse verdeutlichen (Abb. 3) und empirisch untersetzen (Rössler 2011). Doch nicht immer führen an KommunikatorInnen orientierte Analysen zu dem gewünschten Erfolg, denn die Belegpraxis der Redaktionen war unterschiedlich ausgeprägt: Während in manchen Blättern der Nachweis der BildurheberInnen akribisch für jedes abgedruckte Foto erfolgte, nannten andere nur die LichtbildnerInnen längerer Reportagen und einige schlicht gar keine FotografInnen. Außerdem lässt sich bei der Nennung von Agenturen heute kaum noch identifizieren, welcher bzw. welche FotografIn jeweils tätig war. Zeitgenössische Monografien, die hier helfen könnten, sind die große Ausnahme, denn nur wenige FotografInnen kamen in den Genuss einer Publikation zu ihren (als Gebrauchsware aufgefassten) Abzügen; und so rekurrieren auch die verschiedenen Übersichtsdarstellungen zur Geschichte des Fotojournalismus (siehe auch Holzer 2014; Pensold 2015) immer wieder auf einen kleinen Ausschnitt prominenter BildreporterInnen. Während am Kommunikator orientierte Zugänge in der traditionellen Journalismusforschung eine gewisse Tradition besitzen, waren FotografInnen bislang, wenn überhaupt, dann Gegenstand kunsthistorischer Erörterungen, in deren Mittelpunkt eher die Bildleistungen und weniger die kommunikationshistorisch interessanten Rahmenbedingungen ihrer Arbeit stehen. Ähnliches gilt für die mit künstlerischen Techniken arbeitenden IllustratorInnen wie beispielsweise Fritz Koch-Gotha oder Theo Matejko. Lediglich zu prominenten ModezeichnerInnen (wie z. B. Lieselotte Friedlaender) sind themenbezogene Studien bekannt (Dogramaci 2001).

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Abb. 3 Schlüsselfoto von Sasha Stone für die Bewegung des „Neuen Sehens“. (Quelle: „Das illustrierte Blatt“, Titelseite, 15. September 1928)

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3.5

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Das Ereignis und sein Bild

In seltenen Fällen mag es punktuelle Ereignisse von historischer Bedeutung geben, von denen tatsächlich nur ein schnappschussartiges Foto aufgenommen wurde. Die Regel sieht anders aus: Sowohl auf Ereignis- wie auf Bilderebene handelt es sich meist um mehr oder minder umfangreiche Sequenzen, aus denen die veröffentlichten Aufnahmen nur eine gezielte Auswahl darstellen. Und ein zweiter Selektionsprozess schafft schließlich das, was man als „historische Referenzbilder“ bezeichnen kann, also jene Bildikonen, „die sich als Symbole für einen historischen Ereigniszusammenhang etabliert haben“ (Paul 2011, S. 223). Mit derartigen „Schlüsselbildern“ können umgekehrt massenmediale Verwertungszusammenhänge genauso analysiert werden wie ereignis- und rezeptionsgeschichtliche Kontexte. Der Vietnamkrieg zum Beispiel dauerte mehr als 20 Jahre; allein die USA waren gut zehn Jahre massiv engagiert. In dieser Zeit wurde eine unendliche Menge fotografischer Bilder zu diesem extrem komplexen Geschehen veröffentlicht, die meisten sicherlich noch in Zeitungen und Zeitschriften, ein Teil aber auch schon im Fernsehen. Im Abstand von lediglich drei Jahrzehnten haben sich jedoch nur zwei Fotografien als das unmenschliche Geschehen auf die knappste Formel bringende „Schlüsselbilder“ durchgesetzt: der „Schuss von Saigon“ vom 30. Januar 1968, der die geradezu beiläufige Erschießung eines jungen Vietkong durch den südvietnamesischen Polizeichef Nguyen Ngoc Loan dokumentiert (Paul 2011, S. 196–203, das Foto S. 197) sowie das Bild der am 8. Juni 1972 aus einem mit Napalm bombardierten südvietnamesischen Dorf fliehenden Kinder mit dem nackten Mädchen Kim Phuc in ihrer Mitte (Paul 2011, S. 220–227, das Foto S. 221, siehe auch den Beitrag von Müller und Knieper in diesem Band). Die Kontexte, in denen diese Fotos entstanden, sind im Laufe der Jahre immer akribischer aufgearbeitet worden. Nicht nur der Krieg im Allgemeinen und die mediale Berichterstattung darüber fanden viel Aufmerksamkeit, auch die den beiden Aufnahmen zugrunde liegenden Details sind geradezu minutiös erforscht. Es ist bekannt (um dies nur am zweiten Beispiel näher auszuführen), dass nicht nur Fotograf Huynh Cong „Nick“ Ut anwesend war und er auch nicht bloß jenes eine legendäre Foto des „Napalmmädchens“ auf seinem Film festhielt. Eine Menge anderer Bildreporter waren ebenfalls zugegen und auch Ut belichtete mehrere Bilder. Aber schnell war es nur noch dieses eine Bild, das zeitgenössisch alle Aufmerksamkeit auf sich zog, nachdem es am 9. Juni 1972 auf der Titelseite der New York Times veröffentlicht worden war. Spätestens nach der Verleihung des Pulitzerpreises an Ut im Jahr 1973 hatte es seinen einzigartigen Status als Symbol des Vietnamkriegs errungen, könnte man vermuten. Eine solche Vermutung wird jedoch zumindest den Gegebenheiten in der Bundesrepublik nicht gerecht. Im Juni 1972 wurde das Foto, wie die Autopsie von acht Zeitungen sowie von Stern und Spiegel ergab, nur ein einziges Mal veröffentlicht, und zwar auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau vom 9. Juni 1972. Auch seine Würdigung durch den Pulitzerpreis fand ein sehr geringes Echo, während um diese Zeit eine ganze Reihe von Fotos selbst zu diesem Tagesereignis kursierte. Seine Rolle als dem „Schlüsselbild“ des Vietnamkrieges wurde Uts Foto erst im Laufe der Jahre zugewiesen. Als Vorreiter sind Spiegel und Stern zu betrachten, die das Foto

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seit den frühen 1980er-Jahren immer mehr von seinem konkreten Kontext lösten und es als Sinnbild für immer umfassendere Zusammenhänge einsetzten. Es konnte nicht ausbleiben, dass dabei die historischen Fakten des Öfteren auf der Strecke blieben; das Bombardement durch südvietnamesische Piloten wurde zu einem Angriff der US-Amerikaner und selbst das ZDF nannte noch 1999 einen konkreten Namen – obwohl das Schuldbekenntnis dieser Person längst als unzutreffend aufgedeckt worden war (Paul 2011, S. 226–227). Jenseits der fotografischen Qualitäten, denen Uts Foto seine heutige, herausgehobene Stellung im Vietnam-Diskurs verdankt, verdienen auch die Mechanismen besondere Aufmerksamkeit, die den anschließenden Verwertungsprozess steuerten. Sie beeinflussen den historischen Bild-Kommunikationsprozess in erheblichem Maße, und führen die Problematik, aber auch die Potenziale der Verwendung von Bildern als Quellen für die historische Forschung nachdrücklich vor Augen.

4

Interdisziplinäre Blicke auf historische Medienbilder

4.1

Schnittstellen zur Geschichtswissenschaft: Illustrierte Flugblätter der frühen Neuzeit

Der Buchdruck war kaum erfunden, da trat an die Seite der Produktion aufwendiger Bücher der Druck kleiner Gelegenheitsschriften, von Flugblättern und Flugschriften. Ihre historische Bedeutung war so groß, dass kaum noch zu bezweifeln ist, dass „der Erfolg der Reformation [. . .] aus ihrer engen Allianz mit den zeitgenössischen Druckmedien“ resultierte (Sandl 2011, Rückentext). Von Anfang an wurden viele der gedruckten Kleinschriften mit mehr oder minder detailreichen Holzschnitten als Illustrationen versehen. Allerdings ist es bis heute möglich, selbst bei einer Untersuchung der „Medialität“ der Reformation dieses Material weitgehend zu ignorieren und sich auf die Fülle der Texte zu konzentrieren (Sandl 2011). Die vielfältige Nutzung der illustrierten Flugblätter wurde schon vor Jahrzehnten von Michael Schilling in seiner Tübinger Habilitationsschrift herausgearbeitet: Sie waren nicht nur Nachrichtenmedium (wobei selbstverständlich ein denkbar weiter Begriff von „Nachricht“ zugrunde gelegt werden muss), sondern auch Werbeträger und genauso Mittel konfessioneller Auseinandersetzung wie Instrument christlicher Seelsorge (Schilling 1990). Obwohl mittlerweile ganze Sammlungen vollständig veröffentlicht wurden (Harms 1980–2005) und das Material somit vergleichsweise leicht zugänglich ist, erfolgt seine Auswertung nur zögernd. Immerhin machen Pionierstudien deutlich, welche Möglichkeiten sich gerade interdisziplinären Zugriffen eröffnen. Eine Bochumer erziehungswissenschaftliche Dissertation beispielsweise analysiert vor dem Hintergrund heutiger Konzepte der Erwachsenenbildung das illustrierte Flugblatt als „Wissensmedium“ und kann so in ihrem zusammenfassenden fünften Kapitel „frühneuzeitliche Formen der Wissensvermittlung im Kontext des erwachsenenpädagogischen Diskurses um informelles Lernen“ diskutieren (te Heesen 2011, S. 345–365).

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Angesichts der Materialfülle sollten jedoch auch Studien unternommen werden, die sich nicht nur auf die Untersuchung weniger ausgewählter Beispiele beschränken, sondern größere Korpora in den Blick nehmen, diese quantitativ-inhaltsanalytisch strukturieren und anschließend ikonografisch-ikonologisch durchdringen. Weil selbstverständlich die Bilder nicht ohne die dazugehörigen Texte zu analysieren sind, deren Verständnis zum Teil auch erst einmal erarbeitet werden muss, ist jedoch der Einsatz ganzer interdisziplinär zusammengesetzter Forschergruppen nahezu unumgänglich.

4.2

Schnittstellen zur Kunstgeschichte: die BauhausMeistermappe

Die Kunstgeschichte ist für den wissenschaftlichen Blick auf visuelle Kommunikate prädestiniert, denn sie hat über Jahrhunderte hinweg Theorien und Verfahren zur Bildanalyse entwickelt, die für medienhistorische Untersuchungen nutzbar gemacht werden können (vgl. Müller und Geise 2015, Kap. 2). Außergewöhnlich ist es freilich, wenn sich KunsthistorikerInnen an der Schnittstelle zur Mediengeschichte bewegen und sich Gegenständen widmen, die für beide Fächer relevant sind. Ein Beispiel hierfür sind die Untersuchungen zur Mappe „1924 18/V.“, die von sechs Bauhaus-Meistern als Geburtstagsgeschenk für ihren Direktor Walter Gropius angefertigt wurde. Was diese Gabe nicht nur besonders, sondern auch medienhistorisch interessant macht, ist ihr medial gleich zweifach codierter Entstehungskontext: Ausgangspunkt für alle sechs Blätter war nämlich ein Zeitungsausschnitt, der die großformatige Abbildung eines Pressefotos zeigt, das wiederum dokumentierte, wie ein Radiogerät erstmals in der Geschichte Wahlergebnisse (hier zum Reichstag 1924) einer Menschenmenge am Potsdamer Platz in Berlin verkündete. Auf Anregung ihres Kollegen László MoholyNagy variierten Lyonel Feininger, Wasili Kandinsky, Paul Klee, Gerhard Muche und Oskar Schlemmer dieses Motiv in ihrer jeweils eigenen künstlerischen Interpretation (für einen Abdruck aller Blätter der Mappe siehe z. B. Weber 2005, S. 64–79). Es steht außer Frage, dass das eigentliche Pressefoto von John Graudenz, abgedruckt in der Beilage Zeitbilder zur Vossischen Zeitung vom 11. Mai 1924 (Abb. 4), von erheblichem Quellenwert für die historische Kommunikationsforschung ist, denn es verdeutlicht die erste Etappe des Übergangs zum neuen Leitmedium Rundfunk im Spiegel des bisherigen Leitmediums Tageszeitung (siehe auch ausführlich Kamps et al. 2017). Erste Studien aus dieser Perspektive betonten daher das Ereignis und seine Dokumentation als Visualisierung des Medienwandels und mithin die Entstehungsgeschichte des Fotos im Lichte alternativer Berichterstattung (Wilke 2011, S. 16–22). Die politische Geschichtsschreibung kann der Aufnahme die veränderten Bedingungen für die Vermittlung von politischem Handeln an eine Präsenzöffentlichkeit entnehmen, ebenso wie die Mobilisierung des Wahlvolks in der von Meinungskämpfen geprägten politischen Kultur der Weimarer Republik. KunsthistorikerInnen schließlich erleben das Graudenz-Foto als Bildquelle im doppelten Sinne: einerseits als unmittelbaren Gegenstand ihrer Analysen und zum anderen als Ausgangspunkt für die Adaption durch andere KünstlerInnen. Ihnen

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Abb. 4 Bekanntgabe der Wahlergebnisse durch Radiolautsprecher am Potsdamer Platz in Berlin (Foto: John Graudenz). (Quelle: „Zeitbilder. Beilage zur Vossischen Zeitung“, Titelseite, 11. Mai 1924)

eröffnen die überlieferten Bilder der Mappe ein reichhaltiges Repertoire zur Deutung der Verhältnisse am Bauhaus und darüber hinaus (Wagner 2009). Durch konservative Kreise bedroht und kurz vor der Schließung am Standort Weimar hatte Direktor Gropius die bevorstehenden Wahlen zuvor zu Schicksalswahlen für die Einrichtung erklärt. Sein Kollegium lieferte in den künstlerischen Kommentaren freilich höchstens vage Andeutungen auf die brisante Situation, auf die das Foto verweist. Man konzentrierte sich stattdessen auf abstrakte Repräsentationen des Formenkanons in der Vorlage oder die Visualisierung der medialen Vermittlung, was für eine enge Verzahnung mit kommunikationswissenschaftlichen Zugängen sorgt.

5

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Bilder für die historische Kommunikationsforschung zwar einen (inzwischen kaum mehr bestrittenen) Quellenwert besitzen, ForscherInnen bisher aber höchstens ansatzweise über die theoretischen und methodischen Werkzeuge verfügen, um diese Ressourcen für ihre Fragestellung jenseits des rein Illustrativen nutzbar zu machen. Immerhin: Systematische Auswertungen entsprechender Korpora, die in der Regel auf (qualitative oder standardisierte) inhaltsanalytische Verfahren zurückgreifen müssen, werden durch eine zunehmende digitale Verfügbarkeit von gedruckten Medienbeständen erleichtert.

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Der vorliegende Überblick hat sich auf die Bildberichterstattung in Presseorganen (und dort auf den Fotojournalismus) konzentriert, weil hierzu bislang die meisten wissenschaftlichen Erörterungen vorliegen. Dies soll aber den Blick auf weitere Anwendungsfelder nicht verstellen, die hier nur angedeutet werden können. Zunächst die anderen Formen bildlicher Repräsentationen in Printmedien: Von den Illustrationen aus der Vorzeit der Fotografie über die Arbeiten der PressezeichnerInnen bis hin zur Modeillustration eröffnen sich der Forschung zahlreiche weitere Felder, von denen bloß der Bereich der (politischen) Karikaturen schon häufiger bearbeitet wurde (Koch und Behmer 1996, siehe auch den Beitrag von Schwender et al. in diesem Band). Ein eigener Beitrag wäre außerdem die Betrachtung von Bewegtbildern – also im Wesentlichen des Films und des Fernsehens – als Quellen für die Forschung. Zum einen widmet sich die hermeneutisch geprägte Filmanalyse regelmäßig auch älteren Produktionen bis zurück in die Stummfilmzeit, die dort selbstverständlich als Ausgangsmaterial verwendet werden. Andererseits leiden gerade historische Studien zum deutschen Fernsehen unter der ungünstigen Materiallage, da die Archive der Sendeanstalten lückenhaft und schwer zugänglich sind und eine Dokumentation der ausgestrahlten Programme durch eine nationale Mediathek (ähnlich der Ablieferungspflicht für Druck-Erzeugnisse) nie realisiert wurde (Kramp 2016). Dabei lassen sich zahlreiche Fragen der historischen Kommunikationsforschung auch anhand von Bewegtbildern wie etwa den Wochenschauberichten im 20. Jahrhundert sinnvoll bearbeiten, seitdem diese mit vertretbarem Aufwand zugänglich sind (www.filmothek.bundesarchiv.de/contents). Und schließlich darf unsere Fokussierung auf journalistische Bildangebote nicht den Blick auf die visuelle Komponente in der strategischen Kommunikation verstellen. Gerade die historische Werbeforschung (Gries et al. 1995) hat sich beispielsweise intensiv mit dem Plakat befasst (Waschik und Baburina 2003) und dessen Effektivität schon in der Zwischenkriegszeit auch empirisch untersucht. Ähnliches gilt für die Reklameanzeigen und oder Ephemera beispielsweise aus der Filmwerbung (Rössler 2015), die heute interessante Bausteine für die Erforschung der visuellen Alltagskultur bereitstellen. Schließlich wären auch auf diesem Gebiet die Bewegtbilder der Werbefilme im vergangenen Jahrhundert ein lohnendes Forschungsfeld, das der systematischen Analyse harrt. Doch hier gilt das eben Gesagte analog: Vielleicht macht die Gelegenheit zuweilen Diebe, wie das Sprichwort sagt, aber fehlende Gelegenheiten für den Materialzugang verhindert im Falle der Bildquellen mit Sicherheit die Ausprägung entsprechender Forschungsinteressen.

Literatur Ariés, P. (1977). L’homme devant la mort. Paris: Édition du Seuil. Ariés, P. (1983). Images de l’homme devant la mort. Paris: Édition du Seuil. Avenarius, F. (1915). Das Bild als Verleumder. Bemerkungen zur Technik der Völkerverhetzung (Flugschrift des Dürerbundes, Bd. 151). München: Callwey.

Bilder als Quellen in der Kommunikationsforschung

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Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen für die Analyse visueller Kommunikation Thomas Knieper und Marion G. Müller

Inhalt 1 Das Bild als Forschungsgegenstand der Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Ikonologie als kunsthistorische Variante der qualitativen Bildinhaltsanalyse . . . . . . . . . 3 Die ikonologische Kontextanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Wir leben in einem visuellen Zeitalter, in dem Bilder allgegenwärtig sind. Zugleich unterliegen wir dem Trugschluss, dass Bilder intuitiv zugänglich sind und sich Bildbedeutungen unwillkürlich erschließen. Dabei sind Bilder komplexe Konstrukte mit mannigfaltigen Bedeutungsebenen. Insofern müssen sie systematisch erschlossen werden. Bei der Analyse von Bildern sollten neben den manifesten und latenten Bildinhalten auch die Kontexte im Prozess der Bildkommunikation sowie allgemeine strukturelle Kontexte zwingend miteinbezogen werden. Eine stringent durchgeführte Kontextanalyse ermöglicht eine adäquate Bildannäherung. Der Beitrag führt in die Methode der Kontextanalyse bzw. der ikonologischen Kontextanalyse ein und stellt diese beispielhaft vor. Schlüsselwörter

Bildkontexte · Ikonologie · Strata-Modell · Struktur-Handlungs-Modell · Ikonologische Kontextanalyse T. Knieper (*) Lehrstuhl für Computervermittelte Kommunikation, Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] M. G. Müller Medienwissenschaft, Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_23

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516

1

T. Knieper und M. G. Müller

Das Bild als Forschungsgegenstand der Kommunikationswissenschaft

Bilder sind heutzutage omnipräsent. Ihre Produktion ist längst nicht mehr den Profis vorbehalten. Insbesondere digitale Endgeräte, bei denen das Telefon mit zahlreichen anderen Funktionen konvergiert ist, zeichnen sich durch ihren hybriden Charakter aus. Professionelle Kameras und Apps zur Bildbearbeitung gehören heute standardmäßig zur Grundausstattung der sogenannten Smartphones. Zugleich dienen die digitalen Endgeräte und die mit Ihnen verknüpften Clouds als annähernd unbeschränktes Archiv. Dank einer ausgeprägten Selbstdarstellungs-, Inszenierungsund Mitteilungskultur werden Bilder heutzutage massenhaft in sozialen Netzwerken geteilt. Ihre Weiterverbreitung ist also längst nicht mehr einer massenmedialen Distribution vorbehalten (siehe dazu auch die Beiträge von Lobinger und Schreiber, von Reißmann sowie von Autenrieth in diesem Band). Der von William J. Thomas Mitchell (1994, S. 11–34) geprägte Begriff des „pictorial turns“ müsste längst durch Begriffe wie „pictorial ubiquity“ oder „visual penetration of the everyday life“ ersetzt werden. Das Kommunikationsprimat liegt nicht mehr länger bei der Schrift, sondern beim Bild. Gleichzeitig stellen Bilder eine große Herausforderung für eine kommunikationswissenschaftliche Annäherung dar. Im Gegensatz zu Texten basieren Bilder nur in Ausnahmefällen auf sequenziellen und systematisch aufgebauten Codes. Vielmehr sind sie durch einen polysemischen, ambivalenten Charakter, die Prozessstufen der Bildkommunikation, ihre Wechselbeziehungen mit strukturellen Kontexten und eine stark subjektive Sinnzuschreibung geprägt. Bei einer inhaltsanalytischen Annäherung trägt die Erhebung manifester Bildinhalte deshalb allenfalls zur Beantwortung einfacher Forschungsfragen bei. Die ganzheitliche Erforschung von bildlicher und visueller Kommunikation erfordert dagegen spezifisch angepasste Methoden und ein innovatives Methodenrepertoire (Bock et al. 2010; 2011a, S. 56–57; 2011b; Müller 2011, S. 28). In diesem Beitrag werden zwei miteinander korrespondierende Verfahren der Kontextanalyse vorgestellt. Beide beziehen sich auf die Methode der Politischen Ikonologie, die eine Variante der qualitativen Inhaltsanalyse darstellt. Die Kontextanalyse von Müller fokussiert primär auf die Handlungs- und Akteursebenen bei der Bildproduktion und bei der Bildrezeption, der Ansatz von Knieper schließt weitere Stufen im Prozess der Bildkommunikation mit ein. Beide Modelle sind zueinander kompatibel und lassen sich wechselseitig ineinander überführen.

2

Die Ikonologie als kunsthistorische Variante der qualitativen Bildinhaltsanalyse

Eine bewährte Form der qualitativen Bildinhaltsanalyse stammt aus der Kunstgeschichte. Es handelt sich dabei um die Ikonografie beziehungsweise Ikonologie (Panofsky 1984a, b): „Das Suffix „graphie“ leitet sich vom griechischen Verb

Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen

517

graphein (schreiben) ab; es impliziert eine rein deskriptive, häufig sogar statische Verfahrensweise. Die Ikonographie ist (. . .) eine Beschreibung und Klassifizierung von Bildern“ (Panofsky 1984b, S. 212). „[D]as Suffix logie - abgeleitet von logos, das Denken oder Vernunft bedeutet – [benennt] etwas Interpretatorisches. (. . .) Daher verstehe ich Ikonologie als eine ins Interpretatorische gewandte Ikonographie“ (Panofsky 1984b, S. 213–214). Die Ikonologie ist damit einerseits eine Variante der qualitativen Inhaltsanalyse von Bildern (siehe dazu auch den Beitrag zu inhaltsanalytischen Verfahren von Grittmann in diesem Band) und andererseits eine von Aby M. Warburg (1866–1929) entworfene, genuin kunsthistorische Methode, die von Erwin Panofsky (1892–1968) und dem Warburg-Kreis weiterentwickelt wurde. Ihr Ziel ist die Erfassung des Bildinhalts, der Bildsymbolik sowie der Bildbedeutung. Während sich die Ikonografie primär mit der Bildbeschreibung und Identifikation der Materialeigenschaften und Bildelemente beschäftigt, versucht die Ikonologie auch den tieferen Sinn und den Bedeutungsgehalt eines Bildes zu erfassen. Hierfür werden der Entstehungs- und Produktionskontext, Symbol- und Rückbezüge sowie die kulturelle und historische Einbettung des Bildes in die Analyse mit einbezogen. In gewisser Weise kann die Ikonologie damit als forensische Methode bezeichnet werden, die sich mit detektivischer Neugier und Wissbegierde, systematischem Perspektivenwechsel und verbalisierten Assoziationen an einer stringenten Beweisführung versucht (Bock et al. 2011a, S. 63; Müller 2011, S. 29). Systematisch betrachtet lässt sich die Ikonologie als dreistufiges Verfahren charakterisieren (Müller 2003, S. 34; Bock et al. 2011a, S. 63; Panofsky 1984b, S. 210–212): (1) Die prä-ikonografische Beschreibung bestimmt zunächst alle Konfigurationen, Formen, Darstellungen, also alle formalen Aspekte und Bildinhalte, sodass ein Denkbild entsteht, auf dessen Grundlage sich das beschriebene Abbild rekonstruieren lässt. Dadurch wird quasi das primäre oder natürliche Sujet eines Bildes erfasst. (2) Während der anschließenden ikonografischen Analyse werden die unter Punkt eins benannten Elemente identifiziert (Aneignungen, Zuschreibungen, Allegorien, Personifikationen etc.) und mit den historischen Hintergründen (philosophische Überzeugungen, vorherrschende Prinzipien, Ereignisse, Anekdoten, Narrationen etc.) angereichert. Dadurch werden quasi die Manifestationen identifiziert und das sekundäre oder konventionelle Sujet erkannt. (3) Bei der ikonologischen Interpretation werden die zuvor identifizierten Bildelemente miteinander in Relation gesetzt und der Bildgegenstand formuliert. In dieser Phase erfolgt auch die Annäherung an die Bildbedeutung und an die Intention der BildurheberInnen. Diese tiefergehende Analyse versucht auch die nicht offensichtlichen (und nicht zwingend übersubjektiven) Bedeutungen eines Bildes aufzudecken. Es geht also um die Bestimmung der tatsächlichen beziehungsweise eigentlichen Bedeutung des Bildes oder seines Gehaltes im Rezeptionskontext.

518

2.1

T. Knieper und M. G. Müller

Die Dualität zwischen Denkbild und Abbild

Bereits oben wurde auf die Dualität zwischen Denkbild und Abbild hingewiesen. Bei Bildern sollte daher auf den inhärenten Zusammenhang zwischen beiden geachtet werden (Müller 2011, S. 46). Bei den Denkbildern handelt es sich um immaterielle, mentale Bilder oder Vorstellungen. Abbilder sind dagegen prinzipiell über den Sehsinn wahrnehmbare Bilder der Außenwelt, die hier synonym als materielle Bilder bezeichnet werden. Materielle Bilder können prinzipiell auch ohne ihre Wahrnehmung existieren. Als Beispiel seien etwa rein technisch erzeugte Bilder durch Kameraüberwachungssysteme erwähnt, die im Normalfall nach einer bestimmten Zeit automatisch gelöscht werden. Interessant ist, dass im Moment seiner Wahrnehmung, jedes Abbild automatisch auch ein korrespondierendes Denkbild erzeugt. Ein existierendes Denkbild setzt dagegen weder zwingend ein korrespondierendes Abbild voraus, noch muss es sich später in einem Abbild manifestieren (Müller 2003, S. 22). Für die Kommunikationswissenschaft sind primär solche Bilder von Interesse, die in einem entsprechenden Spannungsfeld aus Denk- und Abbild bestehen, da deren prozesshafte Wechselwirkung ein zentraler Gegenstand der Rezeptions- und Wirkungsforschung ist. Das rezipierte Abbild führt notwendig zu korrespondierenden Denkbildern. Zugleich stellen Abbilder historische Quellen für Mitglieder einer Gesellschaft dar, auf deren Basis sich mehrheitlich bestimmte Bewusstseinsstrukturen und Interpretationen ausbilden. Damit bestimmen Abbilder die öffentliche Meinung maßgeblich. Aus naheliegenden Gründen ist die Decodierung von Bildern von Kontextvariablen abhängig, wie etwa eigenen Erfahrungen, dem Vorwissen, der kulturellen Identität oder dem historischen Rahmen (Müller 2011, S. 46–47). Obwohl die Decodierung insgesamt ein durchaus individueller Vorgang ist, lässt sich als Phänomen festhalten, dass die Decodierung von Bildern unter Personen mit vergleichbarer Sozialisation in aller Regel relativ gleichförmig verläuft.

2.2

Die drei Strata der visuellen Kontextanalyse: Formkontext, Produktionskontext und Rezeptionskontext

Der Bildbegriff wird hier sehr weit ausgelegt und damit in einer kaum beschränkten Auffassung verstanden. Formen materieller Bilder können etwa sein: Architektur, Bühnenbild, Skulptur, Installation, Gemälde, Grafik, Fotografie, Film, TV, Video etc. Zugleich stellen diese Ausprägungen den Form- oder Gestaltkontext und damit die erste Strukturebene beziehungsweise das erste Stratum im Sinne Panofskys dar. Da sich die Erfassung nicht allein auf die Form, sondern auf den gesamten Formenkontext bezieht, kann etwa ein auf YouTube eingestelltes Video sowohl isoliert als auch eingebunden in den Webauftritt, das Seitenlayout und die multimodale Interaktion analysiert werden. Prinzipiell ist es damit nicht nur möglich, sondern auch gewünscht und sinnhaft, die Kontextinformationen in die vor-ikonografische Beschreibung einzubeziehen. Somit werden mit diesem kontextbezogenen Vorgehen relevante Elemente der Bedeutungsdimension inkludiert (Müller 2011, S. 47).

Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen

519

Als zweites Stratum kann der Produktionskontext aufgefasst werden. Idealtypische Produktionskontexte sind etwa der künstlerische, kommerzielle, journalistische, wissenschaftliche, politische, private oder religiöse (Müller und Geise 2015, S. 25). Hierbei muss darauf hingewiesen werden, dass diese sieben paradigmatischen Produktionskontexte den Ereignisraum weder vollständig abdecken, noch dessen disjunkte Zerlegung darstellen. Dennoch erleichtert es die Analyse, sich an diesen idealtypischen Kontexten zu orientieren (Müller 2011, S. 47). Prinzipiell unterscheiden sie sich strukturell und funktional. Während etwa der künstlerische Kontext meist durch ein Individuum geprägt ist, sind kommerzielle, journalistische, politische oder religiöse Kontexte meist durch mehrere Beteiligte und arbeitsteilige Strukturen geprägt. Im wissenschaftlichen Kontext trifft man auf beide Formen. Zudem unterscheiden sich die Bildtypen: Neben Illustrationen und instruktionalen Bildern findet man dort, insbesondere in der Medizin, auch sogenannte technische Bilder, also durch technische Apparate erzeugte Bilder. Bei diesen sogenannten bildgebenden Verfahren im Gesundheitsbereich (Ultraschall, Röntgen, Kernspintomografie, Magnetresonanztomografie etc.) geht es aber nicht mehr darum, wie etwa beim einfachen Fotografieren, eine subjektive Sicht auf die Umwelt einzufrieren, sondern eine „objektive Sicht“ auf den Menschen mit seiner Anatomie und seinen Organen zu ermöglichen, um damit dem Ziel einer zuverlässigen Diagnostik näher zu kommen (Müller 2011, S. 49). Trotz zunehmender Sensitivität (Kranke werden als krank eingestuft) und Spezifität (Gesunde werden als gesund eingestuft) kommt es durch die subjektive Instanz des Mediziners bzw. der Medizinerin immer noch vergleichsweise häufig zu falsch positiven und falsch negativen Einschätzungen. In gewisser Weise bestimmt die Bildkompetenz der MedizinerInnen den diagnostischen Erfolg (siehe auch den Beitrag zu wissenschaftlichen Bildern von Geise in diesem Band). Das dritte Stratum ist der Rezeptionskontext. Bei der Decodierung spiegeln sich die sieben idealtypischen Kontexte der Encodierung. Neben der Rezeptionssituation geht es hier auch um die einem Bild zugeschriebenen Bedeutungsdimensionen. Neben der bewussten Bilddeutung geht es hier um die unbewussten Wahrnehmungsund Bedeutungsdimensionen. Während erstere aufgrund ihrer Rationalisierung offen für direkte Messmethoden sind, müssen zur Erhebung der unbewussten Dimensionen indirekte oder psycho-physiologische Messverfahren eingesetzt werden (Müller 2011, S. 50).

2.3

Erweiterung des Strata-Modells auf ein Struktur-HandlungsModell

Das Modell der drei Strata der visuellen Kontextanalyse lässt sich nochmals verfeinern und ausdifferenzieren, wenn man es stärker am gesamten Prozess der Bildkommunikation ausrichtet. Ausgangsbasis der Betrachtungen sind die beteiligten Akteure und Organisationen sowie deren Grad der Involviertheit und gegebenenfalls Einflussnahme. Im politischen Produktionskontext sind beispielsweise folgende Personengruppen zu unterscheiden: Die Strategie-Instanz mit seinen BeraterInnen, Spin Doctors, StrategInnen, SpielleiterInnen etc., das Ereignis und die dort Abgebildeten, die BildproduzentInnen,

520

T. Knieper und M. G. Müller

der Medienbetrieb und die BildrezipientInnen. Für die ikonologische Kontextanalyse besitzen alle Akteure und Akteursgruppen eine hohe Relevanz, da sie innerhalb der korrespondierenden Kontexte selektieren, interpretieren, reduzieren und konstruieren. Hierdurch wird die Bedeutung und Wirkung der Bilder maßgeblich beeinflusst. Aus naheliegenden Gründen spielen individuelle Dispositionen der Akteure (eigene Erfahrungen, Vorwissen, kulturelle Prägungen, Sozialisation, Normen und Werte, Meinungen und Überzeugungen, kulturelle Verbundenheit etc.) sowohl bei der Enals auch bei der Decodierung eine gewichtige Rolle (Bock et al. 2011a, S. 58). Das oben skizzierte Konzept einer Akteurs- und Handlungsebene, in dem einerseits soziale Strukturen und Kontexte und andererseits individuelle Einflüsse eine entscheidende Rolle spielen, ist an Anthony Giddens’ (1988) Theorie der Strukturierung angelehnt. Die von ihm fokussierte Dualität aus Handlung und Struktur, die wechselseitig aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig bedingen, lässt sich auf den Prozess der Bildkommunikation (siehe Abb. 1) übertragen. So wird beispielsweise die Bildproduktion weitgehend durch ihren jeweiligen Produktionskontext bestimmt. Gleichzeitig besitzt die Bildproduktion Ausstrahlungseffekte auf spätere Produktionskontexte und deren Regeln (Bock et al. 2011a, S. 58). Die Kontextanalyse ist damit ein iteratives Verfahren.

Abb. 1 Der Prozess der Bildkommunikation lässt sich auf den einzelnen Prozessstufen durch den Bildtyp (zweite Zeile), die dazugehörigen Akteure (dritte Zeile), den Ebenenbezug (vierte Zeile) und die korrespondierenden Kontexte (erste Zeile) charakterisieren. Die am Prozess der Bildkommunikation beteiligten Kontexte sind dabei selbst wiederum in strukturelle Kontexte, wie etwa kultureller oder historischer Kontext, eingebettet. Die fünfte Zeile gibt darüber Auskunft, ob sich der Prozess noch in der Phase der Encodierung oder bereits in der Phase der Decodierung befindet. Beide Codierungen sind dabei von Kovariablen wie etwa Selektion, Interpretation, Reduktion und Konstruktion abhängig und geprägt (Grafik entnommen aus: Bock et al. 2011a, S. 59)

Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen

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Die ikonologische Kontextanalyse

Grundlage für die ikonologische Kontextanalyse von Bildern ist das Medienbild, da es meist die Ausgangsbasis für den Einstieg in die Analyse darstellt. Von hier aus geht man quasi in einem forensischen Verfahren weiter. In Abhängigkeit davon, ob Aussagen über die Bildbearbeitung, die Bildselektion, die Bildproduktion, die Vorgeschichte des Bildes oder über die Bildrezeption und die Bildwirkung getroffen werden sollen, wird der Prozess rückwärts- und vorwärtsgerichtet rekonstruiert und analysiert. So wird es möglich, sich dem Transferbild (das von BildproduzentInnen hergestellte Bild) und gegebenenfalls dem Konzeptbild (Denkbild auf Seiten der planerischen Instanz) anzunähern. Idealerweise können so Konstruktions-, Selektions-, Reduktions- und Interpretationsprozesse in der Phase der Encodierung entdeckt und bestimmt werden. Dadurch wiederum erhält man etwa Einblick in die Wirkintentionen auf Seiten der Strategie-Instanz, der Abgebildeten, der Bildproduzenten und der Medienbetriebe (Bock et al. 2011a, S. 58). Auch der vorwärtsgerichtete Analyseschritt ist möglich, aber in aller Regel deutlich schwieriger. Hier ist eine systematische Recherche nicht mehr ausreichend. Während die Rezeptionssituation durch Befragungen oftmals noch vergleichsweise einfach rekonstruierbar ist, sind die entstandenen Denkbilder und Wirkungen weit schwieriger zu fassen. Neben qualitativen und quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung ist man häufig auf psycho-physiologische Messverfahren angewiesen (Bock et al. 2011a, S. 59).

3.1

Die ikonologische Kontextanalyse als kommunikationswissenschaftlicher Anwendungsfall der Ikonologie

Die Ikonologie nach Panofsky wird als genuin kunsthistorische Methode meist auf Werke der bildenden Kunst angewendet, ist aber bei weitem nicht auf diese beschränkt. Aus naheliegenden Gründen ist sie auf beliebige Bilder und damit auch auf Medienbilder anwendbar. Durch die Vorgabe entweder des Strata-Modells oder des Struktur-Handlungs-Modells wird quasi eine Struktur und ein Arbeitsauftrag für die „Forensik“ bzw. die ikonologische Interpretation vorgegeben. Gerade durch die Einbindung von Kontexten in den dritten Analyseschritt des ikonologischen Verfahrens wird ein entscheidender Mehrwert generiert. Das gilt für beide Ausprägungen der visuellen beziehungsweise ikonologischen Kontextanalyse. Sowohl die visuelle Kontextanalyse nach Müller (2003, 2011) auf Basis des Strata Modells als auch die Perspektivenerweiterung auf das Struktur-Handlungs-Modell haben das sehr deutlich gemacht. In Abhängigkeit vom Ziel der ikonologischen Kontextanalyse ist das jeweilige Modell als Orientierung für ikonologische Interpretation zu wählen. Sollen neben dem Produktions- und Rezeptionskontext noch weitere Kontexte systematisch in die Analyse einbezogen werden, dann ist das Struktur-Handlungs-Modell zu wählen. Neben dem manifesten Bildinhalt können über die medial bedingten Kontexte, wie

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T. Knieper und M. G. Müller

Strategie, Ereignis, Produktion, Rezeption und kognitive Verarbeitung, weitere, insbesondere latente Bedeutungsinhalte entdeckt und freigelegt werden. Damit ist die ikonologische Kontextanalyse als Verfahren zudem prinzipiell offen für Kovariablen wie etwa Wirkungsabsichten, medienspezifische Zwänge, mediale Einbettung, Interpretationsmuster der RezipientInnen etc. (Bock et al. 2011a, S. 63).

3.2

Beispielhafte Durchführung einer ikonologischen Kontextanalyse

Die ikonologische Kontextanalyse soll beispielhaft am Pressebild des White-HouseFotografen Vince Musi vom 13. September 1993 durchgeführt werden. Auf der Beschreibungsebene handelt es sich um ein querformatiges Foto, das drei Männer zeigt, die hinter einem Tisch stehen. Der linke und der rechte Mann befinden sich auf einer Ebene und drücken sich gegenseitig die rechte Hand. Der linke trägt einen dunkelblauen Anzug, der rechte eine braune Uniform und ein arabisches Kopftuch. Der linke Mann wirkt aufgrund seines Gesichtsausdrucks und seiner Körperhaltung eher angespannt. Der rechte Mann wirkt entspannt, lacht und scheint die Situation offensichtlich zu genießen. Hinter den beiden händeschüttelnden Männern steht ein dritter, der seine Arme auf eine Art und Weise ausgebreitet hat, dass er den Handschlag der beiden Männer im Vordergrund umrahmt. Durch die Beschreibung ist ein erstes Denkbild entstanden (Knieper 2003, S. 199). Die beiden Männer im Vordergrund können als Jitzchak Rabin (links) und Jassir Arafat (rechts) identifiziert werden, der Mann in der Mitte als Bill Clinton. Der Journalist Sidney Blumenthal (1993), die Politologin Marion G. Müller (1993) und der Kunsthistoriker Michael Diers (1997, S. 188–197) kontextualisieren das Ereignis wie folgt: Am 13. September 1993 kommt es zu einem ersten Treffen zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und dem Vorsitzendem der PLO Jassir Arafat. Ziel ist die Unterzeichnung der Israelisch-Palästinensischen Prinzipienerklärung. Dort erkennt die PLO das Existenzrecht des Staates Israel und dessen Leben in Frieden und Sicherheit an. Die israelische Regierung erkennt dafür die PLO als Vertretung des palästinensischen Volkes an. Darüber hinaus werden die Selbstverwaltung im Gazastreifen sowie in Jericho, Wahlmodi und Pläne zur Zusammenarbeit geregelt. Die Unterzeichnung der Prinzipienerklärung ist als großer diplomatischer Erfolg anzusehen. Rabin und Arafat in eine gemeinsame Präsenzsituation zu bekommen, ist bereits eine Sensation. Der Handschlag macht die Begebenheit zu einem epochalen Ereignis. Zwar war der Handschlag von der Clinton-Administration gewünscht, ließ sich aber nicht protokollarisch festmachen. Insofern kam er für weite Teile der Öffentlichkeit sehr überraschend. Durch die systematische Recherche wurde später bekannt, dass der Handschlag mit großer Anstrengung choreografisch vorbereitet, inszenatorisch und bildstrategisch aufbereitet und medienpolitisch nachbereitet wurde (Knieper 2003, S. 199–201; Müller 1993). Bei der Vorbereitung des Treffens orientierten sich die Protokollbeamten an einer Videoaufzeichnung der Zeremonie von Camp David vom 17. September 1978. Damals einigten sich der israelische Ministerpräsident Menachem Begin und das

Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen

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ägyptische Staatsoberhaupt Anwar al-Sadat unter Anwesenheit des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter auf einen Friedensvertrag. Nach dessen Unterzeichnung kam es zu einem gleichzeitig vollzogenen dreifachen Händedruck, der quasi eine Tripple-Allianz besiegelte (Diers 1997, S. 191). Auch bei dem Ereignis von 1993 war ein ähnlich symbolträchtiges Bildmotiv gewünscht. Aufgrund der Distanziertheit von Rabin gegenüber Arafat konnten die Protokollführer den gewünschten Handschlag nicht einplanen. Daher wurde mit Schauspielschülern geprobt, wie man ihn doch hinbekommen könnte. So wurde eine Strategie entwickelt, die beiden quasi zu einem Handschlag zu nötigen. Zunächst wurde der Verhandlungstisch von Camp David eingeflogen, um die Aura historischsymbolisch aufzuladen. Zentrales Utensil der Zeremonie von 1993 war aber ein Stuhl (in Abb. 2 unten vor Arafat zu sehen). Dadurch, dass nur dieser eine Stuhl zur Unterzeichnung der Prinzipienerklärung zur Verfügung gestellt wurde, konnte Rabin nicht sitzen bleiben, sondern musste erneut aufstehen, um dem Zweitunterzeichner Arafat Platz zu machen (Blumenthal 1993). Damit stand Rabin bereits zur Rechten von Clinton. Nun startete die bis in kleinste Detail eingeübte Choreografie des Ereignisses. Clinton hatte im Vorfeld einstudiert, wie er sich nach der Unterschrift der beiden verhalten sollte, in welcher Reihenfolge er die Hände zu schütteln habe und wann er seine Arme ausbreiten sowie einen Schritt zurücktreten sollte. Ziel war es, durch seine offenen Hände und ausgestreckten Arme eine Art Klammer zu bilden, die Rabin und Arafat sich quasi natürlich aufeinander zubewegen lassen sollte. Rabin zögerte zwar für eine Halbsekunde, aber der Plan ging auf, die Sensation war perfekt. Unter den Anwesenden kam es zu Standing Ovations. Im Nachklang erhielten Jitzchak Rabin und Jassir Arafat 1994 den Friedensnobelpreis (Knieper 2003, S. 202; Müller 1993).

Abb. 2 Vince Musi (The White House/Wikimedia Commons), 13. September 1993. Handschlag nach Unterzeichnung der Prinzipienerklärung von Jitzchak Rabin und Jassir Arafat unter Zeugenschaft von Bill Clinton im Rosengarten des Weißen Hauses. (Fotoquelle: Wikimedia Commons. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f2/Bill_Clinton%2C_Yitzhak_Rabin%2C_Yas ser_Arafat_at_the_White_House_1993-09-13.jpg)

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T. Knieper und M. G. Müller

Von dem Ereignis wurden zahlreiche Bilder produziert, die sich aber nur geringfügig voneinander unterschieden. Die Pressetribüne war so errichtet, dass Aufnahmen nur aus einem vergleichsweise starren, frontalen Standpunkt möglich waren. Damit unterschieden sich die Fotos quasi nur wenig in Blickwinkel und Zeit (Knieper 2003). In der Interpretationsphase geht es um die Bewertung des Bildes und seiner Elemente. Das Bild betont die Überwindung des palästinensisch-israelitischen Konflikts und den außenpolitischen Erfolg Clintons, dessen Rolle sich als guter Hirte und erfolgreicher Außenpolitiker beschreiben lässt. Maßgeblich verantwortlich für diese Zuschreibung ist der Handschlag als politische Geste eines Vertragsschlusses, der Besiegelung von Freundschaft, der Solidarität und der Treue (Müller 2006). Zudem bilden die Arme der agierenden Personen ein harmonisches, gleichschenkliges Dreieck. Clintons Krawatte bildet eine Mittelsenkrechte, die auf Höhe des Handschlags endet. Das Foto ist geprägt durch Symmetrie und geometrisch harmonische Ordnung. Das alles symbolisiert Ruhe, Frieden und Harmonie, die erst durch den Vermittler Clinton möglich geworden ist. Für BetrachterInnen zeigt das Foto einen außenpolitischen Erfolg der Clinton-Administration und kündet von der kolossalen Leistung des USPräsidenten. Es wundert nicht, dass die Abbildung dieses Ereignisses zu den Bildern des Jahres 1993 gerechnet wurde. Ausgeblendet blieb hingegen weitgehend, dass das Verdienst um das Treffen vor allen Dingen dem norwegischen Außenminister Joergen Holst zuzuschreiben ist (Blumenthal 1993). Zudem basiert es auch maßgeblich auf den Vorarbeiten der Bush-Senior-Administration. Auch wenn viele BetrachterInnen von einem historischen Friedensschluss ausgingen, handelte es sich „nur“ um eine Prinzipienerklärung. Insofern darf man durchaus die kritische Frage stellen, ob das Bild nicht in doppelter Hinsicht „lügt“. Es suggeriert einen Friedensschluss und feiert alleinig Clinton für dessen Erfolg (Knieper 2003, S. 203–205; Müller 1993). Ohne ikonologische Kontextanalyse wäre dieser Sachverhalt im Verborgenen geblieben. Durch das Abarbeiten der Prozessstufen konnte die strategische Vorbereitung und Planung des Ereignisses offen gelegt werden. Es wurde die Choreografie des gesamten Ereignisses im Rosengarten des Weißen Hauses nachvollziehbar. Die Platzierung der Fotografen sorgte dafür, dass im Wesentlichen nur phasen- bzw. zeitverschobene Bildmotive aus einer weitgehend gleichen Perspektive geschossen werden konnten. Aus nahe liegenden Gründen wählten die Medien insbesondere Bilder aus, die den Schlüsselmoment in möglichst großer Symmetrie darstellten. Die spätere mediale Berichterstattung zeigte, dass das Ereignis als Friedensvertrag und insbesondere Clintons Verdienst gerahmt wurde. Die spätere Ehrung von Rabin und Arafat mit dem Friedensnobelpreis belegt pars pro toto, dass auf Seiten der RezipientInnen die Unterzeichnung der Prinzipienerklärung fälschlicherweise als Friedensschluss interpretiert wurde.

4

Fazit

Wie das vorangegangene Beispiel veranschaulichen sollte, ist die visuelle Kontextanalyse sowohl den qualitativen als auch den kritischen Methoden in der Kommunikationswissenschaft zuzurechnen. Bilder sind komplexe Konstrukte mit potenziell

Zur Bedeutung von Bildkontexten und Produktionsprozessen

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vielen (sowohl intern als auch extern determinierten) Bedeutungsebenen. Diese möglichst systematisch, gründlich und nachvollziehbar offenzulegen, ist Sinn und Zweck der Kontextanalyse. Darüber hinaus möchte die ikonologische Kontextanalyse einen Beitrag im multimodalen Methodenrepertoire zur Analyse des Visuellen (Margolis und Pauwels 2011) leisten. Das allgemeine Ziel besteht darin, für das Visuelle ähnlich differenzierte Analyseinstrumente bereitzustellen, wie sie für die Textanalyse bereits vorliegen. Die ikonologische Kontextanalyse versteht sich als Schritt in diese Richtung. Im Prinzip steht die Methode der ikonologischen Kontextanalyse jeder Person offen, die mit dem Prozess der Bildkommunikation einschließlich seiner beteiligten Instanzen vertraut ist. Allerdings ist die Methode der ikonologischen Kontextanalyse ein vergleichsweise zeitintensives Verfahren. Damit eignet es sich insbesondere dafür, auf einzelne, ausgewählte Bilder angewendet zu werden. Prinzipiell muss die forschende Person entscheiden, ob sich der Arbeitsaufwand im jeweiligen Einzelfall lohnt. Lohnende Analyseobjekte sind sicherlich Ikonen der Pressefotografie, zentrale Bildzeugnisse der Zeitgeschichte, emotional aufgeladene Fotos oder Bilder mit Täuschungsabsicht. Der Vorteil der Kontextanalyse ist die Erschließung von Bedeutungsdimensionen innerhalb und besonders auch außerhalb des Bildes. Encodierungs- und Decodierungsmethoden sind kulturelle Praktiken, die über den Gehalt und die Bedeutung visueller Kommunikation Auskunft geben, die jedoch häufig in der journalistischen wie auch in der wissenschaftlichen Rezeption nicht berücksichtigt werden und dadurch zu „Kurzschlüssen“ und Fehlinterpretationen von Bildern führen. Als qualitative Methode steht die Kontextanalyse den verbreiteteren Methoden der Inhalts- und auch der Framing-Analyse in nichts nach. Jedoch erfordert ihre Anwendung langjährige Praxis und sowohl eine solide sozialwissenschaftliche als auch eine kunsthistorische Vorbildung.

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526

T. Knieper und M. G. Müller

Margolis, E., & Pauwels, L. (Hrsg.). (2011). The SAGE handbook of visual research methods. Los Angeles: Sage. Mitchell, W. J. T. (1994). Picture theory. Essays on verbal and visual representation. Chicago: University of Chicago Press. Müller, M. G. (1993, November 18). Die Choreografie eines politischen Händedrucks. Frankfurter Allgemeine Zeitung, N5. Müller, M. G. (2003). Grundlagen der visuellen Kommunikation. Konstanz: UVK/UTB. Müller, M. G. (2006). Die Ikonographie des politischen Händedrucks. In E. Wipfler (Hrsg.), Freundschaft. Motive und Bedeutungen (S. 205–216). Köln/Wien: Böhlau. Müller, M. G. (2011). Ikonografie und Ikonologie, visuelle Kontextanalyse, visuelles Framing. In T. Petersen & C. Schwender (Hrsg.), Die Entschlüsselung der Bilder. Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation. Ein Handbuch (S. 28–55). Köln: Herbert von Halem. Müller, M. G., & Geise, S. (2015). Grundlagen der Visuellen Kommunikation (2. Aufl.). Konstanz: UVK/UTB. Panofsky, E. (1984a). Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (1932/1964). In E. Kaemmerling (Hrsg.), Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme (3., überarb. Aufl., S. 185–206). Köln: Dumont. Panofsky, E. (1984b). Ikonographie und Ikonologie (1939/1955). In E. Kaemmerling (Hrsg.), Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme (3., überarb. Aufl., S. 207–225). Köln: Dumont.

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung Ein Überblick Elke Grittmann

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Medienbilder als Forschungskonstrukt der Analyse in der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methoden der Medienbildanalyse und ihre Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick: Perspektiven der Methodenentwicklung zur Medienbildanalyse . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Medienbilder sind zentraler Gegenstand und Forschungsfeld der Visuellen Kommunikationsforschung. In den vergangenen Jahren ist nicht nur die Zahl der Studien angewachsen, die Forschung hat auch verstärkt daran gearbeitet, Ansätze und Methoden zur Medienbildanalyse auszuarbeiten und weiterzuentwickeln. Der vorliegende Beitrag definiert zunächst den Forschungsbereich der Medienbildanalyse und stellt die derzeit wichtigsten, theoretisch fundierten und regelgeleiteten Ansätze und Methoden sowie Anwendungen zur Analyse von Medienbildern vor.

Schlüsselwörter

Ikonografie · Semiotik · Social Semiotics · Standardisierte visuelle Inhaltsanalyse · Bildtypenanalyse · Visuelle Diskursanalyse

E. Grittmann (*) Institut für Journalismus, Hochschule Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_25

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1

E. Grittmann

Einleitung

Ob Werbeplakate, Selfies, Naturaufnahmen auf Instagram, Pressefotografien politischer Ereignisse und Personen oder Computer-Simulationsbilder des Klimawandels – Bilder erzeugen durch ästhetische Gestaltungsmittel Sinn und schaffen damit Bedeutungsangebote. Aber wie lassen sich diese visuellen Bedeutungsangebote analysieren? Die Analyse von Medienbildern, Bildern also, die mit technischen Medien (re-)produziert und/oder mittels Medientechnologien zum Zweck der Kommunikation in öffentlichen wie privaten Kontexten distribuiert werden, stellt – neben der Analyse ihrer Produktions- und Rezeptionskontexte – einen der wichtigsten Forschungsbereiche der Visuellen Kommunikationsforschung dar (Müller und Geise 2015). Nicht allein professionelle AkteurInnen und Institutionen öffentlicher medialer Kommunikation in Feldern wie Journalismus, Werbung, Politischer Kommunikation und Public Relations (PR) kommunizieren durch Bilder. Mit der zunehmenden Durchdringung aller Lebensbereiche durch digitale Medientechnologien (Krotz 2009) ist auch Bildkommunikation inzwischen zu einer weit verbreiteten sozialen und kulturellen Praxis in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern wie beispielsweise Wissenschaft (siehe den Beitrag von Metag in diesem Band) oder Wirtschaft und im Alltag vieler Menschen geworden (Autenrieth 2014; Reißmann 2014; Venema und Lobinger 2017, siehe auch die Beiträge von Reißmann und Autenrieth in diesem Band). Nicht zuletzt Soziale Bewegungen und Protestkulturen kommunizieren Ziele und Forderungen ebenso visuell. Diese veränderten Praktiken und Prozesse visueller Kommunikation fordern die Methodenentwicklung der Analyse von Medienbildern in vielfältiger Weise heraus. Gleichzeitig stellt sich die Frage, was in Gesellschaften unsichtbar bleibt (Rose 2016; Schade und Wenk 2011; Thomas und Grittmann 2018). Die Arbeit an den Methoden zur Medienbildanalyse, mit dem Ziel mediale Bilder in öffentlichen und zunehmend auch in mediatisierten privaten Kommunikationsprozessen differenziert untersuchen zu können, hat sich in den letzten Jahren deutlich intensiviert. Inzwischen liegen Einführungen, Handbücher und vielfältige Beiträge zu Methoden der Medienbildanalyse vor, wie beispielsweise die in zweiter Auflage erschienene Publikation „Grundlagen der Visuellen Kommunikation“ von Müller und Geise (2015), der Sammelband „Entschlüsselung der Bilder“ von Petersen und Schwender (2011), „Studien zur Visuellen Kultur“ von Schade und Wenk (2011) oder das „Sage Handbook of Visual Research Methods“ (Margolis und Pauwels 2011). Ergänzend sei hier noch auf „The Handbook of Visual Analysis“ von van Leeuwen und Jewitt (2001) verwiesen. Grundlegend sind zudem der Band „Reading Images. The Grammar of Visual Design“ von Kress und van Leeuwen (2006) und der 2016 in 4. überarbeiteter Auflage erschienene Band „Visual Methodologies“ von Rose (2016). Auch in anderen Disziplinen wurde in den vergangenen Jahren an der (Weiter-)Entwicklung von Methoden zur Bildanalyse gearbeitet, wie etwa in der Soziologie (z. B. Breckner 2010; Kanter 2016a; Bohnsack et al. 2015); Spezifika unterschiedlicher Methoden wurden anhand ausgewählter Bilder vorgestellt (z. B. Netzwerk Bildphilosophie 2014; Przyborski und Haller 2014).

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung

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Ziel dieses Beitrags ist es, einen Überblick über die grundlegenden Methoden zur Analyse von Medienbildern zu geben und zu erläutern, wie sie in Studien eingesetzt werden. Welche Bilder überhaupt Analyseobjekt der Visuellen Kommunikationsforschung werden, hängt dabei vom Verständnis des Bildes in der medialen Kommunikation ab. In Abschn. 2 wird daher zunächst eine Definition des (Medien-)Bildes entwickelt. Im Anschluss (Abschn. 3) werden jene zentralen Ansätze und Methoden der Medienbildanalyse vorgestellt, die ein theoretisch fundiertes, transparentes und regelgeleitetes Vorgehen ermöglichen. Dass der Schwerpunkt der vorgestellten Beispiele auf fotografischen Bildern aus den Bereichen der Politischen Kommunikation, des Journalismus und der Werbung liegt, ist der Schwerpunktsetzung der Methodenentwicklung geschuldet. Der Beitrag bietet eine Hilfestellung bei der Entscheidung, welche methodischen Verfahren bei spezifischen Forschungsinteressen genutzt werden können. Im Fazit werden schließlich die zukünftigen Herausforderungen diskutiert.

2

Medienbilder als Forschungskonstrukt der Analyse in der Visuellen Kommunikationsforschung

Für die Analyse von Medienbildern stellt sich zunächst die Frage, was unter Bildern und insbesondere Medienbildern überhaupt zu verstehen ist. Grundannahmen von Bildlichkeit als auch spezifische theoretische Perspektiven zur Funktion von Bildern leiten die Ansätze und Methoden. Während beispielsweise semiotische Ansätze vom Zeichencharakter der Bilder ausgehen, vertreten BildwissenschaftlerInnen wie Boehm die These, dass Bilder durch ihre genuinen bildnerischen Gestaltungsmittel Sinn erzeugen und ihre Logik gerade „nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet“ ist (Boehm 2004, S. 28–29). Allgemein können Bilder als zweidimensionale Artefakte definiert werden; sie bedürfen eines materiellen Trägers (Breckner 2010, S. 123), um sichtbar zu werden und das Zu-sehen-Gegebene gleichermaßen sichtbar zu machen (Schade und Wenk 2011); sie werden von Menschen hergestellt, wobei an dieser Herstellung Medientechnologien beteiligt sein können. Die mediale Gebundenheit ist auch für Geise und Rössler (2012) in ihrer kommunikationswissenschaftlichen Definition konstitutiv, die um die Dimensionen der Repräsentation und Bedeutung und deren Kontext erweitert wird: Ein Bild ist demnach „eine intentionale, höchstens zweidimensionale, medial gebundene Visualisierung oder visuelle Repräsentation von Bedeutungsinhalten, die nicht bereits festgelegt sein müssen, mit Bezug zu situativen, zeitlichen, räumlichen, individuellen und sozialen Kontexten“ (Geise und Rössler 2012, S. 348). Müller und Geise (2015, S. 24) heben neben Gestalt und Form insbesondere den Produktions- und Rezeptionskontext als weitere Kontextdimensionen von Bildern hervor. Mag die Bedeutung durch spezifische Gestaltung, Form, etc. hervorgebracht werden, die Zuweisung von Sinn und Bedeutung geschieht in sozialen Zusammenhängen unter spezifischen historischen, kulturellen, medientechnologischen und politisch wie rechtlichen Bedingungen (vgl. auch Geise und Rössler 2012). Visuelle

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E. Grittmann

Kommunikationsforschung befasst sich mit Kommunikation, die in Bildern und durch Bilder erfolgt. Bilder werden aber auch in unterschiedlichen Öffentlichkeiten produziert und distribuiert (siehe auch den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band), folglich muss auch die Analyse diese sozialen Praktiken, Verhältnisse und Bedingungen berücksichtigen. So richten beispielsweise die Visual Cultural Studies ihr Erkenntnisinteresse gerade auf die Repräsentation und die Bedeutung der Bilder im Kontext von Diskursen und gesellschaftlichen Machtstrukturen (z. B. Hall 2004a, b). Daran schließt die Frage an, welche Bilder als Kommunikationsmedien zum Gegenstand der Visuellen Kommunikationsforschung werden. Thomas Knieper (2005) und Katharina Lobinger (2012) haben auf dem Medienbegriff basierende Definitionen angeboten. Sie definieren die Bildgegenstände über die jeweiligen Produktions- und Verbreitungsmedien. Knieper knüpft an die Vorstellung der Massenmedien an, demnach sind primär „massenmedial verbreitete Abbilder von Forschungsinteresse“ (Knieper 2005, S. 39), Lobinger hat im Anschluss daran den Begriff des „Medienbildes“ (Lobinger 2012, S. 68) vorgeschlagen. Angesichts der aktuellen zunehmenden Visualisierung der Lebenswelten, die sich in spezifischen Praktiken der Produktion, z. B. durch Smartphone-Kamera-Apps, oder Distribution, z. B. durch Sharing in Social Media zeigt (siehe den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band), muss das Verständnis von Medienbildern in dieser Hinsicht erweitert werden. Setzt man Produktion, Bearbeitung und Auswahl sowie Archivierung und Distribution als grundlegende Praktiken von Bildern voraus, dann beschäftigt sich die Visuelle Kommunikation mit jenen Medienbildern, die a) in der Herstellung, (digitalen) Archivierung und/oder Verbreitung Medientechnologien benutzen, die b) für die Kommunikation in spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten hergestellt und die c) anderen, seien es einzelne Personen, Gruppen und Gemeinschaften oder einer breiten RezipientInnenschaft, zu sehen gegeben werden. Wie sich Medienbilder unterschiedlicher Kontexte analysieren lassen, wird im folgenden Abschnitt vorgestellt.

3

Methoden der Medienbildanalyse und ihre Anwendungen

In der Visuellen Kommunikationsforschung wurden im Zuge der Exploration des Forschungsfeldes in den beiden letzten Jahrzehnten vor allem drei zentrale, auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Annahmen beruhende Ansätze und Methoden für die Medienbildanalyse adaptiert und weiterentwickelt: 1) der ursprünglich in der Kunstwissenschaft entwickelte Ansatz der IkonografieIkonologie (siehe Abschn. 3.1); 2) die aus der Sprachwissenschaft bzw. Linguistik stammende zeichentheoretische Semiotik und Semiologie (siehe Abschn. 3.2) und 3) die am kritischen Rationalismus orientierte empirische und quantitative Methode der standardisierten Inhaltsanalyse (siehe Abschn. 3.3).

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung

531

In allen drei Ansätzen und Methoden ist dabei eine Differenzierung nach 1) Bildinhalten, Repräsentationen, Motiven und Sujets und dadurch erzeugtem Wissen, 2) ästhetischen Gestaltungsmitteln sowie 3) spezifischen Kontexten (z. B. Bild-TextVerhältnis) zu beobachten, wobei je nach erkenntnistheoretischem Hintergrund mit ganz unterschiedlichen Begriffen gearbeitet wird. Die folgende Vorstellung orientiert sich an dieser Differenzierung. Die Ansätze und Methoden wurden in den vergangenen Jahren nicht nur in vielfältiger Form miteinander kombiniert (z. B. Bildtypenanalyse als auf der Ikonografie/Ikonologie basierende standardisierte Bildinhaltsanalyse, siehe Abschn. 3.4), sie wurden auch von unterschiedlichen theoretischen Richtungen und Programmen adaptiert (z. B. semiotische Analyse in Repräsentationskritik der Cultural Studies, Hall 2004a). Die Wahl und Kombination jeweiliger Analyseverfahren oder Analysekriterien (Dimensionen) hängt vom jeweiligen Erkenntnisinteresse und der Fragestellung eines Projektes ab. Ein Überblick kann damit lediglich grundlegende Hinweise bieten.

3.1

Ikonografisch-ikonologisch orientierte Verfahren zur Analyse von Medienbildern

Ein insbesondere im deutschsprachigen Raum einflussreicher adaptierter Ansatz zur Analyse von Bildinhalten und Repräsentationen in der Visuellen Kommunikationsforschung stellt die Ikonografie-Ikonologie dar, die von dem Hamburger Kunsthistoriker Erwin Panofsky in den 1920er- und 1930er-Jahren in Auseinandersetzung mit dem wissenssoziologischen Ansatz des Soziologen Karl Mannheim und den Vorarbeiten des Kulturwissenschaftlers Aby M. Warburg entwickelt und in Form eines dreistufigen Analysemodells ausgearbeitet wurde (Panofsky 1994 [1939/1955]). Das Modell wurde inzwischen vielfach beschrieben und diskutiert (dazu ausführlich Grittmann 2007; Knieper 2003; Müller 2011) und wird daher nur kurz in den Grundzügen skizziert. Ikonografie beschäftigt sich nach Panofsky (1978, S. 36) als eine Richtung der Kunstgeschichte „mit dem Sujet (Bildgegenstand) oder der Bedeutung von Kunstwerken“. Darauf baut die Ikonologie als Interpretationsmethode auf. Bilder sind gleichermaßen Ausdruck von Ideen, die Panofsky als „Grundhaltung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen und philosophischen Überzeugung“ gefasst hat (Panofsky 1978, S. 18). Bilder sind somit im Kontext kultureller Sinnstrukturen zu interpretieren. Panofsky hat diese kulturelle Gebundenheit an einem Beispiel, am Lüften eines Huts verdeutlicht. Das Lüften kann eine Begrüßung bedeuten, die nur diejenige als solche verstehen, die um diese symbolische Bedeutung wissen (Panofsky 1994). Bilder sind dabei zunächst zeitlich und räumlich einzuordnen, zu datieren und zu lokalisieren (Panofsky 1978, S. 12), d. h. der Entstehungskontext ist zu rekonstruieren. Müller hat die Methode daher auch als forensische Methode bezeichnet (Müller 2011, siehe auch den Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band). Panofsky differenziert drei Ebenen der Analyse: Die erste Analyseebene, die vorikonografische Beschreibung, konzentriert sich auf die Identifikation des „primären“ oder „natürlichen“ Sujets, wie beispielsweise Personen, Gegenstände oder Handlungen und Emotionen (Panofsky 1994, S. 210). Als Korrektiv dieser auf Alltagserfah-

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E. Grittmann

rung beruhenden ersten Zuweisung soll der Vergleich mit Darstellungs- sowie Stilkonventionen einer Zeit dienen. Die eigentliche ikonografische Analyse widmet sich der Untersuchung des sekundären oder konventionalen Sujets (Panofsky 1994, S. 210). Sie zielt auf die Rekonstruktion der dargestellten Person, Situation oder des spezifischen Gegenstands. Zur Prüfung bedarf es nach Panofsky schriftlicher Quellen und der Typengeschichte (Panofsky 1994, S. 210–211). Die „eigentliche Bedeutung“ liegt in den Vorstellungen und Weltanschauungen, die sich im Bild artikulieren (Panofsky 1994, S. 211–214) und sich durch die Rekonstruktion der „politischen, poetischen, religiösen, philosophischen und gesellschaftlichen Tendenzen“ (Panofsky 1994, S. 221) aus unterschiedlichen Disziplinen erforschen lassen (ikonologische Interpretation). Qualitative Ikonografische Analyse von einzelnen Bildmotiven, Bildtypen und Motivgruppen Ziel des ikonografisch-ikonologischen Ansatzes ist es, die Bedeutung von Bildern und ihren Beitrag zur Wissensproduktion in einer Gesellschaft zu analysieren. Die Stärke der Ikonografie/Ikonologie als Methode besteht darüber hinaus darin, dass sie es ermöglicht, sehr systematisch und regelgeleitet vorzugehen. Dadurch sind Ergebnisse und Interpretationen intersubjektiv nachvollziehbar. Die Methode wurde für die Medienbildanalyse adaptiert und für die Analyse unter aktuellen medialen und gesellschaftlichen Bedingungen angepasst (dazu im Folgenden). Die ikonografischikonologische Methode ist zunächst als Einzelbildanalyse gedacht, die Bildtraditionen und den Vergleich mit anderen Bildern nutzt, um die Bild-Bedeutung zu analysieren und herauszuarbeiten. Sie wurde beispielsweise von Knieper (2003) für die Analyse politischer Pressefotografien verwendet. Knieper hat die ikonografische wie ikonologische Bedeutung der politisch inszenierten Aufnahme des historischen Handschlags zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzak Rabin und dem Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation Jassir Arafat vom 13. September 1993 entsprechend der drei Analyseebenen systematisch analysiert (siehe auch den Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band). Dazu hat er nicht nur die Symbolik der Gestik, Komposition, Ereignis und Akteure rekonstruiert, sondern auch den politischen Entstehungskontext der Aufnahme sowie die politischen Hintergründe (siehe dazu auch weiter unten die Ausführungen zur Kontextanalyse). Die Rekonstruktion der Bildtradition hat Fromm (2013, S. 76–77) zur ikonografischen Analyse und ikonologischen Deutung der berühmten Fotografie von James Nachtwey eingesetzt, die die Trümmer des World Trade Centers nach den Anschlägen vom 11. September 2001 durch eine zerbrochene Fensterscheibe zeigt. Fromm hat ikonografische Vorbilder erschlossen und die Referenzen auf das Bild des Eismeers von Caspar David Friedrich von 1823/24 aufgezeigt, das Hoffnungslosigkeit und Resignation symbolisiert. Nachtwey aktualisiert diese Bedeutung in der motivgeschichtlichen Adaption. In umfassenderen ikonografischen Analysen, z. B. über die visuelle Fluchtberichterstattung (z. B. Falk 2010) oder von Bildern der Kriegs- und Berichterstattung (z. B. Konstantinidou 2007) ist insbesondere die Rezeption christlicher Ikonografie rekonstruiert worden. Über die Motivtraditionen wird gleichermaßen die ikonologische Bedeutung, z. B. Humanität, nachvollziehbar herausgearbeitet. Eine solche

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung

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Analyse ist, wenn nicht auf sehr populäre Bildmotive rekurriert wird, allerdings nur durch umfassenderes Bildwissen und/oder intensive Recherche möglich. Auf ikonografische Traditionen wird insbesondere in der politischen Bildkommunikation häufig rekurriert, um Werte aufzurufen, wie Müller in ihrer umfassenden Studie zur Bildkommunikation im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf aufgezeigt hat. Sie hat ikonografische Muster typisiert und auf dieser Grundlage spezifische „Bildstrategien“ (Müller 1997) herausgearbeitet, so beispielsweise die „Familien-Strategie“, die „Ahnen-Strategie“ oder die „Heldenstrategie“ in der Repräsentation amerikanischer Präsidentschaftskandidaten (Müller 1997, S. 164–260). Eine systematische Typisierung von Bildmotiven, und zwar nicht allein historisch über Bildtraditionen, sondern synchron in spezifischen kulturellen und sozialen Kontexten, ist inzwischen zur Bildtypenanalyse ausgearbeitet worden (siehe Abschn. 3.4; Grittmann und Ammann 2011), wobei sich die spezifischen Bildtypen mit Hilfe der Grounded Theory entwickeln lassen (Grittmann 2017). Die Ikonografie-Ikonologie wird auch in der an Foucault orientierten Bilddiskursanalyse genutzt (siehe etwa Maasen et al. 2006). Schade und Wenk (2011) haben die ikonografische mit der im Folgenden beschriebenen semiotischen Analyse verbunden und zu einer repräsentationskritischen Analyse weiterentwickelt. Ästhetische Gestaltungsmittel Im ikonografisch-ikonologischen Ansatz werden ästhetische Gestaltungsmittel, wie beispielsweise Komposition, Stil und Formen, insofern berücksichtigt, als sie zur Analyse der spezifischen ikonografischen Bedeutung beitragen (Panofsky 1978, S. 48; Schade und Wenk 2011, S. 78). Ästhetische Gestaltungsmittel stehen gleichermaßen für ein spezifisches Verständnis des Realitätsbezugs. Anhand der gewählten fotografischen Gestaltungsmittel lassen sich beispielsweise Authentizitätskonstruktionen (siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band) und dokumentarische Normen analysieren (vgl. z. B. zur Pressefotografie Grittmann 2003, zu dokumentarischer Fotografie Runge 2012; Fromm 2013). Auch die soziologische, unter anderem auf Karl Mannheim rekurrierende Methode der „Dokumentarischen Bildinterpretation“ von Bohnsack richtet ihr Interesse gerade auf die visuellen „Gestaltungsweisen“ (Kanter 2016b), die insbesondere in Form von vier formalstrukturellen Dimensionen ausgearbeitet wurden: die planimetrische Ganzheitsstruktur, die perspektivische Projektion, die szenische Choreografie und das Verhältnis von Schärfe und Unschärfe (Przyborski 2014). Przyborski (2014) und Kanter (2016b) haben beispielsweise in Einzelanalysen von Pressefotografien bzw. politischer PR-Fotografie detailliert anhand der Dimensionen herausgearbeitet, wie die spezifische Bedeutung des Bildes durch die gestalterischen Mittel erst konstituiert wird. Ikonografisch-ikonologische Kontextanalysen Die wissenssoziologisch, ideengeschichtlich und weltanschauungsorientierte Ikonografie und Ikonologie ist offen für Anschlüsse an weitere Analysen, die den Kontext der Bildproduktion bzw. der Bildrezeption stärker berücksichtigen (siehe auch den

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E. Grittmann

Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band). Müller hat insbesondere drei Kontexte in der von ihr entwickelten „visuellen Kontextanalyse“ (Müller 2011) hervorgehoben, die für die Analyse von Medienbildern relevant sind: 1) den Formund Gestaltkontext von Bildern (z. B. von Fotografien auf Instagram); 2) den Produktionskontext, bei dem Routinen, Konventionen, Selektionskriterien, etc. berücksichtigt werden und 3) den Rezeptionskontext, der beispielsweise durch Beobachtung, Fokusgruppen oder Experimente analysiert wird. Die visuelle Kontextanalyse schließt hiermit insbesondere an die kommunikationspsychologische Forschung und Wirkungsforschung an (Müller 2011). Mit der ikonologischen Kontextanalyse haben Bock et al. (2011b) ein Verfahren entwickelt, das die Analyse der spezifischen medialen und sozialen Bedingungen in die ikonografisch-ikonologische Analyse integriert. Untersucht werden die Strategien der Bildproduktion (beispielsweise durch gezielte PR), der Ereignishintergrund (insbesondere bei fotografischen, dokumentarischen Medienbildern), und der jeweils spezifische Produktions-, Distributions- und Rezeptionskontext der Bilder. Durch die Analyse des Medienkontextes, d. h. dem konkreten Publikationsmedium, in dem ein Medienbild veröffentlicht wird, lassen sich das Zusammenspiel von Bild und Text sowie Layout in der Bedeutungskonstruktion herausarbeiten (Bock et al. 2011b, S. 61–62). Isermann (2015) hat das Verfahren in seiner empirischen Studie „Digitale Augenzeugen“ zur Amateurfotografie in Printmedien und den damit veränderten Authentizitätsnormen angewendet. Die Analyse von Bild-Text-Beziehungen und des Layouts ist in den ikonografisch-ikonologischen Verfahren insgesamt noch wenig elaboriert. Hierfür bieten sich insbesondere semiotisch orientierte Verfahren an.

3.2

Semiotisch orientierte Ansätze und Verfahren der Medienbildanalyse

Die wohl international am häufigsten eingesetzten Methoden und Verfahren zur Analyse der Bedeutung von Medienbildern stellen Weiterentwicklungen der Semiologie und Semiotik dar, wie sie von dem Linguisten Ferdinand de Saussure auf der einen und dem Philosophen Charles Sanders Peirce auf der anderen Seite im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert begründet wurden. Die Semiologie/ Semiotik versteht sich als Lehre von Zeichen (siehe auch den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band). Saussure hat sich intensiv mit dem Zusammenhang von Bezeichnendem, dem Signifikant, und dem damit verbundenen Bezeichneten, dem Vorstellungsbild (Signifikat), in Sprachzeichen befasst und untersucht, wie durch deren Verbindung Bedeutung entsteht und damit durch Sprache Verständigung möglich wird (siehe zum Überblick Birk et al. 2014; Schade und Wenk 2011). Besonders einflussreich sind die Arbeiten von Peirce zum spezifischen Bezug von Zeichen zu Objekten, den Referenten. Peirce entwickelte ein triadisches Zeichenmodell, nachdem sich drei Zeichenrelationen unterscheiden lassen: Index, Ikon und Symbol. Nach Peirce zeichnet sich das Ikon durch Ähnlichkeiten zwischen Objekt und dem „Repräsentamen“, dem Zeichen, aus, „indem es gewisse Eigenschaften mit dem bezeichneten Objekt teilt“ (Birk et al. 2014, S. 134). Als Ikons

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung

535

gelten beispielsweise gegenständliche Bilder. Ein Index wiederum steht unter anderem in einer physischen oder referenziellen Beziehung zu einem Objekt (Birk et al. 2014), wie beispielsweise Rauch für Feuer oder eine Spur eines Wagens auf einem Feldweg, während ein Symbol auf einer konventionalisierten festen Bedeutung basiert (Birk et al. 2014, S. 135). An die beiden Theorien wurde auf unterschiedliche Weise in den 1960er-Jahren wieder angeknüpft, als sich die Semiotik zur eigenständigen Disziplin entwickelt hat. Für die Visuelle Kommunikationsforschung sind insbesondere die Arbeiten von Barthes aus dieser Zeit von besonderer Relevanz, die immer wieder die ideologische Bedeutung von Medienbildern in den Mittelpunkt der Analyse gestellt haben. Aufgenommen wurden Barthes’ Theorien insbesondere von Hall, einem der wichtigsten Vertreter der Cultural Studies. Mit der Entwicklung der Social Semiotics in den 1990er-Jahren richtet sich die Forschung auch verstärkt auf die Funktion der ästhetischen Gestaltungsmittel und die Multimodalität im medialen Produkt. Semiotische Analyse der Bedeutung und ihre Repräsentationskritik medialer Bilder Barthes hat bereits Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre einen semiotischstrukturalistisch geprägten Ansatz und eine Methode zur Analyse der „Sprache“ bzw. „Botschaft“ visueller Kommunikation am Beispiel von (journalistischer) Fotografie und der Werbung entwickelt und angewendet. Auch diese Methode richtet sich zunächst auf die Einzelbildanalyse. In dem Beitrag „Die Fotografie als Botschaft“ (Barthes 1990a, zuerst 1961), der sich stark auf Saussure bezieht, differenziert Barthes zwei Ebenen des Bildes. Die erste Ebene bildet die denotierte Botschaft, „ohne Code“ (Barthes 1990a, S. 13); zwischen fotografiertem Objekt und Bild besteht nach Barthes ein Wirklichkeitsbezug, das Foto zeigt das „buchstäblich Wirkliche“ (Barthes 1990a, S. 12), es bildet ab. Davon unterscheidet Barthes die konnotierte Botschaft, die assoziative Bedeutung, die eine gewisse „Kultur“ der Gesellschaft ausdrückt und durch ästhetische, professionelle sowie ideologische Normen als Konnotationsfaktoren bestimmt wird (Barthes 1990a, S. 15). Durch Auswahl, technische Bearbeitung, Bildausschnitt und Umbruch werde die eigentliche Konnotation erzeugt (Barthes 1990a, S. 16). In „Rhetorik des Bildes“ (Barthes 1990b, zuerst 1964), stellte Barthes am mittlerweile berühmten Beispiel einer Panzani-Werbung vor, wie sprachliche und bildliche Mittel zusammenwirken, um die Vorstellung einer „Italianität“ zu erzeugen und damit zu einer historisch wie kulturell spezifischen Ideologie in einer Gesellschaft beitragen. In „Mythen des Alltags“ wendet er seine semiologische Analyse auf ganz unterschiedliche visuelle Materialien und Bildgattungen an. Auf die Parallelen und Ähnlichkeiten von Barthes Ansatz zur Ikonografie und Ikonologie ist vielfach hingewiesen worden (z. B. Rose 2016; Schade und Wenk 2011). Barthes’ Methode wird in der Visuellen Kommunikationsforschung vielfältig eingesetzt, vor allem für die Analyse von Werbeplakaten oder -kampagnen (Page 2006; für eine Anleitung und Beispielanalysen siehe auch Rose 2016). Popp und Mendelson (2010) haben die Titelbilder des Time Magazine von Abu Musab al-Zarqawi, Mitglied des terroristischen Netzwerks Al-Qaida, mithilfe der semiotisch orientierten Analyse auf ihre ideologischen Bedeutungen hin untersucht.

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E. Grittmann

Hall hat die semiotische Analyse in seinen repräsentationskritischen Studien weiterentwickelt (1981, 2004a). Nach Hall beruhen visuelle Repräsentationen auf kulturspezifischen Konventionen, bereits die denotative Botschaft ist demnach kulturell bestimmt (Hall 2004b; S. 71–74) Sie werden von „Kodes“ unterstützt, über die die Bilder eine Beziehung „mit dem weiteren Universum der Ideologien in einer Gesellschaft“ eingehen (Hall 2004b, S. 74). Bildbedeutungen werden dabei als polysem, mehrdeutig, aber nicht beliebig betrachtet. Hall hat im Beitrag „Spektakel der Anderen“ (2004a) in historischer, intertextueller Analyse und anhand von aktuellen Bildbeispielen untersucht, wie „Rasse“ und „Andersheit“ visuell (re-) produziert werden und visuelle Stereotype – das sind konventionalisierte verfestigte visuelle Repräsentationen – Differenz damit naturalisieren, essenzialisieren und reduzieren (Hall 2004a, S. 144). Mithilfe einer von Barthes und Hall inspirierten semiotischen Analyse konnten Mendelson und Smith (2006) die ideologischen Bedeutungen und „Mythenbildung“ „objektiver“ fotojournalistischer Arbeiten von Robert Capa in Israel Ende der 1940er- und Anfang der 1950er-Jahre aufzeigen. Ästhetische Gestaltungsmittel in den Social Semiotics (Sozialsemiotik) und der Realitätsbezug des Bildes Die wohl einflussreichste Weiterentwicklung der semiotischen Analyse für die Visuelle Kommunikationsforschung stellen die Social Semiotics (Sozialsemiotik) von Kress und van Leeuwen (2006, zuerst 1996) dar, die sich mit den „semiotischen Ressourcen“ und ihrem Bedeutungspotenzial in kulturellen wie sozialen Kontexten befassen. Theoretisch rekurrieren sie auf die Arbeiten des Linguisten Halliday und unterscheiden drei Funktionen von Bildern: Die Repräsentationsfunktion (ideational function) bezieht sich zum einen auf die repräsentierten AkteurInnen, Ereignisse und Handlungen, zum anderen aber auch auf konzeptionelle Repräsentationen wie u. a. Grafiken und Diagramme (Kress und van Leeuwen 2006, S. 79–87). Die Interaktionsfunktion (interaction) richtet sich insbesondere auf die durch die visuellen Gestaltungsmittel erzeugte Beziehung zwischen den im Bild repräsentierten Personen und den BetrachterInnen. Kress und van Leeuwen analysieren dieses Verhältnis z. B. anhand der Art des Blickkontakts, der (sozialen) Distanz, die in der Fotografie beispielsweise durch den Ausschnitt hergestellt wird, sowie anhand von Perspektive und Kamerawinkel (Kress und van Leeuwen 2006, S. 114–143). Die Funktion der Komposition konzentriert sich auf die Bedeutung des Aufbaus, der Gestaltung, der Anordnungen und der Text-Bild-Bezüge sowie der Hervorhebung (salience) und schließlich des Framings (Kress und van Leeuwen 2006, S. 175–210). Die besondere Stärke der Social Semiotics liegt in der Elaboriertheit der einzelnen Begriffe und Analysedimensionen, in der Anleitung zur Analyse der spezifischen visuellen Struktur von Medienbildern, den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten für ganz unterschiedliche Bildgattungen und -genres und der Analyse des konkreten medialen Publikationskontextes und multimodaler Medienangebote. Dabei geht es nicht um diese visuellen Ressourcen an sich, sondern darum, wie durch sie Bedeutung generiert wird. Anwendungen finden sich beispielsweise bei Aiello (2012). Sie hat die spezifischen ästhetischen semiotischen Ressourcen eines europäischen Foto-

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung

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projektes der Agentur Magnum analysiert und die Folgen der Ästhetisierungsstrategien für Differenzkonstruktionen aufgezeigt. Aus einer theoretischen Perspektive der Critical Discourse Analysis (CDA) hat Chouliaraki (2008) mittels der Social Semiotics die Herstellung sozialer Distanz oder Nähe zu „distant others“ in Nachrichten untersucht. Multimodalität: Medienbilder im medialen Kontext Bilder erscheinen in der Publikation vorwiegend in größeren medialen Kontexten. Beispiele hierfür sind Zeitschriften- oder Zeitungsseiten aber auch Tweets, Websites oder Werbeanzeigen, bei denen Fotos oder andere Bildgattungen u. a. durch das Layout in einen spezifischen Zusammenhang gebracht werden (siehe auch den Beitrag von Bucher in diesem Band). Dadurch erhalten die einzelnen Repräsentationen und Visualisierungen nicht nur eine unterschiedliche Gewichtung und Bedeutung, sie werden auch in unterschiedlicher Weise mit dem Kontext in Beziehung gesetzt. Bereits Barthes hat unterschiedliche Beziehungen von Text und Bild definiert (Barthes 1990a, b), auf die auch Hall in seinen repräsentationskritischen Analysen rekurriert (Hall 2004a). Kress und van Leeuwen widmen sich in ihren grundlegenden Arbeiten zu Visual Design – vor allem in „Reading Images“ (2006, zuerst 1996) und „Multimodal Discourse“ (2001) – intensiv der Frage, wie diese verschiedenen „Modes“, wie Text, Fotos oder Grafiken zusammenspielen und sich durch dieses Zusammenspiel eigene, weiterführende Bedeutungen konstruieren. Eine multimodale Analyse konzentriert sich gerade auf die Bedeutungskonstruktion, die sich durch die Integration verschiedener medialer Elemente ergibt (zur Anleitung siehe Kress und van Leeuwen 2006, einen guten Überblick bietet van Leeuwen 2011). Lester und Cottle (2009) nutzen Barthes’ Dimensionen, um das Text-BildVerhältnis in internationalen TV-Nachrichten über Klimawandel zu analysieren. Sie weisen dabei nach, wie die Deutung durch Bildunterzeilen präzisiert, die Polysemie von Bildern also eingeschränkt wird (siehe auch Hall 2004a). Hansen und Machin (2008) arbeiten heraus, wie Bilder der Bildagentur Getty Images zu Natur und Klimawandel durch die sprachliche Verschlagwortung in Ideen und Konzepte eingebettet werden. Die Relevanz der Interaktion von Text und Bild für die Bedeutung visueller Stereotype hat Lobinger (2009) anhand von Grenzdarstellungen aufgezeigt. Social Semiotics und multimodale Analyse bilden auch die Grundlagen für theoretisch weiterführende Ansätze des Visual Journalism (Machin und Polzer 2015) oder der Visuellen Stilanalyse (Meier 2014).

3.3

Standardisierte, quantitative Bildinhaltsanalyse

Zur Analyse größerer Bildkorpora, wie beispielsweise in der visuellen Berichterstattung über spezifische Themen wie Politik, Konflikte und Kriege, Migration und Flucht oder von Profilbildern auf Facebook oder Fotos auf Instagram, kann das standardisierte Verfahren der quantitativen Bildinhaltsanalyse eingesetzt werden. Es stellt eine von den bildspezifischen Modalitäten und ästhetischen Gestaltungsmitteln ausgehende Variante der quantitativen, standardisierten Inhaltsanalyse dar. Eine

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E. Grittmann

systematische Metaanalyse von Beiträgen in deutschsprachigen und internationalen Fachzeitschriftenbeiträgen von 1990 bis 2009 erbrachte, dass die standardisierte Bildinhaltsanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung zur wichtigsten Methode zählt, um Medienbilder zu analysieren (Lobinger 2012). Zu diesem Verfahren gibt es auch einige an Beispielen orientierte Methodenanleitungen (z. B. Bell 2001; Bock et al. 2011a, b; Geise und Rössler 2012, 2013; Grittmann und Lobinger 2011; Rose 2016). Werner Früh definiert die Inhaltsanalyse als „[. . .] eine empirische Methode zur systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung formaler und inhaltlicher Merkmale von Mitteilungen, meist mit dem Ziel einer darauf gestützten interpretativen Inferenz auf mitteilungsexterne Sachverhalte“ (Früh 2007, S. 2). Als eine der zentralen Methoden einer empirischen Kommunikationsforschung basieren ihre erkenntnistheoretischen Grundannahmen ganz entscheidend auf dem kritischen Rationalismus (u. a. Hypothesenbildung, Falsifizierbarkeit) und entsprechend gelten dieselben Anforderungen. Ziel ist es, Aufschluss über die Häufigkeit, Verteilung spezifischer Merkmale und deren Zusammenhänge in dem interessierenden Gegenstandsbereich zu erhalten. So haben z. B. Kinnebrock und Knieper (2008) den Zusammenhang von Darstellungsweisen und Geschlecht bei Personendarstellungen auf Titelbildern der Nachrichtenmagazine Focus und Spiegel untersucht. Der Forschungsprozess orientiert sich dabei am idealtypischen Vorgehen empirischer Kommunikationsforschung (Geise und Rössler 2013): Der Entwicklung der Fragestellung folgen die theoretische Fundierung, die Entwicklung der Begriffe sowie Definitionen und Hypothesen. Danach werden Grundgesamtheit, Stichprobe und Analyseeinheiten festgelegt. Das eigentliche „Analyseinstrument“ bildet das Kategoriensystem mit den Codieranweisungen, das zunächst an Beispielen geprüft und auf Reliabilität getestet und dann auf das ausgewählte Material angewendet wird. Im Kategoriensystem werden schließlich die möglichen Merkmalsausprägungen der einzelnen Merkmalskategorien in numerische Relationen übersetzt, um sie messen zu können. Die Auswertung erfolgt mittels statistischer Verfahren und folgt den vorab formulierten Hypothesen; sie bilden die Grundlage für die Interpretation. Die entscheidende Besonderheit bei der quantitativen Bildinhaltsanalyse liegt darin, bildspezifische Gestaltungsmittel und ihre Bedeutung als Kategorien zu operationalisieren sowie in der besonderen Berücksichtigung des Kontextes, die erforderlich ist, um spezifische Bildinhalte überhaupt codieren zu können. In der quantitativen Inhaltsanalyse werden drei Gruppen von Kategorien unterschieden: inhaltliche, formale und wertende (Rössler 2017, S. 111–172), wobei darüber hinaus auch Kontexte erfasst werden können. Inhaltliche Kategorien: Motiv-, Akteursanalysen und Stereotypenforschung Spezifische Vorgehensweisen der visuellen Inhaltsanalyse sind sehr unterschiedlich elaboriert und die Klassifizierung von Bildmotiven oder Bildmotivelementen in Gruppen richtet sich nach dem Forschungsinteresse (zum Überblick siehe Grittmann und Lobinger 2011). Dementsprechend basieren viele Kategorienbildungen bei visuellen Inhaltsanalysen auf einem induktiv-quantifizierenden Vorgehen. Beispiele für die systematische Bildung von Motivgruppen bieten die Studien zur visuellen

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung

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Konflikt- und Kriegsberichterstattung von Griffin und Lee (1995), Griffin (2004) und Schwalbe (2006) und zur visuellen Wahlkampfkommunikation von Ballensiefen (2009). Neben diesen meist deskriptiven Studien spielt die Analyse von stereotypen Personendarstellungen eine besondere Rolle (Petersen und Schwender 2009; Thiele 2015). Stereotype Geschlechter- und Machtkodierungen (siehe auch den Beitrag von Maier und Thiele in diesem Band) zeigen sich gerade in der visuellen inhaltlichen Darstellung (siehe etwa Holtz-Bacha 2008; Zurstiege 1998), die sich anhand spezifischer Kriterien für Körperkonstruktionen von Personen, z. B. Mimik, Gestik, Blickrichtung, Aussehen, Kleidung, Dynamik oder Interaktionen der AkteurInnen, analysieren lassen (Holtz-Bacha und Koch 2008; Kinnebrock und Knieper 2008). Formale Kategorien: Die Bedeutung des Stellenwerts und der ästhetischen Gestaltungsmittel Bildinterne formale Kategorien umfassen bildspezifische, ästhetische Gestaltungsmittel. Da es auch bei der standardisierten Inhaltsanalyse nicht um eine Kategorie per se (z. B. Größen von Bildern, Bildausschnitte), sondern um deren Bedeutung geht, adaptiert die Forschung auch hier oftmals Dimensionen der ikonografischikonologisch orientierten oder der sozialsemiotischen Verfahren. Eine grundlegende Kategorie in der visuellen Journalismusforschung ist etwa jene der Bildgattung, wie beispielsweise Fotografie, Zeichnung, Collage, Infografik, Karikatur oder Karte. Insbesondere in der journalistischen Fotografie werden ästhetische Gestaltungsmittel zur Bedeutungskonstruktion eingesetzt, die in der standardisierten Inhaltsanalyse erhoben werden können. Dies sind u. a. Kameraperspektive, Bildausschnitt, Einstellungsgröße, Farbe, Komposition (z. B. Bleiker et al. 2013; Grittmann 2007; Holtz-Bacha und Koch 2008; Kinnebrock und Knieper 2008). Der Ansatz der sozialen Distanz (Kress und van Leeuwen 2006, S. 124–129) wird beispielsweise genutzt, um politische Repräsentationen (Mullen 1998) oder die Humanisierung im Fluchtdiskurs zu untersuchen (Bleiker et al. 2013). Bildformate und Einstellungsgrößen wiederum dienen der Analyse von Authentizitäts- und Objektivitätskonstruktionen durch Bilder (Grittmann 2003) oder der analytischen Auseinandersetzung mit der Konstruktion von „Anderen“ (Lünenborg und Maier 2017). Neben ersten Versuchen seit den 1980er-Jahren (z. B. Singletary und Lamb 1984) sind neuere Verfahren entwickelt worden, um die Auswahl von Medienbildern anhand bildspezifischer Nachrichtenfaktoren systematisch untersuchen zu können (z. B. Rössler et al. 2011; Engesser et al. 2010). Wertende Kategorien: Tendenzen in Medienbildern Die Analyse von Wertungen erfolgt häufig nach einer mehr oder weniger differenzierten Skalierung in „positive“, „neutrale“ oder „negative“ Beurteilungen. Die entsprechenden Studien beziehen sich dabei oft auf die Repräsentation von Personen, ihrem Erscheinen (u. a. Körperausdruck, Aktivität, Gestik, Mimik, Haltung) und Handeln. Der Versuch, Wertungen zu erheben, stellt eine besondere Herausforderung dar. Wie keine andere Kategorie ist sie von Werten und Normen der Forschenden beeinflusst (siehe z. B. Ballensiefen 2009, S. 319–324; Fleissner 2004),

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E. Grittmann

sodass die Gefahr besteht, dass eine als „allgemeingültig“ definierte, hegemoniale Deutung von „positiven“ oder „negativen“ Bildern (re-)produziert wird. Gerade die Bedeutung von Gestik, Körperausdruck oder emotionalem Ausdruck ist darüber hinaus situationsabhängig, die gleiche Mimik kann in unterschiedlichen Kontexten verschieden bewertet werden. Eine Alternative dazu haben Mellese und Müller (2012) in ihrer Analyse der Text- und Bildberichterstattung über die Sub-Sahara gewählt und nicht das Motiv, sondern die Tonalität der Bildunterschriften analysiert. Kontextanalysen Anhand von formalen Kategorien kann der Einsatz von Bildern im Kontext journalistischer Medien untersucht werden. Bildexterne Kategorien beziehen sich dabei u. a. auf Häufigkeit, Bildgröße und die Positionierung des Bildes im Medienkontext, über die sich Erkenntnisse über den Stellenwert von Bildern oder von spezifischen Bildmotiven und -gruppen gewinnen lassen (z. B. Ballensiefen 2009). Verfahren zur systematischen Erfassung des Zusammenhangs von Bild und Text in quantitativen Analysen sind dagegen noch wenig elaboriert (Koch 2011).

3.4

Bildtypenanalyse

Die Bildtypenanalyse ist eine Methode, die sich der systematischen Analyse der Bedeutung von Motiven und damit dem Beitrag von Bildern zur Wissensproduktion in Gesellschaften widmet (Grittmann 2001, 2007). Sie ermöglicht, das gesamte Motiv eines Bildes auf der Bedeutungsebene zu analysieren und Motive dann zu klassifizieren sowie, bei entsprechendem Forschungsinteresse, in einem weiteren Schritt in Kombination mit der quantitativen Inhaltsanalyse standardisiert zu erheben (Grittmann 2007). Im Anschluss an den ikonografisch-ikonologischen Ansatz von Panofsky (siehe Abschn. 3.1) und Halls Repräsentationskritik wird ein Bildmotiv als Ergebnis spezifischer Bildpraktiken mittels ästhetischer Gestaltungsmittel verstanden, durch das sich Ideen, Normen, Werte und Weltanschauungen – Hall (2004b, S. 72–75) spricht von Ideologien – artikulieren. Die Bildtypenanalyse kombiniert die ikonografisch-ikonologische Analyse mit qualitativen Verfahren der Typisierung und in einem dritten Schritt mit der standardisierten Inhaltsanalyse. Die Besonderheit der Bildtypenanalyse besteht darin, dass sie Motive nicht auf der Ebene des „primären Sujets“ typisiert: Im ersten Schritt wird auf Grundlage einer genauen Analyse des Einzelbildes die ikonografische Bedeutung und damit das „sekundäre Sujet“ eines Motivs herausgearbeitet, d. h. beispielsweise, dass das Bildmotiv des Weißen Hauses in Washington zwar auf der ersten Ebene der ikonografisch-ikonologischen Analyse als Architektur-Motiv beschrieben werden kann, das sekundäre Sujet (Weißes Haus) und die Bedeutungsebene jedoch vor allem der Visualisierung politischer (Regierungs-)Macht oder politischen Machthandelns dienen. Bereits Panofsky hat die Idee des Bildtypus für künstlerische Werke thematisiert. Durch das Verfahren der Typisierung von Motiven ist es beispielsweise für die stark konventionalisierte visuelle Berichterstattung möglich, ähnliche Motive und dadurch verbreitete Deutungsmuster systematisch zu erschlie-

Methoden der Medienbildanalyse in der Visuellen Kommunikationsforschung

541

ßen, wobei für die Typisierung die Grounded Theory genutzt werden kann (Grittmann 2017). Bildtypen wie der des Regierungsgebäudes lassen sich schließlich mit anderen Motiven von politischer Macht zu Motivgruppen zusammenfassen. Spezifische Bildtypen und Motivgruppen wurden beispielsweise von Lünenborg und Maier (2017) in der visuellen Fluchtberichterstattung oder der Wahlkampfkommunikation auf Instagram (Bernhardt und Liebhart 2017) analysiert. Auf der Grundlage der Bildtypen können dann mittels standardisierter Bildinhaltsanalyse die Verbreitung und Dominanz spezifischer Typen quantitativ erhoben werden. Das standardisierte Verfahren wurde beispielsweise zur Analyse der visuellen Berichterstattung über Politik (Grittmann 2007; Bernhardt und Liebhart 2017), Krieg (Koltermann 2010) oder die Erinnerung an 9/11 und die dadurch erzeugten Deutungsmuster (Grittmann und Ammann 2011) eingesetzt.

4

Ausblick: Perspektiven der Methodenentwicklung zur Medienbildanalyse

Dieser Beitrag hat sich auf jene Methoden und Verfahren der Medienbildanalyse konzentriert, die zum einen theoretisch fundiert, in methodischen Einführungen elaboriert und bereits in Studien angewendet wurden. Sie zeichnen sich durch ein nachvollziehbares, systematisches und regelgeleitetes Vorgehen aus. Hierin liegt auch ihr Potenzial für die Analyse neuer Bildgenres und Gebrauchsweisen von Bildern in Social Media und digitalen Medienumgebungen überhaupt. Gerade die mit der Digitalisierung und Mediatisierung veränderten Nutzungsweisen digitaler Medientechnologien fordern die Visuelle Kommunikationsforschung heraus (siehe auch den Beitrag von Reißmann in diesem Band). Gleichermaßen sind die hier vorgestellten Ansätze dadurch gekennzeichnet, dass sie mediale, kulturelle, historische oder politische Bedingungen und ihr Veränderungspotenzial mitreflektieren und berücksichtigen. Kaum einer der zugrunde liegenden Ansätze geht dabei von feststehenden Bedeutungen aus, die kulturell oder sozial als allgemeingültig zugeschrieben werden können. Darin liegt aber auch gleichermaßen die Herausforderung in der Analyse von Medienbildern, da ihr Deutungsangebot nicht auf eine einzige Bedeutung festzuschreiben ist. Müller (2007) spricht hier von der assoziativen Qualität von Medienbildern. Die analytische Herausforderung, Bildern eine spezifische Bedeutung zuzuweisen, wird in unterschiedlichem Maße reflektiert; die Diskussion der Konsequenzen eines polysemischen Bildbegriffs für die Bildanalyse und der Standortbezogenheit der Forschenden steht dabei erst am Anfang. Damit verbunden ist auch gleichermaßen die Frage, wie die Multimodalität medialer Angebote – Medienbilder treten ja nur selten isoliert auf – methodisch integriert werden kann (siehe dazu den Beitrag von Bucher in diesem Band). Ebenso drängend stellt sich für die auch zunehmend in den Alltagspraktiken verwendeten Videos und Filmen die Frage, wie Bewegtbilder über die Einzelanalyse von Filmen und Videos hinaus theoretisch fundiert analysiert werden können. Die aktuelle Visuelle Kommunikationsforschung arbeitet zunehmend mit elaborierten Theorien und dabei mit Kombinationen verschiedener Methoden und Ver-

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E. Grittmann

fahren. Wie sich beispielsweise Visual Frames analysieren lassen, wird seit einigen Jahren intensiv diskutiert und in Studien umgesetzt (siehe zum Überblick Geise und Lobinger 2013; siehe auch Fahmy und Kim 2008; Herbers und Volpers 2013; Mellese und Müller 2012; Parry 2010; Rodriguez und Dimitrova 2011). Wie gezeigt wurde, sind gerade in den vergangenen Jahren Methodenüberblicke, Einführungen, Anleitungen und Studien entstanden, die für die Analyse der derzeit enormen Bildproduktionen genutzt werden können. Noch immer hat die Visuelle Kommunikationsforschung aber gerade in den Institutionen und Studiengängen in Deutschland nicht ihren Platz erlangt, um kontinuierlich Forschung in so breitem Maße zu ermöglichen.

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Qualitative Methoden der Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann

Inhalt 1 2 3 4 5

Einleitung: Minimal- und Maximalbestimmung bildzentrierter Forschung . . . . . . . . . . . . . . . Basisbegriffe der lebensweltorientierten Bildforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden und Instrumente der lebensweltorientierten Bildforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildhandeln und Bildaneignung in digitalen Medienumgebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick: Triangulation als Königsweg einer bildsensiblen Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Im Fokus dieses Beitrags stehen Instrumente und Verfahren der Erhebung und Auswertung zur Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung. Dabei werden klassische Verfahren und Untersuchungsfelder der Visuellen Kommunikationsforschung um Phänomene multimodaler Alltagswelten und digitaler Bildpraktiken erweitert. Plädiert wird für handlungstheoretische, wissenssoziologische sowie praxeologische Herangehensweisen, die die Bedeutung, sozialen Kontexte, subjektiven Sinnzuschreibungen sowie gesellschaftlichen Sinnzusammenhänge der Bilder, des Bildhandelns und der Bildaneignung umfassen. Schlüsselwörter

Qualitative Methoden · Bildhandeln · Bildaneignung · Bildpraktiken · Bildanalyse

W. Reißmann (*) DFG-Sonderforschungsbereich 1187 „Medien der Kooperation“, Projekt B07, Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] D. Hoffmann Medienwissenschaftliches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_28

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1

W. Reißmann und D. Hoffmann

Einleitung: Minimal- und Maximalbestimmung bildzentrierter Forschung

Das Forschungsfeld Visuelle Kommunikation bezieht seine Legitimation daraus, Bilder und Bildlichkeit in den Fokus kommunikationswissenschaftlicher Forschung zu rücken. Belässt man es allein bei dieser thematischen Eingrenzung, bedarf es nicht zwingend eigenständiger theoretischer Zugänge und Methoden. Prinzipiell kann der Gegenstand Bild mit den gleichen Theorien und Instrumenten bearbeitet werden, mit denen auch andere Themen der Kommunikationswissenschaft untersucht werden. In Ergänzung dazu geht es der Visuellen Kommunikationsforschung aber auch darum, bild- und modalitätsspezifische Momente herauszuarbeiten. Sie fragt nach den Besonderheiten, die es hinsichtlich von Produktion, Darstellung, Repräsentation, Vermittlung, Verbreitung, Nutzung, Rezeption, Handeln, Aneignung und/oder Wirkung von Bildern zu beachten gilt. Meist in Abgrenzung zur (Schrift-)Sprache erfahren Bilder hierbei spezifische Zuschreibungen. So sollen Präsentativität, Simultaneität, Konkretion oder anschauliche Evidenz Charakteristika des Bildlichen sein (einführend Langer 1987 [1942]; Schulz 2009, S. 87–101). Gleichzeitig ist jedoch ebenso von einer konstitutiven Verwobenheit aller Basismedien auszugehen (z. B. bildliche Sprache, generalisierende Bilder, diagrammatische Bildlichkeit). Zudem besteht ein Charakteristikum von Bildern in ihrer kommunikativen Zeichenhaftigkeit und „der Verneinung des Da-Seins des Gesehenen und Erkannten“ (Brandt 1999, S. 105) als Bedingung von Bildlichkeit. Die Methodendiskussion der Visuellen Kommunikationsforschung bewegt sich zwangsläufig zwischen der Adaption bestehender und der Entwicklung eigenständiger Zugänge. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Instrumente und Verfahren der Erhebung und Auswertung zur Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung. Die Spannung zwischen bloßer Gegenstandszentrierung (Was machen Menschen mit Bildern?) und Modalitätsspezifik (Worin unterscheiden sich Bildhandeln und -aneignung vom Umgang mit anderen Medientexten und Materialitäten?) tritt hier besonders stark hervor. Wenn Bildanalyse der methodische Fixpunkt der Bildwissenschaften ist und mit ihr hinsichtlich Darstellung und Repräsentation die gleichsam „reine Lehre“ betrieben werden kann, dann befasst sich die Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung mit der Alltagspraxis, die sich nur bedingt modalitätsspezifisch eingrenzen lässt. Oder anders ausgedrückt: Je weiter wir uns forschungslogisch von der Analyse der inhaltlichen und formal-ästhetischen Merkmale von materialisierten, auf Zeit gestellten bildlichen Artefakten (z. B. Einstellungsperspektive, Farbgebung, Kontrast, (Pathos-)Formeln, Proportionen, Konstellationen, szenische Choreografien) zur lebensweltlichen Einbettung der Nutzung und Aneignung von Bildern bewegen, desto schwieriger wird es, den Anspruch nach einer genuin modalitätsspezifischen Betrachtung einzulösen. Gibt man den produkt-, medienund werkzentrierten Beobachterstandort auf und folgt dem Weg des Bildes von seiner Herstellung bis zu seiner alltagspragmatischen Verwendung und folgenden Wieder- und Neuaneignungen, hat man es in der Regel nicht allein mit Fragen bildspezifischer Darstellung oder Sinngebung zu tun.

Qualitative Methoden der Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung

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Daraus folgt für die Analyse von Prozessen des Bildhandelns und der Bildaneignung, dass eine gewisse Unschärfe des Adjektivs „bildspezifisch“ in Kauf zu nehmen ist. In einer Minimalbestimmung tragen alle Forschungsarbeiten, die sich mit Bildern beschäftigen, zum Wissen um Handeln und Aneignung bei und sei es „nur“ als Untersuchungsgegenstand, der in der Folge nicht anders als andere mediale Texte und Dinge behandelt wird. In diesem Sinne wären etwa auch in der Tradition des Uses-and-Gratifications-Approach gestaltete Studien zu Häufigkeit und Motiven der Zuwendung zu Bildern Teil einer bildspezifischen Nutzungsforschung, obwohl im Grunde ja kaum eine bildtheoretische Sensibilität besteht. Natürlich aber erlauben auch Intermedienvergleiche oder statistisch ermittelte Nutzertypen z. B. hinsichtlich ihrer Präferenzen oder primären Bild-Funktionen (wie Information, Unterhaltung u. ä.) erste Rückschlüsse auf den Stellenwert und die Rolle von Bildern im Alltag. In einer Maximalbestimmung wären hingegen nur jene Forschungen Teil einer bildspezifischen Nutzungs- und Aneignungsforschung, die in den jeweils untersuchten Teilmomenten – seien es die Produktion, die Verbreitung, die Rezeption, die Anschlusskommunikation – den Rückbezug zu Spezifika und Theorien des Bildlichen suchen. Pragmatisch gesehen muss eine lebensweltbezogene Visuelle Kommunikationsforschung ihren Weg wohl zwischen diesen beiden Polen finden. Wo der eine Gefahr läuft, keinen signifikanten Kontrast zu anderen und allgemeineren, nicht bildspezifischen Zugängen zu erzeugen, läuft der andere Gefahr, die unterstellte Signifikanz des Bildlichen in eine immer multimodal und -kodal beschaffene Alltagswelt hineinzuprojizieren und dadurch Komplexität im „worst case“ soweit zu reduzieren, dass der grundlegende Anspruch jeder empirischen Forschung, soziale Sachverhalte adäquat zu verstehen, verloren geht.

2

Basisbegriffe der lebensweltorientierten Bildforschung

Was meinen wir, wenn wir von Bildhandeln, Aneignung und Praxis sprechen? Zunächst bedeutet es, den forschenden Blick auf die praktische Relevanz unterschiedlicher Arten von Bildern und bildbasierter visueller Kommunikation in der alltäglichen Lebenswelt bzw. den heterogenen sozialen Welten von Individuen und Gruppen zu richten und sich daran zu orientieren, was Menschen mit Bildern tun, welche Bedeutung diese in Lebensführungsmustern haben sowie beispielsweise in Prozessen der Sozialisation und Identitätskonstruktion, dem Herstellen und Pflegen von sozialen Beziehungen. Der Begriff der alltäglichen Lebenswelt meint dabei keine Entgegensetzung zur Sphäre der Arbeit oder zu „außeralltäglichen“ Höhepunkten (z. B. Feste, Feiern, Hörning 2001, S. 36–41). Das Bildhandeln von Privatpersonen in Freizeit, Familie und Peergroup kann genauso Gegenstand sein wie das Bildhandeln ambitionierter Amateure in Vereinen oder auf speziellen Plattformen oder das Bildhandeln von professionellen Akteuren in institutionalisierten Berufsrollen wie der der BildredakteurInnen. Wichtiger ist die Einsicht, dass Bildhandeln und Bildaneignung an konkrete Situationen gebunden und lebensweltlich eingebettet sind. Daraus ergibt sich für ihre Erforschung das logische Primat, sie möglichst orts- und situationsbezogen einzuholen, wobei wir dafür plädieren, hieraus keinen

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W. Reißmann und D. Hoffmann

Dogmatismus abzuleiten. Prinzipiell können viele methodische Wege beschritten werden, die je nach Zielsetzung des Projekts sinnvolle Erkenntnisse liefern können. Teilnehmend-beobachtende Zugänge gehören dazu ebenso wie Zugänge, die Handeln und Aneignen über Berichte und Second-Hand-Erfahrungen rekonstruieren. Die Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung versucht, sich der vollzugsförmigen Praxis zu nähern. Das schließt bildbezogene Reflexionen, Intentionen und subjektiven Sinn der Akteure u. E. aber nicht aus, sondern ausdrücklich mit ein.

2.1

Bildbezogenes und bildliches Handeln

Heuristisch lassen sich verschiedene Typen des Handelns unterscheiden, wobei in kommunikationswissenschaftlich orientierten Handlungstheorien (Krotz 2008) die „innere“ und die „äußere“ Kommunikation als spezielle Varianten sozialen Handelns behandelt und betont werden. Unter Berücksichtigung der sowohl materiellen als auch symbolischen Dimensionen des Bildes umfasst der Begriff des Bildhandelns1 mindestens umfasst der Begriff des Bildhandelns einerseits bildbezogenes Handeln als: • die oft (aber nicht per se) sprachlich formierte (äußere) Kommunikation über Bilder: Gemeint sind damit Bilder als Gegenstand der mündlichen wie schriftlichen Anschlusskommunikation (aber auch nichtsprachliches, etwa numerisches Feedback ist mitzudenken); • das (innere) Verstehen und Deuten von Bildern als spezielle Variante kommunikativen Handelns („innerer Dialog“ = Modus des kommunikativen Befragens von Selbst und Umwelt); • das ästhetische Erleben, das als ein sinnliches (partiell mimetisches) Erfassen von Bildinhalten und -formen beschrieben werden kann und über das Verstehen als primär kognitives Entziffern von Bedeutung hinausgeht; • material-gestaltende und performative Tätigkeiten an Bildern oder im Hinblick auf Bilder, im Rahmen der Bildherstellung etwa das Fotografieren, Malen und Zeichnen, oder die szenische Choreografie und das dramaturgische Handeln vor der Kamera; weiterhin instrumentelle Tätigkeiten am Bild, z. B. die Bildbearbeitung oder die Implementierung und Einbindung von Bildern in technische Systeme. sowie andererseits bildliches Handeln als: • die äußere wie innere Kommunikation mit/durch Bilder als im engeren Sinn visuelles Kommunizieren: Bilder sind hier nicht Gegenstand und Bezugspunkt von Kommunikation, sondern Träger und Mittel der Kommunikation (innen: „bildliches Denken“, außen: „soziale Interaktion mit/durch Bilder“); 1

Bei nachfolgender Übersicht handelt es sich um eine modifizierte und erweiterte Aufstellung auf Basis von zuvor bereits veröffentlichten Texten von Reißmann (siehe v. a. Reißmann 2015, S. 109–114).

Qualitative Methoden der Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung

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• rituelles Handeln mit Bildern, z. B. das Bild als Gabe und Geschenk oder die präsentisch-ontologischen Qualitäten, die Bildern in religiösen Zeremonien zukommen; • technisch-performative Vorgänge, die über den Umgang mit Bildern „ausgelöst“ werden, z. B. der Klick auf das Bild, der über einen Hyperlink in einen anderen „Ort/Raum“ führt. Was konkret mit Bildern gemacht wird und werden kann, ist für den jeweiligen Untersuchungsausschnitt und den anvisierten Zeitraum zu bestimmen. Nehmen wir das Feld der privaten Bildpraxis als Beispiel, so gehört in der analogen Vergangenheit dazu: Bilder zeichnen und Fotos machen, Bilder zuschneiden/kollagieren, in Alben stecken/kleben, Bilder aufhängen, per Post verschicken oder in Situationen der Kopräsenz über Bilder sprechen und sich erinnern. Beschäftigen wir uns gegenwartsbezogen mit Bildhandeln in Social-Media-Umgebungen, wären als weitere Handlungsoptionen zu berücksichtigen: Profil- und Anzeigebilder einstellen, Bildalben und Fotostrecken anlegen, Bilder verlinken und thematisch taggen, Bilder posten und teilen (siehe den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band), über schriftliche Kommentare, Rates und „Likes“ qualitativ oder quantitativ Feedback geben (siehe den Beitrag von Autenrieth in diesem Band) oder Bilder mit Geodaten bzw. Ortsmarkierungen verknüpfen (siehe den Beitrag von Brantner in diesem Band).

2.2

Bildpraxis und Bildpraktiken

Jedwedes Bildhandeln verweist auf überindividuelle und übersituative Bildpraktiken, zu denen es konstitutionslogisch in einer Wechselbeziehung steht. Soziales und nicht-soziales Handeln, kommunikatives und nicht-kommunikatives Handeln und somit auch Bildhandeln und Bildkommunikation basieren auf inkorporierten, nur bedingt bewusstseinsfähigen Praktiken (zum Begriff der Bildpraxis u. a. Lehmuskallio und Gómez Cruz 2016; Reißmann 2015, S. 102–111). Umgekehrt erschöpft sich kommunikatives und anderes Bildhandeln nicht in vollzugsförmiger Praxis, sondern wirkt als beständiges (interaktionales) Verhandeln und wechselseitiges Verfertigen von Zeichen-, Symbol- und objektbezogenen Bildverwendungen auf lange Sicht auch auf diese zurück. Handeln, Kommunikation und Praxis sind analytische Perspektiven auf Phänomene, die im Alltagsvollzug nicht isoliert voneinander bestehen. Insofern keine synonyme Verwendung der Begriffe erfolgt, steht Bildpraxis eher für die eingespielten, vollzugsförmigen und in actu nicht reflektierten Muster bildlichen Produzierens, Ausdrückens, Wahrnehmens, Verstehens und Handelns. Handeln und Kommunizieren mit Bildern hingegen steht eher für die Sinnsetzungen, Motive und Rekonstruktionen, die Akteure mit ihrem und dem bildlichen oder bildbezogenen (kommunikativen) Handeln anderer verbinden. Stärker medienwissenschaftlich orientierte Praxistheorien entfernen sich vom Fokus auf soziale Praxis und heben im Anschluss an die Wissenschafts- und Technikforschung jene Praktiken und/oder Momente in Praktiken hervor, die wie etwa das Registrieren und Delegieren in datengetriebenen, digitalen Infrastrukturen primär technologisch vermittelt sind.

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2.3

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Bildaneignung

Obgleich Schnittflächen bestehen und die Wortwahl eher mit (teil-)disziplinären Benennungstraditionen als mit unüberbrückbaren inhaltlichen Differenzen zu tun hat, betont der Begriff der Bildaneignung im Vokabular einer lebensweltorientierten Medienforschung stärker die spezifischen individuellen, sozialen und kulturellen Rahmungen des Bildhandelns. Bekannt geworden ist der Aneignungsbegriff in der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienforschung durch seine teils überlappende, teils distinkte Verwendung im strukturanalytischen Ansatz der Rezeptionsforschung (NeumannBraun 2005), in den internationalen Cultural Studies (knapp zur Historie siehe Hepp 2005) sowie in der medienpädagogischen Forschung (Theunert 2013), die ihn der sowjetischen Aktivitätstheorie entlehnt hat. In allen drei Bezugslinien wird der Umgang mit Medien als ein grundsätzlich prozessuales, mehrphasiges Geschehen begriffen, in welchem sich sozial und kulturell situierte Individuen und Kollektive zu medialen Angeboten und deren materiellen, sinnlichen wie sinnbezogenen Qualitäten in Beziehung setzen. Aneignungsprozesse sind stets als partiell und überschüssig zugleich zu denken, insofern interpretative Flexibilität (symbolische Ebene) und Gestalt- und Verformbarkeit (materielle Ebene) der Medien auf soziale und kulturelle Aneignungsmuster treffen, die ohnehin schon Varianz erzeugen, sich zudem aber auch situativ immer anders auskristallisieren. Während der Begriff der Aneignung im strukturanalytischen Ansatz (der Medienzuwendungen in präkommunikative, kommunikative und postkommunikative Phase unterscheidet) primär der Anschlusskommunikation (nach der Medienzuwendung) vorbehalten bleibt, ist er in den Cultural Studies nicht allein für eine spezielle Phase in einem Gesamtprozess Mediennutzung reserviert, sondern meint ganz allgemein „die Artikulationsebene im Kreislauf von (Medien-)Kultur, die das sowohl kulturell kontextualisierte als auch Kulturen (re)artikulierende ‚Sich-zuEigen-Machen‘ von (Medien-)Produkten“ (Hepp 2005, S. 68, im Original kursiv) fasst. Beiden Linien und auch der medienpädagogischen Forschung ist gemeinsam, dass sie die Bedeutung von Medien, medialen Inhalten und Formen aller Art primär vor der Folie des soziokulturellen Umfelds der Menschen und ihren sozialen, kommunikativen, medialen und materiellen Ressourcen deuten. Dieses Denken ist auf die bildzentrierte Forschung übertragbar.

3

Methoden und Instrumente der lebensweltorientierten Bildforschung

In der qualitativen Sozial- und Medienforschung, aus deren Methodenpool sich letztlich auch die Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung bedient, dominieren wort- und schriftbasierte Techniken der Erhebung und Auswertung (siehe als Ergänzung den Beitrag zu visuellen Verfahren von Lobinger und Mengis in diesem Band). Diese Tatsache begründet sich nicht allein aus der in der jüngeren Vergan-

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genheit beanstandeten Bildvergessenheit der Sozialwissenschaften und bedeutet auch nicht, dass Sprache nun, da das Problem erkannt ist, aus den Forschungsprozessen auszugrenzen ist. Denn erstens ist Sprache ein flexibles und universales Medium der Vergegenständlichung von Erfahrung, über das die beforschten Akteure intendiert und nicht-intendiert Auskunft über Alltag und Handeln geben. Das gilt dem Prinzip nach gleichermaßen für visuelle Erfahrung und für Prozesse des Bildhandelns und der Bildaneignung. Und zweitens ist zu berücksichtigen, dass Bilder in Alltagskontexten und eingebettet in kommunikatives Handeln selten allein und für sich stehen. Insofern sich weite Bereiche des bildbezogenen Handelns in anderen Ausdrucksmodalitäten vollziehen (z. B. Anschlusskommunikation), sind Sprache und Schrift selbstverständliche Bestandteile von Bildhandeln und -aneignung. Drittens müssen nach Stand der Dinge zudem auch die Forschenden selbst, spätestens in Auswertung und Darstellung, „Übersetzungsarbeit“ leisten, insofern sie ihre Ergebnisse für den wissenschaftlichen Diskurs versprachlichen. Modalitätswechsel und Transformationen in sprachliche Substrate sind im Forschungsprozess also nahezu unvermeidlich. Umgekehrt sollte eine am Visuellen orientierte Medienforschung sich gleichsam für den eigenen Gegenstand sensibilisieren und sich selbstkritisch fragen, wie sie ihn am besten und am adäquatesten untersuchen kann. Rein sprachbasierte Verfahren sind sicherlich nicht die optimale Lösung. Eine Öffnung für das Bild nicht nur als Thema, sondern gleichfalls als Bestandteil sowohl von Erhebungs- als auch Auswertungs- und Darstellungstechniken sollte in methodischer Hinsicht eines ihrer Entwicklungsziele sein. In diesem Sinne versuchen wir im Folgenden, etablierte qualitative Methoden zur Analyse von Medienhandeln und Medienaneignung vorzustellen, dabei immer aber auch Varianten aufzuzeigen, wie Bilder und Bildlichkeit selbst mit ins Spiel gebracht werden können. Die Orientierung an der situativen und lebensweltlichen Einbettung von Bildern ist der kleinste gemeinsame Nenner von Erhebungs- und Auswertungstechniken, die unterschiedlich beschaffen sind, die von Untersuchungsvorhaben mit heterogenen Erkenntnisinteressen gerahmt sind, und die z. B. darin variieren, ob es um die Rekonstruktion praxeologischer Musterhaftigkeiten oder subjektiven Sinns oder auch beidem geht. Es kann daher kein methodischer Kanon zur Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung formuliert werden. Prinzipiell schöpft man aus dem gesamten Methodenspektrum der Sozial- und Medienforschung. Das Primat haben qua Praxis-, Alltags- und Lebensweltbezug qualitative, sinnverstehende Zugänge (im Überblick z. B. Krotz 2005; Mikos und Wegener 2017; Ayaß und Bergmann 2006). Aber auch quantitative Analysen, etwa zur Häufigkeit bestimmter Bildmotive und Genres oder zu formalen Gestaltungsmerkmalen in Social Media-Accounts oder analogen Fotoalben können Studien zum Bildhandeln und zur Bildaneignung sinnvoll ergänzen (u. a. Petersen und Schwender 2011, siehe auch den Beitrag zu bildinhaltsanalytischen Verfahren von Grittmann in diesem Band). Zu den basalen qualitativen Erhebungstechniken gehören Interview- und Gruppendiskussionsverfahren, Ethnografie und Beobachtung sowie die Dokumentation/ Archivierung und Analyse bereits bestehender Korpora. Zentrale Fragen, die sich bei jeder empirischen Untersuchung stellen, sind:

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• ob reaktiv oder non-reaktiv Daten erhoben werden sollen, • wie sich das Sample bzw. der Korpus zusammensetzen bzw. nach welchen Prinzipien das Sample konsekutiv erweitert werden soll, • ob das Datenmaterial Individual- oder Gruppenbezüge repräsentieren soll, • ob es in schriftlicher und/oder bildlicher und/oder audio-visueller Form verfügbar sein soll, • inwieweit verschiedene Datensorten aufeinander bezogen oder miteinander verglichen werden sollen. Die konkreten Untersuchungsdesigns bestimmen sich über die speziellen Themenfelder, Forschungsfragen, methodologischen Probleme und methodischen Erwägungen sowie die Forschungstraditionen, in denen Forschende stehen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Vorstellung zentraler Erhebungstechniken. Wege und Verfahren der Auswertung werden angedeutet, aber weniger ausführlich geschildert, da sich diese mit Blick auf den Variantenreichtum qualitativer Forschung nicht pauschal beschreiben lassen.

3.1

Interviews, Gruppendiskussionen und Fokusgruppen

Halten wir uns an den formulierten Grundsatz, dass Bildhandeln und Bildaneignung zunächst lediglich spezielle Themen der Medienforschung sind, bedeutet das, dass in der Erhebung das gesamte Spektrum an (sprachgebundenen) Interviewformen und Gruppengesprächen zur Verfügung steht. Visuelle Kommunikationsforschung muss nicht zwingend neue und eigenständige Verfahren entwickeln, sondern kann ebenso auf bewährtes Handwerkszeug zurückgreifen, um Fragen des Bildhandelns und der Bildaneignung nachzugehen. Grob unterscheiden lassen sich die verschiedenen Gesprächsformen zunächst danach, ob sie Daten auf Individual- oder Gruppenebene erheben. In der Regel werden Gruppenszenarien gewählt, um Verhandlungsprozesse und Entscheidungsprozesse zwischen den beteiligten Akteuren nachzuvollziehen oder die Inhalte der Diskussion im Nachgang als Sediment kollektiver Orientierungen zu rekonstruieren. Interviews mit einzelnen Akteuren werden genutzt, um auf Fallebene individuelle Hintergründe und vertiefende Kontextinformationen zu erfassen (die im Nachgang qua Typologisierung freilich ebenso überindividuelle Aussagen erlauben). Entscheidend ist jedoch nicht allein die Anzahl der am Gespräch Beteiligten. So besteht etwa die Möglichkeit, dass in Gesprächen mit mehreren Akteuren letztlich „nur“ Daten auf Individualebene produziert werden. Diese individualorientierte Form wird als Gruppeninterview bezeichnet und ist von Gruppendiskussionen abzugrenzen. Ohne weitere Spezifikation bezieht sich der Begriff des Interviews zumeist auf Gespräche mit einzelnen Akteuren. Die einschlägigen Handbücher geben Orientierung und zeigen methodologische Hintergründe und Entstehungskontexte der einzelnen Verfahren auf. Lamnek (2012, S. 356–384) erläutert in seinem Überblick das narrative Interview (nach Schütze), das episodische Interview (nach Flick), das problemzentrierte Interview (nach Witzel), das fokussierte Interview (nach Merton

Qualitative Methoden der Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung

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und Kendall), das (zumeist psychoanalytische) Tiefen- oder Intensivinterview (nach von Koolwijk) sowie das rezeptive Interview (nach Kleining). Die Interviewformen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Offenheit bzw. (Vor-) Strukturiertheit und darin, ob ein Leitfaden genutzt oder Gesprächsstimuli (etwa ein Bild oder Film) eingesetzt werden. Auf der einen Seite stehen Verfahren wie das narrative oder das rezeptive Interview, in denen die Interviewenden zurückhaltend agieren und die Verbalisierung zwar anregen, aber kaum lenken. Auf der anderen Seite stehen Verfahren wie das problemzentrierte Interview, das mithilfe eines vorab bestimmten Leitfadens geführt wird und bei dem der verbale Beteiligungsgrad der Interviewenden deutlich höher ausfällt. Hinter dieser Bandbreite stehen unterschiedliche Forschungstraditionen und Vorstellungen davon, welche Art von Daten mithilfe der Interviews erzeugt werden soll. Die Wahl einer Interviewform bestimmt mit, wie und als was das Erhobene später interpretiert werden kann. So wird stärker narrativen Formen zugeschrieben, latente Sinngehalte adäquater dokumentieren zu können, da weniger Beeinflussung seitens der Interviewenden stattfinde und die Dramaturgie des unbeeinflussten Erzählens es erfordere, Sinngestalten zu schließen und Kontexte selbstläufig zu explizieren. Stärker angeleitete und strukturierte Gesprächsvarianten erzeugen demgegenüber in der Regel mehr Sensibilität der Interviewten gegenüber dem spezifischen Untersuchungsthema. Sie haben den Vorteil, dass sich in der späteren Auswertung Aussagen zu den im Leitfaden festgelegten Fragebereichen einfacher systematisch vergleichen lassen. Nicht selten erzeugen sie jedoch Daten, die stärker von problembezogener Reflexivität durchsetzt sind. Das ist nicht grundsätzlich problematisch, da sich die Frage nach der Kongruenz von verbalisiertem Handeln und tatsächlicher Handlungspraxis bei allen qualitativen (wie quantitativen) Erhebungsinstrumenten stellt, die nicht mit natürlichen Daten arbeiten. Nichtsdestoweniger sind Gespräche mit hoher Strukturierung und Moderation „anfälliger“ dafür, dass unbeabsichtigt die Sinnkonstruktionen der Forschenden (zu) dominant werden. Letztlich aber leben alle, auch stärker strukturierte Interviews davon, dass den InterviewpartnerInnen genügend Raum gegeben wird, möglichst ungestört und unbeeinflusst Alltagshandeln, subjektive Ansichten und Kontextnarrationen zu artikulieren. Methodisch kontrolliert und reflektiert können aber auch intendierte Provokationen oder das Arbeiten mit Fall- und Situationsvignetten, Netzwerkkarten oder anderen Materialien sinnvolle Ergänzungen sein (siehe den Beitrag von Lobinger und Mengis in diesem Band). Bei der Erforschung von Bildhandeln und Bildaneignung ist zu berücksichtigen, dass sich das, was Menschen mit Bildern tun und was sie ihnen und anderen „bedeuten“ und anzeigen, nicht in vollem Umfang bzw. manchmal erst über Umwege zur Sprache bringen lässt. Das gilt freilich auch für andere Phänomene und ebenso für Sprache selbst, deren Muster und Bedeutungshöfe sozialisatorisch zum Großteil vorreflexiv internalisiert werden. Gerade visuelle Repräsentationen zeichnen sich jedoch, wie „die seit der Antike überlieferte Frage der Ekphrasis“ (Heßler und Mersch 2009, S. 9, Hervorhebung im Original) verdeutlicht, „durch eine nur unvollkommene oder begrenzte sprachliche Beschreibbarkeit“ aus. Dieses Grundproblem lässt sich nicht auflösen. Allerdings können im Forschungssetting Bedingungen geschaffen werden, die den Untersuchten die Verbalisierung erleich-

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tern. Vor allem die Arbeit mit visuellem Material zur Stimulation des Assoziationsund Redeflusses hat eine lange Geschichte (Lapenta 2011), Harper (2002) verortet die historischen Wurzeln von „photo elicitation“ bzw. „photo interviewing“ in anthropologischen und soziologischen Feldforschungen der 1950er-Jahre.2 Auch in anderen disziplinären Zusammenhängen hat sich die Implementierung von visuellem Material bewährt. Eine der ältesten und im Kontext kommunikationswissenschaftlicher Forschung entstandenen Interviewformen ist das „fokussierte Interview“ (Merton und Kendall 1946; Hoffmann 2011). Dieses bezog sich ursprünglich auf vorab gemachte Medienerlebnisse, z. B. eine Filmrezeption. Denkbar sind als Stimuli jedoch ebenso stehende Bilder wie Werbeplakate oder private Fotos. Im anschließenden Interview geht es darum, die Assoziationen und selektiven Bedeutungskonstruktionen der Interviewten zu erfassen. In seinen Ursprüngen fand diese Besprechung zumeist in Gruppen statt. Schnittflächen bestehen zudem zur Methode des Lauten Denkens (Bilandzic 2005), die allerdings stärker den Handlungsvollzug selbst fokussiert. Lautes Denken lässt sich beispielsweise nutzen, um Bildproduktionshandeln zu erfassen, indem dieses von den Akteuren in situ erläutert wird. Für die Untersuchung bestimmter Ausschnitte von Bildhandeln und Bildaneignung kann es des Weiteren nützlich sein, ExpertInneninterviews zu führen. ExpertInneninterviews unterscheiden sich von den vorgenannten Interviewformen, dadurch, dass Forschende und Interviewte den distanzierten Blick auf das „gemeinsame“ Untersuchungsfeld teilen: z. B. der/die BildredakteurIn, der/die über die zugesendeten Bilder von BürgerInnen spricht; der/die SozialarbeiterIn, der/die die jugendliche Bildpraxis im Jugendzentrum reflektiert; oder der/die BloggerIn, der/die sich zu den bedeutsamsten Memes der letzten Jahre äußert. Eine der bekanntesten Erhebungsformen in Gruppenkontexten ist die Gruppendiskussion. Obgleich auch diese auf verschiedene Weise gestaltbar ist, wird sie in der deutschsprachigen Methodendiskussion heute oft in einem Atemzug mit der dokumentarischen Methode behandelt (Bohnsack et al. 2013; Schäffer 2006). Die dokumentarische Methode sieht die Gruppe als Träger von kollektiven Gehalten, die über die konkrete Gruppe hinausweisen. Oft werden Gruppendiskussionen eingesetzt, um generations-, geschlechts-, oder milieuspezifische Sinnorientierungen herauszuarbeiten. Diese lassen sich prinzipiell auch mit anderen Instrumenten und Interviewformen erfassen. Der Dynamik der Gruppensituation und insbesondere jenen Momenten, in denen die Gruppe sich selbstläufig „metaphorisch und dramaturgisch zu steigern beginnt“ (Schäffer 2006, S. 122), werden jedoch eine besondere Aussagekraft hinsichtlich des Freilegens und der Artikulation kollektiver Sinngehalte zugeschrieben. Michel (2006) beispielsweise nutzt Gruppendiskussionen, um die Sinnkonstituierungen verschiedener Gruppen in Bezug auf vorab festgelegte Bilder zu erfassen und zu vergleichen. Neben spezifischen Anforderungen an die

2

Die meisten Interviewstudien, die stehende Bilder in den Gesprächsverlauf integrieren, arbeiten mit Fotografien. Prinzipiell können jedoch ebenso Zeichnungen, Cartoons, Werbung, „or virtually any visual image“ (Harper 2002, S. 13), genutzt werden. Weitere Formen werden im Beitrag von Lobinger und Mengis in diesem Band vorgestellt.

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Gesprächsführung und die Gestaltung des Gesprächsanlasses ist in der Vorbereitung und Durchführung vor allem auf die Zusammensetzung der Gruppen zu achten. Oft handelt es sich um natürliche Gruppen, die auch unabhängig von der Studie bestehen. Es ist aber ebenso möglich, Gruppen künstlich entlang gemeinsamer Erfahrungshorizonte zusammenzustellen. In Rechnung zu stellen ist hierbei, dass die für die Methode wichtigen Momente gesprächsdramaturgischer und metaphorischer Verdichtungen schwerer herzustellen sind, da künstliche Gruppen in der Regel mehr Zeit zum Kennenlernen und Warm werden brauchen. Moderierte, themenspezifische Gruppendiskussionen wiederum werden als Fokusgruppen bezeichnet. Sie kommen vor allem in der Markt- und Akzeptanzforschung sowie der Medienwirkungsforschung zum Einsatz. Es gibt in der Regel einen Gesprächsanlass und einen Stimulus (z. B. Werbespot, Plakat, Filmsequenz), den es von den Teilnehmenden zu diskutieren und zu bewerten gilt, wobei möglichst das eigene Rezeptionsverhalten mitreflektiert werden soll. Die Forschenden begleiten und beobachten die Rezeption und Wirkung, die sich in spontanen Äußerungen, Gesten, Mimiken, Gelächter etc. ausdrückt und mitunter postkommunikativ in der Diskussion des Materials kollektiv verhandelt wird. Besonderes Augenmerk gilt den gruppendynamischen Prozessen. Um Moderatoreneffekte zu vermeiden und generell zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen, werden meist mehrere fokussierte Interviews in Gruppen durchgeführt. Fokusgruppen eignen sich jedoch kaum bei intimen oder tabuisierten Themen (Schulz 2012; Hoffmann 2011). Sämtliche Interview- und Diskussionsformen sind für die Visuelle Kommunikations- und Medienforschung und die jeweiligen Untersuchungsziele und Forschungsfragen anzupassen. Ein traditionelles Anwendungsfeld des narrativen Interviews ist beispielsweise die Biografieforschung. Naheliegend wäre für die Visuelle Kommunikationsforschung, Bildhandlungs- bzw. Bildaneignungsbiografien zu untersuchen. Medien allgemein und Bildhandeln im Speziellen stehen allerdings in Konkurrenz zu Biografiegeneratoren wie Ausbildung/Beruf oder Familie/Partnerschaft, die biografische Erzählungen dominieren (z. B. Reißmann und Hoffmann 2017). Vollbrecht (2009) sieht darin einen Grund, weshalb sich bislang keine eigenständige und starke Tradition der Medienbiografieforschung etabliert hat. Das lässt sich auf visuelle Alltagskultur übertragen, wobei auf der anderen Seite gerade die „domestic“/ „vernacular photography“3 auch eng mit biografischen Bezügen aufgeladen ist oder für Biografie und Biografisierungsprozesse steht. Visuelle Kommunikationsforschung ist hier gefordert, in Bezug auf ihre Fragestellungen entsprechende Anpassungen und methodische Explorationen zu forcieren.

3.2

Ethnografie und Beobachtung

Während die bislang vorgestellten Vorgehensweisen trotz der in qualitativer Forschung immer angestrebten Alltagsnähe (z. B. durch Interviewen in gewohnter Umgebung) 3

Vgl. zur Geschichte privater Bildpraxis Reißmann (2015, S. 125–145).

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artifizielle Situationen produzieren, die zum Zwecke der Forschung herbeigeführt wurden, geht es der Ethnografie darum, Menschen (und ggf. andere agierende Entitäten wie Maschinen und Technologien) in der Alltagspraxis aufzusuchen, ihnen „im Feld“ zu folgen bzw. sukzessive selbst Teil einer (Medien-)Kultur zu werden. Ihren akademischen Ursprung haben ethnografische Verfahren in Ethnologie und Kulturanthropologie sowie den frühen mikrosoziologischen Studien der ChicagoSchool. Vor allem Ethnologie und Kulturanthropologie betonen (siehe z. B. Zillinger und Bender 2015), dass erst die Erfahrung von Fremdheit (etwa durch das Erlernen einer neuen Sprache) und die langfristige und dauerhafte (oft mehrmalige und mehrmonatige/-jährige) Teilnahme dazu qualifizieren, Kulturen angemessen zu beschreiben. In Soziologie und Cultural Studies ist heute allerdings ein breites Spektrum an Verständnisweisen vorzufinden. Mit Blick auf Länge und Dauerhaftigkeit von Feldaufenthalten sind auch kürzere Aufenthalte bzw. „akkumulierte ethnografische Miniaturen“ (Bachmann und Wittel 2006, S. 191, im Original kursiv) üblich geworden. Hinsichtlich der Frage der Fremdheit ergibt sich eine (quasi-) ethnologische Haltung gegenüber der in soziologischen Settings oft wenigstens in Teilen vertrauten Umgebung aus der „Befremdung der eigenen Kultur“ (Hirschauer und Amann 1997). Mit Blick auf den Raum- und Ortsbezug ethnografischer Forschung ist zu konstatieren, dass Vorstellungen klar umgrenzter Lokalitäten, die aufzusuchen sind oder überhaupt aufgesucht werden können (z. B. das Dorf, die Schule, der Verein), in globalisierten und mediatisierten Gesellschaften und Kulturen zunehmend unter Druck geraten. Ansätze wie die „Multi-Sited-Ethnography“ (Marcus 1995) versuchen der sozialen und medialen Mobilität und Verteiltheit von Menschen, Dingen, Diskursen und Phänomenen (z. B. soziale Bewegungen, global operierende Medienunternehmen, translokale Familiennetze) sowie der komplexen Verschachtelung und Schichtung von Raum-Zeit-Relationen Rechnung zu tragen. Insgesamt ist Ethnografie weniger eine fest umrissene Methode als ein Forschungsstil, der die Methoden der teilnehmenden Beobachtung, des (ethnografischen) Interviews und der Dokumentensammlung/-analyse kombiniert. Die historisch zentralen Datenformen sind Feldnotizen, -tagebücher und Beobachtungsprotokolle, aber auch Visualität und Bildlichkeit haben im Kontext ethnografischer Forschung seit langem ihren Platz. Im Umfeld der Visuellen Anthropologie sowie der Visuellen Soziologie etablierten sich Fotografie und Film früh, um soziale Welten, Sozial- und Lebensräume, Kulturen, soziale Interaktionen und Rollenhandeln (audio-)visuell festzuhalten (Schnettler und Raab 2008; Pink 2013). Der Einsatz von visuellen Medien bedeutet aber mitnichten, dass Bildhandeln und Bildaneignung selbst thematisch im Mittelpunkt von Visueller Anthropologie und Soziologie stünden. Dies ist im Gegenteil eher selten und noch am ehesten dort der Fall, wo im Sinne einer reflexiven Forschung die Arbeit der forschenden Akteure selbst in den Blick genommen wird. Ein Beispiel hierfür liefert die Arbeit von Jacknis (1988), die sich mit der Hervorbringung des fotografischen und filmischen Materials zum ethnologischen Klassiker „Balinese character“ von Margaret Mead und Gregory Bateson auseinandersetzt. Visuelle Kommunikationsforschung kann einen Beitrag dazu leisten, als Pendant zum bloßen Einsatz von Bildmedien als Erhebungstechniken eine Ethnografie des

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Bildlichen/Visuellen in Gang zu setzen und auf diese Weise der alltagsweltlichen Einbettung von Bildern in Handeln und Praxis nachzugehen. Forrest (2016) etwa begleitete FotografInnen auf ihren Streifzügen durch Städte in Nordostengland, mit dem Ziel, deren Wahrnehmungsmuster und -strategien zu verstehen. Während Ethnografie stets ein primär qualitatives, sinnverstehendes Vorgehen impliziert und im Grunde immer mit Feldaufenthalten einhergeht, sind Beobachtungen in der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht zwingend auf Feldsituationen beschränkt, sondern werden ebenso genutzt, um z. B. Reaktionen von Akteuren in künstlich erzeugten Untersuchungssettings zu erheben (zur Spannbreite: Gehrau 2017). Für die Erforschung von Bildhandeln und Bildaneignung können Ethnografie und Beobachtung wichtige, eigenständige Zugänge sein. Grundlegend unterscheiden sie sich gegenüber Interviews und Diskussionen zum einen hinsichtlich ihrer temporalen Ordnung. Gespräche beziehen sich (es sei denn, sie sind in ein ethnografisches Setting eingebunden) auf vergangene Praxis, Beobachtungen hingegen sind am „Ort des Geschehens“ lokalisiert und erfolgen in situ (wobei die Grenzen zur nachgelagerten Dokumentenanalyse insbesondere im digitalen Raum fließender werden, siehe Abschn. 3.3). Mögliche Einsatzfelder sind Beobachtungen des Bildhandelns im öffentlichen Raum, im Kontext von Media Events oder kollektiven Ereignissen wie Konzerten, aber auch von Unternehmen, Familien, privaten und sozial eher abgeschlossenen Kontexten. Zum anderen stellt sich wie in Interviews und Gruppendiskussionen schon in der Phase der Erhebung das Problem der Verbalisierung, aber in völlig anderer Weise: Während im Interview die Akteure selbst über Bildhandeln und Bildaneignung berichten, sind es im Fall der ethnografischen Beobachtung die Forschenden, die eine für sie (be)fremde(te) Praxis dicht beschreiben. In der Regel bedeutet das, die „Schweigsamkeit des Sozialen“ (Hirschauer 2001) in Sprache zu übersetzen. Gehen wir davon aus, dass gerade Bildhandeln und Bildaneignung zu weiten Teilen vorreflexiv, vorsprachlich und stumm erfolgen, so kann ethnografisches Beschreiben über die Rekonstruktion von Gesprächsdaten hinaus einen großen Wert für die Visuelle Kommunikationsforschung haben. Interessant sind in diesem Zusammenhang Erweiterungen, in denen die Eigenlogik von Film und Fotografie weiterführend genutzt werden. So versteht Mohn (2013) unter „Kamera-Ethnografie“ bzw. „zeigender Ethnografie“ eine spezielle Variante der Visuellen Ethnografie. Diese zeichnet sich durch eine Radikalisierung dahingehend aus, dass das Zeigen und Sichtbarmachen gegenüber dem schriftlichen Beschreiben innerhalb des (gesamten) Forschungsprozesses das Primat haben soll. Bildlich-filmisches Zeigen wird hierbei als nicht minder kulturell konstruiert veranschlagt als Schreiben. Besser ausgeschöpft werden sollen jedoch die Potenziale des Filmischen, Nichtsprachliches und insbesondere jene stummen Praktiken sichtbar zu machen, an denen primär Körper und Dinge beteiligt sind. Diesem Ansatz folgend führt der Weg vom ethnografischen Diktum des „dichten Beschreibens“ (Geertz 1987) zum „dichten Zeigen“, von „Datensitzungen“ zu „Blicklaboratorien“, vom schriftlichen Bericht zu Film-Publikationen, zu Vorführungen oder Installationen. Was die Interpretationen, Selektionen und argumentativen Ordnungen im schriftli-

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chen Bericht sind, sind in der Kamera-Ethnografie die „Blickschneisen“, die die Beobachtenden mit der Kamera anlegen, sind die Schnitte, die sie nachträglich setzen, sind die verschiedenen Spielarten des Dokumentierens, mit denen sie „Ergebnis-Filme“ produzieren. Es wäre spannend, solche und verwandte Vorgehensweisen stärker in die Visuelle Kommunikationsforschung zu integrieren, d. h. Film – und hier mehr noch: Fotografie und/oder Zeichnung – reflexiv zu nutzen, um Bildpraxis und Bildhandeln zu untersuchen: etwa das dramaturgische Handeln vor der Kamera oder die körperlichen Fertigkeiten und Skills, die es braucht, um Programme wie Photoshop zu bedienen. Ethnografisches (Be-)Schreiben und Zeigen schließen sich dabei nicht aus. Zudem ist darüber nachzudenken, ob auto-ethnografische Zugänge (allgemein dazu z. B. Ellis et al. 2010) sinnvolle Ergänzungen sein können. Hier sind es die Untersuchungsteilnehmenden selbst, die ihr alltägliches Handeln beschreiben und dokumentieren (siehe auch den Beitrag von Bozdağ und Kannengießer in diesem Band). Infrage kommen sowohl schriftliche als auch zeigende Varianten. Anschlusspunkte und Schnittflächen bestehen zu Tagebuchstudien, die auch in Form von Fototagebüchern angelegt sein können (Chaplin 2011). Derlei selbstbeschreibende und verbildlichte Verfahren finden bislang in der Visuellen Kommunikationsforschung noch zurückhaltend Anwendung, bieten sich aber gerade im Bereich des Bildhandelns und der Bildaneignung an. Mit Blick auf die typologische Auswertung nur bedingt als ethnografisch auszuweisen, dennoch in diese Richtung weisend, gibt die Studie von Sharples et al. (2003) ein Beispiel. Die AutorInnen haben Mädchen und Jungen dreier Altersgruppen (7, 11, 15 Jahre) aus verschiedenen europäischen Ländern analoge Kameras zur Verfügung gestellt und die entstandenen Bilder im Nachgang nach primären Motiven typologisiert. Auch an die deutschsprachige Tradition der handlungsorientieren Medienpädagogik kann angeknüpft werden. Zwar hat diese nur bedingt bildsensible Auswertungsmethoden entwickelt, am ehestens noch in ihrem ästhetischen Strang (z. B. Niesyto 2002). Gleichwohl betont sie bereits seit den 1980er-Jahren, dass der Zugang zu bestimmten Zielgruppen (z. B. jüngere Kinder oder Menschen, die es nicht gewohnt sind, Lebensvollzug zu verbalisieren) oder zu bestimmten Themen (z. B. Gewalterfahrungen) mit rein sprachlichen Mitteln nicht gelingt. Vor diesem Hintergrund wird aktive Medienarbeit, d. h. das selbsttätige Produzieren von medialem Material, als Erkenntnis- und Forschungsinstrument benutzt (Theunert 2013). Übertragen auf Bildhandeln und Bildaneignung können Individuen und Gruppen beispielsweise mit Kameras oder Bild-Apps ausgestattet und auf diese Weise Handhabung, Motive, Bearbeitungen oder andere Kontexte eruiert werden. Schließlich können auch Formen des qualitativen Experiments Eingang finden. Sie generieren ihre Erkenntnisse über den provozierten Bruch mit Alltagsroutinen (z. B. hervorgerufen durch ein temporäres Mobiltelefon- und Bildverbot).

3.3

Bild- und Dokumentenanalyse

Ausgangspunkt war bis hierhin, dass das zu analysierende Material im Forschungsprozess erst produziert und/oder an bestehendem Bildmaterial generiert

Qualitative Methoden der Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung

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wird. Anders als weite Teile des flüchtigen Alltagshandelns und der sprachlichen Alltagskommunikation liegen die Produkte von Bildhandeln und -aneignung vielfach jedoch bereits materiell fixiert vor. Das gilt sowohl für analoge Bilder, die z. B. in privaten Fotosammlungen und Bildalben überliefert sind, als auch für digitale Bilder, die auf Endgeräten und Speichermedien wie Festplatte oder Stick und auf Plattformen oder Kommunikations- und Cloud-Diensten verfügbar sind. Die Erforschung von Bildhandeln und -aneignung wandelt sich hier zur kontextuellen Bild- und Dokumentenanalyse (siehe auch Geise und Lobinger 2016; Lobinger 2012; siehe auch den Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band). Im Bereich des privaten bzw. alltäglichen Fotografiegebrauchs basiert beispielsweise Chalfens (1987) Klassiker „Snapshot versions of life“ (neben dem Einsatz von Fragebögen, Interviews und Beobachtungen) auf der Analyse von ca. 200 privaten Fotosammlungen. Im deutschsprachigen Raum gilt Starl (1994) als einer der ersten, der umfassend (analoge) Amateurfotografien ausgewertet hat. Dieser Zugang zu Fragen des Bildhandelns ist freilich nicht auf Fotografien beschränkt. Ebenso sind Erhebungen und Analysen von Kinderzeichnungen (z. B. Ganesh 2011) oder anderer bildlicher Artefakte denkbar. Vermutlich geben Bildsammlungen allein Kontextinformationen nur selten so zahlreich preis, dass Prozesse des Bildhandelns und der Bildaneignung umfassend rekonstruiert werden könnten. Insofern liegt es nahe, wo möglich, zusätzliche Quellen wie Tagebücher oder andere Aufzeichnungen heranzuziehen, oder, sofern die Betreffenden, ihnen nahestehende Personen oder Hinterbliebene selbst befragt werden können, die Analysen um Interviews, Gruppendiskussionen oder Beobachtungen zu ergänzen. Schreiber (2015) beispielsweise vergleicht den Fotogebrauch älterer und jüngerer Menschen. Hierbei kombiniert sie die Analyse von Fotos, die die Studienteilnehmenden zur Verfügung stellen, mit vertiefenden Interviews. Die Analyse von Bildsammlungen ist aber auch aus sich selbst heraus ein bedeutender Zugang zur Entschlüsselung von Bildhandeln und Aneignung. Denn die von privaten und kollektiven Akteuren überlieferten Bildsammlungen sind die Sedimente vergangenen Bildhandelns. Zwar repräsentieren sie „lediglich“ das vorläufig fixierte Ende der Handlungs-/Aneignungs-Kette, weniger den Weg bzw. die Kette selbst. Der diachron forschende Blick innerhalb einer Bildsammlung sowie der Vergleich verschiedener Bildsammlungen, wie etwa in der seriell-ikonografischen Fotoanalyse nach Pilarczyk und Mietzner (2005) angestrebt, erlauben dennoch Rückschlüsse auf Zeiten, Orte und Stile des Bildermachens, auf Praktiken des Selektierens und Ordnens, und sofern Daten über längere Zeiträume vorliegen, auch über Entwicklungen des Bildhandelns. Wie bei anderen Studien stellen sich grundsätzliche Fragen hinsichtlich der Konstruktion des Materialkorpus, seines Umfangs, der zeitlichen, räumlichen und sozialen Heterogenität der aufgenommenen Daten, der Prinzipien der Auswahl bestimmter Dokumente sowie der Art und Weise der Dokumentation (z. B. überlieferte analoge Bildalben; Download von Bildern und Alben; Screenshot/ScreenVideos).

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4

W. Reißmann und D. Hoffmann

Bildhandeln und Bildaneignung in digitalen Medienumgebungen

Wenn bislang von Bildhandeln und Bildaneignung gesprochen wurde, dann stets mit dem Bild vor Augen, dass Individuen und Gruppen etwas mit ihnen tun. Dieses Tun vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern in sozial, kulturell, medial und historisch spezifisch beschaffenen Umwelten. Für den Bereich der Privatfotografie mag diese Umwelt lange Zeit das häusliche und familiäre Umfeld gewesen sein („domestic photography“). Zumindest waren die Schubladen und Regale mit Bildalben, die Fotos auf den Schreibtischen und an den Wänden, aber freilich auch im Portemonnaie und im Büro, die Orte, an denen „privat/selbst“ produzierte Bilder zu suchen und zu finden waren. Wer heute über Bildhandeln und Bildaneignung nachdenkt, hat ergänzend dazu weitere Handlungs- und Ausspielräume im Blick: z. B. Bildplattformen wie Flickr, Apps wie Instagram oder mobil mit dem Handy/ Smartphone mitgeführte bzw. abrufbare Bildsammlungen (u. a. Gómez Cruz und Lehmuskallio 2016). Digitale Medienumgebungen werden von Prozessen des Bildhandelns und der Bildaneignung ebenso geprägt wie sie diese prägen. Mit veränderten Rahmungen stellen sich neue Fragen, zeigen sich alte Praktiken in neuem Gewand oder bilden sich neue Varianten heraus (siehe die Beiträge von Autenrieth und Reißmann in diesem Band). Vielfach hingewiesen wurde darauf, dass sich mit digitaler Fotografie und ihrer Integration in das Mobiltelefon die Vorstellungen davon verschoben haben, was es Wert ist, fotografiert zu werden (Veralltäglichung des Fotografierens). Das Kommunizieren mit Bildern (und nicht nur über sie) hat sich im Zusammenspiel mit Instant Messenger Services wie WhatsApp, Facebook Messenger oder Apps und Plattformen wie Instagram zu einem distinkten und wichtigen Kommunikationsmodus entwickelt. Der früher recht selbstverständliche Fokus in der Forschung auf Einzel- oder vergleichsweise wenige Bilder ist über die Vielzahl an Bildern, die im Alltag entstehen, infrage gestellt. In Plattformen wie Facebook sind es nicht versiegende Bildströme (Reißmann 2014), die Einblicke in eigene und fremde Welten geben und über Displayformen wie Timelines auch in ihrer Wahrnehmungsgestalt als Ströme aufscheinen. Bildgenres wie Memes und Selfies stehen paradigmatisch für die visuelle Kultur in digitalen Plattformen. Schon früher problematische Dichotomisierungen in private und öffentliche Bilder werden noch offensichtlicher fragwürdig. Gleichzeitig spielen solche Grenzziehungen alltagspraktisch weiterhin eine Rolle. Fortgeschritten ist zudem die Verdatung des Bildes, zu dessen Ko-Text in Plattformumgebungen ganz selbstverständlich statistische Daten und, wenn man das so deuten mag, eine automatisierte quantitative Bildnutzungsforschung gehören. Zusätzliche Verdatungsebenen ergeben sich über Geovisualisierung und navigationsbasierte Services (siehe den Beitrag von Brantner in diesem Band). Metadaten in Bildplattformen wie Flickr oder thematische Hashtags in Twitter führen zu komplexen Bildordnungen. Wir können die vielfältigen Rahmungen von Bildhandeln und Bildaneignung in digitalen Medienumgebungen hier nur andeuten. Methodische Herausforderungen ergeben sich hinsichtlich des verstehenden Nachvollzugs vielfach verschachtelter

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Online- und Offline-Bezüge; ineinandergreifender Bildströme; miteinander und mit anderen Daten vernetzter Bilder; neuer interventionistischer Bildakteure wie Algorithmen, Datenbanken und Programme, die Bildsammlungen produzieren, sich in kontextuelle Anzeigemodi einschreiben, nach visuellen Familienähnlichkeiten sortieren, Bild- und Nutzerdaten auswerten; oder hinsichtlich rasch wechselnder Bildtrends und Stile. Die veränderten Einbindungen des Handelns mit und in Bezug auf Bilder müssen auch methodisch Niederschlag finden. In interviewbasierten Zugängen kann das bedeuten, Sinn und Bedeutung bildbezogenen Handelns in Plattformen zum Thema zu machen. Da die Erfahrung lehrt, dass die Befragung allein oft eher abstraktformale Erzählungen generiert, bietet sich hier eine Kombination mit ElicitationStrategien und Fragetechniken an, die auf episodisches Erzählen zielen. Konkret kann das heißen, die Interviewten ihre eigenen Profile oder Bilder in der Timeline kommentieren zu lassen und/oder sie anzuregen, Assoziationen zu artikulieren. Eingebettet in ein medienethnografisches Setting hat Abend (2014) GeobrowsingPraktiken untersucht, indem er private und professionelle Google Earth-NutzerInnen auf ihren „Flügen“ begleitet hat. Dokumentiert werden können solche Datensessions z. B. über Screenshot/Screen-Recording-Verfahren. Ebenfalls denkbar ist es, sich der vernetzten Infrastrukturen insofern zu bedienen, als dass diese es ermöglichen, bestimmten Bildern und Bildgenres auf ihren „Reisen“ zu folgen, z. B. also zu explorieren, in welchen Praxisgemeinschaften diese zirkulieren und zu untersuchen, wie sie differenziell angeeignet werden. Unter welchen methodologischen Prämissen Ethnografie digitale Bild-„Flows“ untersuchen kann, skizziert im Rückgriff auf Ansätze der nicht-repräsentationalen Geografie Larsen (2008) am Beispiel der Touristenfotografie. Ethnografische Studien, die sich mit Bildhandeln und -aneignung in digitalen Medienumgebungen beschäftigen, werden nicht umhinkommen, in der einen oder anderen Weise digitale Online-Ethnografie (Netnography) zu betreiben. Dabei steht man vor der Herausforderung, Objekte und Praktiken in zu beobachtenden Räumen respektive Sphären überhaupt fassen zu können, denn Netzstrukturen und Anwendungen sind in der Regel hochgradig dynamisch und entgrenzt, was eine Verortung und Einbettung der Forschenden im Feld bzw. in verschiedenen/vernetzten Feldern erschwert und sie zudem vor forschungsethische Probleme stellt (u. a. Hine 2015). Als Forschende/r begibt man sich auf die Spuren der NutzerInnen, folgt ihnen und ihren Bildpraktiken nach, rekonstruiert ihr Handeln mitunter in verschiedenen Kontexten und wird wiederum mit anderen (zuweilen nicht unmittelbar aktiv beteiligten) Akteuren in diesen Kontexten konfrontiert, die auf Bildpraktiken reagieren (diese z. B. kommentieren, teilen, adaptieren etc.). Weiterhin ist es für die Medienaneignungsforschung nicht neu, Medienanalyse und Nutzungsforschung zu kombinieren. Allerdings ist zu attestieren, dass es heute selbst Kommunikations- und MedienwissenschaftlerInnen vielfach schwerfällt, die Komplexität und Arbeitsweise der verschiedenen digitalen Medien zu fassen und dass Forschende, die über Expertise im Bildbereich verfügen, nicht unbedingt Spezialisten für digitale Medien sind. Ein dynamisches Produkt wie eine Timeline ist ohne Verständnis für die Funktionsweise von Algorithmen, digitaler Ordnungs-

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und Anzeigepraktiken und ohne Kenntnisse im Interface-Design (u. a. Marres und Gerlitz 2015) kaum adäquat zu untersuchen. Wo die frühere Medienaneignungsforschung den Brückenschlag primär zur Film- und Fernsehanalyse gesucht hat und sie diesen mit Fokus auf (stehende) Bilder in Richtung Bildanalyse gegenwärtig nachholt, sollte sie in Zukunft verstärkt die Kooperation mit Platform und Software Studies suchen.

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Ausblick: Triangulation als Königsweg einer bildsensiblen Analyse von Bildhandeln und Bildaneignung?

Abschließend wollen wir den eingangs gelegten Diskussionsfaden wieder aufnehmen. Ob in historischem Zuschnitt oder gegenwartszentriert: Forschungen zu Bildhandeln und Bildaneignung werden sich daran messen lassen müssen, wie bildspezifisch ihre Vorgehensweisen und Analysen ausfallen. Das gilt gleichermaßen für jene Fokusverschiebungen, die heute weniger vom bildlichen und bildbezogenen Handeln individueller Akteure als von bildbezogenen Praktiken sprechen. Die Überschrift dieses Kapitels ist daher nur auf dem ersten Blick tautologisch. Es ist mitnichten ausgemacht, dass wirklich viel Bildliches zu finden ist, wo eine Analyse des Bildhandelns in Aussicht gestellt wird. Wie eingangs skizziert, liegt das forschungslogische Problem darin, dass eine an Alltag und Lebenswelt orientierte Forschung ihrem Anspruch nicht gerecht werden kann, wenn sie nur auf Bilder und ihre Darstellungs- und Repräsentationsmuster sowie materiell-technologischen Beschaffenheiten schaut. Umgekehrt muss sich Bildforschung fragen lassen, wie sie sich von anderen und allgemeinen Zugängen zu Medienhandeln, Medienaneignung oder Medienpraktiken abgrenzt. Im Zentrum bildwissenschaftlicher Zugänge steht traditionell die Bildanalyse.4 Visual (Culture) Studies, Visual History, Bildanthropologie, Bildpsychologie, Kommunikations- und Medienwissenschaft, Visuelle Soziologie und andere (Teil-) Disziplinen haben je spezifische Theorien zur Bedeutung von Visualität sowie Verfahren zur Analyse entwickelt (u. a. Lobinger 2012; Müller und Geise 2015; Petersen und Schwender 2011; Rose 2007; Sachs-Hombach 2005). Insbesondere im deutschsprachigen Raum führen die qualitativen Analyseverfahren zumeist auf die klassischen Vorbilder der Ikonografie im Anschluss an Panofsky (1998 [1932]) sowie deren Modifizierung zur Ikonik im Anschluss an Imdahl (1980) zurück. Panofskys (1998 [1932], S. 1076) Dreischritt – von der Erschließung des Phänomensinns über den Bedeutungssinn zum Dokumentsinn – ist als Grundmodell noch heute Anregung, auch im Kontext der Analyse medialer Bilder (siehe den Beitrag von Knieper und Müller sowie den Beitrag von Grittmann zur Medieninhaltsforschung in diesem Band). Während Panofskys Verfahren eine Interpretation darstellt, die stufenlogisch aufsteigend mit umfangreichem Kontextwissen angereichert wird und in die Deutung als Ausdruck beispielsweise einer Zeit oder ganzen Epoche 4

Teile der folgenden Rekonstruktion sind Reißmann (2015, S. 181–182, Fußnote 48) entnommen.

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mündet, leitet Imdahls Ikonik die relevanten Interpretationen in stärkerem Maße (allein) aus der formalen Gestaltung und Komposition des Dargestellten ab. Gegenwärtig stehen etwa die „dokumentarische Bildinterpretation“ (Bohnsack 2011) oder die „Segmentanalyse“ (Breckner 2012) für letzteren Weg. Wissenssoziologische Verfahren der Bildanalyse fragen „nach der in Bildern aller Art eingelassenen gesellschaftlichen Bedeutung“ (Reichertz 2005, S. 142). Die hieraus resultierenden Bildbeschreibungen und -interpretationen sind verdienstvoll, insofern sie versuchen, die visuellen Bedeutungskomplexe aufzubrechen und zum „gesellschaftlichen Sinn“ als „Ebene latenter Strukturprinzipien“ und „kultureller Metasprache“ (Müller-Doohm 1997, S. 93) vorzudringen. Für handlungs-, aneignungs- und praxistheoretische Zugänge stellen weitreichende Inferenzschlüsse, die allein auf Bildanalysen beruhen, hingegen ein methodologisches Problem da. Implizit gesetzt ist damit nämlich entweder, dass aus dem Bild heraus auf bildexterne Kontexte geschlossen werden kann, oder dass zeit- und kulturspezifische Kontexte einfach in das Bild bzw. die Bildanalyse integriert werden können (die politische Ikonografie liefert Beispiele). Beides ist aus praxeologischer Sicht problematisch. Im Mittelpunkt der Analyse von Bildaneignung und Bildhandeln steht schließlich die Frage nach der „pragmatischen Differenz“. Sie beschäftigt sich mit der Art und Weise sowie den Konsequenzen des Gebrauchs von Bildern im alltagsund lebensweltlichen Vollzug. Die entscheidende Frage ist also, wie der Eigensinn der Bilder, ihr Tun und Zeigen, und der Eigensinn sozialer und kultureller Praxis zusammenkommen. Das gilt für semiotische Qualitäten des Bildes (z. B. die kommunikative Bedeutung, die im Akt des Zeigens liegt) ebenso wie für seine nicht-repräsentationalen Qualitäten (z. B. die Erzeugung von Präsenz). Bildliches Zeigen erschöpft sich nicht darin, was mit Bildern kommuniziert werden soll. Immer besteht eine potenzielle Differenz zwischen dem innerbildlich Dargebotenen und der ihm politisch, künstlerisch oder journalistisch zugemuteten Bedeutung, die sich im jeweiligen faktischen Bildgebrauch nicht unbedingt bemerkbar macht. Zu dieser interpretativen Flexibilität gesellt sich materielle Plastizität. Wenn digitale Bilder beispielsweise als Links dienen, hängt es sehr von der medialen Umgebung ab, was sie letztlich „sind“, was sie „zugänglich“ machen, welche Wege sie „anweisen“. Im kommunikationswissenschaftlichen Raum fragen Modifizierungen wie die um Knieper entwickelte Ikonologische Kontextanalyse „über die manifesten Bildinhalte hinaus“ nach den „verschiedene[n] medial bedingte[n] Kontexte[n], wie Strategie, Ereignis, Produktion, Distribution, Rezeption und die kognitive Verarbeitung von Medienbildern“ (Bock et al. 2011, S. 63, siehe auch den Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band). An solche, primär an journalistischmassenmedialen Bildern erarbeitete Zugänge kann in der Forschung zu Bildhandeln und -aneignung ebenso angeschlossen werden, wie an fachfremde Ansätze wie der „wissenssoziologischen Konstellationsanalyse“ (Raab 2014). In der einen oder anderen Weise leisten diese und weitere Ansätze Inferenzen in Richtung Bildhandeln, auch wenn Bildhandeln konzeptuell meist beschränkt bleibt auf das intendierte und nicht-intendierte Tun und Lassen von FotografInnen oder massenmedialen Akteuren („Sendern“), womit der alten Logik der Trennung von produzierenden Medien und rezipierenden Publika gefolgt wird. Raab (2012) etwa argumentiert mit

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Goffmans Rahmentheorie, einem Konzept der Interaktionssoziologie, und konzediert neben den unmittelbaren die mittelbaren Bildkontexte, zu denen „subjektive Bilderfahrungen und Sehgewohnheiten mit den durch sie angeregten Appräsentationen und Assoziationen ebenso [gehören] wie das Bezüge, Vergleiche und Kontraste zu anderen Bilddarstellungen eröffnende, über unterschiedliche Bildungsprozesse angeeignete, kulturelle Wissen um Stile und Sujets, Symbole und Gattungen, Bildprogramme und Bildtraditionen“ (Raab 2012, S. 130). Hierbei hat er ganz offensichtlich aber eher die ForscherInnen als Bildinterpretierende sowie die BildautorInnen, z. B. FotografInnen, im Blick. Um herauszufinden, wie Bilder und Bildlichkeit im Wortsinn in visuelle Kommunikation und interpersonales Handeln mit Bildern verstrickt sind, sind weitergehende Überlegungen und methodische Explorationen vonnöten. Neben Anpassungen an die oft andersartigen Bildbereiche, -herkünfte und -verwendungen braucht es eine Invertierung dessen, was jeweils Figur und was Grund ist. Steht in kontextuellen Bildanalysen weiterhin das Bild als Zeugnis und Dokument im Mittelpunkt, wird in Bildhandlungs- und Bildaneignungsanalysen der „Kontext“ bzw. die „Praxis“ zur Figur.

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Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung Stephanie Geise

Inhalt 1 Zur Fundierung einer originären kommunikationswissenschaftlichen Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Methoden der Bildrezeptionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methoden der Bildwirkungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Empirische Kommunikationsforschung, die sich im weitesten Sinne dem spezifischen Analysegegenstand „Bild“ widmet, ist mit der Herausforderung konfrontiert, die mit der visuellen Codierung und Decodierung einhergehenden Besonderheiten Visueller Kommunikation analytisch zu durchdringen, theoretisch zu fundieren und angemessen methodisch auf diese zu reagieren. Da Bilder im Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozess über eine spezifische, assoziative und holistische Decodierungslogik operieren, ist ein „spezifisch visuell-wissenschaftliches Vorgehen“ im gesamten Forschungs- und Analyseprozess unerlässlich (Knieper und Müller 2001, S. 13). Diese Erkenntnis markiert den Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags, der sich aus Perspektive einer spezifischen Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung zentralen Methoden ihrer empirischen Analyse widmet, diese im Überblick zusammenstellt und ihre jeweiligen Aufklärungspotenziale vorstellt.

S. Geise (*) Institut für Kommunikationswissenschaft, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_26

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Schlüsselwörter

Real-Time-Response-Measurement · Eyetracking · Web-Tracking · Physiologische Messmethoden · Facial Action Coding · Thinking Aloud · Experiment

1

Zur Fundierung einer originären kommunikationswissenschaftlichen Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

Visuelle Kommunikationsforschung gilt längst als eine integrale Teildisziplin der Kommunikations- und Medienwissenschaft (Lobinger 2014, S. 299; siehe auch Müller und Geise 2015, S. 15). Unter diesem Dach beschreibt die Bildrezeptionsund Bildwirkungsforschung ein Forschungsfeld, das empirische Methoden der standardisierten sowie qualitativen Sozialforschung anwendet, um Strukturen, Funktionen und Prozesse der Selektion, Rezeption und Wirkung von (meist medial) kommunizierten Bildern zu analysieren. Da Rezeptions- und Wirkungsprozesse von Bildern aber nur dann adäquat analysiert werden können, wenn ihr spezifisches Kommunikationsprinzip adressiert wird (Müller 2007), stehen Forschende bei Fragen zur Bildrezeption und -wirkung vor besonderen methodischen Herausforderungen. Zweifellos haben sich einige etablierte sozialwissenschaftliche, standardisierte sowie nichtstandardisierte Methoden für die Analyse als fruchtbar erwiesen – doch mussten die meisten für die Visuelle Kommunikationsforschung erst adaptiert werden, um die spezifische Funktions- und Wirkungslogik visueller Kommunikation angemessen methodisch abbilden und empirisch erfassen zu können (siehe zum Überblick entsprechende Methodenhandbücher, z. B. Petersen und Schwender 2011; Margolis und Pauwels 2011). Dabei setzt die Auseinandersetzung mit dem Bild, seiner Rezeption und Wirkung auch differenziertes Wissen über die spezifische Funktions- und Wirkungslogik visueller Kommunikation voraus (Geise 2011a, S. 39). Diese muss daher als zentraler theoretischer Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit visueller Kommunikation und dem Bild als Analyseobjekt der empirischen Kommunikationsforschung verstanden werden – und spannt damit auch den theoretischen Rahmen des vorliegenden Methodenüberblicks auf. Inwieweit es den ForscherInnen gelingt, der spezifischen Logik aus theoretischer, methodischer und empirischer Perspektive gerecht zu werden, muss insofern als entscheidender Bewertungsmaßstab der empirischen Forschung angesehen werden.

1.1

Besonderheiten der Encodierung und Decodierung bildlicher Informationen

Die Visuelle Kommunikationsforschung analysiert primär visuelle Phänomene, die sich in Form von medial fixierten Bildern materialisieren (Lobinger 2012, S. 13; Müller und Geise 2015, S. 14). Ein Bild wird definiert als intentionale, zweidimensionale,

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

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medial gebundene Visualisierung oder visuelle Repräsentation von Bedeutungsinhalten (Geise und Rössler 2012, S. 347; Geise 2011a, S. 63). Diese Bedeutungsinhalte können – und zwar sowohl auf Seiten der KommunikatorInnen als auch auf Seiten der Wahrnehmung, Verarbeitung und Interpretation durch die RezipientInnen – durch ihre Eingebundenheit in situative, zeitliche, räumliche, individuelle und soziale Kontexte modifiziert werden, da diese die Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation der visuell kommunizierten Informationen prägen. Die Kontextabhängigkeit visueller Kommunikation ist nicht nur bei der Analyse von Bildern als Medium (zum Beispiel im Rahmen der standardisierten Bildinhaltsanalyse) zu berücksichtigen, sondern auch, wenn es um die Erforschung der Rezeption (z. B. durch rezeptionsbegleitende Beobachtungsmethoden wie Eyetracking), die Verarbeitung und Wirkung visueller Kommunikation (z. B. wenn mentale Kategorisierungsprozesse durch Bildsortierstudien erfasst werden) sowie schließlich um die Einordnung der Befunde der Visuellen Kommunikationsforschung geht. Das spezifische Kommunikationsprinzip visueller Kommunikate wird zunächst auf der Ebene der visuellen Encodierung und Konfiguration von Bedeutungsinhalten im Bild bedeutsam. Denn im Gegensatz zur sequenziell-analytischen Textlogik operieren Bilder über eine informationsdichte, ganzheitlich-assoziative Präsentationslogik. Als kommunikative Entitäten präsentieren sie Informationen holistisch, so dass alle bedeutungstragenden Bildelemente im Bild simultan präsentiert werden und eine fixierte Hierarchie von Bedeutungen bzw. eine feste Reihenfolge ihrer Rezeption nicht per se vorgegeben ist (siehe auch die Beiträge von Pfurtscheller und von Bucher in diesem Band). Im Unterschied zur linearen Sequenzialität lexischer Kommunikation entfaltet sich die kommunikative Syntax der Bilder auch über diesen simultanen und integralen Charakter, wobei die innere Logik der bildlichen Struktur nicht (wie bei Text oder Sprache) grammatikalisch fixierten und etablierten, vergleichsweise einfach dechiffrierbaren „Kompositionsregeln“ folgt. Stattdessen können einzelne Bildkomponenten in ihrer visuellen Konfiguration variabel zusammengesetzt werden. Die entstehende räumliche Anordnung der visuellen Elemente im Bild zueinander transportiert dabei Bedeutungszusammenhänge im Sinne einer „räumlichen Grammatik“ (Paivio 1979, S. 33–37). Die kommunikative Syntax der Bilder wird aber auch durch ihren unmittelbar-präsentativen und assoziativen Charakter geprägt, durch den das Dargestellte – im Bild visualisiert – zu einem „unmittelbaren Objekt“ wird. Mit Oehler (1993, S. 129) hängt das „Sein“ des Objekts zwar von der visuellen Repräsentation im Bild(-Zeichen) ab, den BetrachterInnen dürfte aber das visuell Codierte als Referenz auf das zugrunde liegende Dargestellte dienen und auf dessen potenzielle Erfahrbarkeit assoziativ rekurrieren. Für die Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung ist nun relevant, dass die oben skizzierten Modalitätsspezifika der visuellen Codierung (siehe auch den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band) Besonderheiten in Prozessen der visuellen Wahrnehmung, Verarbeitung, Einordnung und Interpretation durch die RezipientInnen mit sich bringen: Aufgrund ihrer strukturellen Verschiedenheit aktivieren Bild und Text verschiedenartige Rezeptions- und Wirkungsprozesse bzw. aktivieren diese verschieden (hierzu ausführlich: Geise und Baden 2013, 2015; Müller und Geise 2015). So folgt der modalitätsspezifischen integralen Codierungslogik aus wirkungs-

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S. Geise

analytischer Perspektive eine holistische Informationsverarbeitung von Bildinformationen. Folgt man den Befunden zu dem so genannten, empirisch recht gut belegten Picture Superiority Effect (siehe dazu exemplarisch Kobayashi 1986; Childers et al. 1986; Childers und Houston 1984), lassen sich folgende Besonderheiten visueller Kommunikation für Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozesses sowie verbundenen Medienwirkungen zusammenfassen (Müller und Geise 2015, S. 97–98 sowie 108–109; Geise 2011a, S. 53–54; siehe dazu auch Geise und Baden 2013, 2015): 1. Bereits in der Phase des Einstiegs in den Rezeptionsprozess verfügen Bilder über ein (im Vergleich zu Text) höheres Aktivierungspotenzial, sie generieren eine höhere (visuelle) Aufmerksamkeit und werden deshalb weniger selektiv wahrgenommen; 2. dabei werden Bilder nicht wie Texte sequenziell-analytisch, sondern eher holistisch und in größeren Sinneinheiten rezipiert, weshalb Bilder im Wahrnehmungsprozess extrem schnell und „quasi-automatisch“, d. h. ohne große mentale Anstrengungen aufgenommen und verarbeitet werden können; 3. Bilder können im Rezeptionsprozess eine sensuelle Unmittelbarkeit suggerieren und daher eine „Augenzeugenschaft“ erzeugen, die sie glaubwürdiger und authentischer erscheinen lässt und eine mentale Verarbeitung mit geringerer kognitiver Kontrolle unterstützt; 4. im Rahmen der weiterführenden mentalen Elaboration können Bilder leichter mental fixiert sowie nachhaltiger und mit höherer Prägnanz (ungestützt) erinnert und (gestützt) wiedererkannt werden; diese Spezifika führen dazu, dass Bilder 5. gerade bei sehr flüchtiger bzw. peripherer Reizverarbeitung ein höheres Wirkungspotenzial generieren können als lexikalische Botschaften.

1.2

Zur Ambiguität und Kontextdependenz bildlicher Informationen

Da Bilder stärker noch als Texte mehrdeutige und kontextabhängige Kommunikate sind, müssen die im materiellen Bild intendierten, visuell codierten und im Rezeptions- und Wirkungsprozess von den BetrachterInnen schließlich decodierten Bedeutungsinhalte nicht unbedingt deckungsgleich sein; dies dürfte sogar eher die Ausnahme darstellen. Die Bedeutungszuweisung muss insofern als individueller und mentaler, zugleich jedoch auch als interindividueller und sozialer Konstruktionsprozess verstanden werden, bei dem Rezipierende dem Bild bzw. den Bildinhalten ein spezifisches Bedeutungsrepertoire zuweisen (Geise und Lobinger 2012, insb. S. 320–324). Trotz der Relevanz, die hier angesprochene Bedeutungsoffenheit bildlicher Kommunikation theoretisch und methodisch adäquat zu berücksichtigen, erfolgt diese Bedeutungskonstruktion natürlich nicht vollkommen beliebig: Das Bild eröffnet den Rezipierenden ein Spektrum an möglichen Bedeutungen. Dieses kann durch Bild und Bildkontext (siehe dazu auch den Beitrag von Knieper und Müller in diesem Band) eher allgemein und ambivalent oder stärker spezifiziert und eindeutig beschrie-

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

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ben sein – doch ist dieses Spektrum grundsätzlich begrenzt, prinzipiell intersubjektiv nachvollziehbar und damit auch der empirischen Forschung zugänglich. Entsprechend geht die Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung davon aus, dass die involvierten Prozesse zwar kontextabhängig, spezifisch und komplex sind, sich aber gleichzeitig interindividuelle und strukturell generalisierbare Gemeinsamkeiten konstituieren, die sich mit Methoden der empirischen Sozialforschung direkt messen oder indirekt über messbare Indikatoren rekonstruieren lassen. Strukturell wiederkehrende Prinzipien der Bildrezeption und Bildwirkung können z. B. darin begründet sein, dass physiologische, kognitive und affektive Prozesse der visuellen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung bei allen Menschen ähnlich strukturiert sind: Auch, wenn wir mit einem Apfel unterschiedliche Dinge verbinden, sehen wir das Bild physiologisch gesehen doch annähernd ähnlich. Auch soziale, kulturelle und mediale Sozialisationsprozesse führen dazu, dass unsere Bildrezeption gewissen Regelmäßigkeiten folgt: Das Bild einer jungen dunkelhäutigen Frau mit Kopftuch, das in einem Museum ausgestellt ist, rezipieren wir kulturell konventionalisiert anders als das identische Bild auf einem politischen Plakat (siehe auch Müller und Geise 2015, S. 90). Da Bilder mehrdeutige und kontextabhängige Kommunikate sind, erfordern sie – ebenso wie Texte – spezifische Kompetenzen, um eine analytische Dekonstruktion ihrer medialen Konfiguration und letztlich auch ihrer Bedeutungspotenziale leisten zu können (siehe hierzu etwa Scholz (1998) Stufen des Bildverstehens; siehe auch Geise 2011a; Müller und Geise 2015). Allerdings legen entwicklungspsychologische Forschungen nahe, dass zumindest grundlegende Leistungen der Bildrezeption und der Bildentschlüsselung überwiegend auf Kompetenzen der natürlichen Umweltwahrnehmung rekurrieren (Berendt 2005).

2

Methoden der Bildrezeptionsforschung

In Anlehnung an z. B. Charlton (1997, S. 16) soll unter Bildrezeption die aktive Auseinandersetzung von BetrachterInnen mit visuellen Kommunikaten in ihren ggf. multimodalen Kontexten verstanden werden. Demnach beginnt der Rezeptionsprozess, eventuell nach vorangegangener, bewusster Selektion, mit der Zuwendung zum visuellen Stimulus. Im Mittelpunkt des Prozesses steht die unmittelbare Betrachter-Bild-Interaktion (Charlton 1997, S. 16). Der Fokus der Bildrezeptionsforschung gilt eben dieser Interaktion und den dabei ablaufenden sensorischen, kognitiven, affektiven und behavioralen Prozessen (Müller und Geise 2015, S. 79; vgl. auch Bonfadelli und Friemel 2011; Schenk 2007; Jäckel 2011). Das Ziel liegt darin, zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren, wie und warum bestimmte Personen bestimmte visuelle bzw. multimodale Medienangebote von bestimmten AnbieterInnen zu bestimmten kommunikativen Zielen rezipieren und wie sich dieser Rezeptions- und Aneignungsprozess gestaltet. Forschungsfragen, die sich aus dieser Perspektive stellen, sind z. B. wie RezipientInnen auf Medienbilder aufmerksam werden, wie intensiv sie sich diesen dann zuwenden, wie sie dabei die Medienbilder

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S. Geise

und die begleitenden Textinformationen sensorisch wahrnehmen und erleben, welchen unmittelbaren „Eindruck“ diese hinterlassen. Da Bildrezeption auf einem komplexen System sensorischer, kognitiver und affektiver Prozesse basiert, die sich wechselseitig beeinflussen, erfordert die empirische Analyse Wissen über die involvierten Prozesse der visuellen Wahrnehmung und Verarbeitung sowie des Bildverstehens und -erlebens. Neben den Eigenschaften des visuellen Medienangebots (z. B. Größe, Farbigkeit, Inhalt) gelten auch die Eigenschaften der Rezipierenden (z. B. politisches Interesse, Involvement, Vorwissen) als Prädiktoren der Medienrezeption. Es wird also vermutet, dass sich ausgehend von den unterschiedlichen Botschafts- und RezipientInnenmerkmalen Ausprägungen verschiedener Rezeptionsdimensionen vorhersagen lassen. Analyseobjekt der Bildrezeptionsforschung sind demnach meist Strukturkomponenten der Bildselektion und Bildrezeption, die im Untersuchungsdesign als abhängige Variablen operationalisiert werden (siehe auch Müller und Geise 2015, S. 80). Für die empirische Analyse visueller Rezeptionsprozesse empfehlen sich insbesondere Methoden, die möglichst zeitnah an den Rezeptionsprozess herankommen und somit ermöglichen, Indikatoren, Strukturen und Prozesse der unmittelbaren Bildrezeption zu erfassen. Hierzu zählen u. a. 1) Methoden der unmittelbaren, prä-attentiven Bewertung des rezipierten Stimulus, etwa Real-Time-Response-Measurement, 2) apparative Beobachtungsverfahren, die sensorische Selektions- und Wahrnehmungsprozesse erfassen können wie Eyetracking; 3) Online-Tracking-Verfahren, mit denen sich behaviorale Daten zum Rezeptionsverhalten kontinuierlich erfassen lassen; 4) physiologische Messmethoden und 5) Facial Action Coding, die auf affektive und emotionsinduzierende Prozesse bei der Bildrezeption schließen lassen, sowie Methoden, die Einblick in unmittelbar bei der Rezeption ablaufende kognitive Verarbeitungs- und Einordnungsprozesse geben, wie 6) Thinking Aloud oder 7) Sortierstudien. Mit Ausnahme von Sortierverfahren, denen ein eigener Beitrag in diesem Band gewidmet ist (siehe dazu den Beitrag von Lobinger und Mengis, sowie ausführlich auch Geise und Rössler 2015), werden diese nachfolgend im Überblick beschrieben.

2.1

Unmittelbare Bewertung der Bildrezeption: Real-TimeResponse-Measurement

Die Messung der Real-Time-Response (RTR) ist eine computergestützte, apparative und rezeptionsbegleitende Erhebungsmethode. Sie ermöglicht, Reaktionen im Rezeptionsprozess nahezu unmittelbar über „quasi-online Indikatoren“ (Richter 2008, S. 17) zu erfassen (siehe auch Maier et al. 2009). Im Vergleich zu postrezeptiven Erhebungsverfahren (z. B. der Befragung) ist bei RTR die Zeit zwischen der Rezeption und der Reaktions- bzw. Rezeptionsmessung des Probanden bzw. der Probandin minimal; die Rezipierenden können ihren Eindruck nahezu unmittelbar wiedergeben. Richtig angewandt, kann die Messung der unmittelbaren RezipientInneneindrücke über RTR als reliabel und valide angesehen werden (Millard 1992, S. 12; Reinemann et al. 2005). RTR bietet damit ein hohes Aufklärungspotenzial für

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

577

Fragestellungen, die mit der (prä-attentiven) unmittelbaren Wahrnehmung und Bewertung visueller Stimuli zusammenhängen: Welchen spontanen ersten Eindruck erzeugen Bildplakate bei den WählerInnen? Erzeugt die „Schock-Werbung“ negative Beurteilungen bei den KundInnen? Wie bewerten ZuschauerInnen die PolitikerInnen im TV-Duell? Forschungen haben zudem gezeigt, dass sich die unmittelbaren Rezeptions-, Verarbeitungs- und Bewertungsprozesse auch auf nachfolgende mentale Elaborationen auswirken können: „mental activity occurring before, during and after the processing of a target message can dramatically influence the information retained, the length it is remembered, and the association with past experience“ (Thorson und Reeves 1986, S. 549). Operationalisiert wird die RTR-Messung über ein reaktives, intuitives Bedienen eines Drehreglers oder Drehknopfes durch die ProbandInnen, seltener über das Drücken bestimmter Tastenkombinationen. Ein RTR-System besteht also im Wesentlichen aus RTR-Dials – d. h. funkgesteuerten „Fernbedienungen“ – sowie einem RTR-Processor, der die von den Teilnehmenden eingestellten Daten kontinuierlich empfängt und aufzeichnet. Die Bewertung kann hierbei – sofern die ProbandInnen eine entsprechende Einführung erhalten – in hohem Maße intuitiv und spontan erfolgen, in der Regel ohne dass die Teilnehmenden das Rezipierte kognitiv weiterführend elaborieren bzw. reflektieren. Seit der Entwicklung in den 1930er-Jahren im Rahmen des „Princeton Radio Research Projects“ wurde RTR in methodischer und technischer Hinsicht kontinuierlich weiterentwickelt. In der deutschen Kommunikationswissenschaft wurde RTR vor allem zur Analyse der TV-Debatten der Bundestagswahlkämpfe genutzt (z. B. Maurer und Reinemann 2003; Maurer et al. 2007). RTR wurde hierbei im „klassischen“ Sinn als Instrument zur kontinuierlichen rezeptionsbegleitenden Messung eingesetzt: Parallel zur Rezeption der TV-Duelle gaben die Teilnehmenden fortlaufend ihre Bewertungen bzw. Wahrnehmungsurteile zu gesehenen Inhalten ab; diese kontinuierlichen Daten wurden alle 1,5 Sekunden mittels RTR-Dial erfasst und dokumentiert. Daneben ist RTR aber auch geeignet, um spontane Bewertungen wie ein „Level of Liking“ unmittelbar im Anschluss an die Rezeptionssituation zu erfassen: „[Real-time methods] are also preferable to immediate post exposure measures in that individuals are unable to provide retrospective responses“ (Boyd und Hughes 1992, S. 655). Für diesen Zweck hat beispielsweise Geise (2011a) RTR eingesetzt, um nach peripherer Erst-Rezeption von Wahlplakaten nach 0,5 Sekunden Rezeptionszeit die spontane Bewertungen der RezipientInnen – im Sinne eines „ersten Eindrucks“ – intuitiv und ohne explizite Verbalisierung erfassen zu können (vgl. zu einer ähnlichen methodischen Anlage auch Newhagen 1998). Neben der einigermaßen aufwendigen Implementierung und insbesondere Datenauswertung bleibt allerdings zu beachten, dass RTR ein reaktives Verfahren ist, das den Rezeptionsprozess verändern kann (vgl. zu einer kritischen Methodenevaluation ausführlich auch Bachl 2014). So haben Fahr und Fahr (2009) demonstriert, dass der Einsatz von RTR physiologisch messbare Veränderung der Aktivierung induzieren kann. Problematisch erscheint auch der „Zwang der kontinuierlichen Bewertung“, die mitunter zur methodisch problematischen Erfassung von „Non-Opinions“ führt (Geise 2011b, S. 236).

578

2.2

S. Geise

Apparative Beobachtung visueller Selektions- und Wahrnehmungsprozesse: Eyetracking

In der Visuellen Kommunikationsforschung gibt es viele Fragestellungen, bei denen die Beobachtung und Analyse visueller Selektions- und Wahrnehmungsprozesse über Eyetracking Aufklärung über den eigentlichen Rezeptionsprozess verspricht: Welche Bildinhalte selektieren RezipientInnen beim Zeitungslesen? Welche bildhaften Elemente werden auf Wahlplakaten als erstes betrachtet? Und für wie lange? Mit welcher visuellen Aufmerksamkeit verfolgen RezipientInnen eine Nachrichtensendung im Fernsehen? Wie orientiert man sich visuell auf einer Webseite? Eyetracking ist ein apparatives, rezeptionsbegleitendes Beobachtungsverfahren, das die physiologische bzw. muskuläre Blickbewegung des Rezipienten bzw. der Rezipientin passiv, non-invasiv und (bei stationären Eyetrackern) berührungslos erfasst und darüber einen Einblick in unmittelbare Rezeptionsprozesse der sensorischen visuellen Wahrnehmung ermöglicht, den auf self-reporting basierende oder post-rezeptive Erhebungsmethoden nicht oder nur sehr eingeschränkt liefern können (Geise 2011b, S. 160, 2013; Geise und Schumacher 2011). Das Aufklärungspotenzial von Eyetracking basiert auf der Möglichkeit der qualitativen und quantitativen Beschreibung und Analyse der Blickbewegungen hinsichtlich der Fragen, 1) welche Inhalte RezipientInnen selektieren und während der Rezeption des visuellen Stimulus foveal fixieren, 2) in welcher Intensität und Dauer sie sich den betrachteten Inhalten bzw. Informationen visuell zuwenden, 3) in welcher zeitlichen und inhaltlichen Reihenfolge die Betrachtung erfolgt und 4) wo keine visuelle Aufmerksamkeit gebunden wird. Dabei kann der Rezipient bzw. die Rezipientin die Messergebnisse nicht oder nur sehr eingeschränkt kontrollieren. Als nicht-reaktives Verfahren erfasst Eyetracking den Großteil der tatsächlichen Blickbewegungen und insofern auch das non-intentionale (Blick-)Verhalten (Geise 2011b, S. 161). Der Einsatz von Eyetracking basiert auf zwei grundlegenden Annahmen: 1) Die sensorische Rezeption ist notwendige Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu einer nachfolgenden Wirkung des visuell Wahrgenommenen kommt. Und 2): Über die entsprechenden Indikatoren (z. B. Zeit bis zum Erstkontakt; Betrachtungslänge; Betrachtungsreihenfolge) gibt der Blickverlauf Auskunft über Art und Güte der mit der sensorischen Wahrnehmung verbundenen mentalen Verarbeitungsprozesse (Brosius 1983, S. 8). So wird mit der Immediacy Assumption angenommen, dass visuell wahrgenommene Reize unmittelbar mental verarbeitet werden, weshalb Fixationszeiten als Maß für die Intensität der kognitiven Verarbeitung interpretiert werden (Rötting 1999, S. 8). Mit der Eye-Mind Assumption wird weiterhin vermutet, dass die visuell wahrgenommenen Objektbereiche so lange im Zentrum der kognitiven Verarbeitung stehen, wie sie zentral betrachtet bzw. fixiert werden (Lass und Lüer 1990, S. 80; Just und Carpenter 1976, S. 44). Schließlich lässt sich aus den beiden zuvor genannten Prämissen noch die Eye-Mind-Sequence Assumption ableiten, nach der sich aus der Analyse des Blickverlaufs Aussagen zur Hierarchie der mentalen Verarbeitung ziehen lassen, denn „die Sequenz der Fixationen lässt sich als Abfolge der zentralen Verarbeitungsschritte rekonstruieren“ (Schroiff 1986, S. 58, 1987; Geise 2011b, S. 196).

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

579

Seit den ersten kommunikationswissenschaftlichen Anwendungen in den 1980erund 1990er-Jahren (z. B. Garcia und Stark 1991) hat Eyetracking erhebliche Weiterentwicklungen durchlaufen. Neben Studien zur Wahrnehmung von Filmen, Fotografien (z. B. d’Ydewalle et al. 1998) oder künstlerischen Bildmotiven (z. B. Holsanova 2011) wird Eyetracking in der empirischen Bildrezeptionsforschung vor allem im Rahmen der Analyse multimodaler Medienangebote genutzt, zum Beispiel im Kontext von Nachrichten, Werbemitteln oder Online-Angeboten. In einer vergleichenden Studie zum Einfluss des Medienformats (Print vs. Online) auf die Nachrichtenrezeption haben Bucher und Schumacher (2006) Eyetracking beispielsweise genutzt, um die Bedeutung selektiver Aufmerksamkeit für das Mediennutzungsverhalten apparativ und analytisch zu erfassen (Bucher und Schumacher 2006, S. 359). Holsanova et al. (2006) konnten durch Vergleich behavioraler Eyetracking-Daten mit Befunden einer semiotischen Analyse einige Parallelen der semiotisch zu erwartenden Rezeptionspfade und der Eyetracking-Ergebnisse ziehen. Geise und Brettschneider (2010) setzten Eyetracking ein, um im Vergleich zwischen politischen Bild- und Textplakaten zu zeigen, dass Bildelemente auf Wahlplakaten früher und weniger selektiv wahrgenommen werden als Textelemente, eine höhere visuelle Aufmerksamkeit erzeugen und intensiver rezipiert werden (siehe auch Geise 2011a). Neben dem notwendigen Verständnis der involvierten technischen und physiologischen Prozesse ist bei der Analyse zu beachten, dass die meisten Blickbewegungsindikatoren isoliert betrachtet inhaltlich unspezifisch und damit interpretationsoffen sind (Richter 2008, S. 19; Geise 2011b, S. 200). Das gilt umso mehr, da die Zusammenfassung verschiedener Einzelwerte zu den jeweiligen Indikatoren in eine enorme Komprimierung und Reduktion der erhobenen Blickverlaufsdaten mündet. Für die meisten Fragestellungen macht dies eine weitere Kontextualisierung der gewonnenen Informationen erforderlich, was fundiertes Wissen über die involvierten physiologischen sowie mentalen Prozesse, ihre Bedeutung und ihr Zusammenspiel voraussetzt (Olk und Kappas 2011, S. 434; siehe für eine Übersicht zentraler Grundlagen: Geise 2011b). Da die Eyetracking-Daten zudem keine Informationen darüber bieten, wie die Informationen vom RezipientInnen aufgenommen, verstanden, assoziiert und interpretiert werden, lässt sich zudem oft nur im Kontext beurteilen, „ob, wie und warum ein Element im Stimulus kognitiv verarbeitet wurde“ (Schumacher 2009, S. 111). Für die meisten Fragestellungen der empirischen Rezeptions- und Wirkungsforschung wird sich die Kombination von Eyetracking mit anderen Methoden (z. B. Befragung, Thinking Aloud, RTR) daher eher anbieten als ein isolierter Einsatz (siehe für eine Diskussion verschiedener Methodenkombinationen ausführlich: Geise 2011b, S. 216–240).

2.3

Apparative Beobachtung des Selektionsverhaltens: Web-Tracking

Online- bzw. Web-Tracking-Verfahren – im weiteren Sinne auch als Web Analytics bezeichnet – liefern differenzierte, sequenzielle bzw. kontinuierliche Daten über das Verhalten bei der Selektion, Nutzung und Rezeption von multimodalen Online-

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S. Geise

Medienangeboten (Hassler 2009, S. 26). Dazu werden i. d. R. so genannte Tags, Cookies oder Pixel-Grafiken (sog. Web-Bugs) als Code-Elemente auf Webseiten eingebettet, die dann während der Web-Nutzung Daten direkt (und dabei meist unbemerkt) von dem Computer des Nutzers bzw. der Nutzerin zu Trackern leiten und die für die spätere statistische Analyse aufgezeichnet werden. Alternativ können Nutzungsvorgange auch durch die Aufzeichnung von IP-Adressen oder Logfiles (so genannte Logfile-Analyse) erfasst werden, die quasi als Abfallprodukt des netzbasierten Datenaustauschs erzeugt werden (Bachem 1997, S. 190–191); neuere Verfahren sind diesen Zugängen aber überlegen, weil sie im Web 2.0 noch weitaus differenziertere Daten über das Nutzungsverhalten erfassen können. Über Online- bzw. Web-Tracking-Verfahren lässt sich rekonstruieren, welche Webseiten einschließlich der jeweiligen Unterseiten wie oft, wann bzw. wie lange – auch webseiten- bzw. webserverübergreifend – von wem (bzw. von welchem Computer) besucht wurden, welche (Bild-)Bereiche hierbei rezipiert wurden oder nach welchen Suchbegriffen oder Bildern der Nutzer bzw. die Nutzerin gesucht hat. Neben Metriken zur Inhaltsnutzung (z. B. meist genutzte Inhalte, häufigste Ein- und Ausstiegsseiten, Verweildauer, Abbruchrate) lassen sich z. B. die Anzahl der Seitenzugriffe, der Besuche und der BesucherInnen (sog. Standardmetriken), Metriken zum BesucherInnen- bzw. RezipientInnenverhalten (z. B. Besuchsdauer, Besuchstiefe, Navigationspfade, Suchnutzung, Kaufverhalten) sowie zu den RezipientInneneigenschaften (Anzahl wiederkehrender und neuer BesucherInnen, Besuchsfrequenz, Herkunft, technische Eigenschaften des verwendeten Systems) erfassen (siehe hierzu ausführlich Hassler 2009). Online-Tracking liefert also umfangreiche quantitative Daten zum Selektions-, Nutzungs- und Rezeptionsverhalten, die auch weitere Rückschlüsse auf individuelle Prädispositionen (z. B. Interessen, Themenpräferenzen oder politische Verortung) sowie soziodemografische Merkmale der RezipientInnen ermöglichen (z. B. Bildungsstand, Einkommen, Altersgruppe). Im Marktforschungskontext werden Tracking-Verfahren bereits intensiv zur Informationsgewinnung für das Marketing-Controlling, als Grundlage von Mediawertanalysen oder die Optimierung von Online-Angeboten und Online-Kampagnen genutzt (Bachem 1997, S. 189; Zumstein et al. 2012, S. 4–6). Gegenwärtig ist Google Analytics hierbei einer der bekanntesten und gebräuchlichsten WebTracking-Dienste. Das clientbasierte Tracking ermöglicht Webseiten-BetreiberInnen kostenlos eine relativ detaillierte, grafisch aufbereitete Auswertung der Nutzung ihres Online-Angebots. Ohne explizite Einwilligung – meist auch ohne Wissen – der RezipientInnen sammelt Google Analytics über das rezipienteneigene Clientsystem (d. h. seinen/ihren Computer) verschiedene Daten zum Rezeptionsverhalten. Im Gegensatz zu webserverbasierten Tracking-Verfahren, die Daten aus den Logfilesbzw. HTML-Protokollen der Webserver-Betreiber generieren, sind clientbasierte Verfahren einfacher realisierbar, weil sie nicht auf der Bereitstellung der Daten durch den Serveranbieter angewiesen sind (Steidle und Pordesch 2008, S. 324; Hassler 2009, S. 52–54). Zudem lassen sich über clientbasiertes Tracking auch alle Daten erfassen, die über Java-Skript zugänglich sind, damit auch Informationen über die Computersysteme der RezipientInnen (z. B. Bildschirmauflösung, Betriebssystem, Browser, Plug-Ins, theoretisch aber auch Tastatureingaben) – was wiederum Rück-

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

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schlüsse auf die NutzerInnen erlaubt (z. B. auf das Einkommen oder die Affinität zu technischen Innovationen). In der kommunikationswissenschaftlichen Forschung nutzen insgesamt noch wenige Studien Web-Tracking als technisches Beobachtungsverfahren des OnlineRezeptionsverhaltens; Aufklärungspotenziale und Einsatzmöglichkeiten für die empirische Bildrezeptionsforschung, aber auch forschungsethische Probleme und daraus resultierende Grenzen werden dabei offensichtlich (vgl. dazu z. B. auch Keyling und Jünger 2016). In einer frühen Studie setzte Seibold (2002) beispielsweise eine Kombination von Inhalts- und Logfile-Analyse ein, um das Selektionsverhalten bei der Online-Nachrichtenrezeption zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigten, dass NutzerInnen multimediale „Aufmacher-Teaser“, die durch Kombination von Bild und Text besonders hervorgehoben waren, mehr als dreimal so häufig anklickten als einzeilige unimodale Text-Teaser (Seibold 2002, S. 114). Chen et al. (2009) haben mit Web Tracking untersucht, wie sich RezipientInnen in einer Bilddatenbank mit fast 40.000 Fotografien aus dem „Picture of the Year“-Archiv orientieren, mit wie vielen und welchen Begriffen und Strategien sie Fotografien browsen, suchen und auffinden. In einer weiterführenden Studie haben Wang et al. (2010) Nutzertypen – wiederkehrende NutzerInnen und neue NutzerInnen – in ihren Rezeptionsverhalten verglichen. Mit Web-Tracking ließe sich in derartigen Kontexten zudem identifizieren, welche Fotografien am häufigsten gesucht werden bzw. am populärsten sind, mit welchen Suchkategorien bestimmte Fotografien aus Sicht der RezipientInnen assoziativ verbunden sind oder wie sich Suchstrategien, Bildpräferenzen oder ihre assoziative Kategorisierung im Zeitverlauf oder in bestimmten Ereigniskontexten verändern. Dies kann beispielsweise wertvolle Hinweise für das assoziative Bildverständnis liefern. Auch im Kontext von Forschungen zu Visual Framing, zu Schlüsselbildern oder der Entstehung von „Bildikonen“ könnten derartige Analysen wertvolle Einblicke bieten.

2.4

Apparative Beobachtung affektiver Prozesse während der Rezeption: Physiologische Messmethoden

Physiologische Messungen basieren auf der Idee, dass die während der Medien- bzw. Bildrezeption auftretenden psychophysischen Prozesse – z. B. Herzklopfen, feuchte Hände, schneller Atem – Rückschlüsse auf die individuellen Emotionen im Rezeptionsprozess (und mögliche Interaktionen mit Kognitionen) erlauben. Theoretischer Hintergrund sind Ansätze, die Emotionen als Mehrkomponentensystem erklären (z. B. Kleinginna und Kleinginna 1981; Scherer 2005). Scherer (2005) z. B. geht davon aus, dass Emotionen aus sechs Komponenten bestehen, nämlich (a) der kognitiven Bewertung der Situation, (b) einer subjektiven Komponente, (c) den psychophysiologischen Reaktionen (z. B. Herzklopfen, gestiegener Puls, die für die Messung zentraler Proxy sind), (d) dem motorischen Ausdrucksverhalten (z. B. Mimik), (e) spezifischen Handlungstendenzen (z. B. Selektion, Vermeidung) sowie (e) der Emotionsregulation. Dies mündet in die methodisch-theoretischen

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S. Geise

Prämissen, dass 1) Emotionen mit psychophysischen Veränderungen im Organismus einhergehen, sich diese 2) über die entsprechenden Methoden messen bzw. in entsprechende Indikatoren übersetzen lassen, was 3) Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden individuellen Emotionen der RezipientInnen erlaubt, weil 4) verschiedene Emotionen mit unterschiedlichen physiologischen Erregungsmustern einhergehen (Lang et al. 2009, S. 186; siehe dazu ausführlich auch Cacioppo et al. 2007, S. 1–15). Die Relevanz der Berücksichtigung physiologischer Prozesse (bzw. der Indikatoren, die auf die ihnen zugrunde liegenden affektiven und ggf. kognitiven Prozesse schließen lassen) gründet auf der Erkenntnis, dass Emotionen (sowohl als unabhängige Merkmale des Stimulus sowie als moderierende Faktoren) einerseits die affektive Verarbeitung von (emotionalisierenden) Medienangeboten und das daraus resultierende Erleben der Rezeption prägen (z. B. Früh 2010, siehe auch den Beitrag von Döveling in diesem Band) sowie andererseits auch einen Einfluss auf die Selektion, die Aufmerksamkeit, die unmittelbare kognitive Verarbeitung, die Bewertung, den Wissenserwerb und die Memorisation der rezipierten Inhalte haben können (z. B. Newhagen 1998). Psychophysiologische Messungen setzen am unmittelbaren Rezeptionsprozess an, d. h. sie werden rezeptionsbegleitend durchgeführt. Sie gehören zu den objektiven Methoden und sind nicht-reaktiv; da die Messung durch das Verhalten der Beforschten i. d. R. nicht beeinflusst wird, sind die Verfahren weniger anfällig für eine bewusste Manipulation durch die Beforschten oder mögliche methodische Verzerrungen (z. B. soziale Erwünschtheit oder Interviewer-Effekte). Damit geht einher, dass physiologische Verfahren besonderes Aufklärungspotenzial für affektive und kognitive Prozesse während der Medienrezeption bieten, die den Versuchspersonen selbst nicht bewusst sind. Sie eigenen sich daher besonders für Forschungsfragen, für deren Beantwortung Informationen über das unmittelbare emotionalisierende Potenzial von Stimuli, dessen Verarbeitung und Wirkung oder das Rezeptionserleben der TeilnehmerInnen zu erfassen sind. Denn eine postrezeptive Erfassung (z. B. durch Befragung) kann keine Auskunft über die während der Rezeption ablaufenden Prozesse geben, sondern lediglich die (bewusste) rekonstruktive Erinnerung der RezipientInnen an das Erlebte extraplorieren, die entsprechend auch keine genaue Zuordnung von Stimuli und Reaktion ermöglicht. Die in der Rezeptionsforschung eingesetzen Verfahren (siehe hierzu auch den Überblicksartikel von Fahr und Hofer 2013) zielen meist auf die Erfassung peripherphysiologischer Funktionen, d. h. auf Biosignale, die außerhalb des Gehirns, v. a. in den sog. „Effektorganen“, ablaufen. Beispiele sind hierfür die Messung der elektrodermalen Aktivität („feuchte Hände“) als indirekt elektrisches Signal (z. B. Früh 2010), der kardiovaskulären Aktivität („Herzklopfen“), der muskulären Aktivität („Stirnrunzeln“) oder der Gehirnströme als direkte elektrische Signale (sog. Biopotenziale). Seltener kommen kortikal-physiologische Verfahren wie EEG, MEG (z. B. Tso et al. 2011) oder bildgebende Verfahren (MRT, fMRT) zur Messung der Hirnaktivität (z. B. Sabatinelli et al. 2004) zum Einsatz. Die zu beobachtenden physiologischen Prozesse werden meist über elektrische Indikatoren operationalisiert. Ein etablierter elektrischer Indikator der kardiovasku-

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

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lären Aktivität ist z. B. die Herzschlagfrequenz (auch: Heart Rate), die über das Elektrokardiogramm (EKG) gemessen wird; Indikator der elektrodermalen Aktivität ist z. B. die Hautleitfähigkeit, die über zwei an der Handinnenfläche angebrachte Elektroden erfasst wird; Indikator der muskulären Aktivität sind z. B. elektrische Spannungen der aktiven Muskelfasern (genauer: Depolarisationswellen von Muskelaktionspotenzialen), die über Elektromyografie (EMG) meist im Gesicht und Nacken gemessenen werden. Nichtelektrische Indikatoren (z. B. Blutdruck, gemessen über das Manschettendruckverfahren) werden mit Hilfe von Messwandlern in elektrische Signale umgewandelt. Bei der Messung werden i. d. R. Spannung (mV; μV), Leitfähigkeit (μSiemens oder μMho) oder Widerstände (kOhm) abgeleitet; die jeweiligen Biosignale werden über die Potenzialdifferenzen zwischen zwei Ableitungspunkten ermittelt, weshalb zur Ableitung mindestens zwei Messfühler (z. B. Elektroden) notwendig sind. Die meisten psychophysiologischen Messungen sind zwar nicht stark invasiv, aber auch nicht berührungslos; die Instrumente zur Messung der elektrischen, biochemischen und anatomischen Prozesse (Messfühler wie z. B. Elektroden) müssen apparativ an den Beobachteten angebracht werden. Neben den anzubringenden Messinstrumenten zur Ableitung des elektrischen (Elektroden) bzw. nichtelektrischen Signals (Messwandler) besitzt ein typisches Setting zur Messung physiologischer Marker noch einen Verstärker (ggf. mit entsprechenden Signalfiltern) sowie ein analoges oder digitales Registriersystem (z. B. Tintenschreiber, Computer), das die erfassten Daten für die spätere Analyse speichert. Werden Störsignale (z. B. Potenzialschwankungen, Signalstörungen, Bewegungsartefakte) ausgeschlossen und mögliche Messprobleme (z. B. Spezifitätsproblematik; Ausgangswertproblematik) angemessen adressiert (z. B. durch differenzierte Berücksichtigung individual-, motivations- und stimulusspezifischer Reaktionen), können physiologische Verfahren als hoch reliabel gelten (Bortz und Döring 2015, S. 279). Da die Erfassung jedoch eine komplexere, v. a. aber sicht- und „spürbare“ Geräteanordnung voraussetzt, ist zu reflektieren, inwieweit die Messung einen Einfluss auf das Rezeptionserleben an sich haben kann. Methodisch zu berücksichtigen ist zudem, dass die beobachtete physiologische Reaktion stets in Relation zu dem jeweiligen Stimulus bzw. zu der Versuchsanlage interpretiert werden muss (Lang et al. 2009, S. 186–187); Stimulus und Reaktion müssen also „synchronisiert“ werden, damit die physiologischen Daten Aufklärung über die zu untersuchenden Prozesse geben können. Dabei können v. a. die folgenden Eigenschaften des visuellen bzw. multimodalen Stimulus die zu untersuchenden physiologischen Reaktionen beeinflussen und sollten daher bei der Interpretation berücksichtigt werden: 1) der Inhalt des Stimulus in Bild und Text inklusive multimodaler Wechselwirkungen; 2) strukturelle Aspekte wie die Größe des Stimulus oder auch die Bildschirmgröße; 3) Kontexteffekte im kommunikationswissenschaftlichen Sinne, wie etwa der Produktions- und Rezeptionskontext; 4) sozialinteraktive und normative Faktoren; 5) biologische Faktoren im Sinne physiologischer Unterschiede, aber auch kurzfristige Unterschiede aufgrund von Tageszeit oder vorigen Aktivitäten. Zudem muss die hohe Abhängigkeit vom konkreten Versuchsdesign, vom experimentellen Kontext sowie von den physiologischen Anforderungen der Aufgabe kritisch reflektiert werden (Ravaja 2004). Besonders reflektiert ist

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zu beachten, dass ein Großteil der erhobenen physiologischen Daten inhaltlich unspezifisch und/oder mehrdeutig sind (Lang et al. 2009, S. 186). So wird die kardiovaskuläre Reaktion der Herzschlagfrequenz als Indikator für emotionale Prozesse diskutiert, aber auch im Zusammenhang mit Aktivierung, Aufmerksamkeit, Habituation und Stress gesehen (vgl. für einen Überblick z. B. Gramann und Schandry 2009). Die Bedeutung einzelner physiologischer Parameter lässt sich daher vermutlich am besten aus einer Mehrebenenperspektive emotionalen Erlebens und Verhaltens begreifen (Cacioppo et al. 2007), in der keine der Reaktionsebenen allein ausreichend Auskunft für ein zufriedenstellendes Verständnis der zugrunde liegenden psychologischen Wirkungs- und Informationsverarbeitungsprozesse gibt. Zudem kann die Ebene des subjektiven Erlebens, Verstehens, Interpretierens und Bewertens der RezipientInnen mit physiologischen Methoden nicht erfasst werden. Aus diesem Grund bietet es sich für die meisten Forschungsfragen an, physiologische Messungen nicht isoliert zu betrachten, sondern in angemessene Mehrmethodenkombinationen einzubetten. Vor einer methodischen Implementierung ist zudem noch zu bedenken, dass bereits die isolierte Erfassung und Analyse der physiologischen Parameter „außerordentlich zeit- und ressourcenaufwändig ist und hohe technische und inhaltliche Anforderungen an das bedienende Personal stellt“ (Fahr und Hofer 2013, S. 360). Der Einsatz physiologischer Verfahren, ihre Operationalisierung, die Auswertung und Interpretation der gewonnenen Daten setzt differenziertes Wissen über die technische Verfahrensweise der Messung sowie über die involvierten physiologischen und psychologischen Prozesse voraus. Im Vorfeld sollte daher genau abgewogen werden, welchen Erkenntnismehrwert die physiologischen Verfahren im konkreten Untersuchungsdesign einbringen. Entsprechend ist die Anzahl an Studien, die physiologische Messungen zur Analyse von Medienrezeptionsprozessen vornehmen, insgesamt überschaubar. Physiologische Prozesse wurden insbesondere im Kontext der Rezeption von Nachrichten (Früh 2010; Newhagen 1998), von politischer Kommunikation (z. B. Schemer 2009) sowie von Unterhaltungsangeboten (z. B. Britton et al. 2006; Codispoti et al. 2008) untersucht. Aus dem Feld der Visuellen Kommunikations- bzw. Bildrezeptionsforschung liegen wenige Studien vor, die physiologische Messmethoden für eine differenziertere Betrachtung der Rezeptionsprozesse einsetzen. Müller, Kappas und Oelk (2012) haben mit dem Visual Communication Process Model am Beispiel der Rezeption von Pressefotografie einen theoretischen Rahmen vorgeschlagen, der physiologische Prozesse explizit integriert. In einer frühen Studie haben Lang und Kollegen (1993) physiologische Messungen kardiovaskulärer, muskulärer und elektrodermaler Aktivität kombiniert, um die Organisation emotionaler Rezeptionsprozesse bei der Bildrezeption (z. B. ausgelöste Emotionen) sowie verbundene kognitive Operationen (z. B. Interesse, Aufmerksamkeit) zu untersuchen. Ähnlich haben auch Bradley et al. (2001a, b) sowie Sánchez-Navarro et al. (2006) mit Fokus auf das Arousal sowie die Valenz affektiver und motivationaler Rezeptionsprozesse Reaktionen bei Betrachtung verschiedener ‚angenehmer‘ und ‚unangenehmer‘ Bilder aus dem International Affective Picture System über die physiologische Messung kardiovaskulärer, muskulärer und elektrodermaler Aktivität analysiert. Tso et al. (2011)

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

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untersuchten die affektive Rezeption der Medienbilder zu 9/11 mit Hilfe physiologischer Messungen der Hirnaktivität über das Electroencephalogram (EEG) sowie das Electro-Oculogram (EOG), um Auskunft über deren traumatisierendes Potenzial zu erhalten. In der Gesamtbetrachtung demonstrieren die vorliegenden Studien die Komplexität, Vieldeutigkeit und Kleinteiligkeit der ablaufenden physiologischen Prozesse und ihrer Wechselwirkungen. Sie verdeutlichen aber auch, dass die Integration physiologischer Messungen spannende und differenzierte Einblicke in den Prozess affektiver und kognitiver visueller Wahrnehmung und Informationsverarbeitung liefern, die das theoretische und methodische Verständnis des Gegenstandsbereichs fundamental erweitern und ausdifferenzieren können.

2.5

Manuelle Beobachtung mimischer Reaktionen während der Bildrezeption: Facial Action Coding

Das Facial Action Coding knüpft in vielerlei Hinsicht an Grundideen physiologischer Messmethoden an. Insbesondere teilt es die Prämisse, dass Indikatoren der beobachtbaren muskulären Aktivität Rückschlüsse auf die während bzw. unmittelbar nach der Rezeption stattfindenden „unbeobachtbaren“ emotionalen Reaktionen der RezipientInnen erlauben (Schwab und Unz 2010, S. 223–245). Grundlage für die Inferenz von der mimischen auf die physiologische Reaktion ist die Erkenntnis, dass die menschliche Gesichtsmuskulatur bis zu wenige Millisekunden nach der Rezeption eine unmittelbare und unbeeinflusste, flüchtige Darstellung der tatsächlich erlebten Emotionen liefert (sog. Mikroexpression); erst danach kann die Mimik intentional gesteuert werden, sodass erlebte Emotionen durch intendierte mimische Reaktionen überspielt werden können. Ekman und Friesen haben zuerst 1976 mit dem Facial Action Coding System (FACS) ein manuelles Beobachtungs- bzw. Codierschema vorgelegt, mit dem Gesichtsausdrücke bzw. die ihnen zugrunde liegenden mimisch-muskulären Aktivitäten (die sog. Facial Action Patterns) durch geschulte CodiererInnen im Gesicht differenziert erfasst werden können (Ekman und Rosenberg 2005). Dies macht bereits den zentralen Unterschied zu physiologischen Messmethoden deutlich, die apparativ direkt an den physiologischen Korrelaten ansetzen. Für eine intersubjektiv übereinstimmende Codierung ordnet das FACS nahezu jeder sichtbaren Bewegung der Gesichtsmimik eine „Action Unit“ zu, die – entsprechend der Bewegung – einzelne oder mehrere Muskelbewegungen zusammenfassen kann (z. B. 1 = Heben der Augenbrauen innen; 15 = Herabziehen der Mundwinkel). Da sich die verschiedenen Gesichtsausdrücke über die jeweils involvierten Muskelbewegungen konstruieren, können sie über eine entsprechende Zuordnung identifiziert und erfasst werden. Das FACS sieht hierfür 44 Action Units vor, die über die Gesichtsfläche verteilt sind (12 in der oberen, 32 in der unteren Gesichtshälfte) und die mit entsprechenden Richtungs- und Bewegungsangaben erfasst werden (z. B. horizontale, vertikale, schräge Reaktionen) (Cohn et al. 2007, S. 205). Zudem wird für jede mimische Bewegung auch deren Stärke mit Hilfe einer fünfstufigen Skala erfasst. Da

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S. Geise

die Interpretation gesichtsbewegungsspezifisch variiert, ist im Codiersystem für jede Action Unit eine explizite Zuordnungsregel angegeben (für einen anschaulichen Einblick: Cohn et al. 2007, insb. S. 206–210). Besonders in der Emotionspsychologie gilt das FACS als etabliert und wurde vielfach eingesetzt (siehe dazu den Überblick von Cohn et al. 2007). Im Kontext kommunikationswissenschaftlicher Fragen wurde das aufwendige Codiersystem eher selten verwendet (Schwab und Unz 2010, S. 223–245). Harker und Keltner (2001) haben FACS z. B. eingesetzt, um von Profilfotos in Jahrbücher auf die Emotionen der Porträtierten, ihre Bewertung durch Dritte sowie ihre spätere Lebenszufriedenheit zu schließen. Bleuel (2009) hat mittels FACS analysiert, wie die auf Pressefotos dargestellten Emotionen die Bewertung dieser Bildmotive beeinflussen; einer ähnlichen Fragestellung gingen Unz, Schwab und Winterhoff-Spurk (2008) im Kontext der Rezeption von Fernsehnachrichten nach. An Unterhaltungsfilmen untersuchten Finger et al. (2010) sowie Schwab (2010) mit Hilfe des FACS geschlechtsrollentypische mimische Ausdrucksweisen von männlichen und weiblichen ProtagonistInnen im Zeitverlauf. Besonders neuere Entwicklungen, die eine computergestützte oder sogar automatisierte Codierung erlauben (vgl. zur Automatisierten Analyse von Bildinhalten Geise et al. 2016), dürften den aufwendigen Einsatz jedoch in Zukunft erleichtern.

2.6

Erfassung kognitiver Prozesse während der Bildrezeption: Thinking Aloud

Ein Problem sensorischer, physiologischer oder behavioraler Daten ist, dass sie keine Aussagen über die mentale Verarbeitung der rezipierten Inhalte erlauben. Was die RezipientInnen denken, wenn sie ein Bild oder eine Filmsequenz sehen, wie sie das Pressefoto in seinem textlichen Kontext verstehen, interpretieren und einordnen, wie sie die Originalität einer Werbeanzeige bewerten oder für wie glaubwürdig sie deren inhaltliche Aussage halten – all das bleibt beim Einsatz von Eyetracking, RTR, Web-Tracking oder physiologischen Messmethoden ohne weitere Erhebungsdaten unklar. Hier können rezeptionsbegleitende Verfahren zur Gewinnung sprachlicher Daten wie die Methode des Thinking Aloud bzw. des Lauten Denkens eine Lücke schließen. Thinking Aloud zielt auf die rezeptionsbegleitende Verbalisierung von Überlegungen, Wahrnehmungen und Empfindungen der RezipientInnen (Ericsson und Simon 1993, S. 1–3; van Someren et al. 1994). Die grundlegende Idee ist, dass die ProbandInnen über ein entsprechendes Briefing in die Lage versetzt werden, Informationen über die ihnen bewussten mentalen Operationen während der Rezeption zu geben. Dabei sollen sie diese nicht selbst interpretieren, sondern versuchen, eine verbale „Übersetzung“ ihrer mentalen Prozesse zu liefern. Beim Lauten Denken sollen die RezipientInnen entsprechend all ihre Gedanken möglichst unmittelbar verbalisieren – egal wie individuell, irrelevant, unsystematisch oder unplausibel sie ihnen erscheinen, denn oft beinhaltet der „gedankliche Entscheidungsweg“ höheres Aufschlusspotenzial als die eigentliche Entscheidung (Beyer und Gerlach 2011, S. 78). Da die Erfassung

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

587

während der Rezeptionssituation erfolgt, liefert die Methode validere Daten als eine retrospektive Befragung nach der Rezeption; Gedächtnisfehler und Verfälschungen durch Interpretationen oder Erklärungsversuche der ProbandInnen werden reduziert. Von Vorteil ist zudem, dass sich die Methode technisch einfach umsetzen und mit anderen Methoden der empirischen Rezeptionsforschung – zum Beispiel mit Eyetracking, RTR oder Web-Tracking-Verfahren – kombinieren lässt (Geise 2011b, S. 237). So hat Schumacher (2009, S. 105) Lautes Denken mit Eyetracking kombiniert, um Informationen über die komplexen Interpretations- und Entscheidungsabläufe, die der Rezeption von Online-Nachrichtenseiten zugrunde liegen, zu gewinnen und das Verständnis des individuellen Rezeptionsprozesses zu erweitern. So wurde die Methode auch erfolgreich zur Untersuchung des Mediennutzungsverhalten von Kindern- und Jugendlichen eingesetzt (Bilandzic und Trapp 2000). Das Verfahren ist stark an RezipientInnen und an deren Rezeptionsprozessen orientiert. Der resultierende, weitgehende Verzicht auf eine (z. B. durch einen Interviewenden) stark vorstrukturierte Abfrage bzw. die daraus entstehende „Spontanität“ motiviert zur Verbalisierung auch weniger reflektierter, komplexer gedanklicher Verknüpfungen, was besonders für Fragen der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung gewinnbringend erscheint, da sich das Verständnis visueller Eindrücke aufgrund ihrer Logik (Müller 2007, S. 20) oft nur assoziativ erschließen lässt. Gut geeignet ist Thinking Aloud zur Rekonstruktion mentaler Prozesse bei Rezeptionsaufgaben, die auf einer systematisch-hierarchischen Abfolge von Denkoperationen basieren (vgl. dazu ausführlicher Knoblich und Öllinger 2006, 2008). Die Erfassung bleibt allerdings auf potenziell bewusste und somit reflexionsfähige Kognitionen beschränkt. Einschränkungen betreffen auch die Reaktivität des Verfahrens, denn das Laute Denken kann von der eigentlichen Rezeptionssituation ablenken und dabei auch Prozesse der visuellen Wahrnehmung verändern. Daneben können, ähnlich wie bei anderen Befragungstechniken, Verzerrungseffekte aufgrund sozialer Erwünschtheit auftreten oder „Non-Opinions“ erhoben werden (Geise 2011b, S. 238).

3

Methoden der Bildwirkungsforschung

Als Teilbereich der Visuellen Kommunikationsforschung versucht die Bildwirkungsforschung zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren, was geschieht, wenn bestimmte visuelle Medienangebote von bestimmten KommunikatorInnen bestimmte RezipientInnen(gruppen) erreichen (Müller und Geise 2015, S. 85). Eine oft getroffene Unterscheidung zur (Bild-)Rezeptionsforschung besteht darin, dass sich diese auf die Mediennutzung bzw. den Rezeptionsprozess selbst konzentriert, während die Wirkungsforschung daraus resultierende, zeitlich nachgelagerte Sachverhalte analysiert, die sie als kausale Einflüsse der Medienrezeption – eben als Wirkungen – vermutet (Schweiger 2007, S. 24). Diese Trennung ist in vielerlei Hinsicht künstlich, denn auch Phänomene und Prozesse der Selektion, Nutzung und Rezeption sowie die mit ihnen verbundenen unmittelbaren affektiven und kognitiven Prozesse können als Wirkungen im weiteren Sinne interpretiert werden (Müller und Geise 2015, S. 86–87). Je nach Verständnis können damit auch die

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S. Geise

unter Abschn. 2 beschriebenen Methoden für Fragen der Bildwirkungsforschung operationalisiert werden. Empirische Wirkungsanalysen teilen meist die Prämissen, dass die direkte und indirekte Rezeption von Bildern bzw. Bildinhalten bei RezipientInnen bzw. Gruppen von RezipientInnen mit 1) physiologischen bzw. affektiven, 2) kognitiven und/oder 3) verhaltens- bzw. einstellungsbezogenen 4) kurz-, mittel- oder längerfristigen (ggf. auch kumulativen) Wirkungen verbunden ist, die sich 5) empirisch erfassen und analysieren lassen (Schenk 2007), wobei einzelne Wirkungsdimensionen auch gleichzeitig auftreten können. Wirkungsrelevante Fragestellungen können dabei 1) nach Zielgruppen, 2) nach Medien bzw. Kommunikatoren, 3) nach Intention der Kommunikation, 4) nach gesellschaftlichen Ebenen 5) nach ihrer zeitlichen Dimension, 6) nach der Quantität und Qualität sowie 7) der Bewertung der Effekte differenziert werden (Bonfadelli 2004, S. 15; Bonfadelli und Friemel 2011; Jäckel 2011). Da diese möglichen Bildwirkungen einen Kontakt mit dem visuellen Medium voraussetzen, sind Dimensionen der unmittelbaren Bildrezeption als integraler Bestandteil der Wirkungsperspektive zu berücksichtigen: Bildwirkungen lassen sich selten von Bildrezeptionsprozessen isoliert betrachten (siehe auch Müller und Geise 2015, S. 86–87). Ergänzt werden soll die bisherige methodische Perspektive in diesem Kapitel nichtsdestotrotz noch mit einem Überblick über Methoden, die auf eine post-rezeptive Messung möglicher Bildwirkungen zielen. Näher beschrieben werden hierbei zwei Standardmethoden der empirischen Wirkungsforschung, nämlich 1) Befragungen sowie 2) Experimentaldesigns. Die bisher selten in der Visuellen Kommunikationsforschung eingesetzte Methode der (teilnehmenden bzw. nicht-teilnehmenden) Beobachtung wird hier hingegen nicht weiter vertieft (siehe dazu etwa Gehrau 2002; Vogelgesang et al. 2019).

3.1

Postrezeptive Wirkungsanalyse über Verbalisierungen: Befragungen

Will man die Wirkung visueller Stimuli beschreiben und verstehen, bedarf es oft einer systematischen Auseinandersetzung mit den bewussten Wahrnehmungen und Reaktionen der RezipientInnen. Oftmals lässt erst die intentionale Auseinandersetzung mit der Zuwendung und Aneignung visueller Stimuli durch die RezipientInnen darauf schließen, wie diese die analysierten Bilder erlebt, interpretiert, verarbeitet, eingeordnet und gegebenenfalls abgespeichert haben. Die schriftliche bzw. computergestützte Befragung gilt hierbei als Standardinstrument bei der Ermittlung von Fakten, Wissen, Meinungen, Einstellungen und Bewertungen (Schnell et al. 2008, S. 321), denn sie verspricht einen Zugang zu nicht direkt beobachtbaren psychischen Prozessen und Strukturen der Bildwirkung: In Befragungen geben die Befragten Auskunft über ihre subjektiven Einstellungen, Gefühle, Denkprozesse oder Motive. Über etablierte Konstrukte wie Recall, Cued Recall, Recognition lassen sich auch erinnerte Informationen recht präzise bzw. standardisiert erfassen. Standardisierte und teilstandardisierte Befragungen bieten somit auch ein großes Potenzial, um Daten zur unmittelbaren Rezeption und Wahrnehmung visueller Stimuli (siehe

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

589

oben) zu ergänzen: Die Erhebung kognitiver Konstrukte wie Erinnerungen oder Bewertungen kann dazu beitragen, die Rezeptionsdimensionen des visuellen Stimulus zu differenzieren und zu interpretieren. Daher werden insbesondere standardisierte schriftliche Befragungen häufig in ein Mehrmethodendesign eingebettet (Brosius et al. 2008, S. 93). Schriftliche Befragungen haben hier den Vorteil, dass sie – bei entsprechender Fragebogenkonstruktion – den ProbandInnen erlauben, ihre Antworten reflektiert, differenziert und präzise abzugeben. Zudem werden hier tendenziell „ehrlichere“ Antworten erwartet, weil sich weniger Effekte sozialer Erwünschtheit zeigen dürften (Bortz und Döring 2015, S. 237). Auch die Reduktion von Zeitdruck und Interviewer-Effekten, ein höheres Anonymitätsniveau sowie forschungsökonomische Gründe sprechen für eine schriftliche Befragung. Eine Studie, in der eine schriftliche, computergestützte, postrezeptive Befragung realisiert wurde, um die rezeptive Wirkung einer Plakatkampagne auszudifferenzieren, wurde von Holtz-Bacha und Lessinger (2010) zur Bundestagswahl 2009 durchgeführt. Aufbauend auf Erkenntnissen der parasozialen Interaktion führten sie eine OnlineBefragung durch, in der die RezipientInnen zu ihrer emotional-assoziativen Bewertung von Kandidatenplakaten und der parasozialen Anmutung der Plakatmotive befragt wurden (Holtz-Bacha und Lessinger 2010, S. 159). Interessiert den Forscher bzw. die Forscherin – wie im Beispiel – primär das Ergebnis der Medienrezeption bzw. das Ergebnis visueller Wahrnehmung, stellt die Nachher-Befragung ein geeignetes Verfahren dar. Zu beachten ist allerdings, dass Befragungen als post-rezeptives Erhebungsverfahren nur bedingt geeignet sind, um die flüchtigen, sehr dynamischen Phänomene zu erfassen (z. B. Spannung, Emotionen, Erleben, spontane Urteile etc.), die während der Rezeption visueller Stimuli auftreten. Weiterführende Aussagen zum Prozess visueller Wahrnehmung sind durch Befragungen damit kaum möglich.

3.2

Analyse von Kausalitäten bildlicher Kommunikation: Experimentaldesigns

Neben Beobachtung und Befragung zählt das Experiment zu den grundlegenden methodischen Zugängen der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Dabei ist ein Experiment keine empirische Methode im eigentlichen Sinn, sondern beschreibt präziser eine bestimmte Anordnung der Untersuchung, in der empirische Methoden miteinander kombiniert werden (z. B. Eyetracking, physiologische Messungen und Befragung), um Kausalzusammenhänge zu überprüfen. Dabei wird ein Vergleich zwischen zwei oder mehr Gruppen angestellt, die sich idealtypisch nur darin unterscheiden, dass sie mit unterschiedlichen Experimentalbedingungen konfrontiert werden. Während die Experimentalgruppen die experimentelle Stimulusmodifikation erhalten, deren kausaler Einfluss auf die Versuchsgruppe untersucht werden soll, bekommt die Kontrollgruppe einen neutralen Stimulus; alle anderen Bedingungen werden konstant gehalten. Für die Analyse der Wahrnehmung, Rezeption und Wirkung visueller Stimuli bieten Experimentaldesigns ein großes Aufklärungspotenzial: Erzielen Wahlplakate, die Bilder und Texte kombinieren, eine höhere Aufmerksamkeit als reine Textplakate?

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S. Geise

Generieren Werbeanzeigen, die Bilder einsetzen eine höhere Erinnerungswirksamkeit der kommunizierten Botschaften? Rahmen emotionalisierende Pressefotografien das Verständnis und die Interpretation der textlichen Beiträge? Ein Beispiel für eine aktuelle experimentelle Studie, in der die zuletzt genannte Frage untersucht wurde, stammt von Powell et al. (2015): Hier zeigten die Autoren ihren in Gruppen eingeteilten ProbandInnen Presseberichte (Bild-Text-Kombinationen) aus der Kriegs- und Krisenkommunikation, wobei die 1) Kongruenz von Bild und Text (kongruente vs. inkongruente Passung) sowie 2) die Modalität (nur Bild; nur Text; Bild und Text) über die Gruppen experimentell variiert wurde. Durch die so angelegte Variation ließ sich einerseits aufdecken, welche Wirkungen von Bildern alleine ausgingen. Andererseits konnte durch das Experimentaldesign auch gezeigt werden, welche gemeinsame Wirkung von (kongruent versus inkongruent kombinierten) Nachrichtenbildern und Nachrichtentexten ausging. Wie dieses Beispiel illustriert, liegt die Stärke in Experimentaldesigns in ihrem Aufklärungspotenzial über kausale Zusammenhänge bzw. Ursache-Wirkungs-Beziehung, die in ausdifferenzierten Hypothesen vorliegen. Der Einsatz setzt damit allerdings Wissen über die „Wirkungen auslösenden“ Merkmale (sog. unabhängige Variablen oder Prädiktoren) der (visuellen oder multimodalen) Stimuli sowie über die durch die Wirkung kausal veränderten Merkmale „in“ den RezipientInnen (sog. abhängige Variablen) voraus. Da visuelle Kommunikate mehrdeutig und kontextabhängig sind, muss bei Experimenten, in denen visuelle Stimuli zum Einsatz kommen, besonderes Augenmerk auf der reflektierten Selektion der bildlichen Materialien sowie einem sensitiven Treatment-Check liegen, mit dem überprüft wird, ob die Auswahl der Stimuli zu einer erfolgreichen Manipulation geführt hat. In jüngerer Zeit wird auch zunehmend hinterfragt, inwiefern die Bildselektion an forschungsethischen Kriterien ausgerichtet werden muss – hier kann nur ein sensibles und reflektiertes Vorgehen und explizites Debriefing verhindern, dass die experimentellen Treatments – z. B. in einer Studie zu Migrationsstereotypen – durch wiederholte Konfrontation der TeilnehmerInnen mit den dargebotenen Stereotypen eben jene in der Vorstellungswelt der TeilnehmerInnen manifestieren.

4

Ausblick

Aus Perspektive einer originären kommunikationswissenschaftlichen Perspektive der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung zielte der Beitrag darauf, einen Überblick über zentrale Methoden ihrer empirischen Analyse zu bieten. „Originär“ referierte dabei auf die Forderung, dass die Auseinandersetzung zwar dem kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsinteresse der Medienrezeptionsund Medienwirkungsforschung entspricht, aber zugleich der theoretischen und methodischen Perspektive der Visuellen Kommunikationsforschung gerecht werden muss. Aus diesem Grund wurden die beschriebenen Methoden hier einerseits insbesondere auf ihr Aufklärungspotenzial für Fragen der Rezeption, Verarbeitung und Wirkung bildlicher bzw. visueller Kommunikate befragt; andererseits wurde für ein „spezifisch visuell-wissenschaftliches Vorgehen“ im gesamten Forschungs- und Analyseprozess (Knieper und Müller 2001, S. 13) sensibilisiert.

Methoden der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung

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Dass es auch heute noch notwendig ist, ein dem Visuellen angemessenes Vorgehen als „methodische Herausforderung“ herauszustellen, erklärt sich einerseits aus der Komplexität der empirischen Analyse (oftmals mehrdeutiger) visueller Kommunikate – aus diesem Grund wurden Bilder z. B. oft als „methodische Problemfälle“ betrachtet (Lobinger 2014, S. 307). Andererseits wird die Situation auch mit einem Blick auf die Tradition des Fachs erklärlich. Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Kepplinger 1980, 1987, 2002; Kepplinger et al. 1987; Brosius 1983) hat sich die Kommunikations- und Medienwissenschaft, insbesondere die deutsche, dem empirischen Analysegegenstand „Bild“ erst relativ spät geöffnet: Bis weit in die 1990er-Jahre standen textliche Medienbotschaften im Aufmerksamkeitsfokus der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptions- und Wirkungsforschung. Zwar hat diese inzwischen begonnen, die theoretische und methodische Herausforderung anzunehmen, visuelle Kommunikation stärker in den Fokus zu rücken. Dennoch ist eine Verankerung visueller Kommunikationsphänomene innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptions- und Wirkungsforschung bisher eher selektiv und kursorisch erfolgt (Schierl 2005; Forster und Knieper 2010; Schweiger 2007). Exemplarisch wird dies daran deutlich, dass die Standardlehrbücher der Mediennutzungs-, Medienrezeptionsund Medienwirkungsforschung Bilder und bildliche Kommunikation bislang an keiner Stelle explizit adressieren (siehe dazu z. B.: Meyen 2004; Schenk 2007; Schweiger 2007; Bryant und Zillmann 2009; Bonfadelli und Friemel 2011; Jäckel 2011). Auch die Visuelle Kommunikationsforschung hat – bei all ihrer vielschichtigen Auseinandersetzung mit dem Visuellen – bisher noch keine zusammenfassende Betrachtung der spezifischen theoretischen und empirischen Befunde der Bildrezeptions- und Bildwirkungsforschung vorgelegt. Bis Fragen der Rezeption und Wirkung visueller Kommunikate – sowie die dafür zu berücksichtigenden methodischen Spezifika – zum selbstverständlichen „Curriculum“ der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptions- und Wirkungsforschung sowie der Methodenlehre gezählt werden können, müssen beide Seiten also noch stärker als bisher die wechselseitige Verflechtung anerkennen. Ein reflektierter Einsatz empirischer Methoden der Bildrezeptionsund Wirkungsforschung, die kritische Auseinandersetzung mit dem Aufklärungspotenzial methodischer Zugänge und dem Gültigkeitsanspruch der empirischen Befunde – sowie nicht zuletzt eine differenzierte theoretische Einbettung in den größeren Kontext der Rezeptions- und Wirkungsforschung bzw. der Visuellen Kommunikationsforschung können hierbei wichtige Bausteine sein.

Literatur Bachl, M. (2014). Analyse rezeptionsbegleitend gemessener Kandidatenbewertungen in TV-Duellen. Erweiterung etablierter Verfahren und Vorschlag einer Mehrebenenmodellierung. Berlin: epubli. Bachem, C. (1997). Webtracking – Werbeerfolgskontrolle im Netz. In C. Wamser & D. H. Fink (Hrsg.), Marketing-Management mit Multimedia: Neue Medien, neue Märkte, neue Chancen (S. 189–198). Wiesbaden: Gabler.

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S. Geise

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Visuelle Methoden Forschen mit Bildern – Erforschen von Bildern Katharina Lobinger und Jeanne Mengis

Inhalt 1 Was sind visuelle Verfahren? Welche Typen visueller Verfahren und visueller Daten kann man unterscheiden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Weshalb und wann ist es hilfreich, visuelle Methoden einzubinden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Anwendungsbeispiele visueller Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit visuellen Methoden und illustriert deren Anwendung in der Visuellen Kommunikationsforschung sowie in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung generell. Bilder und visuelle Elemente können auf vielfältige Weisen zu Forschungszwecken eingesetzt werden, etwa wenn Fotografien als Gesprächsstimuli in Interviews oder Zeichnungen und Visualisierungen zur Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge genutzt werden. Der Beitrag möchte entsprechend für die Potenziale visueller Methoden sensibilisieren und gibt forschungspraktische Anleitungen anhand mehrerer Beispielstudien.

K. Lobinger (*) Faculty of Communication Sciences, Institute of Digital Technologies for Communication (ITDxC), USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz E-Mail: [email protected] J. Mengis Faculty of Communication Sciences, Institute of Marketing and Communication Management, USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_22

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K. Lobinger und J. Mengis

Schlüsselwörter

Visual methods · Visual Elicitation · Visuelle Ethnografie · Sortiertechniken · Netzwerkzeichnungen

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Leistungen und Anwendungsfeldern visueller Methoden und Verfahren. Wir zeigen zunächst auf, was unter visuellen Methoden zu verstehen ist und wie diese in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung sowie in der Visuellen Kommunikationsforschung angewandt werden können. Ein Ziel des Beitrags ist es, aufzuzeigen, dass sich visuelle Methoden auch gewinnbringend in empirische Forschungen einbringen lassen, deren Fragestellungen sich nicht genuin mit Bildern und visueller Kommunikation befassen. In anderen Worten, die Visuelle Kommunikationsforschung kann nicht nur einen Beitrag zur Analyse von Bildern leisten, sondern auch Anleitungen dafür liefern, wie Bilder und visuelle Elemente zu Forschungszwecken eingesetzt werden können, etwa wenn Fotografien als Gesprächsstimuli in Interviews (siehe Fotointerviews in Abschn. 3.1) oder Zeichnungen zur Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge (siehe Netzwerkzeichnungen in Abschn. 3.2 bzw. den Beitrag zur Visuellen Netzwerkforschung von Gamper und Schönhuth in diesem Band) dienen. Visuelle Methoden beschreiben in diesem Sinne ein Methodenrepertoire, das Bilder und visuelle Artefakte systematisch in den Forschungsprozess integriert (Geise und Lobinger 2016). Um die Potenziale visueller Methoden voll ausschöpfen zu können, ist eine genaue Kenntnis der Eigenschaften, Leistungen und Limitationen visueller Kommunikation bzw. des visuellen Modus unerlässlich. Dieser Beitrag möchte dafür sensibilisieren und unter Bezug auf Beispielstudien forschungspraktische Anleitungen geben.

1

Was sind visuelle Verfahren? Welche Typen visueller Verfahren und visueller Daten kann man unterscheiden?

Visuelle Methoden werden gerne als Überbegriff für den Umgang mit visuellem Material (z. B. Bilder, Fotos, Video, Skizzen) in der Forschung verwendet (Banks und Zeitlyn 2015; Rose 2016/2001, S. 15). Sie umfassen u. a. die Gewinnung und die Analyse von visuellen Daten, die Nutzung visueller Artefakte zur Elizitation von Wissen, sowie die Kommunikation von wissenschaftlichen Erkenntnissen mittels visueller Kommunikation. In dieser Breite umfassen visuelle Methoden eine Vielzahl von Techniken, wie beispielsweise Foto- oder Videotagebücher, visuelles Storytelling (siehe auch den Beitrag von Bozdağ und Kannengießer in diesem Band), Fotointerviews, aber auch partizipative Video-Reflexion, Sortierverfahren, Netzwerkkarten und -zeichnungen (siehe den Beitrag von Gamper und Schönhuth in diesem Band) sowie viele weitere Techniken (für einen Überblick siehe etwa Awan und Gauntlett 2011). Visuelle Methoden beinhalten zudem auch sogenannte „enabling“ oder „creative methods“

Visuelle Methoden

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(Arthur et al. 2014; Lobinger 2016, 2017). Das sind kreative visuelle Verfahren, in welchen Bilder als Instrumente zum Einsatz kommen (Geise und Lobinger 2016; Lobinger 2017), um eine vertiefte oder andere Art der Reflexion und Diskussion über Forschungsthemen zu ermöglichen. Dies soll u. a. erreicht werden, indem den InformantInnen auch nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten bei der Auseinandersetzung mit den in der Studie fokussierten Themen gegeben werden (Arthur et al. 2014, S. 160). Visuelle Verfahren werden u. a. aufgrund ihres spielerischen Zugangs oftmals in der Jugendmedienforschung bzw. generell bei der Befragung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt (Awan und Gauntlett 2011, S. 366–368; Cappello 2005; Niemann und Geise 2015); sie entfalten aber ebenso in der Befragung Erwachsener ihr methodisches Potenzial, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Generell bieten visuelle Methoden einen anderen Zugang zu den Untersuchungsgegenständen als traditionelle, meist auf Schrift und Zahl basierte Forschungsverfahren. Visuelle Methoden erleichtern es, Aspekte wie Erfahrungen, implizites Wissen, emotionale Reaktionen oder die materielle Dimension einer (Inter-)Aktion in den Vordergrund zu rücken (Pole 2004, S. 7). Visuelle Methoden sind demnach als komplementäre methodische Ansätze zu verstehen, nicht als Alternativen zu auf Verbalisierung beruhenden Verfahren. Im Hinblick auf die Vielfalt visueller Methoden ist Pauwels (2012) konzeptueller Rahmen für visuelle Methoden hilfreich, in dem er zwischen verschiedenen Verwendungsweisen visueller Elemente – als Input oder Output empirischer Forschung – sowie zwischen den verschiedenen Arten der Produktion und Selektion bildlichen Materials unterscheidet. Die verschiedenen Arten und Ursprünge visuellen Materials gehen mit jeweils unterschiedlichen Graden der Kontrolle bzw. des Wissens über Produktions-, Gebrauchs- und Zirkulationskontexte von Bildern, mit unterschiedlichen ethischen und rechtlichen Herausforderungen und mit unterschiedlichen Graden der Involvierung der Teilnehmenden einher (Pauwels 2012, S. 6). Eine wichtige Unterscheidung ist zunächst jene nach dem Ursprung bzw. der Produktion des visuellen Materials im Forschungsprozess. Zunächst können bereits existierende visuelle Artefakte verwendet werden (siehe Pauwels 2012, S. 5–8). • Dies umfasst vor allem sogenannte „found images“, also bereits bestehende Bilder, die in bestimmten gesellschaftlichen oder kulturellen Prozessen geschaffen wurden. Diese Bilder werden typischerweise Archiven, Sammlungen oder Medienkontexten entnommen. Beispiele hierfür sind etwa Werbeanzeigen, Bilder, die Sozialen Medien entnommen wurden, historisches Bildmaterial oder Websites. Aufgrund der zunehmenden Visualisierung verschiedenster Lebensbereiche (siehe den Beitrag von Reißmann in diesem Band) und der Verbreitung der Fotografie, nicht zuletzt durch ihre Konvergenz mit der Mobil-und Online-Kommunikation, haben sich die gesellschaftlichen Bildrepertoires an „gefundenen Bildern“ stark vergrößert. • Eine weitere Quelle bereits existierender Bilder und visueller Elemente sind jene, die von anderen Forschenden stammen bzw. im Rahmen früherer Forschungen entstanden sind und als Sekundärmaterial wieder Eingang in die Forschung finden.

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K. Lobinger und J. Mengis

Werden Bilder zum Zwecke der Forschung hergestellt, lassen sich die Bildarten hinsichtlich der BildproduzentInnen unterscheiden (Lapenta 2012, S. 204–205), was mit unterschiedlichen Graden der Involvierung der InformantInnen verbunden ist. • Werden die Bilder durch die Forschenden für Forschungszwecke geschaffen, so spricht man von researcher produced visuals. Diese können dann etwa als Gesprächsstimuli in Interviews verwendet werden oder dazu genutzt werden, Interpretationen und Bedeutungen aus der „Innensicht“ der Befragten zu gewinnen (Wuggenig 1990, S. 111). Vorteile von Bildern, die durch die Forschenden produziert werden, sind eine detaillierte Kenntnis des Forschungskontextes sowie die Möglichkeit, visuelle Inhalte für bestimmte Forschungsfragen „maßzuschneidern“. Werden Bilder als Elizitationsinstrument in Interviews verwendet, ermöglichen sie auch eine hypothesenprüfende Forschung, da das gleiche Set von Bildern mehreren bzw. sogar vielen Befragten vorgelegt werden kann (Lapenta 2012, S. 205). In diesem Fall ist es wichtig, die von Forschenden produzierten Bilder an die Lebenswelt der Befragten gut anzupassen, damit das erzählflussgenerierende Potenzial von Bildern (siehe Abschnitt zu Visual Elicitation in Abschn. 3.1) ausgeschöpft werden kann (Lobinger 2016, S. 297). Zusätzlich können Fotografien und Filmaufnahmen auch als Unterstützung von Beobachtungen (z. B. als visuelle Notizen, Videoaufzeichnungen) eingesetzt werden (Wuggenig 1990, S. 110–111), was vor allem in der ethnografischen Forschung stark verbreitet ist (siehe Abschn. 3.4 zu Videoethnografie). • Participant bzw. respondent produced visuals werden dagegen von den InformantInnen – also partizipativ – produziert. Die Produktion kann dabei etwa im Vorfeld einer Befragung (z. B. durch die Aufgabenstellungen, einen typischen Tagesablauf fotografisch darzustellen oder für eine Beziehung wichtige Bilder auszuwählen) oder während der Befragung (z. B. durch die Aufforderung, eine Netzwerkkarte zur Darstellung der Kommunikation mit Familie und FreundInnen zu zeichnen) erfolgen (Collier 1957; Pauwels 2012). Letzteres kann auch in Form einer Co-Produktion unter der Beteiligung von Forschenden und Teilnehmenden erfolgen (Lapenta 2012, S. 205). Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Kategorien von research vs. participant produced visuals nicht trennscharf zu verstehen sind und nicht mit festen Hierarchien zwischen Forschenden und Teilnehmenden einhergehen. Von Bedeutung ist aber nicht nur, wer die Bilder herstellt, sondern auch, wer die Auswahl der Bilder trifft: • Werden Bilder von den Forschenden ausgewählt (researcher selected visuals), können diese entweder aus bestehenden Dokumenten, Datenbanken oder Archiven stammen oder während des Forschungsprozesses produziert worden sein. Die Forschenden sollten die Kriterien ihrer Auswahl reflektieren und sich z. B. darüber Gedanken machen, was die Auswahl über die eigene Position im Feld aussagt, welche ästhetischen Überlegungen eine Rolle spielten, welche analytischen Kriterien weshalb verwendet wurden und mit welchen Erwartungen diese Selektionsprozesse verbunden sind. Von den Teilnehmenden ausgewählte Bilder (participant/respondent selected visuals) können sowohl existierende Bilder (etwa aus privaten oder öffentlichen Samm-

Visuelle Methoden

601

lungen) als auch von den Teilnehmenden selbst erstellte Bilder (participant/respondent produced visuals) sein, mit u. a. ganz unterschiedlichem Wissen zu den Produktions- und Zirkulationskontexten des entsprechenden Bildmaterials.

2

Weshalb und wann ist es hilfreich, visuelle Methoden einzubinden?

Alltägliche Ausdrucksweisen wie „ich habe es mit eigenen Augen gesehen!“ oder „siehst du?“ oder auch „du musst den Tatsachen ins Auge sehen“ offenbaren, dass wir Sehen und Wissen oftmals gleichsetzen und dass das Visuelle für Erkenntnisprozesse zentral ist (Jenks 1995). Da mag es erstaunen, dass die Wissenschaft, insbesondere die Sozialwissenschaften, erst seit relativ kurzer Zeit den „visual turn“ (Thornes 2004; Bell und Davison 2013; Pink 2003; Banks und Zeitlyn 2015) feiern und noch immer sprachliche und mathematische Daten und Repräsentationen privilegieren. Seit Platons Höhlengleichnis gab es dem Bild gegenüber eine grundlegende und auch teilweise notwendige Skepsis. Die in der Höhle vorüberziehenden Schatten waren nicht die Welt. Doch für die seit jeher dort Gefangenen, die noch nie die Welt außerhalb der Höhle gesehen hatten und die vom Anblick der Sonne nur geblendet würden, blieb es die Welt (Platon, 428–348 v. Chr.). Es war ihnen unmöglich, der Illusion des Bildes auf die Schliche zu kommen, genauso wie es heute sehr schwierig ist, auszumachen, ob ein vermeintlich journalistisches Foto (siehe dazu den Beitrag von Grittmann zu journalistischer Bildkommunikation in diesem Band) ein authentischer Beleg oder eine manipulierte Fälschung ist. Baudrillard (1994) sprach nicht zuletzt deshalb vom postmodernen Bild als „Simulacrum“, eine Situation in der das (mediale) Bild nicht nur die Verbindung zur Welt vernebelt, sondern selber zur Welt wird. Trotz Höhlengleichnis blieb die Versuchung, im Bild, einen direkten Zugang zur Welt (und zur Wahrheit) zu verstehen, bestehen. Margaret Mead (1995) beispielsweise, die sich im Kontext ethnografischer Studien gegen die „Disziplin der Worte“ auflehnte und sich für eine visuelle Anthropologie stark machte, sah in Fotografie und Film die Möglichkeit, „objektive“ Daten zu sammeln – jenseits der subjektiven Beobachtung (Pink 2003). Auch die Ethnomethodologen waren zu Beginn von den Möglichkeiten des Films in erster Linie deswegen angetan, weil man mittels der „Replay“ Funktion und dem präzisen Transkribieren von verbalen und nonverbalen (!) Interaktionen das soziale Gefüge, wie es effektiv in der Praxis zustehen kommt, möglichst „objektiv“ studieren konnte (Heath et al. 2010). Die Annahme Interaktionen im natürlichen Umfeld („naturally occuring“ environments) minutiös aufnehmen und dokumentieren („recording“) zu können (Heath et al. 2010) und der Fokus auf das Gesehene, aber Unbemerkte („seen but unnoticed“) (Garfinkel 1967), lässt diese positivistische Grundhaltung durchschimmern, die auch heute noch gelegentlich in der visuellen Methodenforschung zu finden ist. Seit spätestens Anfang des 21. Jahrhunderts haben sich die Gründe, weshalb visuelle Methoden für die Forschung von Bedeutung sind, stark gewandelt. Die interpretivistische und kulturelle Kritik an der „Repräsentation“ zeigte auf, dass es keine einzelne oder korrekte Antwort auf die Frage gibt, was ein Bild bedeutet (Hall 1997). Jedes Bild ist nicht nur technisch, sondern auch sozial konstruiert. Es positio-

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K. Lobinger und J. Mengis

niert sowohl das dargestellte Subjekt als auch die Betrachtenden in einer bestimmten, nicht zuletzt wertenden, politischen Perspektive. Ein berühmtes Beispiel ist der erste ethnografische Film, Robert Flahertys Dokumentation der Inuit-Kultur von 1920, „Nanook of the North“ (Pink 2003). Zuerst wurde der Film als ein seltener und spannender Einblick in das unbekannte Andere propagiert. In den 90er-Jahren wurde er dann als eine romantisierte Darstellung der indigenen Völker als kulturelle Trophäen rekonstruiert. Diese Interpretation wurde abermals kritisiert als typische postkoloniale Kritik. Die Dokumentation sei ein Beispiel eines narrativen Films und zeige die Rolle der Erzählung in der ethnografischen Arbeit auf (Pink 2003, für eine Zusammenfassung dieser Diskussion). Das Beispiel illustriert nicht nur die polyseme Qualität (Harper 2002) visueller Daten und die interpretative Arbeit, welche diese verlangen. Es zeigt auch, dass der Umgang mit Bildern immer eine kritische Reflektion braucht, nicht nur über den Inhalt der Bilder, sondern auch über deren Produktion (Wer hat sie gemacht, wann, aus welcher Motivation, wie?) und über deren Gebrauch und Rezeption (Wie haben andere die Bilder interpretiert? Wie wurden sie verwendet? Aus welcher Position betrachte ich das Bild?; siehe dazu auch Rose 2016/2001). Diese kritische Reflexion von Bildern ist ausschlaggebend, um deren Bedeutung für die sozialwissenschaftliche Forschung besser zu verstehen. Seither werden visuellen Methoden vermehrt benutzt, um A) die sinnliche Erfahrung und die emotionalen und materiellen Dimensionen (sozialen) Handelns in den Vordergrund zu rücken und um B) die Reflexivität in der Forschung zu stärken. A) Der Ruf nach visuellen Methoden wurde dank visueller AnthropologInnen wie Marcus Banks (1998) oder Sarah Pink (2003, 2013) laut, welche visuellen Methoden zuschreiben, sie könnten das Materielle, das Körperliche, das Sinnliche und das Affektive hervorheben. Die Wissenschaft dürfe nicht nur auf objektivistische, distanzierte „Repräsentationen“ der Welt setzen, sondern müsse vermehrt die sinnliche Erfahrung in der Welt miteinbeziehen (Pink 2011, 2013). Wenn man als Forschende/r beispielsweise den nächtlichen Weg einer Frau durch ein Parkhaus durchschreitet und dabei ein Video macht, repräsentieren diese Bilder nicht in erster Linie einen bestimmten Weg, sondern erlauben eine lebensweltlichere Vorstellung davon, wie sich die weibliche Erfahrung des Durchschreitens dieses Weges anfühlen kann (Pink 2011). Die „walking with video“-Methode (Pink 2007) ermöglicht es, eine körperliche oder emotionale Erfahrung empathisch und sinnlich nachempfinden zu können. Das entstehende „ruckelnde“ Videomaterial nimmt den Rhythmus des Gehens wie auch die visuelle Orientierung des Blicks im Raum auf und macht die Angst oder Anstrengung des Gehens durch das Hören des Atmens fühlbar. Diese nichtrepräsentierbaren Qualitäten der Welt, wie beispielsweise das körperliche und emotionale Engagement in einer Situation, können auch durch die Verfremdung einer realistischen Aufnahme (z. B. durch Verlangsamung eines Videos) verstärkt erfahrbar gemacht werden (Beyes und Steyaert 2012). B) Visuelle Methoden werden oft auch verwendet, um partizipative Forschungsdesigns zu unterstützen und ForschungsteilnehmerInnen aktiver in die Datensammlung und Analyse einzubinden. Im Gesundheitskontext arbeiten Rick Iedema

Visuelle Methoden

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et al. (2009) mit video-reflexiven Methoden. Beispielsweise filmten sie Übergabeprozesse von PatientInnen zwischen verschiedenen klinischen Teams, um Ausschnitte von diesen Aufnahmen den Teams in Workshops zu zeigen. Das mehrfache Betrachten dieser Videos erlaubte es den ÄrztInnen und dem Gesundheitspersonal, die eigenen Übergabe- und Kommunikationsprozesse nicht nur aus einer anderen Perspektive kritisch zu reflektieren, sondern diese Prozesse auch zu verändern (Iedema et al. 2009). Die veränderten Prozesse wurden dann erneut mit Video aufgenommen und dem Personal vorgeführt. Auf diese Weise werden visuelle Methoden zu Motoren kollektiven Lernens und Wandels. Photovoice ist eine weitere visuelle Methode, die partizipativ verwendet werden kann. Lorenz und Kolb (2009) arbeiteten beispielsweise mit Überlebenden von Gehirnoperationen, um den Einfluss einer solchen Operation zu thematisieren. Acht Überlebende waren nicht nur aktiv in die Datensammlung involviert (indem sie über mehrere Wochen Fotos von ihrem Alltag mit einer Gehirnverletzung machten), sondern spielten auch einen wichtigen Teil in der Datenanalyse. Sie konnten beispielsweise bestimmen, in welche Themen (z. B. „die Reise“, „verlorene Träume“) sie die Fotos kategorisieren wollten und waren involviert in die Präsentation der Resultate, indem sie die Fotos in drei Bibliotheken ausstellten. In diesen partizipativen Prozessen erlaubt es das Visuelle nicht nur, Gefühlswelten und emotionalen Ereignissen eine Stimme (Photovoice) zu geben und die Empathie für Gruppen, die ansonsten marginalisiert blieben, zu steigern (MacDougall 1997; Lammer 2007). Visuelle Artefakte erlauben gleichzeitig das „cultural brokering“, d. h. das kulturelle Übersetzen zwischen verschiedenen Gruppen wie ÄrztInnen, Gemeinschaften kranker Personen und Forschenden (Chalfen und Rich 2007). Dieser Überblick über den Hintergrund visueller Methoden zeigt auf, dass die Motivationen für ihren Einsatz sehr unterschiedlich sind und sie ganz Verschiedenes für die Forschung leisten können. Um diese Leistungen und Grenzen genauer zu verstehen, ist es wichtig, die Vor- und Nachteile spezifischer Einsatzmöglichkeiten zu kennen. In der Folge wollen wir einige Beispiele der breiten Palette von Anwendungsmöglichkeiten aufzeigen.

3

Anwendungsbeispiele visueller Verfahren

3.1

Visual Elicitation

Mit Visual Elicitation wird allgemein die Nutzung von visuellem Material in Interviewsettings bezeichnet. Grundlegendes Merkmal ist, dass Bildmaterial und verbale Befragung miteinander verbunden werden. Bilder werden in qualitative Interviews integriert, verbunden mit der Aufforderung, diese zu beschreiben, zu bewerten oder zu interpretieren. Die Bilder können dabei aus unterschiedlichen Kontexten stammen und entweder von Forschenden oder von Befragten produziert oder ausgewählt werden (siehe Abschn. 1). Ziel ist vor allem, Aussagen und Interpretationen zu den in sich vieldeutigen Bildinhalten durch die Befragten zu erhalten. Generell dient die

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Nutzung von visuellem Material in Interviews der Generierung von tiefergehenden und anregenden Erzählungen zu Themen, deren Exploration ohne visuelle Hilfsmittel schwieriger wäre (Lapenta 2012, S. 202; Rose 2016/2001, S. 314–327). Diese auf Bildern basierende Interviewtechnik stammt ursprünglich aus der anthropologischen Forschung. Pionierstudien waren vor allem die Arbeiten von Collier (siehe insbesondere Collier 1957; Collier und Collier 1986). Für Visual Elicitation haben sich unterschiedliche Begriffe herausgebildet. Während Visual Elicitation alle Arten von visuellen Stimuli einschließt (Pauwels 2012, S. 9), markiert Photo-Elicitation bzw. Fotoelizitation vor allem jene Forschung, in der Fotografien eingesetzt werden (Harper 1986, 2002; Lapenta 2012; Rose 2016/2001). Im deutschsprachigen Raum wird diese Technik auch als Fotointerview oder Fotobefragung bezeichnet (Hornei 2013; Kolb 2008; Wuggenig 1988, 1990). Ganz grundlegend dient das Bild bzw. die Fotografie als „Schlüssel zum Unsichtbaren“ (Wuggenig 1988, S. 111). In anderen Worten, es steht die „Innensicht“ der Befragten im Fokus und damit die subjektiven Interpretationen und Bedeutungszuweisungen. Die Vieldeutigkeit von Bildern, die sonst als analytische Herausforderung gilt, birgt besonderes methodisches Potenzial für visuelle Interviews. Gerade weil es keine eindeutige, objektiv „richtige“ Bedeutung eines Bildes und seiner Darstellungstechniken gibt, bieten sich Bilder als Stimuli an, die die Befragten dazu ermutigen können, Inhalte ausführlich zu erkunden. Die semantische Offenheit der Bilder stellt somit eine besonders wertvolle diskursive Ressource für Interviews dar (Lobinger 2017; Schwartz 1989, S. 122). Die Befragten sind dann ExpertInnen der individuellen Bildbedeutung, was oftmals dabei hilft, einen lebhaften Erzählfluss zu stimulieren und die Hierarchie zwischen Forschenden und Befragten zu reduzieren. Beispiel In einer Studie zu visueller Kommunikation in engen sozialen Beziehungen (Venema und Lobinger 2017) wurden Paar- und Einzelinterviews mit Paaren und Freundschaftsdyaden durchgeführt. Ziel war es herauszuarbeiten, welchen Stellenwert und welche Funktionen Bilder und visuelle Kommunikation im Alltag der Beziehung haben. In den Interviews wurde mit verschiedenen Formen von Visual Elicitation gearbeitet. Die Befragten wurden einerseits gebeten, für sie „bedeutsame“ Bilder oder für die Beziehung „typische“ Bilder zum Interview mitzubringen (participant-selected visuals, teilweise auch participant-produced visuals). Andererseits wurden von den Forschenden ausgewählte Bilder („found images“ aus unterschiedlichen Medienkontexten) als visuelle Prompts, also als Erzählstimuli zu bestimmten Frageaspekten verwendet. Abb. 1 zeigt „bedeutsame Bilder“ aus der Paarkommunikation von Kerstin und Robert, beide 26 Jahre alt.1 Es interessierte besonders, welche Art von Bildmaterial weshalb als wichtige Ressource der Paar1

Alle Namen wurden geändert. Zu allen in diesem Beitrag verwendeten Fotos liegt das Einverständnis der Befragten vor. Die Vorgaben zur Bildverwendung sind dabei unterschiedlich. Obwohl nicht alle Befragten auf eine ausdrücklichen Verpixelung der Fotografien bestehen, wurde aus forschungsethischen Gründen entschieden, die Gesichter zum Zwecke der Anonymisierung prinzipiell zu pixeln.

Visuelle Methoden

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Abb. 1 „Bedeutsame“ Bilder von Kerstin und Robert

beziehung gesehen wird. Im Interview wurde, entsprechend zahlreicher Erfahrungen der Visuellen Kommunikationsforschung und der Visuellen Soziologie, davon ausgegangen, dass die Bedeutung nicht im Bild selbst zu finden ist (Radley et al. 2005) und dass demnach auch die Forschenden keinen Zugriff auf die individuelle Bedeutung des Bildes nehmen können. Vielmehr interessieren die Interpretationen und Erzählungen der Befragten über die Bilder in einer dialogischen Interview-Situation (Awan und Gauntlett 2011). Dies lässt sich sehr gut am Beispiel der für Kerstin und Robert bedeutsamen Bilder erklären. Die Bilder zeigen eine witzige Situation, in der die beiden sich als Einhörner verkleiden. Diese humorvolle und ungewöhnliche Situation stellt gleichzeitig eine Photo-Opportunity dar, bietet also eine gewisse Legitimation, um ein Foto der anderen Person zu machen. In diesem Fall handelte es sich sogar um das erste Foto, das die beiden voneinander machten. Gerade zu Beginn einer Beziehung, bzw. in deren Aufbauphase, ist das Fotografieren des Partners bzw. der Partnerin mit einer gewissen Intimität verbunden, wie sich auch in anderen Studien zeigte (Schwarz 2010). Das erste Bild stellt in vielen Beziehungen eine wichtige Etappe dar und kann deshalb nicht „grundlos“ erfolgen. Der Anlass ist in vielen Fällen eine Familienfeier, ein besonderer Kontext; bei Kerstin und Robert ist es dagegen eben das spielerische Verkleiden als Einhorn. Das erste gemeinsame Bild bzw. das erste Bild des Partners oder der Partnerin wird in der Folge dann zu einer wichtigen emotionalen Ressource, die auch zur Repräsentation der Beziehung, etwa Freunden gegenüber, verwendet wird (siehe den Interviewausschnitt aus dem Paarinterview mit Kerstin und Robert). Interviewausschnitt (Paarinterview, Kerstin und Robert) Kerstin:

Also schöner ist, also ich kann das jetzt mal zeigen [bezieht sich auf das Einhornbild], aber das ist vielleicht doof zum Weitergeben, aber

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K. Lobinger und J. Mengis

Interviewer: Kerstin: Interviewer: Robert: Kerstin:

das ist das erste Bild, das ich von Robert gemacht habe und ich habe es all meinen Freundinnen geschickt und Robert wusste das aber nicht. (. . .). #00:37:43 Um zu zeigen, mit wem du jetzt zusammen bist? #00:37:44 Genau, ja. Weil es gab kein Bild im Internet und wir hatten uns auch noch nichts hin- und hergeschickt. #00:37:50 Hast du heimlich eins gemacht? #00:37:51 Ja, also das war ja nicht heimlich. #00:37:53 Ja, also ich hab die Situation, dass wir uns als Einhörner verkleidet haben ausgenutzt und das Bild gemacht. Ja, genau. #00:38:04

Diese Bedeutungen des Bildes können, wie bereits angesprochen, ohne die Erklärungen und Erläuterungen der Befragten, die die ExpertInnen der Bildbedeutung sind, nicht verstanden werden.

3.2

Partizipativ erstellte Zeichnungen: Netzwerkzeichnungen und Netzwerkkarten

Visuelle Methoden beinhalten weit mehr als der Einsatz von Fotografien in Forschungssettings. Auch Zeichnungen, welche von Befragten während des Datenerhebungsprozesses angefertigt werden, bieten interessante Möglichkeiten, wie das folgende Beispiel von Netzwerkzeichnungen und (teil-)strukturierte Netzwerkkarten illustriert (siehe auch Lobinger 2016, S. 302–304). In der Methodenliteratur werden diese Anwendungen als „drawing-based exercises“ oder als „draw and write“Techniken (Awan und Gauntlett 2011, S. 369–371) bezeichnet. Ursprünglich kamen Zeichentechniken in Studien mit Kindern zum Einsatz (Wetton und McWhirter 1998),2 denn Zeichentechniken ermöglichen es Kindern, nur schwer verbalisierbare Themen und Aspekte (wie z. B. Emotionen) auf spielerische, non-verbale Weise zum Ausdruck zu bringen. Im Bereich der Visuellen Kommunikationsforschung führten etwa Pannier und Pannier (2012) eine Sekundäranalyse von Kinderzeichnungen durch, um herauszufinden, welche Vorstellungen Kinder vom Krieg haben. Seit einigen Jahren kommen Visualisierungen in Form von Zeichnungen jedoch auch in der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptions- und Aneignungsforschung (Hepp et al. 2014) und ganz zentral in der visuellen, qualitativen Netzwerkforschung (Schönhuth und Gamper 2013; Straus 2013, siehe auch den Beitrag von Gamper und Schönhuth in diesem Band) zum Einsatz. Visualisierungen dienen dann u. a. als partizipative Werkzeuge, um soziale Netzwerke und ihre Bedeutung für Individuen in Interviews zu identifizieren und zu erkunden. Sehr häufig werden Netzwerkkarten oder Netzwerkzeichnungen verwendet (für detaillierte Ausführungen siehe insbesondere Straus (2013) sowie den Beitrag von 2

Zur vertiefenden Auseinandersetzungen zum Potenzial von visuellen Verfahren in der nichtstandardisierten Jugendmedienforschung siehe Niemann und Geise (2015).

Visuelle Methoden

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Gamper und Schönhuth in diesem Band). Netzwerkkarten dienen der Visualisierung von Netzwerkbeziehungen, also zum Beispiel der Visualisierung sozialer Beziehungen aus egozentrierter Perspektive (Straus 2013). Diese Netzwerkkarten können mit unterschiedlichen Standardisierungsgraden erstellt werden, von vollständig freien Zeichnungen bis hin zu (halb) standardisierten Vorlagen, die von den TeilnehmerInnen verwendet werden. Auf dem Kontinuum zwischen Offenheit und Standardisierung stellen Netzwerkzeichnungen einen sehr offenen Ansatz dar. Meist werden keine Strukturen vorgegeben. Netzwerkkarten verwenden dagegen unterschiedliche Standardisierungsgrade. Zum Beispiel deuten konzentrische Kreise um das Zentrum, das meist die Befragten repräsentiert, unterschiedliche Grade der Relevanz der Individuen innerhalb des Netzwerks an, wobei dem Zentrum näherliegende Kreise eine stärkere Nahebeziehung suggerieren. Diese partizipativen Visualisierungen können entweder als Paper-Pencil-Zeichnungen oder als „digitale“ Netzwerkkarten mithilfe spezieller Programme erstellt werden (Gamper et al. 2011). Beispielhaft soll hier die Anwendung von Netzwerkzeichnungen anhand der bereits weiter oben erwähnten Studie zu visueller Kommunikation in engen sozialen Beziehungen (Venema und Lobinger 2017) illustriert werden (siehe Abb. 2). Ziel des Einsatzes von Netzwerkzeichnungen war u. a. die Erhebung des Kommunikationsrepertoires (Hasebrink 2015; Linke 2010) in Paarbeziehungen, um daran anschließend die Rolle visueller Kommunikation innerhalb dieses Repertoires zu untersuchen. Die TeilnehmerInnen wurden gebeten, eine Karte zu zeichnen, um zu visualisieren, welche Medien und Kommunikationstechnologien eine Rolle in der Paarkommunikation spielen. Die beiden Pole der Zeichnung symbolisieren die beiden an der Beziehung beteiligten Personen. Aspekte, die für eine Person wichti-

Abb. 2 Freie Netzwerkzeichnung des Medienrepertoires in einer Paarbeziehung (siehe Venema und Lobinger 2017)

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K. Lobinger und J. Mengis

ger waren als für die andere, wurden näher am entsprechenden Pol eingezeichnet. Da es sich um eine relativ komplexe Fragestellung handelte, dienten die Zeichnungen gleichzeitig als Hilfestellungen bei der Strukturierung der Gedanken und Überlegungen (Hepp et al. 2014, 2017; Venema und Lobinger 2017) und – im Sinne einer Visual Elicitation – als Anker bei der anschließenden verbalen Beschreibung der Routinen in Alltagskommunikation, Mediennutzung und Photo-Sharing. Die Netzwerkkarten verdeutlichten, dass wie beim ersten Beispiel der Visual Elicitation auch Netzwerkzeichnungen und Netzwerkkarten oftmals nicht für sich alleine stehen und nicht losgelöst von den verbalen Erzählungen ausgewertet werden können. Gleichzeitig können die verbalen Erzählungen besser ausgewertet werden, wenn Bezüge zu den Visualisierungen hergestellt werden können. Dies erfordert eine genaue Dokumentation der visuell-verbalen Verweise, die während der Interviews entstehen und eine adäquate Berücksichtigung beider Datenformen.

3.3

Card-Sorting

Sortierverfahren (auch Card-Sorting genannt) umfassen eine Gruppe von Forschungstechniken, die auf der grundsätzlichen Idee beruhen, dass die Art und Weise, in der die TeilnehmerInnen einzelne Items kategorisieren und gruppieren, auch deren mentale Repräsentation dieser Konzepte in einem gewissen Maße widerspiegelt (Fincher und Tenenberg 2005, S. 90). Dabei können Sortierverfahren einen spielerischeren Zugang zur Erforschung der Organisation von Wissen eröffnen (Schwender 2011, S. 322). Sortierverfahren beinhalten oft folgenden Prozess: Den TeilnehmerInnen der Studie werden verschiedene Items gezeigt. Dies können physische Objekte, schriftliche Aussagen ebenso wie visuelle Elemente sein (Rugg und McGeorge 1997). Die TeilnehmerInnen werden dann gebeten, diese Items je nach Fragestellung in einer bestimmten Weise zu sortieren. Je nach Forschungsfrage sind dabei unterschiedliche Sortierschemata möglich: Items können in Gruppen geordnet (wobei die Anzahl und Namen bzw. Labels der Gruppen entweder durch die Forschenden festgelegt werden oder durch die Teilnehmenden gewählt werden können, siehe etwa Abb. 3), in Rangordnungen gebracht (siehe Abb. 4) oder in komplexere (vorgegebene) Sortiervorlagen und -muster (etwa Q-Sort, siehe Abb. 5) einsortiert werden (für eine ausführliche Diskussion verschiedener Sortierverfahren siehe etwa Hess und Hink 1959; Lobinger und Brantner 2019; Watts und Stenner 2005). In der Folge werden dann die „Relationen, Ähnlichkeiten und Positionen verschiedenster Objekte“ (Bleuel et al. 2010, S. 43) qualitativ oder quantitativ ausgewertet, analysiert und interpretiert. Erste Sortierstudien wurden in den 1930er-Jahren im Rahmen psychologischer Forschungen durchgeführt (Hulin und Katz 1935). Seither werden Kartensortierverfahren u. a. in der kommerziellen Marktforschung (siehe insbesondere die Pionierstudie von DuBois 1949), den Kognitionswissenschaften, klinischen Studien (Pendleton und Heaton 1982), in Studien der Human-Computer-Interaction (Nawaz 2012) sowie in Usability-Studien (Lewis und Hepburn 2010; Wood und Wood 2008) und

Visuelle Methoden

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Abb. 3 offene Sortierung mit dem Ziel der Typenbildung (Quelle: eigene Fotografie)

Abb. 4 geschlossenes Sortierverfahren, Ranking (Quelle: eigene Fotografie)

in der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptions- und Aneignungsforschung (Bleuel et al. 2010; Lobinger und Brantner 2015a, 2016; O’Neill et al. 2013; O’Neill und Nicholson-Cole 2009) eingesetzt. Bildsortierstudien, in denen, wie der Name schon sagt, visuelle Items sortiert werden, stellen bislang noch eine vergleichsweise wenig genutzte Forschungstechnik dar (Eppler und Platts 2007). Zahlreiche Studien belegen aber, dass die TeilnehmerInnen Sortieraufgaben in der Regel schnell und ohne großen kognitiven Aufwand durchführen (Stephen 1985). Deshalb sind sie besonders für die Untersuchung von Phänomenen, die schwer zu verbalisieren sind, geeignet – wie etwa die assoziativen, holistischen Eindrücke von Bildern (Lobinger 2016; Lobinger und Brantner 2019). In der Folge werden Beispiele für verschiedene Sortiertechniken und deren Anwendung im Bereich Visueller Kommunikationsforschung exemplarisch illustriert.

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Abb. 5 geschlossene Sortierung, Quasinormalverteilung einer visuellen Q-Sort Studie (siehe Lobinger und Brantner 2016)

Arten von Sortiertechniken Es gibt verschiedene Arten von Sortiertechniken, die sich vor allem durch den Grad der Offenheit des Verfahrens, die Art der Sortieraufgabe oder den Charakter von Kategorien (z. B. trennscharfe Kategorien vs. Mehrfachzuordnungen) auszeichnen (Fincher und Tenenberg 2005; Rugg und McGeorge 1997). Bei offenen oder freien Sortierverfahren werden die TeilnehmerInnen eingeladen, Items frei zu gruppieren oder zu ordnen. Üblicherweise legen die Forschenden dann weder die Sortierkriterien für die Aufgabe noch die Bezeichnungen und Anzahl der zu bildenden Kategorien fest. Auch hier dienen die Sortierergebnisse oftmals der Visual Elicitation (siehe Abschn. 3.1) und die Teilnehmenden werden nach abgeschlossener Sortierung gebeten, die von ihnen entwickelten Kategorien und Gruppen sowie die dahinterliegenden Entscheidungsprozesse zu erläutern. Ein Beispiel für diese Anwendung ist die Online-Sortierstudie von Bleuel et al. (2010), in der Studierende gebeten wurden, Filmplakate nach Ähnlichkeit in offene Gruppen zu sortieren. Die Zahl der Gruppen stand dabei nicht fest. Abb. 3 wiederum zeigt beispielhaft das Sortierresultat einer offenen Sortierung, bei der Studierende ihren Social-Media Accounts entnommene Bilder in Gruppen ordneten und Namen und Beschreibungen für diese Kategorien entwickelten. Ein offener Sortieransatz wird normalerweise verwendet, um Klassifikationsmuster und Typenbildungen zu untersuchen und zu identifizieren. Er kann aber auch verwendet werden, um Kategorien zu validieren. Die offene Sortierung kann – wie auch andere Sortieransätze – in einem kollaborativen Setting erfolgen, um den

Visuelle Methoden

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Austausch und die Diskussion zwischen den Teilnehmenden und auch zwischen Teilnehmenden und Forschenden zu fördern. In geschlossenen Sortierverfahren wird den Teilnehmenden eine vordefinierte Anzahl von Kategorien – meist zusammen mit entsprechenden Namen oder Etiketten – zur Verfügung gestellt oder die Teilnehmenden werden gebeten, Items anhand einer vordefinierten Sortieraufgabe zu ranken. Letztere weisen Ähnlichkeiten zu klassischen Ranking- und Ratingskalen auf, jedoch mit dem Unterschied, dass sie relationale Daten produzieren. Dies wird in Abb. 4 illustriert: Studierende ordneten Social-Media-Fotografien danach, wie „ansprechend“ diese Fotos für sie waren. Das resultierende Ranking gibt keine Auskunft darüber, als wie „ansprechend“ ein einzelnes Foto bewertet wurde, sondern vielmehr darüber, wie ansprechend es in Bezug auf andere Fotografien gesehen wurde. Ein weiteres Beispiel für ein geschlossenes Sortierverfahren sind Studien, in denen eine gewisse Sortierstruktur vorgegeben wird, wie dies vor allem bei Q-Sort – einer Kombination aus quantitativem und qualitativem Sortierverfahren – üblich ist (siehe Abb. 5). Bei Q-Sort werden Items üblicherweise in einer quasi-normalen Verteilung sortiert, da dies die nachfolgende statistische Auswertungsprozedur der sogenannten Q-Faktorenanalyse begünstigt (für nähere Ausführungen zu Q-Sort siehe exemplarisch Lobinger und Brantner 2019, 2015b; Schwender 2011; ten Klooster et al. 2008; Watts und Stenner 2005). Weitere Unterscheidungen von Sortierverfahren lassen sich hinsichtlich der Wiederholung des Sortierungsvorgangs treffen. Bei sogenannten single sorts handelt es sich um eine einmalige Sortieraufgabe, bei wiederholten Sortiervorgängen werden die TeilnehmerInnen aufgefordert, die Sortieraufgabe zu wiederholen, was direkt nach dem ersten Sortiervorgang oder einige Zeit danach stattfinden kann. Die Replikation hilft dabei, die Konsistenz der Sortierkriterien zu prüfen. Schließlich können Sortierverfahren als qualitative, als quantitative oder als kombinierte Verfahren (wie etwa bei Q-Sort) durchgeführt werden. In dieser Vielfalt bieten Sortierverfahren reichhaltige Möglichkeiten, Kategorien, Bedeutungsmuster, mentale Typologien und Prioritäten zu erkunden.

3.4

Videoethnografie

Die Videoethnografie ist eine visuelle Methode, in der Videoaufnahmen klassische Ethnografien ergänzen. Ethnografien interessieren sich dafür, wie Phänomene (z. B. eine Kultur, eine kollektiven Interaktionspraxis) im alltäglichen Leben zustande kommen und versuchen, diese in ihrer spezifischen Komplexität – und nicht in grob vereinfachten, dekontextualisierten Modellen – zu begreifen (Ybema et al. 2009). Zu diesem Zweck kombinieren Ethnografien verschiedene Methoden der Datensammlung und bestehen meist aus einer Mischung von langandauernder, direkter Beobachtung, Dokumenten/Artefakten und qualitativen Befragungen. Indem man nah ans Geschehnis und an die dabei beteiligten Personen herangeht (Van Maanen 2011) und mit Situationen und Menschen die notwendige Vertrautheit aufbaut (Goffman 1989), versucht man auch, die unter der Oberfläche agierenden,

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impliziten, emotionalen oder politischen Aspekte eines Phänomens hervorzuheben. Schließlich besteht in der ethnografischen Tradition ein wichtiger reflexiver Diskurs und die Forschenden reflektieren kritisch über ihre eigene Position im „Feld“ und darüber, wie sie ein Phänomen wahrnehmen und repräsentieren. EthnografInnen haben früh damit begonnen, mit visuellen Methoden – vor allem unter Einsatz von Fotografie oder Film – zu arbeiten (Banks 1998; Collier und Collier 1986; Collier 2001; Pink 2015). Videoaufnahmen werden in Ethnografien beispielsweise eingesetzt, um die sinnliche Erfahrung und die Wahrnehmung von Atmosphären zu stärken (Pink 2015; Spinney 2011), um alltägliche, als selbstverständlich angesehene Aspekte in den analytischen Vordergrund zu rücken (Iedema et al. 2009, 2013) oder um flüchtige Aspekte und sequenzielle Abläufe im Detail zu studieren (z. B. die Kommunikation während Übergabeprozessen bei Schichtarbeit, Heath et al. 2010, siehe Abschn. 2). Videos werden darüber hinaus auch dazu verwendet, die Interpretation des Forschenden kritisch zu hinterfragen und in partizipativen Ansätzen die beobachteten Personen aktiver in die Datensammlung und Analyse einzubinden (Carroll et al. 2008; Chalfen und Rich 2007; Iedema et al. 2006a). Darüber hinaus wird Video-Beobachtung auch für spezifische Ziele eingesetzt, zum Beispiel um „mobile“ Ethnografien (Spinney 2011) zu ermöglichen und geografisch verteilte Phänomene zu studieren. Ein Team von ForscherInnen kann beispielsweise an verschieden Orten Video-Beobachtungen durchführen und diese Aufnahmen dann zum Austausch und systematischen Vergleich der Beobachtungen nutzen (Smets et al. 2014). Während Videoethnografien in der Praxis sehr unterschiedlich umgesetzt werden, sind einige grundsätzliche und praktische Überlegungen von Bedeutung: • Ethische Fragen und Zugang zum Feld: Der Einsatz von Video stellt wichtige ethische Fragen und verlangt es, den Zugang zu Daten kontinuierlich zu verhandeln (Smets et al. 2014). In den meisten Studien, in denen Video erfolgreich eingesetzt wurde, entwickelten die ForscherInnen zuerst die nötige Beziehung mit den Beteiligten mittels Interviews und direkter Beobachtung. Dabei ist es wichtig, nicht nur die Zustimmung von Verantwortungspersonen oder Vorgesetzten zu gewinnen, sondern auch von Randgruppen oder hierarchisch untergeordneten Personen (z. B. in einem Spital nicht nur die Zustimmung der ChefärztInnen, sondern auch von AssistenzärztInnen und dem Pflegepersonal). Bevor man mit Videoaufnahmen beginnt, ist es darüber hinaus von Vorteil, den Beteiligten Videoaufnahmen von ähnlichen Forschungen zu zeigen, um so die Vorteile des Verfahrens nicht nur für die Forschung, sondern auch für den Alltag der Teilnehmenden konkret erfahrbar zu machen. Ebenso sollten die Beteiligten die Möglichkeit haben, bei verschiedenen Aspekten des Forschungsdesigns mitzubestimmen. Konkrete Fragen müssen offen und gemeinsam besprochen werden, zum Beispiel: Wo soll die Kamera positioniert werden? Wer sind die BesitzerInnen der Daten? Was passiert, wenn ein Unfall oder ein Fehler aufgenommen wird? Sollen die Daten verschlüsselt aufgenommen werden? Wie und wie lange werden die Daten verwahrt? Wie werden die Daten verwendet? Wo werden sie wie gezeigt? Wie werden Gesichter und andere Erkennungsmerkmale verdeckt? Danach müs-

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sen explizite Forschungsprotokolle entwickelt werden, welche diese ethischen Aspekte regeln (siehe auch den Beitrag von Lobinger et al. in diesem Band). Die TeilnehmerInnen müssen die Möglichkeit haben, auf Basis dieser Informationen zu entscheiden, an der Forschung teilzunehmen oder nicht. Ein wichtiger Punkt ist schließlich, dass der Zugang zum Feld mit dem Unterschreiben der Forschungsprotokolle nicht als abgeschlossen gilt (Smets et al. 2014). Forschende müssen während des gesamten Forschungsprozesses das Vertrauen der Teilnehmenden gewinnen, erhalten und proaktiv mit möglichen Vorbehalten umgehen. Beispielsweise können weitere Zweifel aus dem Weg geräumt werden, indem man erste Videoaufnahmen einer kleinen Gruppe von Beteiligten zeigt und gemeinsam erste Erkenntnisse erarbeitet. • Partizipative Forschungsdesigns: Viele Videoethnografien zeichnen sich durch ein wenigstens teilweise partizipatives Forschungsdesign aus, nicht zuletzt aufgrund des komplexen Prozesses, den Zugang zu Daten zu gewinnen (wie oben beschrieben). Oft werden die Forschungsteilnehmenden sowohl aktiv in die Datensammlung als auch in die Datenanalyse involviert. – Datensammlung: Bekannte partizipative Ansätze sind Video-Tagebücher (Bates 2013), „Walking with Video“ (Pink 2007) oder die Video-Tour (Pink und Leder Mackley 2012). Bei Video-Tagebüchern werden Forschungsteilnehmende aufgefordert, einen Teil ihres Lebens aufzunehmen, zum Beispiel um einen Einblick in Weihnachtstraditionen und Familienpraktiken zu gewinnen (Muir und Mason 2012). Die Forschungssubjekte können so selber bestimmen, was sie wie zeigen wollen und sind zugleich in der Rolle der Akteure und der BeobachterInnen – vor und hinter der Kamera (Shrum et al. 2005). Dabei können die Forschungssubjekte auch formelle Aspekte mitbestimmen: Soll es eine objektivistische Dokumentation sein, eine Erzählung zur Kamera oder ein „Home-movie“ (Bates 2013)? Oftmals werden solche Videos mit kurzen schriftlichen Kommentaren ergänzt und dann kombiniert mit Interviews, in welchen das Videomaterial gemeinsam geschaut, kommentiert und interpretiert wird (siehe Visual Elicitation in Abschn. 3.1). – Datenanalyse: Partizipative Ansätze können auch im Zuge der Datenanalyse produktiv sein. In der Videoreflexion wird beispielsweise Videomaterial gemeinsam mit den Forschungsteilnehmenden betrachtet, es werden Ausschnitte ausgesucht und diese anschließend gemeinsam interpretiert. Der oben erwähnte Einsatz im Gesundheitskontext (Iedema et al. 2009), wo klinische Übergabeprozesse gefilmt, Ausschnitte von diesen Aufnahmen gemeinsam mit verschiedenen Gruppen des klinischen Teams reflektiert und die daraus resultierenden Änderungsverschläge für die Übergabeprozesse implementiert und diese veränderten Prozesse erneut gefilmt wurden, ist ein Beispiel solch partizipativer Ansätze. Diese sollen es Forschenden nicht nur erlauben, reflexiver mit ihren eigenen Interpretationen umzugehen, sondern Videoaufnahmen vermehrt als Vermittler interaktiver Prozesse einzusetzen (Iedema et al. 2006b). • Kamerapositionen: Technische Fragen in Videoaufnahmen, wie der Kamerawinkel (Weitaufnahme, Halbnahaufnahme, Nahaufnahme), die Kameraposition (objektiv,

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subjektiv) und die Kamerabewegung sollten nicht nur praktischen oder ästhetischen Überlegungen folgen, sondern immer methodologisch reflektiert werden. Mengis et al. (2016) zeigten beispielsweise auf, dass solche Entscheidungen für die Art und Weise von Bedeutung sind, wie sich das Forschungsobjekt manifestiert. Weitaufnahmen einer Szene legen den Blick auf kollektive und strukturelle Konstellationen, in denen die menschlichen Motivationen und Anstrengungen nicht ersichtlich sind. Im Gegensatz dazu legt die halbnahe, amerikanische Perspektive den Fokus auf menschliche Interaktionen und humanozentrische Erklärungen. Entscheiden sich die Forschenden, Aktionen mit einer Handkamera zu folgen oder die Beteiligten mit einer Stirn-Kamera auszustatten, lassen sich mit diesen Aufnahmen Rhythmen und Prozesse nachvollziehen und es werden Objekte, Körper und deren Verbindungen in den Vordergrund gerückt (Mengis et al. 2016). Dies bedeutet, dass scheinbar technische Entscheide in der video-basierten Forschung immer auf deren performative Effekte zu prüfen sind (Welchen Zugang zum Forschungsobjekt ermöglichen bestimmte Eistellungen, welchen verhindern sie?). Um diese Effekte besser zu verstehen, empfiehlt es sich, mit Aufnahmen aus verschiedenen Positionen und Winkeln zu experimentieren und diese miteinander zu vergleichen. • Analyse von Videos: Da auch bereits sehr kurze Videoaufnahmen eine Fülle von Daten bieten (u. a. durch die dauernde Abfolge von Bildern, Audio, siehe auch den Beitrag von Lobinger et al. in diesem Band), ist es wichtig, eine klare Strategie für die Datenanalyse zu haben (Knoblauch et al. 2006). Dabei gibt es sehr verschiedene Ansätze, sowohl für die multimodale Transkription (Heath et al. 2010), als auch für die Analyse von Daten. Beispielsweise untersuchen KonversationsanalystInnen Interaktionen, die oft nur ein paar Sekunden dauern, sehr detailliert und mit klaren Konventionen in Bezug auf verbale, paraverbale und nonverbale Aspekte (Heath et al. 2010). Visuelle Anthropologen hingegen beziehen sich auf weniger kodierte Methoden der interpretativen Traditionen, nicht zuletzt unter Einbezug der oben beschriebenen kollaborativen Analyseansätze. Oftmals ist es sinnvoll, nur einen Teil der reichhaltigen Daten systematisch zu analysieren, weshalb Heath et al. (2010) drei Analysephasen unterscheiden: – Erste Durchsicht der Daten kurz nach der Datensammlung: Grundsätzliche Aspekte werden festgehalten wie z. B. wer stößt wann in die Szene hinzu, wer ist wie in welche Aktivitäten involviert, oder wo befindet sich wer. In einer Spalte neben solcher faktischen Beschreibungen werden bereits erste kurze Beobachtungen und Kommentare notiert. – Substantielle Durchsicht einzelner Ausschnitte: Einzelne Fragmente werden genau beschrieben, damit nicht nur ersichtlich wird, wer welche Handlungen durchführt, sondern auch wie diese Handlungen erfolgen. Durch diese Beschreibungen sollen Vergleiche und Muster erkannt werden. – Systematische Analyse einzelner Ausschnitte: Einzelne Fragmente werden mehrfach betrachtet und eventuell mit anderen Forschenden diskutiert, um Interpretationen auszutauschen. Nach der multimodalen Transkription einiger weniger Ausschnitte werden diese auf bestimmte Aspekte miteinander verglichen und immer wieder in Bezug auf in der Literatur bestehende Konzepte kritisch geprüft (Heath et al. 2010).

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Insgesamt bieten videoethnografische Ansätze interessante Möglichkeiten, andere Methoden der Datengewinnung zu ergänzen. Die hier nur sehr kurz beschriebenen Aspekte sollen vor allem darauf hinweisen, dass vermeintlich operativtechnische Entscheide – wie Kameraeinstellungen oder Formen der Transkription – nicht nur von methodologischer, sondern auch von epistemologischer Bedeutung sind und einen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie sich das Forschungsthema manifestiert. Es sollten deshalb nicht nur die einzelnen methodologischen Entscheidungen dokumentiert werden, vielmehr empfiehlt es sich auch, mit verschiedenen videomethodologischen Praktiken gleichzeitig zu arbeiten und die unterschiedlich gewonnen Daten und Interpretationen reflektiert zu vergleichen.

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Fazit

Visuelle Verfahren ermöglichen einen anderen Zugang zu Wissen, Erfahrungen und Beurteilungen als die in der (verbalen) Rezeptions- und Aneignungsforschung meist praktizierten Methoden. In diesem Beitrag wurde auf eine breite Palette visueller Methoden und Techniken hingewiesen, die nicht nur in der Datensammlung und Analyse, sondern auch in der Kommunikation der Resultate von Bedeutung sein können. In der Tat plädieren seit einiger Zeit manche ForscherInnen dafür, auch Forschungsergebnisse zunehmend visuell zu vermitteln (siehe auch den Beitrag von Reißmann und Hoffmann in diesem Band; zu Kameraethnografie und „dichtem Zeigen“ siehe etwa Mohn 2010). Die hier präsentierten, spezifischen visuellen Ansätze haben ihre konkreten Vor- und Nachteile, weshalb wir zum Schluss dafür appellieren, verschiedene visuelle Techniken nicht nur miteinander zu kombinieren, sondern diese auch in Ergänzung zu traditionellen Methoden zu sehen. Auf diese Weise können die spezifischen Affordanzen visueller Methoden (z. B. lebensweltliches, kontextspezifisches Verständnis eines Phänomens; Fokus auf materielle Akteure wie Objekte, Instrumente oder Körper) mit denjenigen verbaler und numerischer Daten ergänzt und somit Limitationen entgegengewirkt werden. Gerade die Kombination aus visuellen und verbalen Techniken und deren jeweilige epistemologische Rolle gilt es zu reflektieren, vor allem deshalb, weil auch visuelle Verfahren meist nicht völlig ohne Verbalisierungen auskommen und spätestens bei der Präsentation von Ergebnissen auf die schriftlich-verbale Ausdrucksform zurückgegriffen wird (Buckingham 2009) – was eine Art Übersetzungsleistung von einem Modus in den anderen erfordert. Ebenfalls setzte sich der Beitrag zum Ziel, die Implikationen verschiedener methodologischer Entscheidungen aufzuzeigen, die beim Einsatz visueller Methoden unweigerlich zu treffen sind (z. B. wer macht ein Bild, welcher Kamerawinkel eignet sich, wer wählt Bilder wie aus, wer analysiert Bilder wie). Nur wenn man die Implikationen solcher Entscheidungen kennt, kann ein präziserer und reflexiver Umgang mit visuellen Methoden erfolgen. ExpertInnen Visueller Kommunikation haben eine gute Kenntnis der Affordanzen und Grenzen visueller Botschaften und Prozesse und sind somit in einer privilegierten Position, kompetent mit visuellen Methoden in der Forschung umzugehen. Dies heißt jedoch nicht, dass visuelle Methoden ausschließlich ExpertInnen

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Visueller Kommunikation zur Verfügung stehen. Unser Beitrag zeigte anhand verschiedener konkreter Herangehensweisen auf, wie visuelle Methoden relativ einfach in der Forschungspraxis angewendet werden können. Wir hoffen, damit auch bei Forschenden, die nicht im Bereich der Visuellen Kommunikationsforschung arbeiten, ein Interesse dafür geweckt zu haben, erste Versuche mit visuellen Methoden zu unternehmen. Die Anwendungspraxis visueller Verfahren ist bereits sehr reichhaltig und sehr dynamisch und es ist zu erwarten, dass sie sich – nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Visualisierung des Alltags – auch in nächster Zukunft stark weiterentwickeln wird.

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€tze und Verfahren der Visuellen Ansa Netzwerkforschung Markus Gamper und Michael Schönhuth

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Soziale Netzwerke: Eine methodologische und methodische Hinf€ uhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Von der Visualisierung sozialer Netzwerke zur Visuellen Netzwerkforschung . . . . . . . . . . . . 4 Vom Papier zum Laptop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Soziale Daten und die Darstellung durch grafische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In der Methodologie der Netzwerkforschung hatte die Visualisierung schon von Beginn ihren Platz, wenn auch der Zeitpunkt – in der Regel am Ende einer Netzwerkanalyse – und der Rahmen – vor allem zur Pr€asentation der Analyseergebnisse – ein anderer war, als in der visuellen Netzwerkforschung, in der Visualisierungen eine viel zentralere Rolle zukommt. In diesem Artikel wollen wir daher zuerst die methodologischen Voraussetzungen der Netzwerkforschung umreißen, bevor wir uns mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten der Visualisierung relationaler Strukturen befassen. Hierbei liegt der Fokus auf den unterschiedlichen Strategien f€ur den Einsatz von Visualisierungen im Verlauf eines Forschungsprozesses, die in einer Synopsis auch grafisch „veranschaulicht“ werden. Danach werden Verfahren zur visuellen Datenerhebung pr€asentiert und idealtypisch abgegrenzt, sowie deren Möglichkeiten und Grenzen aufgezeigt. M. Gamper (*) Institut f€ur vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften, Universit€at Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Schönhuth Universit€at Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_30

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Schließlich stellen wir grafische Elemente der Netzwerkforschung vor und zeigen, inwieweit diese f€ur bestimmte Informationsdarstellungen geeignet sind. Schlüsselwörter

Soziale Netzwerkforschung · Visuelle Netzwerkforschung · Qualitative und quantitative Erhebung von sozialen Netzwerken · Netzwerkbilder · Netzwerkkarten

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Einleitung

„Ist die Soziologie eine unsichtbare Wissenschaft?“ Mit dieser Frage besch€aftigte sich j€ ungst auch die Studie „Visualisierung und soziologische Wissenschaftskommunikation in der Zweiten Moderne“ von Gerald Beck (2013); und sie kommt zu dem Schluss, dass es nicht mehr um die Frage, gehe ob, sondern wie die Soziologie Visualisierungen in Zukunft einsetzte. Die Frage ist nicht neu. Schon Georg Simmel wies in seinem Exkurs €uber die Soziologie der Sinne 1908 darauf hin, dass in modernen Gesellschaften dem Sehen eine immer größere Bedeutung zukomme (Simmel 1992 [1908]). In welchem Ausmaß in der heutigen globalisierten und digitalisierten Welt das Denken €uber Bilder und in Bildern ein essentieller Bestandteil gesellschaftlicher Kommunikation geworden ist, h€atte den großen Soziologen wahrscheinlich dennoch €uberrascht. Sp€atestens ab den 1990er-Jahren fand ein breiter wissenschaftlicher Diskurs €uber die Bedeutung des Visuellen statt. Angelehnt an den von Richard Rorty in den 1960er-Jahren proklamierten „linguistic turn“ in der Philosophie, leiteten Arbeiten von Ferdinand Fellmann (1991), William W.J.T Mitchell (1994) und Gottfried Boehm (1994) einen „visual turn“ in den Geistesund Sozialwissenschaften ein und forderten damit eine st€arkere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Welt der Bilder und des Visuellen. Andere, wie beispielsweise der Historiker Alfred Crosby (1997), gingen sogar so weit zu behaupten, dass die rapide Etablierung der Wissenschaft seit dem 13. Jahrhundert insgesamt an die beiden Aspekte des Messens und Visualisierens gekoppelt sei. In den letzten 20 Jahren hat jedenfalls die Bedeutung des Bildes in vielen wissenschaftlichen Disziplinen als Instrument der visuellen Wissensvermittlung massiv zugenommen, so dass Knoblauch et al. bereits res€umieren konnten (2008, S. 1): „From their origins in disciplines like social anthropology and sociology, visual research methods are now firmly entrenched in major fields of inquiry, including sociology, health and nursing studies, educational research, criminology, human and cultural geography, media and cultural studies, discursive and social psychology, management and organisation studies, political science and policy analysis.“ Innerhalb der Deutschen Gesellschaft f€ ur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) hat sich der Bereich der visuellen Kommunikation inzwischen sogar als eigene Fachgruppe etabliert und es erschienen zahlreiche Handb€ucher (Lester 2008; Lobinger 2012) sowie Publikationen in unterschiedlichen Forschungsfeldern wie beispielsweise der Gender- (J€ackel et al. 2009) oder Islamforschung (Schiffer 2005; Hafez und Richter 2007).

Ans€atze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung

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Visualisierungen als Methode des Festhaltens relationaler Strukturen gab es auch bereits in den Anf€angen der Netzwerkforschung. Der Psychologe und Mediziner sowie einer der Gr€underv€ater der Soziometrie, Jakob Moreno, analysierte anhand von handgefertigten Netzwerkzeichnungen soziale Selektionsprozesse u. a. von Sch€ ulerInnen und Gefangenen (Moreno 1934). Waren es zu Beginn noch eher Kleingruppen und deren Beziehungen, die grafisch dargestellt wurden, wurde es mit dem Fortschritt der Computertechnologie ab den 1990er-Jahren immer einfacher, große Mengen relationaler Daten (big data) auszuwerten und diese bildlich darzustellen. Die visuelle Repr€asentation von Netzwerken mit mehreren Tausend Akteuren und Millionen von Beziehungen stellt heute technisch kein Problem mehr dar, ebenso die Visualisierung zeitlicher Ver€anderungen von Beziehungsstrukturen. Individualisierbare Einstellungen in den entsprechenden Softwareprogrammen bieten inzwischen fast unz€ahlige Möglichkeiten, Netzwerke so zu visualisieren, dass bestimmte Zusammenh€ange direkt ablesbar sind (Freeman 2000; f€ur die historische Entwicklung insbes. Gamper und Reschke 2010), sei dies durch das Hervorheben, Ein- und Ausblenden entsprechender Merkmale, oder mit Hilfe spezieller Algorithmen wie dem sogenannten „Spring Embedder“-Verfahren,1 das die Akteure gem€aß ihrer Zentralit€at und der Positionierung untereinander im Netzwerk visuell optimal anordnet. Alle bedeutenden Softwareprogramme, wie beispielsweise Gephie, GNU-R, Pajek, UCINET, Visone oder VennMaker, besitzen Visualisierungsanwendungen oder sind sogar haupts€achlich auf die Verbildlichung von Strukturen ausgelegt. Dabei wirken hier der Bedarf (die wachsende Komplexit€at von Beziehungen in einer globalisierten „Netzwerkgesellschaft“, siehe Castells 1996) und die technischen Möglichkeiten (die exponentielle Zunahme von Rechenleistung heutiger Arbeitscomputer) g€ unstig zusammen. Mit Straus (2013, S. 32) l€asst sich so mehr denn je behaupten: „Die Komplexit€at sozialer Netzwerke braucht Visualisierungen“. Die Visualisierung von Informationen ist vom zu verbildlichenden Forschungsgegenstand abh€angig. Daher möchten wir zun€achst die Besonderheiten der Netzwerkforschung und ihre methodologischen wie auch methodischen Voraussetzungen vorstellen, bevor wir die Möglichkeiten der Visualisierung von relationalen Strukturen erörtern. Ganz wesentlich ist dabei die gegenstandsbezogene Unterscheidung der Netzwerkforschung zwischen Gesamt- und egozentrierten Netzwerken sowie methodologisch zwischen qualitativer und quantitativer Netzwerkanalyse. Daraus resultieren auch unterschiedliche Strategien f€ur den Einsatz von Visualisierungen im Verlauf eines Forschungsprozesses, die wir in einer Synopsis veranschaulichen werden. Anschließend werden Verfahren zur visuellen Datenerhebung vorgestellt und idealtypisch abgegrenzt sowie deren Möglichkeiten und Grenzen aufgezeigt. Dabei greifen wir h€aufig auf visuelle Beispiele aus der Netzwerkanalyse zur€uck.

€ber Der „Spring Embedder“ basiert auf einem mathematischen Algorithmus: Die Knoten sind u sogenannte „Federn“ (engl.: spring) miteinander verbunden. Anziehende Kr€afte (durch Beziehungen) und abstoßende Kr€afte (durch benachbarte Knoten) werden ins Gleichgewicht gebracht. Dadurch wird jeder Knoten durch Anziehen und Abstoßen in eine bestimmte Richtung gedr€ uckt, bis am Ende jeder Knoten eine feste Position in einem Netzwerk erreicht hat.

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Schließlich stellen wir grafische Elemente der Netzwerkforschung vor und zeigen, inwieweit diese f€ ur bestimmte Informationsdarstellungen geeignet sind.

2

Soziale Netzwerke: Eine methodologische und methodische Hinführung

Ein Netzwerk kann als eine „abgegrenzte Menge von Knoten oder Elementen und [. . .] [die] Menge der zwischen ihnen verlaufenden sogenannten Kanten“ (Jansen 2006, S. 58) beschrieben werden. Knoten („node“, „actor“, „vertex“) sind z. B. Personen, kollektive Akteure oder z. T. auch Dinge und Tiere. Kanten („tie“, „relation“, „edge“) sind Beziehungen (Kommunikation, Handelsbeziehungen, Informationsweitergabe usw.), welche die Knoten miteinander verbinden. Die Beziehungseigenschaften und die daraus entstehende Einbettung der Akteure in ein soziales Umfeld dienen als Voraussetzung f€ur die Analyse von sozialen Netzwerken. Es wird davon ausgegangen, dass die Eingebundenheit der Akteure in ein soziales Geflecht positive wie auch negative Konsequenzen nach sich ziehen kann, bzw. dass sich bestimmte Akteure unter gewissen Umst€anden zu sozialen Konstellationen verbinden und diese auch subjektive Bedeutungen f€ur die Akteure besitzen. Netzwerke können entweder aus der Sicht eines einzelnen Akteurs betrachtet und gleichzeitig nach außen prinzipiell offen, oder aber nach außen klar abgegrenzt, daf€ ur aber den Beziehungen der Akteure untereinander gewidmet sein. Dementsprechend werden Netzwerke idealtypisch in egozentrierte und Gesamtnetzwerke eingeteilt (Burt 1980; Knoke und Yang 2008).2 Bei der Gesamtnetzwerkanalyse stehen die Beziehungen von Akteuren innerhalb eines vorgegebenen bzw. konstruierten Rahmens im Forschungsfokus. Untersucht werden hierbei nur die Beziehungen einer beschr€ankten Anzahl von Akteuren und der sich daraus ergebenden Netzwerkstruktur innerhalb eines konkreten Sozialraums mit definierten Grenzen (z. B. Schulklasse, Stadtviertel, Kirchengemeinde) (Wasserman und Faust 1994; Laumann et al. 1983). Das wohl erste soziale Netzwerk dieser Art wurde von Johannes Delitsch erhoben (1900). Der P€adagoge widmete sich dem Freundschaftsnetzwerk in einer preußischen Jungenschulklasse im Jahr 1880. In der Visualisierung des Schulnetzwerkes sind die Sch€uler als Knoten abgebildet, die durch Freundschaftsbeziehungen (Kanten) miteinander verbunden sind (vgl. Abb. 1). In der Mitte des Netzwerkes befinden sich die Sch€uler mit den meisten Freundschaftsanfragen. Am Rande des Netzwerkes lassen sich die Personen erkennen, die kaum Freundschaftsanfragen erhalten. Links oben stehen die isolierten Sch€ uler. Der schwarze Rahmen um das Netzwerk markiert dessen Grenze (zur Visualisierung der Studie siehe auch Heidler et al. 2014).

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Neben diesen beiden idealtypischen Differenzierungen existieren auch Netzwerkstudien, die diese beiden Ans€atze miteinander verbinden und damit eine Art Mischform darstellen (Schiffer et al. 2013).

Ans€atze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung

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Abb. 1 Freundschaftsnetzwerk in einer Schule aus dem 19. Jahrhundert. (Quelle: Visualisierung Heidler et al. 2014, S. 10)

Die egozentrierte Netzwerkforschung untersucht hingegen soziale Beziehungen aus der Sicht eines Akteurs (Ego). Ego wird hier nach seinen/ihren Kontaktpersonen (Alteri) gefragt, zu denen er/sie bestimmte Beziehungen (z. B. Freundschaft, Kommunikation, Geldaustausch) unterh€alt (Wolf 2006; Herz 2012). Egozentrierte Netzwerke bestehen im Sinne der Netzwerkdefinition aus Beziehungen eines fokalen Akteurs (Ego) zu anderen Akteuren (Alteri). Werden nur Ego und Personen erhoben, die direkt an ihm anh€angen (adjazent zu Ego sind) spricht man von „First order Star“ (Barnes 1969), werden auch noch die Verbindungen zwischen den Alteri von Ego erhoben, von „First order Zone“. Im Gegensatz zu einer Gesamtnetzwerkanalyse wird hier keine definierte Grenze des Sozialraums vorgegeben, vielmehr steht die soziale Einbettung in das von Ego wahrgenommene soziale Umfeld im Mittelpunkt der Untersuchung (Burt 1984; McCallister und Fischer 1983; Wellman 1979). Als Beispiel f€ ur ein solches egozentriertes Netzwerk dient uns in Abb. 2 das Durchschnittsnetzwerk eines Einwohners von „East York“ in Kanada. Der Soziologe Barry Wellman (1979) ging in dieser Studie der Frage nach, inwieweit sich das Zusammenleben in einem kanadischen Stadtteil durch Einf€uhrung der neuen Kommunikationsmedien ver€andert hat. In der Mitte der Grafik befindet sich Ego; um ihn herum sind seine Alteri (z. B. Freunde, Verwandte, ArbeitskollegInnen) positioniert. Ferner zeigt die Grafik auch die Verbindung zwischen den einzelnen Alteri (Wellman und Berkowitz 1988).

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Abb. 2 Ein typisches egozentriertes Netzwerk eines „East Yorkers“. (Quelle: Wellman und Berkowitz 1988, S. 27)

Gesamt- wie egozentrierte Netzwerke lassen sich mit Hilfe qualitativer oder quantitativer Verfahren erheben. In Feld der Netzwerkforschung dominieren quantitative Verfahren. Strukturierte und standardisierte Methoden zielen vor allem auf die Berechnung von Strukturmaßen, wie beispielsweise Zentralit€at oder Prestige von Akteuren sowie die Dichte von Netzwerken (Pappi 1987; Jansen 2006; Wasserman und Faust 1994; Scott 1997). Im Fokus der Analyse stehen Verteilungseigenschaften von Netzwerkmerkmalen, die Pr€ufung von Hypothesen und Erkl€arungsmodellen sowie der Nachweis von Korrelationen. In den 1990er-Jahren wurde der strukturelle Determinismus, der einen kausalen Zusammenhang zwischen Netzwerken und Handlung postulierte, dabei jedoch die Frage ausblendete, ob Handlungsgelegenheiten auch genutzt werden (Wellman und Berkowitz 1988), immer st€arker kritisiert. Es kam zu einer Art „kultureller Öffnung“ in der Netzwerkforschung und damit zu einer verst€arkten Besch€aftigung mit der Frage, welche Wechselwirkung zwischen kulturell sinnhaften Handlungsoptionen (kulturelle Handlungsmuster) und tats€achlichem Netzwerkhandeln von Akteuren besteht. Emirbayer und Goodwin (1994), Schweizer (1996) sowie Pachucki und Breiger (2010) gehen davon aus, dass kulturelle Faktoren individuelle Merkmale und Handlungen von Individuen sowie soziale Strukturen beeinflussen. Netzwerke sind damit keine gegebenen Wirklichkeiten mehr,

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sondern Konstrukte, die mit Sinn belegt und entsprechend kulturell legitimierter Strategien genutzt werden (White 1992, 2008). Dieses sinnhafte Netzwerkhandeln kann beobachtet und von Akteuren auch beschrieben und begr€undet werden. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Öffnung kommt es immer st€arker zur Anwendung von offenen, narrativen und triangulativen Verfahren bei der Analyse von Beziehungen und den daraus entstehenden Netzwerken (Hollstein und Straus 2006; Schönhuth et al. 2013). Es geht vor allem um die individuellen Geschichten hinter den Knoten und Kanten und den daraus von den Befragten sinnhaft belegten Strukturen.

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Von der Visualisierung sozialer Netzwerke zur Visuellen Netzwerkforschung

Hinsichtlich der Entwicklung der klassischen grafischen Verfahren in der Netzwerkforschung stellt Freeman (2000, o. S.) f€unf Entwicklungsstufen fest: First, beginning in the 1930s, graphic images were produced by hand. They were ad hoc and their success varied with the insight and artistic skill of their creator. Second, in the early 1950s, investigators began to turn to the use of standard computational procedures to produce images. Third, in the 1970s, computers became widely available and began to be used to produce machine drawn images automatically. Fourth, in the 1980s, the presence of personal computers encouraged investigators to develop images that could be displayed on monitors and in color. And fifth and finally, in the 1990s, the availability of browsers and the World Wide Web opened up all sorts of new possibilities for graphic display.

Neben den klassischen grafischen Umsetzungen hat sich im Zuge des angesprochenen „visual turn“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den letzten Jahren auch ein neuer Zweig in der Netzwerkforschung herausgebildet, der mit dem Begriff „Visuelle Netzwerkforschung“ gefasst werden kann (siehe auch Schönhuth et al. 2013; Gamper et al. 2012). Der Unterschied zwischen klassischer Netzwerkanalyse und „Visueller Netzwerkforschung“ liegt in einer zeitlichen wie methodologischen Verschiebung der Visualisierung w€ahrend des Forschungsprozesses, innerhalb dessen der Visualisierung eine viel zentralere Rolle zukommt. Die Netzwerkerhebung beginnt manchmal sogar mit der Visualisierung und der Erhebungsprozess weist oft eine dialogisch-kollaborative, mindestens jedoch eine partizipative Komponente auf. Die folgende Synopsis möchte die unterschiedliche Rolle der Visualisierung in Netzwerkforschungsprozessen in einem Schaubild zusammenfassen (vgl. Abb. 3). Dabei wird der Grad der Partizipation auf der y-Achse abgebildet, deren Spektrum vom klassischen Design, bei dem der Proband bzw. die Probandin im Wesentlichen auf vorgegebene Fragealternativen antwortet, bis hin zu einem offenen Forschungsdesign reicht, in dem die Forschungsbeteiligten den Forschungsprozess dialogisch gestalten. Auf der x-Achse sind die idealtypischen Forschungsphasen, von der Konstruktion der Fragestellung bzw. des Forschungsziels, €uber die Festlegung des Forschungsdesigns, der Datengewinnung, der -auswertung bzw. -interpretation bis

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Abb. 3 Visuelle Elemente im Prozess der Netzwerkforschung. (Quelle: Eigene Darstellung)

hin zur Pr€asentation der Ergebnisse abgetragen. Die Position des jeweiligen Netzwerkerhebungs- oder -analyse-Instruments wird durch diese Parameter n€aher bestimmt, ebenso der Zeitpunkt der Visualisierung. Die Pfeile beschreiben unterschiedliche Verl€aufe und Zeitpunkte im Forschungsprozess, bei denen eine Visualisierung der Netzwerke stattfinden kann. Es zeigt sich, dass der Zeitpunkt der Visualisierung der Daten, die Art der Verbildlichung und die Form der Einbindung der ForschungsteilnehmerInnen dabei je nach Forschungsanlage variieren; ebenso das Ausmaß von deren Partizipation bzw. der Anteil der Visualisierung im gesamten Erhebungsprozess. Der grau markierte Bereich in Abb. 3 zeigt den charakteristischen Ablauf einer typisch quantitativen Netzwerkanalyse, in der die Visualisierung – wenn €uberhaupt – erst im Rahmen des Auswertungsprozesses durch die ForscherInnen relevant wird. Im folgenden Beispiel untersuchten Davis et al. (1941) die Sozialstruktur und die Br€auche von AfroamerikanerInnen und weißen US-B€urgerInnen im Deep South, in der Stadt Old City. Das Augenmerk lag auf dem Zusammenhang zwischen Sozialkontakt und Klassenzugehörigkeit (Davis et al. 1941). Angesichts einer hohen Anzahl von Untersuchungsobjekten, griffen sie bei ihrer Analyse auf Matrizen zur€ uck. In diesem Fall werden im ersten Schritt in standardisierter Form relationale Daten erhoben und anschließend in eine Matrize eingegeben. Die Abb. 4 verdeutlicht dieses Vorgehen, die in diesem Fall in einer so genannten „Two-Mode-Matrix“

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Abb. 4 H€aufigkeit der Teilnahme von Frauen an sozialen Events. (Quelle: Davis et al. 1941, S. 148)

Personen (Frauen) und Ereignisse (kleinere soziale Events) miteinander verbindet. Die Namen der Frauen werden in einer Zeile und das Event, an dem sie jeweils teilgenommen haben, in der entsprechenden Spalte abgetragen (Davis et al. 1941, S. 148). Bei Frauen, die dieselben Events besuchen, wird davon ausgegangen, dass diese sich auch kennen und folglich Beziehungen zwischen ihnen bestehen (Homans 1950). In der klassischen Netzwerkanalyse werden diese Daten auf Basis von mathematischen Algorithmen visualisiert. Vor diesem Hintergrund kann die Analyse und die bildliche Aufbereitung nicht klar voneinander getrennt werden. Beide Forschungsschritte sind in der Abb. 3 deshalb in einem Kategorienblock zusammengefasst, sie werden jedoch durch eine gestrichelte Linie voneinander getrennt. Die strukturelle Korrelation zwischen gemeinsamem Ereignis und Beziehungsunterstellung entspricht dem deterministischen Paradigma der klassischen „strukturalen“ Netzwerkanalyse. Die Daten werden quantifiziert und statistisch analysiert bzw. anschließend, wie beim Schulnetzwerk in Abb. 1, visualisiert. Fr€uher geschah dies h€andisch, heute kann die visuelle Aufbereitung und Analyse mit unterschiedlichen Softwareprogrammen wie beispielweise Gephie, Visone, oder Pajek erfolgen. Der entscheidende qualitative Unterschied zwischen der klassischen Vorgehensweise und der visuellen Netzwerkforschung liegt in dem durch den fr€uhen Zeitpunkt der Visualisierung begr€undeten Zusatznutzen einer kommunikativen Validierung, einer gemeinsamen Reflexion des im Entstehen begriffenen oder gerade entstandenen Netzwerkes von ForschungsteilnehmerInnen und Forschenden. Diese teils iterativen Feedbackschleifen f€uhren zu kommunikativ erhobenen Strukturen, in denen sich auch die „Geschichten hinter den Knoten und Kanten“ narrativ entwickeln lassen. Sie ermöglichen auch ein gemeinsames visuelles Navigieren auf der gerade entstandenen Netzwerkkarte bzw. Netzwerkzeichnung, in der der Zeitpunkt des

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narrativen Nennens eines Akteurs oder einer Beziehung keinen Einfluss auf dessen Rolle im Interview hat, da er jederzeit in der Karte wieder aufgesucht und gemeinsam darauf fokussiert werden kann. Die offenste Form des empirischen Vorgehens stellen zweifellos die aus der Psychologie stammenden Netzwerkzeichnungen dar (z. B. Straus 2002; Schönhuth 2013; Gamper et al. 2012). Der Forschungsteilnehmende bildet hier sein soziales Umfeld ab, indem er es €uber einen Erz€ahlstimulus nach seinen eigenen Vorstellung mit Zeichenstiften auf einem nicht vorstrukturierten, ggf. sogar leeren Blatt Papier rekonstruiert („Paper and Pencil-Methode“). So werden innere Bilder sichtbar gemacht. Dabei steht der unbestreitbare Konstruktionscharakter solcher Bilder (vgl. dazu Buckingham 2009) einer wissenschaftlichen Auswertung nicht prinzipiell entgegen. Die subjektive Sinnzuschreibung erfolgt durch die Beforschten selbst. Die Bewertung erfolgt zun€achst im Rahmen einer kommunikativen Validierung (Heinze und Klusemann 1979; Mayring 2002), d. h. einer Verst€andigung zwischen ForschungsteilnehmerInnen und ForschungsleiterInnen €uber Aussagekraft, mögliche Interpretationen und Konsequenzen der im Bild enthaltenen Aussagen, und fließt dann in die qualitative Analyse ein. Aufgrund der fehlenden Standardisierung ist eine quantitative Auswertung nicht möglich und von der Forschungsanlage her auch nicht gewollt. Eine standardisiertere Visualisierungsform sind Netzwerkkarten. Im Vergleich zu Netzwerkzeichnungen sind diese durch mehr Vorgaben gekennzeichnet. Strukturierung (Positionierung und Informationen €uber Ego sowie Alter) und Standardisierung (Vereinheitlichung) von Attributen werden durch die Forschenden mehr oder weniger stark vorgegeben. So können Netzwerkkarten visuell z. B. durch konzentrische Kreise vorstrukturiert sein. Im Fokus steht in diesem Fall die Erhebung subjektiver Relevanzsetzungen. Die konzentrischen Kreise um das Ego bekommen so vorab keine diskreten Auspr€agungen von Attributen zugewiesen, sind also nicht standardisiert (Gamper et al. 2012). Teilstandardisierung bedeutet hingegen, dass visuelle Items (z. B. konzentrische Kreise, Sektoren) f€ur die ForschungsteilnehmerInnen mit eindeutigen Merkmalsauspr€agungen belegt werden. Beispielsweise wird die jeweilige Bedeutung der Alteri f€ ur Ego (z. B. „sehr wichtig“, „wichtig“, „weniger wichtig“) bestimmten konzentrischen Kreisen zugewiesen. Durch die Standardisierung €uber fixe Stimuli wird die subjektive Beschreibung der Teilnehmenden nicht mehr im Ganzen eingefangen, daf€ ur können die standardisierten Daten quantitativ ausgewertet werden (Hollstein und Pfeffer 2010, S. 4). Ein bekanntes Beispiel f€ur eine solche Visualisierung von Attributen ist die von Kahn und Antonucci (1980) verwendete Darstellung mit drei konzentrischen Kreisen (vgl. Abb. 5). In der Mitte ist Ego positioniert, dargestellt durch ein P. Vom inneren Kreis ausgehend nimmt die Wichtigkeit in Bezug auf Unterst€ utzungsleistungen f€ur Ego ab. Im €außersten Kreis befinden sich Personen, die nur geringe Unterst€utzung f€ur Ego leisten (Kahn und Antonucci 1980, S. 273). Netzwerkkarten können auch strukturiert und völlig standardisiert sein. Mit dem Verlust subjektiver Zuweisungen zu Beziehungen und personenbezogener Attribute können bei dieser Art der Erhebung daf€ur alle quantitativen Daten

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Abb. 5 „Social-Convoy-Model“ und konzentrische Kreise. (Quelle: Kahn und Antonucci 1980, S. 273)

statistisch analysiert werden.3 Anders als beim Fragebogen, bei dem die Forschenden die Strukturen auf Basis der angegebenen Beziehungen analysieren, kann der bzw. die Befragte die Struktur des Netzwerkes im Verlauf der Visualisierung jedoch reflektieren und gegebenenfalls Korrekturen vornehmen. Es kommt zu einer Art „struktureller Validierung“. Ein solches Vorgehen findet sich beispielweise bei Holger von der Lippe und Nina-Sophie Gaede (2013). Mit Hilfe strukturierter und standardisierter Netzwerkkarten gingen die Psychologen den Fragen nach, wie das subjektive Wichtigkeitsnetzwerk junger Erwachsener strukturell zusammengesetzt ist, hinsichtlich welcher Beziehungsqualit€aten sich die Beziehungen unterscheiden und welche Beziehungen das Erleben von subjektiver Relevanz bestimmen (vgl. Abb. 6). Die Unterschiede der Standardisierung und Strukturierung sowie die jeweiligen Vor- und Nachteile der beiden Verfahren sind in Tab. 1 nochmals zusammengefasst.

3

Zu den Unterschieden zwischen Fragebogen- und visueller Erhebung siehe auch Herz und Gamper 2012.

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Meine Familie ein wenig wichtig

wichtig

sehr wichtig

EGO

sehr wichtig

wichtig

ein wenig wichtig Ven

Andere 0.9. Abb. 6 Strukturierte und standardisierte Netzwerkkarte. (Quelle: von der Lippe und Gaede 2013)

Tab. 1 Vergleich von Netzwerkzeichnungen und -karten VERFAHREN NETZWERKZEICHNUNGEN

VORTEILE Gestaltungsfreiheit: Verkn€ upfung unterschiedlicher Dimensionen (Themen, Orte, Personen, Beziehungen) Symboltr€achtige Metaphern Idiografische Elemente (persönlich/kulturell) Explorativ Subjektive Binnenlogik

NETZWERKKARTEN

Vergleichbarkeit Replizierbarkeit Empirisch getestet Analyseorientiert Quantifizierung möglich Lenkbar

Quelle: Schönhuth (2013, S. 61), basierend auf Straus (2002, S. 239)

NACHTEILE Geringe Vergleichbarkeit (eher Einzelfallanalyse) Empirisch bisher mit wenig Varianz Widerst€ande gegen freies Zeichnen Wenig Kontrolle € uber den Ablauf des Interviews (Unsicherheit) Geringere Wahlfreiheit Kulturspezifisch durch Vorgaben Kognitiv „festgezurrt“ (Vorentscheidungen durch Interviewer)

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Vom Papier zum Laptop

Bei der klassischen Netzwerkanalyse lassen sich vorliegende Daten mit Hilfe von Softwareprogrammen €uber mathematische Algorithmen statistisch analysieren und visuell aufbereiten, wobei teilweise Ergebnisse aus Wahrnehmungspsychologie und technischer Farbenlehre ber€ucksichtigt werden. Krempel geht in seiner Studie zur Visualisierung komplexer Strukturen (2005) sogar so weit, Quantit€aten mit diskreten Farbabst€anden zu verkn€upfen, und begr€undet dies am Beispiel seiner Darstellung zu Kapitalverflechtungen der „Deutschland-AG“ wie folgt: „Wenn Farben als gleichartig voneinander entfernt wahrgenommen werden, dann können mit Farben quantitative Daten kommuniziert werden“ (Krempel 2005, S. 42).4 Wichtigstes Ziel der Visualisierung ist hier die vereinfachte Les- und Vermittelbarkeit komplexer Zusammenh€ange. Beck verweist in seinem Buch zu soziologisch informierten Visualisierungen auf den Vorteil solcher Netzwerkbilder. Eindeutige Aussagen lassen sich € uber eine klare Bildsprache leichter erreichen, als € uber Text. Gleichzeitig betont er aber auch deren Januscharakter: Die Visualisierung vermittelt den Eindruck von feststehendem Wissen und Vollst€andigkeit und „verhindert gleichsam auch Nachfragen außerhalb der abgebildeten Verflechtungen“ (Beck 2013, S. 16). F€ ur diese Art der Analyse und bildhaften Aufbereitung existieren schon seit einiger Zeit etliche Softwareprogramme mit unterschiedlichen Schwerpunkten (f€ur einen Überblick J€ unger und Mutzel 2003). Seit einigen Jahren r€ucken daneben visuelle Verfahren bereits bei der visuellen Datenerhebung immer st€arker in den Fokus (siehe auch Straus 2002; Gamper et al. 2012; Schönhuth 2013). Vor diesem Hintergrund wollen wir drei Idealtypen der Erhebung und deren Vor- und Nachteile erörtern: (1) Papier und Stift („Paper and Pencil“); (2) Papier, Stifte und Bausteine („Paper and Toolkit“) sowie (3) digitale Netzwerkkarten. Der wohl bekannteste Vertreter des Paper-and-Pencil-Verfahrens ist das egozentrierte Kreismodell von Kahn und Antonucci (1980). Ähnliche Ans€atze finden sich auch schon in der €alteren Beratungs- bzw. Gesundheitsforschung (Attneave 1975; Curtis 1979). Ego wird dabei mittig platziert. Um es herum werden die InteraktionspartnerInnen je nach emotionaler Wichtigkeit innerhalb konzentrischer Kreise gesetzt (vgl. Abb. 7). Analoge Varianten finden sich z. B. bei Straus (2002) oder in Schönhuth et al. (2013). Die Abb. 8 zeigt eine handgezeichnete Netzwerkkarte eines Migranten aus Ghana. Ein €ahnlicher Ansatz ist das sogenannte Venn-Diagramm (Chambers 1985). Dieses findet seit den 1980er-Jahren in der internationalen Entwicklungsberatung im Rahmen sogenannter Rapid (Rural) Appraisal-Methoden Anwendung (siehe auch Schönhuth und Kievelitz 1993; Schönhuth und Kievelitz 1995) (vgl. Abb. 9). Netzwerke können auch mit Hilfe von Papier, Stiften und Bausteinen („Paper and Toolkit“; vgl. Abb. 10) konstruiert werden. Die Sozialwissenschaftlerin Eva Schiffer entwickelte 2007 (2007a) eine solche Methode der Netzwerkvisualisierung f€ ur das International Food Policy Research Institute (IFPRI). Anders als beim

4

Eine luzide Analyse von Krempels Netzwerkbildern gibt Beck 2013, S. 13 ff.

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Abb. 7 Eine handgezeichnete Netzwerkkarte (Papier-und-Stift-Methode). (Quelle: Olivier 2013, S. 106) Kneisel

Thrum

Rudolf

Köchel

Meyer Eisenreich Bernh. Schubert

R. Müller

Rausch

Hofmann

Neidhardt Meier Reinh. Zimmermann

Schlegel

R. Schubert

Kießling Schnabel

Hergert Röhling

Herold

Pippig

Holzmüller Wolf

Seifert Flach

Meinhold

Vetter

O. Müller

Ebersbach Räubert Pröse

Ernst

Groß

Pfeil Stolze

Fährmann Wilhelm

Böger Fritzsche

Rich. Zimmermann

Pröse

Schneider

Albert Hager Albin Hag er

Bernhardt

Rettig

Pröhl Haas

Legend

Golla

Lasch

Friendship tie Schmidt Schaller

Repeater „Defect“ Sweetiesgiver

Trampler

Rest Size of circle gives position in school ranking. Large size for high position.

Abb. 8 Kapitalverflechtungen in Deutschland 2006: Finanz-Finanz-, Industrie-Industrie- und Finanz-Industriebeteiligungen werden im Original in unterschiedlichen Farben dargestellt. (Quelle: Krempel 2010a, S. 150)

Ans€atze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung

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Abb. 9 Venn-Diagramm (Papier-und-Stift-Methode). (Quelle: Schönhuth und Kievelitz 1995, S. 53 f.)

Abb. 10 Netzwerkkarte, die mit der Papier-Stifte-und-Bausteine-Methode erstellt wurde. (Quelle: Schiffer 2007b, S. 3)

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Paper-and-Pencil-Verfahren werden hier Spielsteine f€ur die Darstellung der Akteure benutzt. Durch das Erhöhen der Stapel (Akteure) kann jetzt auch eine dritte Dimension einbezogen werden, die mit zus€atzlichen Informationen belegbar ist. Bei Schiffer bildet diese dritte Dimension den Aspekt des Einflusses (influence) von Akteuren auf einen bestimmten Sachverhalt ab. Neben diesen h€andischen Erhebungsmethoden existieren auch digitale Verfahren. Diese digitalen Netzwerkzeichnungen oder -karten sind computer- oder auch tabletbasiert und oft auch f€ur andere digitale Endger€ate geeignet (vgl. Abb. 11). Softwareprogramme wie z. B. VennMaker erlauben unterschiedliche Möglichkeiten der Darstellung und Speicherung von Netzwerkdaten. Ein Beispiel f€ur eine solche digitale Netzwerkkarte ist die Abb. 11 von Holger von der Lippe und Nina-Sophie Gaede (2013). Anders als bei den Verfahren mit Papier und Stiften sind Relationen zwischen Ego und Alter bzw. zwischen Alter und Alter im Interviewprozess fast unbegrenzt ver€anderbar. Damit sind die digitalen Netzwerkkarten flexibel und können an die jeweilige Interview-Situation dynamisch angepasst werden. Zweitens werden parallel zum Erhebungsprozess Multimediadateien (Ton und Bild) angelegt. Dies gestattet die Speicherung aller gesprochenen Informationen zusammen mit der Visualisierung. Bei der Analyse kann das Interview dann wie ein Film abgespielt und es können damit die auditiven und visuellen Prozesse zeitsynchron nachvollzogen werden. So lassen sich dichte Informationssituationen mehrfach analysieren. Digitale Karten lassen sich nicht nur in den Forschungssituationen selbst flexibel anpassen, auch L€angsschnitterhebungen werden so handhabbarer. Interviews des Zeitpunkts (t1) können nochmals im Zeitraum (t2) aufgerufen werden. Durch die

Abb. 11 Digitale Netzwerkkarte auf einem elektronischen Whiteboard mit Touch-Screen-Bedienung. (Quelle: VennMaker am interaktiven Whiteboard; eigene Darstellung)

Ans€atze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung

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digitalisierte Form können dar€uber hinaus die Daten relativ leicht versandt und mit Dritten (z. B. ForschungskollegInnen) geteilt und gemeinsam analysiert werden. Auch wird die Datensicherung drastisch vereinfacht, da alle Namen direkt nach dem Interview in Zahlen umgewandelt und anonymisiert werden können. Die Daten der gezeichneten Knoten und Kanten werden automatisch in einer Matrix gespeichert und ermöglichen so eine parallel verlaufende Arbeitsweise, bei der die Erhebung, quantitative Analyse und der Export in Statistikprogramme zeitgleich verlaufen. Da die Karten digital vorliegen, können diese z. B. in öffentliche Pr€asentationen und Publikationen leicht eingebunden werden. Auch ist der Export in Programme zur qualitativen Auswertung, wie ATLAS.ti oder MaxQDA möglich, wodurch die qualitative Analyse vereinfacht wird. Im Vergleich zu anderen Verfahren hat die digitale Erhebung aber auch spezifische Nachteile. So ist eine computerbasierte Datengewinnung nicht f€ur jeden Befragten bzw. jede Befragte handhabbar. Olivier stellte in ihrer Netzwerkerhebung bei ghanaischen RemigrantInnen etwa fest, dass nicht nur soziodemografische Merkmale wie Bildungsstand, Sprachkenntnisse oder Erfahrung im Umgang mit digitalen Medien die Wahl des ad€aquaten Erhebungsverfahrens beeinflussen, sondern auch die Erhebungssituation (Anlass, Zeitpunkt, zeitliche Kapazit€at der Interviewten, weitere Anwesende) unerw€unschte Effekte erzeugen können, weshalb sie in ihrer Studie von der digitalen Karte auf die Paper-and-Pencil-Erhebung zur€uckwechselte (Olivier 2013, S. 108–120; vgl. auch Abb. 8). Auch m€ussen logistische und technische Aspekte ber€ucksichtigt werden (z. B. Akkulaufzeit, das Gewicht und der Schutz vor Diebstahl oder mögliche Besch€adigungen). Helles Tageslicht kann die Wahrnehmung des Displays beeintr€achtigen; Spiegelungen können das Entziffern von Formen, Farben, Schrift und Positionen erschweren; und bei Gruppenbefragungen wird der Meinungsaustausch durch Eingabe mit einer Bildschirmmaus und Tastatur maßgeblich reduziert. W€ahrend die Partizipationschancen am Tisch mit Packpapier und verschiebbaren Knoten (Akteuren/Alteri) potentiell f€ur alle Teilnehmenden in gleichem Maß gegeben sind, hat an einem Whiteboard (vgl. Abb. 10) in der Regel immer nur eine Person direkten Zugriff auf die Netzwerkkarte. In Tab. 2 sollen die Vor- und Nachteile der drei Erhebungsverfahren nochmals zusammengefasst werden.

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Soziale Daten und die Darstellung durch grafische Elemente

Neben der Art des Erhebungsinstruments sowie der Strukturierung spielen auch die grafischen Elemente – die bei allen Arten der visuellen Erhebung essentiell sind – eine bedeutende Rolle f€ur die Datengewinnung und -pr€asentation. Dabei werden grafische Elemente ausgew€ahlter Netzwerkinformationen (z. B. Art der Beziehungen, Geschlecht der Alteri) zugeordnet. Bei der klassischen Netzwerkanalyse versuchen die Forschenden, mit möglichst wenig Aufwand und standardisierten, haupts€achlich optimierten, Algorithmen, die erhobene Netzwerkstruktur (z. B. Zentralit€at, Cliquen, Subgrafen oder Rollen der Alteri) abzubilden. Hierbei wird auf mathema-

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Tab. 2 Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Erhebungsarten ERHEBUNGSART PAPIER UND STIFT („PAPER AND PENCIL“)

VORTEILE Sehr einfach zu bedienen Kosteng€ unstig Flexibel an Interviewsituation anpassbar Keine externe Energiequelle nötig Gruppendiskussion möglich

PAPIER, STIFTE UND BAUSTEINE (PAPER AND TOOLKIT)

Sehr einfach zu bedienen Kosteng€ unstig Flexibel an Interviewsituation anpassbar Keine externe Energiequelle nötig Figuren können verschoben werden Es gibt eine dritte Dimension G€ unstig Gruppendiskussion möglich

DIGITALE NETZWERKZEICHNUNGEN/-KARTEN

Eine Multimediadatei (Ton und Bild gekoppelt) Dateien können einfacher weitergegeben werden L€angsschnitterhebungen sind einfacher möglich Quantitative Daten werden aufgezeichnet und z. T. ausgewertet Flexibel an Interviewsituation anpassbar Automatische quantitative Auswertung Export der Daten (qualitativ/ quantitativ) möglich

NACHTEILE Audio und visuelle Dateien sind nicht gekoppelt Zeichnungen sind nicht mehr ver€anderbar Weitergabe und Vervielf€altigung kompliziert Muss bei einem L€angsschnittdesign immer wieder neu erstellt werden Es werden keine quantitative Daten direkt gespeichert Export von Daten nicht möglich Audio und visuelle Dateien sind nicht gekoppelt Zeichnungen sind nicht mehr ver€anderbar Weitergabe und Vervielf€altigung kompliziert Muss bei einem L€angsschnittdesign immer wieder neu erstellt werden Es werden keine quantitative Daten direkt gespeichert Export von Daten nicht möglich Kostenintensiv Gruppendiskussion nur erschwert möglich Nicht f€ ur jede Person gut geeignet Externe Energiequelle nötig

Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von Schönhuth (2013); Gamper et al. (2012)

tische Verfahren zur€uckgegriffen, um Knoten und Kanten weitgehend automatisch durch das Programm anordnen zu lassen (z. B. wird versucht, sich Schneiden von Kanten zu vermeiden). Nach Krempel (2011) kann die Effizienz eines solchen Vorgehens wie folgt beschrieben werden: „Rules that allow an observer to retrieve the encoded visual information very fast make visualizations effective.“ Ein popul€a-

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Tab. 3 Skalenniveaus und deren geeignetste Visualisierung SKALENNIVEAU QUANTITATIVE (INTERVALL) INFORMATION ORDINAL SKALIERTE INFORMATIONEN NOMINAL SKALIERTE INFORMATION

REIHENFOLGE DER VISUALISIERUNGSVARIABLEN Größe, Farbs€attigung, Farbton, Textur, Form Farbs€attigung, Farbton, Textur, Größe, Form Farbton, Textur, Farbs€attigung, Form, Größe

Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung Pfeffer (2008, S. 235)

res Verfahren ist der schon erw€ahnte „Spring Embedder“. Ein Beispiel f€ur eine solche Darstellung ist das Schulnetzwerk (vgl. Abb. 1). Hier stehen die beliebtesten Sch€ uler nicht nur aus wahrnehmungspsychologischen Gr€unden in der Mitte des Netzwerkes, sondern weil sich dadurch auch visuell irritierende Überschneidungen von Kanten minimieren lassen. Krempel spricht hier explizit von „visual statistics“ (Krempel 2011, S. 26). Grunds€atzlich stehen f€ur die Visualisierungen von Knoten und Kanten eines Netzwerkes mehrere Möglichkeiten zur Verf€ugung. Bertin unterscheidet 1974 in seinem klassischen Werk zu visuell wahrnehmbaren Variationsmöglichkeiten grafischer Zeichen zwischen acht verschiedenen Variablen, die bestimmte Merkmale abbilden sollen bzw. können. Diese sind (1) die Position des Akteurs auf der x- und (2) der y-Achse,5 (3) die Farbe, (4) der Helligkeitswert, (5) das Muster, (6) die Größe und (7) die Richtung sowie (8) die Form des Elements (Bertin 1974, S. 50). Die visuellen Items beziehen sich demnach auf die Akteure (z. B. Rolle, Geschlecht), die Relationen (z. B. schwache oder starke Beziehungen) und den Raum (z. B. geografische N€ahe). Jedoch sind nicht alle dieser Elemente f€ur jede Visualisierung von Auspr€agungen von Information gleich gut geeignet. Vor dem Hintergrund, dass Informationen unterschiedlich skaliert sein können (nominal, ordinal oder metrisch), eignen sich bestimmte visuelle Merkmale zur Darstellung besser und andere weniger gut (Mackinlay 1986, S. 18). Lothar Krempel (2005) und J€urgen Pfeffer (2008) befassen sich mit der Optimierung von Netzwerkillustrationen und haben ein Ranking f€ ur eine optimale Illustration von Variablen (wie z. B. Geschlecht, Rolle der Alteri) erarbeitet, die wir in Tab. 3 zusammengefasst haben. Die Verbindung von Informationen und deren Visualisierung lassen sich in den drei Kategorien Akteur, Relation und Raum verdeutlichen (Gamper und Kronenwett, 2012). Akteur-bezogene Informationstr€ager können in Gro¨ße, Form, Farbe/Farbs€ attigung sowie Textur unterschieden werden. Die Größe der Akteure kann als subjektive Bedeutung (z. B. Wichtigkeit) des Akteurs f€ur Ego wiedergegeben werden. Mit unterschiedlichen Formen und Texturen können z. B. das Geschlecht oder die Position in einem Unternehmen (z. B. mittleres oder oberes Management) abgebildet werden. Farbtöne können z. B. die Rolle (Freund, Familie) der Alteri

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Dies gilt f€ur eine zweidimensionale Darstellung.

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f€ur Ego widerspiegeln und Farben des „actor pie“ können multiple Attribute auf einen Akteur vereinigen. Beispielsweise kann jedes der einzelnen Kuchenst€ucke eine andere Information €uber Alter enthalten wie z. B. Mitgliedschaften in Vereinen (vgl. Abb. 12). Dies ist besonders relevant, wenn Akteure, und mit ihnen die nur an sie gebundenen Eigenschaften auf einer Netzwerkkarte verschoben werden sollen. Beziehungen können anhand der Größe, Farbe/Farbs€attigung, Textur sowie der Richtung der Beziehung differenziert werden. Die Größe der Linien kann die Beziehungsst€arke zwischen den Akteuren darstellen (z. B. wie gut sich die Akteure kennen). Eine weitere Möglichkeit f€ur diese Informationendarstellung ist die Linientextur. Die Farbe der Relation eignet sich gut f€ur die Art der Beziehung. So könnte z. B. eine Liebesbeziehung rot und Feindschaft gelb dargestellt werden. Allerdings sind hier aus ethnologischer Sicht kulturelle Unterscheide in der Bewertung von Farben zu beachten. Denkbar sind auch mehrere gleichzeitig verlaufende Linien, was auf eine multiplexe Beziehungsstruktur hinweist. Die Pfeile zeigen die Richtung von z. B. Austauschbeziehungen, so dass hier auch von gerichteten Relationen die Rede ist. Speziell f€ur Fragestellungen zur Reziprozit€at (z. B. Tauschbeziehungen, Warenverkehr) sind Pfeile essenziell. Dabei wird neben den geraden Linien auch h€aufig auf gebogene Striche zur€uckgegriffen, womit Überschneidungen verringert werden (vgl. Abb. 13). Eine dritte Dimension bietet der Raum bzw. die Positionierung des Akteurs auf der y- und x-Achse. Neben der freien bzw. mathematischen Positionierung der Akteure, etwa durch den „Spring Embedder“, können hier konzentrische Kreise oder auch Sektoren f€ur die Anordnung verwendet werden. Bei ersteren werden die Positionen durch mathematische Algorithmen bestimmt. Hierbei werden die Beziehungen zwischen jedem Knoten bei der Berechnung miteinbezogen und die Akteure zueinander geordnet. Konzentrische Kreise eignen sich besonders zur Repr€asentation der N€ahe eines Akteurs zu Ego und finden speziell bei der visuellen Netzwerk-

Abb. 12 Visuelle Informationen und Akteure. (Quelle: Eigene Darstellung)

Ans€atze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung

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Abb. 13 Visuelle Informationen und Relationen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 14 Visuelle Informationen und der Raum. (Quelle: Eigene Darstellung)

forschung Anwendung, wo die Befragten aufgefordert werden, die Alteri zu verorten. Die einzelnen Kreise können f€ur die geografische, aber auch f€ur emotionale N€ahe stehen. Die Sektoren sollten nur f€ur nominal skalierte Informationen verwendet werden (z. B. Nationalit€at oder Geschlecht). Multiple Informationen auf Sektoren abzubilden ist bei drei Sektoren noch möglich, da hier alle Sektoren aneinander grenzen und deshalb die Grenze zwischen diesen als Zwischenraum genutzt werden kann. Bei vier Sektoren ist dieser nicht mehr vorhanden. Möchte man die Personen nicht doppelt auf der Netzwerkkarte verorten, gilt das Prinzip Entweder- oder (vgl. Abb. 14). Neben den Attributen, die direkt an die Beziehungen oder Personen gekn€upft sind, wie beispielweise subjektive Bedeutung von Alter f€ur Ego oder auch die Art der Beziehung, besitzen in der Netzwerkforschung strukturelle Maße eine große Bedeutung. Diese Strukturmaße sind Kennwerte die sich aus der Zusammensetzung einzelner Beziehungen ergeben und die den Akteuren eine bestimmte Position in einem Netzwerk zuweisen. Wir möchten dies anhand der „Degree-Zentralit€at“ verdeutlichen. Sie gibt die Anzahl der direkten Beziehungen an, die ein Akteur in einem Netzwerk vereint (Freeman 1979). Die Anzahl der Beziehungen bilden so die Ressourcen ab, auf die der Akteur zur€uckgreifen kann. Damit bekommt jeder Akteur

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Abb. 15 Darstellung von „Degree-Zentralit€at“. (Quelle: Krempel 2010b, S. 551)

eine spezielle strukturelle Rolle zugewiesen. Diese Eigenschaft kann mit Hilfe der Größe der Symbole abgebildet werden. Dadurch lassen sich einzelne Positionen der Akteure in einem Netzwerk vergleichen. In unserem fiktiven Beispiel ist es Diane, die mit den meisten Akteuren in dem Netzwerk vernetzt ist, d. h. die größte DegreeZentralit€at aufweist (vgl. Abb. 15). Die Bestimmung der Degree-Zentralit€at gehört bei der klassischen Netzwerkanalyse zum Standardverfahren. Bei der visuellen Erhebung werden solche Maßzahlen meist erst nach dem Interview berechnet und dann ggf. in einem Folgeinterview direkt danach oder sp€ater nochmals mit den Interviewten diskutiert oder von den Forschenden selbst interpretiert. Dies liegt zum einen darin begr€undet, dass die Interviewten ihr Netzwerk aus ihrer subjektiven Sicht darstellen sollen und zum anderen, dass die Erhebungsinstrumente solche Maße nicht simultan w€ahrend des Interviews berechnen können.6

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Fazit

Wie gezeigt werden konnte, ist die Netzwerkanalyse sehr eng mit Visualisierung verbunden. Schon in der Gr€undungsphase spielte die Darstellung von Knoten und Kanten bei der Analyse wie auch der Darstellung der Informationen eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren, insbesondere aufgrund der Entwicklung entsprechender Hard- und Software, sind der Verbildlichung von sozialen Strukturen kaum noch Grenzen gesetzt. Ob dynamische Bilder oder große Datens€atze, es existieren kaum noch Hindernisse bei der Erforschung von Relationen und der Darstellung ihrer Strukturen. Standen anf€anglich die „optimale“ und standardisierte Darstellung von Daten und deren Analyse im Zentrum, hat sich in den letzten Jahren eine Forschungsrichtung herauskristallisiert, die auf die subjektiven Bedeutungen von Relationen abzielt und sich theoretisch unter dem konstruktivistischen Rationalismus 6

VennMaker kann solche Maßzahlen zwar berechnen, sie jedoch nicht visuell darstellen.

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fassen l€asst. Mit Hilfe von Netzwerkzeichnungen und -karten werden Beziehungen und ihre subjektiven Bedeutungen erfasst. Seit einigen Jahren kommt es verst€arkt zum Einsatz digitaler Erhebungsmethoden mit Hilfe von Tablets und Notebooks. Jede dieser Methoden besitzt bestimmte Vor- und Nachteile und nicht alle Methoden sind f€ ur jede Erhebungssituation oder alle Interviewten gleich gut geeignet. Der Einsatz von digitalen Hilfsmitteln ist beispielweise kostenintensiver und kann nichtcomputeraffine Menschen abschrecken. Die Datenanalyse durch die multimediale Aufzeichnung ist hingegen einfacher und weniger zeitintensiv. Neben der Art der Erhebung zeigt sich auch, dass nicht jedes grafische Element f€ur jede erhobene Information gleich gut geeignet ist. Den Forschenden stehen f€ur die Darstellung von Attributen Positionen auf der x- und y-Achse sowie Farben, Helligkeitswerte, Muster, Größen, Richtungen und Formen von Elementen zur Verf€ugung. Je nach Informationsgehalt muss genau abgewogen werden, welche Information auf welchem Element abgetragen werden soll. Auch wenn Bilder mehr sagen können als tausend Worte, zeigen sich bei der Visualisierung von Netzwerken auch Grenzen und Desiderate. Im Allgemeinen ist zu beachten, dass ein Item f€ur weitere Darstellungen nicht mehr zur Verf€ugung steht, wenn es bereits mit einer Information belegt wurde. Deshalb ist es unabdingbar, die optimale Darstellung mit Hilfe von Pretests bereits vor der Visualisierung zu finden. Dies kann viel Zeit in Anspruch nehmen. Es sollte auch beachtet werden, dass die Darstellung von Netzwerken aufgrund der hohen Informationsdichte schnell zu einer Überforderung f€ uhren kann. Die Aussagekraft der Bilder kann damit gemindert werden. Besonders augenscheinlich wird dies in der Netzwerkforschung beim so genannten „Hairball-Effekt“ (vgl. Abb.16). Es wurde noch nicht untersucht, wie viele Informationen durch den Interviewten erkannt bzw. verarbeitet werden können.

Abb. 16 Ein Ausschnitt aus einem WWW-Netzwerk. (Quelle: The Network Thinkers 2006–2014)

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Bei den qualitativen Verfahren zeigt sich auch noch ein Desiderat hinsichtlich des Zusammenspiels zwischen Audiodaten (Interview) und visuellen Daten (Netzwerkkarte/-zeichnung) (Herz et al. 2015) (Abb. 15). Neben dem Problem der Informationsdichte gibt es bisher auch keine Studien dar€ uber, inwieweit z. B. Farben das Antwortverhalten bzw. die Interviewsituation beeinflussen können. Auch m€ussen hier gegebenenfalls kulturelle Parameter, bzw. auf individueller Ebene vorhandene Farbsinnstörungen der Interviewten ber€ucksichtigt werden. W€ahrend bei der klassischen Darstellung von Netzwerken schon viele mathematische Algorithmen existieren, aus denen die ForscherInnen die ideale Darstellung w€ahlen können, ist das Zusammenspiel zwischen Informationsdarstellung und Beeinflussung des Probanden bei der Datenerhebung im Allgemeinen kaum untersucht. Hier herrscht noch großer Forschungsbedarf.

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Ans€atze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung

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Teil IV Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung

Multimodalität als Herausforderung für die Visuelle Kommunikationsforschung H.-J. Bucher

Inhalt 1 Hybride Medienlogik: Zur Multimodalität der Medienkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretische Gründe für eine multimodale Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theorien der Multimodalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Abbildungen ebenso wie Texte oder gesprochene Sprache kommen in der Medienkommunikation nicht isoliert vor, sondern in Kombination mit anderen Modi. Medienkommunikation ist dementsprechend immer multimodal. Insofern stellt der Begriff der visuellen Kommunikation eine Vereinfachung der hybriden Medienlogik dar. Der Beitrag zeigt erstens, zu welchen analytischen Verkürzungen eine Vernachlässigung der intermodalen Relationen führen kann und stellt zweitens die wichtigsten Ansätze zur Multimodalität vor. In einem dritten Schritt wird demonstriert, wie unter einer multimodalen Perspektive zentrale Probleme der visuellen Kommunikationsforschung angegangen werden können.

Schlüsselwörter

Multimodalität · Diskurstheorie · Handlungstheorie · Framing · Bildtheorie

H.-J. Bucher (*) Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_31

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H.-J. Bucher

Hybride Medienlogik: Zur Multimodalität der Medienkommunikation

Es ist ein Allgemeinplatz, dass Abbildungen, ganz gleich welcher Art, in der Medienkommunikation niemals isoliert, sondern immer in Kombination mit anderen Modi der Kommunikation wie geschriebener oder gesprochener Sprache, Musik, Geräuschen oder Design vorkommen. Angesichts von Nachrichten- oder Spielfilmen, Informationsgrafiken, Pressefotografien oder Wissenschaftsbildern ist das nicht nur ein empirischer Sachverhalt, sondern auch die theoretische Konsequenz aus dem modalen Universalismus, der dem Forschungsfeld der Multimodalität zugrunde liegt: Alle Kommunikation ist multimodal (Kress und van Leeuwen 1996; Elleström 2010). Aus diesem Grunde schlägt Mitchell vor, den Begriff der Visuellen Kommunikation für eine Weile in Anführungszeichen zu setzen, um ihn so für eine neue Analyse („fresh investigation“) zugänglich zu machen (Mitchell 2005, S. 264). Geht man also davon aus, dass es keine rein visuellen Medien sondern nur hybride Medien gibt, stellt sich die Frage, ob diese Kategorisierung nicht ihr analytisches Potenzial zur Charakterisierung von Mediengattungen verliert. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht zwingend. Relativiert man den Begriff der visuellen Medien zugunsten eines Begriffs hybrider Medien, so hat das für die Beschreibung der gattungsspezifischen Medienlogik sogar verschiedene Vorteile: Es öffnet den Weg für eine differenziertere Typologie von Medien entsprechend jeweils spezifischer modaler Mischverhältnisse, es rückt die intermodalen Relationen ins Blickfeld und es stellt den Begriff des Visuellen ins Zentrum der Analyse ohne ihn bereits als geklärt vorauszusetzen (siehe dazu Mitchell 2005). Eine Theorie der visuellen Kommunikation muss dementsprechend mehr umfassen als eine Bildtheorie, auch wenn Bildtheorien ein Bestandteil davon sein können. Angesichts dieser Erkenntnislage ist es erstaunlich, dass Bild-, Text-, Sprach- und (Massen-)Kommunikationstheorien ihren Gegenstandsbereich weitestgehend stillschweigend als monomodal voraussetzen: als ausschließlich sprachlich, textuell, bildlich oder in selteneren Fällen als Text-Bild-Verbund (Coleman 2010). Die Tendenz zur Monomodalität findet sich aber nicht nur in der produktanalytischen Medienforschung, sondern beherrscht auch die Forschungsbereiche Medienproduktion, Medienwirkungen und Medienrezeption. Auch in der Visuellen Kommunikationsforschung herrscht die Tendenz vor, visuelle Modi zu isolieren und Medienwirkungen, wie Agenda-Setting oder Framing-Effekte auf „Darstellungseffekte“ von Abbildungen zurückzuführen (Kepplinger 1987) oder „Bildinhalte“ direkt aus „bildimmanenten Besonderheiten“ oder „Bildmotiven“ abzuleiten (Geise und Rössler 2012). Konstruktiv betrachtet steckt hinter einer isolierten Betrachtungsweise von Abbildungen die Annahme, dass Bilder einen spezifischen Beitrag zur Kommunikation leisten und dementsprechend einer besonderen Analyse bedürfen. Solche spezifischen Potenziale weisen allerdings alle Modalitäten auf, weshalb man neben einer Medienlogik auch von einer jeweiligen modalen Logik ausgehen muss. Wie die Logik eines Mediums die Aufbereitung, die Rahmung oder die Sichtweise des Dargestellten beeinflusst (Altheide und Snow 1988), so beeinflussen die verschiedenen Modi als semiotische Potenziale, als Zeichen-Repertoire oder „Brille auf die Welt“ die visuelle, textliche, auditive oder designerische Sinnkonstitution (Bateman

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und Wildfeuer 2014, S. 181–186; Kress 2010, S. 79–102 und 155; Bucher 2007). Die modale Logik liefert jeweils die Gründe, aus denen ein Modus in der Kommunikation eingesetzt wird. Modi erweitern dementsprechend die kommunikativen Potenziale in jeweils spezifischer Weise. Multimodalität ist deshalb nicht nur eine jeweils besondere Konstellation von semiotischen Zeichen, sondern in erster Linie eine Ausweitung kommunikativer Handlungsmöglichkeiten. Für medienbasierte Kommunikation ist ihre Multimodalität konstitutiv. Da jede mediale Repräsentation eine mediumspezifische Präsentation impliziert, erfordert jede Form der Medienkommunikation prinzipiell zwei Typen von Modalitäten: erstens Darstellungsmodi wie Text, Bild und Sprache zur Übermittlung der Inhalte und, zweitens, gattungsspezifische Pr€ asentationsmodi wie Design, Typografie, Farbe, Film- und Bildschnitt, Sound oder Musik zur Aufbereitung für das Publikum. Darüber hinaus eröffnen medienbasierte Kommunikationsformen die Möglichkeit, Darstellungsmodi zu kombinieren, um damit die Repräsentationsleistung zu optimieren. Die jeweils mediengattungsspezifische Kombination von Darstellungs- und Präsentationsmodi konstituiert die Medienlogik, wie sie für die jeweilige Mediengattung typisch ist. Mediengeschichte kann dementsprechend auch als Geschichte einer schrittweisen Multimodalisierung der Medienkommunikation geschrieben werden, die von buchähnlichen Texten mit geringem Layout zu hochkomplexen, dynamischen und multimodalen Arrangements geführt hat (Blum und Bucher 1998; Bucher 2010, 2016). Neu entstandene Mediengattungen sowie die Ausdifferenzierungen bereits etablierter Gattungen lassen sich zurückführen auf eine Erweiterung der jeweiligen modalen Potenziale. In der Geschichte aller Mediengattungen lässt sich beobachten, was Mitchell (2005, S. 262) als „briding“ und „nesting“ beschrieben hat: die Verschmelzung und Integration von einzelnen Kommunikationsmodi. Ausgehend von dem empirischen Befund, dass Medien uns nicht als ausschließlich sprachliche oder visuelle Medien, sondern immer als modal hybride begegnen, werden im Folgenden zwei theoretische Begründungen dafür geliefert, visuelle Kommunikation aus einer multimodalen Perspektive zu analysieren: erstens, die allen Abbildungen eigene Mehrdeutigkeit und zweitens die damit zusammenhängende Kontextabhängigkeit der Rezeption visueller Medienbeiträge. Im dritten Abschnitt werden dann die wichtigsten Multimodalitätstheorien vorgestellt und exemplarisch gezeigt, wie sie auf Formen der visuellen Kommunikation anwendbar sind.

2

Theoretische Gründe für eine multimodale Betrachtungsweise

2.1

Systematische Mehrdeutigkeit – ein Merkmal der modalen Logik von Abbildungen

Eine verbreitete Bildtheorie, wie sie beispielsweise hinter dem vielfach zitierten Ausspruch „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ steht, geht davon aus, dass man den Sinn, das Verständnis eines Bildes allein aus dessen Merkmalen und

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unabhängig von seinem Verwendungskontext ableiten kann. Das gilt beispielsweise für die sogenannte Salienz-Theorie, der zufolge sich ein Bildverständnis aus den salienten Merkmalen eines Bildes konstituiert und zwar in einer Weise, dass sogar ein Bilderkennungsprogramm diesen Sinn erschließen kann (Itti und Koch 2000; eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Auffassung in Bucher 2012b, S. 69–71). Eine solche Dekodierungsauffassung liegt aber auch – zumindest implizit – vielen kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen zugrunde, die sich mit Bildanalysen befassen. Das gilt für das Konzept der „Darstellungseffekte“ (Kepplinger 1987) ebenso wie für die Bildinhaltsanalyse (Grittmann und Lobinger 2011; Geise und Rössler 2012). Der Vorschlag von Kress und van Leeuwen, aus den Vektoren einer Abbildung deren Verständnis oder die Konstellation der Akteure abzuleiten (Kress und van Leeuwen 1996, S. 56–75), oder die Idee, das Framing durch Bilder auf „pictorial style variables“ (Rodriguez und Dimitrova 2011, S. 56) zurückzuführen, basieren ebenfalls auf einem solchen bildzentrierten Dekodierungsmodell. Eine Alternative hierzu ist ein inferentielles Modell, das nicht davon ausgeht, dass Kommunikationsbeiträge – sprachliche, bildliche, grafische – Signale oder Zeichen sind, die Botschaften enthalten, sondern Anzeichen, Hinweise, Anhaltspunkte auf das, was der bzw. die KommunikatorIn meint. Kommunikationsbeiträge zu verstehen bedeutet dementsprechend, aus diesen Anzeichen die Bedeutung und den Sinn, den die AutorInnen ihnen beimessen, abzuleiten – und zwar nicht nur aus dem Kommunikationsbeitrag selbst, sondern auch aus seinem Kontext, seiner jeweils spezifischen Verwendung. Dass man das Verständnis eines Bildes nicht aus dessen Merkmalen dekodieren kann, ist in der modalen Logik des Visuellen begründet: Abbildungen weisen eine modusspezifische Mehrdeutigkeit auf, die nur über deren Kontextualisierungen auflösbar ist. Die von Mitchell getroffene Unterscheidung von „picture“ als materielles Objekt und „image“ als dessen Verständnis „etwas, das in einem picture erscheint“ (Mitchell 2009, S. 322) berücksichtig diesen Umstand ebenso wie die Unterscheidung zwischen Bild und Bildverwendung, auf der Manfred Muckenhaupt (1986) seine Gebrauchstheorie der Bilder aufbaut (siehe auch Scholz 2004, S. 137–197). Sachs-Hombach (2003, S. 81) erklärt die Verwendungsweise von Bildern sogar zu deren konstitutivem Merkmal: „Kein Gegenstand ist von sich aus ein Bild, vielmehr wird er erst dann zum Bild, wenn wir ihn in einer bestimmten Weise verwenden“. Dass das Verständnis eines Bildes diesem nicht immanent ist, wird daran deutlich, dass in der Bildberichterstattung immer wieder Kontroversen darüber geführt werden, was ein Bild zeigt. So wirft die Berliner Zeitung für Abb. 1 selbst die Frage auf, ob hier ein Festgenommener von zwei Polizisten abgeführt wird, oder eine Person durch zwei Polizisten vor Aufständischen in Sicherheit gebracht wird (Abb. 1). Abbildungen benötigen aufgrund ihrer modusspezifischen Deutungsoffenheit eine Kontextualisierung durch andere Modi, damit sie in der Medienkommunikation erfolgreich eingesetzt werden können (siehe auch Dobos et al. 2015). Im Falle von Bildern lassen sich drei Typen der Mehrdeutigkeit unterscheiden (siehe dazu Muckenhaupt 1986, S. 156–162):

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Eine Szene aus der tibetischen Stadt Lhasa: Nach Angaben der staatlich kontrollierten chinesischen Medien wird hier ein Chinese vor Aufständischen in Sicherheit gebracht. Die Nachrichtenagentur AFP dagegen berichtete, der junge Mann werde „gewaltsam“ durch eine Straße geführt Foto: REUTERS Abb. 1 Ein Bild – verschiedene Deutungen. (Quelle: Berliner Morgenpost 17.03.2008)

1. Propositionale Mehrdeutigkeit: dasselbe Bild kann Verschiedenes zeigen (z. B. dass eine Person abgeführt wird oder dass eine Person in Sicherheit gebracht wird) 2. Illokution€ are Mehrdeutigkeit: derselbe Bildinhalt kann zu unterschiedlichen kommunikativen Handlungen eingesetzt werden (z. B. belegen, kritisieren, davor warnen, wie die Polizei eine Person abführt) 3. Intentionale Mehrdeutigkeit: mit demselben Bild können verschiedenen kommunikative Zwecke verfolgt werden (z. B. belegen, dass die chinesische Polizei Aufständische in Tibet unterdrückt oder davor warnen, nach Tibet zu reisen) Diese Deutungsoffenheit begründen die verschiedenen Bildtheorien mit spezifischen Merkmalen der modalen Logik von Abbildungen. Diese Merkmale bildlicher Zeichensysteme lassen sich in zwei Klassen einteilen: syntaktische und semantische Merkmale (Scholz 2004, S. 108). Syntaktische Merkmale, die im Folgenden als erste behandelt werden, konstituieren Deutungsoffenheit durch eine strukturelle Mehrdeutigkeit, semantische Merkmale durch inhaltliche Mehrdeutigkeit. Voraussetzung für die Strukturierung jedes komplexen Zeichenarrangements ist die Identifikation der konstitutiven Einzelcharaktere, aus denen es zusammengesetzt ist. Im Falle von Texten sind das die Buchstaben, deren Einteilung ein Alphabet regelt und aufgrund derer entscheidbar ist, was an einem gedruckten oder geschriebenen Textgebilde oder einem Einzelbuchstaben konstitutiv oder kontingent ist. So

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H.-J. Bucher

kann derselbe Textinhalt mit einem gedruckten oder handgeschriebenen Dokument ausgedrückt werden, da die verwendeten Zeichen als identisch erkannt werden können, obwohl ihre Ausführung verschieden und damit kontingent ist. Ein solches Alphabet liegt für visuelle Zeichen aber nicht vor, so dass im Prinzip jedes Element eines Bildes, jeder feine Unterschied in der Darstellung deutungsrelevant also konstitutiv sein kann (Scholz 2004, S. 112). Aus dieser „Alphabetlosigkeit“ von Abbildungen und der damit verbundenen Unmöglichkeit, konstitutive Elemente eindeutig zu identifizieren folgt: erstens, haben Bilder keine eindeutigen Strukturen, die wir nach syntaktisch richtig oder falsch beurteilen können (Scholz 2004, S. 115–116) und zweitens weisen Abbildungen eine hohe syntaktische Dichte auf, da Farben, Größen, Hell-Dunkel-Abstufungen und Linienstärken unbegrenzt ineinander übergehen. Denn anders als bei Buchstaben oder Zahlzeichen sind solche Elemente einer Abbildung nicht streng disjunkt. Aufgrund der syntaktischen Offenheit von Bildern ist bereits die Zuweisung einer Struktur ein interpretatorischer Akt. Deshalb sind die Grenzen zwischen den in Anlehnung an Panofsky unterschiedenen Interpretationsebenen, der formalen, der ikonologischen und der ikonografischen Ebene nicht eindeutig zu ziehen (Panofsky 1939/1955; siehe auch Müller 2001; Müller und Geise 2015). Mehrdeutigkeiten, die auf die Bildstruktur zurückzuführen sind, liegen beispielsweise vor, wenn das Verhältnis zwischen dargestellten Akteuren unklar ist – wer ist Angreifer und Akteur, wer Verteidiger und Opfer – oder wenn durch den Bildschnitt Elemente so aus einer Abbildung entfernt werden, dass eine andere Konstellation zwischen den dargestellten Akteuren und Objekten entsteht. Man kann die syntaktische Dichte auch als Kriterium verwenden, um verschiedene Typen von Abbildungen auf einem Spektrum anzuordnen: so zeichnen sich Fotografien durch hohe Dichte und geringe syntaktische Disjunktheit der visuellen Merkmale aus. Im Falle von Landkarten, Grafiken, Piktogrammen oder Logos ist es gerade umgekehrt. Die geringe Dichte, also die reduzierte Anzahl relevanter visueller Merkmale, hat eine höhere Disjunktheit zur Folge: In einem Piktogramm, beispielsweise für eine bestimmte Sportart, sind es nur wenige visuelle Merkmale, die für deren Identifikation relevant sind (siehe dazu Sachs-Hombach 2003, S. 198–201; Scholz 2004, S. 129–136). Man kann daraus die These ableiten: Je höher die Dichte einer Abbildung und je geringer die Disjunktheit der einzelnen visuellen Merkmale, desto stärker ist sie von einer expliziten Einbettung, beispielsweise durch einen Begleittext, abhängig. Die semantische Mehrdeutigkeit von Bildern lässt sich darauf zurückführen, dass es sich bei ihnen um Ikone handelt, für deren Verständnis man sich nicht auf soziale Regeln und Konventionen für die Bedeutung einzelner visueller Merkmal stützen kann, sondern auf assoziative Schlüsse angewiesen ist. Ein Ikon zeichnet sich dadurch aus, dass es aufgrund seiner visuellen Merkmale bei den AdressatInnen Assoziationen auslösen kann, auf deren Grundlage diese verstehen, was der bzw. die KommunikatorIn ihnen zu verstehen geben möchte. Wie diese Assoziationen ausfallen, ist aus verschiedenen Gründen offen. Die Wahrnehmungsnähe von Abbildungen (Sachs-Hombach 2003, S. 86–98) verleitet dazu, den Zeichencharakter von Bildern zu übersehen und in einem realistischen Fehlschluss von der Darstellung unmittelbar auf das Dargestellte zu schließen. Ein Bild zu verstehen heißt aber

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immer, es als Darstellung von etwas zu sehen (Wittgenstein 1977, S. 308–311; Muckenhaupt 1986, S. 66–68). Der ikonische Charakter unterscheidet Bilder grundlegend von geschriebener und gesprochener Sprache, die zu einem regel- und konventionsbasiertem, arbiträren Zeichensystem gehören. Bilder werden aus diesem Grund als „natürlicher“ und „realitätsnäher“ wahrgenommen als sprachbasierte Darstellungen (Messaris und Abraham 2001, S. 216–217) und verleiten dadurch zu einer Wirklichkeitsunterstellung (siehe Sachs-Hombach 2003, S. 317–318). Abbildungen weisen eine hohe semantische Fülle auf, was bedeutet, dass eine unbegrenzte Anzahl visueller Merkmale Assoziationsimpulse auslösen können (Scholz 2004, S. 122–136). Je nachdem, welche Merkmale einer Abbildung für Assoziationen genutzt werden, führt das zu unterschiedlichen Deutungen eines Bildes, was sich am Sonderfall der Vexierbilder gut demonstrieren lässt. Aber auch dokumentarische Bilder lassen sich in verschiedenen Kontexten verwenden, wenn ihre semantische Fülle es erlaubt, jeweils unterschiedliche visuelle Merkmale als Interpretationsbasis zu verwenden (ein Beispiel findet sich in Holly 2006). Für manchen Formen der visuellen Kommunikation wie Wissenschaftsbilder (Pauwels 2006) oder auch Comics mir ihren speziellen „pictorial runes“ (Forceville 2011) muss erst gelernt werden, welches die relevanten visuellen Merkmale sind und was sie bedeuten. Die semantische Fülle und der nicht regelbasierte Einsatz visueller Merkmale hat zur Folge, dass Abbildungen ein hohes Konnotationspotenzial aufweisen, so „dass die Zahl der Lektüren [. . .] ein und desselben Bildes für jeden einzelnen verschieden ist“ (Barthes 1990b[1982], S. 41). Auch wenn diese Behauptung Barthes sicher zu stark ist, lässt sich aus den modalen Besonderheiten von Abbildungen schließen, dass diese nicht aus sich selbst heraus interpretierbar, sondern auf Begleitmodi angewiesen sind, wenn sie in der Kommunikation erfolgreich eingesetzt werden. Ihr Verständnis ist dementsprechend nicht mit einem Dekodierungsmodell erklärbar, sondern erfordert aufgrund der spezifischen modalen Logik ein inferentielles Modell. Aus der zeichentheoretischen Einsicht, dass „die Interpretation eines Ikons in hohem Maße kontextabhängig [ist]“ (Keller 1995, S. 127) lässt sich ableiten: Um in der Kommunikation verwendet zu werden, müssen Abbildungen in multimodale Arrangements eingebunden sein. Aus der modalen Logik von Abbildungen ergibt sich die Multimodalität visueller Kommunikation gewissermaßen zwangsläufig.

2.2

Visuelles Framing unter multimodaler Perspektive

Eine der Theorien, auf die in der Visuellen Kommunikationsforschung zurückgegriffen wird, um die Funktionsweise und die sozialen Effekte von Abbildungen in der Medienkommunikation zu erklären, ist die Framing Theorie. „Frame“ oder „Rahmung“ wird als Konzept verstanden, um Medieneffekte in einem sozialkonstruktivistischen Modell auf drei Ebenen zu erklären: auf der Ebene der Kommunikator-Frames, die die Selektions- und Darstellungsprozesse auf journalistischer Seite steuern, auf der Ebene von Medienframes, die sich als Schemata in der Berichterstattung etabliert haben und auf der Ebene individueller Frames, die als Interpretationsschemata die Rezeption medialer Darstellungen steuern (Scheufele

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2003; Entman 1993). Abbildungen werden dabei aufgrund ihrer spezifischen modalen Logik – ihrer Wahrnehmungsnähe, ihrem vermeintlichen Realismus, ihrer Ikonizität – eine höchst wirkungsvolle und wenig offensichtliche Fähigkeit zugeschrieben, das Dargestellte in ein bestimmtes Licht zu rücken, es aus einer bestimmten Perspektive zu zeigen, bestimmte Aspekte hervorzuheben und so eine bestimmte Sichtweise nahezulegen, es also in bestimmter Weise zu „rahmen“ (Coleman 2010; Messaris und Abraham 2001; Geise und Lobinger 2013). Bildern wird sogar im Vergleich zu Texten eine besonders ausgeprägte Rahmungsfunktion, ein sogenannter „picture superiority effect“ zugeschrieben: Sie verleiten die RezipientInnen zu einem peripheren Interpretieren und infolge dessen zu einer intuitiven dokumentarischen Interpretation, wobei sie durch ihren vermeintlichen Realismus gleichzeitig den Konstruktionscharakter der Darstellung verschleiern (Messaris und Abraham 2001, S. 220; Rodriguez und Dimitrova 2011, S. 51–52). Dementsprechend finden sich bereits in verschiedenen Framing-Studien Hinweise „that it is never enough to study framing in one mode of communication and not the other“ (Coleman 2010, S. 237) da „Frames“ für die Deutung des visuell Dargestellten auch durch Titel, Bildzeilen, Beschriftungen oder Begleittexte erstellt werden (Rodriguez und Dimitrova 2011, S. 53; siehe auch Lobinger und Geise 2013). Der Grund für diese Relativierung ausschließlich visueller Framing-Effekte zugunsten einer modusübergreifenden Sichtweise ist begründet in der im vorigen Abschnitt beschriebenen systematischen Deutungsoffenheit von Bildern: Wenn Abbildungen systematisch mehrdeutig sind, können sie auch keine eindeutige Rahmung des Dargestellten bewirken. Vielmehr ist Framing ein multimodales Phänomen, was auch die beiden folgenden Abb. 2 und 3 belegen. Zwar tragen die beiden Fotos ganz entscheidend dazu bei, wie der Tod von Helmut Schmidt jeweils gerahmt wird: als Tod eines großen Staatsmannes oder als Tod eines ganz besonderen Rauchers. Auch die Einstellung, die zum Tod von Schmidt ausgedrückt wird, variiert in den beiden Zeitungen aufgrund der gewählten Visualisierung ganz erheblich: Hochachtung in der S€ uddeutschen Zeitung (SZ) und ironisch-distanzierte Wertschätzung in der tageszeitung (taz). Für das Gesamtverständnis der Darstellung sind aber in beiden Zeitungen eine ganze Reihe von Rahmungsindikatoren zuständig, die aus verschiedenen modalen Zeichensystemen stammen: in der SZ sind es das Porträtfoto, die Schwarz-Weiß-Optik, die Todesanzeigen-ähnliche Betextung mit Namen, Geburts- und Todesdatum, die Platzierung und Größe des vierspaltigen Fotos. In der taz sind die Rahmungsfaktoren der Bildausschnitt, die Betitelung, die nachrichtliche Betextung („Helmut Schmidt gestorben“) und ebenfalls die Größe und Platzierung der Abbildung. Entscheidend ist: Die Rahmungsleistung des Ereignisses erkennen wir nur aus dem Zusammenspiel verschiedener Modi wie Text, Bild, Layout, Farbe und Typografie. Eine multimodale Perspektive erweitert die Palette der Rahmungsindikatoren für Bilder um mehrere Dimensionen: erstens die textliche Dimension, die Kontextinformation für die Deutung einer Abbildung bereitstellt, z. B. für ihren Inhalt (das Dargestellte), den Entstehungskontext oder die publizistische Verwendungsweise (die Darstellungsfunktion als Dokumentation, Belege, Illustration, Werbung etc.). Und zweitens, die Ebene der medienspezifischen Präsentationsform, des Designs.

Multimodalität als Herausforderung für die Visuelle Kommunikationsforschung

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Abb. 2 Aufmacher zum Tode von Helmut Schmidt in der S€ uddeutschen Zeitung. „Helmut Schmidt, 23. Dezember 1918 bis 10. November 2015“. (Quelle: S€ uddeutsche Zeitung, 11.11.2015)

Für Print- und Onlinemedien sind das z. B. Layout, Typografie, Farbe, Bildschnitt, Bildgröße, Bildplatzierung und im Falle von Bewegbildern die filmspezifischen Design-Techniken wie Einstellungsgröße, Kameraführung, Schnitt, Sound und Musik. Das Design kann generell als kommunikatives Mittel betrachtet werden, das das Kommunikationsangebot strukturiert und es in den jeweiligen Kommunikationskontext einordnet durch Hervorhebung, Abgrenzung und Wertigkeitszuweisung (Kress und van Leeuwen 1998, 2001). Design ist aufgrund dieser Basisfunktionen ein Rahmungsmittel par excellence. Operationalisiert man den Framing-Begriff, so wird erkennbar, dass es nicht Bilder sind die „rahmen“, sondern die jeweilige Bildverwendung in einem spezifischen Kontext der Produktion oder der Rezeption. Der Begriff „Frame“ ist insofern mehrdeutig, als sowohl das „Framing durch Bilder“ als auch das „Framing der Bilder“ gemeint sein kann. An dem Schmidt-Beispiel in Abb. 2 und 3 wird deutlich,

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Abb. 3 Aufmacher zum Tode von Helmut Schmidt in die tageszeitung (taz). „Friede seiner Asche. Helmut Schmidt gestorben“. (Quelle: die tageszeitung, 11.11.2015)

dass beides gleichzeitig vorkommt, analytisch aber getrennt werden muss: So wird das Ereignis – der Tod von Helmut Schmidt – durch die Abbildungen gerahmt. Die Abbildungen selbst aber werden durch die Parallel-Modi der Orchestrierung gerahmt. Etwas zu rahmen bedeutet laut Goffmans Definition Antwort zu finden auf die Frage: „Was geht hier eigentlich vor?“ Dies geschieht auf der Grundlage von vier Kriterien: 1. der Perspektive, aus der etwas dargestellt wird, 2. der Selektion und Hervorhebung bestimmter Aspekte des Dargestellten, 3. der Darstellungsabsicht,

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sowie 4. des gewählten zeitlichen oder räumlichen Darstellungsausschnitts (Goffman 1977, S. 16–19; siehe dazu auch Entman 1993; de Vreese 2004). Es ist leicht erkennbar, dass diese Kriterien, die für die Rekonstruktion einer Rahmung konstitutiv sind, durch eine isolierte Betrachtung der Abbildungen oder des Visuellen nicht zu erfüllen sind, sondern Hintergrundwissen und Informationen aus Parallel-Modi erfordern. Man kann dementsprechend festhalten: Aufgrund der in ihrer modalen Logik verankerten endemischen Deutungsoffenheit können Abbildungen das Dargestellte nicht rahmen, genauso wenig wie sie beweisen, dokumentieren oder veranschaulichen können. Man kann Abbildungen allerdings dazu verwenden, diese Funktionen auszuüben, was allerdings einen entsprechenden Verwendungskontext voraussetzt. Dieser wird konstituiert durch begleitende Zeichenarrangements, wie z. B. Text oder Design, die jeweilige Kommunikationssituation oder das Trägermedium, sowie das entsprechende Hintergrundwissen der beteiligten Produzierenden oder Rezipierenden. Eine Analyse des visuellen Framing kann sich dementsprechend nicht auf die visuellen Stimuli beschränken. Aus der Verallgemeinerung dieser Einsicht ergibt sich, dass eine Theorie der visuellen Kommunikation sich nicht ausschließlich auf eine Bildtheorie stützen kann, sondern auch eine Theorie der Multimodalität benötigt. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie eine solche Theorie die Analyse visueller Kommunikation befruchten kann.

3

Theorien der Multimodalität

3.1

Zum Begriff der Multimodalität

Hinweise, dass Medieneffekte nicht von Abbildungen alleine erzeugt werden können, sondern dafür das Zusammenspiel mehrerer Modi verantwortlich ist, gibt es in der Literatur zur Analyse visueller Kommunikation immer wieder (Barnhurst et al. 2004; Mitchell 2005; Martinec und Salway 2005; Rodriguez und Dimitrova 2011, S. 53; Lobinger und Geise 2013). Allerdings finden sich keine systematischen und theoretisch fundierten Ansätze dazu, wie das Zusammenwirken verschiedener Modi zu analysieren und zu erklären ist. Einen Rahmen für die Analyse solcher intermodaler Relationen bieten die verschiedenen Theorien zur Multimodalität, wie sie im Umfeld sprachwissenschaftlicher und zeichentheoretischer Ansätze entwickelt wurden. Grundgedanke dieser Theoriefamilie ist es, dass Kommunikation, und ganz allgemein Sinnvermittlung, nicht nur über sprachliche Zeichen stattfindet, sondern dafür auch Abbildungen, Gestik, Mimik, Farben, Sound, Musik oder Design verwendet werden können. Der Slogan „all texts are multimodal“ (Kress und van Leeuwen 1998, S. 186) bringt diese Ausweitung auf Symbolsysteme verschiedenster Art zum Ausdruck. Text-Bild-Zusammenhänge sind in dieser Forschungstradition zwar eine häufig untersuchte und oft paradigmatisch genutzte multimodale Konstellation, aber eben nur eine unter vielen. Aufgelöst ist unter dieser Perspektive auch die historisch gewachsene modale Hierarchie, der zufolge Sprache und Text einen Leitmodus bilden, dem andere Symbolsysteme untergeordnet sind, indem sie Sprache und Text nur begleiten oder unterstützen. Jedem Symbolsystem werden spezi-

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fische sinn-konstituierende Funktionen zugestanden, auf die in der Kommunikation als Ressourcen zurückgegriffen werden kann. Je nach Mediengattung können dementsprechend unterschiedliche Modi ausgewählt und kombiniert werden, so dass sich mediengattungsspezifische modale Orchestrierungen unterscheiden lassen, in denen die Modi miteinander so interagieren, dass sie einen Gesamtsinn konstituieren. Aus diesen Gründen ist den verschiedenen Multimodalitätstheorien gemeinsam, dass sie das Problem der Kompositionalität multimodaler Kommunikationsbeiträge ins Zentrum stellen: Welchen Beitrag leisten die einzelnen Modi und wie wirken sie bei der Konstituierung des Gesamtsinnes zusammen? Die grundlegende Annahme dabei ist, dass der Gesamtsinn mehr ist als die Summe der Bedeutung einzelner modaler Elemente und dieser dementsprechend nicht additiv sondern „multiplikatorisch“ als intersemiotischer Prozess (Lemke 1998; O’Halloran 1999; Lim 2004) als „Heirat“ oder als „Fusion“ (van Leeuwen 2005) zu erklären ist. Mit dem Begriff der Multimodalität ist untrennbar ein zweiter Begriff verbunden: der Begriff der Non-Linearität. Die Simultanität verschiedener Modi impliziert die Anordnung verschiedener Kommunikationselemente in Raum und Zeit und damit die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit im Rezeptionsprozess selektiv einzusetzen. Für den bzw. die KommunikatorIn ergibt sich daraus die Aufgabe, die modalen Elemente in einer sinnvollen, nachvollziehbaren Weise anzuordnen, sei es auf einer Zeitungsseite oder einer Website (Bucher 2007, S. 58–67). Baldry und Thibault (2005, S. 47) haben darauf hingewiesen, dass die Dimension des Raumes und der damit verbundene Aspekt der Non-Linearität auch auf audiovisuelle Filmbeiträge übertragbar ist: Filme sind aus einzelnen Phasen zusammengesetzt, die ihrerseits eine non-lineare, multimodale Struktur bestehend aus visuellen, textlichen, lautlichen, musikalischen oder sprachlichen Elementen aufweisen (Bucher 2011b). Vor diesem Hintergrund ist die Zentralität des Modus Design zu verstehen: „It is the fact of multimodality itself which needs the notion of design“ (Kress und van Leeuwen 2001, S. 45). Neben der theoretischen Fundierung der Multimodalität sind in dieser Forschungstradition eine ganze Reihe von Detailstudien zu jeweils spezifischen intermodalen Relationen in verschiedenen Mediengattungen entstanden: Studien zu Text-Bild-Beziehungen (Bateman 2008; Lim 2004; Thomas 2014; Knox 2009), Analysen zum Zusammenhang von Design und Text (Kress und van Leeuwen 1998; Barnhurst und Nerone 2001; Bucher 2007, 2013; Holsanova et al. 2008; Martinec und van Leeuwen 2009; Schröder 2010; Adami 2015), oder von gesprochener Sprache, Bewegtbildern, Sound und Musik im Film (van Leeuwen 1999; Bucher 2011b; Schneider und Stöckl 2011; Bateman und Schmidt 2012). Je nachdem, wie die verschiedenen Multimodalitätstheorien die Kompositionalität des Sinns erklären, lassen sie sich in zwei Gruppen einteilen: die zeichenorientierten Ans€ atze und die diskursorientierten Ans€ atze.

3.2

Zeichenorientierte Theorien der Multimodalität

Die zeichenorientierten Multimodalitätstheorien greifen auf zwei Theorietraditionen zurück, um eine übergeordnete Theorie der Bedeutung und des kommunikativen

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Sinns für alle Kommunikationsmodi zu gewinnen: einerseits auf die Semiotik als allgemeine Theorie der Zeichen (Peirce 1990; Barthes 1990a, b) und andererseits auf die system-funktionale Linguistik, wie sie von Halliday (1979, 2004) ausgearbeitet wurde. Aus der Semiotik wird die typologische Einteilung der Zeichen in Index, Symbol, Ikon oder die Unterscheidung zwischen „signifiant“ (das Bezeichnende) und „signifié“ (das Bezeichnete) übernommen (siehe auch den Beitrag von Pfurtscheller in diesem Band), von Hallidays Konzept einer system-funktionalen Linguistik die Auffassung, dass sprachliche Formen und Strukturen sozial bedingt und funktional erklärbar sind (Kress und van Leeuwen 1996; Lim 2004; O’Halloran 2004; van Leeuwen 2005): „The basic premise [. . .] is that Halliday’s systemic model of language may be extended to semiotic codes other than language“ (O’Halloran 1999, S. 317). Der Grundgedanke der von Halliday für linguistische Phänomene entwickelten Theorie besteht darin, dass alle bedeutungstragenden sprachlichen Einheiten drei Grundfunktionen (metafunctions oder modes of meaning) simultan erfüllen: sie drücken Erfahrungen aus und repräsentieren dabei etwas (ideational function), sie etablieren eine soziale Beziehung zwischen KommunikatorInnen und AdressatInnen (interpersonal function) und sie strukturieren den Kommunikationszusammenhang, in dem eine entsprechende Äußerung steht (textual function) (Halliday 2004, S. 29–31). Multimodale Diskurstheorien gehen davon aus, dass Zeichen aus allen Kommunikationsmodi, also Töne, Geräusche, sprachliche Ausdrücke, Farben, Design, Typografie, Abbildungen und Filmsequenzen, bei ihrer Verwendung ebenfalls diese drei Grundfunktionen erfüllen, da diese nicht modusspezifisch sind (Kress und van Leeuwen 1996, S. 40). In einer Grammatik der Zeichen ist dann beschrieben, wie diese Funktionen in den einzelnen Modi realisiert werden. Zur Erklärung intermodaler Relationen greifen die zeichentheoretischen Ansätze auf ein Relationssystem zurück, das Halliday für Textzusammenhänge entwickelt hat (Halliday 2004; Liu und O’Halloran 2009). Für die Zusammenhänge zwischen Sätzen unterscheidet Halliday zwei Grundrelationen, die Projektionen und die Expansionen. Ein Satz projiziert einen anderen entweder als Aussage/Idee oder der zweite Satz erweitert („expands“) den ersten durch Konkretisierung („Elaboration“), durch Ergänzung („Extension“) oder durch Verstärkung („Enhancement“) (siehe dazu Halliday 2004, Kap. 7.2. mit Beispielen auf S. 380). Es ist leicht erkennbar, dass diese Relationstypen sich aufgrund ihrer Allgemeinheit problemlos auf TextBild-Zusammenhänge übertragen lassen: Das Porträt-Foto konkretisiert den Bildtext, indem es die genannte Person zeigt; das Unfallfoto ergänzt den Text um szenische Einzelheiten, die im Text nicht genannt sind; oder der Text situiert ein Foto, das ohne den Text unverständlich bliebe. Überlegungen dieser Art gehen zumeist auf Roland Barthes zurück, der im Rahmen einer „Rhetorik des Bildes“ u. a. auch Text-Bild-Relationen nach Typen der Direktionalität systematisiert hat: sind Text und Bild gleichwertig, bestimmt das Bild den Text oder der Text das Bild (Barthes 1990a, S. 33–37). Die einzelnen Modi werden in den zeichenorientierten Multimodalitätstheorien über den Begriff der semiotischen Ressource erklärt: Jeder Modus zeichnet sich durch spezifische kulturell und sozial bedingte Ressourcen zur Bedeutungskonstituierung aus und eröffnet dementsprechend für die Kommunikation jeweils spezifi-

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sche Optionen, auf deren Grundlage er für die zu lösende Kommunikationsaufgabe ausgewählt wird (Jewitt 2009a, S. 22–24; Kress 2010, S. 80–83). So ordnet Kress den beiden Modi Text und Bild zwei unterschiedliche Darstellungsweisen zu: Sprachliche und textliche Darstellungen sind narrativ und repräsentieren die Welt als Sequenzen von Handlungen und Ereignissen, während visuelle Darstellungen die Welt als Anordnung salienter Objekte nach einer räumlichen Logik darstellen (Kress 2002, S. 8–10; siehe auch O’Halloran 2008, insb. S. 454). Dementsprechend werden mit der Verwendung eines bestimmten Modus jeweils spezifische epistemologische Festlegungen (Kress 2010, S. 16–17) eingegangen: mit Abbildungen beispielsweise r€ aumliche Festlegungen über Entfernung, Größe, Lage oder Konstellation von dargestellten Gegenständen; mit Texten und Bewegtbildern Festlegungen bezüglich zeitlicher Zusammenh€ ange wie Ursache-Wirkung, chronologische Abfolgen oder der Intentionalität einer Handlung. Innerhalb der Familie der zeichenbasierten Multimodalitätstheorien lassen sich aufgrund unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen zwei verschiedene Theorielinien unterscheiden: der system-funktionale Ansatz und der sozial-semiotische Ansatz. System-funktionale Theorien führen jeden Kommunikationsbeitrag auf allgemeine zugrunde liegende Strukturen zurück, die in verschiedenen Schichten angeordnet sind: die Diskursebene, auf der Inhalte und Genres angesiedelt sind, die lexikogrammatische Ebene, auf der die gewählten Zeichen regelhaft angeordnet sind und die Ausdrucksebene, für die lautliche oder typografische Realisierung eines Kommunikationsbeitrags (Halliday 2004, S. 24–25; O’Halloran 2008, S. 448–450). Im Falle multimodaler Kommunikation liegt das Erkenntnisinteresse systemfunktionaler Theorien in „the specification of the system that makes up the grammar of a semiotic resource in order to understand the social and political choices someone has made“ (Jewitt 2009b, S. 33). Nicht der Prozess des sign-making steht hier im Zentrum, sondern ein System oder eine Grammatik multimodaler Ausdrucksformen oder Ressourcen. Ein Ziel dieser strukturalistischen Ansätze ist es, Text-BildZusammenhänge nach dem Muster grammatikalisch-linguistischer Ansätze zu analysieren (Liu und O’Halloran 2009, S. 367). In der zweiten Theorielinie, dem sozial-semiotischen Ansatz stehen nicht strukturelle Aspekte im Vordergrund, sondern die dynamische Bedeutungskonstituierung im Diskurs, das sign-making: „signs are made – not used“ heißt es bei Kress (2010, S. 62). Unter einer solchen Perspektive rückt auch die performative Dimension der Kommunikation, also die konkrete Umsetzung in einer spezifischen Kommunikationssituation, ins Zentrum der Analyse, was an der zentralen Stellung des Modus „Design“ in sozial-semiotischen Modalitätstheorien deutlich wird: „Designs are means to realise discourses in the context of a given communication situation“ (Kress und van Leeuwen 1996, S. 5). Design, wozu auch die filmischen Gestaltungsmittel wie Schnitt, Einstellung, Perspektive oder Beleuchtung, sowie Gestik und Mimik in der direkten Kommunikation gehören, wird als Modus behandelt, der die Kohärenz in einem multimodalen Arrangement sichert, in dem es beispielsweise durch Platzierung Informationswerte ausdrückt, Elemente hervorhebt („salience“) und Elemente kombiniert („framing“) (Kress und van Leeuwen 1998; Kress 2010, Kap. 7). Design ist somit der Modus, durch den die von Halliday unterschiedene

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Metafunktion der textuellen Organisation umgesetzt wird. Generell gesprochen ist Design ein Mittel zur Kontextualisierung von Kommunikationselementen in einer non-linearen kommunikativen Umgebung (Kress und van Leeuwen 2001, S. 45). Das gilt für das Zeitungslayout, das die Beiträge sinnhaft auf einer Seite anordnet, aber auch für das Sounddesign, das Filmsequenzen mit einer narrativen Struktur unterlegen kann. Mit dem Design hat die Multimodalitätsforschung ein neues visuelles Zeichensystem als Gegenstand der visuellen Kommunikationsforschung etabliert. Gegenstand visueller Analysen sind demzufolge nicht nur darstellende Modi, sondern auch performativ-repr€ asentierende (Bucher 2013, S. 64–77). Erst durch die Berücksichtigung dieser Dimensionen rückt ins Blickfeld, dass durch die Gestaltung sequenzieller Übergänge (z. B. in Filmsequenzen oder zwischen PowerPoint-Folien), sowie die räumliche Anordnung von kommunikativen Elementen auf einem Interface (z. B. einer Zeitungsseite oder einem Bildschirm), Sinn und Bedeutung konstruiert werden. In der Rezeption zeichentheoretischer Multimodalitätstheorien sind insbesondere zwei Probleme diskutiert worden, die sich zum Teil als Erbe ihrer strukturalistischen und semiotischen Tradition erweisen (Bateman 2014, S. 205–238; Bucher 2011a, S. 127–138). Der erste Einwand betrifft die Erklärung der Kompositionalität multimodaler Arrangements, für die auf ein begrenztes Repertoire semantischer Relationen zurückgegriffen wird, wie „Erweiterung“ („expansion“), „Konkretisierung“ („elaboration“), „Ergänzung“ („extension“), „Verstärkung“ („enhancement“) oder „Rekontextualisierung“ („re-contextualisation“), wie sie in der Sprachwissenschaft für die Zusammenhänge zwischen Sätzen entwickelt wurden (Halliday 2004, Kap. 7.2). Beschreibt man eine Relation zwischen zwei Elementen E1 und E2 als Ergänzung im Sinn Hallidays als „adding some new element“, oder diagnostiziert „intersemiotic parallelism“ zwischen Text und Bild (Liu und O’Halloran 2009, S. 372), so setzt das voraus, dass man die beiden Elemente isoliert und unabhängig voneinander verstehen kann. Nur auf dieser Grundlage lässt sich feststellen, ob und inwiefern Element E2 Element E1 ergänzt oder ein Bild dasselbe ausdrückt wie ein Text. Daraus folgt, dass diese Art der Erklärung intermodaler Zusammenhänge das Kompositionalitätsproblem bereits als gelöst voraussetzen muss, das Explanans wird zum Explanandum. Die Beispiele in den Abb. 1 bis 4 zeigen aber gerade, dass die Elemente Text und Bild nicht unabhängig voneinander verstanden werden können und sich der Gesamtsinn gerade aus der wechselseitigen Kontextualisierung ergibt. Für diese Dynamik der Interpretation multimodaler Arrangements bieten die zeichenorientierten Theorien keine hinreichende Erklärung, da sie – ganz in der Tradition semiotischer Ansätze – den Zeichen selbst Bedeutung zuschreiben und diese nicht in der Verwendungsweise der Zeichen verorten (siehe Keller 1995). Wie normativ und unzutreffend eine solche Kodierauffassung der Bedeutung sein kann, zeigt sich, wenn Platzierungen auf der Zeitungsseite fixe Bedeutungen zugewiesen werden, obwohl diese je nach Zeitung und Kultur sehr Unterschiedliches ausdrücken können (Kress und van Leeuwen 1998; kritisch dazu Bateman 2008, S. 44–46; Bucher 2007, S. 54–58). Ein zweiter Einwand betrifft die Übergeneralisierung des spontanen Zeicheneinsatzes, des sign-making, wie sie in der Aussage „signs are made rather than used“

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(Kress 2010, S. 62) zum Ausdruck kommt. Nicht in jeder Kommunikationssituation werden Zeichen erst im Gebrauch gemacht, wie das beispielsweise mit Gesten der Fall ist, wenn keine gemeinsame Sprache gesprochen wird oder im Falle eines Fotografen, der vor Ort eine Kameraeinstellung sucht, um z. B. die Isolation eines bestimmten Politikers zu visualisieren. Der Standardfall ist aber der routinierte Einsatz sprachlicher und bildlicher Zeichen, bei dem auf etablierte Regeln, Präzedenzfälle, Normen und Prinzipien zurückgegriffen wird, die auch bei den Adressaten als bekannt vorausgesetzt werden. Die gemeinsam bekannte soziale Routine wird im sozial-semiotischen Ansatz durch das Konzept der „Transparenz“ ersetzt: Man nutzt die modalen Ressourcen, von denen man annimmt, dass sie auch die Adressaten als Zeichen einsetzen würden (siehe Kress 2010, S. 64–65). Der explizite Verzicht auf eine Theorie des Zeichengebrauchs und die Ersetzung der Arbitrarität des Zeichens durch seine Motiviertheit und Transparenz löst allerdings das Problem der Kompositionalität nicht, sondern schafft ein weiteres Erklärungsproblem, das im Rahmen einer zeichenorientierten Theorie nicht gelöst werden kann: das Problem, gelungene Verständigung mit multimodalen Orchestrierungen zu erklären. Eine Lösung liegt darin, Kommunikation nicht nur über die Transparenz von Zeichen zu erklären, sondern auf der Basis der mit dem Zeichengebrauch vollzogenen Handlungen. Kommunikation ist nicht der erfolgreiche Austausch von Zeichen, sondern die Koordination von Handlungen, wobei die Zeichen Mittel zum Zweck sind (Tomasello 2009, insb. Kap. 3.3). Diskursorientierte Ansätze der Multimodalität setzen an dieser Stelle an und klären das Problem der Kompositionalität im Rahmen einer übergeordneten Theorie des kommunikativen Gebrauchs von Zeichen in multimodalen Orchestrierungen. Multimodalität wird in dieser Perspektive nicht als komplexes Zeichenarrangement sondern als komplexe Handlungsoption verstanden.

3.3

Diskursorientierte Theorien der Multimodalität

Ausgehend von den genannten Schwächen zeichenorientierter Multimodalitätstheorien greifen diskursorientierte Ansätze auf Theorien zurück, die multimodale Kommunikation nicht auf der Grundlage eines Zeichensystems erklären, sondern auf der Grundlage sozialer Kooperation in Diskursen. Intermodale Relationen, z. B. zwischen Text und Bild oder Sound und Film, werden dabei nicht als Zeichenkonstellationen sondern als Diskurszusammenhänge betrachtet. Das Meaning-Making in der Kommunikation wird als Dynamik der Diskursentfaltung nach räumlich-konstellativen (z. B. in Printmedien) oder zeitlich-sequenziellen Mustern (z. B. in Filmen) beschrieben. Die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Modalitäten werden nicht auf der Ebene einer gemeinsamen Syntax oder identischer Metafunktionen gesucht, sondern werden auf einer abstrakteren Ebene der Kommunikations- oder Diskursmuster angesiedelt. Die Gemeinsamkeit aller Modi besteht darin, dass sie je nach ihrer Logik als kommunikative Mittel zur Konstituierung eines Diskurses eingesetzt werden können. Einzelne Modi in einem multimodalen Arrangement werden dementsprechend in der Analyse nicht isoliert betrachtet, sondern als Bestandteile eines übergeordneten, komplexeren Diskurses oder Handlungszusam-

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menhangs, wie dem Erzählen, dem Berichten, dem Argumentieren oder dem Werben für ein Produkt. Gemeinsam ist diesen diskursorientierten Ansätzen, dass sie das Verstehen und Interpretieren multimodaler Arrangements nicht als Dekodierung einer feststehenden Relation zwischen Zeichen und ihrer Bedeutung sehen, sondern als Inferenz, bei der der Sinn der verwendeten Zeichen auf der Basis ihrer wahrnehmungsnahen Merkmale, ihrer regel- oder routinemäßigen Verwendung und auf der Basis des jeweiligen Verwendungskontextes abgeleitet werden. Um die Leistungsmerkmale eines Modus oder die intermodalen Relationen zu beschreiben, wird nicht mehr auf semiotische Metafunktionen zurückgegriffen, die Zeichen direkt mit Bedeutungen verbinden, sondern auf Beschreibungskategorien aus der Analyse von Kommunikationsprozessen wie Handlung, Intention, Dialogmuster, Implikation, Relevanz, Kontext oder Wissen (siehe dazu Fritz 2013). Gegenüber den zeichenorientierten Ansätzen geht eine inferentielle Theorie der Multimodalität auf der Basis dieser Begriffe von einer indirekten Beziehung zwischen materiellen Merkmalen und der Bedeutungszuschreibung aus (siehe Bateman 2016, S. 44) aus. Die abstraktere Ebene, auf der Modi und intermodale Relationen analysiert werden, ist entweder eine Diskurstheorie (Bateman 2011; Bateman und Schmidt 2012; Bateman und Wildfeuer 2014), eine Kooperationstheorie (Forceville 2014) oder einer Theorie des kommunikativen Handelns (Bucher 2007, 2011a; Fritz 2013). Die Diskurstheorie der Multimodalität betont einerseits die Materialabhängigkeit jedes Modus, da materielle Spuren einer Modalität, z. B. Tonhöhe bei gesprochener Sprache, Typografie eines Textes, Farbabstufungen oder Bildschnitt bei einer Abbildung, als Auslöser für Bedeutungszuweisungen fungieren. Welche Merkmale einer Modalität allerdings relevant für eine Deutung sind, und was sie jeweils bedeuten, ergibt sich erst aus dem übergeordneten Diskurszusammenhang, wenn also die materielle Ebene in eine diskursive eingebettet wird (Bateman und Wildfeuer 2014, S. 183; Bateman 2011, S. 19–20). Intermodale Relationen werden als Diskursmuster wie Erklärung, Erzählung, Kontrastierung, Parallelisierung beschrieben, die teilweise an die relationsgrammatische Typologie erinnern und aus sprachwissenschaftlichen Diskurstheorien übernommen werden (Bateman 2014, S. 205–221). Auf der Grundlage eines inferentiellen Modells für den Zusammenhang zwischen modalen Merkmalen und diskursivem Sinn zeigen Bateman und Schmidt (2012), wie man Kategorien der Filmanalyse, wie Einstellung, Schnitt, Kameraführung etc., in eine Diskursanalyse audiovisueller Medien einbinden kann. Kooperationstheorien, die auch als pragmatische Kommunikationstheorien („pragmatics“) bezeichnet werden, gehen davon aus, dass Kommunikation eine rationale, wechselseitige Koordination der Akteure darstellt (Sperber und Wilson 2012). Im Zentrum dieser Theoriegruppe steht das Interesse, Diskursstrukturen mit Hilfe der Begriffe „Inferenz“ und „Kohärenz“ zu erklären, was sie für eine Multimodalitätstheorie hochgradig anschlussfähig macht. Die Kooperationstheorie behandelt multimodale Kommunikation im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Kommunikation und Kognition, die als ostensiv-inferentiell charakterisiert wird: „It is clear to both sender and adressee that the sender wants the adressee to be aware that she directs a message to him and that he is to infer relevant information from this message“ (Forceville 2014, S. 53). Diese von KommunikatorInnen und AdressatIn-

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nen wechselseitig unterstellte Intention zum erfolgreichen Kommunizieren ist die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt und damit Voraussetzung dafür, dass der Inferenz-Prozess ausgelöst wird. Die Kooperationstheorie geht davon aus, dass der Sinn eines Kommunikationsbeitrags nicht aus dessen linguistischen oder visuellen Merkmalen abgeleitet werden kann, sondern implizit ist und auf der Basis von Kontextwissen sowie allgemeinen Kommunikationsprinzipien erschlossen werden muss. Dieses inferentielle Modell des Verstehens ist durch den Sprachphilosophen H. P. Grice (1975) eingeführt und durch Sperber und Wilson (1986) weiter ausgearbeitet worden (ausführlich dazu Fritz 2013, S. 363–395). Als Prinzipien, die die Inferenz steuern, hat Grice ein grundlegendes Kooperationsprinzip angenommen, das durch weitere Maximen spezifiziert wird: die Maxime der Verständlichkeit, der Informativität, der Wahrhaftigkeit und der Relevanz (Grice 1975; Sperber und Wilson 1986). Diese Maximen sind nicht normativ sondern konstitutiv zu verstehen: sie bilden die „Infrastruktur menschlicher Kommunikation“ und sind Voraussetzung für „geteilte Intentionalität“ (Tomasello 2009, S. 112– 117). Nur wenn KommunikationspartnerInnen sich wechselseitig die Befolgung dieser Prinzipien unterstellen, ist kommunikative Verständigung möglich. Die Ableitung des Sinns eines multimodalen Arrangements wird im Rahmen einer Kooperationstheorie als Prozess einer schrittweisen Rekonstruktion erklärt: Auf der Basis der Kooperationsannahme geht der Rezipient bzw. die Rezipientin davon aus, dass die einzelnen modalen Elemente in einem sinnvollen, nachvollziehbaren Zusammenhang stehen, mit ihrer Kombination die Kooperationsprinzipien berücksichtigt sind und die jeweiligen intermodalen Relationen schrittweise durch wechselseitige Kontextualisierung der einzelnen Modi erschlossen werden können. Auf Basis einer Kooperationstheorie kann Abb. 4 folgendermaßen analysiert werden. Weder das Foto alleine, noch die Überschrift oder der Vorspann haben für sich genug semantisches Potenzial, um die volle Bedeutung dieser Seite zu enthüllen. Die Bedeutung, der Sinn dieses multimodalen Arrangements ergibt sich deshalb nicht aus der Addition der Bedeutung von Foto, Überschrift und Vorspann, sondern aus deren Zusammenwirken: Was mit dem Ausdruck „Onkel Baracks Hütte“ gemeint ist, zeigt erst das Foto. Dass die Abbildung des Weißen Hauses als künftiger Wohnsitz von Barack Obama dargestellt wird, lässt sich nur mit Hilfe des Schlagzeilentextes rekonstruieren. Darüber hinaus müssen für ein Gesamtverständnis des Beitrags in der tageszeitung aber eine ganze Reihe von Wissensvoraussetzungen erfüllt sein: Die RezipientInnen müssen das multimodale Arrangement als Aufmacher verstehen, mit dem eine realweltliche Begebenheit – der Vorwahlkampf von 2008 zwischen Barack Obama und Hillary Clinton – berichtet wird. Sie müssen erkennen, dass auf dem Foto der Amtssitz des US-Präsidenten, das Weiße Haus in Washington, abgebildet ist. Sie müssen wissen, dass es ein Buch mit den Titel „Onkel Toms Hütte“ gibt, das in den USA als einer der einflussreichsten Romane gegen Sklaverei und Rassismus gilt. Auf der Basis dieser Wissensbestände kann mit Hilfe der Kommunikationsmaximen aus den Merkmalen der Text-BildKonstellation abgeleitet werden, dass die Schlagzeile als Wortspiel gemeint ist, mit dem im Rahmen der Berichterstattung auf die historische Dimension der Nominierung von Barack Obama als Präsidentschaftskandidat angespielt wird. Die Inferenz,

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Abb. 4 Titelseite die tageszeitung zu Barack Obamas Sieg über Hillary Clinton in den Vorwahlen des US-Wahlkampfes. „Onkel Baracks Hütte“. (Quelle: die tageszeitung 05.06.2008)

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also der Interpretationsprozess, wird dadurch ausgelöst, dass die RezipientInnen die Befolgung der Maximen voraussetzen: also dass die tageszeitung etwas zu verstehen geben will, dass die vorausgesetzten Sachverhalte – der Sieg Obamas über Clinton – stimmen, dass Bild und Text in einem nachvollziehbaren Zusammenhang stehen und wechselseitig für einander relevant sind, und dass das gesamte Arrangement für die RezipientInnen unter der gegebenen Nachrichtenlage auch informativ ist. Die Blickdaten in Abb. 5 dokumentieren, wie das Text-Bild-Arrangement gelesen wird und liefern den empirischen Beleg für diesen Inferenzprozess. Sie zeigen, dass RezipientInnen nicht Schlagzeile, Abbildungen und Vorspann sequenziell rezipieren, sondern integrativ: sie erarbeiten sich das Gesamtverständnis in einem Interpretationsprozess, bei dem sie die einzelnen modalen Elemente zur wechselseitigen Erhellung nutzen. Eine Theorie des kommunikativen Handelns auf multimodale Formen der Kommunikationsformen anzuwenden, ist naheliegend, da nahezu alle der bisher dargestellten Ansätze mit Handlungskategorien operieren, ohne dies explizit zu thematisieren. Sowohl die in den zeichenbasierten Ansätzen verwendeten Kategorien zur Beschreibung intermodaler Relationen wie Extension, Konkretisierung, Erg€ anzung etc. als auch die in der Diskurstheorie genutzten Begriffe wie Erz€ ahlung oder Kontrastierung sind bereits Handlungskategorien. Sie bezeichnen nicht Relationen zwischen Zeichen eines multimodalen Arrangements oder Bedeutungsbeziehungen zwischen Diskursteilen, sondern komplexe Handlungen, die Akteure unter Verwendung verschiedener Modi vollziehen – beispielsweise ein Bild zeigen, um eine Personenbeschreibung zu konkretisieren oder einen Bericht durch eine Infografik erg€ anzen (Bucher 2010, S. 58–65; Fritz 2013, S. 126–133). Multimodal ist ein Kommunikationsangebot nicht deshalb, weil es Zeichen unterschiedlichen Typs kombiniert, sondern weil komplexe kommunikative Handlungen – z. B. des Erzählens, des Berichtens oder des Werbens – mit verschiedenen modalen Ressourcen vollzogen werden. Eine Theorie des kommunikativen Handelns kann dementsprechend die bisher aufgeführten Ansätze in einer umfassenden Theorie der Multimodalität integrieren. Wählt man eine solche Theorie als übergeordneten Rahmen, so lassen sich die Ressourcen der verschiedenen Modi als Handlungspotenziale beschreiben, in deren Rahmen sie in der Kommunikation eingesetzt werden. Eine Theorie des kommunikativen Handels löst aber nicht nur Kategorienprobleme anderer Ansätze, sondern liefert auch Analysewerkzeuge zur Beschreibung multimodaler Arrangements. Kommunikative Handlungen können auf drei verschiedene Arten kombiniert werden (Fritz 2013, S. 44–49 und 69–66): Sie können erstens durch einen Und-dann-Zusammenhang verbunden sein: In einer Nachrichtensendung wird eine Person (mit einem Text) eingeführt und dann in einem Bild gezeigt. Zweitens können Handlungen auch gleichzeitig ausgeführt werden: Mit einem Text wird über ein Ereignis berichtet und gleichzeitig wird mit der Aufmachung ausgedrückt, dass dieser Bericht der Aufmacher des Tages ist. Kommunikationsformate wie Filmbeiträge oder Vorträge mit Projektionen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass Und-dann-Zusammenh€ ange und Und-gleichzeitig-Zusammenh€ ange miteinander kombiniert werden (Bucher 2012a). Die Idee, dass der multimodale Sinn multiplikatorisch erzeugt wird (Lemke 1998; O’Halloran 2008; Lim 2004), das

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Abb. 5 Blickdaten zur Erschließung des Aufmachers auf der Titelseite. (Quelle: die tageszeitung vom 05.06.2008, Blickverlauf: eigene Darstellung)

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Ganze also mehr ist als die Summe seiner Teile, kann durch einen dritten Zusammenhangstyp operationalisiert werden, der in der Handlungstheorie gut eingeführt ist: der sogenannte Indem-Zusammenhang. Man kann eine komplexe Handlung vollziehen, indem man andere, weniger komplexe Handlungen vollzieht. Man kann also – um das Beispiel von Abb. 4 aufzugreifen – über den Sieg Obamas in den Vorwahlen berichten, indem man auf die historische Dimension der Nominierung von Barack Obama hinweist, indem man in der Schlagzeile auf einen berühmten antirassistischen Roman anspielt, indem man formuliert „Onkel Baracks Hütte“ und indem man gleichzeitig das Weiße Haus zeigt. Eine Handlungstheorie der Multimodalität liefert auch die Grundlage für eine Theorie des multimodalen Verstehens: Multimodale Angebote sind komplexe Stimuli, die nicht auf einen Schlag erfasst werden, sondern Schritt für Schritt unter Rückgriff auf Vorwissen, Annahmen über die Kommunikatoren und unterstellten Kommunikationsprinzipien „interaktiv“ erschlossen werden (ausführlicher Bucher 2012b, S. 67–74; Bucher und Schumacher 2006; Holsanova 2011).

4

Fazit

Begreift man Medien als Form multimodaler Kommunikation, ist es folgerichtig, dem Ratschlag von Mitchell zu folgen und den Begriff „Visuelle Kommunikation“ für eine Weile zwischen Anführungsstriche zu stellen, um ihn für „fresh investigations“ zu öffnen (Mitchell 2005, S. 264). „Frisch“ ist eine multimodale Perspektive auf visuelle Kommunikation insofern, als sie deren Analyse um verschiedene Dimensionen und Aspekte erweitert. a. Die Erweiterung des Gegenstandsbereichs: Als visuelle Elemente der Medienanalyse gelten unter einer multimodalen Perspektive nicht nur die Abbildungen, sondern alles, was die Performanz eines Medienbeitrags – seine medienspezifische Präsentation mittels Design – umfasst. Für Print- und Online-Medien sind das die „form of news“, also „everything a newspaper does to present the look of news“ (Barnhurst und Nerone 2001, S. 3), für audio- und audio-visuelle Medien alle Aspekte des Sound- und Filmdesigns, wie Einstellungsgröße, Kameraperspektive, Original-Ton oder Musik. Als Mittel zur Situierung und Kontextualisierung der eingesetzten modalen Elemente erhält das Design im Rahmen einer Multimodalitätstheorie eine klar funktionale Bestimmung. Das was in den kommunikationswissenschaftlichen Theorien der visuellen Analyse als „Oberflächenstruktur des Bildes“ (Geise und Rössler 2012) oder als „Darstellungsästhetik“ (Grittmann und Ammann 2011) unterschieden und einer isolierten Analyse unterzogen wird, kann als performative Diskursebene in die Rekonstruktion der medialen Sinnkonstruktion integriert werden. b. Mediengattungen als modale Hybride: Unter einer multimodalen Perspektive erweitern sich die Möglichkeiten, Mediengattungen auf der Produktebene jeweils nach spezifischen modalen Mischungsverhältnissen zu analysieren – weit über

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eine Text-Bild-Systematik hinaus. Die gattungsspezifischen Kommunikationspotenziale lassen sich dabei aus den modalen Logiken der einzelnen Modi und den damit jeweils gegebenen „epistemischen Commitments“ ableiten. Insbesondere für die Vielfalt der multimodalen Ausprägungen in Online-Medien eröffnet diese Perspektivenerweiterung entsprechend flexible Analysemöglichkeiten (Bucher 2013; Adami 2015). c. Die Kontextualisierung des Visuellen: Kleinste Analyseeinheit unter einer multimodalen Perspektive sind nicht einzelne visuelle Elemente wie Abbildungen, Grafiken oder Filmeinstellungen, sondern die Sequenz von Elementen, zwischen denen intermodale Relationen im Rahmen eines übergeordneten Diskursmusters (Genre) bestehen. So wie die Inhaltsanalyse von Texten nicht deren lexikalische, syntaktische oder typografische Merkmale erhebt – das was manifest ist –, sondern Inhalt und Bedeutung, die damit ausgedrückt werden, so macht es für eine Bildinhaltsanalyse wenig Sinn, nur die manifesten Bildmerkmale wie Größe, Farbe, dargestellte Gegenstände oder ihre räumliche Konstellation (Geise und Rössler 2012, S. 351) zu erheben. Welche Funktion diesen Merkmalen zukommt, erschließt sich erst im Kontext des jeweiligen Diskurses, in dem sie verwendet werden. Der Begriff des „Bildtyps“, der in der kommunikationswissenschaftlichen Bildanalyse eine zentrale Rolle spielt (Grittmann und Ammann 2011) und als Konventionalisierung von Bildmotiven operationalisiert wird, wird unter einer multimodalen Perspektive durch den Begriff des Diskursmusters abgelöst. Dass der bildzentrierte Ansatz einer Typenbildung auf Grundlage des Gezeigten zu kurz greift, wird am Beispiel von Abb. 4 deutlich: Es wird das Weiße Haus gezeigt, was eine bildtypologische Einordnung als Gebäudedarstellung, Architekturbild etc. nahelegen würde. Typologisch relevant ist aber nicht das Bildmotiv, sondern die Verwendung des Bildes im Diskursmuster „Auf die historische Dimension eines Ereignisses hinweisen“. d. Methodische Erweiterung: Vorherrschend in der Visuellen Kommunikationsforschung waren bisher bildwissenschaftliche und kunsthistorische Traditionen und Begrifflichkeiten. Mit den Multimodalitätstheorien wird diese bild-orientierte Analyseperspektive um zeichen- und diskurstheoretische Ansätze erweitert. Insbesondere die Kategorien „Diskurs“, „Kooperation“ und „kommunikative Handlung“ schaffen die Basis für eine umfassende Beschreibung medienspezifischer Bildverwendungen, in denen ein Kurzschluss von Bildmerkmalen auf BildBedeutung vermieden wird. Der ikonografisch-ikonologische Dreischritt (Müller und Geise 2015, S. 183–189; Grittmann und Ammann 2011) wird durch eine inferentielle Methode der Diskursanalyse ersetzt: Was wird mit dem Bild gezeigt? Welche Funktion erfüllt das Bild im Diskurszusammenhang? Welche Perspektive auf das Gezeigte und welche Adressierung der RezipientInnen manifestiert sich im Bilddesign? Diese Erweiterungspotenziale zeigen, dass die dargestellten Multimodalitätstheorien eine ganz Reihe von wertvollen Anschlussstellen für die bisherigen Ansätze der visuellen Kommunikationsanalyse aufweisen.

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Rechtliche Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Bildverwendung Louisa Specht-Riemenschneider, Vera Eickhoff und Anna-Maria Volpers

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Rechtliche Rahmenbedingungen bei der empirischen Forschung mit Bildern . . . . . . . . . . . . 4 Rechtliche Rahmenbedingungen bei der wissenschaftlichen Veröffentlichung . . . . . . . . . . . 5 Prüfung und Einholung von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Rechtsfolgen bei unzulässiger Verwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Internationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

680 681 691 696 697 699 700 701 702

Zusammenfassung

Der Beitrag geht auf zwei wesentliche Rechtsbereiche ein, die bei der wissenschaftlichen Bildverwendung zu beachten sind: Erstens das Urheberrecht, das den Schöpfer des Bildes in den Blick nimmt, und zweitens das Recht am eigenen Bild, das die Abgebildeten in den Fokus rückt. Nach einem allgemeinen Überblick über die Rechtsgrundlagen wird auf die einzelnen Verwendungshandlungen eingegangen. Festzuhalten ist, dass der bloße Werkgenuss, also beispielsweise das Anschauen von Bildern zu Erhebungs- und Analysezwecken in der Regel erlaubnisfrei ausgestaltet ist, L. Specht-Riemenschneider (*) Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Informations- und Datenrecht, Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] V. Eickhoff Köln, Deutschland A.-M. Volpers Institut für Kommunikationswissenschaft, Westfälische-Wilhelms Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_34

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L. Specht-Riemenschneider et al.

während die öffentliche Zugänglichmachung regelmäßig die Einwilligung der Schöpfer und der Abgebildeten voraussetzt. Wichtigste Ausnahmeregelung ist das Bildzitat. Schlüsselwörter

Urheberrecht · Recht am eigenen Bild · Bildzitat · Bildverwendung · Einwilligung

1

Einleitung

Die fortgeschrittene Digitalisierung der Welt eröffnet der Visuellen Kommunikationsforschung einen komfortablen Zugang zu ihren Forschungsgegenständen. Während vor einigen Jahrzehnten die Anfertigung einer Farbkopie noch mit Kosten und Mühen verbunden war, liegt heute ein Großteil der Untersuchungsgegenstände bereits per se in digitaler Form vor. Diese digitale Beschaffenheit von Bildern erlaubt ihre einfache Speicherung, Veränderung, Verbreitung und Veröffentlichung. Gleichzeitig ist auch die selbstständige Anfertigung von Bild- und Videomaterial wesentlich einfacher geworden. Der zum Teil sehr schnelle Zugang zu Bildern und ihre einfache Weiterverarbeitung ist für Forschung und Lehre zunächst ein großer Gewinn. Gleichzeitig birgt dieser technisch unkomplizierte Umgang mit Bildmaterial jedoch auch die Gefahr der Missachtung von ethischen (siehe den Beitrag von Godulla in diesem Band) und gesetzlichen Regelungen zur wissenschaftlichen Bildverwendung. Insbesondere Studierende sind häufig wenig dafür sensibilisiert, dass durch einen vereinfachten Zugang zu Bildern noch keine Rechte zur beliebigen Verwendung dieser Bilder eingeräumt werden. Während der wissenschaftliche Umgang mit fremden Texten zwingender Bestandteil in der akademischen Ausbildung ist, bleiben die Besonderheiten beim Umgang mit Bildern häufig unbeachtet. Dieser Beitrag hat es sich daher zum Ziel gesetzt, einen Überblick über die grundlegenden Rahmenbedingungen zur wissenschaftlichen Bildverwendung zu geben. Er beschränkt sich auf den deutschen Rechtsraum und versucht, die spezifischen Bedürfnisse wissenschaftlicher Bildverwendung in der Visuellen Kommunikationsforschung aufzugreifen. Dabei darf indes nicht außer Acht gelassen werden, dass die rechtliche Beurteilung eines konkreten Einzelfalles stets einer sorgfältigen Prüfung aller relevanten Umstände bedarf. Verwiesen werden darf an dieser Stelle auf die Pläne von EU-Kommission und Bundesregierung, eine Wissenschaftsschranke in das Urheberrecht einzuführen, die urheberrechtlich relevante Tätigkeiten zu Zwecken der Wissenschaft in weitgehenderer Form als heute möglich gestatten soll. Der von der EU vorgelegte Richtlinienvorschlag sieht allerdings lediglich eine Privilegierung von Schul- und Unterrichtsgebrauch sowie des Data-Minings vor und greift keine spezifischen bildrechtlichen Fragen auf.1 Der Vorschlag der Bundesregierung liegt zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags noch nicht vor.

1

Vgl. Art. 3 und 4 Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on copyright in the Digital Single Market, COM(2016) 593 final.

Rechtliche Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Bildverwendung

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Der vorstehende Beitrag lässt sich wie folgt gliedern: Zunächst werden in Abschn. 2 die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen erläutert. Der Fokus richtet sich dabei auf die zwei für die wissenschaftliche Bildverwendung besonders relevanten Rechtsbereiche: erstens das Urheberrecht (Abschn. 2.1) und zweitens das Recht am eigenen Bild (Abschn. 2.2). Nach der Erläuterung der einschlägigen Rechtsnormen werden Anwendungsfälle aus der empirischen Kommunikationsforschung diskutiert. Der Beitrag orientiert sich dabei am chronologischen Ablauf eines Forschungsprojekts und ist demnach zweigeteilt in einen Abschnitt zur Datenerhebung und Analyse (Abschn. 3) und einen Teil zur Veröffentlichung von Bildern (Abschn. 4). Anschließend werden Hinweise zur Rechteeinholung (Abschn. 5) und zu Rechtsfolgen bei unzulässiger Verwendung gegeben (Abschn. 6). Der Beitrag schließt mit einem Exkurs zum internationalen Recht (Abschn. 7) und einem Fazit (Abschn. 8).

2

Gesetzliche Grundlagen

2.1

Urheberrecht

Das Urheberrecht gewährt dem Schöpfer2 eines Werkes das ausschließliche Recht, dieses Werk auf bestimmte Art und Weise zu verwerten, z. B. zu vervielfältigen oder öffentlich zugänglich zu machen. Das bedeutet, dass eine Verwertungshandlung durch eine andere Person eine Urheberrechtsverletzung darstellt, sofern nicht entweder erstens die Zustimmung der RechteinhaberInnen vorliegt oder zweitens ein gesetzlicher Erlaubnistatbestand (eine sogenannte Schrankenbestimmung) vorliegt. In der Konsequenz können Urheberrechtsverletzungen durch die RechtsinhaberInnen untersagt und ggf. auch Schadenersatz verlangt werden. Urheber können dabei z. B. FotografInnen, KünstlerInnen, DesignerInnen oder auch JournalistInnen sein. Im Folgenden wird zunächst auf die Anwendbarkeit des Urheberrechts (Abschn. 2.1.1) und die Rechte der Urheber eingegangen (Abschn. 2.1.2 und 2.1.3). Daran anschließend wird aufgezeigt, in welchen Fällen eine Verwertungshandlung durch andere Personen rechtmäßig sein kann (Abschn. 2.1.4).

2.1.1 Anwendbarkeit des UrhG Bilder können Urheberrechtsschutz genießen. Entscheidend kommt es darauf an, ob es sich um ein Werk i. S. d. § 2 UrhG handelt. Unter dem Begriff des Werkes ist jede „persönliche geistige Schöpfung“ zu verstehen. Gemeint ist, dass ein Werk von einem Menschen geschaffen worden sein und einen geistigen Inhalt aufweisen muss. Es kommen also weder Tiere noch Maschinen als Urheber in Betracht. Unerheblich 2

Die Ausdrücke Urheber und Schöpfer beziehen sich in diesem Beitrag auf den Wortlaut des Urheberrechtsgesetzes. Es handelt sich dabei um geschlechtsneutrale Formulierungen, die auf natürliche oder juristische Personen Anwendung finden. Sie umfassen damit selbstverständlich Personengruppen aller Geschlechter.

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ist, ob die schöpferisch tätig werdende Person minderjährig oder sonst in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt ist.3 Eine geistige Schöpfung setzt voraus, dass das Werk einen vom Urheber stammenden Gedanken oder Gefühlsinhalt hat. Geschützt wird vom Urheberrecht insofern der immaterielle Gehalt eines Bildes, nicht das körperliche Trägermedium, d. h. das Blatt Papier oder die Leinwand, auf der es fixiert ist. Ein Werk muss außerdem in irgendeiner Form wahrnehmbar sein, sei es durch körperliche Fixierung oder durch Darbietung. Ausreichend ist, dass die Wahrnehmung über Hilfsmittel erfolgt.4 Es ist insofern auch die Bilddatei geschützt, die erst durch Gebrauch einer bestimmten Software für BetrachterInnen wahrnehmbar wird. Der Begriff der Schöpfung setzt außerdem im Grundsatz voraus, dass etwas noch nicht Dagewesenes, etwas Neues geschaffen wird.5 Letztlich muss das Werk eine gewisse Schöpfungshöhe aufweisen. Man spricht auch von Individualität, hinreichend schöpferischem Eigentümlichkeitsgrad,6 Gestaltungshöhe7 oder Werkhöhe. Gemeint ist, dass ein Mindestmaß an geistig-schöpferischer Leistung vorliegen muss. Welcher Grad an Individualität aber konkret erforderlich ist, wird gesetzlich nicht vorgegeben. Einig ist man sich lediglich darüber, dass nicht allzu hohe Anforderungen zu stellen sind.8 Ganz banale Bilder, wie etwa ein Strichmännchen ohne eigene gestalterische Züge, genießen daher keinen urheberrechtlichen Schutz. Keine Werke und damit nicht durch das Urheberrechtsgesetz geschützt sind bloße Ideen, Stilmittel oder Techniken. Hingegen sind Teile eines Werkes durchaus schutzfähig, wenn sie für sich selbst betrachtet die erforderliche Gestaltungshöhe erreichen.9 § 2 UrhG enthält eine beispielhafte, nicht abschließende Aufzählung geschützter Werkarten. Hierzu zählen auch Werke der bildenden Künste, wie Zeichnungen, Stiche, Plastiken, Skulpturen, Werke der angewandten Kunst sowie Lichtbildwerke, zu denen auch Fotografien zählen können. Auch Darstellungen wissenschaftlicher Art, wie Skizzen, Pläne oder Karten genießen urheberrechtlichen Schutz. Neben dem

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Dreier/Schulze/Schulze, § 2 Rn. 10; Wandtke/Bullinger/Bullinger, § 2 Rn. 18. Dreier/Schulze/Schulze, § 2 Rn. 14; Hoeren/Sieber/Holznagel/Ernst, Teil 7.1 Rn. 6; Wandtke/ Bullinger/Bullinger, § 2 Rn. 19. 5 Allerdings ist es durchaus möglich, dass zwei unabhängig voneinander geschaffene Werke identisch sind. In diesem Fall der sogenannten Doppelschöpfung sind beide Ergebnisse urheberrechtlich geschützt. Das Werk muss insofern lediglich für den Urheber neu sein, vgl. Fromm/Nordemann/ A. Nordemann, § 2 Rn. 26; Wandkte/Bullinger/Bullinger, § 2 Rn. 22. 6 BGH GRUR 1988, S. 533, 535 – Vorentwurf II. 7 BGH GRUR 1983, S. 377, 378 – Brombeer-Muster; Spindler/Schuster/Wiebe, UrhG, § 2 Rn. 2; Wandtke/Bullinger/Bullinger, § 2 Rn. 23. 8 Sogenannter Schutz der kleinen Münze, BGH GRUR 1995, S. 581, 582- Silberdistel; BGH GRUR 1981, S. 267, 268 – Dirlada; Fromm/Nordemann/A. Nordemann, § 2 Rn. 30; Hoeren/Sieber/ Holznagel/Ernst, Teil 7.1 Rn. 8; kritisch: Wandtke/Bullinger/Bullinger, § 2 Rn. 24. 9 BGH GRUR 1990, S. 219 – Verschenktexte; Wandtke/Bullinger/Bullinger, § 2 Rn. 42; Spindler/ Schuster/Wiebe, UrhG, § 2 Rn. 9. 4

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Urheberrecht existieren weitere Schutzrechte, die ggf. auf Bildmaterial Anwendung finden können, so etwa das Design- oder auch das Markenrecht. Fotografien werden indes jedenfalls dann, wenn es sich um Amateuraufnahmen (sogenannte Knipsbilder) handelt, also keine besondere Auswahl und Anordnung von Bildgegenstand, Licht oder Requisiten erfolgt ist, nicht den für einen urheberrechtlichen Werkschutz erforderlichen Grad an Individualität erreichen. Die erbrachte Leistung liegt hier lediglich in dem Betätigen des Auslösers der Kamera. Das Lichtbild ist insofern kein geistiges, sondern ein bloß technisches Erzeugnis. Dennoch genießen auch derartige Fotografien Schutz als Lichtbilder i. S. d. § 72 UrhG. Bei diesem Lichtbildschutz handelt es sich um ein sogenanntes verwandtes Schutzrecht, das eine persönliche geistige Schöpfung nicht voraussetzt. Auch verwandte Schutzrechte sind aber nach dem Urheberrecht geschützt, sodass es für die Rechtsverletzenden häufig keinen Unterschied macht, ob sie ein Lichtbildwerk nach § 2 UrhG oder aber ein Lichtbild nach § 72 UrhG unberechtigt verwenden. Beide Rechtsverletzungen ziehen insbesondere Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche nach sich. Das Urheberrecht besteht bis 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers fort. Im Falle einer Miturheberschaft kommt es auf den Tod des letztüberlebenden Urhebers an. Die verwandten Schutzrechte – also beispielsweise bei Lichtbildern – haben eine teils geringere Schutzdauer. Die Schutzdauer für Fotografien beträgt, sofern ihnen eine ausreichende Schöpfungshöhe nicht zukommt, gem. § 72 UrhG 50 Jahre nach dem Erscheinen oder der ersten erlaubten öffentlichen Wiedergabe, je nachdem welcher Zeitpunkt der frühere ist. Ist die Fotografie bisher nicht erschienen oder erlaubterweise öffentlich wiedergegeben worden, so beträgt die Schutzdauer 50 Jahre ab Herstellung. Nach Ablauf der Schutzfrist ist das Werk bzw. das Lichtbild gemeinfrei und kann daher verwendet werden, ohne dass eine Urheberrechtsverletzung bzw. eine Verletzung des verwandten Schutzrechtes eintritt.

2.1.2 Verwertungsrechte Das Urheberrechtsgesetz weist dem Urheber das ausschließliche Recht zu, das urheberrechtlich geschützte Werk auf umfassende Art und Weise zu verwenden. Nicht jeder Gebrauch eines urheberrechtlich geschützten Gegenstands ist dabei aber der Entscheidungsbefugnis des Urhebers unterworfen. Der bloße Werkgenuss ist frei. Der Urheber hat gem. § 15 ff. UrhG das ausschließliche Recht, sein Werk zu vervielfältigen, zu verbreiten und auszustellen. Ihm steht weiterhin das Vortrags-, Aufführungs- und Vorführungsrecht zu, das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung, das Senderecht, das Recht der Wiedergabe durch Bild- und Tonträger sowie das Recht der Wiedergabe von Funksendungen und von öffentlicher Zugänglichmachung. Die Aufzählung des § 15 UrhG ist allerdings nur beispielhaft. Auch Verwertungshandlungen, die durch neue technische Entwicklungen möglich werden und die nicht in § 15 UrhG aufgezählt sind, können insofern dem Urheber zugewiesen sein. Besonders relevant im Bereich der wissenschaftlichen Bildverwendung sind das Vervielfältigungsrecht, § 16 UrhG, das Verbreitungsrecht, § 17 UrhG, sowie das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung. Möchte man das Werk eines Urhebers nutzen, empfiehlt sich daher stets die Einholung der entsprechenden

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Nutzungsbefugnisse. Hierfür sollte der Urheber aus Beweisgründen schriftlich oder per E-Mail um Einräumung der entsprechenden Nutzungsbefugnisse gebeten werden. In Fällen mit erheblichen finanziellen Risiken empfiehlt sich die Inanspruchnahme anwaltlicher Beratungsleistungen. Das Vervielfältigungsrecht ist das Recht, Vervielfältigungsstücke auf jede Art herzustellen. Auch die Herstellung von Vervielfältigungsstücken im privaten Bereich ist zunächst von § 16 UrhG umfasst, kann jedoch durch die Schrankenregelung der Privatkopie, § 53 UrhG, gesetzlich gestattet sein (siehe später Abschn. 3.1.1). Art und Material des Herstellungsverfahrens sind unerheblich. Analoge Kopien sind daher ebenso umfasst wie digitale Reproduktionen. Auch kommt es nicht auf die Dauer der Reproduktion an. Selbst wenn die Vervielfältigung nur vorübergehend geschieht, kommt es grundsätzlich zu einer Urheberrechtsverletzung.10 Bearbeitungen eines Werkes sind im privaten Bereich grundsätzlich zulässig, erst die Veröffentlichung oder die Vornahme von Verwertungshandlungen sind erlaubnispflichtig.11 Das Verbreitungsrecht aus § 17 UrhG ist das Recht, das Original oder Vervielfältigungsstücke des Werkes der Öffentlichkeit anzubieten oder in Verkehr zu bringen. Erfasst ist jede Form der Eigentums- oder Besitzüberlassung, das Verbreitungsrecht ist jedoch auf Vorgänge in der Öffentlichkeit beschränkt.12 Das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung gem. § 19a UrhG ist das Recht, das geschützte Werk etwa dadurch zu nutzen, dass es im Internet oder sonstigen Netzwerken Mitgliedern der Öffentlichkeit zu Orten und Zeiten ihrer Wahl zugänglich gemacht wird.13 Das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung ist insofern verletzt, wenn andere Personen als die RechteinhaberInnen ohne deren Zustimmung Bilder in das Internet, etwa in soziale Netzwerke, einstellen. Da die Bilder hierbei in der Regel auch auf einen externen Server hochgeladen werden, liegt ebenfalls ein Akt der Vervielfältigung gem. § 16 UrhG vor. Werden Bilder aus dem Internet auf den eigenen Computer heruntergeladen, so liegt hierin ebenfalls eine Vervielfältigungshandlung. Der Begriff der Öffentlichkeit, auf den § 19a UrhG rekurriert, ist in § 15 Abs. 3 UrhG legaldefiniert. Zur Öffentlichkeit gehört danach jeder, der nicht mit demjenigen, der das Werk verwertet, oder mit anderen Personen, denen das Werk in

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Vorübergehende Vervielfältigungen sind zunächst ebenfalls vom Verbotsrecht umfasst, können jedoch von der Schrankenregelung des § 44a UrhG gedeckt sein, wenn sie u. a. flüchtig oder begleitend sind. Gemeint ist beispielsweise die bloße Zwischenspeicherung eines Bildes im Cache eines Computers. 11 Bleibt die Bearbeitung aber ohne eigenschöpferische Ausdruckskraft, kann auch hierin eine Vervielfältigungshandlung i.S.d. § 16 UrhG liegen, vgl. Dreier/Schulze/Schulze, § 16 Rn. 10; Es empfiehlt sich daher in Zweifelsfällen für die Bearbeitung eines Werkes die Einholung der entsprechenden Nutzungsrechte. 12 Dreier/Schulze/Schulze, § 17 Rn. 4; Spindler/Schuster/Wiebe, UrhG, § 17 Rn. 5; Wandtke/Bullinger/Heerma, § 17 Rn. 14–17. 13 Dreier/Schulze/Dreier, § 19a Rn. 8 ff.; Spindler/Schuster/Wiebe, UrhG, § 19a Rn. 2.

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unkörperlicher Form wahrnehmbar oder zugänglich gemacht wird, durch persönliche Beziehungen verbunden ist. Je größer die Anzahl der Personen ist, an die sich die Wiedergabe richtet, desto eher spricht die Lebenserfahrung dabei gegen hinreichend persönliche Beziehungen.14 Der Europäische Gerichtshof hat mittlerweile besondere Anforderungen an den Öffentlichkeitsbegriff gestellt, die zum Teil von der bisherigen Rechtsprechung der deutschen Gerichte abweicht.15

2.1.3 Urheberpersönlichkeitsrechte Neben den Rechten zur Verwertung des Werkes stehen dem Urheber auch Persönlichkeitsrechte zu. Der Unterschied zu den Verwertungsrechten besteht darin, dass sie nicht einer anderen Person eingeräumt werden können und daher auch dann beim Urheber verbleiben, wenn bspw. durch einen Verlagsvertrag eine umfassende Rechtseinräumung erfolgt. Zu den Persönlichkeitsrechten zählen insbesondere das Recht auf Anerkennung der Urheberschaft, § 13 UrhG, sowie das Recht zum Schutz vor Entstellung und Beeinträchtigung. Im bildrechtlichen Kontext bedeuten diese Rechte, dass der Urheber bei jeder Verwendung seines Bildes als Urheber zu bezeichnen ist. Sein Name oder auch ein von ihm gewähltes Pseudonym oder Künstlerzeichen ist insofern an einer für die Bildverwendung üblichen Stelle anzubringen. Grundsätzlich wünschenswert ist die Urheberkennzeichnung unter oder neben dem Bild in ausreichender Größe. Worauf der Urheber aber einen Anspruch hat, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Gewährleistet werden muss dabei aber stets, dass dem Urheber sein Werk eindeutig zugeordnet werden kann.16 Das Recht zum Schutz vor Entstellung oder anderweitiger Beeinträchtigung schützt den Urheber davor, dass berechtigte ideelle Urheberinteressen an dem Werk verletzt werden. Eine Beeinträchtigung kann bereits dann vorliegen, wenn das Werk in einen anderen Sachzusammenhang gestellt wird, bspw., wenn ein Gemälde in ein neues Kunstwerk derart integriert wird, dass es als sein Teil erscheint.17 Auch die Verwendung von Fotografien in politisch rechtsgerichteten Beiträgen kann eine Entstellung sein. 2.1.4 Rechtmäßigkeit der Verwertungshandlung Im Vorangegangenen wurde erläutert, welche Rechte der Urheber an seinem Werk hat und dass eine Nutzung durch andere Personen diese Rechte des Urhebers verletzen kann. Aber nicht in jedem Fall stellt die Vornahme einer solchen Verwertungshandlung eine Rechtsverletzung dar. Die Rechtswidrigkeit entfällt, wenn der Urheber oder derjenige, dem ein Nutzungsrecht eingeräumt wurde (§§ 34, 35 UrhG) 14

OLG München ZUM 1986, S. 483; Wandtke/Bullinger/Heerma, § 15 Rn. 27; Dreier/Schulze/ Dreier, § 15 Rn. 39; BeckOK UrhR/Kroitzsch/Götting, UrhG, § 15 Rn. 25. 15 Dreier/Schulze/Dreier, § 15 Rn. 37; Spindler/Schuster/Wiebe, UrhG, § 15 Rn. 13. 16 Dreier/Schulze/Schulze, § 13 Rn. 21; Spindler/Schuster/Wiebe, UrhG, § 13 Rn. 8; Wandtke/ Bullinger/Bullinger, § 13 Rn. 11. 17 BGH GRUR 2002, S. 532, 534 – Unikatrahmen.

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1. dem Handelnden ein (weiteres) Nutzungsrecht gem. §§ 31 ff. UrhG eingeräumt, 2. in die Vornahme der Verwertungshandlung eingewilligt hat oder 3. die Verwertungshandlung von einer gesetzlichen Erlaubnis zur Vornahme der Verwertungshandlung (sogenannte Schrankenbestimmung) gedeckt ist. Die Einräumung von Nutzungsrechten erfolgt dabei durch Vertrag. Dieser kann durchaus mündlich abgeschlossen werden, nur für Verträge über unbekannte Nutzungsarten ist die Schriftform vorgeschrieben (§ 31a Abs. 1 S. 1 UrhG). Zu Zwecken der Beweisbarkeit empfiehlt sich aber stets die Schriftform. Nutzungsrechte können als einfache oder ausschließliche Nutzungsrechte eingeräumt werden. Ein einfaches Nutzungsrecht erlaubt es dabei dem Berechtigten, das urheberrechtlich geschützte Werk auf bestimmte Art und Weise zu nutzen. Auch weiteren Personen kann dann aber ein gleichlautendes Nutzungsrecht eingeräumt werden. Ein ausschließliches Nutzungsrecht indes wird exklusiv an nur eine Person eingeräumt, die grundsätzlich jeden Dritten von der Nutzung ausschließen kann.18 Ein Nutzungsrecht kann auch auf eine bestimmte Dauer, ein bestimmtes territoriales Gebiet oder auf bestimmte Nutzungsarten beschränkt werden (z. B. Beschränkung des Rechts zur Vervielfältigung von Bildern auf eine Vervielfältigung in gedruckten HardcoverBüchern). Schrankenbestimmungen enthalten Nutzungshandlungen, die bereits von Gesetzes wegen erlaubt sind. Der Urheber muss also für diejenigen Handlungen, die von einer Schrankenbestimmung erfasst sind, keinerlei Nutzungsrechte einräumen und auch nicht anderweitig in die Nutzung einwilligen. Einige Schrankenbestimmungen sehen dabei die Rechtmäßigkeit der Verwertungshandlung schlicht vor, andere gewähren dem Urheber jedenfalls einen Vergütungsanspruch für die erlaubnisfreie Nutzung. Für die wissenschaftliche Verwendung von Bildern relevant ist insbesondere die Schrankenregelung zu Zwecken der Verwendung urheberrechtlicher Werke als Zitat, § 51 UrhG sowie die Privatkopiefreiheit, die in § 53 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1, 2 UrhG auch Vervielfältigungen in gewissem Umfang zu Zwecken der wissenschaftlichen Verwendung gestattet. Die Verwendung von Bildern in Präsentationen kann gem. § 52a UrhG zulässig sein.

2.2

Recht am eigenen Bild

Während das Urheberrecht die Schöpfer von Bildern, Fotografien, Abbildungen u. ä. als Berechtigte schützt, richtet sich der persönlichkeitsrechtliche Schutz an die auf dem Bildnis abgebildeten Personen. Als Ausprägung des verfassungsrechtlich verankerten Persönlichkeitsrechts gewährleistet das Recht am eigenen Bild, dass

18 Dreier/Schulze/Schulze, § 31 Rn. 25; Schricker/Loewenheim/Schricker/Loewenheim, § 31 Rn. 10–15; Fromm/Nordemann/J.B. Nordemann, § 31 Rn. 91.

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die Abgebildeten die grundsätzliche Verfügungsgewalt über ihr Abbild innehaben sollen.19 Das Recht am eigenen Bild erfährt durch die Spezialregelungen im Kunsturhebergesetz (KUG) eine einfachgesetzliche Ausgestaltung. Konstellationen, die das KUG nicht erfasst, unterfallen den Grundsätzen des sogenannten allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Die Regelungen des KUG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schützen also zunächst die Rechte der abgebildeten Person. Gegenläufige Interessen von BildnisverwenderInnen finden zwar im Gesetz (dem Kunsturhebergesetz und hier insb. in § 23 KUG) Berücksichtigung, mit Blick auf die Bildverwendung in der Forschung gilt das allerdings bereits nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht. Anders als im Urheberrecht ergibt sich eine besondere Privilegierung für die wissenschaftliche Bildverwendung weder explizit aus dem KUG noch aus den Grundsätzen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.

2.2.1 Anwendbarkeit des KUG Als Beurteilungsgrundlage für die rechtliche Zulässigkeit wissenschaftlicher Bildverwendung wird aus persönlichkeitsrechtlicher Sicht in den meisten Fällen das KUG heranzuziehen sein. Daher ist zunächst der Anwendungsbereich dieses Gesetzes zu erläutern. Einschlägig ist das KUG, sobald ein Bildnis einer Person verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt wird (§ 22 S. 1 KUG). Der Begriff des Bildnisses bezeichnet die Abbildung von Personen und zwar unabhängig von ihrer Form und ihrem Verbreitungsmedium. Bildnisse sind also sowohl Fotografien als auch Filmaufnahmen, Zeichnungen, Karikaturen, Gemälde oder figürliche Darstellungen. Einziges Kriterium ist die Erkennbarkeit der abgebildeten Person,20 die in der Regel an der Abbildung der Gesichtszüge festzumachen ist. Jedoch können auch sonstige persönliche Merkmale oder eine Abbildung im Rahmen bestimmter Umstände dazu führen, dass eine Person erkennbar wird.21 Daher kann es sein, dass die Verpixelung oder ein schwarzer Balken über der Augenpartie der abgebildeten Person nicht ausreicht, um deren Erkennbarkeit zu verhindern. Auch die Verwendung älterer Bilder, obwohl sich die abgebildete Person äußerlich stark verändert hat, führen nicht zur fehlenden Erkennbarkeit der Person.22 Maßstab für die Erkennbarkeit sind BetrachterInnen aus dem Bekanntenkreis der Abgebildeten.23 Fehlt es an der Erkennbarkeit, ist die Anwendbarkeit des KUG ausgeschlossen. Jedoch kann eine Bildnisverwendung dennoch im Hinblick auf das allgemeine

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BeckOK InfoMedienR/Herrmann, KUG § 22; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 3; Schricker/Loewenheim/Götting, § 22 KUG Rn. 7. 20 Götting/Schertz/Seitz/Schertz, § 12 Rn. 7; Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 3 m. w. Nachw. 21 Bspw. Haltung, Frisur, Rückennummer eines rücklinks in seinem Tor fotografierten Torwarts, BGHGRUR 1979, S. 732 – Fußballtor; Schricker/Loeweneheim/Götting, § 22 KUG Rn. 16; Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 3; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 7. 22 BGH GRUR 2011, S. 266 – Jahrhundertmörder; Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 3. 23 BGH GRUR 1979, S. 732 – Fußballtor; Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 4; Wandtke/ Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 7; Schricker/Loewenheim/Götting, § 22 KUG Rn. 25.

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Persönlichkeitsrecht der Abgebildeten unzulässig sein. Hier kommt es maßgeblich auf die Schwere des Eingriffs an. Besonders die nicht-konsentierte Verwendung von Nacktaufnahmen, aber auch die Übernahme besonderer Persönlichkeitsmerkmale24 können unzulässig sein. Das KUG erfasst die Verwendungen von Bildnissen durch Verbreitung und Zurschaustellen (§ 22 S. 1 KUG). Verbreitung meint dabei jede Art der Weitergabe körperlicher Exemplare, also bspw. ein Abzug eines Fotos, eine Verbreitung in Printmedien oder eine Veröffentlichung in Buch- oder Zeitschriftenform. Auf die Öffentlichkeit der Verbreitungshandlung kommt es grundsätzlich nicht an. Ein Zurschaustellen erfasst dagegen jede Art der unkörperlichen Sichtbarmachung des Bildnisses, bspw. in Schaufenstern, Filmen, Präsentationen oder Online-Umfragen. Auch die Verlinkung auf eine fremde Website kann ein Zurschaustellen sein.25 Das Zurschaustellen muss jedoch öffentlich geschehen. Hier kann auf den Begriff des § 15 Abs. 3 UrhG zurückgegriffen werden, sodass es auf die persönliche Verbundenheit derer ankommt, denen das Bildnis zur Kenntnisnahme zugänglich gemacht wird (siehe Abschn. 2.1.2). Ist das KUG auf eine Verwendungshandlung eines Bildnisses anwendbar (sei es durch Verbreitung oder Zurschaustellen), geht das Gesetz vom Erfordernis der Einwilligung der Abgebildeten aus (§ 22 KUG; siehe Abschn. 2.2.2). Im Interesse von BildnisverwenderInnen bestehen in einzelnen Fällen jedoch Ausnahmen von diesem Einwilligungserfordernis (§§ 23, 24 KUG; siehe Abschn. 2.2.3).

2.2.2 Einwilligung des Abgebildeten, § 22 KUG Hat eine abgebildete Person in die Bildnisverwendung eingewilligt, ist die Verwendung zulässig (§ 22 S. 1 KUG). Dabei besteht grundsätzlich kein Formerfordernis für die Erteilung der Einwilligung – sie kann auch mündlich oder konkludent durch schlüssiges Verhalten erfolgen, d. h. aus den Umständen erkennbar sein.26 Allerdings muss sich aus den Umständen die Einwilligung in die konkrete Verwertung (Verbreitung oder Zurschaustellen) ergeben, das bloße Hinnehmen der Aufnahme ist in der Regel allenfalls als Einwilligung in die Aufnahme, nicht aber auch in die Verwertungshandlung zu verstehen. Wie im Urheberrecht kann eine Einwilligung auch im Anwendungsbereich des KUG zeitlich, räumlich und insbesondere inhaltlich begrenzt werden. Sie muss sich auf die betreffende Art und den Umfang der Bildnisverwendung erstrecken.27 Im

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Bspw. die Verwendung persönlicher Merkmale von Boris Becker für eine Werbung ohne dessen Zustimmung: OLG München, GRUR-RR 2002, S. 271 – Boris Becker. 25 Ausführlich dazu: Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 10; a. A.: Wandtke/Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 9; OLG München MMR 2007, S. 659. 26 BGH GRUR 2005,S. 75 – Charlotte Casiraghi II; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 13, 16; Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 17. 27 Götting/Schertz/Seitz/Schertz, § 12 Rn. 21; Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 21–23; Schricker/Loewenheim/Götting, § 22 KUG Rn. 43–44.

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Zweifel ist davon auszugehen, dass nur die für die Verwendung durch EinwilligungsempfängerInnen unbedingt notwendigen Elemente von der Einwilligung umfasst sind.28 Das Einverständnis in die Aufnahme von Bildnissen zur Verwendung in einem Seminar deckt beispielsweise nicht das Einverständnis in die Verwendung in einer Online-Umfrage oder einer Veröffentlichung ab. Bei Bildnissen aus dem Internet oder in Zeitschriftenarchiven kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Abgebildeten mit einer weiteren Verwertung ihrer Bildnisse etwa zu wissenschaftlichen Zwecken einverstanden ist. Dies gilt auch und gerade im Falle des Einstellens des eigenen Bildnisses in soziale Netzwerke wie Facebook jedenfalls dann, wenn das Profil nicht „öffentlich“ geführt wird.29 Darin kann allenfalls eine Einwilligung in das Setzen von Hyperlinks auf die das Bildnis betreffende URL gesehen werden, nicht jedoch in die Übernahme des Bildnisses auf einer fremden Website oder in eine wissenschaftliche Publikation. Ebenfalls nicht möglich ist es, die erstveröffentlichenden Stellen, also beispielsweise VerlegerInnen oder WebsitebetreiberInnen, um eine Übertragung der Einwilligung zu bitten. Das Recht am eigenen Bild wird durch die Einwilligung in die Erstveröffentlichung nicht dauerhaft zur Weitergabe an die veröffentlichende Person übertragen (siehe Abschn. 5). Besonders schutzwürdig sind Minderjährige. Bei Geschäftsunfähigen (bis zum Alter von 7 Jahren) sollen ausschließlich die gesetzlichen VertreterInnen, d. h. im Grundsatz die Eltern die Einwilligung erteilen können.30 Beschränkt Geschäftsfähige (zwischen 7 und 18 Jahren) müssen für die Einwilligungserteilung elterliches Einvernehmen erzielen. Gemäß § 22 S. 3 KUG dürfen auch Bildnisse von Verstorbenen in einem Zeitraum von 10 Jahren nach dem Tod nur mit Einwilligung der in § 22 S. 4 KUG aufgezählten Angehörigen (Ehegatte bzw. Lebenspartner, Kinder, Eltern des Abgebildeten) verwendet werden. Gemäß § 22 S. 2 KUG wird das Vorliegen einer Einwilligung dann vermutet wenn der Abgebildete dafür, dass er sich abbilden ließ, für die Verwertung eine Entlohnung erhalten hat. Dies entbindet die VerwenderInnen jedoch nicht von der Überprüfung der Reichweite der (vermuteten) Einwilligung. Ob eine einmal erteilte Einwilligung von der abgebildeten Person widerrufen werden kann, ist umstritten.31 Im Hinblick auf das schutzwürdige Vertrauen von EinwilligungsempfängerInnen kann ein Widerruf jedoch nur in Ausnahmefällen möglich sein, wenn Gründe aus der ideellen Sphäre des Persönlichkeitsrechts vorliegen (z. B. Aufgabe einer Tätigkeit als Prostituierte(r) begründet ideelles Bedürfnis, nicht mehr in dieser Rolle abgebildet zu werden). Bei Einwilligungen in die 28

OLG Köln ZUM 2014, S. 416, Schricker/Loewenheim/Götting, § 22 KUG Rn. 44; Dreier/ Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 21; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 16. 29 AG München ZUM 2013, S. 159; Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 17; Wandtke/Bullinger/ Fricke, § 22 KUG Rn. 17. 30 Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 26; Schricker/Loewenheim/Götting, § 22 KUG Rn. 42; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 14. 31 Ausführlich: Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 35; Schricker/Loewenheim/Götting, § 22 KUG Rn. 40–41; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 19.

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Verwendung des Bildnisses zu wissenschaftlichen Zwecken dürften solche Gründe nur schwerlich zu bejahen sein, gleichwohl ist stets eine Einzelfallprüfung angezeigt.

2.2.3 Ausnahmen vom Einwilligungserfordernis § 23 KUG sieht vier Ausnahmen vom Erfordernis der Einwilligung vor, die den Interessen der BildnisverwenderInnen angemessen Rechnung tragen. Dabei geht es insbesondere um Ausnahmen zugunsten der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit. Werden derartige Interessen festgestellt, ist die Bildverwertung gleichwohl nur dann gestattet, wenn diese Interessen die Interessen der Abgebildeten überwiegen, § 23 Abs. 2 KUG. Es kommt auch hier auf eine Einzelfallbetrachtung an, weshalb generelle Aussagen nur schwer zu treffen sind. Erstens könnte für wissenschaftliche Zwecke § 23 Abs. 1 Nr. 4 KUG relevant sein. Die Norm statuiert eine Ausnahme vom Einwilligungserfordernis, wenn die Verbreitung oder das Zurschaustellen einem höheren Interesse der Kunst dient. Eine vergleichbare Ausnahme vom Einwilligungserfordernis für wissenschaftliche Zwecke besteht im KUG nicht ausdrücklich. Die juristische Fachliteratur geht jedoch überwiegend davon aus, dass die Ausnahme zugunsten der Kunstfreiheit entsprechend auch für Verwendungen zu (ausschließlich) wissenschaftlichen Zwecken gelten soll, sodass eine solche Verwendung grundsätzlich auch ohne Einwilligung zulässig wäre.32 Das ist allerdings höchstrichterlich noch nicht entschieden.33 Für die Analogie zu § 23 Abs. 1 Nr. 4 KUG spricht immerhin die in Art. 5 Abs. 3 GG als gleichrangig verankerte Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Solange eine eindeutige Klärung durch den Gesetzgeber oder den Bundesgerichtshof fehlt, ist es ratsam, eine Einwilligung auch für die Nutzung zu wissenschaftlichen Zwecken einzuholen. Zweitens ist ohne Einwilligung die Verwendung von Bildnissen aus dem Bereich der Zeitgeschichte zulässig (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG). Dabei geht es um die Frage, ob sich die Verwendung des Bildnisses durch ein im Interesse der Öffentlichkeit stehendes Ereignis, in dessen Kontext das Bildnis verwertet wird, rechtfertigt. Die Vorschrift betrifft v. a. Berichterstattungen über Personen, die aufgrund eines aktuellen Ereignisses besonders im öffentlichen Interesse stehen.34 Diese Ausnahme wird jedoch für wissenschaftliche Zwecke wohl nur begrenzt greifen. Der Begriff der Zeitgeschichte ist eng mit dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Situation, zu der das Bildnis aufgenommen wurde, verknüpft. Wissenschaftliche Verwendung als solche dient aber in der Regel nicht dem Informationsinteresse der 32

Dreier/Schulze/Specht, § 23 Rn. 45; BeckOK UrhR/Engels KUG § 23 Rn. 22; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 23 KUG Rn. 27; Wenzel/von Strobl-Albeg, Kap. 8 Rn. 54. 33 Bisher erging ein einziges Urteil zu dieser Frage: LG Hannover ZUM 2000, S. 970, das jedoch § 23 Abs. 1 Nr. 4 KUG dann nicht mehr eingreifen lassen möchte, wenn neben den wissenschaftlichen noch weitere, insbesondere kommerzielle Zwecke verfolgt werden. 34 Zur mittlerweile aufgegebenen Trennung zwischen absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte, Götting/Schertz/Seitz/Schertz, § 12 Rn. 37–62; Dreier/Schulze/Specht, § 23 Rn. 4–8; Schricker/Loewenheim/Götting, § 23 KUG Rn. 21, 23–45; zu den Begriffen: OLG Hamburg NJW S. 1922; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 23 KUG Rn. 14.

Rechtliche Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Bildverwendung

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Öffentlichkeit an dem betreffenden zeitgeschichtlichen Ereignis. Nur weil die ursprüngliche Veröffentlichung, etwa in einem Presse- oder Fernsehbericht, als Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte gilt, ist die weitere Verwendung für Analysezwecke noch nicht von der Ausnahme des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG gedeckt. Dies kann in Einzelfällen anders liegen, sofern auch der Analysezweck zeitgeschichtlichen Charakter hat. Drittens ist die Verwendung eines Bildnisses zulässig, wenn die abgebildete und erkennbare Person nur Beiwerk der abgebildeten Örtlichkeit ist (§ 23 Abs. 1 Nr. 2 KUG). Dabei kommt es darauf an, ob der prägende Bestandteil der Abbildung nicht die Person, sondern vielmehr die abgebildete Landschaft oder Örtlichkeit bildet. Kann man die Person hinwegdenken bzw. gedanklich ausblenden, ohne dass sich der Charakter der Abbildung wesentlich ändert, so wird man davon ausgehen, dass die Ausnahmevorschrift eingreift.35 In Zweifelsfällen müssen jedoch die VerwenderInnen der Abbildungen beweisen, dass die abgebildeten Personen nur Beiwerk sind. Es kann daher ratsam sein, die Einwilligung der Abgebildeten einzuholen bzw. die Erkennbarkeit durch entsprechende Maßnahmen auszuschließen, sofern es für den wissenschaftlichen Zweck nicht auf die abgebildeten Personen ankommt. Dabei kann es sich im Einzelfall allerdings um eine Entstellung im Sinne des § 14 UrhG handeln, die wiederum das Urheberpersönlichkeitsrecht verletzt. In solchen Fällen sollte die Einwilligung des Urhebers zur Bearbeitung eingeholt werden (siehe Abschn. 2.1.3 zum Verbot der Entstellung). Viertens sind gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 3 KUG ebenfalls nicht einwilligungsbedürftig Bildnisse von Versammlungen oder Aufzügen, an denen die Abgebildeten teilgenommen haben. Umfasst sind alle Vorgänge, bei denen die versammelten Menschen kollektiv den Willen haben, etwas gemeinsam zu tun und dabei auch von Dritten wahrgenommen werden (bspw. Demonstrationen, öffentlich zelebrierte Feierlichkeiten, Sportveranstaltungen).36 Wichtig ist hier jedoch, dass es bei der Abbildung um die Veranstaltung als solche geht, nicht um die Abbildung einer Person um ihrer selbst willen. Insbesondere wenn nur kleine Gruppen oder einzelne Individuen abgebildet werden, wird § 23 Abs. 1 Nr. 3 KUG in der Regel nicht eingreifen.

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Rechtliche Rahmenbedingungen bei der empirischen Forschung mit Bildern

Im vorangegangenen Kapitel wurde erläutert, welche Rechte Urheber und abgebildete Personen an Bildern haben und auf welche Rechtsnormen Forschende ihre Interessen bei der Verwendung von Bildern stützen können. Diese RahmenbedinOLG Karlsruhe GRUR 1989, S. 823 – Unfallfoto; Dreier/Schulze/Specht, § 23 KUG Rn. 35; Schricker/Loewenheim/Götting, § 23 KUG Rn. 80–81; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 23 KUG Rn. 24. 36 Dreier/Schulze/Specht, § 23 KUG Rn. 39; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 23 KUG Rn. 25; Schricker/Loewenheim/Götting, § 23 KUG Rn. 84. 35

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gungen werden im Folgenden nun näher ausgeführt. Dieses Kapitel konzentriert sich zunächst auf rechtliche Fragen, die bei der Datenerhebung und Analyse von Bildern entstehen. Im Grunde lassen sich zwei große Problemgruppen unterscheiden: erstens der Zugang zum Analysematerial und der Umgang mit diesem (siehe Abschn. 3.1) und zweitens die Verwendung von Bildern in Befragungen und Experimenten (siehe Abschn. 3.2). Selbstverständlich sind dabei jeweils wieder beide Ebenen, die des Urheberrechts und die des Rechts am eigenen Bild, zu beachten.

3.1

Zugang zum Analysegegenstand und Umgang in Forschung in Lehre

3.1.1 Vervielfältigung nach dem UrhG Wird ein Werk nicht umgestaltet, sondern identisch oder jedenfalls nahezu identisch vervielfältigt, so liegt hierin eine dem Urheber gem. § 16 UrhG vorbehaltene Nutzungshandlung (hierzu auch bereits in Abschn. 2.1.2).37 Eine Vervielfältigung zu wissenschaftlichen Zwecken kann jedoch von der Schrankenregelung des § 53 UrhG, der sogenannten Privatkopiefreiheit, gedeckt sein. Danach ist es zulässig, einzelne Vervielfältigungsstücke eines Werkes zum eigenen wissenschaftlichen Gebrauch herzustellen oder herstellen zu lassen, wenn und soweit die Vervielfältigung zu diesem Zweck geboten ist und sie keinen gewerblichen Zwecken dient (§ 53 Abs. 2 Nr. 1 UrhG). Zulässig sein kann in der Lehre unter bestimmten Voraussetzungen auch eine Vervielfältigung zur Veranschaulichung des Unterrichts u. a. in Schulen sowie für staatliche Prüfungen u. a. in Schulen und Hochschulen, jeweils in der erforderlichen Anzahl (§ 53 Abs. 3 Nr. 1 und 2 UrhG). Soweit es um die Vervielfältigung zu Zwecken der empirischen Forschung geht, dürfte eine Nutzung für den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch vorliegen. Die eigene Verwendung setzt dabei voraus, dass die Vervielfältigungsstücke nicht an Dritte weitergegeben werden.38 Ein wissenschaftlicher Gebrauch liegt vor, wenn er im Rahmen einer wissenschaftlichen, d. h. methodischen und auf Erkenntnisfindung ausgerichteten Tätigkeit erfolgt.39 Kommerzielle Zwecke dürfen nicht verfolgt werden, was insbesondere eine Vervielfältigung zu Zwecken einer Auftragsforschung oder Verlagspublikation vom Anwendungsbereich der Schrankenbestimmung ausnehmen dürfte.40 Werden einzelne Vervielfältigungsstücke zum eigenen wissenschaftlichen Gebrauch hergestellt (Privatkopiefreiheit § 53 Abs. 2 Nr. 1 UrhG), so BGH GRUR 1988, S. 533, 535 – Vorentwurf II; BGH GRUR 1991, S. 529, 530 – Explosionszeichnungen; Wandtke/Bullinger/Bullinger, § 23 Rn. 25. 38 BGH GRUR 1997, S. 459, 461 – CB Infobank I; Fromm/Nordemann/Wirtz, § 53 Rn. 25; Wandtke/Bullinger/Lüft, § 53 Rn. 25. 39 Dreier/Schulze/Dreier, § 53 Rn. 23 ff.; Fromm/Nordemann/Wirtz, § 53 Rn. 30–32; Schricker/ Loewenheim/Loewenheim, § 53 Rn. 39–42. 40 BT-Drs. 16/1828, S. 41. 37

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ist dies nur dann zulässig, wenn die Vervielfältigung zu diesem Zweck geboten ist und kein gewerblicher Zweck verfolgt wird. Die Quelle ist deutlich anzugeben (§ 63 Abs. 1 S. 1 UrhG). Für Vervielfältigungen, die als Privatkopie gem. § 53 UrhG zulässig sind, ist eine Vergütung an den Urheber zu entrichten, die jedoch mittelbar durch Einnahmen aus Verkauf und Betrieb von Kopiergeräten an eine Verwertungsgesellschaft gezahlt wird, die die vereinnahmten Beträge dann an die Urheber anhand eines bestimmten Verteilungsschlüssels ausschüttet (§§ 54 ff. UrhG).

3.1.2

Vervielfältigung und eigenständige Anfertigung von Bildern nach dem KUG Sowohl die Anfertigung eines Bildnisses als auch die Vervielfältigung unterfallen nicht dem Anwendungsbereich des KUG, da es sich weder um eine Verbreitung noch um ein Zurschaustellen handelt. Eine vorherige Einwilligung ist daher dem Grunde nach nicht erforderlich. Jedoch kann die Anfertigung oder Vervielfältigung von Bildnissen aufgrund eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht unzulässig sein, sofern eine Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht und den gegenläufigen Interessen der BildniserstellerInnen zugunsten der Schutzbedürftigkeit der Abgebildeten ausfällt. Dabei ist besonders die Intensität des Eingriffs zu berücksichtigen.41 Andererseits können insbesondere die über die Ausnahmeregeln von § 23 Abs. 1 KUG geschützten Belange auch eine Anfertigung von Bildnissen rechtfertigen.42 Im Ergebnis entspricht die Zulässigkeitsprüfung des Anfertigens bzw. Vervielfältigens weitgehend der Zulässigkeitsprüfung von Verbreitung bzw. Zurschaustellen nach dem KUG.43 Ist also die Verbreitung des Bildnisses nach dem KUG zulässig, ist es in der Regel auch die vorgelagerte Anfertigung des Bildnisses. Hinsichtlich der Anfertigung von Bildern mit Personen sind über die rechtlichen Rahmenbedingungen hinaus in jedem Fall auch forschungsethische Fragestellungen zu berücksichtigen (vgl. den Beitrag von Godulla in diesem Band). Werden beispielsweise für Beobachtungen oder Experimente fotografische oder Filmaufnahmen von Personen gemacht, so ist es angeraten, vorab eine Einwilligung der Beteiligten einzuholen. 3.1.3 Sonstige Bestimmungen zur Vervielfältigung Bei der Speicherung von digital vorliegenden Daten sind noch weitere Bestimmungen (wie Allgemeine Geschäftsbedingungen) zu beachten. Werden Bilder beispielsweise aus Datenbanken bezogen, dann sind die Nutzungsbedingungen der DatenbankbetreiberInnen zu beachten. Zurückhaltung ist hinsichtlich der Nutzungsbedingung zudem im 41

Bspw. Abbildungen von privaten oder intimen Situationen; Abbildung von Minderjährigen; Umstände der Aufnahme, bspw. Heimlichkeit; ausführlich: Götting/Schertz/Seitz/Schertz, § 12 Rn. 9–15; BeckOK UrhR/Engels, § 22 KUG Rn. 55–56. 42 Wenzel/von Strobl-Albeg, Kap. 7, Rn. 25; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 23 KUG Rn. 1; Dreier/ Schulze/Specht, § 23 KUG Rn. 1. 43 Dreier/Schulze/Specht, § 22 KUG Rn. 13.

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Bereich Social Media und insbesondere in geschlossenen Gruppen geboten. So sind beispielsweise bei der Analyse von Profilfotos nicht nur rechtliche, sondern auch forschungsethische Fragen zu berücksichtigen. Weiterhin gelten selbstverständlich auch alle Vorschriften des Strafrechts, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird.

3.2

Einsatz von Bildern in Befragungen oder Experimenten

3.2.1 Bearbeitung, Verbreitung und Zurschaustellen nach dem UrhG Der Urheber bestimmt mit der Veröffentlichung eines Werkes, in welcher konkreten Form die Öffentlichkeit sein Werk wahrnehmen soll. Es gilt dabei im Urheberrecht ein generelles Änderungsverbot. Wird das Werk durch eine Änderung beeinträchtigt oder bspw. für ein Experimentaldesign (hierzu bereits in Abschn. 2.1.3) entstellt, so kann der Urheber dies durch sein Urheberpersönlichkeitsrecht unterbinden (§ 14 UrhG). Allerdings greift der Entstellungsschutz erst dann ein, wenn der Bearbeiter mit dem Werk an die Öffentlichkeit tritt. Wird sein Werk nicht in einer persönlichkeitsrechtsverletzenden Art und Weise bearbeitet, so ist die bloße Herstellung dieser Bearbeitung in der Regel erlaubnisfrei. Einige wenige Ausnahmen bestehen dort, wo davon ausgegangen wird, dass das Werk bereits mit der Absicht der gewerblichen Verwertung bearbeitet oder umgestaltet wird.44 Die Veröffentlichung oder die sonstige Verwertung bedarf allerdings grundsätzlich der Zustimmung des Urhebers (§ 23 UrhG).45 Ein Zurverfügungstellen eines urheberrechtlich geschützten Werkes an einen nicht durch persönliche Beziehungen verbundenen Personenkreis ist als öffentliche Zugänglichmachung eine grundsätzlich dem Urheber vorbehaltene Nutzungshandlung (§ 19a UrhG) (hierzu bereits unter Abschn. 2.1.2). Die Verwendung unkörperlicher Bildnisse in geschlossenen Seminargruppen oder Fokus-Gruppen-Interviews könnte jedoch außerhalb der Öffentlichkeit liegen und damit urheberrechtlich nicht relevant sein. Die Zugänglichkeit innerhalb eines Klassenverbands im Schulunterricht soll noch nicht öffentlich sein.46 Bei der Verwendung von Bildnissen in Online44

z. B. bei der Verfilmung, vgl. Dreier/Schulze/Schulze, § 23 Rn. 19. Zum Ganzen: Dreier/Schulze/Schulze, § 23 Rn. 1 ff.; Fromm/Nordemann/A. Nordemann, § 23 Rn. 1; Spindler/Schuster/Wiebe, UrhG, § 23 Rn. 1; Schricker/Loewenheim/Loewenheim, § 23 Rn. 1–2; Eine Bearbeitung ist abzugrenzen von der sog. freien Benutzung eines Werkes, die ohne die Zustimmung des Urhebers veröffentlicht und verwertet werden darf (§ 24 UrhG). Diese Abgrenzung ist in der Praxis mit deutlichen Schwierigkeiten behaftet. Der BGH hat hierzu die sog. „Verblassensformel“ entwickelt, nach der eine freie Benutzung eines Werkes dann vorliegt, wenn die eigenschöpferischen Züge des alten Werkes in dem neuen Werk verblassen. Man spricht auch von einem „äußeren Abstand“, den das neue Werk zum alten Werk wahren muss. Je individueller ein Werk ausgestaltet ist, desto deutlicher muss sich das neue Werk von ihm abheben, um eine freie Benutzung für sich in Anspruch nehmen zu können. Die Rechtsprechung stellt grundsätzlich strenge Anforderungen an das Vorliegen einer freien Benutzung, sodass es sich stets empfiehlt, die Zustimmung des Urhebers zur Verwertung eines bearbeiteten Werkes einzuholen. 46 LG München I, (30.03.2004 – 21 O 4799/04), innerhalb einer Hochschulvorlesung jedoch schon (OLG Koblenz NJW-RR 1987, S. 700). 45

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Umfragen wird es auf die Anzahl der Befragten und die Begrenzungsmöglichkeit der Umfrage (etwa durch E-Mail-Versand mit personalisierten Links) ankommen. Gerade bei groß angelegten Umfragen wird von einer öffentlichen Zugänglichmachung auszugehen sein. Liegt eine öffentliche Zugänglichmachung jedoch vor, so kann sie, wenn sie veröffentlichte Teile eines Werkes, Werken geringen Umfangs sowie einzelne Beiträge aus Zeitungen oder Zeitschriften betrifft, für einen bestimmt abgrenzbaren Personenkreis zu deren wissenschaftlicher Forschung gem. § 52a Abs. 1 Nr. 2 UrhG zulässig sein. Eine öffentliche Zugänglichmachung zu Zwecken der Veranschaulichung im Unterricht ist gem. § 52a Abs. 1 Nr. 1 UrhG erlaubnisfrei gestattet. Eine Ausnahme gilt nur für die öffentliche Zugänglichmachung solcher Werke, die für den Unterrichtsgebrauch an Schulen bestimmt sind. Hintergrund dieser Regelung ist es, die Nutzung moderner Kommunikationsmittel in bestimmtem Umfang zu ermöglichen.47 Allerdings privilegiert die Schrankenbestimmung einzig eine öffentliche Zugänglichmachung an einen bestimmt abgrenzbaren Personenkreis und ist überdies allein zu Zwecken der wissenschaftlichen Forschung der von diesem Personenkreis erfassten Personen anwendbar (zur Möglichkeit der Anwendung des Zitatrechts, siehe Abschn. 4.1).

3.2.2 Verbreitung und Zurschaustellen nach dem KUG Sollen Bildnisse in (Online-)Befragungen, Experimenten oder sonstigen Studien mit Untersuchungsteilnehmern verwendet werden, kommt eine Verbreitung oder ein Zurschaustellen und damit eine Anwendbarkeit des KUG in Betracht, sofern die abgebildete Person erkennbar ist. Für eine Verbreitung reicht die Weitergabe körperlicher Exemplare des Bildnisses aus, also beispielsweise das Austeilen von ausgedruckten Exemplaren, die von den ProbandInnen eines Experiments oder eines Interviews behalten werden. Das Kriterium der Öffentlichkeit ist hier nicht erforderlich. Jedoch macht die Rechtsprechung Ausnahmen von diesen strengen Maßstäben bei der Weitergabe von Bildnissen z. B. innerhalb von Presseredaktionen oder von Pressearchiven an Presseredaktionen.48 Ob eine solche Verengung des Verbreitungsbegriffs auf wissenschaftliche Tätigkeiten innerhalb von Forschungsgruppen übertragen werden kann, ist bisher allerdings nicht entschieden. Anders liegt es bei dem Zurschaustellen, das eine das Bild wahrnehmende Öffentlichkeit voraussetzt (zum Öffentlichkeitsbegriff siehe Abschn. 2.2.1 und 2.1.2). Eine Verwendung des Bildnisses in nicht-körperlicher Form in einer persönlich verbundenen Forschungsgruppe beispielsweise unterfällt nicht dem Begriff des Zurschaustellens nach dem KUG, sodass hier in der Regel auf eine Einwilligung der Abgebildeten

47

Hierzu eingehend: Dreier/Schulze/Dreier, § 52a Rn. 1; Hoeren/Sieber/Holznagel/Raue/Hegemann, Teil 7.3 Rn. 119. 48 BGH GRUR 2011, S. 266 – Jahrhundertmörder; VG Köln NJW 1988, S. 369; Wandtke/Bullinger/Fricke, § 22 KUG Rn. 8.

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verzichtet werden kann. Allerdings sind die Grenzen des Öffentlichkeitsbegriffs unscharf, weshalb auch hier vorsichtshalber eine Einwilligung eingeholt werden sollte.

4

Rechtliche Rahmenbedingungen bei der wissenschaftlichen Veröffentlichung

Die wissenschaftliche Verwendung von Bildern erschöpft sich naturgemäß nicht in ihrer Analyse, sondern mündet im Idealfall in einer Veröffentlichung der Ergebnisse in Form von Verlagspublikationen, Forschungsberichten, Präsentationsfolien oder wissenschaftlichen Postern. Sobald Forschende ihre Ergebnisse öffentlich machen – also über einen persönlich verbundenen Nutzerkreis hinaus – zugänglich machen, sind wiederum urheber- und persönlichkeitsrechtliche Fragen zu klären.

4.1

UrhG

Bei der Veröffentlichung eines urheberrechtlich geschützten Werkes sind insbesondere die Urheberpersönlichkeitsrechte zu beachten. Wie bereits oben erläutert, steht dem Urheber grundsätzlich das Recht zu, darüber zu entscheiden, ob und in welcher Form sein Werk veröffentlicht wird, § 12 UrhG. Veröffentlicht wird ein Werk, wenn es mit Zustimmung der Berechtigten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Zu beachten ist außerdem das Namensnennungsrecht, § 13 UrhG (hierzu bereits unter Abschn. 2.1.3). Das Recht zur Verbreitung eines urheberrechtlichen Werkes unterliegt ebenfalls grundsätzlich dem Zustimmungserfordernis des Urhebers. Die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe eines Werkes kann aber im Wege des Zitatrechts rechtmäßig sein, § 51 UrhG. Das Zitatrecht erlaubt es u. a., einzelne Werke nach ihrer Veröffentlichung in ein selbstständiges wissenschaftliches Werk zur Erläuterung seines Inhaltes aufzunehmen. Angesprochen ist das wissenschaftliche Großzitat, das insbesondere bei der Einbindung von Bildmaterial einschlägig sein kann. Das zitierende Werk kann ein Schriftwerk, ein Filmwerk, eine Darstellung wissenschaftlicher Art oder auch ein Multimediawerk sein. Es muss sich um ein eigenständiges Werk mit ausreichender Schöpfungshöhe handeln. Zitiert werden dürfen ganze Werke, das Zitat muss damit nicht auf einen Teilausschnitt eines Bildes beschränkt werden. Erforderlich ist allerdings zwingend ein Zitatzweck. Danach muss das Werk zur Erläuterung des Inhalts des aufnehmenden, nicht des zitierten Werkes aufgenommen worden sein und darf nicht im Rahmen des aufnehmenden Werkes für sich selbst sprechen oder seine Hauptsache darstellen.49 Es darf nicht 49

OLG München AfP 2012, S. 395; Dreier/Schulze/Dreier, § 51 Rn. 3; Wandtke/Bullinger/Lüft, § 51 Rn. 3; Spindler/Schuster/Wiebe, UrhG, § 51 Rn. 3; Hoeren/Sieber/Holznagel/Raue/Hegemann, Teil 7.3 Rn. 82–83.

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allein dazu genutzt werden, sich eigene Ausführungen zu ersparen oder für das zitierte Werk zu werben. Erforderlich ist der Belegcharakter für eigene oder referierende Ausführungen.50 Regelmäßig anzunehmen ist dies beispielsweise, wenn im Rahmen einer Inhaltsanalyse ein Bild ausführlich analysiert und besprochen wird. Das zitierte Werk muss außerdem als Zitat erkennbar sein. Erforderlich ist eine Quellenangabe i. S. d. § 63 UrhG. Sinnvoll ist es, die Quellenangabe immer direkt unter der Abbildung anzubringen und nicht in Fußnoten oder einem Quellenverzeichnis, da Veröffentlichungen nicht immer als Ganzes rezipiert werden. Das zitierte Werk muss außerdem bereits veröffentlicht sein. Schwierigkeiten bereitet der von § 51 S. 2 Nr. 1 UrhG gestattete Umfang des Zitats. Regelmäßig beschränkt ist die Zitierfreiheit auf einzelne Werke. Wie hoch die Zahl der zitierten Werke tatsächlich sein darf, ist am Einzelfall zu beurteilen und hängt maßgeblich von der Länge des aufnehmenden Werkes und der Anzahl der aufgenommenen Werke eines Urhebers ab.51 Handelt es sich bei den zitierten Werken um Lichtbilder, dann sind zusätzlich zur Nennung der korrekten Quellen auch die Namen der FotografInnen zu nennen.

4.2

KUG

Die Veröffentlichung von Abbildungen erkennbarer Personen, sei es durch die Weitergabe körperlicher Exemplare oder durch das öffentliche Zurschaustellen beispielsweise in einer Online-Publikation, unterfällt den Vorschriften des KUG. Damit erfordert eine solche Veröffentlichung die Einwilligung der abgebildeten Personen, sofern nicht ein Fall des § 23 Abs. 1 KUG vorliegt. Möglicherweise kommt eine Ausnahme vom Einwilligungserfordernis dann in Betracht, wenn ausschließlich wissenschaftliche Zwecke mit der Veröffentlichung verfolgt werden (siehe auch Abschn. 2.2.3). Dies ist aber höchstrichterlich noch nicht entschieden.

5

Prüfung und Einholung von Rechten

Im Urheberrecht wie auch in Bezug auf das Recht am eigenen Bild tragen grundsätzlich die VerwenderInnen des urheberrechtlichen Werkes bzw. des Bildnisses die Beweislast dafür, dass alle erforderlichen Rechte zur Bildverwendung vorliegen. Zu Beweiszwecken empfiehlt sich dabei immer, Nutzungsrechte oder Einwilligungen in Schriftform einzuholen. In der Praxis trifft die VerwenderInnen eines urheberrechtlichen Werkes bzw. eines Bildnisses eine besondere Sorgfalts- und Recherchepflicht hinsichtlich der Frage, ob eine Rechteeinräumung bzw. eine Einwilligung erforderlich ist, erteilt wurde und in welchem Umfang die Verwendung von ihr gedeckt ist. 50

Dreier/Schulze/Dreier, § 51 Rn. 4; Spindler/Schuster/Wiebe, UrhG, § 51 Rn. 3; BGH GRUR 2010, S. 630 – Vorschaubilder I. 51 Dreier/Schulze/Dreier, § 51 Rn. 11; Hoeren/Sieber/Holznagel/Raue/Hegemann; UrhG, § 51 Rn. 100.

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Auch wenn die nachträgliche Recherche schwierig und unüblich ist, entlastet dies die VerwenderInnen nicht.52 Für Forschende gilt es also in vielerlei Hinsicht die rechtliche Situation im Hinblick auf das Urheberrecht zu überprüfen: • Handelt es sich um ein urheberrechtlich geschütztes Werk oder schutzwürdiges Lichtbild? • Wenn dies der Fall ist, ist zu ermitteln, wer die Urheber- und/oder Verwertungsrechte an dem Bild hat und eine entsprechende Rechte- oder Nutzungsrechteeinräumung einzuholen. • Die Einholung entsprechender Rechte ist nur dann nicht notwendig, wenn eine Schrankenbestimmung (also beispielsweise die Verwendung als Bildzitat) greift. Im Urheberrecht ist bei der Rechteeinräumung zu beachten, dass die Rechte grundsätzlich die Tendenz haben, soweit wie möglich beim Urheber zu verbleiben. Man spricht vom sog. Übertragungszweckgedanken, § 31 Abs. 5 UrhG. Insoweit empfiehlt es sich, die Nutzungsrechte und auch die Nutzungsarten bei der Rechteeinräumung genau zu bezeichnen, also beispielsweise die Einholung der Rechte zur Verbreitung, Vervielfältigung und öffentlichen Zugänglichmachung von Bildern im Internet, in Hardcover- und auch in Taschenbüchern etc. Sind Personen auf den Bildern abgebildet, die zugänglich gemacht oder zur Schau gestellt werden sollen, müssen Forschende noch eine zweite Prüfung vornehmen: • Sind auf dem Bild Personen erkennbar abgebildet? • Wenn das der Fall ist, dann ist eine Einwilligung der abgebildeten Personen einzuholen. • Von der Einwilligung kann nur in ganz bestimmten Ausnahmen abgesehen werden bei: – Bildnissen aus dem Bereich der Zeitgeschichte – Bildern, auf denen die Personen nur als Beiwerk neben einer Landschaft oder sonstigen Örtlichkeit erscheinen – Bildern von Versammlungen, Aufzügen und ähnlichen Vorgängen, an denen die dargestellten Personen teilgenommen haben. Weil sowohl die Voraussetzungen der Schrankenbestimmungen als auch die Anforderungen an die Ausnahmetatbestände des § 23 Abs. 1 KUG einzelfallabhängig zu beurteilen sind, ist eine Rechteeinholung bzw. die Einholung einer Einwilligung der Abgebildeten regelmäßig zu empfehlen. Dabei gilt es insbesondere darauf zu achten, dass alle gewünschten Verwendungsformen durch die VerwenderInnen vom Konsens der Abgebildeten umfasst sind.

52

OLG Hamm, NJW-RR 1997, S. 1044; BeckOK UrhR/Engels, § 22 KUG Rn. 48.

Rechtliche Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Bildverwendung

6

Rechtsfolgen bei unzulässiger Verwendung

6.1

Urheberrecht

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Eine Urheberrechtsverletzung kann sowohl zivilrechtliche, als auch strafrechtliche Rechtsfolgen auslösen. Diese Rechtsfolgen unterscheiden sich dadurch, dass zivilrechtlich stets eine natürliche oder juristische Person Ansprüche geltend macht, während strafrechtlich relevante Handlungen von den staatlichen Strafverfolgungsbehörden verfolgt werden. Zivilrechtlich sind die möglichen Ansprüche v. a. in § 97 UrhG geregelt. Es handelt sich um Unterlassungs-, Beseitigungs- und Schadensersatzansprüche. Der Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch setzt dabei, anders als der Schadensersatzanspruch, kein Verschulden voraus. Erforderlich ist lediglich eine Wiederholungsgefahr, die jedoch durch die Rechtsverletzung (widerleglich) vermutet wird. In der Regel kann die in Anspruch genommene Person die Wiederholungsgefahr allein durch das Unterzeichnen einer durch eine Vertragsstrafe gesicherten Unterlassungserklärung ausräumen. Bei Verstoß gegen diese Vereinbarung wird die Vertragsstrafe fällig, die beachtliche Summen erreichen kann. Neben den hier benannten Ansprüchen kommen im Falle der Verletzung des Urheberrechts in urheberpersönlichkeitsrechtlicher oder vermögensrechtlicher Hinsicht auch Vernichtungs-, Rückruf- und Überlassungsansprüche gem. § 98 UrhG sowie Auskunfts- und Besichtigungs- bzw. Vorlageansprüche gem. § 101a, b UrhG und § 242 BGB in Betracht. Außerdem bestehen ggf. weitere zivilrechtliche Ansprüche, die von ihrer praktischen Bedeutung her den genannten Ansprüchen aber untergeordnet sind. Urheberrechtsverletzungen sind aber auch strafrechtlich relevant. Die Tatbestände finden sich in § 106 UrhG (unerlaubte Verwertung urheberrechtlich geschützter Werke), § 107 UrhG (unzulässiges Anbringen einer Urheberbezeichnung), § 108 UrhG (unerlaubte Eingriffe in verwandte Schutzrechte), § 108a UrhG (gewerbsmäßige unerlaubte Verwertung) sowie § 108b UrhG (unerlaubte Eingriffe in technische Schutzmaßnahmen und zur Rechtswahrnehmung erforderliche Informationen). Mit Ausnahme des § 108a UrhG handelt es sich bei den Straftatbeständen des Urheberrechts um relative Antragsdelikte, § 109 UrhG, d. h. sie werden nur auf Antrag des Verletzten oder aber bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses verfolgt.53

6.2

Recht am eigenen Bild

Die unzulässige Verwendung von Bildnissen löst ebenfalls straf- und zivilrechtliche Rechtsfolgen aus. § 33 KUG sieht für die unzulässige Verwendung von Bildnissen eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder eine Geldstrafe vor. Es handelt sich jedoch 53 Zum Ganzen: Bräutigam/Rücker/Specht, E-Commerce Handbuch; zum relativen Antragsdelikt: Wandtke/Bullinger/Hildebrandt/Reinbacher, § 109 Rn. 1.

700

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um ein in der Praxis wenig bedeutendes Delikt, das nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag verfolgt wird. Weiterhin sanktioniert § 201a StGB u. a. das unerlaubte Anfertigen und Verbreiten von Bildnissen in besonderen Situationen. Eine unzulässige Bildnisveröffentlichung kann daneben aber auch zivilrechtliche Konsequenzen haben. Zum einen kommen Unterlassungsansprüche der Abgebildeten gegen BildnisverwenderInnen in Betracht (analog § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB, § 823 Abs. 1, § 823 Abs. 2 i.V.m. §§ 22, 23 KUG). Auch hier wird – wie bereits im Urheberrecht erläutert – bei rechtswidriger Erstverwendung die für den Anspruch erforderliche Wiederholungsgefahr (widerleglich) vermutet, die in der Regel nur durch Abgabe einer Unterlassungserklärung ausgeräumt werden kann. Zum anderen bestehen gegen unrechtmäßige BildnisverwenderInnen Beseitigungsansprüche aus §§ 33 ff. KUG, aber auch aus allgemeinem Zivilrecht. Es kommt insbesondere die zivilrechtliche Inanspruchnahme der VerwenderInnen auf Herausgabe oder Vernichtung der Bildnisse sowie der Vorrichtungen zur Vervielfältigung der Bildnisse (Negative, gespeicherte Kopien) in Betracht. Dies kann auch dazu führen, dass bereits veröffentlichte und verbreitete Abbildungen nachträglich geschwärzt oder vernichtet werden müssen. Sowohl Unterlassungs- als auch Beseitigungsansprüche gegen VerwenderInnen erfordern kein Verschulden bzgl. der rechtswidrigen Bildnisverwendung und stehen daher den Abgebildeten bei Vorliegen einer rechtswidrigen Verwendung ohne weitere Voraussetzungen zu. Weiterhin können sich VerwenderInnen von Bildnissen schadensersatzpflichtig machen. Dies setzt eine schuldhafte Verletzung des Rechts am eigenen Bild der Abgebildeten voraus, wobei auch hier hohe Anforderungen an die Recherchepflichten von VerwenderInnen gestellt werden.54 Ein Anspruch auf Schadensersatz entsteht dabei im Falle einer Verletzung materieller Interessen; bei der Verletzung immaterieller Interessen („Schmerzensgeld“) spricht man im persönlichkeitsrechtlichen Kontext von einer Geldentschädigung. Ein solcher Anspruch auf Geldentschädigung besteht nur für besonders schwere Eingriffe, die sich nicht bereits angemessen etwa durch Unterlassung und Beseitigung ausgleichen lassen.55 Für die wissenschaftliche Bildnisverwendung wird dies nur im Ausnahmefall in Betracht kommen.

7

Internationales Recht

7.1

Urheberrecht

Bei der Einräumung von Nutzungsrechten ist das Territorialitätsprinzip zu beachten. Das heißt der Urheber erwirbt kein weltweit einheitliches Urheberrecht, sondern ein Bündel nationaler Schutzrechte. Die Wirkung nationaler Rechtsordnungen ist insoBspw. BVerfG, NJW 2004, S. 589 – Haarfarbe des Bundeskanzlers; Dreyer/Kotthoff/Meckel/ Dreyer, §§ 33–50 KUG Rn. 13. 55 BGH, GRUR 1972, S. 97 – Liebestropfen; BGH, GRUR 1985, S. 398 – Nacktfoto; Schricker/ Loewenheim/Götting, § 60/§§ 33–50 KUG Rn. 27–31; Dreier/Schulze/Specht, § 50 KUG Rn. 21–22. 54

Rechtliche Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Bildverwendung

701

fern auf das jeweilige Staatsgebiet beschränkt.56 Hieraus folgt auch, dass der Nutzer das territoriale Nutzungsrecht des Staates verletzt, wenn er eine urheberrechtlich relevante Verwertungshandlung vornimmt, für die er nach dem jeweils national zur Anwendung kommenden Recht kein Nutzungsrecht eingeholt hat und die auch nicht durch eine im nationalen Recht vorgesehene Schrankenbestimmung privilegiert ist. Kollisionsrechtlich gilt das sogenannte Schutzlandprinzip, nach dem das Recht des Staates zur Anwendung gelangt, in dem um Schutz nachgesucht wird. Wird also Unterlassung einer Handlung begehrt, die in Deutschland vorgenommen wurde, so kommt deutsches Recht zur Anwendung.

7.2

Recht am eigenen Bild

Problematisch werden können Sachverhalte mit Auslandsbezug, etwa Veröffentlichungen, die auch im Ausland abgerufen werden können oder Bildnisse von Personen, die ihren Lebensmittelpunkt im Ausland haben. Für solche Fälle stellen sich grundsätzlich zwei Fragen: Nach welchem nationalen Recht ist die Zulässigkeit der Bildnisverwendung zu beurteilen und vor den Gerichten welcher Staaten kann Klage gegen die BildnisverwenderInnen erhoben werden? Hier ist eine Vielzahl von einzelnen Regelungen zu beachten, die nicht überstaatlich vereinheitlicht sind.57 In der Regel kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die durch eine Bildnisverwendung Geschädigten zumindest an ihrem Wohnort Klage erheben können und dass zumindest das dort geltende Recht auch auf die Bildnisverwendung Anwendung findet. Jedoch gilt überwiegend auch in Bezug auf ausländische Rechtsordnungen, dass eine Bildnisverwendung bei Einwilligung der Abgebildeten zulässig ist.58

8

Fazit

Die Verwertung urheberrechtlicher Werke im wissenschaftlichen Bereich kann durch eine Schrankenregelung erlaubnisfrei ausgestaltet sein. In Betracht kommen insbesondere Verwertungshandlungen in Ausübung der Privatkopie- oder der Zitierfreiheit. Eine Zugänglichmachung an die Öffentlichkeit wird aber in der Regel der Nutzungsrechtseinräumung durch die RechteinhaberInnen bedürfen und auch im Übrigen ist eine solche Nutzungsrechteeinholung aus Gründen der Rechtssicherheit zu empfehlen. Diese Rechteeinholung sollte zu Beweiszwecken schriftlich oder

56

zum Territorialitätsprinzips: Schricker/Loewenheim/Katzenberger, Vor §§ 120 ff. Rn. 121; Dreyer/Kotthoff/Meckel/Kotthoff, § 120 Rn. 4; Schack, § 26 Rn. 915. 57 Ausführlich: Götting/Schertz/Seitz/Herresthal, § 58; Götting/Schertz/Seitz/Seitz, § 59; zum Gerichtsstand für Streitigkeiten nach KUG: Dreyer/Kotthoff/Meckel/Dreyer, §§ 33–50 KUG Rn. 3; Dreier/Schulze/Specht, § 50 Rn. 31–38. 58 Bspw. für Frankreich: Götting/Schertz/Seitz/Trebes, § 63 Rn. 37; für Spanien: Götting/Schertz/ Seitz/Trebes, § 68 Rn. 11.

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jedenfalls per E-Mail erfolgen, denn NutzerInnen haben im Konfliktfall die Rechtekette lückenlos nachzuweisen. Sie können ansonsten selbst dann, wenn sie nicht schuldhaft gehandelt haben, auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. Die Verwendung von Bildnissen, auf denen erkennbar Personen abgebildet sind, verlangt in der Regel eine Einwilligung der Abgebildeten, die alle gewünschten Verwendungsarten umfasst. Eine Verwendung durch Zurschaustellen außerhalb der Öffentlichkeit, bspw. in Fokus-Gruppen-Interviews oder abgeschlossenen (Online-) Umfragen, ggf. auch im Bereich abgeschlossener Seminargruppen bzw. Vorträgen, kann jedoch auch ohne Einwilligung zulässig sein. Abzustellen ist jeweils auf den Einzelfall. Für alle anderen Verwendungsarten, insbesondere die Veröffentlichung, ist eine Einwilligung stets erforderlich. Kann die Identität der abgebildeten Person nicht ermittelt werden, kann möglicherweise die Abbildung so ausgestaltet werden, dass die Erkennbarkeit der Person verhindert wird und das Einwilligungserfordernis damit entfällt, wobei allerdings auf das Verbot der Entstellung gegenüber dem Urheber geachtet werden muss. Ansonsten muss die Verwendung des Bildnisses unterbleiben.

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Ethische Aspekte der Visuellen Kommunikationsforschung Alexander Godulla

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ethische Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Normative Herausforderungen der Bildethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Authentizität als bildethischer Standard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In der Visuellen Kommunikationsforschung spielt Ethik eine zentrale Rolle, um das Handeln von Forschenden und Bildschaffenden abseits rechtlicher Fragen angemessen beurteilen zu können. Dieser Beitrag zeigt daher auf, an welchen Stellen innerhalb der Wissenschaftsethik eine gesonderte Betrachtung Visueller Kommunikationsforschung notwendig ist. Im Anschluss wird auf einer allgemeineren Ebene Bildethik an sich diskutiert, wobei der Schwerpunkt auf journalistischer Fotografie liegt. Die Aspekte der Authentizität und Digitalisierung werden in diesem Kontext besonders stark herausgearbeitet, um so Bezüge zu aktuellen Entwicklungen in sozialen Medien herzustellen.

Schlüsselwörter

Visuelle Kommunikation · Wissenschaftsethik · Authentizität · Digitalisierung · Ethik

A. Godulla (*) Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_33

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Einleitung

Laut einer der einschlägigsten Definitionen von Ethik im Journalismus besteht ihre Funktion darin, „den Spielraum des rechtlich nicht Verbotenen auf das moralisch Verantwortbare ein[zu]grenzen“ (Wilke 1998, S. 292). Auf das spezifische Problem der Visuellen Kommunikationsforschung lässt sich diese Definition nahtlos übertragen: In der Grauzone zwischen juristischen Vorschriften und normativen Parametern müssen in der Erforschung, der Produktion und der Rezeption von Bildinhalten nachhaltig vertretbare Entscheidungen getroffen werden. Geht man von rein messbaren Zahlen aus, besteht dabei ein enormer Orientierungsbedarf: So lässt sich aus einer Studie des südkoreanischen Elektronikkonzerns Samsung extrapolieren, dass im Jahr 2013 allein in Deutschland 36 Milliarden Fotos im Privatbereich angefertigt worden sind. Davon wurden fast vier Milliarden binnen 60 Sekunden im Internet verbreitet (Samsung Electronics 2014). Für die logischerweise um ein Vielfaches höher liegenden globalen Werte existieren keine zuverlässigen Zahlen. Nimmt man professionell in Journalismus, Public Relations und Werbung erstellte Bilder hinzu, darf indes ohne Vorbehalt von einer Omnipräsenz des Bildes gesprochen werden. Diese Allgegenwart generiert eine ganze Reihe von Spannungsfeldern, die bei weitem nicht nur den beruflich motivierten Umgang mit Bildern betreffen. Durch die Demokratisierung Öffentlicher Kommunikation ist jeder befähigt worden, über soziale Medien und Blogs visuelle Inhalte zur Verfügung zu stellen. Die Entwicklung einer differenzierten Bildethik steht hier jedoch noch am Anfang. Eine Adaption erprobter Entscheidungsroutinen der professionellen Kommunikation kann hier zumindest in Teilen als Entwicklungsperspektive interpretiert werden. Dies fordert neben dem Feld der erweiterten Praxis in Redaktionen, Blogosphären und sozialen Netzwerken auch die Visuelle Kommunikationsforschung heraus, die ihre ethischen Perspektiven in einem digitalisierten und globalisierten Feld neu justieren muss. Dieser Beitrag nähert sich diesem Problem aus insgesamt vier Perspektiven: Zunächst wird auf allgemeine ethische Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung eingegangen. Im Anschluss bearbeitet der Beitrag normative Herausforderungen der Bildethik, die anhand der Lasswell-Formel strukturiert werden. Die Perspektive orientiert sich vorrangig an den ethischen Herausforderungen des journalistischen Bilds, da hier eine besondere Legitimation der Bildproduktion durch die Wahrung eines öffentlichen Interesses gegeben sein muss. Gleichzeitig kann dieser Bereich im weitesten Sinn als Blaupause interpretiert werden, die zumindest teilweise auf benachbarte Fragestellungen übertragen werden kann. Im Anschluss wird der Begriff der Authentizität herausgestellt, da dessen Implikationen besonders weitreichende Folgen für das Thema der Bildethik haben. Basierend darauf gibt das Fazit einen Ausblick für die weitere Entwicklung einer Ethik der Visuellen Kommunikationsforschung. Die aus der Digitalisierung Öffentlicher Kommunikation ableitbaren ethischen Herausforderungen werden dabei besonders intensiv herausgearbeitet, um so Impulse für die gegenwärtige und künftige Entwicklung ethischer Perspektiven innerhalb der Visuellen Kommunikationsforschung geben zu können.

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Ethische Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung

Am Anfang einer ethischen Reflexion im Kontext Visueller Kommunikationsforschung muss zunächst geklärt werden, ob überhaupt Bedarf an einer solchen Erörterung besteht. Würde es mit anderen Worten nicht genügen, allgemeine Erwägungen zur Wissenschaftsethik auf den hier vertretenen Teilbereich zu transferieren? Bekanntermaßen beschäftigt sich Wissenschaftsethik „mit moralischen Fragen, die in der wissenschaftlichen Handlungspraxis und als Folgen von wissenschaftlichen Innovationen auftreten können“ (Reydon und Hoyningen-Huene 2011, S. 132). Dies beinhaltet offensichtlich Fragen nach der individuellen Verantwortung von in der Wissenschaft tätigen Personen sowie Maßstäbe einer guten oder eben zu beanstandenden wissenschaftlichen Praxis. Auf diese Weise trägt ethisch begründetes Verhalten unmittelbar zur Qualitätssicherung wissenschaftlicher Praxis bei: „Durch Klärung dieser Fragen soll ein gutes Bild davon entstehen, was Wissenschaft genau ist und wie sie in der Lage ist, verlässliches Wissen zu produzieren“ (Reydon 2013, S. 16). Aus wenigstens zwei Problemzusammenhängen heraus lässt sich innerhalb dieses Wirkungsfelds eine Sonderstellung ethischer Aspekte der Visuellen Kommunikationsforschung ableiten. An erster Stelle ist dabei das Phänomen der media literacy zu nennen. Dieser nur unzureichend mit „Medienkompetenz“ zu übersetzende Begriff fokussiert unter anderem die grundsätzliche Kompetenz des Publikums, Medieninhalte in möglichst holistischer Weise zu verstehen. Neben der Betrachtung der Aussage an sich beinhaltet dies also auch plausible Annahmen über den Entstehungskontext eines Werkes. Wie Isermann und Knieper (2010, S. 305) herausarbeiten, ist hier mit weitreichenden Defiziten zu rechnen: „Bildethischer Bedarf entwickelt sich [. . .] aus einem Missverständnis heraus, dem viele Rezipienten aufgrund mangelnder Bildkompetenz unterliegen, indem sie den Prozess der Bildproduktion auf vor allem technische Aspekte reduzieren, menschliche Einflussfaktoren ausblenden und so der Illusion eines intuitiven, unmittelbaren und Wahrheiten transportierenden Informationswerts erliegen.“ Auch wenn in der Forschung tätige Personen in weitaus höherem Maß für derartige Irrtümer sensibilisiert worden sein sollten, können sie auf keinen Fall vollständig gegen dieses Problem gefeit sein. Das Bild als Untersuchungsgegenstand (seien es Fotografien, Illustrationen oder Bewegtbildsequenzen) darf jedoch nicht ohne ein Bewusstsein für dieses spezifische Problem bearbeitet werden. In den folgenden Absätzen wird daher erläutert, aus welcher Perspektive eine fundierte Annäherung an zu untersuchende Bilder möglich wird. Die Informationsasymmetrie zwischen den Produzierenden und Forschenden ist auf dem Feld der Visuellen Kommunikationsforschung oft enorm groß. Unter welchen Bedingungen beispielsweise ein Bild entstand, warum es ausgewählt und andere verworfen wurden oder auch welche technische Ausrüstung zum Einsatz kam, lässt sich häufig kaum zuverlässig rekonstruieren. Qualitätskriterien der Wissenschaftsethik wie Ehrlichkeit, Objektivität, Überprüfbarkeit, Verständlichkeit sowie eine logische und nachvollziehbare Argumentation (siehe detailliert dazu Balzert et al. 2011, S. 13–48) müssen daher in besonderer Weise beachtet werden. Es ist als

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logische Folge ganz zentral, eigene Vorannahmen aufzudecken, mögliche Brüche in der Herleitung von Aussagen lückenlos zu beschreiben und stets die im eigenen kognitiven System stattfindenden Vorurteile als solche zu erkennen und aufzulösen. Das Risiko einer durch die immersive Kraft des Bildes initiierten Rezeption ohne reflektierende Distanz ist andernfalls sehr groß. Die Forschung würde dann denselben Fehlschluss leisten wie ein Publikum, das Bilder nicht in angemessener Weise als Konfigurationen oder gar Inszenierungen visueller Natur zu identifizieren vermag (Doelker 1999, S. 187). Dazu zählt auch die Erkenntnis, dass Menschen immer Sinnmaschinen sind: Ununterbrochen laden wir Bilder mit Bedeutung auf und unterstellen an Orten Intentionalität, wo vielleicht auch einfach der Zufall gewaltet hat. Beispielsweise mag der Einsatz eines bestimmten Objektivs bei der Bildproduktion tatsächlich in einer bestimmten angestrebten Bildwirkung wurzeln – er kann aber auch schlicht und einfach der Tatsache geschuldet sein, dass keine andere Technik zur Hand war. Da hohe ethische Standards stets auch das Streben nach optimaler Qualität beinhalten, sollte daher jede noch so banal erscheinende bildbezogene Aussage mit einem Maximum an Selbstkritik formuliert werden. Wissenschaftsethisch ist es also in allen Stufen der Beurteilung von besonderer Relevanz, die vermeintliche „Bedeutung“ eines Bildes nicht zu verabsolutieren. Zentral erscheint dabei, der für die Schaffung eines Fotos oder einer Bildsequenz verantwortlichen Person nicht bestimmte Motive oder Ansichten zu unterstellen. Besonders weittragende Implikationen hat dieser Denkanstoß bei sogenannten Bildikonen. Perlmutter (1998, S. 11) definiert diese Bilder anhand einer ganzen Reihe von Merkmalen, die hier in Anführungszeichen gesetzt werden. So sind neben großen Teilen des Publikums selbst auch Diskurseliten aus Politik, Medien oder Wissenschaft mit dem Motiv vertraut und interpretieren es als bedeutsam („celebrity“). Bildikonen wurden und werden auf Titelseiten platziert („prominence“) und somit oft reproduziert („frequency“). Ihre Bekanntheit generieren sie dabei sehr rasch und bewahren sie auch über einen langen Zeitraum („instantaneousness“). Dabei sind sie an keine bestimmten Medien gebunden („transportability“). Auf diese Weise entsteht zu bestimmten Fotos eine mitunter komplexe Metaebene, die im Lauf der Jahre Reaktualisierungen und Neuinterpretationen erfährt. Die Reichweite ist dabei zumindest theoretisch unbegrenzt: „Die emotionale und kognitive Wirkung solcher Ikonen der Medienkultur gerinnt zu einem hohen kollektiven Identifikationspotenzial. Denn als Medienikonen bieten sie Identifikation für beinahe alle sozialen Gruppen, über Generations- und Schichtgrenzen hinweg. Medienikonen überspringen auch in komplexen Gesellschaften mit ihrer zeichenhaften Macht die Grenzen massenmedialer Öffentlichkeit und von Teilöffentlichkeiten“ (Beuthner et al. 2003, S. 49, H.i.O.). Ein hohes Quellenbewusstsein muss diesem Prozess im Zweifelsfall entgegengehalten werden, um wissenschaftliche Perspektiven nicht auf tradierten Denkfehlern, Irrtümern oder gar bewussten Verfälschungen aufzubauen. Ethik bedeutet hier also auch ein Maximum an kritischer Distanz gegenüber vermeintlich gesichertem Wissen. Dies beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit dem angeblichen Effekt von Bildikonen auf die öffentliche Meinung: „Die äußeren Bilder, zumal die des Krieges, sind nicht [. . .] eo ipso eine ‚Anklage‘, kein eigenständiges Subjekt,

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sondern immer abhängig von ihrem je spezifischen historischen politisch-kulturellen Deutungs- und Handlungskontext sowie von den Menschen, die sie produzieren und rezipieren“ (Paul 2004, S. 11–12). Im Extremfall besteht dieser Mangel an intersubjektiver Konsonanz zwischen Bildschaffenden und Publikum in einem Umfang, der eine ursprünglich vorhandene Intention vollständig ins Gegenteil verkehrt. Ein besonders prägnantes Beispiel stellt das World Press Photo of the Year von 1968 dar. Es zeigt den südvietnamesischen General Nguyen Ngoc Loan, der auf offener Straße einen nordvietnamesischen Offizier und mutmaßlichen Kollaborateur der Vietcong hinrichtet. Bis heute wird diese Aufnahme als eines „der denkwürdigsten Bilder in der Geschichte der Kriegsfotografie“ (Le Feuvre 2000, S. 114) wahrgenommen. Sein Fotograf Eddie Adams erhielt dafür als Anerkennung seiner dokumentarischen Leistung nicht nur den begehrten World Press Photo Award, sondern darüber hinaus auch den renommierten Pulitzerpreis. Adams opponierte jedoch gegen die öffentliche Interpretation des Fotos, die in Loan einen gewissenlosen Mörder erkannte. Stattdessen erklärte er bei dessen Tod im Jahr 1998: „The guy was a hero. America should be crying. I just hate to see him go this way, without people knowing anything about him“ (Howe 2002, S. 27). Zugespitzt muss also festgehalten werden, dass es zwischen einem Bild an sich und der Wahrnehmung des Bilds im äußersten Fall keine Schnittmenge gibt. Oder um es auf Adams’ Foto zu beziehen: „As a result of Adams photograph the general came to be regarded in the West as a representative of evil. Apparently, once a photo is published, forces are at work that are beyond the photographers control“ (Pool und Krijgsman 2005). Die spezifischen Analyseprobleme eines jeden Bildes reichen zu allem Überfluss jedoch noch weiter. Mitchell spricht – als Urheber des Begriffs vom „Pictorial Turn“ (1994) – visuellen Kommunikationsangeboten ihre Alleinständigkeit ab: „There are no visual media“ (Mitchell 2005, S. 257). Die weitreichenden wissenschaftstheoretischen Folgen dieser Aussage hat Lobinger (2012, S. 71–76) in großer Detailliertheit referiert. Für den ethischen Diskurs ist an dieser Stelle stattdessen eine starke Vereinfachung ausreichend: Visuelle Medienelemente korrespondieren intensiv mit den Zeichensystemen in ihrer Umgebung (siehe auch den Beitrag von Bucher in diesem Band). Ihnen wohnt ein hohes Maß an Ambiguität, also Mehrdeutigkeit, inne, die durch den kulturellen Kontext der Betrachtung zu stark divergierenden Einordnungen führen kann. Es ist ethisch daher unabdingbar, neben dem Material einer Studie auch stets dessen Kontext offenzulegen und ihn darüber hinaus bei der Formulierung von wissenschaftlich fundierten Aussagen zu berücksichtigen. Viele der hier formulierten Denkanstöße beziehen sich in besonderem Maß auf die Aussagekraft quantitativer oder qualitativer Inhaltsanalysen. Sobald bei bildethischen Fragestellungen visuelles Material betrachtet werden soll, kommt als noch zu nennender ethischer Aspekt außerdem der Schutz von Versuchspersonen hinzu. Dies geht immer mit einer Güteabwägung einher, bei der der zu erwartende Forschungsertrag stets kritisch zu hinterfragen ist. Die Aussagekraft von ex-post-Aussagen über Rezeptionserlebnisse ist nämlich nur sehr begrenzt verallgemeinerbar, da „das in rationaler Reflexion vollzogene kritische Fragen nach der Richtigkeit oder Authentizität eines Bildes [. . .] [als] ein dem Bildbewußtsein vorangehender oder nachträglicher Vorgang“ (Leifert 2007, S. 22) gewertet werden muss. Einer bekannt

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gewordenen Aussage nach sind Bilder „schnelle Schüsse ins Gehirn“ (Kroeber-Riel 1993, S. 53). Sobald sie als visueller Stimulus auf die Netzhaut treffen, ist eine NichtRezeption ausgeschlossen. Was Menschen im Rahmen einer Studie zugemutet werden kann und darf, muss daher zuvor in einem intensiven Abwägungsprozess entschieden werden. Dies schließt auch Forschende mit ein, die sich mit Stimulus-Material wie beispielsweise Kriegsfotografie einer hohen psychischen Belastung aussetzen können. Dies ist forschungsethisch bis zur Präsentation von Forschungsergebnissen zu denken, da sich auch ein mit empirischen Ergebnissen konfrontiertes Publikum beispielsweise in einer Vortragssituation nicht einem plötzlich zur Schau gestellten Bildmaterial entziehen kann.

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Normative Herausforderungen der Bildethik

Es ist eine bewährte Strategie in der Kommunikationswissenschaft, Forschungsfelder anhand der sogenannten Lasswell-Formel zu systematisieren (Lasswell 1960, Abb. 1): Für vier der fünf genannten Felder sollen nun einige zentrale Anmerkungen formuliert werden, die Anhaltspunkte für ethische Herausforderungen in den dargestellten Bereichen bieten. Die Wirkung wird bewusst ausgelassen, da die hier zu beobachtenden Phänomene eher kognitionspsychologisch geprägt sind und hier als Resultat der vorhergehenden vier Felder verstanden werden. An erster Stelle steht dabei der Kommunikator („Who“): Seine Position wird in der Visuellen Kommunikationsforschung oft intuitiv individualethisch beschrieben. Dies hängt mit den historischen Wurzeln der Fotografie zusammen (siehe detailliert Godulla 2009, S. 36–43). Seit der Franzose Nicéphore Niépce im Jahr 1826 die erste erhaltene Heliografie eines Blicks aus einem Fenster in Le Gras in einer achtstündigen Belichtungszeit erstellte, wurde die Persönlichkeit des Fotografierenden in der Öffentlichkeit mit besonderem Interesse verfolgt. Ähnlich wie bei Kunstschaffenden wird der eng mit der Verbreitung eines Werks verbundene Verwertungsprozess bei Diskussionen oft ausgeblendet. Diese Überbetonung der fotografischen Persönlichkeit setzt sich bis in die Gegenwart fort: Beispielsweise wird die Etablierung eines künstlerisch-minimalistischen Stils in der Dokumentarfotografie der 1990er-Jahre durch den US-Kriegsfotografen James Nachtwey retrospektiv als „Rise of the Reporter-Artist“ (Panzer 2005, S. 296) beschrieben. An diese Form des „Reportagekünstlers“ werden hohe ethische Anforderungen gestellt. So fasst Pürer das durch Boventer geprägte Feld der journalistischen Individualethik folgendermaßen zusam-

Abb. 1 Die Lasswell-Formel als Abbildung kommunikationswissenschaftlicher Forschungsfelder. (Quelle: entwickelt nach Schulz (2009, S. 173). Darstellung A.G.)

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men: „Neben einer qualifizierten fachlichen und handwerklichen Ausbildung wird vom einzelnen Journalisten eine solide, berufsethische Fundierung gefordert, die ihm seine hohe Verantwortung gegenüber den Objekten seiner Berichterstattung, aber auch gegenüber Publikum und Gesellschaft bewusst machen soll“ (Pürer 2003, S. 144). Nicht übersehen werden darf jedoch, dass das Agieren des Individuums in der Visuellen Kommunikation häufig auch durch redaktionelle Entscheidungsroutinen modifiziert wird. Rühl und Saxer haben hier das Konzept der Mediensystem-Ethik vorgelegt (Rühl und Saxer 1981). Dort wird Journalismus als komplexes Handlungssystem interpretiert, das agierende Personen in ihrem Spielraum auf zugewiesene Rollen mit spezifischen Arbeits- und Berufsnormen eingrenzt. Eine Betrachtung ethischen Verhaltens muss damit stets auch die Mesoperspektive (also die Organisation) beinhalten und sich theoretisch bis zur Makroperspektive des Gesamtsystems (in diesem Fall des Mediensystems) erstrecken (siehe auch Saxer 1988). Zurecht spricht beispielsweise auch Meier (2010, S. 149) von der Redaktion „als vernachlässigte Institution der Medienethik“. Die meist medienphilosophisch motivierten Perspektiven auf Ethik in der Visuellen Kommunikation greifen vor diesem Hintergrund oft zu kurz. Als Beurteilungskriterien einer „theoretisch und empirisch arbeitende[n] Sozialwissenschaft mit interdisziplinären Bezügen“ (DGPuK 2008, S. 1) lassen sie sich daher häufig nicht unmittelbar übertragen. Sehr gut geeignet sind sie indes, um die Wurzel eines allgemeinen Unbehagens gegenüber der Erstellung visueller Kommunikationsinhalte in einem häufig prekären Kontext zu rekonstruieren. So betont der einflussreiche Essay „Über Fotografie“ schon 1977 die im Allgemeinen unterstellte Rolle der Kamera, primär das Schöne für die Nachwelt zu bewahren: „Sieht man von jenen Situationen ab, in denen die Kamera dokumentieren oder gesellschaftliche Riten festhalten soll, so greifen die Menschen zur Kamera, um etwas Schönes auf den Film zu bannen [. . .] Niemand ruft: ‚Wie hässlich! Das muss ich fotografieren!‘“ (Sontag 2004, S. 84). Die professionelle Berichterstattung mit Mitteln der visuellen Kommunikation wird auf der Grundlage dieses Vorbehalts oft als geradezu aggressiver Akt gedeutet: „Es ist derselbe Verstand, der den Gegner über große Entfernungen hinweg auf die Sekunde und auf den Meter genau mit seinen Vernichtungswaffen zu treffen weiß und der das große geschichtliche Ereignis in seinen feinsten Einzelheiten zu bewahren sich bemüht“ (Jünger 1930, S. 9). Auch hier kommt es wieder zu der bereits beschriebenen Überbetonung individualethischer Aspekte: „Betrachtet man die Bewegungen eines mit einem Fotoapparat versehenen Menschen [. . .], dann gewinnt man den Eindruck eines Lauerns: Es ist die uralte pirschende Geste des paläolithischen Jägers in der Tundra“ (Flusser 1997, S. 31). Für einen kompetenten medienethischen Diskurs ist es entscheidend, sich die hier skizzierten Positionen nicht im Übermaß zu eigen zu machen. Wenn visuelle Kommunikation der Berichterstattung dient (also journalistisch zu interpretieren ist), sind stattdessen dieselben Qualitätskriterien zu Grunde zu legen wie bei der Beurteilung jedes anderen journalistischen Produkts auch. Da Journalismus das Resultat gesellschaftlicher Ausdifferenzierung durch das Herstellen von Öffentlichkeit kompensieren muss, rückt demnach die Theorie journalistischer Qualität in den Mittelpunkt,

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die durch Arnold (2016) umfassend referiert worden ist. Übertragen auf journalistisch motivierte Akte visueller Kommunikation besteht also auch hier der Anspruch, ein richtiges, vollständiges und relevantes Gesamtbild zu erzielen (Pöttker 2000). Auf diese Weise muss auch visuelle Kommunikation dem von Haller (2003, S. 181) formulierten Ziel dienen, eine mediale Wirklichkeit zu erzeugen, „die von den Kommunikationspartnern [. . .] als Orientierung über aktuelle Ereigniszusammenhänge genutzt, zumindest so verstanden wird“. Ein oft übersehenes ethisches Risiko betrifft dabei nicht zuletzt die kommunizierende Person selbst. In welchem Umfang darf sie sich psychischen und physischen Risiken aussetzen, um die ihr auferlegten Berufsnormen zu erfüllen? Wer sich unmittelbar mit prekären Situationen konfrontiert, droht dabei die Selbstsorge als ethische Norm aus den Augen zu verlieren: „Je länger ein Reporter oder Fotograf diese Art von Geschichten abdeckt, desto größer wird die Gefahr, dass er unter Traumasymptomen leidet“ (Siebenthal 2003, S. 66). Dieser Aspekt der Kommunikatorforschung wird gerade auch im Bereich der Visuellen Kommunikation bislang weitgehend übersehen oder ignoriert. Weitaus prominenter im Fokus steht derweil die Betrachtung der Mitteilung („Says What“) als zweites Feld der Lasswell-Formel. Neben der bereits diskutierten Tätigkeit des Fotografierens oder Filmens selbst ist hier die Analyse auf den Umgang mit Bildmaterial zu fokussieren. Das Kunsturheberrechtsgesetz (KUG) spannt hier einen bestimmten juristischen Rahmen auf, der eine Güterabwägung zwischen Aspekten wie dem gesellschaftlich vorhandenen Informationsbedürfnis sowie der Freiheit der Meinung und Kunst auf der einen Seite und dem Recht am eigenen Bild auf der anderen Seite darstellt (siehe auch den Beitrag von SpechtRiemenschneider et al. in diesem Band). Diese von Isermann und Knieper (2010, S. 309–311) pointiert verdichtete Thematik muss an dieser Stelle wegen ihres primär juristischen Charakters nicht weiter aufgearbeitet werden. Weitaus wichtiger ist die Tatsache, dass insbesondere hohe technische und ästhetische Standards bei der Abbildung leidender oder gar sterbender Menschen eine ethische Gradwanderung darstellen. Wer diese jedoch pauschal in die Nähe einer Art Ausbeutung inhumanen Elends rückt, ignoriert den Anspruch möglichst effizienter Kommunikationsroutinen. So hat beispielsweise Nachtwey als Fokus seiner Arbeit formuliert, „zum Sprachrohr all jener zu werden, die von der Welt unbeachtet bleiben, weil ihre Stimmen – falls sie je eine hatten – verstummt sind; zu appellieren, zu alarmieren, aufzuwühlen, aufzuschreien“ (Nachtwey 2004, S. 9). Transferiert man diese Formulierung als Gedankenexperiment auf subjektive textuelle Darstellungsformen wie beispielsweise die Reportage, würde dies vermutlich zur Formulierung möglichst unmittelbarer, anschaulicher und immersiver Sätze führen. Ein ähnlicher Ansatz lässt sich auch aus Selbstcharakterisierungen des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado ableiten. Rezipiert wird er häufig als „Meister in der Ästhetisierung des Schreckens“ (Koetzle 2008, S. 184). Versehen mit dem Ruf eines „Ikonografen der Globalisierung“ (Bax 2001, S. 13) gelten seine Fotos auch als „Heiligenbilder der Namenlosen“ (Gaede 2006, S. 64). Einen mangelnden ethischen Anspruch will Salgado stellvertretend für viele moderne Fotografinnen und Fotografen in einer visuell ausgefeilten Repräsentation jedweder Form des Leidens nicht erkennen. Stattdessen betont er, dass „man die unerträglichsten Reali-

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täten mit den sanftesten Mitteln, mit der besten Komposition, mit dem schönsten Licht angehen sollte, um die Leute in das Bildgeschehen einzubeziehen, damit sie verstehen, dass die Menschen, die sie sehen und die da leiden, Menschen wie sie selbst sind. Diese Kinder könnten ihre sein, die Frau könnte ihre sein, und auch sie könnten auf dem Bild zu sehen sein“ (Hoy 2006, S. 224). Die Ästhetik des Fotos zu Gunsten der Akzentuierung des Entsetzens zu vernachlässigen, lehnt Salgado dementsprechend ab: „Zum Horror auch noch Hässlichkeit hinzuzufügen ist sinnlos“ (Hoy 2006, S. 224). Ethisch angreifbar ist die Darstellung als negativ empfundener Ereignisse in der Visuellen Kommunikation also nicht, wenn neben den bereits skizzierten Anforderungen des Kunsturheberrechtsgesetzes auch institutionell etablierte Berufsnormen sowie insbesondere das Streben nach Qualität durchgehend Berücksichtigung finden. Da „durch negative Ereignisse viel stärker als durch positive Ereignisse ein unmittelbarer Handlungsbedarf entsteht“ (Wilke 1984, S. 160), kommt Bildjournalismus so grundsätzlich den an ihn gerichteten Funktionserwartungen nach. Dass dabei global gesehen nachweislich massive Verzerrungen bestehen, die wirtschaftlich schwache Länder übertrieben konflikthaltig und einseitig darstellen (Godulla 2013, 2015), bedeutet wegen der damit verbundenen Stabilisierung des Status Quo ein weitaus gravierenderes Problem. Teil dieses Problems ist die Art und Weise, wie visuelle Kommunikationsinhalte in Medien („In Which Channel“) eingesetzt werden. Eine zentrale Eigenschaft der Fotografie wie des Videos besteht nicht zuletzt darin, ein hohes Maß an Ambiguität zu generieren. Bilder sind also immer mit einer enormen semantischen Fülle aufgeladen, der zugleich eine vergleichsweise begrenzte Decodierfähigkeit des Publikums gegenübersteht (Knieper 2003, S. 193–194). Die Zahl der intervenierenden Faktoren bei der Interpretation des Bildes ist dabei enorm hoch: „Kulturkreis, historischer Kontext, Präsentationskontext, Umbildcharakter, Vorwissen oder individuelle Wahrnehmungssituation“ (Knieper 2005, S. 38) stoßen nur schwer prognostizierbare Assoziationsprozesse an, die Manipulationen relativ einfach machen. Hinzu kommt durch die scheinbare Unmittelbarkeit des Rezeptionsprozesses ein hohes Emotionalisierungspotenzial: „Bilder, insbesondere Großaufnahmen, sind oft mit Erlebnisaspekten gekoppelt und können im besonderen Maße Gefühle auslösen oder verstärken“ (Sachs-Hombach 2002, S. 27). Studien zeigen, dass Bildmedien besonders gut geeignet sind, um durch ausgelöste Emotionen Einstellungen zu verändern und Glaubwürdigkeit herzustellen (Levie 2012, S. 22, siehe auch den Beitrag von Döveling in diesem Band). Dementsprechend groß ist die Versuchung, sie vergleichsweise nüchternen Beschreibungen als eine Art Subtext beizustellen: „Emotionen werden in den Medien häufig visuell vermittelt. Dies liegt an der sowohl Emotionen als auch Bildern zugrunde liegenden assoziativen Logik, die sich von der tendenziell argumentativen Logik textueller Kommunikation unterscheidet“ (Kappas und Müller 2006, S. 3). Weil es dabei auf einem Foto „im eigentlichen Sinn kein Äquivalent des Wortes oder des Buchstabens“ (Barthes 2002, S. 82) gibt, geht der Einsatz von Bildmedien mit einer besonderen ethischen Verantwortung einher. Das Generieren von Kontext provoziert hier je nach Intention Verständnis oder Missverständnis. Als Beispiel kann hier die Bildunterschrift herausgegriffen werden, durch die Bildern erst eine

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spezifische assoziative Richtung aufgeprägt wird: „Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, flüchtige und geheime Bilder festzuhalten, deren Chock im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift, und ohne die alle fotografische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muss“ (Benjamin 1974, S. 385). Wie die Bildunterschrift vermag auch der Beschnitt die Wahrnehmung des Bildinhalts maßgeblich zu verändern. Was jenseits der Ränder eines Fotos liegt, ist für das Publikum retrospektiv nicht mehr rekonstruierbar. Hier sinnverändernde oder -entstellende Auslassungen vorzunehmen, kann für die Aussagenproduktion weitreichende Folgen haben: Bereits „eine simple Ausschnittvergrößerung [. . .] kann die Bedeutung eines Bildes völlig verändern“ (Jaubert 1989, S. 177). Dies führt vor dem Hintergrund der Etablierung sozialer Medien zu einem Spannungsfeld. Für das Publikum der Gegenwart ist der nahtlose Wechsel von Rezeptions- zu Produktionsrollen und umgekehrt eine Selbstverständlichkeit. Während in professionellen Kommunikationsberufen jedoch berufliche Rollen internalisiert und institutionalisiert werden, basiert Laienkommunikation häufig auf anderen Prämissen wie dem Identitäts- und Beziehungsmanagement oder dem Aufbau von sozialem Kapital (Hohlfeld und Godulla 2015, S. 25–26). Was auf Facebook, Instagram, Snapchat oder YouTube publiziert wird, ist demzufolge weder durch redaktionelle Entscheidungsprozesse gefiltert, noch das Ergebnis einer explizit formulierten ethischen Diskussion. Außerdem konvergieren die Prozesse der Produktion und Rezeption auf Basis der Endgeräte, wo Smart Devices (Smartphones, Tablets, Phablets) visuelle Kommunikation quasi in Echtzeit gestatten. Livestreams auf Facebook, Twitch oder YouTube können Menschen daher mit Inhalten konfrontieren, die ebenso ethisch fragwürdig wie dysfunktional sind. Ein besonders extremes Beispiel ereignete sich am 16. Juni 2016, als ein Mann seine eigene Ermordung auf Facebook gestreamt hatte (Mansholt 2016). Gegen den Widerstand von Plattformen wie YouTube wurde dieses Video im Nachhinein vielfach hochgeladen und so Menschen jeden Alters zugänglich gemacht. Der Umgang mit Persönlichkeitsund Urheberrechten oder der Beschnitt und die Beschreibung von Bildern werden daher oft intuitiv praktiziert. Da Personen an der Schnittstelle von privater und Öffentlicher Kommunikation gerade auf Plattformmedien eine enorme Reichweite und Meinungsführerschaft erreichen können, lohnt sich auch an dieser Stelle die Erforschung bereits vorhandener oder gerade entstehender ethisch motivierter Entscheidungsroutinen. Eine Reihe von internationalen Studien belegt bereits für den Bürgerjournalismus, das hier auch im Bereich der Visuellen Kommunikation keinesfalls willkürlich agiert wird (Mortensen 2011, 2014; Andén-Papadopoulos 2013, 2014). Die durch das Postulat eines möglichst ethischen Verhaltens provozierten Probleme enden jedoch nicht an dieser Stelle. Inkludiert man neben den technischen und strukturellen Eigenschaften eines Mediums auch seinen sozialen Gebrauch in die Analyse, muss auch die Position des Publikums (Rezipient – „To Whom“) diskutiert werden. Christians (1989, S. 258) hat hier mit dem Konzept der Publikumsethik einen wesentlichen Diskursanreiz formuliert. Demnach existiere eine „umfassende

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moralische Pflicht der Öffentlichkeit, soziale Prozesse wie die gesellschaftliche Kommunikation zu überwachen“. Gemeint ist damit auch die Aufforderung an das Publikum, sich dysfunktionalen Inhalten zu entziehen, um so deren Marktchancen zu reduzieren. Dass diese Beziehung auf breiter Basis offenkundig nicht als Automatismus existiert, wird eindrucksvoll durch die Allgegenwart sexistischen, rassistischen oder auch gewaltverherrlichenden Bildmaterials in einer Vielzahl von Medien unter Beweis gestellt. Trotz des beschriebenen Emotionalisierungspotenzials der Fotografie übt sie darüber hinaus auch bei der Bewältigung von Kriegen, Konflikten oder Katastrophen nicht bei allen Teilen des Publikums eine aktivierende Wirkung aus. Wie Schulz treffend darstellt, besteht darin jedoch eine Kernfunktion von Journalismus: „Konflikte sind eine akute oder potenzielle Bedrohung, und die Massenmedien tun gut daran, sie herauszustellen, damit sie ausgetragen werden; auch Schäden an Personen und Sachen verdienen Aufmerksamkeit, damit ihre Ursachen erkannt und beseitigt werden können“ (Schulz 1976, S. 121). Die Realität ist indes eine andere: Während Bildhistorikerinnen und Bildhistoriker in der Geschichte der Kriegsfotografie mitunter „geradezu obsessive“ (Baumgarten et al. 2003, S. 12) Züge in der Darstellung von Leichen erkennen wollen, haben Pressefotos kriegerische Auseinandersetzungen trotz schockierender Visualisierungen weder verhindert, noch beendet. Stattdessen zeigen sie allenfalls „mit anschaulicher Deutlichkeit, daß Lektionen, die an einem Tag gelernt werden, am nächsten vergessen sind. Daß diese optischen Echos die Unfähigkeit zum Lernen enthüllen, liegt nicht an den Fotografen, sondern an einer Welt, die die Augen geschlossen hält“ (Mayes 1996, S. 57). Dies markiert kein exklusives ethisches Problem der Visuellen Kommunikation, sondern des Journalismus’ an sich. Spezifisch ist jedoch die Tatsache, dass im Fall der Fotografie eine „Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Figur und Bedeutung“ (Pörksen 1997, S. 153) besteht. Wo eine Leiche abgebildet ist, ist tatsächlich ein Mensch gestorben. Wenn dieser Umstand keine Resonanz provoziert, verbleibt als ethische Legitimation fotografischen Handelns am Ende nur noch der Hinweis auf eine Art visuelle Chronistenpflicht: „Bilder, die auf schockierende Weise Leiden, Schmerz und Demütigung vor Augen führen, werden zu einer ‚moralischen Anstalt‘ und verwirklichen zugleich das Recht, über die Verletzungen der Menschenwürde bildlich informiert zu werden“ (Frankenberg und Niesen 2004, S. 37). Diese Aussage schlägt eine Brücke zum Problem der Authentizität, das nun in besonderer Weise vertieft werden soll.

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Authentizität als bildethischer Standard

„Der Anspruch auf Authentizität, insbesondere von Nachrichtenbildern, zählt zu einer der zentralen Berufsnormen journalistischer Fotografie“ (Grittmann und Ammann 2008, S. 305). Ohne darüber explizit zu reflektieren, wird die Erfüllung dieser Norm im Publikum in aller Regel implizit vorausgesetzt. Auch diese Erwartungshaltung lässt sich unmittelbar aus der Geschichte der Fotografie herleiten: Dort setzte sich die 1839 vorgestellte Daguerrotypie nicht nur wegen ihrer relativ guten Handhabbarkeit als erstes auf breiter Basis erprobtes Verfahren durch, sondern auch

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wegen der bis dato ungewöhnlich hohen Detailschärfe: „Die genaue Darstellung der Bilder verhalf der Daguerrotypie zum Erfolg“ (Bajac 2005, S. 16). Die damals chemische Reaktion auf den Stimulus einer vor dem Objektiv befindlichen visuellen Konfiguration führte zu einer Identität von Bild und Gegenstand. Verkürzt ausgedrückt wird der Fotografie deshalb bis heute das Potenzial zugesprochen, „die Realität in ihr Abbild zu verwandeln“ (Schnell 2001, S. 78). Weil selbst das digital aufgenommene Foto „durch die Gesetze der Optik kausal von der Realität affiziert“ (Nöth 2000, S. 496) bleibt, erwächst ihr neben dem bereits angesprochenen Emotionalisierungspotenzial zugleich ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit (siehe auch den Beitrag von Krämer und Lobinger in diesem Band). Barthes sah darin ein wesentliches Merkmal des Mediums: „Was die PHOTOGRAPHIE endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existenziell nie mehr wird wiederholen können“ (Barthes 1985, S. 12, H.i.O.). Daraus lassen sich wenigstens drei bildethische Probleme ableiten, die nun bearbeitet werden sollen. An erster Stelle steht das Agieren der Person mit der Kamera, das in hohem Maß fokussiert ist auf das Generieren des bestmöglichen Bildresultats. Einen plausiblen Maßstab hierfür hat der französische Fotograf und Magnum-Mitbegründer Henri Cartier-Bresson vorgelegt. Er hielt die kontinuierliche Suche nach dem „wesentlichen Kern einer [. . .] abrollenden Szene“ (Cartier-Bresson 2004, S. 6) für das vorrangige Ziel der fotografischen Tätigkeit. Auf diese Weise prägte er unter dem Schlagwort „moment décisif“ in den 1950erJahren die Beschreibung des entscheidenden Augenblicks, der Inhalt und Form in eine gemeinsame Einheit integriert: „Für mich besteht die Fotografie im gleichzeitigen blitzschnellen Erkennen der inneren Bedeutung einer Tatsache einerseits, und auf der anderen Seite des strengen und rückhaltlosen Aufbaus der optisch erfassbaren Formenwelt, die jene Tatsache zum Ausdruck bringt“ (Cartier-Bresson 2004, S. 16). Die Suche nach derartigen entscheidenden Augenblicken generiert einen Konflikt zwischen den Normen des Alltags und den Normen des Berufs. Der österreichische Journalist Peter Henisch hat dieses Problem anhand eines biografischen Beispiels verdichtet: „Wenn ich vor einem brennenden Haus stehe und ich sehe, wie die Leute aus den Fenstern springen, so wird mir das ALS MENSCH furchtbar leid tun. ALS FOTOGRAF aber wird es mir Motiv sein, und ich werde, den Finger am Auslöser, davorstehen, ‐knien oder liegen und lauern“ (Henisch 2003, S. 48, H.i.O.). Ihre ethische Legitimation erfährt dieses Verhalten erst durch den öffentlichen Diskurs, an dem bildhafte Darstellungen ihren Anteil haben. Auf diese Weise haben auch Fotografinnen und Fotografen Verantwortung für die öffentliche Aussageproduktion: Sie sind „visual reporters who interpret the news with cameras rather than pens“ (Kobre 1996, S. 8). An einer normativ bedingten Diskussion wird diese Professionsnorm indes nichts ändern. Beantwortet werden kann sie jedoch durch den Verweis auf die Relevanz Visueller Kommunikation für die Meinungsbildung, etwa wie es Nachtwey in einem programmatischen Interviewbeitrag tut: „Könnte ein jeder Mensch auch nur ein einziges Mal mit eigenen Augen sehen, was Phosphor aus dem Gesicht eines Kindes macht oder wie ein verirrter Granatsplitter dem Nebenmann das Bein abreißt, dann müssten endlich alle einsehen, dass kein Konflikt dieser

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Welt es rechtfertigt, einem Menschen so etwas anzutun, geschweige denn Millionen Menschen“ (Nachtwey 2007). Neben dem Verhalten der bildberichterstattenden Person selbst ist auch ihr Einfluss auf die visuelle Konfiguration vor der Kamera Gegenstand ethisch motivierter Debatten. Dies markiert zugleich auch die zweite Fragestellung: Authentizität und Inszenierung scheinen sich insbesondere bei nicht-fiktionalen Inhalten auszuschließen. Hier ist jedoch eine konstruktivistisch motivierte Abgrenzung vorzunehmen. Grundsätzlich ist jeder visuelle Inhalt das Resultat einer ganzen Reihe bewusster Entscheidungen. Von der Wahl der Kamera oder des Objektivs über den Standpunkt oder der Perspektive bis hin zu Blende oder Belichtungszeit reicht nur eine kleine Zahl der Einflussfaktoren, die unmittelbar auf die Inszenierung von Wirklichkeit einwirken. Darüber hinaus existiert eine Form der Inszenierung, die als fester Bestandteil des narrativen Repertoires der Fotografie anzusehen ist. Bis in die 1920er-Jahre zwangen langsame Filmemulsionen und lichtschwache Objektive Bildberichterstattende, Menschen on location durch Regieanweisungen einzufrieren und so für sich posieren zu lassen. Dieser Strang der Porträtfotografie täuscht das Publikum jedoch nicht über seinen Inszenierungsgrad hinweg, da die Aktivität des Posierens unmittelbar einsichtig ist. Innerhalb des Problemzusammenhangs ist die Beurteilbarkeit eines rekonstruktiven oder instruktiven Einflusses eine belastbare Demarkationslinie für die Identifizierung eines ethischen Problems. Das inszenierte Bild gerät dort zur Fälschung, wo es eine nicht vorhandene Wirklichkeit gleichermaßen unterschiebt. Gerade in Extremsituationen ist dies eine denkbare Technik, um die sich mitunter rasant verändernde Situation visuell beherrschbar zu machen. „Der Kameramann mitten im Kampfgeschehen“ (Paul 2004, S. 179) ist in gewisser Weise die Verheißung der höchsten Stufe von Authentizität, wie sie etwa der ungarische Fotograf Robert Capa als Prinzip mit einem viel zitierten Satz mitgeprägt hat: „If your pictures aren’t good enough, you aren’t close enough“ (Howe 2002, S. 18). Gleichzeitig verbindet sich mit Capas Arbeit auch das bekannteste Beispiel für dieses ethische Dilemma. 1936 fotografiert er im spanischen Bürgerkrieg einen Soldaten, der tödlich von einer Kugel getroffen zu Boden sinkt. Das resultierende Bild Death of a Loyalist Soldier gilt als „das legendärste und meistveröffentlichte Kriegsbild der Geschichte“ (Fabian und Adam 1983, S. 253) und wird von Capas Bildagentur Magnum bis heute „as the greatest war photograph ever taken“ (Miller 1997, S. 27) beschrieben. Tatsächlich weckte es „das Gefühl, den Ereignissen des Tötens und Getötet-Werdens nahe zu sein. Noch nie hatte man ein solches Bild zu Gesicht bekommen“ (Mißelbeck 1999, S. 69). Zugleich ist das Foto jedoch auch Gegenstand eines nicht abgeschlossenen Diskurses bezüglich seiner Authentizität. Bis in die Gegenwart setzt sich eine intensiv geführte Exegese fort, in denen der Vorwurf einer möglichen Fälschung des Fotos anhand immer neuer Indizienfunde diskutiert wird. Die Debatte um ein derart altes Foto illustriert den hohen Stellenwert, der dem Prinzip der Authentizität aus normativer Perspektive zukommt. Abschließend ist noch auf das dritte ethische Problem hinzuweisen, das mit dem Thema der Authentizität verbunden ist. Es bezieht sich auf die Postproduktion von Fotos, die grundsätzlich jedes Bild durchläuft. Die erste Stufe vollzieht sich bereits

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im Augenblick der Aufnahme: Im Zeitalter der analogen Fotografie hing die Anmutung des entstehenden Bildes zentral von der gewählten Filmemulsion ab, die bestimmte Farb- und Kontrasteigenschaften determinierte. In der Digitalfotografie sind an diese Stelle Computerprogramme innerhalb und außerhalb der Kamera getreten, die das auf dem Chip im Moment der Belichtung anfallende elektrische Signal in ein sichtbares Foto umrechnen. Eine „objektive“ Lösung existiert bereits an dieser Stelle nicht. Im Interesse einer effizienten Kommunikation ist es darüber hinaus in allen Stadien der Fotografiegeschichte (also auch heute) stets üblich gewesen, das Bild in größerer zeitlicher Distanz weiter zu optimieren. Ob dabei ein Negativ zu einem Positiv entwickelt oder eine RAW-Datei in ein JPG umgerechnet wird, spielt prinzipiell keine Rolle. Entscheidend ist vielmehr, dass der Prozess als „schöpferisches Vergrößern“ (Feininger 2001, S. 218) gewertet werden kann. Gemeint sind dabei Bearbeitungsschritte, die im Bild bereits angelegte Eigenschaften im Interesse einer effektiven Kommunikationsleistung stärker herausarbeiten oder eben abschwächen. Ein zu extremer Technikeinsatz, das Hinzufügen und Entfernen von Personen oder Objekten sowie das Zusammenbauen eines Fotos aus verschiedenen Bildquellen verletzen dabei das Authentizitätspostulat und führen letzten Endes wieder zu einer ethisch angreifbaren Täuschung des Publikums (Büllesbach 2008, S. 113). Wie dieser Teilaspekt im digitalen Zeitalter zu bewerten ist, soll nun im Fazit mitdiskutiert werden.

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Fazit

Es ist ein Grundprinzip der historischen Entwicklung visueller Kommunikation, dass Technik sich in einem gewissen Sinn auch immer deterministisch auf Kommunikationsroutinen ausgewirkt hat. Ein Beispiel ist in der Miniaturisierung und Optimierung der Kameras zu sehen, die im Umkehrschluss zu unmittelbareren Abbildungsoptionen geführt haben (Blecher 2001, S. 11). Insofern ist es naheliegend, dass bei der modernen Bildproduktion die rasanten Fortschritte in der digitalen Optimierung des Bildes ausgelotet werden. Damit entsteht jedoch ein potenzieller Zielkonflikt zu dem bereits ausführlich referierten Authentizitätsanspruch, aus dem die Fotografie gerade auch in Grenzsituationen ihre Legitimität ableitet. Die Festschreibung auf das Mimikri tradierter Dunkelkammertechniken (etwa Abwedeln, Nachbelichten) durch digitale Verarbeitungsroutinen löst dieses Problem nur auf den ersten Blick. Bei genauerer Reflexion zeigt sich nämlich, dass so ein naturalistischer Fehlschluss entsteht (Moore 1988). Von Faktizität auf Normativität zu schließen, also von Sein auf Sollen, übersieht den Umstand, dass auch die vorhandene Praxis Ergebnis einer Evolution ist und jederzeit hinterfragbar bleiben muss. Indem zur „Bewahrung der Glaubwürdigkeit des journalistischen Fotos“ (Büllesbach 2008, S. 114) das Bewährte festgeschrieben wird, entstehen wenig zielführende Innovationshemmnisse. Stattdessen muss auch ethisch die Frage gestellt werden, welchem Zweck die Beschränkung auf bestimmte Techniken ursprünglich einmal gedient haben mag. Analogieschlüsse zum textbasierten Journalismus drängen sich auf, wo etwa Zitate gerade im Interesse der

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Bewahrung ihrer Authentizität geglättet werden, indem Fehler in der Grammatik oder der Aussprache von Worten in Einklang mit dem Aussagekern redigiert werden (Büllesbach 2008, S. 115). An kaum einer anderen Stelle ist Ethik in der Visuellen Kommunikationsforschung derzeit so gefordert wie hier: Im digitalen Produktionsumfeld ringt die Fotografie gemeinsam mit der Bewegtbildkommunikation derzeit darum, eine funktionale (und damit ethisch legitimierte) Bildsprache zu entwickeln. Dies berührt Medienethik in institutioneller Weise: Auch für den Amateurbereich geöffnete Wettbewerbe wie beispielsweise der Mobile Photo Award akzeptieren längst dramatisch bearbeitete Einreichungen, die bei Erfolg an das Publikum wie ins Berufsfeld zurückgespiegelt werden, um dort sukzessive die Produktionsroutinen mit zu verändern. Die Kommunikationswissenschaft ist hier explizit herausgefordert, diesen Prozess gleichermaßen deskriptiv wie normativ zu begleiten. Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, in der Berufsnormen wegen der fortschreitenden Demokratisierung Öffentlicher Kommunikation längst nicht mehr alle Bildschaffenden erreichen: „An immediate event capured by an amateur, who now has access to global markets, is as acceptable as the same event photographed by a professional. The privileged status [. . .] the latter once enjoyed in the field of news photography is definitively over“ (Panzer 2005, S. 377). Spätestens seit der US-Unternehmer Janis Krums im Jahr 2009 vor allen professionellen Bildmedien das erste Fotos eines soeben im Hudson notgewasserten Airbus auf Twitter veröffentlicht hat (Diehl 2009), darf die Etablierung der über soziale Netzwerke transportierten Fotografie im Feld der Öffentlichen Visuellen Kommunikation als unumkehrbar angesehen werden. Die Zukunft der Bildmedien ist vor diesem Hintergrund derzeit völlig offen, zumal „die Grenzen zwischen den digitalisierten Medien [. . .] auf der Ebene der Signale und der Zahlen“ (Coy 1994, S. 46) verschwinden. „Ein Fotojournalismus, der mit Einzelbildern operiert, die den Höhepunkt eines Ereignisses oder einer Story markieren, ist ein Charakteristikum des 20. Jahrhunderts“ (Grewenig 1999, S. 9). Stattdessen wird visuelle Kommunikation Teil immer komplexerer digitaler Narrationsgeflechte, die beispielsweise Scrollytelling, Webdokumentationen oder Multimediastorys umfassen (Godulla und Wolf 2015, S. 526; Wolf und Godulla 2015, S. 241–242). Die Visuelle Kommunikationsforschung muss sich für die Betrachtung dieser Innovationen weiter öffnen, um hier gerade auch auf dem Feld der Ethik langfristig wirksame Impulse zu offerieren. Auf diese Weise würde sie dem Anspruch gerecht, den Peter-Matthias Gaede einst als Chefredakteur der Zeitschrift Geo für die Fotografie formuliert hat. Er lässt sich direkt auf den Kernbereich Visueller Ethik übertragen: „Wir erhoffen uns von den besten der besten Fotoreporter im Grunde, dass sie die Außenhaut der Wirklichkeit durchschauen, statt sie bloß zu reproduzieren. Wir erwarten von ihnen, dass sie Widerstände überwinden und in verschlossene Welten vordringen. Wir bauen auf ihre Lebenserfahrung und ihr Wissen um Zusammenhänge. Auf ihre Fähigkeit, die Essenz vom Effekt, die tiefere Wahrheit vom ersten Anschein zu unterscheiden und das Wesentliche zu erkennen. Wir verlassen uns nicht auf ihr technisches Equipment, sondern auf ihre Köpfe“ (Gaede 2007, S. 3).

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Theoretische, thematische, forschungsethische und methodologische Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung Ein programmatischer Ausblick Katharina Lobinger, Wolfgang Reißmann, Daniel Pfurtscheller, Cornelia Brantner, Rebecca Venema und Elena Marchiori

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Trias von Bildmedien, Medienumgebungen und Sichtbarkeitsverhältnissen erforschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Herausforderung Online-Kommunikation und Bewegtbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Augmented Reality und Virtual Reality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Automatisierte Verfahren der Bildanalyse als Methoden und Untersuchungsgegenstand der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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K. Lobinger (*) Faculty of Communication Sciences, Institute of Digital Technologies for Communication (ITDxC), USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz E-Mail: [email protected] W. Reißmann DFG-Sonderforschungsbereich 1187 „Medien der Kooperation“, Projekt B07, Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Pfurtscheller Institut für Germanistik, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] C. Brantner IWAF – Institut für Wissenskommunikation und angewandte Forschung, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] R. Venema · E. Marchiori Faculty of Communication Sciences, USI Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 K. Lobinger (Hrsg.), Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06508-9_37

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K. Lobinger et al.

6 Forschungsethische Herausforderungen in der Visuellen Kommunikationsforschung . . . . 7 Herausforderung „Bilder zeigen“ – Visuelle Kommunikation in wissenschaftlichen Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Im abschließenden Beitrag des Handbuchs Visuelle Kommunikationsforschung geben mehrere ForscherInnen einen Ausblick auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen im Forschungsfeld der Visuellen Kommunikation. Es wird die Dringlichkeit betont, adäquate Ansätze zur Erforschung von Bewegtbildern zu entwickeln. Zudem werden neue Kommunikationsformen und Kommunikationsumgebungen, wie sie durch Augmented und Virtual Reality ermöglicht werden, sowie automatisierte Verfahren zur Analyse großer Bildmengen und Bilddaten reflektiert. Aber auch theoretische Anforderungen an die Erforschung von komplexen Sichtbarkeitsverhältnissen werden angesprochen. Schließlich bleiben forschungsethische Fragen sowie Fragen nach dem Zeigen von Bildern in wissenschaftlichen Publikationen aktuell und müssen stets neu verhandelt werden. Schlüsselwörter

Bewegtbild · Virtual Reality · Augmented Reality · Big Data · Computer Vision · Sichtbarkeit · Bildethik · Forschungsethik · Visualisierung

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Einleitung

In diesem abschließenden Beitrag des Handbuchs Visuelle Kommunikationsforschung geben mehrere ForscherInnen aus dem Feld der Visuellen Kommunikation sowie aus verwandten Forschungsbereichen einen Ausblick auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen im Forschungsfeld. Die Beiträge verstehen sich als Denkanstöße und haben daher programmatischen Charakter. Einige Herausforderungen ergeben sich durch neue (visuelle) Technologien und die „neuen“ visuellen Kommunikationsformen, die diese ermöglichen. Neue Kommunikationsumgebungen sind mit noch einzuschätzenden Potenzialen und Risiken verbunden und erfordern oftmals auch besondere theoretische und methodische Zugänge. Dies zeigt sich vor allem in den Reflexionen zur Dringlichkeit, adäquate Ansätze zur Erforschung von Bewegtbildern zu entwickeln (Daniel Pfurtscheller, Abschn. 3), zu neuen Kommunikationsformen und Kommunikationsumgebungen wie der Augmented und Virtual Reality (Elena Marchiori, Abschn. 4) sowie zu automatisierten Verfahren der Analyse von großen Bildmengen und Bilddaten (Cornelia Brantner, Abschn. 5). Andere Herausforderungen ergeben sich aus schon länger bestehenden Forschungslücken. Dies betrifft „größere Fragen“, die über einen konkreten Untersuchungsgegenstand hinausgehen und es erfordern, (medien-)kulturtheoretische Theoreme mit sozialwissenschaftlicher Empirie zu verschränken – idealerweise auch in interdisziplinärer Perspektive. Ein

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Beispiel dafür ist die Erforschung von komplexen Sichtbarkeitsverhältnissen und deren gesellschaftlicher Implikationen (Wolfgang Reißmann, Abschn. 2). Schließlich bleiben forschungsethische Fragen (Rebecca Venema, Abschn. 6) sowie Fragen nach dem Zeigen von Bildern in wissenschaftlichen Publikationen (Katharina Lobinger, Abschn. 7) aktuell und müssen dahingehend hinterfragt werden, inwiefern sie an digitale und vernetzte Praktiken angepasst werden müssen.

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Die Trias von Bildmedien, Medienumgebungen und Sichtbarkeitsverhältnissen erforschen1

Im Jahr 2015 hat der Kulturwissenschaftler und kritische Medienpädagoge Henry A. Giroux einen Aufsatz mit dem Titel „Selfie culture in the age of corporate and state surveillance“ verfasst. Der Aufsatz ist eine elf Seiten lange Klage. Für Giroux (2015) ist die Selfie-Kultur ein Symptom für übersteigerten Narzissmus, für die entsolidarisierte, individualisierte und neoliberale Gesellschaft, für die politisch gewollte Entwertung des Privaten und die Selbst-Verdinglichung von Jugendlichen. Ganz anders der Kunsthistoriker Derek C. Murray (2015), dessen Aufsatz „Notes to self: the visual culture of selfies in the age of social media“ im selben Jahr erschien: Das Selfie-Phänomen bespricht er in Zusammenhang mit visuellen Praktiken weiblicher Bloggerinnen und Künstlerinnen. Von einem post-feministischen Standpunkt aus sieht er die Emergenz einer neuen (weiblichen) Ästhetik. Liest man nur seinen Beitrag, erscheint die Selfie-Kultur eher als der Versuch, selbst über die Art der Präsenz und die Repräsentation des eigenen Körpers im (teil-)öffentlichen Raum zu bestimmen. Die disparaten Sichtweisen auf das gleiche Phänomen machen deutlich, wie kompliziert Sichtbarkeitsverhältnisse (immer und erst recht in digitalen Medienumgebungen) zu fassen sind. Bilder sind Zeigemedien. Sie machen etwas sichtbar und präsent. Sie zeigen auf die Zeigenden zurück. Zugleich bilden Medienumgebungen (mit und ohne Bildern) ebenfalls Sichtbarkeitsordnungen aus. Popularitäten, Aufmerksamkeiten und Vernetzungen variieren, aber auch Zugänge zu Bildern als Daten und Ressourcen, die ausgewertet und weiterverarbeitet werden. Die verschränkte Sichtbarkeit von Bild und Medienumgebung im Wechselverhältnis zu verstehen, ist eine Herausforderung. Visuelle Kultur und Praxis sind nur bedingt besprechbar und bewusst. Was jemand zu tun meint, ist nicht unbedingt das, was andere darin sehen. Ob Muster und Praktiken reproduziert oder alteriert werden, liegt häufig im Auge des Betrachters. Und was Dritte wiederum mit Bildern als Daten machen, entzieht sich oft der Kenntnis.

Der Abschnitt „Die Trias von Bildmedien, Medienumgebungen und Sichtbarkeitsverhältnissen erforschen“ wurde von Wolfgang Reißmann verfasst. Teile der Argumentation, insbesondere der Rückbezug zur kommunikativen Situation als Ausgangspunkt, sind ähnlich in Reißmann (2015) formuliert.

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K. Lobinger et al.

Aus aufmerksamkeitsökonomischen Motiven wäre der Visuellen Kommunikationsforschung wohl zu wünschen, dass sie ähnlich pointierte Beiträge wie die oben genannten verfasst. Im Folgenden möchten wir jedoch darlegen, dass argumentative Bescheidenheit in puncto generalisierender Gesellschafts- und Kulturanalyse nicht zwangsläufig ein Mangel ist, sondern sich aus dem Selbstverständnis der Kommunikationsforschung speist. Die Reflexion von Sichtbarkeitsverhältnissen sollte gleichzeitig aber stärker und systematisch in den Forschungsdesigns verankert sein. Die Visuelle Kommunikationsforschung hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt der Bildpraxis von Individuen und Kollektiven in sozialen Netzwerken, Microblogging-Plattformen, Bildplattformen, Instant Messengern und anderen Diensten zugewendet. Sie hat Bildgenres wie Selfies und Memes in den Blick genommen. Sie hat soziale und mediale Praktiken wie das Sharing/Teilen von Bildern untersucht. Sie hat visuelles Material in Hashtag-Öffentlichkeiten nach Bildtypen gruppiert. Auffällig ist, dass sie dabei nur selten „große“ Thesen und Inferenzschlüsse sucht. Das lässt sich mit ihrer Verankerung in der Kommunikations- und Medienwissenschaft begründen. Der Fokus der sich traditionell als empirische Sozialwissenschaft verstehenden Disziplin besteht darin, intersubjektiv nachvollziehbare Ergebnisse zu produzieren, die aus quantitativen und/oder qualitativen Forschungsdesigns resultieren. Mit dieser primären Orientierung geht einher, dass Theorien des Visuellen/Bildlichen und der visuellen Kultur mehr importiert als selbst produziert werden. Nicht nur Bildtheorie wird anderswo betrieben, auch übergreifende Perspektiven der Kulturanalyse, die Sichtbarkeitsverhältnisse zum Gegenstand haben, kommen eher von außen: Das gilt für Feminismus und Gender Studies (z. B. Gaze-Theorien) ebenso wie für soziale Bewegungen und Protestforschung (z. B. Empowerment, Anerkennungstheorie), für kulturelle Identität, Repräsentation und Teilhabe (z. B. Identity Politics, Gegenkulturen) ebenso wie für Thesen der Kommodifizierung (z. B. Promotional Culture) und der Überwachung (z. B. „. . .-opticon“ und „. . .-veillance“-Ansätze). Was auf dem ersten Blick als Defizit erscheinen mag – natürlich sollte es mehr theoretische Ansätze geben, die speziell aus der Perspektive der Visuellen Kommunikation formuliert sind – ist ebenso eine Stärke. Denn wo sich die Geisteswissenschaften nur langsam dem medialen Alltag öffnen, ist mit den aufeinander bezogenen Grundfragen – „Was machen Medien (Bilder) mit Menschen?“ und „Was machen Menschen mit Medien (Bildern)?“ – in der Kommunikations- und Medienwissenschaft eine Beobachterposition etabliert, die das mediale Handeln der Akteure und verfestigte Strukturen, Institutionen, Diskurse, Nutzungs- und Aneignungsmuster, Praktiken etc. als Wechselverhältnis fasst. Eine solche Position verhindert mithin jene monoperspektivischen Zuspitzungen und „reine Lehren“ (z. B. im Ausgang an die Kritische Theorie), die für den theoretischen Diskurs und die Schärfung der Argumente wichtig sind. Sie hilft aber auch, Debatten zu differenzieren und die sich oft verselbstständigenden und zum Universalisieren neigenden kultur- und medientheoretischen (Hypo-) Thesen an empirischen Daten aus heterogenen lebensweltlichen Kontexten zu brechen und auf diese Weise eigenständige, empirisch validierte Beiträge zur Theorie zu leisten. Hierfür ist es allerdings nötig, dass sich die Visuelle Kommunikationsforschung der Komplexität von Sichtbarkeitsverhältnissen noch stärker annimmt und ihre Erforschung

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in die Untersuchungsdesigns systematisch einarbeitet. Sehen und Sichtbarkeit sind stets historisch gerahmt und durchdrungen von medial-technischen Entwicklungen sowie kultureller und gesellschaftlicher Praxis. „Vision“, verstanden als der psycho-physische Vorgang sowie die Alltagspraxis des Sehens, sowie „visuality“ als die sozialen, kulturellen und medial-technischen Bedingungen – „how we see, how we are able, allowed, or made to see, and how we see this seeing or the unseen therein“ (Foster 1988, S. ix) – bedingen einander. Dieses Leitmotiv der Visual (Culture) Studies kann auch die Visuelle Kommunikationsforschung in ihrem Bemühen anleiten, Sichtbarkeitsrelationen zu studieren und hierbei sensibel zu sein für Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Die Frage ist nun, wie man auf der Basis dieses Leitmotivs weiter verfährt. Visual (Culture) Studies sind in ihrer Vielfalt kaum zu überschauen und auf einen theoretischen Nenner zu bringen. Allerdings ist kaum zu übersehen, dass zur Charakterisierung von Sichtbarkeitsverhältnissen häufig auf Theoreme zurückgegriffen wird, deren Bezug zu beobachtund beschreibbarer Alltagspraxis oft unklar bleibt und die sich nicht selten der Kritik entziehen, weil ihre ordnende und rahmende Funktion bereits vorab festzustehen scheint. Vor diesem Hintergrund sehen wir in konzeptueller Hinsicht ein Denken als zielführend, das sich von der kommunikativen Situation ableitet. Ein Verständnis von Situationen als das Zusammentreffen von Disposition und Kontingenz, als Ort sozialer und kultureller Reproduktion ebenso wie als (ergebnis-)offenes Prozessgeschehen und Keimzelle sozialen und kulturellen Wandels, stellt ein Korrektiv bereit für „große“ Theoreme, die etwa diverse „gazes“ (z. B. „male gaze“; „tourist gaze“) oder – geschult an der Figur des Panoptikums von Bentham und Foucault – skopische Regime/ Ordnungen postulieren oder – dem Vorbild der Kunstgeschichte folgend – umfassende Stil- und Darstellungsgeschichten verfassen. Im Umkehrschluss kann eine gezielte Sensibilisierung für das Visuelle helfen, die mediale Überformung kommunikativer Situationen nicht nur als thematisch-symbolische (was wir wissen können und was Gegenstand der Auseinandersetzung ist), sozial-interaktionale (von wem wir Kenntnis haben, wer oder was ein Gegenüber ist, wie sich soziale Interaktion raum-zeitlich rearrangiert), sondern gleichfalls und in Relation dazu auch als physisch-materielle und sinnlich-ästhetische Transformationen in den Blick zu bekommen (wie wir etwas bzw. andere und uns selbst erfahren und erleben können). Jede einzelne dieser Situationen ist in spezifischer Weise gerahmt. Übersituativ und überindividuell emergieren in Wissen, Praktiken und Technik eingeschriebene Sichtbarkeitsverhältnisse. Anstatt mit einer großen Theorie und These zu beginnen, kann es der Beitrag der Visuellen Kommunikationsforschung sein, fall- und phänomenspezifisch nachzuzeichnen, was es jeweils heißt, etwas, jemanden oder sich selbst sichtbar zu machen respektive zu sehen, gesehen und von menschlichen wie nicht-menschlichen Akteuren sichtbar gemacht zu werden. Analysen sollten demnach herausarbeiten: • Akteursverflechtungen: Welche Akteure sind am Sehen und Sichtbarmachen faktisch oder potenziell beteiligt (nicht-menschliche Akteure wie Social Bots oder Empfehlungssysteme als Bildakteure in digitalen Medienumgebungen eingeschlossen)?

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K. Lobinger et al.

• Motivations- und Interessenlagen der beteiligten Akteure/Akteursgruppen: Welche Anerkennungs- und Partizipationsansprüche sind mit dem Bildhandeln verbunden? Welche sozialen und kulturellen (Selbst-)Positionierungen sind prägend? Inwiefern differieren die Motivations- und Interessenlagen von Zeigenden und Sehenden? • Visuelle (Handlungs-)Repertoires: Was wird im Modus des Bildlichen in welcher Weise sichtbar gemacht? Welche Bildtypen, Darstellungsmuster und Ästhetiken werden mobilisiert? Inwieweit ist eine kritisch-reflexive Bezugnahme und Aneignung sichtbar? • Kommunikations- und Interaktionsordnungen: Wie sind Bilder als Medien der Kommunikation und der Präsenz eingelassen in soziale Relationen? Wie vollzieht sich die visuelle Kommunikation mit Bildern und die Anschlusskommunikation über Bilder? Welche Asymmetrien lassen sich zwischen den interagierenden Parteien feststellen? • (Digitale) Medienumgebungen: Inwiefern schreiben sich „Medienlogiken“, „social media logic“ (van Dijck und Poell 2013) und Medienpraktiken in das Sichtbarmachen und Sehen ein? Welche Rolle spielen Interfaces, Darstellungsdesigns und algorithmisch beeinflusste Bild- und Aufmerksamkeitsströme? • Datafication: Was ist in Erfahrung zu bringen über das „Nachleben“ des Bildhandelns? Wer hat oder hätte ein Interesse an einer weiterführenden Auswertung und Nutzbarmachung von Bildern und Bildhandeln (z. B. im Rahmen automatisierter Verfahren der Bildanalyse, siehe Abschn. 5 von Cornelia Brantner)? Wie werden auf der Basis vorausgegangener Datenanalyse die Akteure adressiert? Inwieweit ist Datafication eine Strategie, die Bildakteure selbst nutzen, um sichtbar zu werden oder Sichtbarkeit in ihrem Sinne zu steuern? • Reflexivität: Inwieweit spielen die in der Medienöffentlichkeit, im Medienalltag und in der Wissenschaft geführten Diskurse und Kontroversen um die (Un-) Sichtbarkeit von Menschen, Issues und Daten wiederum hinein in das Bildhandeln der Akteure? Wie verhalten sie sich dazu? Es liegt auf der Hand, dass für Analysen, die diese Fragen stellen und ihrem Gegenstand gleichsam multiperspektivisch folgen, polarisierende Zuspitzungen – wie oben exemplarisch eingeführt: Selfies als neoliberale Selbstunterjochung vs. Empowerment-Werkzeuge – kaum zu erreichen und auch nicht zu erstreben sind. Wohl aber ist es ihnen möglich, die kleinen und großen Unterschiede und Ambivalenzen aufzuzeigen. So ist etwa denkbar, dass politisierte Akteursgruppen einerseits Mainstream-Bildkultur subversiv kreuzen, dabei andererseits instrumentelle Strategien der Aufmerksamkeitssteigerung reproduzieren. Es ist denkbar, dass sich (nicht nur) junge Menschen in Selfies verdinglichen, sich dem Bildermarkt übergeben und die „Selfie-Kultur“ zugleich ein hochritualisiertes Spiel mit Masken ist, in dem Privatsphäre nicht mehr sozialräumlich als Verbergen und Ausschließen hergestellt wird, sondern über die Standardisierung und Entindividualisierung von Posen. Wenn es der Visuellen Kommunikationsforschung gelingt, solche Zwischen- und Grautöne empirisch abgesichert aufzuweisen und informiert in die laufenden theoretischen Debatten um Sichtbarkeitsverhältnisse zurückzuspielen, wäre bereits viel gewonnen.

Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung

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Herausforderung Online-Kommunikation und Bewegtbilder2

Die visuelle Wahrnehmung des Menschen ist begrenzt und lässt sich leicht täuschen. Zeigt man uns in einer Sekunde mehr als 15 Bilder, die sich nur geringfügig voneinander unterscheiden, nehmen wir keine Einzelbilder mehr wahr, sondern wir haben den Eindruck von Bewegung. Daumenkino, Film oder animierte GIFs – das grundlegende Prinzip ist immer dasselbe: eine Folge von Einzelbildern, die mit geeigneter Technik in kurzen Zeitabständen vorgezeigt werden und so die Illusion von Bewegung erzeugen. Mit dieser grundlegenden Bestimmung sind zwei Aspekte angesprochen, die Bewegtbilder zu einer Herausforderung für die Visuelle Kommunikationsforschung machen: die Multiplizität von Videodaten (mehr Bilder heißt mehr Arbeit) und deren Technizität (ohne Technik kein Bewegtbild). Auf diese beiden Aspekte möchte ich im Folgenden genauer eingehen. Bei Bewegtbildern hat man es nicht nur mit einem Bild, sondern mit einer Abfolge von vielen Bildern zu tun, in audiovisueller Form begleitet von Musik, Ton und Geräusch. Die Visuelle Kommunikationsforschung steht damit vor der Aufgabe, die zeitlich-lineare Dimension und das im Vergleich zu statischen Bildern erweiterte semiotische Potenzial zu erfassen. Diese Aufgabe der qualitativen und quantitativen Analyse von Bewegtbildern ist nicht neu, aber herausfordernd. Zumal auch andere Schwierigkeiten, die sich für die Visuelle Kommunikationsforschung bereits bei statischen Medienbildern ergeben, nicht verschwunden, sondern vielmehr in vervielfachter und verdichteter Form präsent sind. Alle offenen Fragen (z. B. methodischer, ethischer, rechtlicher oder forschungspraktischer Art), auf die in diesem Beitrag auch an anderer Stelle aufmerksam gemacht wird, kann man auch im Fall von Bewegtbildern stellen, nur eben öfter – mehr als 15 Mal pro Sekunde. Um die theoretisch-methodischen Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, kann es helfen, den interdisziplinären Austausch zwischen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Fachrichtungen und anderen Fächern wie der Filmwissenschaft bzw. den television studies weiter zu intensivieren. Man sollte es bei der Auseinandersetzung mit Bewegtbildern allerdings nicht dabei belassen, nur das zu rezipieren, was etablierte Disziplinen außerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft in diesem Bereich schon geleistet haben. Bloßes Wiederkäuen ist zu wenig. Vielmehr ist die Visuelle Kommunikationsforschung gefordert, eigene fachspezifische Forschungsfragen und Perspektiven im Bereich Bewegtbild einzubringen. Die Frage, worin die spezifische Perspektive der Visuellen Kommunikationsforschung auf Bewegtbild-Medien im Detail bestehen kann, sollte genauer diskutiert werden. Ein deutlich sichtbares Desiderat im interdisziplinären Feld sind Untersuchungen zu Bewegtbildern in der alltäglichen Online-Kommunikation. Die Visuelle Kommunikationsforschung könnte versuchen, diese Lücke durch eine intensivere Beschäftigung mit der interaktionsorientierten Verwendung von Bewegt-

Der Abschnitt „Herausforderung Online-Kommunikation und Bewegtbilder“ wurde von Daniel Pfurtscheller verfasst.

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bildern in den Sozialen Medien ein stückweit zu schließen. Weitere Impulse für den Umgang mit Bewegtbilddaten in der Forschungspraxis können sich auch aus anderen Wissenschaftsbereichen ergeben, die sich weniger mit der Untersuchung medialer Bewegtbilder beschäftigen, sondern Videoaufzeichnungen als methodische Werkzeuge entwickeln und einsetzten, beispielsweise im Umfeld der qualitativen Sozialforschung. Themen für eine interdisziplinäre Diskussion sind unter anderen Fragen, in welcher Form Videodaten transkribiert werden sollen und wie sich Transkripte und Videodaten in Publikationen einbinden lassen (siehe auch Abschn. 7 von Katharina Lobinger). Mit Videodaten zu arbeiten bedeutet an allen Stellen des Forschungsprozesses einen Mehraufwand. Ziel muss es sein, möglichst effizient zu genauen Ergebnissen, dichteren Beschreibungen und informativen Veröffentlichungen zu kommen (Markle et al. 2011). Ein anderer Aspekt der Herausforderung zielt auf die Frage der Technik, die den Umgang mit Bewegtbildern in allen Bereichen prägt. Insbesondere in der digitalen Kommunikation lassen sich Bewegtbilder ohne einen detaillierten Blick auf zugrunde liegende Infrastrukturen, Algorithmen und Affordanzen der Plattformen nicht mehr schlüssig empirisch und theoretisch untersuchen (Bucher und Helmond 2018). Erste Überlegungen, die neben Bildern und visuellen Praktiken auch Plattformen als analytische Dimension in den Blick nehmen (Schreiber 2017), müssen dabei auch für Bewegtbilder ausgebaut und spezifisch erweitert werden. Technische Veränderung und Medienwandel stellen dabei auch die angedeutete Trennung von statischen und dynamischen Bildern zunehmend in Frage. Die Smartphone-Apps von Snapchat und Instagram haben beispielsweise neben vielfältigen Möglichkeiten, Fotos und Videos zu verändern und mit Schriftelementen, Stickern, animierten GIFs etc. zu kombinieren, in der Story-Funktion nur einen Aufnahmeknopf: für ein Foto wird er angetippt, für Video gedrückt gehalten. Foto und Video sind damit zu unkompliziert austausch- und bearbeitbaren Ausdrucksmitteln geworden. Die Visuelle Kommunikationsforschung ist gefordert, Begrifflichkeiten und Konzepte zu entwickeln, um diese semiotische Komplexität und Fluidität zwischen Bild und Bewegtbild zu adressieren. Konzentriert man sich auf Online-Kommunikation, zeigt sich besonders deutlich, wie wichtig eine Auseinandersetzung mit Bewegtbildern ist. Rein quantitativ betrachtet besteht ein Großteil des Internets aus Videocontent: Im Jahr 2016 sind 73 % des Internet-Traffics im Bereich Video entstanden, für 2021 werden 82 % vorhergesagt. Dieser immense Video-Traffic entsteht durch massenhaft abgerufene Video-Clips und Langformen, Video-on-Demand und Online-Video-Verleih, sowie durch die Nutzung von Live-Video, Webcams und internetbasierter Video-Überwachung (Cisco 2017). Dass Bewegtbilder einen zentralen Platz in der Online-Kommunikation haben, zeigen auch die Ergebnisse der Nutzungsforschung: Die JIM-Studie etwa belegt, dass insbesondere für junge Menschen YouTube zum beliebtesten Unterhaltungs- und Informationsangebot im Internet geworden ist: Für knapp zwei Drittel der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren in Deutschland sind Videos bei YouTube das geeignetste Mittel, um sich regelmäßig über Themen zu informieren, nur halb so viele suchen bei

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Wikipedia nach Hintergrundinformationen (JIM 2017, S. 46). Im deutschsprachigen Raum, aber auch international hat die Kommunikationsforschung auf die gesellschaftliche Relevanz von digitalen Bewegtbildern und insbesondere den Status der Videoplattform YouTube bislang nur in Ansätzen reagiert. Neben dem leichteren Zugang zu konventionellen Videoinhalten hat die technische Entwicklung auch gänzlich neue Bewegtbild-Praktiken und hybride Formen der Nutzung von Bewegtbildern ermöglicht. Dazu zählen beispielsweise videobasierte Story-Formate auf Snapchat und Instagram, die als ephemere Formen der interaktionsorientierten Bildverwendung noch zusätzliche Herausforderungen mit Blick auf Datensicherung und Forschungsethik mit sich bringen, oder das LiveStreaming von Videospielen auf Plattformen wie Twitch. Neben der Entstehung innovativer Formen kommt es aber auch vor, dass alte Bewegtbild-Technologien eine Renaissance erleben, beispielsweise das GIF-Format, das aus den „Urzeiten des Internets“ stammt und seit ca. 2010 wieder in den Online-Mainstream zurückgekehrt ist. Die Geschichte der animierten GIFs ist bislang nur teilweise geschrieben (Eppink 2014). So ist neben interaktiven und semiotisch-komplexen Formen digitaler Bewegtbilder auch die mediale Verwendung von relativ reduzierten Animationen ein lohnenswerter Forschungsgegenstand für die Visuelle Kommunikationsforschung. Insgesamt bleibt die Verwendung von Bewegtbildern in der Online-Kommunikation sehr vielfältig. Dieser Untersuchungsbereich wäre insgesamt fall- und phänomenbezogen auszuloten. Die Auswahl der hier erwähnten Beispiele, Problemstellungen und offenen Fragen ist daher nur als Impuls für weitere Diskussionen zu verstehen. Für Bewegtbilder gilt dabei ebenso wie für statische Bilder: Es gibt sie nicht „solo“, sondern eingebunden in multimodale Ensembles, kommunikative Vollzüge und soziale Praktiken. Der Ausdruck „Bewegtbild“ gehört nicht zur Alltagssprache und erinnert eher an die Zeit, als die Bilder laufen lernten. Dieser antiquierte Beigeschmack darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade heute eine Zeit ist, in der videobezogene Praktiken der Online-Kommunikation zum medialen Alltag gehören. Es ist daher klar, dass nicht nur die Visuelle Kommunikationsforschung vor den hier skizzierten Herausforderungen steht. So wird etwa auch in der Medienlinguistik, die sich als noch recht junges linguistisches Teilgebiet mit dem Sprachgebrauch in der medialen Kommunikation befasst, daran gearbeitet, die etablierten empirischen Methoden im Feld multimodaler Online-Interaktion weiterzuentwickeln. Eine datengeleitete Herangehensweise, die Orientierung an der kommunikativen Situation und die Einsicht, dass für die Analyse geschriebene und gesprochene Sprache, stehende und bewegte Bilder in hybriden, interaktiven und auf vielfältige Weise (visuell) gestalteten Medienumgebungen beachtet werden müssen, gehören in beiden Fächern zum common sense. Das wäre Anlass genug für eine fächerübergreifende Diskussion. Gesprächsstoff gäbe es von methodischen Fragen zur qualitativ-quantitativen Untersuchung von Online-Kommunikation, adäquater Beschreibung digitaler Medienumgebungen und ihrer Logiken, der Untersuchung von Kommunikations- und Interaktionsanordnungen, individuellen Handlungsprozessen und -zusammenhängen bis

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K. Lobinger et al.

hin zur Analyse multimodaler Repertoires jedenfalls zur Genüge. Die Relevanz und die Problematik von Bewegtbildern und Online-Kommunikation liegt für alle auf der Hand. Die Visuelle Kommunikationsforschung ist dementsprechend gut beraten, sich bei der Adressierung dieser komplexen Themen Verbündete zu suchen.

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Augmented Reality und Virtual Reality3

Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) sind visuelle Technologien mit verschiedenen Software- und Hardware-Erweiterungen, die in den vergangenen Jahren eine Reihe von technischen Innovationen brachten. In immer mehr Sektoren und Forschungsbereichen werden VR- bzw. AR- und Mixed-Reality-Anwendungen und ihre Möglichkeiten diskutiert. Erstmals genutzt wurden sie bereits vor mehr als 30 Jahren zu Simulations- und Trainingszwecken im Militärsektor, bevor AR und VR dann verstärkt in der Unterhaltungs- und Spielebranche sowie im Gesundheitsbereich eingesetzt wurden. Erst kürzlich erlangte mit Pokémon Go ein AR-basiertes Smartphone-Spiel große Popularität, aber auch die AR-Masken und -Linsen wie z. B. in Snapchat, die mittels kamerabasierter 3D-Gesichtserkennung die Gesichter der NutzerInnen um AR-Elemente (seien es Hasenohren, Zungen oder Dekorationen) ergänzen, finden breite Anwendung und Verbreitung. Frühere Formen der Augmented Reality finden sich beispielsweise in Sportsendungen, wo etwa im Zuge der TV-Übertragung von Fußballspielen virtuelle Linien über das Bild gelegt werden, um Abseitsstellungen zu identifizieren und für die ZuschauerInnen sichtbar zu machen. Generell werden bei AR-Anwendungen real-materielle Objekte respektive physische Umgebungen mit zusätzlichen Informationen „angereichert“ bzw. ästhetisch überformt. Wie am Beispiel der Snapchat-Filter angerissen, verwenden AR-Anwendungen die Kamera eines mobilen Endgeräts, beispielsweise eines Smartphones, um QR-Codes, Bilder oder Gesichter zu erkennen (kamerabasierte oder markerbased AR). Sie nutzen aber auch GPS-Daten und andere Positions- und Rotationssensoren, wie z. B. Beschleunigungsmesser und digitale Kompasse, um den Standort der BenutzerInnen und die Bewegungen ihrer Geräte zu erfassen (standortbasierte oder marker-less AR). Im Gegensatz zu einer solchen Kombination von „echten“ und virtuellen Elementen, die man auch als Mixed Reality bezeichnet, stehen VR-Anwendungen für eine komplett digital geschaffene Umgebung, die die NutzerInnen audio-visuell in eine „andere“ Welt eintauchen lässt (Milgram et al. 1995). Für die Visuelle Kommunikationsforschung bedeuten die sich dynamisch und vielfältig entwickelnden Anwendungen von AR und VR ein spannendes und zugleich herausforderndes Forschungsfeld. Mindestens diese vier Herausforderungen lassen sich unterscheiden:

Der Abschnitt „Augmented Reality und Virtual Reality“ wurde von Elena Marchiori in englischer Sprache verfasst und von Rebecca Venema ins Deutsche übersetzt.

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Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung

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Inhaltsgestaltung: Sowohl AR als auch VR erfordern die Verwendung von digitalen Devices. Bislang ist der Großteil der AR-Anwendungen im Bereich der Smartphones zu finden. Vor allem die zunehmende Präsenz und Nutzung lokativer Medien (u. a. durch mit Lokalisierungstechniken ausgestattete mobile Geräte wie Smartphones, siehe den Beitrag von Brantner in diesem Handbuch) in gegenwärtigen mediatisierten Gesellschaften ermöglicht eine zunehmende Nutzung und Akzeptanz von AR-Lösungen. Die nächste große „Welle“ von AR-Geräten werden tragbare Brillen wie die Microsoft Hololens oder die mit Spannung erwartete Magic Leap-Brille sein. Für die Nutzung von VR-Anwendungen sind üblicherweise eine Videobrille, ein Helmdisplay oder ein VR-Helm obligatorisch. Immer mehr VermarkterInnen nutzen die Bezeichnung VR aber auch für digitale Inhalte, die auf 360-Grad-Bildern basieren. Sowohl in AR- als auch in VR-Umgebungen sind die Aktivitäten der BenutzerInnen zentral: Sie entscheiden letztlich, wohin sie blicken und was sie sehen wollen – mit überlagerten Informationen im Fall von AR oder innerhalb einer immersiven digitalen Umgebung im Fall von VR. Eine wesentliche Herausforderung nicht nur für die strategische Kommunikation (Sundar et al. 2016; siehe auch den Beitrag von Berzler in diesem Band) ist die Frage, wie visuelles bzw. „spherical storytelling“ (Marchiori et al. 2018b), also das Erzählen einer Narration innerhalb einer 360 Grad umfassenden sphärischen Navigation, zu gestalten ist: Wie sind Inhalte an verschiedene Formate (2D, 3D, Web-Navigation) und an unterschiedliche Nutzungskontexte und Bildschirme (TV, PC, Handy, VR) anzupassen? Wie kann eine Narration vermittelt werden, wenn die NutzerInnen sich frei bewegen und virtuelle bzw. digital angereicherte Umgebungen beliebig erforschen können? Wie können/sollen die NutzerInnen geleitet (oder eben nicht geleitet) werden? AR-/VR-Effekte: Die zweite Herausforderung betrifft die Erforschung der Effekte von AR- und VR-Erfahrungen im Vergleich zu anderen Kommunikationsumgebungen. Wie beeinflusst das oben genannte „sphärische Storytelling“ die emotionalen Reaktionen der NutzerInnen auf den präsentierten audiovisuellen Inhalt, der als überlagerte Information und/oder innerhalb einer immersiven digitalen Umgebung dargestellt wird? Es bedarf hier weiterer Forschung zu Einstellungsänderungen und Verhaltensreaktionen (Moorhouse et al. 2018). Aber auch Effekte auf die Erinnerung erlebter Inhalte und auf Kaufabsichten sind zu erforschen, wenn VR und AR zu ökonomisch-strategischen Zwecken verwendet werden (Jung und Dieck 2018). Ein Forschungsdesiderat betrifft insbesondere die Erinnerung und die affektiven Implikationen beim Erleben von AR und VR. Hier eröffnet die Integration psychophysiologischer Sensordaten in die Untersuchung immersiver Inhalte neue Forschungsperspektiven und -möglichkeiten. Vielversprechend ist die Triangulation von Selbsteinschätzungen in Form qualitativer oder quantitativer Befragungsdaten mit psychophysiologischen Daten wie der Herzfrequenz (Marchiori et al. 2018a). Nutzung und Aneignung: Die dritte Herausforderung besteht in der Erforschung der vielfach noch offenen und noch wenig vorgezeichneten Modi der Aneignung und Einbettung von VR und AR in den Alltag unterschiedlicher Nutzergruppen. Kameras, die es ermöglichen, 360-Grad-Videos bzw. -Bilder zu erstellen, werden immer erschwinglicher. Tools zum Erstellen von 3D-Grafiken und animierten Videos in 360 Grad sind auf dem Markt (teilweise frei) verfügbar. Social-Media-

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Unternehmen fördern die Verbreitung solcher Technologien. So erlauben Plattformen wie Facebook und YouTube das Hochladen von 360-Grad-Bildern, Facebook auch das Hochladen von 3D-Modellen. Neue Content-Distributionsplattformen wie VivePort und Jaunt ermöglichen die plattformübergreifende Verbreitung von immersiven Inhalten. Solche Plattformen bieten die Möglichkeit, immersive Inhalte über eigene digitale Kanäle und über Soziale Medien zu verbreiten. Somit ist zu erwarten, dass von NutzerInnen generierte Inhalte eine besondere Rolle spielen werden und neue soziale Dynamiken in Gang setzen (Griffin et al. 2017). Es gibt zunehmend Bemühungen, auch soziale Interaktionen in AR- und VR-Umgebungen zu verlagern. Facebook etwa bietet eine VR-Lösung (Facebook Spaces), die mit dem Versprechen vermarktet wird, dass NutzerInnen in einer virtuellen Umgebung Kontakte knüpfen und so interagieren können, als befänden sich ihre InteraktionspartnerInnen im selben Raum. Kommunikations- und Interaktionsprozesse könnten sich im Kontext von Fernunterricht, Lernen, Assistenz, medizinischer Konsultation und in vielen weiteren Gebieten durch AR- und VR-Technologien tiefgreifend wandeln. Ihre Erforschung ist auch Aufgabe der Visuellen Kommunikationsforschung. Künstliche Intelligenz (KI) und Integration von Sensordaten: Die vierte Herausforderung betrifft die zunehmende Verknüpfung von AR-/VR-Systemen mit KI-Anwendungen wie Stimmungs- und Spracherkennung oder dynamische Inhaltserstellung, die auf Verhaltens- und physiologische Reaktionen der BenutzerInnen reagieren. Daten, die durch die Verwendung von AR und VR erzeugt wurden, kombiniert etwa mit Eyetracking-Daten, ermöglichen weitere Erkenntnisse dazu, welche Teile von (visuellen) Informationen bei den NutzerInnen Resonanz erzeugen und welche nicht. Darüber hinaus kann AR ein leistungsfähiges Werkzeug für Werbung sein, da die Anwendungen den Fokus auf spezifische Informationen lenken können. Social-Media-Plattformen erlauben die Integration von AR-/VR-Lösungen, wie zum Beispiel die von Facebook angebotene AR-Werbung. Hier eröffnen sich einerseits neue Anwendungsmöglichkeiten, die zu explorieren sind. Die Analyse solcher Daten kann beispielsweise der Werbewirkungsforschung helfen, das Design von Kommunikationskampagnen zu optimieren. Zugleich ergibt sich insbesondere in der Verknüpfung von AR, VR und KI ein erhöhter Bedarf an kritischer und ethischer Reflexion: etwa wenn eine AR-Marker-basierte Verbindung mit der Bildund/oder Gesichtserkennung besteht, oder wenn standortbasierte AR-Dienste mit sensiblen Tracking- und Bewegungsdaten operieren. Nicht zu vergessen sind schließlich Fragen hinsichtlich der Wirklichkeits-, Raum- und Ortskonzepte, die sich durch die Verbreitung von AR- und VR-Anwendungen wandeln. Dabei stellen sich u. a. Fragen, die sich auf das Verhältnis von Realität und Bild bzw. Objekt und Repräsentation sowie auf das Sehen in der Augmented Reality beziehen. So hat Brantner (siehe den Beitrag in diesem Band) auf Forschungsbemühungen zu algorithmisch erweiterten Realitäten hingewiesen, die sich auch der Frage zuwenden, ob durch solche AR-Anwendungen ein neues visuelles Regime entstehen könnte. Ebenso sei auf die eingangs in diesem Beitrag skizzierte Notwendigkeit verwiesen, sich der Komplexität von Sichtbarkeitsrelationen anzunehmen und hierbei insbesondere auch für Machtverhältnisse sensibel zu sein.

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Automatisierte Verfahren der Bildanalyse als Methoden und Untersuchungsgegenstand der Visuellen Kommunikationsforschung4

Die Kommunikations- und Medienwissenschaft hat in den letzten Jahren stark von den Fortschritten in der automatisierten Inhaltsanalyse profitiert. Deren zunehmende Anwendung manifestiert sich auch in der Gründung einer Interest Group für Computational Methods in der International Communication Association (ICA). Dabei konzentriert sich die Anwendung automatisierter Verfahren in der Kommunikations- und Medienwissenschaft aber (noch) auf verbalen Text und vernachlässigt visuelle Elemente und somit einen wichtigen Teil medialer Inhalte. Geise et al. (2016) führen aus, dass dies nicht verwunderlich sei, da Bilder aufgrund ihrer holistisch-assoziativen Darstellungslogik eine Bedeutungsstruktur aufweisen, die (noch) nicht durch einfache Regeln erfasst und gelernt werden kann. Doch Wissenschaft und Industrie entwickeln die Verfahren der Machine bzw. Computer Vision stetig weiter. Das steigende Interesse an automatisierten Bildanalyseverfahren wie Objekterkennung ist nicht allein in der Erzielung von Fortschritten in der Entwicklung von selbstfahrenden Autos, Sicherheits- und Überwachungstechnologien, Bildanalyseverfahren in der Medizin oder Robotik etc. begründet, sondern auch in den Millionen von neuen Bildern, die täglich online – v. a. in Sozialen Medien – geteilt werden. Industriegiganten wie Microsoft, Facebook oder Google sowie Start-Ups verstärken ihre Bemühungen, diese Bilder mittels künstlicher Intelligenz zu analysieren. Der Industrie dienen die maschinellen Analysen u. a. dazu, die NutzerInnen und ihr Verhalten besser zu verstehen und eine gezieltere Ausrichtung der in den Feeds angezeigten Inhalte und Werbung zu ermöglichen (Carah und Angus 2018). Auch in der wissenschaftlichen Forschung werden Verfahren der automatisierten Bildanalyse eingesetzt und weiterentwickelt. Ansätze zur automatisierten Analyse von Bildinhalten finden sich vor allem in der Informatik, insbesondere im Bereich der Computer Vision, und finden nunmehr, wenn auch noch selten (Araujo et al. 2018), Eingang in die sozialwissenschaftliche Forschung (z. B. Carah und Angus 2018; Peng 2017, 2018; Peng und Jemmot 2018). In der Computer Vision, also der Bildklassifikation und Objekterkennung, werden vor allem sogenannte Convolutional Neural Networks eingesetzt, die in den Bereich des Deep Learning fallen (Li 2015; Redmon 2017). Die Künstliche Intelligenz ist soweit fortgeschritten, dass die Software Objekte erkennen und auf der Mikroebene beispielsweise die Mimik und Gestik von Personen analysieren kann. In der Computer Vision werden überwachte und unüberwachte Ansätze unterschieden (Carah und Angus 2018): Die überwachte Bilderkennung beginnt mit einem manuell vorklassifizierten Datensatz, der genutzt wird, um einen Algorithmus zu trainieren, der vorbestimmte Merkmale wie ein Logo oder ein Objekt in

Der Abschnitt „Automatisierte Verfahren der Bildanalyse als Methoden und Untersuchungsgegenstand der Visuellen Kommunikationsforschung“ wurde von Cornelia Brantner verfasst.

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Bildern erkennt. Einmal trainiert, kann der Algorithmus verwendet werden, um zuvor nicht klassifizierte Bilder in großen Bilddatensätzen zu klassifizieren und Konfidenzwerte hinsichtlich der vermuteten Anwesenheit der vorbestimmten Objekte zu liefern. Unüberwachten Ansätze können zur Clusterung großer Bildmengen verwendet werden. Hier werden Bilder, die gemeinsame visuelle Merkmale aufweisen, automatisiert zu Bildclustern zusammengefasst und Muster in den Bilddaten aufgedeckt. So können beispielsweise Merkmale wie dunkle Farben, objektdichte Szenen oder markante Objekte Grundlage für eine Clusterung sein. Computer Vision erlaubt beispielsweise die Analyse von Helligkeit, Kontrast, visueller Komplexität, Farbintensität oder die Anwendung der Drittel-Regel (Peng 2017; Peng und Jemmot 2018). Oft fehlt Visuellen Kommunikations- und MedienforscherInnen das Know-how für den Einsatz von Computer Vision. Die vermehrte und oftmals eingeforderte interdisziplinäre Kooperation mit ComputerwissenschaftlerInnen könnte dem Abhilfe schaffen. Eine weitere Möglichkeit bietet sich durch die Nutzung vorhandener kommerzieller Machine Vision APIs wie Clarifai, Microsoft Azure Computer Vision oder Google Cloud Vision. Deren Anwendung ist jedoch dadurch limitiert, dass von den BetreiberInnen kein Zugang zu den Klassifikatoren und Klassifikationsstrukturen gegeben wird und man daher beim Einlesen von Bildern über die API mit Ergebnissen aus einer Black Box konfrontiert wird (Araujo et al. 2018). Manche Tools – etwa Clarifai und Microsoft Azure – bieten aber die Möglichkeit, selbst Trainings mit Bildern durchzuführen. Trotz der jüngsten Fortschritte und der immer besser werdenden Instrumente der automatisierten visuellen Analyse gibt es noch viele Einschränkungen. Der Fokus liegt bislang auf der Erkennung von Motiven und Objekten in Bildern. Bilder vermitteln Informationen aber nicht nur dadurch, was gezeigt wird, sondern auch, wie es gezeigt wird. Aber auch hier gab es in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte. Um ein Beispiel zu geben: In der politischen Berichterstattung werden viele Personenbilder, genauer gesagt PolitikerInnenbilder, eingesetzt. Für die Forschung ist vor allem von Interesse, wie diese PolitikerInnen gezeigt werden, welche Ästhetik, einschließlich Winkel, Farben, Licht sowie Merkmale von Interaktion, Haltung und Gestik, durch die Bilder vermittelt werden und wie diese verschiedenen Elemente in der Bedeutungskonstruktion zusammenspielen, denn diese Aspekte tragen zur visuellen Gestaltung von Themen und deren Bewertungen sowie deren Wirkungen bei (siehe den Beitrag von von Sikorski und Brantner in diesem Band). Wie bereits gezeigt wurde, lassen sich Computer-Vision-Techniken nicht nur zur Analyse ästhetischer Aspekte der Bildkomposition einsetzen (Peng und Jemmot 2018). Computer-Vision-Techniken aus dem Bereich der Personen- und Gesichtserkennung können auch zur Analyse von visuellem Bias in der Politikberichterstattung (Peng 2018) genutzt werden. Peng (2018) nutzte etwa die Microsoft Azure Face- und Emotion-APIs zur Gesichts- und Emotionserkennung am Beispiel des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2016. Der eingesetzte Computer Vision Algorithmus war vor allem bei der Erkennung der Emotionen Glück/Freude bzw. bei neutralen Gesichtsausdrücken akkurat, während er bei den anderen Gesichtsausdrücken, dies gilt vor allem für Ekel und

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Angst, schlechter performte. Beim Einsatz von vorhandenen Tools in der Forschung sind solche Einschränkungen deshalb immer mit zu berücksichtigen und zu reflektieren. ForscherInnen setzen sich auch mit dem Bias von Algorithmen auseinander. So weist beispielsweise Joy Buolamwini von der Algorithmic Justice League des MIT auf die Verzerrungen in den Daten hin, die verwendet werden, um Technologien wie Gesichtserkennungssoftware zu trainieren und zu bewerten. Dieser Bias wurde durch die TrainerInnen und nicht durch den Computer kreiert und führt beispielsweise bei der Gesichtserkennung dazu, dass die Algorithmen bei unterrepräsentierten Gruppen schlechter performen. Dies hat Buolamwini (2018) an drei kommerziellen Gesichtserkennungs-APIs – Microsoft Azur, Face++ von Magvii und IBM Watson – aufgezeigt. Es ist schwer vorauszusagen, wie sich das Maschinelle Sehen weiter entwickeln wird. Bedenkt man jedoch, dass vor zehn Jahren ForscherInnen noch davon ausgingen, dass es für Computer kaum möglich werden würde, eine Katze von einem Hund zu unterscheiden (Redmon 2017), während nunmehr eine korrekte Bildklassifikation mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgt und es auch möglich ist, die Bildinhalte in einfachen semantischen Sätzen zu beschreiben (Li 2015), so sind weitere Fortschritte in der Bildanalyse zu erwarten. Wie weit Computer auf ein tieferes „Bildverständnis“ trainiert werden können oder neue Formen von Künstlicher Intelligenz entwickelt werden, mit denen Bildinhalte interpretiert werden, wird die Zukunft zeigen. Die Verwendung des Begriffs „Bildverstehen“ ist in diesem Zusammenhang natürlich diskussionswürdig. So stellt sich einerseits die auch in KI-Debatten aufgeworfene Frage, ob Maschinen „verstehen“ können und ist andererseits der Begriff des „Verstehens“ in der soziologischen Methodenlehre auf qualitatives Denken bezogen und wird vom Begriff des „Erklärens“ unterschieden. Im Zusammenhang mit den möglichen Fortschritten wirft sich für uns Forschende die Frage auf, welche Rolle uns zukommt, wenn Algorithmen und Maschinelles Sehen immer „besser“ werden. Könnte dies etwa dazu führen, dass sich unsere Aufgabe darauf verlagert, Assoziationen herzustellen, die Maschinen noch nicht herstellen können (Stichwort „Abduktion“) und Datenanalysen kritisch zu dekonstruieren und zu theoretisieren? Eine weitere Herausforderung für die Analyse ergibt sich daraus, dass Bilder und verbaler Text in multimodalen Medieninhalten komplex verschränkt sind und sich gegenseitig beeinflussen (siehe den Beitrag von Bucher in diesem Band). Dies bedeutet, dass Techniken entwickelt werden müssen, die komplexe intratextuelle und kontextuelle Zusammenhänge erfassen können. Dies ist aus unserer Sicht mit automatisierten Verfahren alleine nicht zu bewerkstelligen. Insgesamt erscheinen hierfür mixed-methods Ansätze, in denen automatisierte und manuelle qualitative Verfahren kombiniert werden, am gewinnbringendsten. Nicht zuletzt besteht eine Herausforderung darin, fotojournalistische Produkte und ihre genuine Bildsprache zu untersuchen. Es gibt ein immer wiederkehrendes Repertoire an Bildern in der Berichterstattung über bestimmte Themen, sodass eine automatisierte Analyse mit manuellen Kodieransätzen in der Bildtypenanalyse verknüpft werden könnte (zur Bildtypenanalyse siehe den Beitrag von Grittmann

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in diesem Band). Computer Vision kann dazu dienen, Muster in der Berichterstattung zu erkennen, während die vertiefende Analyse und Interpretation der Bildtypen manuell durchgeführt wird. Auch für die Aufdeckung von Bildern mit ikonischem Potenzial könnte Computer Vision verwendet werden. Insgesamt wäre eine Forcierung interdisziplinärer Kooperationen zwischen Visueller Kommunikationsforschung und Computer Vision wünschenswert. Zeynep Tufekci (2018) hat in Bezug auf die Massenanwendung von Künstlicher Intelligenz in der Gesichtserkennung in einem Tweet eine Frage aufgeworfen, von der sich auch die Visuelle Kommunikationsforderung angesprochen fühlen sollte: „The real questions about the age of machine intelligence are at the intersection of the mundane and the novel: the intersection of politics and power as it exists and the evolving machine capabilities. That’s interesting. That’s important. And that’s what needs attention.“ Computer Vision ist also nicht nur als Methode für die Visuelle Kommunikationsforschung von Interesse, sondern auch als ein Forschungsgegenstand. Denn nicht zuletzt ziehen die automatisierten Verfahren der Bildanalyse zahlreiche ethische und gesellschaftliche Fragen nach sich, haben sie doch soziale und kulturelle Auswirkungen, die analysiert werden sollten. Diese reichen von ethischen Fragen des Datenschutzes und der Privatheit und damit verbundenen Auseinandersetzungen mit den Kontroll-, Überwachungs- und Missbrauchspotenzialen dieser neuen Technologien der Bilderkennung und deren sozialen und kulturellen Folgen, über Implikationen des Bias der Algorithmen, bis hin zu Fragen der (rechtlichen) Regulierung der algorithmischen Analyse. So werden bezüglich des Einsatzes dieser Technologien für die staatliche Überwachung in China dunkle Dystopien gezeichnet. Und Brad Smith (2018), Präsident von Microsoft, hat selbst gefordert, die Technologien der Gesichtserkennung nicht alleine der Industrie zu überlassen, sondern staatliche Regulierungsmaßnahmen in den USA einzuführen. Welche Auswirkungen Beschränkungen im Zugang zu APIs wiederum auf die ForscherInnen haben werden, wird sich zeigen. Die schlimmste Dystopie wäre jedoch jene, dass die Datengiganten weiterhin uneingeschränkt jene Daten und Bilder, die NutzerInnen täglich hochladen, analysieren, ihre Analysetools weiterentwickeln und staatliche Institutionen diese Technologien nutzen, während kritischen ForscherInnen der Zugang zu den Inhalten verwehrt wird. Das interdisziplinäre Feld der Critical Data Studies (Iliadis und Russo 2016) und die kritische Medienforschung (Carah und Angus 2018) widmen sich den ethischen und kulturellen Herausforderungen, die Big Data, zu denen natürlich auch die Bilder gehören, mit sich bringen. Carah und Angus (2018) appellieren an ForscherInnen sich nicht nur mit dem Einsatz von Technologien der Computer Vision und deren Implikationen kritisch zu befassen, sondern diese auch selbst einzusetzen, um die kommerziellen „algorithmic brand cultures“ besser verstehen zu können: „The task for critical media studies then is to simulate the simulators, to build the infrastructure platforms and brands use to orchestrate human-machine relations, build it in the public domain, and subject it to meaningful forms of scrutiny“. Auch dieser Herausforderung kann nur in der interdisziplinären Zusammenarbeit begegnet werden.

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Forschungsethische Herausforderungen in der Visuellen Kommunikationsforschung5

Der Einsatz visueller Methoden wie auch die Analyse von Bildinhalten und bildbezogenen Praktiken implizieren besondere Herausforderungen für die Umsetzung der forschungsethischen Grundsätze der informierten Einwilligung, informationellen Selbstbestimmung, Anonymität und Schadensvermeidung bei der Datenerhebung und -analyse sowie bei der Publikation und Speicherung von Forschungsergebnissen (u. a. Pauwels 2008; Tiidenberg 2018; Waycott et al. 2015; Wiles et al. 2008, 2012). Dennoch ist Ethik nicht als Verbots- oder Verhinderungsinstrument für die Visuelle Kommunikationsforschung zu sehen, sondern vielmehr als Qualitäts- und Reflexionsmerkmal guter Forschung. Art und Inhalt forschungsethischer Fragen und somit auch Ansatzpunkte für Reflexionen sind in der Visuellen Kommunikationsforschung so vielfältig wie Forschungsinteressen, Material und methodische Ansätze im Feld selbst: Sie betreffen beispielsweise den Umgang mit potenziell traumatisierenden Bildern oder Abwägungen zwischen Transparenz und Verstärkung („Amplification“) bei der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen zu sensiblen oder problematischen Themen. Außerdem ist die Kommunikation oder auch der Umgang mit auf Plattformen wie Facebook, Twitter, YouTube oder Instagram technisch „frei“ und „öffentlich“ verfügbarem Bildmaterial mit forschungsethischen Entscheidungen verbunden. In der Folge werden einige Fragen beispielhaft angerissen, um weiterführende Debatten und den Austausch zu speziellen visuellen forschungsethischen Herausforderungen anzustoßen. So stellt sich die Frage, wann, von wem und wofür Einwilligung im Forschungsprozess erforderlich ist. Informierte Einwilligung ist zentraler Grundsatz in der Forschungsethik. Die viel diskutierte Frage, wann und wozu bei Forschung in Online-Kontexten eine Einwilligung notwendig ist bzw. welche Art von Daten als „privat“ oder „öffentlich“ betrachtet werden kann (siehe dazu u. a. Markham und Buchanan 2012; Tiidenberg 2018; Townsend und Wallace 2016; Zimmer 2010) ist auch für die Visuelle Kommunikationsforschung zentral. Müssen Social MediaNutzerInnen stets damit rechnen, mit den von ihnen geteilten Inhalten Teil von Forschungsprojekten zu werden, sodass sie weder über den Prozess der Datensammlung und -analyse in Kenntnis gesetzt werden, noch diesem zustimmen müssen? Oder verstößt eine Verwendung von Bildern in einer Studie bereits gegen die von Nissenbaum (2004) beschriebene kontextuelle Integrität der ursprünglich geposteten Inhalte? Wie sind Ideen zu opt-out-Optionen auf Plattformen, die beispielsweise Fiesler und Proferes (2018) einbringen, zu bewerten? Mit diesen könnte den NutzerInnen die Möglichkeit gegeben werden, sich bewusst für oder gegen die Integration ihrer geposteten Inhalte in Datensätze zu entscheiden. Gerade in der Visuellen Kommunikationsforschung ist die Frage, ob es eine Einwilligung braucht, sorgfältig

Der Abschnitt „Forschungsethische Herausforderungen in der Visuellen Kommunikationsforschung“ wurde von Rebecca Venema verfasst.

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und nuanciert für die einzelnen Plattformen zu entscheiden, auf denen hochgradig diverses Bildmaterial mit unterschiedlichen Publikums- und Privatheitsvorstellungen veröffentlicht wird (Beninger 2017, S. 69; siehe dazu auch den Beitrag von Lobinger und Schreiber in diesem Band sowie die Entscheidungsheuristik von Heise und Schmidt 2014). Zu berücksichtigen ist dann auch, dass oftmals nicht nur diejenigen Personen, die Bilder oder Videos veröffentlicht haben, auf diesen zu sehen bzw. über Kommentierungen mit diesen verbunden sind, sondern auch andere Personen, wie FreundInnen, Bekannte, Familienmitglieder etc. Dies bedeutet wiederum die Notwendigkeit, kontext- und bildinhaltsspezifisch abzuwägen, von wem eine Einwilligung in diesem Kommunikationsnetzwerk einzuholen ist. Abzuwägen bleibt auch die Frage, wann gegebenenfalls diese Einwilligung notwendig ist – bereits zum Zeitpunkt der Datensammlung oder aber erst, wenn Bilder in Forschungspublikationen integriert werden sollen und sich so ihr beabsichtigter Verwendungskontext grundlegend wandelt? Wie sind diese Fragen bei Datenvisualisierungen von Social Media-Daten zu bewerten (siehe dazu Moats und Perriam 2017)? Verkompliziert wird der Grundsatz der informierten Einwilligung zudem durch den wissenschaftspolitisch zunehmend formulierten Anspruch, Datensätze öffentlich zugänglich zu machen – aus Gründen der Transparenz sowie um Sekundärauswertungen zu erleichtern. Eine offene Frage ist, welche Auswirkungen es auf die Teilnahme- und Auskunftsbereitschaft hat, wenn die Teilnehmenden ihre Einwilligung nicht mehr nur exklusiv für den spezifischen Studienkontext geben. Von Forschenden wie auch von Teilnehmenden zu reflektieren – gleichzeitig aber nicht immer überschaubar – sind dann auch die mögliche Verwendung und deren Implikationen bei künftiger Nutzung der (visuellen) Daten. Welche Aspekte und Charakteristika in Bildern könnten dann gegebenenfalls „sensibel“ werden oder verletzlich machen? Wer ist dann das „potenzielle Publikum“ der Bilder, was sind mögliche Verwendungs- und Verknüpfungskontexte? Diese komplexen Fragen unterstreichen wiederum die Notwendigkeit, informiertes Einverständnis nicht als einmaligen vertraglichen Akt zu sehen, der zu Beginn der Datenerhebung vollzogen wird. Vielmehr ist es ein fortlaufender Prozess, der die Studie und die dabei getroffenen Entscheidungen permanent begleitet. Eine weitere forschungsethische Herausforderung für die Visuelle Kommunikationsforschung betrifft die Grundsätze und Ansprüche Anonymität und Vertraulichkeit bzw. wie diese geschützt werden können. Während verbale Daten in Interviewtranskripten relativ unaufwändig zu anonymisieren sind, können Bilddaten qua ihres präsentativ-holistischen Darstellungsmodus leicht sehr viel mehr über Personen und Kontexte „verraten“. Diese besondere Sensibilität visueller Daten betonen auch Social Media-NutzerInnen selbst (Beninger 2017, S. 68). Gerade für die Visuelle Kommunikationsforschung ist es aber wichtig, analysierte Bilder in Publikationen auch zu zeigen, um Vorgehen, Forschungsergebnisse und diskutierte Implikationen transparent und nachvollziehbar zu machen, wie Katharina Lobinger im nächsten Abschnitt diskutiert. Dabei stellt sich aus forschungsethischer Perspektive die Frage, wie die Anonymität von abgebildeten Personen durch Verfremdung der Bilder und/oder von Kontextinformationen wie NutzerInnennamen, Kommentierungen und Anschlusskommunikation geschützt werden kann, ohne die für die Forschung

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zentralen Informationen zu verlieren. Heise und Schmidt (2014) empfehlen, Personenbilder grundsätzlich anonymisiert darzustellen, sofern die abgebildeten Personen bzw. der/die UrheberIn nicht ausdrücklich der Darstellung zustimmt. Je nach untersuchten Bildern müssen zudem nicht nur Personen, sondern gegebenenfalls auch abgebildete Plätze und Räume anonymisiert werden. Dabei sind Anonymisierungen durch Verpixelungen oder schwarze Balken nicht immer ausreichend oder werden mit einer Ästhetik der Kriminalität assoziiert. Markham (2012), Tiidenberg (2018) und Wiles et al. (2008, 2012) schlagen stattdessen „fabrication techniques“ bzw. die Verfremdung durch die Bearbeitung mit Software-Tools vor. Reißmann (2012) wiederum konnte durch Reenactment/Nachstellen von Bildern visuelle Informationen illustrieren und gleichzeitig die Anonymität seiner jungen Untersuchungspersonen wahren. Gleichsam wird Anonymisierung aber auch im Spannungsfeld zwischen Schutz (Können Personen mögliche Folgen einer nicht-anonymisierten Veröffentlichung abschätzen?), Anerkennung und „Silencing“ diskutiert und muss deshalb projektspezifisch abgewogen werden (siehe dazu z. B. Wiles et al. 2008, Felzmann 2013, S. 21). Dies gilt auch für das sich entwickelnde Feld der Datenvisualisierungen: Einerseits können Informationen (etwa von Netzwerken) auch bei Anonymisierungen Beziehungen und Muster offenlegen, die die NutzerInnen möglicherweise für mit dem Kontext Vertraute identifizierbar machen. Andererseits kann eine weitreichende Anonymisierung eine Datenvisualisierung auch schlicht wissenschaftlich wert- und erkenntnislos machen. Schließlich sind forschungsethische Praxis und Richtlinien stets kontextuell situiert und dynamisch (boyd 2016, S. 10; Wiles et al. 2012, S. 685). Das heißt sie sind abhängig vom jeweiligen konkreten Forschungsinteresse und Vorgehen (siehe dazu Markham et al. 2018; Markham 2006), aber auch von der jeweiligen Forschungsdisziplin. Und sie sind niemals statisch, da sich Technologien, Plattformen, ihre Nutzungsbedingungen und insgesamt auch die Art und Weise, wie Menschen sie nutzen fortlaufend verändern. Bestehende Guidelines können daher Empfehlungen für Leitfragen und zu berücksichtigende Aspekte aufzeigen, nicht aber abschließende und abzuarbeitende Checklisten und eine „one-size-fits-all“-Lösung bieten (boyd 2016, S. 7; Markham und Buchanan 2012, S. 4). Wie also die abstrakten forschungsethischen Prinzipien in konkrete ethische Forschungspraxis umgesetzt werden, bleibt eine Herausforderung. Dieser muss sich jede/r visuelle KommunikationsforscherIn stellen, um den genannten Ansprüchen im Einzelfall methodisch, ethisch und kontextsensibel angemessen und reflektiert begegnen zu können. Weitere Diskussionen und Austausch im Feld sind dabei elementar, wie Schlütz und Möhring (2016, S. 492–493) sowie Heise (2017) für die deutsche Kommunikations- und Medienwissenschaft generell konstatieren. Dies gilt für die Visuelle Kommunikationsforschung und ihre speziellen ethischen Herausforderungen ebenso. Hilfreich wäre dabei auch eine empirische Auseinandersetzung mit Forschungsethik. Dabei wären zum einen konkrete Problemstellungen, Überlegungen und Strategien von ForscherInnen im Feld in den Blick zu nehmen. Zum anderen wäre (bildbezogen) die Perspektive der ForschungsteilnehmerInnen und ihr Blick auf unterschiedliche Forschungs- und Plattformkontexte, methodische Ansätze und Anforderungen an „gute“ Forschungspraxis zu beleuchten.

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Herausforderung „Bilder zeigen“ – Visuelle Kommunikation in wissenschaftlichen Publikationen6

Während sich die bisherigen Abschnitte visuellen Forschungsobjekten und/oder methodischen Zugängen widmeten, die die Visuelle Kommunikationsforschung aktuell noch vor Herausforderungen stellen, so geht es in diesem letzten Abschnitt um die Verwendung von Bildern und visueller Kommunikation im Forschungsprozess sowie in der letzten Phase von Forschungsprozessen: der wissenschaftlichen Publikation. In diesen Bereichen besteht dringender Forschungsbedarf. Tatsächlich lässt sich Gerald Becks (2003) Kritik an der Soziologie, sie richte „ihren Analysefokus bisher nicht auf sich selbst und die eigenen Visualisierungen“, auch auf die Kommunikations- und Medienwissenschaft übertragen. Die Visuelle Kommunikationsforschung im Speziellen ist gefordert, den Umgang mit ihren Forschungsobjekten und Visualisierungen noch intensiver zu reflektieren. Wissenschaftliche Publikationen sind traditionell überwiegend textdominiert. Nicht zuletzt mit der Reduktion der Druckkosten für Bilder und der Zunahme digitaler Publikationen nahm aber auch hier die Verwendung von Bildern und Visualisierungen zu – vor allem in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen (und hier überwiegend im Bereich der Naturwissenschaften). Wenn Visualisierungen in sozial- bzw. in kommunikations- und medienwissenschaftlichen Publikationen eingesetzt werden, dann handelt es sich zumeist um Grafiken und Datenvisualisierungen, die die gewonnenen Forschungsergebnisse und -daten veranschaulichen sollen (siehe auch den Beitrag von Weber in diesem Band) oder aber es werden exemplarische Forschungsobjekte (etwa in visuellen Inhaltsanalysen untersuchte Bilder) gezeigt. Mit Ergebnisvisualisierungen und Beispielbildern aus dem Analysematerial in Publikationen sind jedoch bei Weitem nicht alle Bildanwendungen abgedeckt. Bilder erfüllen vielfältige Funktionen im Forschungsprozess, sei es als Stimulusmaterial in Experimentalstudien, als Gesprächsanreiz zur Visual Elicitation oder als Hilfe und Mittel der Dateninterpretation (u. a. in Form von Netzwerkvisualisierungen, die dann die Grundlage weiterer Interpretation bilden; bzw. als Visualisierungen in Form von Modellen und Theorien). Dies sind nur einige beispielhafte Szenarien. In all diesen Fällen haben Bilder einen entscheidenden Einfluss auf den Forschungsprozess, sei es im Zuge der Datengewinnung und -erhebung, der Datenanalyse und -interpretation oder der Kommunikation wissenschaftlichen Wissens. Die epistemologische Rolle von Bildern und Visualisierungen wird in Publikationen jedoch kaum reflektiert.

Der Abschnitt „Herausforderung ‚Bilder zeigen‘ – Visuelle Kommunikation in wissenschaftlichen Publikationen“ wurde von Katharina Lobinger verfasst. Einige Überlegungen basieren auf den Vorarbeiten für einen gemeinsam mit Elke Grittmann organisierten Nachwuchsworkshop mit dem Titel „‚Bilder zeigen?‘ Herausforderungen und Bedingungen im Umgang mit Bildern in (kommunikations-)wissenschaftlichen Veröffentlichungspraktiken“. Die Autorin bedankt sich bei Elke Grittmann für den Austausch und die Diskussionen rund um das Thema „Bilder zeigen“.

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Dabei wäre es entscheidend, gerade in diesem Zusammenhang die Leistungen und Limitationen von Bildern und Visualisierungen offenzulegen und zu diskutieren. Herausforderungen ergeben sich dabei auf mehreren Ebenen, denn Bilder sind zum einen Objekte theoretischer Reflexionen und empirischer Studien, zum anderen aber auch visuelles Medium der wissenschaftlichen Wissensproduktion und -kommunikation, wobei die beiden Ebenen nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, wie das folgende Beispiel illustrieren soll: Wenn Bilder als Stimuli im Forschungsprozess eingesetzt werden, wird oftmals nicht klar dokumentiert und argumentiert, welche Bilder zum Zwecke welcher Operationalisierung wie verwendet und variiert wurden. Zum Beispiel nutzten Zillmann et al. (1999) in ihrer berühmten Studie zu visuellem Framing visuelles Stimulusmaterial. Die Studie sollte in der Folge zeigen, dass Bilder die Beurteilung von Sachverhalten beeinflussen können. Die ForscherInnen fügten einem ausgewogenen Nachrichtentext Bilder bei, die jeweils nur eine Seite der Botschaft hervorhoben. Die RezipientInnen hatten nach der Rezeption der Beiträge „verzerrte“ Wahrnehmungen des Sachverhaltes und zwar in Richtung der vom Bild forcierten Botschaft (Zillmann et al. 1999). Konkret verwendeten die ForscherInnen in ihrem Untersuchungsdesign u. a. Bilder von „reichen“ und „armen“ Bauern, um unterschiedliche visuelle Frames zu repräsentieren. Das Stimulusmaterial wird in der Publikation zwar mitabgebildet, allerdings nur in sehr schlechter Qualität, sodass Details der Bilder nicht erkennbar sind. Es wird zudem nicht erklärt, welche visuellen Elemente weshalb welchen Frame repräsentieren und auf welchem Vorwissen diese Auswahl basiert. Dies wäre essenziell, um die Framing-Effekte einordnen zu können. Es ist zum Beispiel stark anzuzweifeln, dass das verwendete Bild eines Mannes vor einem Privatjet den typischen Vorstellungen entspricht, die RezipientInnen von einem reichen Bauern haben („The poor-farmer image showed a gaunt man collecting hay with a horse-drawn implement. The rich-farmer image showed a well-groomed man proudly posing in front of his supertruck and private plane“, Zillmann et al. 1999, S. 214–215). Ebenso könnte dieses Bild aufgrund des Bruchs mit Erwartungen bestimmte Effekte produzieren. Krämer (2015) kritisiert dementsprechend, dass Studien oftmals fraglos die gelungene visuelle Operationalisierung der interessierenden Aspekte unterstellen: „Die Vielfalt der möglichen Deutungen und Funktionen von Bildern in den Medien wird so sehr schnell reduziert. Die Stimuli werden in den entsprechenden Veröffentlichungen häufig nur verbal eingeführt. Die Beschreibung bezieht sich dann gerade nur auf die experimentell zu variierende Dimension und nicht auf andere Aspekte des Motivs oder z. B. des Stils, sodass es mangels Reproduktionen der Bilder schwierig ist, zu beurteilen, ob die experimentelle Manipulation gelungen ist und welche anderen Wirkungen von den Motiven ausgehen könnten.“ (Krämer 2015, S. 52)

Wie Krämer argumentiert, werden meist nur die Motive, aber nicht weitere bildspezifische Darstellungsaspekte (u. a. Nähe/Distanz, Einstellung, Farben, Komposition, Ästhetik) besprochen. Aufgrund der holistischen visuellen Logik lassen sich Bilder aber eben nicht einfach in einzelne Sinneinheiten, entsprechend der gewünschten Operationalisierung, aufteilen (Petersen 2003). Vielfältige Cues im

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Bild und die Verweise, die sie zum Kontext bilden, wirken zusammen und interagieren bei der Bedeutungsgenerierung. Zwar wird im Beispiel der reichen und armen Bauern der Aspekt „Wohlstand“, der sich u. a. an Kleidung, Statussymbolen oder deren Fehlen zeigt, auf Motivebene (mehr oder weniger gelungen) ausgedrückt. Gleichzeitig handelt es sich aber eben auch um zwei völlig verschiedene Bilder, die aufgrund vielfältiger weiterer Gründe zu den entsprechenden Effekten führen können. Somit muss man sich am Ende die Frage stellen, ob die Erkenntnisse wirklich Resultat generalisierbarer Visual Framing-Effekte sind, oder aber nur Effekte, die auf diese zwei spezifischen Bilder zurückgehen. Eine genaue Dokumentation der verwendeten Stimuli sowie eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Bildern ist deshalb in jedem Fall entscheidend für die Einschätzung der Qualität, die Replizierbarkeit und die Transparenz von Forschungen mit visuellen Stimuli. Idealerweise geht der Bildverwendung eine ausführliche qualitative Bildanalyse voraus. All dies hilft dabei, Bilder ernst zu nehmen und die gewonnenen Erkenntnisse adäquat deuten zu können. Während die Bildqualität und der Bildeinsatz Ende der 1990er-Jahre noch finanzielle und drucktechnische Herausforderungen darstellten, sollte eine Bilddokumentation heute – zumindest in Repositorien – prinzipiell einfacher möglich sein. Dennoch veröffentlichen viele Experimentalstudien ihre visuellen Stimuli nicht, was – wie bereits angesprochen – gravierende Probleme in Hinblick auf Transparenz und Replizierbarkeit darstellt. Eine kritische Einordnung wissenschaftlicher Ergebnisse ist dann gar nicht möglich, da nicht nachvollzogen werden kann, wie diese zustande kamen. Aufgabe der Visuellen Kommunikationsforschung sollte es zukünftig sein, für einen reflektierten Bildumgang im Forschungsprozess sowie im Publikationsprozess zu sensibilisieren. Damit sind verschiedene Herausforderungen verbunden: • Zunächst wäre es wünschenswert, Bilder generell vermehrt in Publikationen aufzunehmen und entsprechend einzubetten. Damit Bilder am Ende sinnvoll in den wissenschaftlichen Text eingebettet werden können, sind frühzeitige Entscheidungsprozesse erforderlich. Hier ist vor allem die Auseinandersetzung mit den entsprechenden rechtlichen und (forschungs-)ethischen Rahmenbedingungen (Was kann/darf ich weshalb zeigen/nicht zeigen?) bereits während – und manchmal sogar vor Beginn – des Forschungsprozesses erforderlich (siehe Abschn. 6 von Rebecca Venema; siehe auch den Beitrag von Specht-Riemenschneider et al. in diesem Band). Es versteht sich von selbst, dass Bilder hier nicht als dekorative Elemente, sondern als Mittel der Wissensgenerierung und der Kommunikation von Wissen eingesetzt und anerkannt werden müssen. • Insbesondere wenn Bilder im Zuge des Erhebungszusammenhangs zum Einsatz kommen, sind diese unbedingt in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu zeigen. Dafür existieren mittlerweile vielfältige Möglichkeiten (u. a. wissenschaftliche Online-Repositorien). Eine reine verbale Kurzbeschreibung visueller Stimuli oder einzelner Bildelemente (siehe oben) ist nicht ausreichend. Visuelle ForscherInnen sollten deshalb nicht nur in eigenen Publikationen Bilder zeigen, sondern auch in ihrer Rolle als ReviewerInnen entsprechende Bilder in zu

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begutachtenden Manuskripten einfordern und damit wiederum zur Sensibilisierung für die entscheidende Rolle von Bildern im Forschungsprozess beitragen. • Bilder, die im Forschungsprozess zum Einsatz kommen, müssen generell kritisch reflektiert, analysiert, interpretiert und in Bezug zu theoretischen Vorannahmen diskutiert werden. Eine leichtfertige Bildverwendung, die nur auf der Betrachtung weniger Bildelemente (etwa ausschließlich auf Motiven) basiert, sollte vermieden werden. In Publikationen sollte diese essenzielle Vorarbeit transparent gemacht werden, was die Replizierbarkeit und Generalisierbarkeit der Forschungen erleichtert. • Dies betrifft auch Bilder, die zur Visual Elicitation oder in Creative Methods eingesetzt werden (siehe u. a. den Beitrag von Lobinger und Mengis sowie von Reißmann und Hoffmann in diesem Band). Welche Bilder hatten inwiefern Einfluss auf den Forschungsprozess mit den jeweiligen Graden an Partizipation, den jeweiligen Hierarchien zwischen Teilnehmenden und Forschenden? Welche Ausdrucksmöglichkeiten erlaubten bzw. verunmöglichten die eingesetzten Bilder? Steuerten die Bilder die Interviews in eine bestimmte Richtung? Dies sind nur einige Fragen, die Forschende sich stellen sollten und die ebenfalls in Publikationen Erwähnung finden sollten. • Datenvisualisierungen sind auf Verzerrungen hin zu diskutieren, vor allem wenn diese die Grundlage weiterer Interpretationen bilden (siehe u. a. den Beitrag von Weber in diesem Band). Würden andere Formen von Visualisierungen zu anderen Interpretationen führen? Werden bestimmte Elemente zurecht betont oder vernachlässigt? Welche Ideologien stehen hinter bestimmten Formen von Modellvisualisierungen (z. B. Fluss vs. Netzwerk)? Diese Liste ist keineswegs vollständig und ließe sich weiterführen. Sie soll ein Anstoß für die weitere Diskussion dieses Themas sein und die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Funktionen von visueller Kommunikation in wissenschaftlichen Forschungsprozessen und Publikationen lenken. In anderen Worten: Diese Ausführungen sollen auch visuelle ForscherInnen daran erinnern, Bilder und bestimmte Bedeutungen, die sie generieren, nicht als eindeutig und gegeben zu nehmen. Vielmehr müssen wir uns stets erneut die Komplexität von Bildern in Erinnerung rufen und Wege finden, mit dieser adäquat umzugehen. Nur dann entfaltet visuelle Forschung ihre genuinen Leistungen.

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Fazit

Dieser Abschlussbeitrag zum Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung hat einige besonders dringende Herausforderungen, denen sich die Visuelle Kommunikationsforschung stellen muss, aufgezeigt und (an)diskutiert. Wolfgang Reißmann plädierte in Abschn. 2 für eine intensivierte Auseinandersetzung mit komplexen Seh- und Sichtbarkeitsrelationen und den in ihnen sedimentierten Macht- und Herrschaftsverhältnissen nicht nur, aber vor allem auch in digitalen Medienumgebungen. In Ergänzung zu eher übergreifenden kultur- und

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medientheoretischen Theoremen im Ausgang an Mediumstheorien, Psychoanalyse, Gender Studies, Surveillance Studies usw. sieht er hier, der sozialwissenschaftlichen Tradition der Kommunikations- und Medienwissenschaft folgend, die spezifische Leistung der Visuellen Kommunikationsforschung in der empirisch fundierten, kontextuellen Differenzierung und einer per se multiperspektivischen Herangehensweise, die Medien und ihre Nutzbarmachung und Aneignung stets im Wechselverhältnis begreift. Daniel Pfurtscheller hat in Abschn. 3 die große Bedeutung von Bewegtbildern in der Online-Kommunikation herausgestellt und auf Herausforderungen aufmerksam gemacht, die sich bei der Beschäftigung mit Videodaten unweigerlich ergeben. Neben dem intensiveren interdisziplinären Austausch sieht er die Visuelle Kommunikationsforschung gefordert, eigene fachspezifische Forschungsfragen und Perspektiven im Bereich Bewegtbild zu entwickeln, etwa wenn es um die Analyse der interaktionsorientierten Verwendung von Bewegtbildern auf Social-Media-Plattformen geht. Elena Marchiori stellte in Abschn. 4 Innovationen im Bereich der Augmented Reality und der Virtual Reality vor und diskutierte einige der resultierenden Implikationen, Chancen und Herausforderungen für anwendungsbezogene Kontexte ebenso wie für die Erforschung von und die Forschung mit AR- und VR-Settings. Als Aspekte, die hier in Zukunft noch stärker an Relevanz gewinnen, wurden die Gestaltung und Wirkung von AR- und VR-Inhalten, Fragen ihrer Nutzung und Aneignung sowie die Integration von Sensordaten und KIAnwendungen diskutiert. Cornelia Brantner hat sich in Abschn. 5 mit den Fortschritten der Computer Vision beschäftigt und aufgezeigt, dass deren methodische Integration in Projekte der Visuellen Kommunikationsforschung gewinnbringend sein kann. Sie hat dabei vor allem für eine vermehrte interdisziplinäre Zusammenarbeit plädiert, zugleich aber auch auf die automatisierten visuellen Analyseverfahren als Forschungsgegenstände aus einer kritischen Perspektive hingewiesen. Rebecca Venema diskutierte in Abschn. 6 ausgewählte forschungsethische Fragen und Herausforderungen in Bezug auf informierte Einwilligung und Anonymität und zeigte deren Vielschichtigkeit in der Visuellen Kommunikationsforschung. Sie verwies insbesondere darauf, dass sich Forschungsethik im Bereich der Visuellen Kommunikation mit ihren sich stets verändernden Forschungsobjekten und -ansätzen mitwandeln muss, um diesen adäquat begegnen zu können und plädierte für weitere diskursive wie empirische Auseinandersetzungen mit forschungsethischer Praxis in der Visuellen Kommunikationsforschung. Im letzten Abschn. 7 verwies Katharina Lobinger auf die vielfältigen Funktionen, die Bilder im gesamten Forschungs- und Publikationsprozess haben und plädierte für eine Visuelle Kommunikationsforschung, die sich verstärkt auf die visuellen Komponenten der Forschung und der Vermittlung von Wissen fokussiert; den Fokus also stärker auf die erforschten und im Zuge des Wissenschaftsprozesses genutzten und produzierten Bilder legt. Bilder ernst zu nehmen, bedeutet dann unter anderem auch, Bilder verstärkt in wissenschaftliche Publikationen zu integrieren. Dies wäre in der Visuellen Kommunikationsforschung schon aus Transparenzgründen oftmals geboten.

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Wir haben in diesem Beitrag sicher nicht alle virulenten Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung ausreichend angesprochen. Wir hoffen aber mit der Behandlung einer breiten Palette an Herausforderungen und Aufgaben einige zukunftsweisende Themenfelder identifiziert zu haben. Eine kritische Diskussion dieser (und anderer) Themen in der Visuellen Kommunikationsforschung wäre in jedem Fall wünschenswert – und genauso erforderlich wie die wachzuhaltende Reflexion darüber, was wir als Forschende mit unseren heterogenen Zugängen überhaupt als Kommunikation, Bild und Bildlichkeit begreifen und konzeptualisieren.

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