Handbuch Kultursoziologie: Band 2: Theorien – Methoden – Felder [1. Aufl.] 978-3-658-07644-3;978-3-658-07645-0

Die Vielfalt kultursoziologischer Ansätze, Diskurse, Arbeitsfelder und Methoden wird in diesem Handbuch kompakt dargeste

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German Pages XV, 668 [660] Year 2019

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Handbuch Kultursoziologie: Band 2: Theorien – Methoden – Felder [1. Aufl.]
 978-3-658-07644-3;978-3-658-07645-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Front Matter ....Pages 1-1
Ethnomethodologie als Kultursoziologie (Christian Meyer)....Pages 3-27
Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie (Konstanze Senge, Simon Dombrowski)....Pages 29-51
Postkonstruktivismus in der Kultursoziologie (Lars Gertenbach)....Pages 53-76
Poststrukturalistische Kultursoziologien (Stephan Moebius)....Pages 77-108
Praxistheorie als Kultursoziologie (Hilmar Schäfer)....Pages 109-130
Rational Choice-Theorie in der Kultursoziologie (Jörg Rössel, Sebastian Weingartner)....Pages 131-148
Kultursoziologie zwischen Spätmoderne und Postmoderne (Peter V. Zima)....Pages 149-172
Wissenssoziologische Ansätze in der Kultursoziologie (Rainer Schützeichel)....Pages 173-190
Front Matter ....Pages 191-191
Biographical Research in Cultural Sociology (Maggie O’Neill)....Pages 193-203
Diskursforschung in der Kultursoziologie (Reiner Keller)....Pages 205-221
Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie (Gerlinde Malli)....Pages 223-241
Grounded Theory in der Kultursoziologie (Günter Mey, Oliver Berli)....Pages 243-259
Quantitative Kultursoziologie (Franz Höllinger)....Pages 261-272
Front Matter ....Pages 273-273
Architektur aus kultursoziologischer Perspektive (Heike Delitz)....Pages 275-288
Design aus kultursoziologischer Perspektive (Sophia Prinz)....Pages 289-303
Emotion aus kultursoziologischer Perspektive (Sighard Neckel, Sarah Miriam Pritz)....Pages 305-317
Ernährung aus kultursoziologischer Perspektive (Tanja Paulitz, Martin Winter)....Pages 319-336
Gedächtnis aus kultursoziologischer Perspektive (Dietmar Wetzel)....Pages 337-350
Geschlecht aus kultursoziologischer Perspektive (Sonja Engel)....Pages 351-368
Gewalt und Krieg aus kultursoziologischer Perspektive (Sabine A. Haring)....Pages 369-400
Globalisierung aus kultursoziologischer Perspektive (Manfred Prisching)....Pages 401-421
Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive (Katrin Döveling, Denise Sommer)....Pages 423-437
Konsum – eine Kultur der Abwechslung (Michael Jäckel)....Pages 439-451
Kulturen und Praktiken des Körpers (Michael Meuser, Nicole Kirchhoff)....Pages 453-469
Language in a Cultural Sociological Perspective (Giolo Fele)....Pages 471-484
Medien und Visualität aus kultursoziologischer Perspektive (Eva Flicker)....Pages 485-499
Mode aus kultursoziologischer Perspektive (Lutz Hieber)....Pages 501-523
Nationalismus und kulturelle Differenz aus kultursoziologischer Perspektive (Dieter Reicher)....Pages 525-537
Objekte aus kultursoziologischer Perspektive (Aida Bosch)....Pages 539-555
Ökonomie als Kultur (Ute Tellmann)....Pages 557-582
Politik aus kultursoziologischer Perspektive (Sebastian M. Büttner)....Pages 583-598
Raum aus kultursoziologischer Perspektive (Markus Schroer)....Pages 599-611
Religion aus kultursoziologischer Perspektive (Regine Herbrik, Meike Haken)....Pages 613-627
Technik aus kultursoziologischer Perspektive (Matthias Wieser)....Pages 629-643
Wissenschaft aus kultursoziologischer Perspektive (Werner Reichmann)....Pages 645-659
Back Matter ....Pages 661-668

Citation preview

Springer Reference Sozialwissenschaften

Stephan Moebius Frithjof Nungesser Katharina Scherke  Hrsg.

Handbuch Kultursoziologie Band 2: Theorien – Methoden – Felder

Springer Reference Sozialwissenschaften

Springer Reference Sozialwissenschaften bietet fachspezifisch und transdisziplinär Fachwissen in aktueller, kompakter und verständlicher Form. Thematisch umfasst die Reihe die Fachbereiche der Soziologie, Politikwissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie der Pädagogik. Die Handbücher dieser Reihe repräsentieren den jeweils aktuellen Stand des Wissens im Fach. Reviewprozesse sichern die Qualität durch die aktive Mitwirkung von namhaften HerausgeberInnen und hervorragenden AutorInnen. Der Vorteil dieser neuen Handbücher liegt in seiner dynamischen Komponente: Die Beiträge erscheinen noch vor der gedruckten Fassung (Online First) und sind bereits von Beginn an zitierfähig. Zudem werden diese Beiträge aktualisiert und geben so den aktuellen Stand der Forschung wieder. Springer Reference Sozialwissenschaften wächst kontinuierlich um neue Kapitel und Themen. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15073

Stephan Moebius • Frithjof Nungesser Katharina Scherke Hrsg.

Handbuch Kultursoziologie Band 2: Theorien – Methoden – Felder

mit 11 Abbildungen

Hrsg. Stephan Moebius Institut für Soziologie Universität Graz Graz, Österreich

Frithjof Nungesser Institut für Soziologie Universität Graz Graz, Österreich

Katharina Scherke Institut für Soziologie Universität Graz Graz, Österreich

ISSN 2569-8710 ISSN 2569-8729 (electronic) Springer Reference Sozialwissenschaften ISBN 978-3-658-07644-3 ISBN 978-3-658-07645-0 (eBook) ISBN 978-3-658-07646-7 (Bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Es gibt vielfältige Varianten soziologischen Denkens und Arbeitens, die mit dem Begriff ‚Kultursoziologie‘ bezeichnet werden. Die Unterschiedlichkeit kultursoziologischer Ansätze ergibt sich dabei nicht nur aus einer Parallelität verschiedener Theorietraditionen, sondern u. a. auch daraus, dass die Breite dessen, was unter ‚Kultur‘ verstanden wird, in verschiedenen Ansätzen jeweils anders konzipiert wird (reichend vom Bereich der sogenannten ‚Hochkultur‘ im engeren Sinne bis hin zu einem umfassenden Verständnis von Kultur als gesamter Lebensweise). Hinzu kommt eine je unterschiedliche Reichweite des Erklärungsanspruchs, der mit kultursoziologischem Arbeiten verbunden wird: Während manche Ansätze Kultur als gesellschaftlichen Teilbereich verstehen und Kultursoziologie daher im Sinne einer speziellen Soziologie betreiben, bei der kulturelle Phänomene (unterschiedlichster Art) einer soziologischen Analyse unterzogen werden, betrachten andere Ansätze Kultur als konstitutive Dimension aller Vergesellschaftung und begreifen Kultursoziologie daher als eine grundlegende Perspektive, die bei der Analyse gesellschaftlicher Erscheinungen (unterschiedlichster Art) zum Einsatz gelangen muss. Im deutschsprachigen Raum können beide Ausrichtungen auf eine lange Tradition zurückblicken, wobei zeitweise die eine oder andere Ansicht im Fach besonders stark vertreten war. Im englischsprachigen Raum erfuhr die Debatte um den Erklärungsanspruch der Kultursoziologie in jüngerer Zeit im Rahmen der Diskussion des sogenannten ‚strong program in cultural sociology‘ erneuten Auftrieb. Diese Ausgangslage muss bei der Herausgabe eines Handbuchs zum Thema ‚Kultursoziologie‘ berücksichtigt werden. Anliegen dieses Buchprojektes ist es, interessierten Leser_innen das Kennenlernen der Vielfalt kultursoziologischer Ansätze, Diskurse, Arbeitsfelder und Methoden zu ermöglichen und auf diese Weise zur weiterführenden Auseinandersetzung mit Kultursoziologie anzuregen. Das Handbuch möchte keine (neue) Definition von Kultursoziologie liefern oder zwischen den vorhandenen eine Entscheidung treffen; vielmehr soll mit dem Handbuch ein Kompendium vorgelegt werden, in dem durch die ausgewählten Inhalte und Autor_innen ein möglichst breiter Querschnitt kultursoziologischer Forschung sichtbar gemacht wird. Die Autor_innen wurden gebeten, neben der Behandlung der eigentlichen Themen ihrer Beiträge, auch deutlich zu machen, was ihre leitenden Annahmen im Hinblick auf die Ausrichtung von Kultursoziologie sind, um auf diese Weise die für Handbuchbeiträge stets notwendige Auswahl berichtenswerter Punkte V

VI

Vorwort

nachvollziehbar zu machen und einen zusätzlichen Einblick in die Vielfalt kultursoziologischen Arbeitens zu geben. Die beiden Bände des Handbuchs werden ständig erweitert werden; dies ist möglich, da die Beiträge des Handbuchs nicht nur in der nun vorliegenden ersten gedruckten Ausgabe, sondern auch online verfügbar sind. Die Aktualisierung der Beiträge und ihre Ergänzung durch weitere Artikel zu bisher noch nicht berücksichtigten Themen wird online laufend erfolgen. Das Handbuch versteht sich daher als eine ‚lebende Edition‘. Die Drucklegung der ersten Printausgabe erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem anhand der bereits vorhandenen Beiträge ein hinreichend guter Überblick über die verschiedenen im Handbuch vertretenen Themenfelder geboten werden kann, der auch als eigenständiges, gedrucktes Nachschlagewerk Bestand haben wird. Die Beiträge des Handbuchs sind teils auf Deutsch, teils auf Englisch verfasst, wobei die deutschsprachigen Beiträge überwiegen. Die Reihenfolge der Beiträge erfolgt in jedem Kapitel alphabetisch – orientiert am jeweils zentralen Stichwort (also z. B. Land/Region oder Nachname). Band 1 des Handbuchs widmet sich im Wesentlichen der historischen Entwicklung des Themenfeldes ‚Kultursoziologie‘, seiner Kontextualisierung im interdisziplinären und internationalen Umfeld sowie zentralen kultursoziologischen Autorinnen und Autoren. Band 2 gibt Einblick in theoretische und methodische Ansätze der Kultursoziologie und präsentiert den derzeitigen Stand kultursoziologischer Forschung zu ausgewählten Gegenstandsbereichen. Im Folgenden sollen die im Handbuch vertretenen Themenfelder kurz vorgestellt werden. Band 1 wird durch ein Kapitel zum „Der Begriff der Kultur“ eröffnet. Die dort enthaltenen Beiträge behandeln die Entwicklung des Kulturbegriffs und seine Abgrenzung von anderen Kernbegriffen wie ‚Gesellschaft‘ oder ‚Natur‘. Es folgt ein Kapitel zur „Kultursoziologie im internationalen Kontext“, in dem – einzigartig für bisherige Handbücher zum Thema Kultursoziologie – versucht wird, den kultursoziologischen Diskurs in verschiedenen geografischen Regionen nachzuzeichnen. Die Beiträge dieses Kapitels geben einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung und die aktuellen Ansätze der Kultursoziologie in den ausgewählten Regionen. Sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas kommt dadurch die bislang weniger beachtete regionale Entwicklung und Diversität kultursoziologischer Forschungen in den Blick. Eine Erweiterung und stärkere Ausdifferenzierung der behandelten Regionen wird für zukünftige Ausgaben des Handbuchs angestrebt. Die vorhandenen Beiträge machen bereits sehr gut die Prägung kultursoziologischer Interessenslagen und Themenfelder durch spezifische historische und (national-)staatliche Konstellationen der jeweiligen Wissenschaftssysteme deutlich. Sichtbar wird zugleich aber auch die in den verschiedenen Regionen zum Teil erfolgende Bezugnahme auf dieselben klassischen Ansätze und Autor_innen sowie die Auseinandersetzung mit ähnlichen konzeptionellen Problemen der Kultursoziologie (z. B. die Frage ihrer Ausrichtung als spezielle Soziologie oder als grundlegende Perspektive der Soziologie). International verbreitete Ansätze bestehen offenbar parallel zu regional-spezifischen Ausformungen der Kultursoziologie, wobei

Vorwort

VII

sich diese auch durch ein je spezifisches Verhältnis zu anderen Feldern der Kulturforschung auszeichnen, welches u. a. auf die oben erwähnten Konstellationen der nationalen Wissenschaftssysteme zurückführbar ist. Im dritten Kapitel zur „Kultursoziologie in interdisziplinärer Perspektive“ wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die Kultursoziologie mit Themenfeldern beschäftigt, die auch in anderen Disziplinen bzw. interdisziplinären Feldern behandelt werden. Die aktuelle Wissenschaftslandschaft ist durch eine zunehmende Ausdifferenzierung von zum Teil interdisziplinären Spezialgebieten und Kulturforschungen (studies) gekennzeichnet. Kultursoziologische Perspektiven spielen in einigen dieser Spezialgebiete eine Rolle, ja sind gar konstitutiv für deren Entwicklung, mitunter ohne dass sie explizit als solche erwähnt würden. Gleichzeitig bedient sich kultursoziologische Forschung mitunter theoretischer oder methodischer Ansätze, die in diesen Spezialgebieten (weiter-)entwickelt wurden. Die Beiträge dieses Kapitels beleuchten daher das Verhältnis kultursoziologischer Forschung zu verschiedenen Disziplinen, interdisziplinären Themenfeldern, studies und Studienprogrammen. Das vierte Kapitel schließlich präsentiert zahlreiche Aufsätze, welche den Beitrag „Kultursoziologisch relevante Autor_innen“ in bündiger Weise darstellen. Es wurde ein breiter Zugang gewählt: Klassische Positionen werden ebenso umrissen wie aktuelle; eher skeptische Perspektiven stehen neben emphatischen Vertreter_innen einer starken und umfassenden Kultursoziologie. Gemeinsam ist allen besprochenen Zugängen jedoch, dass sie das kultursoziologische Denken nachhaltig geprägt haben. Band 2 des Handbuchs wird durch ein Kapitel zu „Theoretische Zugänge in der Kultursoziologie“ eröffnet. Auf fundierte Weise wird hier umrissen, was aus Sicht unterschiedlicher Theorien Kultur ist und welche Rolle Kultur für soziale Zusammenhänge spielt. Hierdurch wird zugleich auch erkennbar, welche Bedeutung der Kultursoziologie aus Sicht unterschiedlicher Theorieperspektiven zukommt und wie eine entsprechende Kultursoziologie aussieht (oder aussehen sollte). Instruktiv ist in diesem Zusammenhang schon die Wortwahl in den jeweiligen Titeln, welche die jeweiligen Theorien teils „als“ Kultursoziologie auszeichnen oder „in“ der Kultursoziologie verorten. Zu beachten ist, dass bestimmte Theorieperspektiven auch im vierten Kapitel des ersten Bandes im Rahmen der Beiträge zu kultursoziologisch relevanten Autor_innen behandelt werden. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den „Methoden der kultursoziologischen Forschung“. Empirische kultursoziologische Analysen können sich des gesamten Methodenrepertoires der empirischen Sozial- und Kulturforschungen bedienen. Bei einem Blick auf die gegenwärtige Forschungslandschaft fällt jedoch auf, dass in erster Linie qualitative Untersuchungsdesigns gewählt werden. Insofern werden vornehmlich unterschiedliche Methoden der qualitativen Sozialforschung vorgestellt, die für die Kultursoziologie unverzichtbar sind oder sogar aus kultursoziologischen Forschungen entstanden sind. Das heißt aber nicht, dass quantitative Zugänge in der Kultursoziologie nicht vorkommen oder nicht mit ihr kompatibel sind. Sowohl qualitative als auch quantitative Verfahren der empirischen Sozialforschung können zur Rekonstruktion von Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen

VIII

Vorwort

beitragen, so dass beiden Zugangsweisen auch kultursoziologische Relevanz zukommt. Im Kap. „Felder, Phänomene, Prozesse kultursoziologischer Forschung“. wird schließlich anhand ausgewählter Themen deutlich gemacht, was die Kultursoziologie im Hinblick auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche bereits geleistet hat und vor welchen Herausforderungen sie momentan steht. Die vorhandenen Beiträge spiegeln die Spannbreite kultursoziologisch behandelbarer Themenfelder wider. Zu beachten ist dabei, dass einige klassische Felder kultursoziologischer Forschung auch in anderen Kapiteln des Handbuchs (mit-)behandelt werden. Unser herzlicher Dank gilt allen Autor_innen, ohne die das Handbuchprojekt nicht möglich geworden wäre. Sie haben sich mit großem Engagement der Umsetzung unserer Vorgabe, auf einigen wenigen Seiten Einblick in komplexe Themen zu geben, gewidmet. Wie bei vielen derartigen Unternehmen mussten wir einige Autor_innen hinsichtlich des Erscheinens der ersten Printausgabe immer wieder vertrösten, da aus unserer Sicht unverzichtbare Beiträge noch nicht fertiggestellt waren. Die ‚online first‘-Erscheinungsweise hat diesen Autor_innen hoffentlich die Wartezeit erleichtert. Wir freuen uns nun die erste Druckausgabe des Handbuchs vorlegen zu können. Ferner möchten wir uns bei Elisabeth Klöckl-Stadler für das hilfreiche Korrektorat und die Erstellung des Registers ganz herzlich bedanken. Unserer besonderer Dank gebührt dem Springer-Verlag und hier insbesondere Cori Antonia Mackrodt und Daniel Hawig. Sie waren jederzeit kompetente Ansprechpartner_innen und haben das Projekt mit großem Engagement begleitet. März 2018 Graz

Stephan Moebius Frithjof Nungesser Katharina Scherke

Inhaltsverzeichnis

Teil I Theoretische Zugänge in der Kultursoziologie . . . . . . . . . . . .

1

........................

3

..................

29

Postkonstruktivismus in der Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lars Gertenbach

53

Poststrukturalistische Kultursoziologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Moebius

77

.............................

109

Rational Choice-Theorie in der Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Rössel und Sebastian Weingartner

131

Kultursoziologie zwischen Spätmoderne und Postmoderne . . . . . . . . . . Peter V. Zima

149

Wissenssoziologische Ansätze in der Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . Rainer Schützeichel

173

Teil II

191

Ethnomethodologie als Kultursoziologie Christian Meyer

Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie Konstanze Senge und Simon Dombrowski

Praxistheorie als Kultursoziologie Hilmar Schäfer

Methoden der kultursoziologischen Forschung

.........

Biographical Research in Cultural Sociology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maggie O’Neill

193

Diskursforschung in der Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reiner Keller

205

Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerlinde Malli

223

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Grounded Theory in der Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Mey und Oliver Berli

243

Quantitative Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Höllinger

261

Teil III Felder, Phänomene, Prozesse kultursoziologischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

Architektur aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Delitz

275

Design aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sophia Prinz

289

Emotion aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sighard Neckel und Sarah Miriam Pritz

305

Ernährung aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanja Paulitz und Martin Winter

319

Gedächtnis aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Wetzel

337

Geschlecht aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Engel

351

Gewalt und Krieg aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . Sabine A. Haring

369

Globalisierung aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Prisching

401

.............

423

Konsum – eine Kultur der Abwechslung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Jäckel

439

Kulturen und Praktiken des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Meuser und Nicole Kirchhoff

453

Language in a Cultural Sociological Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . Giolo Fele

471

Medien und Visualität aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . Eva Flicker

485

Mode aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lutz Hieber

501

Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive Katrin Döveling und Denise Sommer

Inhaltsverzeichnis

XI

Nationalismus und kulturelle Differenz aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Reicher

525

Objekte aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aida Bosch

539

.......................................

557

.....................

583

Raum aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Schroer

599

Religion aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regine Herbrik und Meike Haken

613

Technik aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Wieser

629

Wissenschaft aus kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Reichmann

645

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

661

Ökonomie als Kultur Ute Tellmann

Politik aus kultursoziologischer Perspektive Sebastian M. Büttner

Mitarbeiter_innenverzeichnis

Oliver Berli Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln, Köln, Deutschland Aida Bosch Institut für Soziologie, Erlangen, Deutschland Sebastian M. Büttner Institut für Soziologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), Erlangen, Deutschland Heike Delitz Lehrstuhl für Soziologie, insbesondere soziologische Theorie, Bamberg, Deutschland Simon Dombrowski Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Katrin Döveling Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Sonja Engel Institut für Soziologie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland Giolo Fele Dipartimento di Sociologia e Ricerca Sociale, Trento, Italien Eva Flicker Institut für Soziologie, Universität Wien, Wien, Österreich Lars Gertenbach FB05 Gesellschaftswissenschaften, Universität Kassel, Kassel, Deutschland Meike Haken Institut für Soziologie, Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Sabine A. Haring Universität Graz, Graz, Österreich Regine Herbrik Qualitative und kulturwissenschaftliche Methoden, Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland Lutz Hieber Institut für Soziologie, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Franz Höllinger Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Österreich Michael Jäckel Universität Trier, Trier, Deutschland XIII

XIV

Mitarbeiter_innenverzeichnis

Reiner Keller Lehrstuhl für Soziologie, Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland Nicole Kirchhoff Institut für Soziologie, Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland Gerlinde Malli Styria vitalis, Graz, Österreich Michael Meuser Institut für Soziologie, Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland Günter Mey Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule MagdeburgStendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland Christian Meyer Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland Stephan Moebius Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Österreich Sighard Neckel Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Maggie O’Neill Department of Sociology, Wentworth College, University of York, Durham, UK Tanja Paulitz Institut für Soziologie, Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland Sophia Prinz Vergleichende Kultursoziologie, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Deutschland Manfred Prisching Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Österreich Sarah Miriam Pritz Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Dieter Reicher Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Ӧsterreich Werner Reichmann Fachbereich Soziologie, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland Jörg Rössel Soziologisches Institut, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Hilmar Schäfer Vergleichende Kultursoziologie, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Deutschland Markus Schroer Institut für Soziologie, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland Rainer Schützeichel Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland

Mitarbeiter_innenverzeichnis

XV

Konstanze Senge Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Denise Sommer Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Ute Tellmann Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland Sebastian Weingartner Soziologisches Institut, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Dietmar Wetzel Institute of Sociology, University of Basel, Basel, Schweiz Matthias Wieser Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich Martin Winter Institut für Soziologie, Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland Peter V. Zima Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt, Freiburg, Deutschland

Teil I Theoretische Zugänge in der Kultursoziologie

Ethnomethodologie als Kultursoziologie Christian Meyer

Inhalt 1 Zur Einleitung: Die Kritik der Ethnomethodologie am Parsons’schen Kulturbegriff . . . . . . . 4 2 Normen und Wissen: Garfinkels Bezug zu Schütz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 3 Grundprinzipien der ethnomethodologischen Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Zusammenfassung

Der Text stellt die Kulturtheorie der Ethnomethodologie dar, wie sie von Harold Garfinkel und später Harvey Sacks entwickelt wurde. Dazu geht der Text zunächst auf die theoretischen Ansätze der zwei wichtigsten Referenzautoren Garfinkels ein: Talcott Parsons und Alfred Schütz. Im Anschluss daran diskutiert er zuerst das für die Ethnomethodologie zentrale Konzept des Ethnos, um dann die wichtigsten Dimensionen des ethnomethodologischen Kulturbegriffs vorzustellen. Sie bestehen in den sechs Aspekten (1) der Wiedererkennbarkeit, (2) der Kognitivität, Normativität und Kooperativität, (3) der Vertrautheit und des Vertrauens, (4) der Indexikalität und Vagheit, (5) der Praxis und (6) der Fraktalität und Fragmentiertheit. Schlüsselwörter

Ethnomethodologie · Kultur · Harold Garfinkel · Alfred Schütz · Talcott Parsons

Diesen Text widme ich Jörg Bergmann in Freundschaft. Ich danke den Herausgebern dieses Bandes sowie Erhard Schüttpelz und Clemens Eisenmann für wertvolle Hinweise zu vorherigen Versionen dieses Textes. C. Meyer (*) Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_10

3

4

1

C. Meyer

Zur Einleitung: Die Kritik der Ethnomethodologie am Parsons’schen Kulturbegriff

Es erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, die Ethnomethodologie in ein Handbuch zur Kultursoziologie aufzunehmen, war doch Harold Garfinkel, ihr Begründer, gegenüber dem Begriff der Kultur zumindest ambivalent eingestellt. Dies liegt daran, dass der Kulturbegriff von Garfinkels Lehrer und Förderer Talcott Parsons bereits auf eine sehr spezifische Weise besetzt worden war, gegen die sich Garfinkel in seinen Schriften kritisch wandte. Ausgangspunkt von Parsons’ Bestimmung des Kulturbegriffs war die Hobbes’sche Frage nach der Entstehung sozialer Ordnung. Als Antithese zu utilitaristischen Modellen erklärte Parsons (1937) die Möglichkeit sozialer Ordnung mit einem Orientierungsrahmen aus Werten und Normen, der von der Gesellschaft mit (positiven und negativen) Sanktionen gestützt wird und den Akteur bei seiner Handlungswahl anleitet. Diesen Orientierungsrahmen bezeichnet Parsons als ‚Kultur‘. Parsons’ sozialer Akteur verfolgt also prinzipiell kulturell vorinterpretierte und bewertete Ziele und wählt zu ihrer Umsetzung kulturell gebilligte Mittel. Zwar sind seine Handlungen freiwillig, aber durch ein Feld kulturell bedeutsamer, normativer Möglichkeiten umgrenzt. Teil des kulturellen Orientierungsrahmens sind komplementäre Rollenerwartungen, die von den sozialen Akteuren – ebenso wie allgemeine gesellschaftliche Werte – im Rahmen ihrer Sozialisation verinnerlicht wurden. Parsons zufolge erzeugt die innere, psychische Struktur des wohlsozialisierten Akteurs emotionale Prozesse, die ihn in Einklang mit dem gültigen Komplex von Normen und Werten bringen. Eine erwartete Missbilligung des eigenen Handelns durch relevante Andere wird als Angst erlebt, eine erwartete Billigung als Begehren, selbst dann, wenn konkrete Belohnungen und Strafen gar nicht zu erwarten sind. Das System von Werten und Normen – Kultur – stellt sicher, dass die Akteure in Entsprechung mit den wechselseitigen Normerwartungen handeln, indem sie ihr Verhalten als innerlich motiviert empfinden und dadurch selbst kontrollieren. Insbesondere nach der Rezeption von G. H. Meads Werk hat Parsons (1951) den der reibungslosen interaktiven Koordinierung von individuellen Handlungen dienenden kulturellen Orientierungsrahmen auch als ein System expressiver Symbole charakterisiert. Damit weist er neben dem normativen auch auf den Zeichencharakter des Orientierungsrahmens hin. Als Zeichen erhalten expressive Symbole eine eindeutige und allgemeine Bedeutung, die auch die normativen Regeln für ihre angemessene Verwendung umfasst. Durch eine solche Generalisierung werden Symbole überindividuell und übersituativ und können im Rahmen von sozialen Interaktionen von folgenden Generationen erlernt und verinnerlicht werden. Erst die symbolische Ordnung und kulturell strukturierte Kodierung normativer Verhaltensstandards erlauben es den Akteuren, Handlungswege in Entsprechung mit abstrakteren kulturellen Orientierungen auszuwählen. Die Koordination wechselseitiger Handlungsorientierungen wird somit durch eine geordnete und systematische gemeinsame Symbolwelt der Akteure, die Parsons als Kultur bezeichnet, möglich. Kultur wird also nicht mehr als eine Summe von Errungenschaften oder ein Katalog von Prinzipien begriffen, wie es frühere Ansätze taten, sondern als ein geordnetes

Ethnomethodologie als Kultursoziologie

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Symbolsystem, d. h. ein symbolvermittelter Komplex von Werten und Standards angemessenen Verhaltens, der das soziale Handeln reguliert. Wenn dieses Symbolsystem – die Kultur – von allen Akteuren in identischer Weise verinnerlicht ist, dann entsteht soziale Ordnung und, im Anschluss daran, die Aufrechterhaltung latenter Wertorientierungen (latent pattern maintenance), die wiederum das Handeln einzelner Akteure motivieren. Auch wenn Garfinkel (1991, S. 11–12) in Parsons’ Modell einen großen Fortschritt in der soziologischen Theoriebildung und ständigen Referenzpunkt der Ethnomethodologie sah, hatte er dennoch einiges Unbehagen gegenüber dem Kulturbegriff, den Parsons formuliert hatte. Ein direkter Kritikpunkt Garfinkels war, dass Parsons hier ein Modell des sozialen Akteurs konstruiert, das diesen als normengeleiteten „kulturellen Trottel“ darstellt, der selbst zu keiner aktiven, flexiblen und reflexiven Beurteilung seiner Situation fähig sei, sondern seine Handlungen stets als Ergebnis der verinnerlichten kulturellen Vorgaben und Sanktionsgewinne – gewissermaßen also stets im Sinne eines gesellschaftlichen „Über-Ichs“ – ausführe. „By ‚cultural dope‘ I refer to the man-in-the-sociologist’s-society who produces the stable features of the society by acting in compliance with preestablished and legitimate alternatives of action that the common culture provides. [. . .] The common feature of the use of these ‚models of man‘ is the fact that courses of common sense rationalities of judgment which involve the person’s use of common sense knowledge of social structures over the temporal ‚succession‘ of here and now situations are treated as epiphenomenal.“ (Garfinkel 1967, S. 68)

Garfinkel (1967) zeigte demgegenüber in vielfältigen Untersuchungen, dass die Akteure im Alltag permanent mit der – zumeist interaktiven – Interpretation, Beurteilung und Erörterung ihrer Situation befasst sind.1 Selbst wenn – was nur selten der Fall ist – Normen (oder Regeln), die in sozialen Situationen gelten, in irgendeiner Form explizit gemacht werden, müssen sie ständig auf die Einzigartigkeit der Situation im Hier und Jetzt angewendet werden. Wie schon Wittgenstein (1953) gezeigt hat, können sie nie explizit genug sein, um jeden Einzelfall ihrer möglichen Anwendung zu antizipieren und so ihre Selektion in sozialen Situationen präzise vorab festzulegen. Normen bzw. ein normativer Konsens, d. h. das, was Parsons als Kultur verstand, sind daher unterdeterminierend und reichen zur Erklärung der Aufeinanderbezogenheit sozialen Handelns und sozialer Ordnung insgesamt allein nicht aus, da sie – zumindest – durch Interpretationen und Praktiken in situ erst

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Garfinkel verweigert sich grundsätzlich jeglichen theoretischen Ex-ante-Modellen des Menschen und plädiert dafür, alle Eigenschaften als situativ statt intrinsisch zu begreifen (Lynch 2012). Dies umfasst selbst das von der Ethnomethodologie häufig betonte Porträt des sozialen Akteurs als „reflexiv“, „kompetent“ und „situations-sensibel“. Garfinkel behauptet also keineswegs, dass soziale Akteure allwissend in Hinsicht auf Geschichte, Politik und Kultur seien; vielmehr gelte es, das in der Situation zum Tragen kommende Menschenbild der Akteure erst soziologisch zu erforschen, statt es vorab theoretisch festzulegen. Darüber hinaus sind die Reflexivität, Kompetenz und Situationssensibilität der Akteure keinesfalls als propositionales Wissen aufzufassen, sondern aus Sicht der Ethnomethodologie vielmehr praktisch, d. h. implizit, prozedural und kontextuell.

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angewendet werden müssen. Sowohl die Relevanz einer Norm als auch die Konsequenzen ihrer Überschreitung werden so von spezifischen Interaktionsverläufen abhängig. Interaktionen füllen also nicht einfach nur die Lücke zwischen Norm und Handlung, sondern etablieren überhaupt erst die situationsspezifische Relevanz einer Norm, selbst dann, wenn die Norm als gewöhnlicher Bestandteil der Situation gilt (Wilson 1970). Garfinkel (1967, S. 74) ist der Meinung, dass Existenz, Inhalt, Zuständigkeit und Geltung von Normen erst während einer sozialen Interaktion „entdeckt“ werden – und zwar nicht erst vom Soziologen, sondern auch von den Akteuren selbst, deren Handlungen ja eigentlich von den Regeln angeleitet sein sollen. Dieses „Entdecken“ erfolgt durch interpretative und kommunikative Praktiken, die den Kontext, der sie verstehbar macht, zuerst produzieren. Solche Praktiken fasst Garfinkel als Ethnomethoden, die Untersuchungseinheiten der Ethnomethodologie, womit er ein neues Forschungsfeld der Soziologie eröffnet. Ethnomethoden sind für Garfinkel, da sie von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Milieu zu Milieu variieren können, die relevanten Untersuchungseinheiten der Kultursoziologie. Kultur, um es zusammenzufassen, ist Garfinkels Position zufolge nicht die Ressource für Handlung (wie Parsons es annahm), sondern deren ständiges Ergebnis.

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Normen und Wissen: Garfinkels Bezug zu Schütz

Die Annahme, dass die Geordnetheit und Aufeinanderbezogenheit sozialen Handelns nicht aus der kulturellen Gleichschaltung von Regel- bzw. Normselektionen durch Internalisierung resultiert, sondern vielmehr den Interpretationsleistungen und Sinnzuschreibungen der Akteure zu verdanken ist, hat Garfinkel der Beschäftigung mit der Phänomenologie, darunter prominent Alfred Schütz, zu verdanken, mit dem er auch im Briefwechsel stand. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis, die Garfinkel aus der Beschäftigung mit Schütz zog, ist, dass der Glaube, ein gemeinsames Symbol- und Wertesystem mit den anderen Gesellschaftsmitgliedern zu teilen, sich nicht – wie bei Parsons – auf eine tatsächliche, durch Internalisierung erzeugte Gegebenheit bezieht, sondern vielmehr eine notwendige – und durchaus nicht immer angebrachte – Konstruktionsleistung der Akteure ist, die diesen erst ein reibungsloses soziales Zusammenleben ermöglicht. Die Konstruktionen erlauben es den Akteuren, die Welt sozialer Sinnzuschreibungen (Lebenswelt) als „objektive“, d. h. äußerlich gegebene Welt individuell zu erfahren. Schütz hat diese Konstruktionen „Idealisierungen“ genannt und näher untersucht, so etwa die Generalthese der „Reziprozität der Perspektiven“ (Schütz 1971, S. 12), die ihrerseits zwei Idealisierungen umfasst, die in der „natürlichen Einstellung“ des Menschen – d. h. der von der unhinterfragten Selbstverständlichkeit sozialer Sinnzuschreibungen geprägten Einstellung im Alltag – wirksam sind. Die erste Idealisierung, die er „Vertauschbarkeit der Standpunkte“ nennt, bezeichnet die Annahme, dass, wäre ich dort, wo mein Partner jetzt ist, ich die Dinge aus gleicher Perspektive,

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Distanz, Reichweite erfahren würde wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt bin, er die Dinge aus gleicher Perspektive erfahren würde wie ich. Die zweite Idealisierung ist die der „Kongruenz der Relevanzsysteme“: Solange, bis sich etwas anderes herausstellt, kann ego davon ausgehen – und dabei annehmen, dass sein Gegenüber ebenfalls davon ausgeht –, dass der Unterschied in den biografischen Hintergründen beider nicht relevant für die gegenwärtigen praktischen Zwecke ist, sondern dass ego und alter unter der Prämisse handeln und sich verständigen, dass die „Gegenstände in Reichweite“ für beide die identische Bedeutung haben (Schütz 1971, S. 13). Obwohl sie sich im Alltag durchaus bewusst sind, dass sie die Welt immer nur aus ihrer individuellen Perspektive erleben, wissen die Akteure zugleich auch, dass ein Großteil ihres Wissens ihnen von anderen weitergegeben wurde, was die Fiktion einer Gemeinsamkeit der Überzeugungen nahelegt. Und sie wissen – oder gehen zumindest implizit davon aus –, dass dies auch andere wissen. Sozialwissenschaftliche Ansätze, die – wie Parsons – annehmen, dass dieses geteilte Wissen tatsächlich in einem strengen Sinne existiert, reproduzieren daher aus Schütz’ und Garfinkels Sicht Alltagsannahmen sozialer Akteure, die es eigentlich soziologisch zu erforschen gilt, statt sie naiv zu übernehmen. Anders als Parsons war Schütz der Meinung, dass der von ego gemeinte und der von alter verstandene Handlungssinn niemals identisch sein können und eine gemeinsame Interpretation daher auch nicht als Grundlage für Normselektionen dienen kann. Handlungskoordination auf der Basis intersubjektiven Sinns kann nur durch komplementierende Konstruktionsleistungen der Akteure gelingen, die diese Differenzen vorläufig überbrücken. Zu ihnen zählen neben den genannten Idealisierungen insbesondere Typisierungen, etwa von gesellschaftlichen Handlungsmotiven, Rollen oder Handlungsabläufen. Durch Typisierungen wird Intersubjektivität möglich, da nicht die Erfassung des gesamten subjektiv gemeinten Sinnes der Handlung alters, sondern nur das Verstehen ihres gemeinten typischen Sinnes Bedingung erfolgreicher Verständigung ist. Typisierungen variieren allerdings individuell und werden stets für praktische Zwecke und nur solange, bis sich etwas anderes herausstellt, als geteilt unterstellt. An die Stelle des durch Normen ‚gleichgeschalteten‘ Parsons’schen „kulturellen Trottels“ tritt bei Schütz ein in der Einzigartigkeit seiner Subjektivität befangenes Individuum, das immer nur zu einer durch vorgegebene Schemata stark beschnittenen Intersubjektivität fähig ist und ständig an einem umfassenden Fremdverstehen scheitert: „Nicht nur, was ein einzelner weiß, unterscheidet sich vom Wissen seines Nachbarn, sondern auch, wie beide die ‚gleichen‘ Tatsachen kennen. Jedes Wissen hat vielfältige Grade der Klarheit, Unterscheidbarkeit, Genauigkeit und Vertrautheit. [. . .] [S]o weiß ich offensichtlich allerlei Dinge nur in der dumpfen Weise bloßen Bekanntseins, während du weißt, was sie zu dem macht, das sie sind, und umgekehrt. Ich bin ‚Experte‘ in einem kleinen Bereich und ein ‚Laie‘ in vielen anderen, und das gleiche gilt von dir.“ (Schütz 1971, S. 16)

Fehlende Grundlagen für die Schütz’schen Idealisierungen, d. h. eine letztliche Unvertauschbarkeit der Standpunkte und Inkongruenz von Relevanzen, entstehen

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jedoch nicht nur durch graduell variierende Wissensbestände, sondern auch in Begegnungen von Personen und Personengruppen, die sich grundlegend in ihrer Lebensweise unterscheiden, d. h. inhaltlich (also prinzipiell) differierende Wissensbestände besitzen. Wenn es innerhalb einer Gesellschaft sowohl graduell als auch prinzipiell variierende Wissensbestände gibt, dann kann ein auf einheitlichem Wissen gründender Kulturbegriff nicht ausreichen, um Intersubjektivität und daran anschließend soziale Ordnung zu begründen. Die Chance, dass in Übereinstimmung mit bestimmten Handlungsmustern gehandelt wird, ist allerdings „umso größer, je standardisierter bzw. anonymisierter das vorherrschende Handlungsmuster“ (Schütz 1971, S. 38) ist. Je diverser und pluraler also eine Gesellschaft in ihren Wissensbeständen und (darauf aufbauenden) Handlungserwartungen ist, desto standardisierter und anonymisierter müssen Handlungsmuster sein, um Intersubjektivität und soziale Ordnung zu garantieren. Auch diesen Gedanken greift Garfinkel auf, denkt ihn aber – im Sinne seiner Kritik an Parsons – konsequent weiter, indem er davon ausgeht, dass auch die standardisierten, routinisiertesten und anonymsten Handlungsmuster stets unterdeterminierend und daher in situ interpretationsbedürftig sind. Es obliegt also letztlich wieder Akteuren in spezifischen sozialen Situationen, die relevanten Standardisierungen und Routinisierungen – die ihnen ja als sozial und kulturell sinnhafte und aussagekräftige Typen bekannt sind – in der Praxis auszuwählen, festzulegen und wechselseitig zu bestätigen. Für Schütz und Garfinkel sind soziale Akteure daher selbst bereits Beobachter und Interpreten ihrer jeweiligen Sozialwelt. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sind so Konstrukte zweiter Ordnung, die sich auf Konstrukte erster Ordnung der Akteure beziehen. Daraus folgt, dass die Bedeutungszuschreibungen der Akteure ständig die Wissensordnung der Gesellschaft aktualisieren und modifizieren – man könnte auch im Sinne der Ethnomethodologie sagen: dass sie sie permanent aufs Neue hervorbringen. Der Frage, wie sie dies tun, widmet sich die ethnomethodologische Forschung, da Garfinkel Kultur im Anschluss an Schütz als das spezifische „Wie“ versteht, mit der eine Gesellschaft bzw. deren Mitglieder ihr alltägliches Tun vollziehen. Um dies zu erhellen, identifiziert und beschreibt die Ethnomethodologie die weitgehend implizit bleibenden praktischen und interpretativen Konstruktionsleistungen der Alltagshandelnden. Bei Schütz und Garfinkel erscheint soziale Wirklichkeit somit als überaus dynamischer und flüchtiger Sinnzusammenhang, der im sozialen Handeln immer wieder aufs Neue konstruiert wird. Während Parsons Akteure letztendlich als Spieler kulturell determinierter Rollen entwirft, interessieren sich Schütz und Garfinkel für die Prinzipien, durch deren unbemerkten Gebrauch Akteure im Alltag intersubjektiven Sinn erst erzeugen, ohne dabei Zugang zum gesamten subjektiven Sinn eines Handelns zu erhalten. Mit Schütz und gegen Parsons sucht Garfinkel die Erklärung der Geordnetheit sozialer Situationen nicht erst auf der Ebene normativer Regeln, sondern bereits auf der Ebene des für sie Konstitutiven, d. h. ihrer sinnhaften intersubjektiven Erzeugung. Anders als bei Parsons ist für Schütz und Garfinkel das Problem sozialer Ordnung – gefasst als Intersubjektivität – daher nie endgültig gelöst, sondern ein fortlaufendes praktisches Problem, das in jeder sozialen Situation

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erneut bewältigt werden muss. Eine geteilte Kultur kann für Garfinkel soziale Ordnung also nicht dauerhaft garantieren; vielmehr steht den Akteuren ein Pool an Methoden universaler und lokalspezifischer Art zur Verfügung, mit denen sie in jeder sozialen Situation aufs Neue durch Beobachtungen und Interpretationen Sinn, Intersubjektivität und soziale Ordnung herstellen (Heritage 1984).

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Grundprinzipien der ethnomethodologischen Kultursoziologie

3.1

Das Ethnos der Ethnomethodologie

Trotz seiner Kritik am Parsons’schen Kulturbegriff benutzte Garfinkel zahlreiche Begriffe, die kulturtheoretische Themen ansprechen. Denn er sah in der Kultur ein zentrales Thema der Soziologie. Ein wichtiger dieser Begriffe ist das „Ethnos“, das zum Bestandteil des Terminus Ethnomethodologie wurde. Nach eigener Aussage wurde Garfinkel zu dem Begriff durch den Outline of Cultural Materials (OCM) der Human Relations Area Files in Yale inspiriert, einem Katalog kultureller Merkmale, der einen systematischen Kulturvergleich ermöglichen soll (Garfinkel 1974, S. 16). Darin befanden sich Begriffe wie „Ethnobotanik“, „Ethnophysiologie“ oder „Ethnophysik“, die Teil der Oberbegriffe „Ethnowissenschaft“, „Ethnotheorie“ und „Ethnosemantik“ sind. Mit diesen Konzepten hatten Anthropologen in den 1950erJahren – wie etwa Ward Goodenough (1964, S. 36) – begonnen, indigenes Wissen zum Gegenstand ihrer Forschung zu machen und einen entsprechenden wissensorientierten Kulturbegriff zu entwickeln, ohne sich allerdings auf Ansätze aus der Wissenssoziologie zu beziehen. Garfinkel greift den Ethnos-Begriff auf, wendet ihn jedoch nicht auf ethnowissenschaftliche Themen, sondern auf Methoden an. Damit meint er die Methoden, welche die Akteure zur Konstruktion von Intersubjektivität, einer gemeinsamen Lebenswelt und sozialer Ordnung einsetzen. Ethnomethoden – Garfinkel nennt sie auch Praktiken – sind z. B. implizite konstitutive Verfahren, mit denen Akteure die soziale Wirklichkeit, in der sie leben, als externe, objektive und mit Zwangskraft ausgestattete Realität methodisch – also wiedererkennbar und aus ihrer Sicht vernünftig – hervorbringen. Der Bezug zu Durkheims Konzept des fait social ist beabsichtigt, denn Garfinkel zufolge erhalten soziale Tatsachen ihren Wirklichkeitscharakter ausschließlich über die zwischen den Menschen ablaufenden Interaktionen und im alltäglich-praktischen Handeln. Um die Akteure in ihrem Alltag zu orientieren, müssen solche Methoden öffentlich – d. h. für die Akteure selbst sicht- und beobachtbar – sein. Und daher sind sie auch für die Soziologie formal beschreibbar. Wie Sharrock (1995, S. 4) sagt, ist soziale Ordnung leicht zu finden, da sie dazu gemacht ist, gefunden zu werden. „When you go about your actions [. . .] you do them so that (or in ways that) other people can see what you’re doing. You do your actions to have them recognized as the actions they are. When you stand at the bus stop, you stand in such a way that you can be seen to be waiting for a bus. People across the street can see what you’re doing, according to where and how

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C. Meyer you’re standing. [. . .] [Y]ou’re standing at the bus stop and somebody comes and stands next to you and they stand in such a way that eventually you can see that these people are standing in a line and that one person’s the first and another is the second, and some person’s at the end. People stand around at bus stops in ways they can be seen to be waiting for a bus.“ (Sharrock 1995, S. 4)

Zu den Ethnomethoden zählen verkörperte Formen der Sinnkonstitution ebenso wie intuitive, rational, plausibel und normal erscheinende Alltags-Interpretationen. Praktiken unterscheiden sich aus ethnomethodologischer Perspektive von Handlungen, da sie diejenigen Verfahren darstellen, mit denen Handlungen überhaupt erst als solche konstituiert werden. Sie sind daher auch zunächst präreflexiv („seen, but unnoticed“; Garfinkel 1967, S. 36), gleichwohl aber bewusstseinsfähig. Besonders in Fällen der Störung werden sie reflektiert, diskursiviert und expliziert. Ethnomethoden werden von Seiten der Akteure mithilfe von Hintergrunderwartungen als typische Erscheinungen vertrauter Ereignisse erkenn- und verstehbar. Diese Hintergrunderwartungen gilt es daher soziologisch zu erforschen (Garfinkel 1967, S. 53–54). Der Begriff des Ethnos bezeichnet für Garfinkel – anders als für die traditionelle Ethnologie der damaligen Zeit, in der er eine (mehr oder weniger) homogene Volkseinheit bezeichnete denjenigen Kreis von Personen, bei denen ein Mitglied darauf vertraut, dass es ihre Ethnomethoden und sie seine Ethnomethoden erkennen und verstehen. Garfinkel (1967) spricht demgemäß nicht von Akteuren, sondern durchweg von Mitgliedern (members) einer solchen Kollektivität. Mit dem Begriff der Kollektivität bezieht sich Garfinkel (1967, S. 57 n. 8) spezifisch auf Parsons (1951, S. 26 u. ö.), demzufolge Kollektivitäten nur aus einer flüchtigen Interaktionsdyade bestehen, aber auch größer und sehr stabil sein können (Parsons 1961, S. 42). Ihre Mitglieder teilen Werte, Erwartungen und kulturelle Kompetenzen, haben Rechte und Pflichten und können berechtigte Ansprüche stellen (1951, S. 91). Für Garfinkel sind sowohl die Kollektivität als auch die Mitgliedschaft dabei keine tatsächlich existierenden Entitäten. Vielmehr handelt es sich um Akteurskonzepte, d. h. beide werden nur von den Akteuren selbst als solche vorausgesetzt. Einem Mitglied erscheint die durch Ethnomethoden hervorgebrachte soziale Realität der Kollektivität verstehbar, normal, natürlich und plausibel, obwohl es selbst für deren Zustandekommen mitverantwortlich ist. Verantwortlich zeichnet das Mitglied im doppelten Wortsinne als faktischer und als rechenschaftspflichtiger Urheber der Kollektivität: es geht um „bona-fide [d. h. in gutem Glauben und ohne Betrugsoder Täuschungsabsicht handelnde, CM] and competent collectivity member[s]“ (Garfinkel 1967, S. 57; Herv. im Orig.). Später haben Garfinkel und Sacks darauf hingewiesen, dass der Begriff des Mitglieds besonders auf die Beherrschung einer natürlichen Sprache verweist, da insbesondere das Sprechen zentral für die Hervorbringung der sozialen Realität sei. Immer wenn Einzelne beim Sprechen einer Sprache gehört werden, dann produzieren und manifestieren sie für die Zuhörer typisches Common Sense-Wissen. Die Analyse natürlichen Sprechens ist daher eine der Hauptaufgaben der ethnomethodologischen Kultursoziologie (Garfinkel und Sacks 1970, S. 342). Mit dem Begriff des Mitglieds weist Garfinkel überdies darauf hin, dass der Begriff des Akteurs als Selbst mit stabiler persönlicher Identität soziologisch von

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sekundärer Relevanz ist. Aus seiner Perspektive sind Akteure vielmehr Sinnkonstruktionen der Mitglieder, die durch soziale Praktiken in sozialen Situationen erst erzeugt werden. Praktiken werden also nicht von Akteuren produziert, sondern Akteure durch Praktiken in einer Kollektivität (Mehan und Wood 1975). Der Fokus der Ethnomethodologie gilt damit keineswegs Akteuren und deren subjektiven Wissensvorräten oder geteilten Wissensbeständen, sondern den Praktiken, die all dies erst hervorbringen. Der ethnomethodologische Kulturbegriff ist somit insgesamt praxeologisch ausgerichtet.2 Dies bedeutet, dass Garfinkel Praxis konsequent allen anderen soziologischen Erklärungsvariablen (z. B. Strukturen, Intentionen) vorordnet und auch Kultur nicht als ein der menschlichen Praxis externes Orientierungs- oder Bedeutungssystem begreifen will.

3.2

Kultur als Wiedererkennbarkeit

In diesem Sinn hat die Ethnomethodologie auch den wissensorientierten Kulturbegriff der Ethnologie aufgegriffen. In Harvey Sacks’ Definition heißt es: „A culture is an apparatus for generating recognizable actions; if the same procedures are used for generating as for detecting, that is perhaps as simple a solution to the problem of recognizability as is formulatable.“ (Sacks 1995, S. 226, Herv. im Original)

Kultur wird hier erstens als „Apparat“ bestimmt, mit dem die Wiedererkennbarkeit von Handlungen erzeugt wird. Es sind also nicht die Handlungen (Handlungsinhalte, -bedeutungen oder -objektivationen) selbst kulturell, sondern vielmehr die Praktiken und Methoden ihrer Erzeugung als wiedererkennbare Handlungen. Zweitens werden die Methoden und Praktiken, durch die Handlungen erzeugt werden, als identisch mit den Methoden und Praktiken ausgewiesen, durch die sie als Exemplare eines Typs von Handlungen erkannt und verstanden werden. Im Anschluss an die Phänomenologie, die Typen als präprädikativ und der Wahrnehmung vorgängig fasst (Husserl 1939, S. 35),3 stellen Produktion und Rezeption auch in der Ethnomethodologie keine unterschiedlichen Aktivitäten dar, sondern sind identisch. Eine Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Mitglieder verstehen, was andere tun, da dies die ihnen vertraute Weise ist, wie sie es ganz selbstverständlich selbst ebenfalls tun würden. Wenn zwischen Produktion und Rezeption ein aufwendiger induktiver Interpretationsprozess geschaltet sein müsste, wäre es schlicht keine gemeinsame Kultur. Kultur wird also nur dann zu einem hermeneutischen Problem, wenn sie als ein Feld begriffen wird, dessen Elemente etwas dahinter Liegendes oder über es Hinausgehendes repräsentierten (etwa eine kohärente Ordnung, ein Bedeutungsnetz etc.). Die ethnomethodologisch ausgerichtete kultursoziologische Frage Garfinkel hat zeitweise sogar erwogen, den Begriff „Ethnomethodologie“ durch „Neopraxiology“ zu ersetzen, wobei er sich jedoch nicht auf Marx oder Wittgenstein, sondern auf Espinas, von Mises und Kotarbinski bezog (Garfinkel 1974, S. 18; Meyer 2015). 3 Diesen Hinweis verdanke ich Ilja Srubar. 2

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lautet stattdessen, mit welchen Methoden und Praktiken Mitglieder in Alltagssituationen die Wiedererkennbarkeit und Geordnetheit ihrer Lebenswelt herstellen. Die Frage zielt damit auf Methoden, die diese Geordnetheit zugleich erzeugen – und so erkennbar machen – und erkennen und verstehen – und so reproduzierbar machen. Erzeugen heißt somit zugleich erkenn- und verstehbar machen, und erkennen und verstehen heißt zugleich auch reproduzieren können. Eine individuelle Handlung wird so immer zugleich in der Produktion und Rezeption zu einem Exemplar eines Handlungs-Typs gemacht. Mit dem zweiten Bestandteil der Definition bezieht sich Sacks auf Garfinkel, dessen Identitätstheorem wie folgt lautet: „The activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with members’ procedures for making those settings ‚accountable.‘ The ‚reflexive,‘ or ‚incarnate‘ character of accounting practices and accounts makes up the crux of that recommendation.“ (Garfinkel 1967, S. 1)

Die Verfahren, durch die ein soziales Handelns durch Mitglieder konstituiert wird, sind die gleichen, durch die es für andere Mitglieder auch verstehbar wird. Darin liegt ihr, wie Garfinkel es nennt, „reflexiver und verkörperter“ Charakter. Soziale Praktiken, so stillschweigend, verkörpert und vorprädikativ sie auch sein mögen, sind dabei immer zugleich erlernt, sozial und – da sie nicht im Kopf von Individuen, sondern in sozialen Situationen sichtbar und öffentlich vollzogen werden – für andere verstehbar und als „Dokument für etwas“ (wie Garfinkel in Anlehnung an Mannheim formuliert) interpretierbar. Die „Reflexivität“ von Praktiken ist somit als „Sammelbezeichnung für die unzähligen Weisen gemeint, auf die Praktiken Teil dessen sein können, was sie vollziehen“ (Garfinkel zit. in Watson 2005, S. 8; Übers. CM). Einzelne Praktiken reflektieren als Exemplare also die Typen, als deren Instanz sie ausgeübt werden. Dadurch ist der „dokumentarische“ Charakter von sozialen Praktiken in genau diesen Praktiken „verkörpert“. Diese Reflexivität und gleichzeitige Verkörperung hat Garfinkel als accountability bezeichnet. Mit diesem Begriff wies Garfinkel ferner darauf hin, dass die Praktiken – um hier Garfinkels Ausdrücke im Deutschen wiederzugeben – je nach den Anforderungen der Situation „erkenn- und nachweisbar“, „zählbar“, „aufzeichenbar“, „berichtbar“, „mit-einer-Geschichte-umschreibbar“, „analysierbar“, aber auch „als-Geschichte-erzählbar“, „spruchfähig“, „vergleichbar“, „verbildlichbar“, „darstellbar“ sind.4 Das „Account“-Konzept umfasst also sowohl die sinnhaft vorstrukturierte Produktion als auch – in Auflösung dieser Innen-Außen-Sequenz – die verstehende Aneignung eines Geschehens sowie dessen sprachliche Bezeichnung und Weiterverarbeitung (Bergmann 1988, S. 45). Accountability ist ein Merkmal

Im englischen Original lauten die Begriffe: „detectable, countable, recordable, reportable, tell-astory-aboutable, analyzable – in short, accountable“ (Garfinkel 1967, S. 33) sowie „storyable, proverbial, comparable, picturable, representable – i.e. accountable“ (Garfinkel 1967, S. 34). Bergmann (1988, S. 44) übersetzt accountable mit „praktisch-erklärend“. Weitere mögliche deutsche Übersetzungen wären „rechenschaftsfähig“ oder „in Rechnung stellbar“.

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von Praktiken, wie sie von den Mitgliedern einer auf wechselseitiges Verstehen vertrauenden Kollektivität in der Sozialisation angeeignet werden, und nicht ein Merkmal der Akteure selbst. Praktiken machen durch ihre accountability nicht nur Unbeteiligten, sondern auch den sie Vollziehenden selbst sicht- und verstehbar, was sie eigentlich tun und welchen Typs ihr Tun ist (Lynch 1993). Aufgrund ihrer Wiedererkennbarkeit erscheinen für die Mitglieder eines Ethnos alle Praktiken geordnet (bzw. umgekehrt fühlen sich Mitglieder als Teil der Kollektivität, weil ihnen die Praktiken von deren Mitgliedern verstehbar und geordnet erscheinen). Obwohl jedes Mitglied immer nur zu einem winzigen Teil der möglichen Praktiken eines Ethnos Zugang hat, kann es, da sie sich durch ihre accountability jeweils als Exemplare eines spezifischen Typs verstehbar machen, alle einzelnen Praktiken interpretieren und ihnen so Sinn zuschreiben (Sacks 1995, S. 485). Harvey Sacks hat als eine Form dieser reflexiven und verkörperten Geordnetheit die „membership categorizations“, d. h. die – mit Schütz gesprochen – Typisierungen der Mitglieder identifiziert, mit denen Alltagsaktivitäten sowohl gestaltet und wiedererkannt als auch Berichte über sie produziert und verstanden werden. Die Analyse der Verfahren der Mitgliedertypisierung (z. B. standardisierte Beziehungspaare wie Mutter-Baby oder kategoriengebundene Aktivitäten wie weinen-kümmern) sowie des Alltagswissens, das sie betrifft und mit dessen Hilfe generell soziale Wirklichkeit begriffen wird, ist eine Form der Analyse von Kultur – oder zumindest der Analyse „of some culture“, wie Sacks (1995, S. 469) sagt. Die Verstehbarkeit von Praktiken basiert somit auf deren Erkennbarkeit durch Individuen, die mit ihnen aus ihrem Alltag bekannt sind. Sie basiert, mit anderen Worten, auf Wissen.

3.3

Kultur als normativ durchsetztes Wissen und kooperative Kontinuierung

Dass dieses Wissen nicht neutral, sondern mit normativen Erwartungen verbunden ist, zeigte Garfinkel in einigen seiner berühmten „Krisenexperimente“, mit denen er die impliziten Praktiken der Wirklichkeitskonstruktion offenlegte. In einem Experiment bat Garfinkel seine Studierenden, mit Testpersonen das Spiel „Drei gewinnt“ (Tic-Tac-Toe) zu spielen. Bei diesem Spiel setzen zwei Spieler abwechselnd ihr jeweiliges Zeichen (Kreuz bzw. Kreis) in ein freies Feld eines quadratischen, 3  3 Felder großen Spielfeldes. Es gewinnt derjenige Spieler, der als Erstes drei Zeichen in eine Zeile, Spalte oder Diagonale gesetzt hat. In Garfinkels Experiment sollten die Studierenden ihre Mitspieler das erste Zeichen setzen lassen, es nach dem Zug aber ausradieren und in ein anderes Feld eintragen. Danach erst sollten sie das eigene Zeichen setzen. Beides sollten sie auf eine Weise tun, als ob es völlig normaler Bestandteil des Spiels sei. Fast alle Versuchspersonen reagierten auf den Regelbruch, indem sie eine Erklärung verlangten, sich empört zeigten oder den Mitspieler kritisierten. So gut wie alle versuchten zugleich, dem abweichenden Spiel ihres Mitspielers in irgendeiner Weise Sinn zuzuschreiben, d. h. das Verhalten ihres Gegenübers als „rechtlich mögliches“ Ereignis zu deuten und es so zu normalisieren. Vor allem aber machte

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dieses Verhalten die Versuchspersonen misstrauisch – insbesondere in Bezug auf den Willen des Mitspielers, die für jedes Spiel notwendige Kooperativität zu zeigen (Garfinkel 1963, S. 206). Garfinkels Haupterkenntnis aus diesem Experiment war daher, dass im Allgemeinen das (mit dem Erzeugen identische) Erkennen des Sinnes von Handlungen und dessen normative (ebenfalls mit dem Erzeugen identische) Bewertung eng miteinander verknüpft sind. Die Geordnetheit des Sozialen wird mithin nicht nur kognitiv bzw. interpretativ antizipiert, sondern auch normativ eingefordert. Das regelwidrige Vorgehen des Mitspielers war für die Versuchspersonen sowohl sinnlos als auch normverletzend. Auf diese Weise zeigte Garfinkel mit seinen Experimenten, dass die Schütz’sche Idealisierung der „Reziprozität der Perspektiven“ nicht nur kognitiver und interpretativer, sondern zugleich normativer Art ist: Sie wird durch die Mitglieder eingeklagt (Schüttpelz 2015). In einem zweiten Experiment zeigte Garfinkel, dass auch der Aspekt der Wiedererkennbarkeit von Praktiken normativ besetzt ist: Wiedererkennbares und den Erfahrungen entsprechendes Verhalten wird von anderen normativ eingefordert. In seinem Experiment vertauschte Garfinkel während einer Schachpartie immer, wenn er an der Reihe war, zuerst zwei seiner Figuren gleichen Typs, bevor er seinen eigentlichen Zug ausführte. Dies veränderte weder die Spielstellung, noch widersprach es den Regeln des Schachs. Dennoch übersahen die Spielpartner dies nicht einfach (etwa als individuelle Macke), sondern zeigten sich irritiert und verärgert. Sie begründeten dies damit, dass es so kein „richtiges“ Schachspiel sei, dass die Motive von Garfinkels Verhalten unklar seien und dass es das Spiel verderbe (Garfinkel 1963, S. 199). Wenn explizite Regeln existieren, wird deren Einhaltung also normativ verlangt. In den allermeisten sozialen Situationen ist dies aber gar nicht der Fall. Hier fordern die Mitglieder ein Verhalten, das der Gewohnheit entspricht und welches das gemeinsame Tun ernst nimmt und Kooperativität demonstriert. Gegen Parsons, der die Frage nach der Regelanwendung für vernachlässigbar hielt, interessierte sich Garfinkel für die empirische Erforschung der Anwendung von Normen bzw. impliziten Regeln im Alltag. Und wie er zeigte, stellt sich bei ihrer Anwendung stets ein „Applikationsproblem“ (Wolff 1976, S. 14 u. ö.), d. h. die Mitglieder müssen sich in situ (und meist implizit) darüber einigen, welche Regeln in der aktuellen Situation relevant sind, in welcher Form sie im Hier und Jetzt zu spezifizieren sind und inwiefern bestehende Unterschiede zu vergleichbaren Situationen als irrelevant behandelt und ausgeblendet werden können. Selbst wenn eine Regel auch Aussagen über die Umstände beinhaltet, für die sie gelten soll, kann sie ihre Anwendung nicht selbst determinieren. Dies verlangt vielmehr die Interpretation der Mitglieder. Die Orientierung an Regeln allein kann soziales Handeln nicht erklären. In einem weiteren Experiment versuchte Garfinkel zu spezifizieren, wie man sich die Regeln und Normen vorzustellen hat, die im sozialen Leben gelten. Studierende fingen dazu Gespräche mit anderen Leuten an und trugen dabei ein kleines Tonbandgerät in ihrer Tasche, das für ihre Gesprächspartner nicht sichtbar war. Im Verlauf eines Gesprächs öffneten sie dann ihre Jacke, zeigten das Gerät und sagten: „See what

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I have?“ Die Versuchspersonen reagierten darauf typischerweise mit einer argwöhnischen Frage wie: „What are you going to do with it?“ Insbesondere machten sie den Studierenden deutlich, dass sie das Mitschneiden als eine Verletzung der Vorannahme ansahen, dass ihr Gespräch „between us“ gewesen sei (Garfinkel 1967, S. 75). Eine bislang gewohnheitsmäßig erfüllte und als normal erlebte Randbedingung alltäglicher Gespräche – dass sie nicht aufgezeichnet wurden, da entsprechende Geräte in den 1960er-Jahren bislang noch gar nicht verfügbar waren, wurde nun bei überraschender Nicht-Erfüllung retrospektiv in den Rang einer Norm erhoben. Dabei wurde unterstellt, dass diese Norm gemeinsam anerkannt und bereits in der Vergangenheit unausgesprochen gültig gewesen sei (Schneider 2002, S. 29). Das Experiment demonstriert, wie durch typisierende Interpretationsleistungen der Mitglieder wiederkehrende Erfahrungen in normative Erwartungen transformiert werden. Dies geschieht stillschweigend, indem, so Schneider (2002, S. 29), die Versuchspersonen bei den Experimentierenden den gleichen Erfahrungshintergrund als gegeben voraussetzen und von ihnen den „kooperativen Mitvollzug dieser Interpretationsleistung“ normativ erwarten. Wechselseitige Erwartungen beziehen sich also auf die Kooperativität des jeweils anderen, die sich daran zeigt, ob er soziale Situationen ebenso interpretiert und mitgestaltet, wie man selbst dies gewohnt ist. Garfinkel zufolge ist soziale Ordnung im Allgemeinen in dieser Art charakterisiert: Sie entsteht nicht auf der Basis expliziter Normen und Regeln, sondern durch die kooperative Kontinuierung von Alltagshandlungen und -situationen auf der Basis von Erfahrungen des unproblematischen erfolgreichen Vollzugs vergangener sozialer Situationen. In jeder sozialen Praxis unterstellen die Mitglieder derartige Erfahrungen als unexplizierte, jedoch geteilte, normativ zwingende und auch zukünftig gültige Voraussetzungen. Garfinkel (1963, S. 199, 1967, S. 73) hat diese Unterstellung im Anschluss an Schütz als Idealisierung des „et cetera“ bezeichnet. Die Interpretationen und Anwendungen von Regeln und Normen, die unter den Bedingungen der jeweiligen Handlungssituation einer kontinuierlichen wechselseitigen Abstimmung unterliegen, beinhalten also auch die wechselseitige normative Erwartung, dass jedes Mitglied die dazu notwendigen Kooperations- und Interpretationsleistungen erbringt. Sowohl die Ethnomethoden der wechselseitigen Abstimmung als auch die Ethnomethoden, mit denen Kooperation demonstriert und als solche interpretiert wird, sind dabei kulturspezifisch. Kultur konstituiert sich somit nach ethnomethodologischer Überzeugung weniger durch explizite Bedeutungen, Normen und Regeln als vielmehr durch implizites Erfahrungswissen, das als geteilt unterstellt, normativ aufgeladen und dadurch zur Grundlage weiteren Handelns gemacht wird. Das durch ständige normale Erfahrungen vertraute Alltagsleben dient als Grundlage für die normative Bewertung, wie das Alltagshandeln sein soll, und Brüche des normalen Ablaufs werden von den Mitgliedern als vorsätzliche Unkooperativität interpretiert. Wie Schneider (2002, S. 29) bemerkt, ist dieser Modus der Regelbefolgung vergleichbar mit dem angelsächsischen Fallrecht, bei dem vergangene richterliche Einzelentscheidungen als Präzedenzfälle für neue Entscheidungen genommen werden. Eine solche Rechtsprechung – so Schneider – stützt sich fortwährend auf vergleichbare frühere Rechtsfälle

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C. Meyer

und operiert somit mit vergleichender Interpretation. Garfinkel zufolge operieren die Mitglieder im Alltag auf eine ähnliche – jedoch weniger systematische und explizite – Weise. Dies umfasst auch die normative Beurteilung, inwiefern das Verhalten anderer als normkonform oder abweichend einzustufen ist, wobei „konform“ gleichbedeutend ist mit „wie gewohnt“ und „abweichend“ mit „anders als gewohnt“. Kultur – hier verstanden als das spezifische Wie einer Kollektivität – basiert also auf Vertrauen in und Vertrautheit mit dem Gewohnten.

3.4

Kultur als Vertrautheit und Vertrauen

Garfinkel sieht also die Existenz und Stabilität sozialer Ordnung in der Tatsache begründet, dass die Mitglieder im Alltag immer wieder Situationen erleben, in denen sich ihr bestehendes, oft implizites Erfahrungswissen als rational, verständlich, plausibel und unproblematisch sowie als normativ rechtfertigbar erwiesen hat. Durch die häufige Bewährung in allerlei sozialen Situationen erhält dieses Wissen den Charakter des Selbstverständlichen und Vertrauten, an dem zu zweifeln den Mitgliedern nicht nur unvernünftig, sondern oftmals überhaupt undenkbar erscheint. Es ist daher ein Missverständnis zu folgern, dass die Reproduktion dieses Wissens vor allem in der Form des Weber’schen traditionalen Handelns geschähe (so etwa Schneider 2002, S. 29). Vielmehr zählen für die Mitglieder auch im Alltag erlebte Anwendungsformen von Wert- und Zweckrationalität – deren Motive als bekannte Typen verstehbar sind – sowie Affektivität – die als Dokument für die Persönlichkeit anderer herangezogen werden kann – zu den vertrauten, rationalen und auch rechtfertigbaren sozialen Ordnungsstrukturen des Alltagslebens, die sowohl zur Hervorbringung als auch zur Wiedererkennung neuer Situationen herangezogen werden. An dieser Stelle wird der nicht nur kognitive, sondern auch normative Charakter der ethnomethodologischen accountability erneut deutlich: Praktiken sind nicht nur wiedererkennbar – da Erzeugung und Interpretation in eins fallen –, sondern auch potenziell begründ- und rechtfertigbar. Sie werden von den Mitgliedern erkannt, interpretiert und – im Falle aufkommender Störungen – praktisch erklärt oder anderen „in Rechnung gestellt“. Abweichungen verlangen als Störungen nach einer Erklärung; und dies im doppelten Wortsinn: einerseits eine kognitive, andererseits eine moralische Erklärung. Im Alltag werden derartige rechtfertigende Erklärungen permanent für alle Arten von bagatellartigen Verstößen gegen bestehende Erwartungen eingefordert und gegeben. Sie werden in der Ethnomethodologie accounts genannt. Jedes Mitglied, das davon ausgehen kann, dass sein Verhalten von anderen als abweichend interpretiert wird, kann auch erwarten, dass diese eine Erklärung von ihm erwarten, die versichert, dass die Abweichung die anerkannte kognitivnormative soziale Ordnung nicht grundsätzlich infrage stellt, sondern nur „aufgrund zwingender äußerer Umstände“ und „gegen die eigene Absicht“ geschehen ist. Mit accounts wird also angezeigt, dass die zugrunde liegenden Verhaltenserwartungen nur ausnahmsweise verletzt wurden, aber prinzipiell weiterhin anerkannt werden. Hierdurch funktionieren die meisten Alltagspraktiken so reibungslos, dass die Mitglieder nur wenige Erfahrungen darüber haben, was in einem grundlegenden

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Abweichungsfalle überhaupt geschieht. Sie meiden in der Regel genau die Situationen, in denen sie etwas darüber erfahren könnten, ob andere ihre Sinnunterstellungen tatsächlich teilen. Es handelt sich also nicht nur um eine unüberprüfte, sondern oft auch eine unüberprüfbare bzw. überprüfungsaversive Konsensüberschätzung, die soziale Ordnung und die „Unsterblichkeit der Alltagsgesellschaft“ (Garfinkel 1991) absichert. In pluralen Gesellschaften kann es vorkommen, dass die Mitglieder unterschiedlicher Kollektivitäten in ihrer Praxis einzelnen Regeln oder Normen gewohnheitsmäßig niedrigere oder höhere Relevanz zuweisen. Differenzen bezüglich der Deutung und Bewertung eines bestimmten Verhaltens im Falle des Aufeinandertreffens von Mitgliedern unterschiedlicher Kollektivitäten können sich als Konflikt über die Relevanz und Hierarchisierung von Normen erweisen. Schneider (1997) gibt hierfür ein anschauliches Beispiel, indem er Konflikte im Straßenverkehr über die Fahrstile von „Ossis“ und „Wessis“ im frisch wiedervereinigten Deutschland – über zwei unterschiedliche „Fahrkulturen“ – untersucht. Die Bevorzugung einer Norm gegenüber einer anderen (etwa „andere Hereinlassen“ vs. „zügig Fahren“) wurde hier von den Mitgliedern als „Dokument für“ die Kultur und den Charakter der jeweils anderen Gruppe interpretiert. Schon die kleinsten Handlungen und Praktiken haben aus Sicht der Mitglieder also einen Verweisungscharakter, der jedoch systematisch vage bleibt. Dies hat Garfinkel mit dem Begriff der „Indexikalität“ gefasst.

3.5

Kultur als indexikal

Praktiken, die soziale Ordnung (Intersubjektivität ebenso wie Normativität) hervorbringen und kontinuieren, haben aus Sicht der Ethnomethodologie einen genuin indexikalen Charakter. Sie verweisen auf einen Komplex an Bedeutungen, Normen und Regeln, der zum einen vage bleibt, zum anderen in seinem Charakter als gesellschaftlich geteilter Konsens überschätzt wird. Mit dem Begriff der Indexikalität bezieht sich Garfinkel zum einen auf Bar-Hillel (1954), der mit „indexical expressions“ diejenigen sprachlichen Phänomene – wie „hier“, „dort“, „jetzt“, „nachher“, „ich“, „du“ – bezeichnet, die nur aus ihrem Kontext heraus Bedeutung erlangen. Indexikale Ausdrücke aktivieren komplementierende Interpretationsleistungen des Hörers. „Immer dann, wenn ein Sprecher sich dieser sprachlichen Mittel bedient, ist ein Hörer gezwungen, auf den pragmatischen Kontext der Redesituation zurückzugreifen, um die Referenzobjekte lokalisieren, den Sinngehalt einer Äußerung feststellen oder den Wahrheitswert eines Satzes überprüfen zu können.“ (Bergmann 1988, S. 34)

Zum anderen bezieht sich Garfinkel auf Husserl (1950), der herausgearbeitet hat, dass das Subjekt die Gegenstände physischer, sozialer und kultureller Art, denen es begegnet, als immer schon „im voraus aufgefaßt“ (Husserl 1950, S. 83) wahrnimmt. Ihre Bedeutung muss aus diesem Grund keineswegs jeweils aufs Neue manifest werden, sondern wird vielmehr mit einem „vorgemeinten“ und erst noch „zu ver-

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C. Meyer

wirklichenden Sinn“ verbunden. Daher ist ein Gegenstand stets „Index einer ihm sinngemäß zugehörigen noetischen [d. h. intuitiv erfassenden; CM] Intentionalität“ (Husserl 1950, S. 83). Damit neu angetroffene Gegenstände einen Status als Index erhalten können, werden sie mit Bekanntem analogisiert: „Wir haben dergleichen, obschon gerade nicht dieses Ding hier, früher schon gesehen. So birgt jede Alltagserfahrung eine analogisierende Übertragung eines ursprünglich gestifteten gegenständlichen Sinnes auf den neuen Fall, in seiner antizipierenden Auffassung des Gegenstandes als den ähnlichen Sinnes. Soweit Vorgegebenheit, soweit solche Übertragung, wobei dann wieder das sich in weiterer Erfahrung als wirklich neu Herausstellende des Sinnes wieder stiftend fungieren und eine Vorgegebenheit reicheren Sinnes fundieren mag.“ (Husserl 1950, S. 141)

Eine Form der Analogisierung ist die „Paarung“, bei der zwei unterschiedliche Elemente „eine Einheit der Ähnlichkeit begründen“ (Husserl 1950, S. 142). Das Subjekt vergleicht, analogisiert oder unterscheidet Husserl zufolge permanent in diesem Sinne die Gegenstände seines Erlebens. Auch Garfinkel zufolge werden alle neuen Gegenstände (etwa soziale Situationen insgesamt oder bestimmte Verhaltensweisen oder Praktiken, die sie konstituieren) von den Mitgliedern als Indices für Bekanntes interpretiert. Erst durch diese Typisierungspraktiken können Intersubjektivität, soziale Kontinuität und Ordnung entstehen. Intersubjektivität aus ethnomethodologischer Perspektive umfasst auch die kognitive und normative Erwartung, dass alter diese von Indices ausgehenden typisierenden und generalisierenden Interpretationsleistungen kooperativ mit vollzieht. Garfinkel versteht im Unterschied zu Schütz Typen dabei als wesentlich vage und fluide, sodass eine abstrakte Erforschung von gesellschaftlichen Typisierungen unmöglich erscheint. Typisierungen können nur eingebettet in soziale Situationen und deren praktische Bedingungen untersucht werden. Garfinkel hat auch das Thema der Indexikalität empirisiert und dazu mehrere Experimente durchgeführt. In einem einfachen Experiment sollten die Experimentatoren (E) andere Studierende (S) um die Explikation vager und indexikaler Äußerungen wie z. B. der Frage „Wie geht’s?“ im Gruß bitten. „The victim waved his hand cheerily. S: How are you? E: How am I in regard to what? My health, my finances, my school work, my peace of mind, my . . . ? S: (Red in the face and suddenly out of control.) Look! I was just trying to be polite. Frankly, I don’t give a damn how you are.“ (Garfinkel 1967, S. 44)

Bergmann (1988, S. 44) zufolge zeigt sich hier das Paradox, dass umgangssprachlich generierte Aktivitäten „wesensmäßig vage, ungenau, tentativ, skizzenhaft“ sind und zugleich „die Bedingung der Möglichkeit von Verstehen und Handeln“ darstellen. Für Garfinkel besteht die Lösung dieses Paradoxes in einem „Mechanismus (‚the machinery‘, ‚the apparatus‘), der im Prozeß der Handlungsrealisation selbst jenes Zugleich von Vagheit und Genauigkeit, von Unbestimmtheit und

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Bestimmtheit, von ‚Potentialität und Aktualität‘ (Husserl) hervorbringt“ (Bergmann 1988, S. 44). Der Mechanismus folgt aus dem oben referierten Identitätstheorem, demzufolge die Realisierung und Interpretierbarmachung einer Äußerung innerhalb einer auf wechselseitiges Verstehen vertrauenden Kollektivität von Mitgliedern identisch ist. Im Alltag vertrauen die Kommunikationspartner darauf, dass der jeweils andere schon verstehen werde, was man mit der eigenen Äußerung gemeint hat, und dass das, was man selbst momentan nicht verstanden hat, schon einen Sinn haben wird, der sich im weiteren Lauf des Gesprächs noch klären wird. Dies bedeutet, dass im Alltag die Vagheit, die elliptische Eigenschaft und der ungefähre, manchmal sogar unklare Verweisungscharakter von Aussagen oder Praktiken nicht als Unzulänglichkeit gelten, sondern sogar konstitutiv für den situationsadäquaten Gebrauch der Umgangssprache sind. „Der Sinn sprachlicher Äußerungen in sozial organisierten Handlungszusammenhängen ist strukturell ungewiß“ und diese strukturelle Sinnungewissheit von Äußerungen ist gerade „eine konstitutive Bedingung für Sinngewißheit, für sinnhaftes Erleben und Handeln“ (Bergmann 1988, S. 40). In einem weiteren Experiment hat Garfinkel diese Komponente der Vagheit sozialer Praxis genauer beleuchtet. Die Studierenden sollten Gespräche, die sie in ihrem außeruniversitären Alltag führten, protokollieren und – in einer zweiten Spalte rechts daneben – notieren, welche unausgesprochenen Wissensbestände aktiviert werden mussten, um das Gespräch zu verstehen und sinnvoll weiterzuführen (Garfinkel 1967, S. 26–27). Anhand der Kommentare rechts war zu erkennen, dass die einzelnen Äußerungen innerhalb einer Interaktion nicht gemäß ihrem Wortlaut, sondern unter Bezug auf als geteilt unterstellte Wissensvoraussetzungen gedeutet werden, die im Gespräch selbst nicht expliziert werden. Vieles wird überhaupt nur dadurch verstanden, dass es als „Dokument für“ oder „verweisend auf“ Kontexte – insbesondere vergangene Ereignisse – gedeutet wird, die wechselseitig als bekannt vorausgesetzt werden. Um zu sinnvollen Deutungen zu kommen, muss der Hörer einen Bezug späterer zu früheren Äußerungen zunächst unterstellen (und dabei vom guten Willen zur Verständigung seines Interaktionspartners ausgehen) und dann nach Deutungsmöglichkeiten suchen, die es erlauben, die jeweilige Äußerung als vorläufigen Endpunkt in dieser Kette zu verstehen. Welche Bedeutung einer Äußerung durch die Mitglieder zugeschrieben wird, hängt so unmittelbar von ihrer Einbettung in eine Sequenz ab. Oft werden dabei Bedeutungskomponenten einer Äußerung für den Hörer erst im Verlauf des weiteren Gesprächs erkennbar (Garfinkel 1967, S. 41; Schneider 2002, S. 22–27). Garfinkel weist hiermit darauf hin, dass es für die Mitglieder in der Interaktion gar nicht notwendig ist, die vollen Bedeutungen des jeweils Gesagten zu erfassen. Vielmehr ist es oft ausreichend (oder sogar wünschenswert), mit vagen oder auf die verstandenen Elemente bezogenen Äußerungen das Gespräch am Laufen zu halten bzw. die praktischen Probleme zu bewältigen, um die es jeweils geht. Sollte dann doch das Unverstandene relevant werden, kann es immer noch nachträglich geklärt werden. Garfinkel (1967, S. 3, 7 u. ö.) hat dies mit den Maximen „until further notice“, „for practical purposes“ und „let it pass“ beschrieben. Der Grund dafür ist, dass es die praktische Situation unnötig verkomplizieren würde, wollte man alle Unklarheiten beseitigen und Eindeutigkeit produzieren. Denn:

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C. Meyer „Alle Versuche, indexikale Aussagen restlos durch objektive Aussagen zu substituieren, führen zu der Schwierigkeit, daß bei diesem Ersetzungsprozeß zwangsläufig wieder indexikale Elemente einfließen, die eigentlich selbst wieder repariert werden müßten. Das Substitutionsprogramm ist also eigentlich ein unendliches Unterfangen, das man freilich immer an einem gewissen Punkt aus ‚praktischen‘ Gründen abbrechen und als ‚praktisch‘ erfolgreich betrachten kann.“ (Bergmann 1988, S. 37–38)

Diese permanente Nachträglichkeit (und damit Vorläufigkeit) von Bedeutungszuschreibungen ist eine ständige Ressource für die Interaktionspartner, die es erlaubt, den Inhalt ihres Gesprächs immer wieder neu festzulegen. Die Bedeutung von Äußerungen steht somit nicht – etwa durch ihren Wortlaut oder die Intentionen ihres Urhebers – ein für alle Mal fest, sondern jede Äußerung ist offen für die nachträgliche Reinterpretation durch anschließende Äußerungen. In vielen Untersuchungen haben Ethnomethodologen gezeigt, wie Bedeutungen gemeinsame Hervorbringungen von Mitgliedern in sozialen Situationen sind. Dabei ist die Kooperativität der Beteiligten – etwa ihre Bereitschaft, Gesagtes durch eigene Interpretationstätigkeit zu vervollständigen – unerlässlich und wird von den Mitgliedern auch untereinander normativ erwartet. Kulturelle Phänomene haben der Ethnomethodologie zufolge somit weder eine intrinsische noch eine anderweitig – etwa durch Zuschreibungen – feststehende Bedeutung. Vielmehr besitzen sie eine genuine Vagheit und damit eine permanente Ergänzungs-, Applikations- oder Interpretationsbedürftigkeit, die situativ – je nach den Relevanzen der aktuellen Praxis – bewältigt wird. Ihre Bedeutung wird von den Mitgliedern in einem Verweisungscharakter gesehen, der sie zu einer situativ permanent neu verhandelbaren Ressource für vielerlei Bedeutungsmöglichkeiten macht. Aus dieser Perspektive wird Kultur zu einem bona fide-Kontext, dessen nicht-propositionalisierbare Indexikalität den Mitgliedern im Alltag vertraut und unproblematisch erscheint.

3.6

Kultur als Praxis

Im vorhergehenden Abschnitt wurde deutlich, dass Garfinkel interessiert, wie Mitglieder in Alltagsinteraktionen ihr wechselseitiges Tun mit für praktische Zwecke hinreichender Übereinstimmung deuten und koordinieren. Die Bestimmung des Sinnes eines Phänomens erfolgt dabei nicht über eindeutige Regeln, die vordefinierten Phänomenen eine feststehende Bedeutung zuordnen. Vielmehr werden gewohntvertraute Ethnomethoden zur Sinnkonstitution und Sinnzuweisung verwendet, ohne dass sie ihr Resultat – eine sequenziell kontinuierliche Praxis – determinierten oder auch nur präjudizierten. Ethnomethoden haben selbst keinen klar zuordenbaren Sinn, sondern erschaffen Sinnpotenziale. Sie sind auf indexikale Weise sinnkonstitutiv oder sinnunterscheidend. Die sequenzielle Verkettung von Ethnomethoden in fortlaufender wechselseitiger Abstimmung erzeugt eine fortwährende Praxis, die Gesellschaft kontinuiert. Soziale Ordnung wird so in einem fortwährenden Prozess der allmählichen Verfertigung mit dem alltäglichen Tun implizit hervorgebracht und

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meist erst in einer nachholenden Bewegung als solche diskursiviert. Bergmann (1988, S. 23) hat dieses ethnomethodologische Prinzip des ongoing accomplishment bzw. achievement mit Husserl als „Vollzugswirklichkeit“ bezeichnet. Ein Beispiel für die Konstitution sozialer Ordnung durch die sequenzielle Verkettung von Praktiken, die implizit und präreflexiv während des sozialen Tuns das soziale Leben praktisch gestalten, ist der Sprecherwechsel (turn-taking), der von der ethnomethodologischen Konversationsanalyse erforscht wird (Sacks et al. 1974).5 Obwohl es keine expliziten Regeln und auch keine vorab festgelegte Struktur von Alltagsgesprächen gibt, was die Themenwahl und den Sprecherwechsel betrifft, und niemand im Voraus weiß, was jeder einzelne der Gesprächspartner jeweils sagen wird, wie lange er sprechen wird oder wer als Nächstes reden wird, gestalten die Beteiligten doch während ihres Tuns eine nachvollziehbare Themenentwicklung und geordnete und wiedererkennbare Sequenzierung des Gesprächs. Dazu werden von den Mitgliedern einer Kollektivität Ethnomethoden angewendet, die dazu führen, dass jeder mal an die Reihe kommt und Überlappungen und Pausen beim Sprecherwechsel auf ein Minimum beschränkt bleiben. Zu diesen Ethnomethoden zählt die Verwendung sogenannter turn constructional units, mit denen Redebeiträge so aufgebaut werden, dass ihr Ende als die Stelle, an denen aus der Sicht des Hörers das Rederecht übernommen werden kann, projizierbar wird, sowie die sogenannten turn allocation mechanisms, mit denen während des Verlaufs des Tuns bestimmt wird, welcher der Interaktionspartner als Nächstes legitimerweise das Wort ergreifen darf (Sacks et al. 1974, S. 701 ff.). Im Sprecherwechsel wird so der verkörperte wie der reflexive Charakter sozialer Praxis sichtbar: Mehrere Individuen stimmen sich in einen gemeinsamen Rhythmus ein, in den sie körperlich erzeugte, materiale Äußerungen einspeisen und so den geordneten Charakter ihrer gemeinsamen Praxis für alle Beteiligten reflexiv werden lassen. Die lokale Organisation von Alltagsgesprächen kann damit als exemplarischer Fall für die praktische Hervorbringung sozialer Ordnung angesehen werden. Die Beschreibung, wie dies erfolgt, ist aus ethnomethodologischer Sicht eine Beschreibung von Kultur. Bei der permanenten Frage der Mitglieder nach der Interpretation der aktuellen Situation, durch die letztlich soziale Ordnung ebenso wie soziales Handeln möglich wird, stellt Sequenzialität das wichtigste Prinzip dar, da die Handelnden selbst vor der ständigen Frage stehen, „what to do next?“ (Garfinkel 1967, S. 12). „Nextness“ bezieht sich darauf, dass jeweils in situ entschieden werden muss, wie die aktuelle Situation zu interpretieren ist und welche Handlungen im Hier und Jetzt denkbar und legitim erscheinen (d. h. auch, welche Regeln anzuwenden sind). Die fortwährend flüchtige Hier-und-Jetztigkeit des situierten praktischen Vollzugs führt dazu, dass Teilnehmer soziale Situationen – eben aufgrund deren 5

Die Konversationsanalyse untersucht, wie soziale Ordnung in kleinen und scheinbar banalen Praktiken hervorgebracht wird, und operiert jenseits einer Mikro-Makro-Unterscheidung. Ihr Fokus richtet sich auf die minutiösen, oftmals verkörperten und implizit bleibenden alltäglichen Praktiken, mit denen die Handelnden mit- und füreinander die sinnhafte Ordnung und Rationalität ihrer sozialen Welt situationsspezifisch und in ständiger responsiver Abstimmung methodisch und reflexiv von Moment zu Moment auf praktische Weise produzieren (Bergmann 2005, S. 641).

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Unterdeterminiertheit – gewissermaßen immer wieder aufs Neue (wie) zum ersten Mal bewältigen müssen („another first time“; Garfinkel 1967, S. 9). Die ethnomethodologische Konversationsanalyse verfolgt damit als dezidiert kultursoziologisches Unternehmen das Ziel, durch Detailanalysen von Interaktionspraktiken in den unterschiedlichsten Kontexten die „kontextunabhängige“ (universale), jedoch – da sie in situ interpretativ in die Situation hinein angepasst wird – „kontextsensitive“ sowie kulturspezifische Gestalt der Praktiken, mit denen soziale Realität hervorgebracht wird, herauszuarbeiten.6 Der ethnomethodologische Zugriff auf kulturelle Phänomene als Praktiken betrifft nicht nur Gegenstände der impliziten Sozialität wie die Ethnomethoden des Sprecherwechsels, sondern auch „soziale Tatsachen“, an denen die Mitglieder einer auf wechselseitiges Verstehen vertrauenden Kollektivität ihr eigenes Handeln aktiv ausrichten. Aus ethnomethodologischer Sicht wird z. B. nicht einfach hingenommen, dass eine Person eine „Frau“, ein Ort eine „Universität“ oder eine Situation „vollkommen gewöhnlich“ ist. Vielmehr wird danach gefragt, mit welchen Praktiken die Interpretation der Mitglieder überhaupt erst nahegelegt wird, dass es sich bei den genannten Phänomenen um externe, objektive und sozial wirkmächtige Gegebenheiten dieser Art handelt, sodass sie ihnen als eine selbstverständliche und nicht notwendigerweise zu hinterfragende soziale Realität erscheinen (Garfinkel 2002; für eine exemplarische Analyse Meyer 2014). Da aus ethnomethodologischer Perspektive das materiale Tun sozialer Aktivitäten mit seinem an die Gesellschaft gerichteten Sichtbar- und Interpretierbarmachen identisch ist, hat Harvey Sacks (1984b) vorgeschlagen, jeglicher wissenschaftlichen Beschreibung sozialen Tuns ein „doing“ voranzustellen, um damit deutlich zu machen, dass ihm immer eine selbst-explikative Ebene zu eigen ist, die es anderen Mitgliedern als Tun spezifischer Art interpretierbar macht. Hierzu zählt etwa die permanente alltägliche Leistung von Gesellschaftsmitgliedern, ihr Tun als ein Tun völlig gewöhnlicher und normaler Art allen, die es beobachten könnten, verstehbar zu machen („doing being ordinary“) oder durch ihr Tun ein soziales Geschlecht interaktional anzuzeigen („doing gender“; Garfinkel 1967, S. 116–185; West und Zimmerman 1987). Die Grundidee ist, dass z. B. soziale Identitäten durch accountable Praktiken hergestellt werden und den Mitgliedern zugleich als externe Realitäten erscheinen. Garfinkel hat das in seiner Agnes-Studie (1967, S. 116–185) am Beispiel von Geschlechtsidentität ausführlich aufgezeigt. Der methodische Kniff war, dass Agnes als transsexuelle Person als „practical ethnomethodologist“ (Garfinkel 1967, S. 180) gelten konnte: Aufgrund ihrer unklaren, prekären und liminalen Geschlechtsidentität war sie in den Verfahren geübt, die sie anwenden musste, um ihre Identität als junge Frau für andere plausibel und sinnvoll herzustellen, dies jedoch auf eine Weise, dass die Verfahren wegen ihrer Normalität den anderen

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Institutionelle Interaktion (z. B. im medizinischen, juristischen oder politischen Bereich) wird dabei dadurch interpretiert, dass sie mit alltäglicher Interaktion kontrastiert wird (Heritage und Clayman 2010, S. 12–13).

Ethnomethodologie als Kultursoziologie

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unsichtbar blieben und ihre Identität dadurch natürlich erschien.7 Mehr noch: Agnes konnte mit den Ethnomethoden zur Herstellung einer normal-plausibel-rationalen und daher unsichtbar bleibenden Geschlechtsidentität aufgrund ihrer eigenen liminalen Situation reflexiv umgehen und sie im Interview beschreiben. Dies fällt denjenigen, deren Identitäten klar(er) und unproblematisch(er) sind, schwerer. Die ethnomethodologische „Kultur als Praxis“-Perspektive impliziert insgesamt, dass aufgrund der Indexikalitätsannahme in besonderem Maße auf die Situiertheit und kontextuelle Gebundenheit der praktischen Vollzügen geachtet wird, in denen auf kulturell gestaltete Weise soziale Ordnung hervorgebracht wird. Wenn sie als situiert und permanent neu konzeptualisiert wird, dann erhält soziale Realität die intrinsische Eigenschaft des Diskontinuierlichen und Fragmentierten. Dieser Aspekt wird im Folgenden thematisiert.

3.7

Kultur als fraktal und fragmentiert

In seinem Enkulturations- und Sozialisationsprozess hat das Individuum immer nur Kontakt zu einzelnen lokalspezifischen Fragmenten und kurzen Momentaufnahmen sozialer Realität im Rahmen von situierten Aktivitäten. Diese Fragmente werden von ihm als indexikaler Teil eines kulturellen Ganzen begriffen und im Rahmen permanenter praktischer Aktivitäten sowohl aktiv als eigene Handlungsoption als auch interpretativ als Deutungsoption des Handelns anderer angeeignet. Kultur als das Ganze einer Gesellschaft ist aus ethnomethodologischer Perspektive daher eine Fiktion, genauer: eine Fiktion der Mitglieder, die Vertrauen in andere Personen haben, da sie sie für Mitglieder einer imaginierten Kollektivität halten, mit der sie Praktiken teilen. Wegen dieser Fragmentiertheit kann soziale Ordnung nur dadurch entstehen und Kontinuität gewinnen, dass kommunikative Akte und Praktiken eine konstitutive Vagheit und Indexikalität aufweisen. Denn dann werden diese permanent von den einzelnen Individuen interpretativ ‚aufgefüllt‘ und ergänzt, in Anschlusskommunikationen weitergeführt und modifiziert oder durch Störungen, Missverständnisse oder Konflikte neu gestartet. Kultur ist daher, anders ausgedrückt, nicht nur fragmentiert, sondern auch fraktal. Dies hat Harvey Sacks (1984a) betont, indem er Geordnetheit – verstanden als die Ubiquität ethnomethodologischer accountability – als zentrale Ressource einer Kultur bestimmte: Wenn Menschen, die von Natur aus von der Gesellschaft formbar sind, von Kindheit an immer nur mit kleinen und relativ zufälligen Segmenten einer Kultur in Berührung kommen, dann, so Sacks, kann soziale Ordnung insgesamt nur entstehen, weil Kultur genau dazu da ist, diese Generalisierungsleistung der Mitglieder zu ermöglichen. Trotz seiner jeweils mehr oder weniger zufälligen Erfahrungen (die Eltern, die es zufällig hat, die Erfahrungen, die es zufällig macht, das Vokabular, das im Rahmen der Äußerungen, die ihnen zufälligerweise begegnen, Garfinkel (1967, S. 116 ff.) hat hierzu den Begriff „passing“ aufgegriffen, der seinerzeit ein gängiger Begriff unter African Americans war, als Weiße „durchzugehen“.

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C. Meyer

zufälligerweise fällt) wird jedes Individuum in vielerlei Hinsicht ähnlich zu anderen Mitgliedern seiner Kollektivität. Es wird befähigt, mit so gut wie jedem anderen umgehen zu können (Sacks 1984a, S. 22). Es ist die Kultur als Wiedererkennungsapparatur, welche die Menschen in die Lage versetzt, trotz der Vielheit und Zufälligkeiten der Erscheinungen Kohärenz und Sinn zu erschließen. Dieser Mechanismus ist auch der Grund dafür, dass wir trotz der Schwächen soziologischer Methoden einigermaßen verallgemeinerbare Ergebnisse erhalten. „Wir erhalten eine enorme Verallgemeinerbarkeit, weil die Dinge so angeordnet sind, dass wir geordnete Ergebnisse erzielen können, da die Mitglieder selbst, die einer begrenzten Umgebung begegnen, in der Lage sein müssen, dies zu tun, und die Dinge so angeordnet sind, um das zu ermöglichen.“ (Sacks 1984a, S. 23; Übers. CM).

Letztlich, so Sacks, ist es daher schwieriger, Verallgemeinerbarkeit in den vielen Instanzen sozialen Lebens nicht zu finden, da dieses eben gerade so gestaltet ist, um seinen Mitgliedern selbst verallgemeinerbare Erkenntnisse zu liefern. Der Kulturbegriff der Ethnomethodologie berücksichtigt also sowohl das hybride und plurale Wesen jeder Gesellschaft als auch die Idiosynkrasien der Individuen innerhalb einer Kollektivität. Die dadurch entstehenden Sinnungewissheiten werden von den Mitgliedern durch interpretatives ‚Auffüllen‘ von deren indexikalen Praktiken und durch (stets vage bleibende) Typisierungen praktisch bewältigt.

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Fazit

Der ethnomethodologische Kulturbegriff ist ein praxistheoretischer: Mitglieder erfahren eine Kollektivität als stabil und geordnet, wenn die Praktiken der anderen Mitglieder aufgrund ihrer accountability für sie so selbstverständlich wiedererkennbar sind, dass sie sie gar nicht wirklich bemerken. Angesichts der Vielheit der sozialen Welt und ihrer Individuen wird dieser Eindruck dadurch erzeugt, dass die Praktiken vage (indexikal) gehalten, als Dokumente für die Rationalität und Normalität der eigenen Kollektivität generalisiert ( fraktal) und mit einem Vertrauensvorschuss in ihre Sinnhaftigkeit belegt werden. Dadurch werden sie aber auch affektiv und normativ aufgeladen, sodass Störungen und Krisen nicht grundlegenden, gewissermaßen ontologischen Unterschieden, sondern vielmehr dem unzureichenden Kooperationswillen der Interaktionspartner zugeschrieben werden. Auf diese Weise wird Anomie abgewendet und Gesellschaft „unsterblich“ (Garfinkel 1991). Kultur wird aus ethnomethodologischer Perspektive als die spezifische operative Gestalt – als „Wie“ – der Praktiken begriffen, die permanent Ordnung erzeugen und die Gesellschaft so am Leben erhalten. Diese Praktiken, mit denen soziales Handeln konstituiert wird und die identisch mit den interpretativen Praktiken sind, mit denen die Praktiken anderer verstanden werden, gilt es soziologisch zu beschreiben. Durch das Zusammenwirken von Tun, situierter Interpretation und unaufhebbarer Indexikalität haben Situationen grundsätzlich den Charakter der „Einzigartigkeit“, die Garfinkel und Wieder (1992) mit dem Begriff der Haecceitas des scholastischen

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Philosophen Duns Scotus gefasst haben. Die permanente Einzigartigkeit des Gegenstands ist der Grund dafür, dass ethnomethodologische Untersuchungen im Sinne einer „unique adequacy requirement of methods“ (Garfinkel und Wieder 1992, S. 182) immer die „spezifische Eignung“ der Mitglieder verlangen. Denn „the discovery of common culture consists of the discovery from within the society“, sagt Garfinkel (1967, S. 76; Herv. im Orig.). Auch die Methoden der Untersuchung sind Teil der Kultur, die erforscht wird, und damit Thema der Forschung. Generalisierungen sind nur dann zulässig, wenn sie von den Mitgliedern selbst (oft implizit und präreflexiv) vorgenommen werden, indem Instanzen als Exemplare und „Dokumente für“ einen generell gültigen Typ interpretiert werden (Lynch 2000). Die Soziologie ist nach ethnomethodologischer Auffassung in ihren Verallgemeinerungen dabei ebenso „dokumentarisch“ wie der Alltag, selbst wenn es ihr gelingt, die Indexikalität praktischer Phänomene so weit wie möglich zurückzunehmen. Kultur ist also insgesamt aus ethnomethodologischer Sicht weder in den Köpfen von Individuen noch in einem abstrakten Bedeutungssystem, sondern allein im Vollzug von Praktiken verortet (hierzu zählen auch Praktiken mit kulturellen Objekten). Denn Praktiken sind öffentlich und können von Mitgliedern einer Kollektivität beobachtet und so reproduziert werden. Dadurch, dass Praktiken als accountable angesehen werden, erhält Kultur zum einen eine selbst-perpetuierende und zum anderen eine persuasive Qualität: Die konstitutiv vage accountability eines Tuns verführt die Mitglieder durch interpretative Normalisierungspraktiken, Analogisierungen und dem Entdecken von Familienähnlichkeiten immer wieder zu einer Kontinuierung des Gewohnten und Vertrauten. Kultur ist also das stets im Ungefähren bleibende und daher auf die permanenten interpretativen Tätigkeiten ihrer Mitglieder angewiesene So-Sein der Praktiken einer Kollektivität. Dieses So-Sein ist differenzfähig, wie kulturkontrastive Studien und Ethnografien fremder Gesellschaften zeigen. Die Kontrastierung mit anderen Gesellschaften ist daher auch eine methodologische Option der ethnomethodologischen Kultursoziologie. Als frühe praxeologische Kulturtheorie, die bereits in den 1960er-Jahren entwickelt wurde, stellt sich die Ethnomethodologie erstens gegen normativ-evolutionistische Modelle, die etwa „Hochkulturen“ gegen „primitive Kulturen“ abgrenzen oder Kultur als „Summe von Errungenschaften“ (so etwa E. B. Tylor) begreifen, indem sie einen weiten Kulturbegriff verfolgt, der Kultur als konstitutives Merkmal aller Gesellschaften fasst und empirisch untersucht. Sie wendet sich zweitens gegen holistische, systemische und kohärenzorientierte Ansätze, die Kulturen (nun oft im Plural) als geschlossene und homogene Ganzheiten begreifen (wie J. G. Herder oder der Malinowski’sche und weitere Formen des Funktionalismus), indem sie Kultur zum einen als stets fraktal begreift, da sie sonst dem Individuum nicht zugänglich wäre, und zum anderen als konstitutiv hybrid, da sie von großen Differenzen zwischen Individuen und Subkulturen und einer ständig sich prozessual wandelnden Verständigungsbasis (oder -fiktion) ausgeht. In ihrer praxeologischen Ausrichtung positioniert sich die ethnomethodologische Kulturtheorie drittens gegen mentalistische Orientierungen, die Kultur als Wissensbestand begreifen, der verstehbares soziales Handeln generiert (so etwa die Kognitionsanthropologie, der Strukturalismus, aber auch die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz oder Ann

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C. Meyer

Swidlers Werkzeugkasten-Metapher), indem sie zum einen Praktiken und Situationen das Primat gegenüber Akteuren und ihren Intentionen zuweist und zum anderen soziale Handlungen und Praktiken als grundsätzlich situiert, kontextgebunden und hochgradig kontingent begreift. Anders als Theoretiker wie Geertz und Schatzki oder in Deutschland Reckwitz wendet sich die praxeologische Fundierung des ethnomethodologischen Kulturbegriffs viertens aber auch gegen eine bedeutungstheoretische Ausrichtung von Kultur. Vielmehr begreift sie Praktiken (Ethnomethoden) in einer „post-semiotischen“ Weise als syntaktisch und material: Kulturelle Praktiken sind nicht notwendigerweise allesamt selbst sinnhaft bzw. bedeutungstragend, sondern oftmals – als konstitutive Elemente von Handlungen – bloß bedeutungsunterscheidend oder, in ihrer Indexikalität – bedeutungs- bzw. interpretationsstimulierend. Der ethnomethodologische Kulturbegriff bezieht daher fundierende Aspekte des Sozialen wie Rhythmus, Sequenzialität, Verkörpertheit, Emotionalität und Materialität systematisch ein, ohne ihn darauf zu beschränken. Wie sich zeigt, hat die ethnomethodologische, praxisbasierte Konzeptualisierung von Kultur somit viele aktuelle Debatten – etwa post-strukturalistische Kritiken an monologischen Bedeutungskonzeptionen und zentrierten Subjektkonzeptionen oder einige der gegenwärtigen „Turns“ (z. B. body, practice, performance) – vorweggenommen und erweist sie sich als nach wie vor überaus avanciert.

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Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie Konstanze Senge und Simon Dombrowski

Inhalt 1 Einleitung: Der Einfluss des cultural turn auf die Entwicklung der US-amerikanischen Organisationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Rezeption der interpretativ-phänomenologischen Kulturtheorie im organisationssoziologischen NI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die World-Polity-Theorie und der makrophänomenologische Kulturansatz im NI . . . . . . . . 4 Weiterentwicklungen des neo-institutionalistischen Kulturverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die enorme Verbreitung sowohl der Organisationsform als auch bestimmter Organisationsstrukturen und -praktiken in modernen Gesellschaften wurde in der Organisationssoziologie lange Zeit vor allem mit ihrer Effizienz erklärt. Die kulturelle Bedingtheit von Organisationen wurde cum grano salis hierüber weitgehend vernachlässigt. In diesem Kontext ist ein wesentlicher Beitrag des soziologischen Neo-Institutionalismus (NI), dass er effizienzbasierten Erklärungen in der Organisationssoziologie eine dezidiert kultursoziologische Erklärungsstrategie entgegenstellt. Statt mit ihrer Effizienz erklärt der NI die Verbreitung der Organisationsform sowie einzelner Organisationselemente mit ihrer Legitimität als rationale Formen des Organisierens in modernen Gesellschaften. Ziel dieses Beitrages ist es, die kultursoziologische Erklärungsstrategie des NIs darzustellen und ihre Entwicklung in den Kontext des cultural turns der US-amerikanischen K. Senge (*) Institut für Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] S. Dombrowski Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_9

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K. Senge und S. Dombrowski

Soziologie einzuordnen. Zu diesem Zweck zeigen wir erstens, wie Peter Bergers und Thomas Luckmanns Wissenssoziologie vom NI aufgegriffen wurde. Zweitens rekonstruieren wir das spezifische Kulturverständnis der wesentlichen Varianten des NIs, des organisationssoziologischen NIs und der World-Polity-Forschung. Abschließend stellen wir zwei neuere Entwicklungen im NI vor. Erstens zeigen wir, wie der ursprünglich rein wissenssoziologische Kulturbegriff des NI auf Emotionen ausgeweitet wurde. Zweitens argumentieren wir, dass der Kulturbegriff des NI seit den 1990er-Jahren mit der Debatte um institutional logics durch ein Verständnis von Kultur als heterogene soziale Strukturen erweitert wurde. Schlüsselwörter

Cultural turn · Neo-Institutionalismus · World-Polity-Forschung · Wissenssoziologie · Emotionen · Institutional Logics

1

Einleitung: Der Einfluss des cultural turn auf die Entwicklung der US-amerikanischen Organisationswissenschaft

In der Geschichte der Organisationssoziologie wurden Organisationen „cum grano salis“ als planbare, rational steuerbare und effiziente Einheiten gesehen, deren kulturelle Bedingtheit häufig vernachlässigt wurde. Organisationen und ihre Akteure, so die dominierende Auffassung, folgten eher den Regeln der Effizienz und weniger kulturellen Spezifika (Fayol 1916; Taylor 1911; Roethlisberger und Dickson 1949). Organisationale Strukturen wurden als rationale Antworten auf gesellschaftliche Einflüsse gedeutet (Thompson 1967; Williamson 1975; Hannan und Freemann 1977; Pfeffer und Salancik 1978; Senge 2011). Mit diesem Verständnis von Organisationen reihte sich die Organisationssoziologie in die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Perspektive ein, Bereiche wie Management, Wirtschaft und Wissenschaft als instrumentelle Räume zu identifizieren (Dobbin 1994). Zwar hinterfragten manche Wissenschaftler diese rationalistische Sichtweise auf Organisationen (Selznick 1949; Blau 1964; Peters und Waterman 1982), aber ihre Arbeiten galten als Ausnahmen. Erst in den späten 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts änderte sich der Blick auf Organisationen maßgeblich, indem vormals als rational angesehene Managementpraktiken als Mythen gedeutet wurden und ihr symbolischer Gehalt als soziale Konstruktion interpretiert wurde (Meyer und Rowan 1977; Zucker 1983). Mit dieser Entwicklung reiht sich die Organisationstheorie in eine ideengeschichtliche Entwicklung innerhalb der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie und der Wissenschaftsphilosophie ein, die sich als cultural turn deklarieren lässt und die auch für die Nachbardisziplin der Soziologie und ihre Subdisziplinen relevant wurde (Berghoff und Vogel 2004; Hiley et al. 1991; Geertz 1983; Clifford und Marcus 1986; DiMaggio und Powell 1991, S. 3; van Maanen 1988). Im Mittelpunkt dieser Wende steht ein Verständnis von Gesellschaft und sozialer Wirklichkeit, das sich von allen positivistisch-deterministisch angehauchten Wirk-

Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie

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lichkeitsbeschreibungen abwendet, um im Gegenzug den sozial konstruierten Gehalt der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu betonen. In dieser Linie sozialwissenschaftlichen Denkens sind individuelle Präferenzen und Entscheidungen, aber auch basale Kategorien wie Individualität, Selbst, Organisation und Staat sozial konstruiert und damit weder das Ergebnis rein individueller (solitärer) Entscheidungen noch Resultat von Naturgesetzen. Die soziale Welt wurde und wird seitdem vielmehr als eine durch und durch symbolische Welt angesehen, in der die Bedeutung der Dinge in den sozialen Interaktionen der Individuen hervorgebracht wird (Hiley et al. 1991; Geertz 1983; Clifford und Marcus 1986; DiMaggio und Powell 1991, S. 3; van Maanen 1988). Der cultural turn betont damit den symbolischen Gehalt institutionell verankerter Deutungssysteme, die historisch gewachsen sind und sich auf Traditionen gründen und gerade nicht einer rein zweckrationalen Handlungslogik unterliegen. Durch Rezeption insbesondere von Edmund Husserl gelang es Autoren wie Harold Garfinkel, Alfred Schütz, Thomas Luckmann und Peter Berger die Auseinandersetzung mit Kultur in der US-amerikanischen Soziologie wieder zu beleben. Hier war seit Anfang der 1960er-Jahren eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit dem bis dato dominanten Handlungsmodell und Strukturfunktionalismus Parsonsʼ zu beobachten. Insbesondere seine (zumindest in der breiten Rezeption als solche wahrgenommene) Verengung von Kultur auf internalisierte Normen und Werte stieß zunehmend auf Kritik. Diese Kritik ging zeitweise so weit, dass kultursoziologische Argumentationsweisen kaum noch zu beobachten waren (Alexander et al. 2012, S. 6; DiMaggio und Powell 1991, S. 15–19). Durch die Einführung der phänomenologischen Perspektive in der Soziologie gelang es den eingangs genannten Autoren, der soziologischen Auseinandersetzung mit Kultur neue Impulse zu geben. Es sind genau die bei den vorgenannten Wissenschaftlern artikulierten theoretischen Bezugspunkte, nämlich die Bedingtheit von sozialem Handeln in sozial geteilten Wissensbeständen und die Konzeption von Handeln als Routinehandeln, welche für den soziologischen Neo-Institutionalismus (NI)1 so charakteristisch sind und dieses Theorieprogramm so deutlich von anderen zentralen, eher Effizienz und Rationalität betonenden Ansätzen in der US-amerikanischen Organisationswissenschaft unterscheidet (Senge 2013). Wichtigster theoretischer Bezugspunkt für den NI ist hierbei die Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns (2007). Im NI wurden sowohl die exponentielle Zunahme der Anzahl von Organisationen in modernen Gesellschaften (Zucker 1983) als auch die beobachtete Gleichförmigkeit (ihre Isomorphie) organisationaler Strukturen (Meyer und Rowan 1977; DiMaggio und Powell 1983) kultursoziologisch gedeutet. Durch die Betonung sowohl von Normen als auch eines gesellschaftlich geteilten Wissensvorrates als Erklärungsfaktoren verfolgt der NI hierbei eine genuin kultursoziologische Erklärungsstrategie (Friedland und Mohr 2004, S. 12; Spillman 2012, S. 161–162), die wir im Folgenden darstellen wollen.

1

Wir beziehen uns auf die soziologische Variante des NI, die in der Organisationssoziologie entstanden ist. Nicht besprochen werden neue Institutionalismen in der Politik- und Wirtschaftswissenschaft (dazu Hall und Taylor 1996).

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K. Senge und S. Dombrowski

Innerhalb des NI lassen sich grob zwei wesentliche Strömungen unterscheiden. Zum einen die organisationssoziologische Variante des NI, die nach der kulturellen Bedingtheit von Organisationen fragt, zum anderen die World-Polity-Forschung, die die weltweite Verbreitung kultureller Vorstellungen, Werte und Normen untersucht. Ziel dieses Beitrages ist es, die spezifische kultursoziologische Perspektive dieser beiden Strömungen des NI nachzuzeichnen und in kultursoziologische Debatten einzuordnen. Die Auswahl der im Folgenden näher vorgestellten Beiträge erfolgte hierbei mit dem Ziel, wesentliche Argumente der Debatte mit Relevanz für die Kultursoziologie darzustellen. Um dies zu leisten, werden wir im Anschluss an die Einleitung zunächst die „interpretativ-phänomenologische Kulturtheorie“ (Moebius 2009, S. 98) von Peter Berger und Thomas Luckmann (2007) in ihrer Relevanz für den NI vorstellen und erläutern, wie dieser Ansatz im organisationssoziologischen NI aufgegriffen wurde (Abschn. 2). In Unterkapitel drei werden wir den makrophänomenologischen Kulturansatz im Anschluss an John W. Meyer u. a. diskutieren (Abschn. 3). Anschließend besprechen wir Weiterentwicklungen des neo-institutionalistischen Kulturverständnisses. Zentrale Weiterentwicklungen sehen wir zum einen in Debatten über die Heterogenität von Kultur und Institutionen innerhalb des institutional logics-Ansatzes (Friedland und Alford 1991; Thornton et al. 2012) (Abschn. 4.1), zum anderem in der Integration von emotionssoziologischen Überlegungen (Abschn. 4.2). Abschließen werden wir diesen Beitrag mit einer kritischen Reflexion des Kulturbegriffs des NI (Abschn. 5).

2

Die Rezeption der interpretativ-phänomenologischen Kulturtheorie im organisationssoziologischen NI

Ab den 1950er-Jahren wurde die in der amerikanischen Organisationswissenschaft Max Weber zugeschriebene These,2 dass sich die enorme Verbreitung der Organisationsform in modernen Gesellschaften durch ihre Überlegenheit an Effizienz erklärt und sich in einem Prozess der Rationalisierung durchsetzt, zunehmend infrage gestellt (DiMaggio und Powell 1983; Zucker 1983). Allgemein zeichnen sich Organisationen dadurch aus, dass sie aus Entscheidungen hervorgehen (z. B. aus der Entscheidung eines Unternehmers eine Firma zu gründen), Mitgliedschaftsregeln aufstellen (z. B. einen Arbeitsvertrag), über mehr oder weniger hierarchische Entscheidungsprozeduren sowie über Monitoring- (wie z. B. die Überwachung der Arbeitszeit und Arbeitsleistung) und Sanktionsmechanismen (wie der Kündigung von Mitarbeitern bei schwerwiegenden Verstößen gegen organisationsinterne Regeln) verfügen (Ahrne und Brunsson 2011, S. 85–86). Die Skepsis gegenüber effizienztheoretischen Erklärungen für die enorme Verbreitung von Organisationen in modernen Gesellschaften resultierte unter anderem aus den Ergebnissen von

2

Siehe für eine Kritik der Weber-Rezeption in der frühen amerikanischen Organisationssoziologie Mayntz (1965).

Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie

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Studien, die aufgezeigt haben, dass die empirisch beobachtbare Koordination zwischen Organisationsmitgliedern nur sehr begrenzt auf die Organisationsstruktur, z. B. auf die formal zugewiesene Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen Positionen, zurückgeführt werden kann (Gouldner 1954; Dalton 1959). Effizienz kann folglich die Verbreitung der Organisationsform und bestimmter Organisationsstrukturen nicht ausreichend erklären, da diese Strukturen nur begrenzt Einfluss auf Organisationsprozesse haben. Somit wurde die empirisch zu beobachtende Verbreitung der Koordinationsform „Organisation“ sowie einzelner Organisationsstrukturen und -praktiken wieder als erklärungsbedürftig angesehen. Im Folgenden werden wir aufzeigen, wie die Rezeption von Bergers und Luckmanns Kultur- und Wissenssoziologie die Formulierung eines alternativen Erklärungsmodells ermöglichte und die für den vorliegenden Beitrag wesentlichen Aspekte ihrer Arbeit hervorheben: Mit ihrer Monografie Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (erschienen 1967) verfolgen Berger und Luckmann das Ziel, Webers Perspektive auf das sinnbezogene Handeln sozialer Akteure mit Durkheims Beschreibung von Gesellschaft als ein „Ding sui generis“, als soziales Faktum, zu verbinden. „Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zur objektiven Faktizität wird?“, ist die zentrale Frage der Autoren (Berger und Luckmann 2007, S. 20). Die soziale Faktizität der Gesellschaft beruht bei Berger und Luckmann in dem Wissen, das die Mitglieder einer Gesellschaft teilen. Wissen wird hierbei verstanden als „die Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“. Dass Dinge wirklich sind, so Berger und Luckmann, bedeutet, „dass sie ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind“ (Berger und Luckmann 2007, S. 1). Ziel von Berger und Luckmann ist es nun, den Prozess zu beschreiben, durch den ein von den Gesellschaftsmitgliedern als wirklich anerkannter Wissensvorrat entsteht, an dem sich individuelles Handeln orientiert. Den Prozess, in dem aus subjektiv gemeintem Sinn durch Institutionalisierungsprozesse objektives und allgemein anerkanntes Wissen wird, bezeichnen Berger und Luckmann als „Institutionalisierung“. Subjektiv gemeinter Sinn wird durch den Gebrauch des Körpers und der Sprache anderen zugänglich gemacht, er wird externalisiert und durch Wiederholungen sowohl durch den Akteur selber als auch durch Akteure, die diese Tätigkeiten beobachten, typisiert. Von Institutionen sprechen Berger und Luckmann „sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“ (Berger und Luckmann 2007, S. 58). Durch die Weitergabe von Typisierungen an eine neue Generation vollzieht sich der Prozess der Objektivierung, gesellschaftliches Wissen wird zunehmend für Akteure gewiss. Je größer der Gewissheitscharakter dieses Wissens, desto weniger tauchen Alternativen zum institutionell vorgegebenen Handeln auf, ein Abweichen von dem von Institutionen vorgegebenen Rezeptwissen wird für andere unverständlich und erscheint als „Ausscheren aus der Wirklichkeit“ (Berger und Luckmann 2007, S. 70): Institutionen gelten als „selbstverständlich“ (Berger und Luckmann 2007, S. 63), als taken-for-granted. Die Adaption zentraler Bausteine, insbesondere der methodologischen Perspektive, der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann ermöglichte es Vertretern des NI, die Verbreitung der Koordinationsform Organisation zu erklären, ohne

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K. Senge und S. Dombrowski

auf Effizienzkriterien zurückgreifen zu müssen. Die Kernthese in dem als Gründungsdokument des NI angesehenen Aufsatz von John W. Meyer und Brian Rowan „Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony“ aus dem Jahre 1977 lautet, dass die Übernahme formaler Organisationselemente in vielen gesellschaftlichen Bereichen aufgrund ihrer Legitimität als rationale Form des Organisierens erfolgt.3 Organisationen passen in dieser Sichtweise ihre Formalstruktur an sozial geteilte Rationalitätsvorstellungen an, die Meyer und Rowan als Rationalitätsmythen bezeichnen. Diese Mythen beinhalten „rationalized and impersonal prescriptions that identify various social purposes as technical ones and specify in a rulelike way the appropriate means to pursue these technical purposes rationally“ (Meyer und Rowan 1977, S. 343). Durch die Gestaltung ihrer Formalstruktur entlang vorherrschender Rationalitätsmythen demonstrieren Organisationen gegenüber ihren Mitgliedern und wichtigen gesellschaftlichen Stakeholdern, dass sie sozial legitimierte Zwecke mit ebenso legitimierten Mitteln verfolgen. Umgekehrt setzen sich Organisationen, deren Form Rationalitätsmythen widerspricht, der Gefahr aus, als nachlässig, irrational oder unnötig angesehen zu werden (Meyer und Rowan 1977, S. 350). Meyer und Rowan gehen weiter davon aus, dass die Adaption von Rationalitätsmythen im Widerspruch mit anderen Organisationszielen stehen kann, beispielsweise mit Effizienzerfordernissen. Die Autoren argumentieren nun, dass Organisationen auf diese Problematik mit einer Entkopplung der Organisationspraxis und der formellen Organisationsstruktur reagieren. Durch die Adaption von als rational erachteten Organisationsstrukturen sichern sie ihre Legitimität nach außen, eine informelle interne Koordination ermöglicht es, hierdurch möglicherweise entstehende Effektivitäts- und Effizienzverluste zu begrenzen (Meyer und Rowan 1977, S. 356). Mit der Möglichkeit der Entkopplung von Organisationsstruktur und -handeln haben Meyer und Rowan ein Modell entworfen, das sowohl die empirisch festzustellende Diskrepanz zwischen formeller und informeller Organisationsstruktur als auch die weite Verbreitung der Organisationsform erklären kann. Der Verweis auf Bergers und Luckmanns Wissenssoziologie ermöglicht Meyer und Rowan hierbei, Organisationsstrukturen als Wissenselemente umzudeuten. Diese Umdeutung ist charakteristisch für die Erklärungsperspektive des NI im Allgemeinen. Hierbei gilt, dass vor allem die Betonung des sozial konstruierten, objektiven Charakters von gesellschaftlich geteiltem Wissen als Mechanismus der gesellschaftlichen Ordnungsbildung von Berger und Luckmann übernommen wurde (Berger und Luckmann 2007, S. 64; Meyer und Rowan 1977, S. 346). Wie in der interpretativ-phänomenologischen Kulturtheorie von Berger und Luckmann wird

3 Im Allgemeinen wird der Ursprung des NI in drei Aufsätzen gesehen (Hasse und Krücken 2005, S. 22–32; Walgenbach und Meyer 2008, S. 22–49): John W. Meyers und Brian Rowans Text „Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony“ (1977), Paul DiMaggios und Walter Powells Aufsatz „The Iron Cage Revisited. Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields“ (1983) und Lynne Zuckers Studie „The Role of Institutionalization in Cultural Persistence“ (1977).

Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie

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die Wirkungsweise von Institutionen im NI auf ihre Stellung als Ding, als soziales Faktum, zurückgeführt. Auch im NI gelten Institutionen als taken-for-granted. Der Akteur ist bereit, sich diesen Fakten zu unterwerfen, da „otherwise his actions and those of others in the system cannot be understood“ (Zucker 1977, S. 726). Wie bei Berger und Luckmann steht nach Meyer und Rowan institutionelles Wissen vor allem als Rezeptwissen zur Verfügung, also als Wissen, wie soziale Prozesse normalerweise verlaufen. Ähnlich argumentieren auch DiMaggio und Powell mit ihrer Feststellung, dass „not norms and values but taken-for-granted scripts, rules, and classifications are the stuff of which institutions are made“ (DiMaggio und Powell 1991, S. 15). Dieses wissenssoziologische Institutionenverständnis ist spätestens seit dieser Aussage von DiMaggio und Powell das „Markenzeichen“ des NI (Hall und Taylor 1996, S. 948). Empirisch zeigt sich das wissenssoziologische Institutionenverständnis in der Erklärung der Ausbreitung von Organisationsstrukturen und der Identifizierung eines typischen Diffusionsmusters von Organisationsstrukturen, welches in zwei Phasen verläuft (Meyer und Rowan 1977, S. 347; Zucker 1983; Tolbert und Zucker 1983; DiMaggio und Powell 1983, S. 149). In der ersten Phase entstehen neue Organisationsstrukturen als Lösung für ein spezifisches Organisationsproblem oder als Ergebnis eines Konfliktes zwischen verschiedenen Stakeholdern. Organisationen mit ähnlichen Problemen beobachten diese Lösungen und gestalten ihre Strukturen entsprechend um, sodass eine gewisse strukturelle Isomorphie zwischen Organisationen entsteht. Mit der Zeit etablieren sich organisationale Praktiken und werden selbstverständlich und letztlich von neuen Organisationen unhinterfragt adaptiert, ohne dass organisational nachvollzogen werden kann, inwiefern sich durch diese Praktiken die Effizienz tatsächlich erhöht: „Once historical continuity has established their importance, changes in formal structures are adopted because of their social legitimacy, regardless of their value for their internal functioning of the organization“ (Tolbert und Zucker 1983, S. 26). Spezifische Organisationseigenschaften und Ziele sind folglich in der zweiten Diffusionsphase kein Indikator mehr für die Adaption bestimmter Organisationsstrukturen. Vielmehr werden sie aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit als Elemente vermeintlich rationaler Organisation unabhängig von Effizienzüberlegungen übernommen. Institutionen entstehen in dieser Konzeption also als (kontingente) Lösungen lokaler Organisationsprobleme. Setzt der Prozess der Institutionalisierung ein, erfolgt die Ausbreitung eines Organisationsmodells oder einer Organisationsform aufgrund ihrer Legitimität. Eine genauere Untersuchung und Erklärung, wie der Institutionalisierungsprozess vonstattengeht, blieb im NI jedoch lange Zeit aus. Aus der Perspektive der Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns sind für die Objektivierung institutioneller Wissensbestände Prozesse der Sedimentierung und Legitimierung erforderlich. Wissensbestände müssen von der Partikularität einzelner historischer Interaktionsprozesse abstrahiert und allgemein zugänglich gemacht werden. Die Weitergabe von Wissen macht zudem erforderlich, dass der Sinn von Institutionen legitimiert wird, d. h. einen Prozess des „Erklärens und Rechtfertigens“ durchläuft (Berger und Luckmann 2007, S. 100). An dieser Stelle wird deutlich, dass die Rezeption von Berger und Luckmann im NI insofern selektiv war, als dass

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K. Senge und S. Dombrowski

lediglich der objektive Charakter sozial geteilter Wissensbestände vom NI aufgegriffen worden ist.4

2.1

Das Kulturverständnis des organisationssoziologischen NI

Die Kulturkonzeption des organisationssoziologischen NI beruht also im Kern auf Bergers und Luckmanns Konzeption von kollektiv geteilten Wissensvorräten, die als Institutionen Wirklichkeit erschaffen. Kultur wird in dieser Strömung des NI mit Wissen gleichgesetzt, wobei damit im NI nicht nur kognitives Wissen gemeint ist, sondern auch Handlungswissen. Von Interesse ist im NI vor allem der Effekt des Wissensvorrates auf die Adaption von Organisationsstrukturen. Aufgegriffen wurde im Wesentlichen das Konzept der Objektivierung von Wissen. Wie dieser Wissensvorrat selber entsteht und sich reproduziert, wird zwar in den vorgestellten Diffusionsstudien thematisiert, jedoch werden wichtige Schritte des Modells von Berger und Luckmann nicht aufgegriffen. Zentral für den frühen organisationssoziologischen NI ist das implizite Verständnis eines recht homogenen gesellschaftlichen Wissensvorrates, dessen institutionelle Wirkung zur Isomorphie organisationaler Strukturen führt. In der Logik des NI gibt es in der Gesellschaft institutionalisierte Vorstellungen richtigen oder zu vermeidenden Handelns, welche von individuellen Akteuren und Organisationen oftmals unbewusst übernommen werden und kognitiv verankert sind. Organisationale Felder wurden im Kern als statisch und homogen interpretiert.5

3

Die World-Polity-Theorie und der makrophänomenologische Kulturansatz im NI

Die Vorstellung einer im Kern homogenen kulturellen Ordnung und der dadurch bedingten Isomorphie zwischen sozialen Einheiten findet sich auch innerhalb der „World-Polity-Theorie“, die auch als makrophänomenologischer Ansatz innerhalb des NI bezeichnet wird. Dies verwundert schon deshalb nicht, da John W. Meyer ebenfalls diese Strömung innerhalb des soziologischen NI maßgeblich geprägt hat (Meyer 2005a; Senge 2015a). Wichtige andere Autoren auf dem Gebiet der WorldPolity-Forschung sind vor allem John Boli, Gili S. Driori, David J. Frank, Ronald Jepperson, Georg Krücken, George M. Thomas und Francisco O. Ramirez. Die 4

In späteren Beiträgen wurde diese Lücke, jedoch ohne Bezug zu Berger und Luckmann, teilweise geschlossen. Ein Beispiel hierfür ist die Einführung des Teilprozesses des Theoretisierens als ein Element von Diffusionsprozessen. Der Begriff thematisiert den Prozess des „self-concious development of abstract categories and the formulation of patterned relationships such as cause and effect“ (Strang und Meyer 1993, S. 492) und ähnelt somit Bergers und Luckmanns Begriff der „Sedimentierung“. 5 Eine Sichtweise, die sich eher aus einer einseitigen Rezeption der Gründungstexte speiste, denn aus einer differenzierten Interpretation derselben (DiMaggio 1995; Wooten und Hoffman 2008).

Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie

37

daraus entstandene Forschungsrichtung hat sich die Analyse der Weltkultur zur Aufgabe gemacht und setzt sich dezidiert mit kulturtheoretischen Überlegungen auseinander. Den ursprünglichen Anstoß für die systematische Entwicklung einer neo-institutionalistischen World-Polity-Forschung bilden die von Meyer Anfang der 70er-Jahre durchgeführten Analysen über den Aufbau und die Funktionsweise des Bildungssystems der Vereinigten Staaten, die zunächst als Zeitschriften-Artikel veröffentlicht wurden. Mit „High School Effects on College Intentions“ (Meyer 1970) und „The Effects of Education as an Institution“ (Meyer 1977) konnte Meyer nachweisen, dass US-amerikanische Schulen mit der Definition und Umsetzung von Sozialisationszielen nicht einfach nur die von den Kultusministern geplanten und festgelegten bildungspolitischen Ziele umsetzten, an deren Ende reife Schüler standen, welche auf die notwendigen zukünftigen gesellschaftlichen Aufgaben vorbereitet waren. Vielmehr zeigte Meyer, dass die bildungspolitischen Ziele durch die Gesellschaft und die in ihr verankerten kulturellen Prinzipien festgelegt wurden. Belegen ließ sich diese These vor allem dadurch, dass große Unterschiede in der Qualität der Ausbildung und den zur Verfügung stehenden Ressourcen amerikanischer Colleges kaum einen Einfluss auf die Vorstellung der College-Studenten von sich selbst als reifer Schüler bzw. „graduate“ hatten (Meyer 1977, S. 59). Diese Vorstellungen ähnelten sich nämlich erstaunlicherweise deutlich, und zwar trotz der höchst unterschiedlichen Voraussetzungen an den Colleges. Für Meyer deutete dieser Befund auf eine übergeordnete Kultur, durch welche die bildungspolitischen Ziele und die Schüler in dem Verständnis ihrer Identität beeinflusst wurden. Meyer ging es in den frühen Arbeiten insbesondere um die Herleitung der sozialen Konstituierungsprozesse von Vorstellungen des modernen Individuums, der legitimen Operationsweise von (Bildungs-)Organisationen sowie von Nationalstaaten und ihren Programmen. In diesem Sinne kann die neo-institutionalistische World-Polity-Forschung seit ihren Anfängen als Ideologiekritik verstanden werden. Denn ihre Vertreter nehmen Individuen, Organisationen und Staaten und die mit diesen verbundenen Vorstellungen über das angemessene Verhalten derselben nicht als face value, sondern decken die Selbstverständlichkeiten auf, mit denen wir moderne Kulturmenschen das Handeln von Individuen, Organisationen und Staaten betrachten und bewerten. Zu zeigen, dass diese Selbstverständlichkeiten kontingent und kulturell definiert sind, war eines der zentralen Anliegen von Meyer. Möglich wurde eine derartige Kritik durch die Erkenntnis, dass soziales Handeln in modernen Gesellschaften maßgeblich durch institutionalisierte Regeln geprägt ist und dass diese Regeln Ausdruck einer übergreifenden Kultur sind, nämlich der World-Polity. World-Polity bezeichnet eine kulturelle Ordnung, vornehmlich westlicher Gesellschaften, deren Strukturmomente und allgemeine Prinzipien zunehmend global diffundieren. Die World-Polity ist also keine territorial gedachte Einheit, sondern eine kulturelle (Senge und Hellmann 2006, S. 21 ff.). Die zentralen Strukturmomente der World-Polity sehen Meyer et al. dabei im Staat als einzige legitime Autorität für die Artikulation territorialer Ansprüche (Meyer 1987), in Organisationen als dominantes Koordinationsprinzip kollektiven Handelns (Meyer et al. 1997; Zucker 1983) und im modernen rationalen Individuum

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als Zuschreibungsinstanz von Handlungen (Meyer et al. 1997). Zu den allgemeinen Prinzipien der kulturellen World-Polity-Ordnung gehören vor allem der selbstverständliche Glaube der Akteure der World-Polity an Fortschritt, Gerechtigkeit und Rationalität. Die Diffusion der Strukturmomente und Prinzipien wird im Wesentlichen von internationalen Regierungsorganisationen wie der Weltbank oder der Europäischen Union, internationalen Nichtregierungsorganisationen, wie z. B. Amnesty International, internationalen Unternehmen sowie durch „Andere“ getragen (Meyer 2005b, S. 142). Unter „Anderen“ versteht Meyer die Berater dieser Akteure; meist handelt es sich um „professionals“, d. h. Wissenschaftler, Rechtsoder Moralexperten, welche die Träger des modernen Wissens sind (Meyer 2005b, S. 142 ff.; Meyer und Jepperson 2000). Die Dynamik der World-Polity wird Meyer zufolge durchaus durch dominante Akteure geprägt. Aber er distanziert sich von der Vorstellung, dass der Wandel der Weltkultur allein auf dem zweckgerichteten Handeln dieser Akteure beruht (Meyer et al. 2005, S. 120). Wandel und Dynamik sind vielmehr inhärente Merkmale der Weltkultur. Das bedeutet, dass Akteure die Rolle von Agenten zur Umsetzung der kollektiven Güter der World-Polity einnehmen, „auch wenn sie selbst ihr Handeln für rational und am Eigeninteresse orientiert halten“ (Meyer et al. 2005, S. 120). Viele Merkmale des modernen Nationalstaats, der Funktionsweise von Organisationen, der Typik individuellen Handelns sowie der Dynamik zwischen diesen Akteuren sind, so die zentrale These Meyers, von globalen kulturellen Modellen abgeleitet. Damit definieren die kulturellen Modelle der World-Polity, was in modernen Gesellschaften als angemessenes Verhalten von Individuen, Organisationen und Staaten gilt, um die umfassenden, wiederum kulturell definierten Ziele wie Fortschritt, Gerechtigkeit und Rationalität zu erreichen (Thomas et al. 1987, S. 12). Mit der These der kulturellen Bedingtheit der sozialen Wirklichkeit steht die neo-institutionalistische World-Polity-Forschung in deutlicher Abgrenzung zu anderen Analysen der Weltgesellschaft und des Nationalstaats. Nach Meyer unterscheidet sie sich als makrophänomenologischer Ansatz von mikrorealistischen, makrorealistischen und mikrophänomenologischen Theorien. Diese vernachlässigen in der Beschreibung und Erklärung von (staatlichem) Handeln kulturelle Prozesse (Meyer et al. 2005, S. 87 ff.). Mikrorealistische Theorien, auch neorealistisch genannt, konzipieren den Nationalstaat als zweckgerichteten rationalen Akteur, dessen Handeln sich an den Bedürfnissen und Interessen seiner Bürger orientiert (Waltz 1979). Kultur ist für diese Ansätze von untergeordneter Bedeutung. Verweise auf Kultur beziehen sich meist auf tradierte lokale oder nationale Verhaltensgewohnheiten, nicht jedoch auf globale. Zwar werden in manchen Strömungen kulturelle Institutionen untersucht, die staatliches Handeln beschränken. Jedoch werden die Entstehung und das Bestehen derartiger Institutionen überwiegend mit mikroökonomischen Argumenten erklärt, was dem Meyer’schen Kulturverständnis widerspricht (z. B. Krasner 1983). Makrorealistische Ansätze hingegen, von denen sich der makrophänomenologische Ansatz Meyers ebenfalls unterscheidet, betrachten Nationalstaaten als Ergebnis eines globalen Netzwerkes von wirtschaftlichen und politischen Macht- und Handelsbeziehungen (Wallerstein 1974; Tilly 1992). Stellung, Strategie und Aktivitäten des Nationalstaates ergeben sich aus seiner Position

Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie

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innerhalb globaler wirtschaftlicher und politischer Konkurrenz-Relationen im Verhältnis zu anderen Staaten und werden nicht kausal auf die Kultur zurückgeführt. Kultur dient lediglich als Ideologie der Herrschenden sowie der Integration von Kollektiven (Meyer et al. 2005). Die mikrophänomenologische Theorierichtung, welche zu dem makrophänomenologischen Ansatz Meyers zumindest eine gewisse Nähe aufweist, betrachtet den Nationalstaat als Ergebnis nationaler kultureller Interpretationsprozesse. Diese Interpretationsprozesse werden durch kulturelle Institutionen geprägt, welche ihre Wirkung aber lokal oder national und nicht global wie im makrophänomenologischen Ansatz entfalten (Almond und Verba 1963; March und Olsen 1989).6 Der von Meyer vertretene makrophänomenologische Ansatz sieht den Nationalstaat ebenfalls als kulturell konstruiert und organisiert an, weist aber der globalen Weltkultur den zentralen kausalen Status zu. Für Meyer (2005a, S. 139) ist zudem nicht nur der Nationalstaat, sondern „das gesamte Gebäude der Moderne als eine wesentlich kulturelle Einrichtung zu betrachten“. Kultur entsteht für ihn nicht aus lokalen Besonderheiten und Interaktionsprozessen wie im mikrophänomenologischen Ansatz, sondern wirkt auf globaler Ebene realitätserzeugend (Thomas et al. 1987). So gilt heute für moderne Gesellschaften, dass sie sich im Glauben an Fortschritt, Gerechtigkeit und die Durchsetzung zweckrationaler Handlungsorientierungen entwickeln. Ferner orientieren sich Nationalstaaten an den Prinzipien Staatsbürgerschaft, ökonomischer Fortschritt und Gerechtigkeit.7 Diese Modelle breiten sich nach Meyer et al. immer weiter aus und besitzen universelle Gültigkeit. Es sei aber noch einmal betont, dass man Meyer grundlegend missverstehen würde, wenn man die Orientierung an den kulturellen Prinzipien der World-Polity als freiwilliges und bewusstes, möglicherweise rein strategisches Handeln begreift. Dies ist gerade nicht der Fall: Nationalstaaten, Organisationen und Individuen sind durch die Kultur von außen konstruierte Einheiten, die den in der Kultur der World-Polity zum Ausdruck kommenden Erwartungen entsprechen bzw. entsprechen müssen, sofern sie als legitime Einheiten gelten wollen. Denn nur, wer nach den Regeln der Weltkultur spielt, wird als Akteur anerkannt. Nach Meyer folgen die Akteure moderner Gesellschaften dem Drehbuch der Weltkultur und gelten deshalb als scripted. Und mehr noch: Erst die World-Polity erzeugt die modernen Akteure und legitimiert ihre Handlungen. So macht zum Beispiel die Auferlegung von staatlichen Programmen zur Unterstützung von Lesben und Schwulen die Identitätsdefinition von Lesben und Schwulen wahrscheinlicher. Vergleichbar ist auch der Wandel in der westlichen

6

Zwar gibt es durchaus Versuche, den Kulturbegriff auf die globale Ebene auszuweiten, jedoch wird dieser durch die Anwendungsbereiche auf expressive Gewohnheiten wie Geschmacksstandards und Konsumneigungen marginalisiert (Sklair 1991). 7 Meyer und andere Forscher haben eine Reihe weiterer Merkmale entdeckt und untersucht, die eine deutliche strukturelle Isomorphie von historisch einst höchst differenten Gesellschaften belegen; dazu zählen vor allem: Schulbildung nach standardisierten Lehrplänen (Meyer et al. 1992), Datenerfassungssysteme über wirtschaftliche und demografische Entwicklungen (Ventresca 1995), Maßnahmen zur Geburtenkontrolle (Barrett und Frank 1999), formale Gleichberechtigung der Frau (Charles 1992), Umweltschutzmaßnahmen (Frank et al. 1999).

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K. Senge und S. Dombrowski

Vorstellung des Arbeiters, weil sich dadurch ändert, was als Arbeit gilt, wie gearbeitet wird und wie Arbeit organisational koordiniert wird (Thomas et al. 1987). Krücken fasst diese Position wie folgt zusammen: Es sind nicht Akteure und ihre Interessen, die Gesellschaft konstituieren (‚bottom up‘), sondern es verhält sich umgekehrt: In fortwährenden Rationalisierungsprozessen erzeugt die Gesellschaft – hier verstanden als überindividuelle Vorstellungswelt der ‚world polity‘, die sich aus den kulturellen Grundprinzipien der Moderne zusammensetzt – die sie bevölkernden Akteure (‚top down‘) (Krücken 2006, S. 142).

Obwohl die Weltkultur die modernen sozialen Einheiten und deren Handlungen konstituiert, ist ihr Geltungsbereich allgemeiner und universeller als die Handlungen, die sie erzeugt. Denn die Regeln der Weltkultur werden von den Akteuren innerhalb dieser Weltkultur mit Naturgesetzen und moralischen Gesetzen in Verbindung gebracht, auf deren Grundlage das Handeln in Wirtschaft, Politik und Bildung durch den sehr abstrakten Glauben an Fortschritt, Gerechtigkeit und Rationalität legitimiert wird (Thomas et al. 1987, S. 27 ff.; Meyer 2005c, S. 173). So zeigt sich nach Meyer anhand der universellen Gültigkeit der Prinzipien der Weltkultur, dass diese Prinzipien wie Menschenrechte und Wirtschaftswachstums für moderne Gesellschaften unhinterfragt gelten. Meyer und andere Vertreter zeigen aber die soziale Bedingtheit dieser Prinzipien auf und entlarven sie damit als historische kulturelle Praxis. Gerade weil die Prinzipien der Weltkultur keine Naturgesetze sind, kommt es häufig – wie auch zwischen organisationaler Formal- und Aktivitätsstruktur (siehe oben) – zu sogenannten Entkopplungserscheinungen. Gemeint ist damit eine Differenz zwischen den Vorgaben der Weltkultur und der tatsächlichen sozialen Praxis. Zwar orientieren sich Nationalstaaten, Organisationen und Individuen am Modell der (oftmals externen) Weltkultur und versuchen, die Prinzipien zu adaptieren. Da manche Bestandteile der Weltkultur sich häufig aber nicht mit den lokalen Gewohnheiten, Bedürfnissen, Traditionen und Finanzierungsmöglichkeiten abstimmen lassen, kann die Weltkultur als System nicht komplett importiert werden. Zudem sind für Meyer die Prinzipien der Weltkultur in sich widersprüchlich, sodass eine vollständige Realisierung nicht möglich und eine Entkopplung daher prinzipiell erwartbar ist (Thomas et al. 1987, S. 99 ff.). Als Konsequenz unterscheidet sich das, was Organisationen tun, oftmals in zentralen Aspekten von dem, was sie vorgeben zu tun bzw. was sie anstreben.

3.1

Das Kulturverständnis der World-Polity-Theorie

Mit Bezug auf die oben beschriebenen Unterschiede zu den anderen Ansätzen entwickelt Meyer ein für die hiesige Weltgesellschafts- oder Nationalstaatenforschung recht ungewöhnliches Verständnis von Kultur, welches Kultur als eine Art Protostufe sozialer Praxis versteht. Meyer selbst grenzt seinen Kulturbegriff an verschiedenen Stellen von einem expressiven und primordialen Verständnis von Kultur ab (Meyer 2005b, S. 139). Für ihn ist Kultur also weder ein Bündel von

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Werten und Normen, noch steht Kultur notwendigerweise in Verbindung mit einer affektiven Motivationsbasis und einer ästhetischen Wertschätzung (Parsons 1951). Auch lässt sich Kultur nicht auf ethnische Zugehörigkeiten reduzieren. Meyers Kulturbegriff ist wesentlich weiter. Für ihn geht Kultur allen sozialen Handlungen voraus und bildet das Hintergrundwissen der modernen Gesellschaft. Meyer bezeichnet Kultur auch als „kognitive Modelle“ (Meyer 2005b, S. 133), wobei „kognitiv“ nicht auf einen rational erschlossenen Wissensakt zielt, sondern auch bzw. gerade unbewusst bleibendes Wissen miteinschließt (Meyer 1992; Jepperson und Swidler 1994). Mit diesem Verständnis von Kultur zeigen sich, bei allen deutlichen Unterschieden, Parallelen zum oben vorgestellten mikrophänomenologischen Kulturverständnis. Und zwar dahingehend, dass in beiden Ansätzen Kultur als gesellschaftlicher Wissensvorrat verstanden wird, der eine ontologisierende Wirkung hat. Ging es im interpretativ-mikrophänomenologischen Ansatz um die sozialen Konstituierungsprozesse von Kultur (bzw. von gesellschaftlichem Wissen), betont der makrophänomenologische Ansatz im Anschluss an Meyer die weltkonstituierende Wirkung kulturellen Wissens. Denn für ihn prägen die kognitiven kulturellen Modelle, über welche Merkmale, Zwecke, Souveränität, Ressourcen und Technologien moderne Akteure legitimerweise verfügen, und definieren derart den ontologischen Wert von Akteuren (Meyer 2005b, S. 133; Thomas et al. 1987, S. 20 ff.). Da Rationalität das zentrale Grundprinzip der World-Polity ist, ist es Meyer wichtig, zu betonen, dass sich Kultur auch auf die konstitutiven Regeln der modernen Rationalität bezieht. Mythen der Moderne wie Rationalität, Fortschritt und Gerechtigkeit liegen somit – wie oben bereits beschrieben – nicht jenseits unserer Kultur. Vielmehr stellen sie selber kulturelle Vorstellungen dar (Meyer 2005b, S. 160). Wichtig ist für Meyer u. a., dass derartige kulturelle Vorstellungen auf einer globalen Ebene wirksam werden, weshalb die Autoren auch von „World-Polity“ sprechen. Nicht im Vordergrund steht eine Untersuchung der Umsetzung der kulturellen World-Polity-Prinzipien in lokalen Kontexten.8 Vorausgesetzt wurde damit auch hier ein in der Tendenz homogenes Kulturverständnis der westlichen Welt, welches in der Weiterentwicklung des NI kritisiert wurde. Auf diese Kritik und die daraus resultierende Weiterentwicklung innerhalb des NI werden wir im Folgenden eingehen.

8

Die Akteure werden daher in der Deutung ihrer eigenen Wirklichkeit immer wieder auf ihren blinden Fleck zurückgeworfen. Selbst die aufklärerischen Sozialwissenschaften in der Gestalt des cultural turn, welche die irrationalen Aspekte der modernen Kultur aufdecken und solide Forschungen vorweisen, gehen Meyer nicht weit genug: „Für den Bereich Wissenschaft verfügen wir über solide Forschungen über wissenschaftliche Organisationen und Karrieren sowie über sorgfältige kritische Forschungen über die Willkür wissenschaftlichen Arbeitens, Denkens und Tuns. Dagegen gibt es so gut wie keine brauchbaren Untersuchungen über wissenschaftliche Autorität – darüber, warum die Welt auf die Wissenschaft hört. Für den Bereich der Religion gibt es Untersuchungen über Karrieren, Organisationen sowie Befragungen über den Glauben von Individuen, aber so gut wie keine Untersuchungen darüber, warum die Religion als kultureller Rahmen Autorität besitzt“ (Meyer 2005b, S. 160 f.).

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Weiterentwicklungen des neo-institutionalistischen Kulturverständnisses

Insbesondere die organisationssoziologische Variante des NI hat sich seit ihrer Begründung in den 1970er-Jahren zunehmend ausdifferenziert und einige Erweiterungen erfahren (für eine Übersicht über die aktuellen Debatten im organisationssoziologischen NI siehe Greenwood et al. 2008; Senge und Hellmann 2006). Für den Kontext der Kultursoziologie sehen wir zwei dieser Weiterentwicklungen als besonders relevant an. Erstens zeigen wir, wie das ursprüngliche homogene Verständnis von Kultur im NI durch ein heterogenes Verständnis von Kultur im institutional logics-Ansatz ergänzt wurde. Zweitens diskutieren wir Versuche, das Kulturverständnis des NIs um Emotionen zu erweitern.

4.1

Institutionelle Logiken: Die Einführung eines heterogenen Kulturverständnisses

Durch den Fokus auf Kultur als Variable zur Erklärung der Gleichförmigkeit von Organisationsstrukturen und -praktiken wurde Kultur im frühen NI implizit als relativ homogene Einheit gedacht. Organisationen sind gleichen Wissensbeständen sowie gleichen Werten und Normen ausgesetzt, was zu der beschriebenen Isomorphie von Organisationsstrukturen führt. Als Kritik an einem solchen Kulturverständnis haben Roger Friedland und Robert R. Alford (1991) mit den Konzepten des inter-institutional systems und der institutional logics ein heterogenes Kulturverständnis in den NI eingeführt. Diese Konzepte wurden von Patricia Thornton und William Ocasio aufgegriffen und maßgeblich weiterentwickelt (Thornton et al. 2012). War ursprünglich die Homogenität von Organisationsstrukturen das Explanandum des NI, stehen in diesem Ansatz die Heterogenität von Organisationsstrukturen und -praktiken, Widersprüche und der institutionelle Wandel im Zentrum des Forschungsinteresses. Wie auch schon mit Bezug auf die Erklärung von Institutionalisierungsprozessen in Diffusionsstudien erfolgte bei der Entwicklung dieses Ansatzes kein Rückbezug auf Berger und Luckmann. Ein heterogenes Kulturverständnis steht jedoch keinesfalls im Widerspruch zu diesen Autoren, die ebenfalls die Heterogenität von Wissensbeständen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Subwelten thematisieren (Berger und Luckmann 2007, S. 148). Die Einführung eines heterogenen Verständnisses von Kultur in den NI gelingt Friedland und Alford durch ihre Konzeption von Gesellschaft als inter-institutional system, als eines Systems aus einer Mehrzahl von sich potenziell widersprechenden institutional orders, die Individuen und Organisationen unterschiedliche logics zur Verfügung stellen, um soziale Beziehungen mit Bedeutungen zu versehen (Friedland und Alford 1991, S. 232, 248). Eine institutionelle Logik wird dabei verstanden als eine sinnhafte Ordnung der Produktion von Praktiken und Objekten. Institutionelle Logiken bestehen aber nicht aus Subjekten oder Objekten, nicht aus dem Willen zum Handeln, sondern es handelt sich dabei um eine Realität sui generis im Durkheim’schen Sinne, welche durch spezifische Praktiken konstituiert wird (Friedland et al.

Der Neo-Institutionalismus als Kultursoziologie

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2014, S. 334). Beispielsweise können Phänomene wie Kunst, Eigentum, Gott oder Liebe als institutionelle Logiken gedeutet werden. Diese Phänomene existieren nicht an sich, sondern werden durch die mit ihnen verbundenen Handlungen (z. B. im Fall von Liebe „Küssen“), verbale Ausdrücke („Ich liebe Dich“), Materialitäten (z. B. „Herz“, „juristisch verbindlicher Ehebund“) und Identitäten („Ehefrau“/„Ehemann“) ausgedrückt. Institutionelle Logiken können im Kern als typisierte Ordnungen von Praxismustern gedeutet werden. In modernen westlichen Gesellschaften sehen Friedland und Alford den kapitalistischen Markt, den bürokratischen Staat, die Kernfamilie und die christliche Religion als zentrale institutionelle Ordnungen an. Die simultane Berücksichtigung einer Mehrzahl von institutionellen Ordnungen, die zueinander potenziell in Widerspruch stehen können, ermöglicht es Friedland und Alford, ein Institutionenkonzept zu formulieren, welches ohne ein als deterministisch gedachtes Verhältnis zwischen Institution und Handlung auskommt. Vielmehr haben die institutionellen Ordnungen auch das Potenzial, Akteuren als Basis zu dienen, um von den Vorgaben einer gegebenen institutionellen Ordnung abzuweichen (Friedland und Alford 1991, S. 254). Das inter-institutional system stellt also Alternativen zu vorherrschenden sozialen Beziehungen und den mit ihnen verbundenen Kategorien und Bedeutungen bereit. Aus dieser Perspektive sind daher Konflikte über die Gültigkeit einer bestimmten institutionellen Logik wahrscheinlich. Friedland und Alford interpretieren so einige der dominanten gesellschaftspolitischen Debatten in der US-amerikanischen Gesellschaft als Konflikte um die Gültigkeit von institutionellen Logiken, beispielweise die Fragen, ob der Zugang zur Gesundheitsvorsorge vom Markt oder vom Staat organisiert werden soll (Friedland und Alford 1991, S. 256–260). Die institutional orders des inter-institutional systems stellen Symbole und Bedeutungen bereit, die lokal gültige Ordnungen mit Inhalt versorgen können. Kultur ist hier nicht mehr nur Determinante für die Organisationsstruktur und für Praktiken, sondern gleichzeitig Quelle für die Reproduktion und den Wandel institutioneller Logiken auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen.9 Innerhalb des NI wurde durch dieses Konzept eine Fokusverschiebung in der Forschung angestoßen: Man nahm tendenziell Abstand von der Erklärung von Isomorphie und Gleichheit und konzentrierte sich auf Heterogenität und Wandel von Institutionen und Organisationen (Thornton und Ocasio 2008, S. 100). Gleichzeitig bietet der Verweis auf heterogene institutionelle Logiken die Möglichkeit, den Akteuren, die diesen Logiken ausgesetzt sind und sie mitgestalten, eine größere Handlungsautonomie zuzugestehen. Im NI zentrieren die Arbeiten zum Thema institutional logics häufig um die Frage, wie Individuen in Organisationen zwischen verschiedenen institutionellen Logiken wählen, diese kombinieren, importieren, unterstützen oder anpassen (Mair et al. 2012). Durch diese Öffnung der neo-institutionalistischen

Eine ähnliche Konzeption von Kultur als heterogene Ordnungen findet sich auch in der Konventionenökonomie (Boltanski und Thevenot 2007; Diaz-Bone 2009). Trotz der Ähnlichkeit dieser Debatten findet ein Austausch zwischen diesen beiden Forschungsrichtungen bisher jedoch kaum statt (Diaz-Bone 2014).

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Forschung hin zur Frage nach der Agentschaft wurde Kultur immer weniger als Konstituens sozialer Wirklichkeit gedeutet. Mehr und mehr verschiebt sich im NI damit der Fokus auf die Frage, wie Akteure Kultur mitprägen.

4.2

Emotionen als Institutionen

Mit dem erstarkenden Interesse an der Entstehung und dem Wandel von Institutionen und der Entwicklung des Konzeptes der institutional logics hat sich auch das Erkenntnisinteresse des NI verschoben. Ging es ursprünglich um den Einfluss von kulturellen Faktoren auf Organisationsstrukturen und -praktiken, entwickelt sich der NI zunehmend zu einer allgemeinen Sozialtheorie von Institutionen. Insbesondere durch die neuere mikroanalytische neo-institutionalistische Forschung standen Fragen im Mittelpunkt, wie der Prozess der institutionellen Wirkung vonstatten geht oder welche Akteure an dem Aufbau, Erhalt und Niedergang von Institutionen beteiligt sind? War es Scotts (2001, S. 50 ff.) Verdienst, die regulativen, normativen und kognitiven Säulen von Institutionen in den Mittelpunkt der Forschung gerückt zu haben, so wurde zunehmend eine Kritik laut, welche das nach wie vor bestehende Desinteresse an den „weichen“, nicht-kognitiven Aspekten institutionellen sozialen Handelns beklagt (Hallett und Ventresca 2006). Gemeint waren damit insbesondere die affektiven Grundlagen von Institutionen und die bisherige Nichtbeachtung von Emotionen, Bauchgefühl oder inkorporiertem Handlungswissen in der Bedeutung für Institutionen (Creed et al. 2002, 2010; Voronov und Vince 2012). So zeigen beispielsweise Hallett und Ventresca (2006, S. 224) in ihrer Neuinterpretation von Gouldners „Patterns of Industrial Bureaucracy“ (1954), dass Institutionen nicht nur auf kognitiven Erfahrungen aufbauen, sondern insbesondere auch auf den connective tissues von Verwandtschaft, Loyalität und Gefälligkeiten. Aber auch die umgekehrte Betrachtungsweise, welche die Bedeutung von Institutionen für die Entwicklung und den Ausdruck von Emotionen hervorhebt, blieb lange Zeit eine neo-institutionalistische Terra incognita. Insbesondere Arbeiten, die um das Konzept der „institutional work“ (Lawrence und Suddaby 2006; Senge und Dombrowski 2015) zentrieren, versuchen zu zeigen, inwiefern der Erhalt oder der Abbau von Institutionen eine Motivation, einen Impetus benötigen. Ziele, Interessen, Werte können als solch ein Movens dienen, aber auch konkrete Emotionen wie Furcht, Gier etc., die in der Regel auch eine wertmäßige Basis haben (Zietsma und Lawrence 2010; Lawrence und Suddaby 2006, S. 239). Während bei diesen Arbeiten der Eindruck entsteht, dass Emotionen quasi Teil von Agentschaft sind, also von dem Individuum und seiner Persönlichkeit ausgehen und damit die neo-institutionalistische Argumentation auf den Kopf stellen, zeigen andere Autoren, inwiefern Emotionen Produkt institutioneller Ordnungen sind. So argumentieren beispielsweise Voronov und Vince (2012), dass Emotionen grundsätzlich in die neo-institutionalistische Debatte über institutional work integriert werden können. Hierbei betonen sie jedoch auch die Notwendigkeit, die institutionelle Einbettung dieser Arbeit stärker in den Blick zu nehmen. Dies sei notwendig, so die Autoren in Anschluss an Bourdieu, da unterschiedliche (organisa-

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tionale) Felder unterschiedliche Emotionsregeln aufweisen: Im IT-Bereich, so die Autoren, ist eine öffentliche emotionale Expressivität nicht erwünscht, das gleiche gilt im Managementbereich, wo der Eindruck von Objektivität und damit die Unterdrückung emotionalen Engagements erwartet werden (Voronov und Vince 2012, S. 63). Daher übernehmen die Autoren den Bourdieu’schen Terminus „Habitus“ und betonen hierbei insbesondere seine emotionale Komponente (Bourdieu 1987; Voronov und Vince 2012, S. 64). Entsprechend gehen sie davon aus, dass eine spezifische Feldposition mit einem Habitus korrespondiert, der auch Emotionen, Wünsche und Bedürfnisse einschließt sowie feldspezifische Regeln, diese auszudrücken (Voronov und Vince 2012, S. 64). Die Autoren knüpfen damit an Arlie Hochschilds (2006, S. 53 ff.) klassische emotionssoziologische Konzepte wie „feeling rules“ und „display rules“ an. Hochschilds „feeling rules“, Gefühlsnormen, welche das Ausmaß, die Richtung und die Dauer von Gefühlen vorgeben, folgen sozialen Regeln (Neckel 2006, S. 15); sie sind gerade nicht rein subjektiv, sondern sozial konstituiert und Teil des gesellschaftlich geteilten Wissens (Neckel 1991; Scheve 2013). Wir haben es somit mit zwei Zugangsweisen zu tun, wie im NI der Kulturbegriff auch auf emotionales Wissen ausgeweitet wird. Denn zum einen gelten Emotionen als grundlegender Handlungsimpuls, in dem Sinne, dass etwas gewünscht erreicht oder vermieden werden soll (Haack et al. 2014). Dahinter steht die Vorstellung, dass Handlungen, sowohl bewusste als auch Routinehandlungen, mit affektiven Mustern gekoppelt sind, welche wir bei der Institutionalisierung von Rollen, Wissen und Werten mit erlernen. Diese Affekte sind im Unterschied zu Emotionen in der Regel unbewusst und werden nur in Krisensituationen bewusst. In diesem Sinne basieren Institutionen auch immer auf einer emotional affektiven Säule (Senge 2015b; Slovic et al. 2002; Loewenstein und Lerner 2003). Sprechen wir aber von „emotional institutions“, gehen wir zum anderen davon aus, dass Emotionen selbst Institutionen sind (Senge 2015b). Emotionale Institutionen zeichnen sich durch eine spezifische emotional-affektive Erfahrung aus, welche an kognitives Wissen gekoppelt ist. Wir sprechen auch in diesem Fall von sozialen Institutionen, da sie durch Gefühlsnormen typisierte Muster des Fühlens darstellen, deren normativer Charakter sich nicht nur auf die Empfindung selbst, sondern auch auf den sichtbaren Ausdruck derselben, deren Dauer und Intensität auswirken (Hochschild 2006; Neckel 2006, S. 16). Auch emotionale Institutionen zeichnen sich durch eine Kraft aus, welche Individuen dazu befähigt, diesen Gefühlsnormen Folge zu leisten. Bei emotionalen Institutionen würde man bei dieser Kraft von einer innerlich gefühlten Notwendigkeit sprechen, im Unterschied z. B. zu regulativen Institutionen (Gesetze), deren Durchsetzung mittels Zwang erzielt wird. Emotionale Institutionen verpflichten uns auf diese „innerlich empfundene Wirklichkeit“, und zwar durchaus trotz eines überlegenen kognitiven Wissens (Senge 2015b, S. 2019). Ihre Legitimität erlangen emotionale Institutionen durch moralisch und kulturell akzeptierte Gefühlsnormen innerhalb einer sozialen Gemeinschaft. Auch wenn man zwar nicht direkt von einem praxis turn in Bezug auf den NI sprechen kann, so kann man aber zumindest sagen, dass sich der Kulturbegriff im NI infolge dieser Entwicklung nicht mehr nur auf kognitives Wissen bezieht, sondern eine Erweiterung erfahren hat und nunmehr auch Gefühlswissen integriert. Diese

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Entwicklung ist nicht außerordentlich überraschend. Denn einerseits erfreuen sich die Emotions- und Mikrosoziologie sowie die Kognitionswissenschaft während der letzten Dekaden einer zunehmenden Dynamik in der US-amerikanischen Forschung; andererseits zeigt sich innerhalb der Organisationssoziologie eine anhaltende Skepsis gegenüber Theorien, die Organisationen ein besonderes Maß an rationaler Planungssicherheit und Steuerbarkeit zuschreiben. Aufgrund dieser Skepsis wird hier weiterhin die Notwendigkeit alternativer Organisationstheorien betont (Apelt und Senge 2014). Überraschend allerdings ist, wenn über die Integration des Emotionskonzeptes der neo-institutionalistische Pfad mitunter verlassen wird, indem über diese Hintertür Agentschaft in den Ansatz integriert werden soll. Spannender aus neo-institutionalistischer Sicht sind mit Sicherheit die Arbeiten, die zeigen, inwiefern auch Emotionen durch eine übergeordnete kulturelle Ordnung sozial konstituiert sind.

5

Fazit

Die vorangegangene Diskussion hat gezeigt, dass der Kulturbegriff des NI zunächst auf der Wissens- und Kultursoziologie von Berger und Luckmann aufbaute. Sowohl Berger und Luckmann als auch Vertreter des NI zeichnen sich durch ein sehr umfassendes Kulturverständnis aus, da Kultur als gesellschaftlicher Wissensvorrat konzipiert wird. Mit der Einführung der Wissens- und Kultursoziologie Bergers und Luckmanns in die Organisationssoziologie hat sich der NI als ein „important corrective“ (DiMaggio 1988, S. 5) zu rationalitäts- und effizienzbasierten Erklärungen in der Organisationssoziologie erwiesen. Der kultursoziologische Beitrag des NI wird besonders deutlich, wenn er im Kontext mit anderen open system-Organisationstheorien gesehen wird, die, wie auch der NI, in den 1970er-Jahren entwickelt worden sind.10 Offene-System-Ansätze zeichnet aus, dass sie Organisationsstrukturen und Organisationserfolg auf Erklärungsfaktoren in der Organisationsumwelt zurückführen. Mit kontingenztheoretischen Studien (Burns und Stalker 1961; Lawrence und Lorsch 1967), dem Ressourcenabhängigkeitsansatz (Pfeffer und Salancik 1978) und der Populationsökologie (Hannan und Freemann 1977) wurden während dieser Zeit drei Ansätze formuliert, die jeweils unterschiedliche Umweltfaktoren in ihre Erklärungsmodelle integriert haben. Gemein ist diesen drei Ansätzen, dass sie die Organisationsumwelt im Kern auf technische und ökonomische Kontextfaktoren reduziert haben. Die Kontingenztheorie beruht auf der These, dass es nicht eine generell effiziente Organisationsstruktur gibt. Vielmehr seien je nach Eigenschaften des Kerngeschäfts und Eigenschaften der Organisationsumwelt unterschiedliche Organisationsstrukturen effizient. Eine ähnliche Reduktion auf ökonomische Umweltfaktoren lässt sich auch in der Ressourcenabhängigkeitstheorie beobachten, die Organisationsstrukturen auf ökonomische 10

Die Darstellung der Situation der amerikanischen Organisationssoziologie folgt den Ausführungen bei Senge (2011, S. 33–80).

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Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Organisationen zurückführt. Die Diagnose einer einseitig ökonomischen Konzeption der Organisationsumwelt trifft auch auf den populationswissenschaftlichen Ansatz in der Organisationssoziologie zu. Dieser Ansatz nimmt eine aus der Evolutionsbiologie entlehnte Perspektive ein und erklärt Organisationsformen als Ergebnis eines umweltabhängigen Selektionsprozesses zwischen verschiedenen Populationen von Organisationen. Selektionsdruck wird hierbei, zumindest in frühen Aufsätzen dieser Schule, vor allem als Wettbewerbsdruck gedacht. Folglich ist die umfassende kultursoziologische Erklärungsstrategie des NI, dessen Vertreter Kultur als gesellschaftlichen Wissensvorrat deuten und gerade nicht nur im engeren Sinne ökonomisches Wissen berücksichtigen, im skizzierten organisationswissenschaftlichen Kontext als ein Alleinstellungsmerkmal des NI zu verstehen. Im NI lassen sich dabei zwei Forschungsrichtungen identifizieren: Die stärker organisationswissenschaftlichen Arbeiten im NI zielen darauf ab, zu zeigen, inwiefern kulturelle Faktoren Organisationen und deren formale Strukturen konstituieren. Die World-Polity-Forschung konzentriert sich auf die Analyse der kulturellen Prinzipien der westlichen Welt in ihrem konstituierenden Einfluss auf die Akteure wie Individuen, Organisationen und Nationalstaaten der Weltgesellschaft. Der bei Berger und Luckmann im Vordergrund stehende Prozess der Konstitution von Kultur bzw. des gesellschaftlichen Wissensvorrates wird in der neo-institutionalistischen Forschungsagenda tendenziell dahingehend gedreht, dass stärker herausgehoben wird, wie dieser Wissensvorrat auf die Akteure zurückwirkt. Dabei gilt, dass sowohl bei Berger und Luckmann als auch bei beiden Strömungen im NI – dem organisationssoziologischen NI und der World-Polity-Forschung – sich die Vorstellung von Kultur als einer Art Protostufe gesellschaftlicher Wirklichkeit findet. Die Schwerpunktsetzung des NIs auf die Wirkung von Kultur auf die soziale Wirklichkeit erklärt sich hierbei aus dem Kontext der US-amerikanischen Soziologie Ende der 1970er-Jahre. So ist der NI auch als eine Gegenposition zu zu dieser Zeit verbreiteten rationalen Organisationsmodellen und dem Rational Choice-Paradigma zu lesen, nach dem die soziale Wirklichkeit Resultat individueller Entscheidungen ist (DiMaggio 1988, S. 4). Aus diesem Grunde bieten auch neuere Tendenzen im NI, die stärker auf Agentschaft setzen, zwar interessante Weiterentwicklungen und können die ursprüngliche eher einseitige Fokussierung des NI auf die Objektivität von Institutionen etwas reduzieren, man würde aber dem NI nicht gerecht werden, versuchte man derart einen Anschluss an Rational-Choice-Theorien zu erreichen (Brinton und Nee 1998; kritisch Senge und Dombrowski 2015).

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Postkonstruktivismus in der Kultursoziologie Lars Gertenbach

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das Unbehagen am Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Postkonstruktivistische Tendenzen: Sechs Themengebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Postkonstruktivismus als entgrenzter Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die postkonstruktivistische Herausforderung der Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In unterschiedlichen Forschungsgebieten und Theoriedebatten der Sozial- und Kulturwissenschaften ist seit einigen Jahren ein Unbehagen am Konstruktivismus zu beobachten, das häufig mit einer Kritik an der Dominanz des Linguistic sowie des Cultural Turns einhergeht. Als Oberbegriff dieser Tendenz bietet sich die Bezeichnung Postkonstruktivismus an, die in der bisherigen Debatte jedoch noch nicht genauer bestimmt wurde. Der Text versucht zu klären, worin die Merkmale einer postkonstruktivistischen Sozial- und Kulturtheorie bestehen und wodurch sich diese Kritik am Konstruktivismus genau auszeichnet. Den Ausgangspunkt bilden dabei sozialwissenschaftliche und philosophische Kritiken an der Hegemonie des Konstruktivismus, wie man sie in paradigmatischer Form etwa bei Ian Hacking und Maurizio Ferraris findet. Im Anschluss an die Rekonstruktion des allgemeinen Unbehagens am Konstruktivismus widmet sich der Text sechs jüngeren Forschungs- und Themenfeldern der Sozial- und Kulturwissenschaften, an denen sich die Tendenz zur Kritik und Reformulierung des konstruktivistischen Forschungs- und Theorieprogramms beobachten lässt. Aus den Überschneidungen dieser Themengebiete lassen sich die Besonderheiten einer postkonstruktiL. Gertenbach (*) FB05 Gesellschaftswissenschaften, Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_7

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vistischen Kritik am Konstruktivismus extrapolieren, die hier stellvertretend an Bruno Latour und Karen Barad skizziert werden. Dadurch wird nicht nur sichtbar, was den Postkonstruktivismus von der zumindest thematisch verwandten Forderung nach einem Neuen Realismus unterscheidet. Darüber hinaus kann abschließend auch danach gefragt werden, welche Herausforderungen sich aus dieser Entwicklung für die Kultursoziologie ergeben. Schlüsselwörter

Postkonstruktivismus · Kultursoziologie · Konstruktivismus · Neuer Materialismus · Cultural Turn · Neuer Realismus · Bruno Latour · Karen Barad

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Einleitung

In den vergangenen Dekaden ist es der Kultursoziologie gelungen, sich aus der Einengung auf eine bloße Soziologie der Kultur zu befreien. Obwohl sie hierbei auf einige Klassiker der deutschen Soziologie rekurrieren konnte, spielte der Import von französischen, britischen und amerikanischen Theoriepositionen eine wesentliche Rolle bei dieser Neuausrichtung. Es ist bemerkenswert, dass diese Vervielfältigung der Referenzautor_innen und Theoriebezüge nicht zu einer völligen Zersplitterung der Kultursoziologie geführt hat. Stattdessen hat der sogenannte Cultural Turn dazu beigetragen, dass Kultur auch in der allgemeinen Soziologie zum Grundbegriff avancieren und damit neben oder gar vor den Gesellschaftsbegriff treten konnte (Rehberg 1986; Reckwitz 2006). Diese Entwicklung hat weitreichende Folgen gehabt. Sie hat nicht nur „eine grundlegende Neubewertung von Symbolisierung, Sprache und Repräsentation auf den Weg gebracht“ (Bachmann-Medick 2006, S. 13), sondern die Kultursoziologie und die Kulturwissenschaften auch auf ein genuin konstruktivistisches Selbstverständnis verpflichtet. Obwohl die Kulturtheorie nicht im Konstruktivismus aufgeht und auch der Konstruktivismus kein rein kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm ist, ist der Cultural Turn in weiten Teilen ein Constructivist Turn gewesen: „Als Kind des linguistic turn besteht seine dominante ‚Theoriegeste‘ darin, auf dem Sachverhalt zu bestehen, dass uns die Wirklichkeit nicht naturaliter, sondern nur unter den Bedingungen sprachlicher und näherhin diskursiver Repräsentation gegeben ist. Das geht bis zu der bekannten und beliebten Formel von der sozialen bzw. kulturellen Produktion der Realität.“ (Koschorke 2009, S. 23–24, H.i.O.)

Diese Entwicklung lässt sich ohne größere Mühen nicht nur als Erfolgs-, sondern auch als Fortschrittsgeschichte erzählen. So ließe sich mit Luhmann behaupten, dass der Konstruktivismus schlichtweg die Form ist, „in die die Reflexion des Wissenschaftssystems angesichts der eigenen Extravaganzen gerinnt“ (Luhmann 2009, S. 53). Denn, so die Begründung Luhmanns, „wenn eine Gesellschaft sich Wissenschaft im modernen Sinne leistet, stellen sich Reflexionsprobleme, die nur noch konstruktivistisch zu lösen sind“ (Luhmann 2009, S. 53). Die Entwicklung lässt aber

Postkonstruktivismus in der Kultursoziologie

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auch eine andere Deutung zu – insbesondere wenn man den Blick auf die Kultursoziologie lenkt. Denn obwohl die Parallelentwicklung von Kulturalismus und Konstruktivismus bis heute ein wichtiger Faktor für die Attraktivität des kulturwissenschaftlichen Theorieprogramms ist, mehren sich in den letzten Jahren die Stimmen, denen dieses Selbstverständnis einer im Kern konstruktivistischen Kultursoziologie problematisch erscheint. Zur Sammlung dieser Positionen bietet sich der seit einigen Jahren diskutierte Begriff des Postkonstruktivismus an. Gerade weil er bis jetzt eher sporadisch und unsystematisch verwendet und nur in seltenen Fällen überhaupt als Selbstbezeichnung gebraucht wird (etwa bei Renn et al. 2012a), ermöglicht er es, die zahlreichen, aber noch verstreuten Stimmen genauer in den Blick zu nehmen und unter dieser Bezeichnung zu gruppieren. Er bezeichnet damit keine bereits profilierte, gar etablierte Forschungsrichtung oder eine kohärente Theorieposition, sondern eine allgemeine Tendenz der Theoriebildung. Diese Tendenz soll im Folgenden erkundet werden, sodass es weniger um die Entfaltung eines Theorieprogramms, sondern um die Diskussion der Rolle und des Ortes des Postkonstruktivismus in der Kultursoziologie geht. Obwohl es möglich wäre, einen einzelnen Ansatz zum Inbegriff des Postkonstruktivismus zu erklären,1 wären hiermit zwei gewichtige Nachteile verbunden. Es hätte nicht nur zur Folge, dass viele Positionen ausgeblendet werden müssten, die rein sachlich hierunter zu fassen sind. Vor allem würde in einer solchen Engführung der gerade kultursoziologisch interessante Befund aus dem Blick geraten, dass die Infragestellung des Konstruktivismus selbst eine Art Zeitgeistphänomen ist. Um dies nicht aus den Augen zu verlieren, wird der Begriff des Postkonstruktivismus hier (zumindest eingangs) absichtlich weit gefasst. Als wesentlich gelten zunächst drei Elemente: (1) eine gewisse Unzufriedenheit bzw. ein zunehmendes Unbehagen gegenüber dem konstruktivistischen Theorieparadigma; (2) die Diagnose einer allmählichen Entleerung oder Ermüdung dieses Forschungsprogramms; sowie (3) eine Problematisierung von blinden Flecken des Konstruktivismus, die nicht auf den Vorwurf eines thematischen Versäumnisses reduzierbar ist, sondern auf eine systematische Kritik an epistemischen Unzulänglichkeiten hinausläuft. Diese drei Elemente haben in erster Linie heuristischen Wert. Sie sollen die Möglichkeit eröffnen, die verschiedenen Argumente und Positionen zu sortieren, die für eine Infragestellung der zentralen Position des Konstruktivismus in Soziologie, Kulturtheorie und Philosophie eintreten. Für das Ziel einer genaueren inhaltlichen Bestimmung des Postkonstruktivismus genügen diese Punkte für sich allerdings nicht, weil sich hieraus noch keine konsistente und wiedererkennbare Gegenposition ergibt – von der moderaten Kritik an der Einseitigkeit des Konstruktivismus über die Forderung nach einer Erneuerung oder

1

Die meisten Beiträge zum Postkonstruktivismus laufen auf eine solche Zuspitzung hinaus. Neben dem Versuch, hiermit eine bestimmte Form der wissenssoziologischen Sozialtheorie zu verknüpfen (Renn et al. 2012a), ist der zentrale Referenzautor dieser Debatte bislang vor allem Bruno Latour (Degele und Simms 2004; Kneer 2009; Lynch 1993, S. 107–113). Arbeiten, die den Postkonstruktivismus als Theoriebewegung begreifen, sind dagegen rar. Auch die These, dass es sich hierbei nicht nur um einzelne Positionen, sondern um „unterschwellige Absetzungstendenzen vom konstruktivistischen Grundkonsens“ (Ernst 2012, S. 207) handelt, findet sich eher selten.

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Rettung des eigentlichen Kerns dieses Forschungsprogramms bis zur gänzlichen Absage an die Fruchtbarkeit des damit verbundenen Theoriemodells lassen sich verschiedene Alternativen denken. Um in der Vielstimmigkeit der Kritik am Konstruktivismus eine spezifisch postkonstruktivistische Tonart ausfindig zu machen, bedarf es daher weiterer Überlegungen. Relevant ist hierbei vor allem, ob sich eine genuin postkonstruktivistische Kritik am Konstruktivismus ausmachen lässt, die nicht nur über ein bloßes Unbehagen am zeitgenössischen Konstruktivismus hinausgeht, sondern sich auch von denjenigen Positionen unterscheidet, die stattdessen für eine Erneuerung des klassischen Realismus eintreten. Obwohl diese offene Begriffsbestimmung im Folgenden nur als Ausgangspunkt fungiert, erzeugt sie einige Folgeprobleme. Nicht eine konkrete Theorielinie, sondern eine bestimmte Haltung zum Aufnahmekriterium zu machen, zieht erstens eine notorisch unscharfe Grenzbestimmung nach sich. Um dem entgegenzuwirken konzentriere ich mich im Folgenden auf solche Positionen, die in den einzelnen zu diskutierenden Punkten als paradigmatisch gelten können. Dass es auch andere soziologisch, philosophisch oder erkenntnistheoretisch gehaltvolle Beiträge in diesem Feld gibt, soll damit keineswegs bestritten werden, ebenso wenig wie die Tatsache, dass es auch eine andere, soziologisch äußerst problematische Kritik am Konstruktivismus gibt.2 Gewichtiger ist allerdings ein zweites Problem. Denn offen gehalten wird in einer solchen Bestimmung nicht nur, worin genau die Abwendung vom Konstruktivismus besteht, sondern auch, was in diesen Ansätzen jeweils als konstruktivistisches Argument gilt. Immerhin zeigt sich hierbei, dass das kein genuin postkonstruktivistisches Problem ist, weil schon der Begriff des Konstruktivismus bei genauerer Hinsicht eine problematische Sammelbezeichnung ist. Auch wenn man nur die sich selbst als konstruktivistisch verstehenden Positionen hierunter fasst, fällt es schwer, gemeinsam geteilte Annahmen dieser Forschungsrichtung auszumachen (Gertenbach 2015). Es ist damit ein strukturelles Problem in Bezug auf den Postkonstruktivismus, dass es so etwas wie den Konstruktivismus in der Philosophie und den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht gibt. Da die Kritik am Konstruktivismus aber ohnehin an unterschiedlichen Aspekten ansetzt, bietet es sich an, zunächst einige allgemeine Einwände in den Fokus zu nehmen. Auch deswegen beginnt der Text nicht mit einer einleitenden Definition des Konstruktivismus. Den Ausgangspunkt bildet vielmehr die Rekonstruktion des Unbehagens am konstruktivistischen Forschungsprogramm, die sich auf die ersten beiden der oben genannten Elemente bezieht. Herausgearbeitet wird dieses Unbehagen an einigen Arbeiten von Ian Hacking und Maurizio Ferraris, die in dieser Hinsicht als prototypisch gelten können (Abschn. 2). Hieran anschließend ist es möglich, den Postkonstruktivismus anhand verschiedener Themenfelder als Tendenz der zeitgenössischen Sozial- und Kulturwissenschaften zu diskutieren (Abschn. 3), bevor die dadurch identifizierten Gemeinsamkeiten einer postkonGemeint sind hiermit vor allem (populistische) Attacken gegen „Soziologismus“, „Genderismus“ und „Konstruktivismus“, die ebenfalls die Dominanz des Konstruktivismus unterstellen und angreifen. Weil es hier um eine Auseinandersetzung mit postkonstruktivistischen Theoriepositionen und nicht antikonstruktivistischen Polemiken geht, kann dies hier nicht eigens diskutiert werden (vgl. in Bezug auf den Anti-Genderismus jetzt Hark und Villa 2015).

2

Postkonstruktivismus in der Kultursoziologie

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struktivistischen Problematisierung des Konstruktivismus am Beispiel von Bruno Latour und Karen Barad, die als paradigmatische Positionen dieser Debatte gelten können, genauer skizziert und von anderen Positionen unterschieden werden können (Abschn. 4). Mit der These, dass der Postkonstruktivismus nicht auf eine Zurückweisung, sondern eine Entgrenzung des Konstruktivismus zielt, lassen sich dann abschließend auch die Herausforderungen benennen, die von diesen Positionen für die gegenwärtige Kultursoziologie ausgehen (Abschn. 5).

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Das Unbehagen am Konstruktivismus

Obwohl der Postkonstruktivismus als Gegenbewegung zu einem als dominant begriffenen Konstruktivismus verstanden werden kann, zeichnet er sich nicht durch die Ablehnung des Konstruktivismus schlechthin aus. Die Unzufriedenheit mit einer bestimmten Entwicklung konstruktivistischer Positionen motiviert vielmehr zu Korrekturen und Modifizierungen, die oftmals sogar als „Rettung des Konstruktivismus“ (Latour 2003, S. 183) ausgegeben werden. Unabhängig davon, ob diese Ansätze den Konstruktivismus dafür kritisieren, dass er von Grund auf missverstanden werde, auf halber Strecke stehen bleibe oder dass er im Gegenteil zu weit gegangen sei, eint sie die These, dass der Konstruktivismus sich zu einem einseitigen Programm entwickelt habe, gleichgültig ob dabei der Vorwurf des Kulturalismus, des Kognitivismus oder des Soziozentrismus erhoben wird. Um das Unbehagen an der Entwicklung und dem aktuellen Profil des Konstruktivismus zu rekonstruieren, bietet es sich an, den Blick auf zwei für diesen Vorwurf paradigmatische Arbeiten zu lenken: Ian Hackings viel diskutierte Schrift The Social Construction of What? aus dem Jahr 1999 sowie das Manifest des neuen Realismus von Maurizio Ferraris, das in der italienischen Erstausgabe 2012 erschienen ist. Die im Deutschen unter dem Titel Was heißt ‚soziale Konstruktion‘? erschienene und (ohne weitere Begründung) um die Hälfte gekürzte3 Schrift des Wissenschaftshistorikers Hacking richtet sich zunächst auf die Debatte um Realismus und Konstruktivismus, die durch die Beiträge der Science Studies in den 1990er-Jahren angeheizt wurde.4 Im Zentrum steht dabei die Konstruktionsmetapher bzw. eine sich sukzessive ausbreitende Rhetorik der sozialen Konstruktion. Worauf sich In der deutschen Übersetzung finden sich nur die ersten vier der insgesamt acht Kapitel (Hacking 1999a). 4 Die Debatte wurde vor allem in den USA so vehement geführt, dass sie schließlich die Bezeichnung Science Wars bekam. Zur Diskussion stand die wissenschaftssoziologische Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, die als relativistischer Angriff auf Objektivität und Wahrheit begriffen wurde. Ein Initialpunkt dieser Debatte ist die sogenannte Sokal-Affäre, die Alan D. Sokal auslöste, als er in der Zeitschrift Social Text eine als ernsten Aufsatz getarnte Parodie auf den Jargon des ‚postmodernen Sozialkonstruktivismus‘ eingereicht hat, die 1996 schließlich ohne Beanstandungen abgedruckt wurde (Sokal 1996b). Als Sokal daraufhin bekannt gab, dass es sich um einen Hoax handelte (Sokal 1996a), löste dies eine breite Debatte über wissenschaftliche Standards, die Postmoderne und den Sozialkonstruktivismus aus, an der sich auch zahlreiche Soziolog_innen sowie von Sokal kritisierte Autor_innen beteiligten (Callon 1999; Latour 2002b). 3

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Hackings Kritik richtet, wird bereits einleitend durch einen einfachen rhetorischen Kniff erkennbar: er erstellt eine Liste von Büchern, die im Titel mit der Formulierung ‚soziale Konstruktion‘ arbeiten. Die Aufzählung illustriert sowohl die Verbreitung als auch die Unschärfe des Begriffs, denn die Bücher widmen sich der „Konstruktion der Autorschaft, der Bevölkerungsstatistik, der Bruderschaft, der drohenden Gefahr, der Emotionen, der Fakten, der Flüchtlingsfrauen, von Gender, der Homosexuellenkultur, der Jugendobdachlosigkeit, des Kindes als Fernsehzuschauer, von Krankheit, der Lesefähigkeit, des medikalisierten Einwanderers, der mündlich tradierten Geschichte, der Natur, der Postmoderne, der Quarks, der Realität, von Serienmorden, der technischen Systeme, des Schulwesens im urbanen Bereich, von Wissen und des Zulu-Nationalismus.“ (Hacking 1999b, S. 11)

Die schiere Aufzählung demonstriert für Hacking bereits, wie sehr sich das konstruktivistische Vokabular in den Sozialwissenschaften verbreitet hat. Sie zeigt aber auch, dass es offenbar keiner sachlichen Einschränkung mehr unterliegt, denn der Konstruktionsverdacht bezieht sich gleichermaßen auf Ideen, Begriffe, Kategorien, Institutionen und Gruppen wie auf wissenschaftliche Tatsachen, technische Objekte und Naturgegebenheiten. Hinzu kommt für Hacking, dass viele Arbeiten, die mit der Metapher der sozialen Konstruktion arbeiten, immer mehr von der Frage abrücken, wie etwas konstruiert ist und sich stattdessen im bloßen Postulat erschöpfen, dass etwas konstruiert ist – mit dem Ziel der Kritik und der Entlarvung: „Die Einträge auf dieser alphabetisch geordneten Liste sind aber so verschiedenartig! Gefahr ist doch etwas völlig anderes als Realität oder Flüchtlingsfrauen! Was viele der in diesem Rahmen aufgestellten Behauptungen unter einen Hut bringt, ist das Ziel der Bewußtmachung.“ (Hacking 1999b, S. 19) Dieser Fokus lässt Karl Mannheim in der Darstellung von Hacking eine wichtige Rolle einnehmen, weil dessen Annahmen zur Seins- und Standortgebundenheit des Denkens für ihn die prototypische Entlarvungsgeste des Konstruktivismus vorwegnehmen (Hacking 1999b, S. 40; Mannheim 1995, S. 230, 1964, S. 296). Hieraus speist sich auch Hackings Unbehagen am „universellen Konstruktivismus“ (Hacking 1999b, S. 45): er kritisiert nicht nur die kategoriale Unschärfe des Konstruktionsvokabulars, sondern vor allem die Reduktion der Forschung auf eine Geste der Entlarvung. „Die Metapher der sozialen Konstruktion war einmal wertvoll, als man mit ihr noch provozieren konnte. Mittlerweile hat sie sich jedoch abgenutzt. [. . .] Ein allumfassender sozialer Konstruktionismus ist sowohl ziemlich langweilig als auch wirkungslos.“ (Hacking 2003, S. 23) Während sich Hacking primär auf sozialwissenschaftliche Studien bezieht, steht in Ferraris’ Manifest des neuen Realismus die Philosophie und insbesondere die Postmoderne im Zentrum. Trotz der unterschiedlichen Ausrichtung finden sich aber auffällig viele Ähnlichkeiten beider Argumentationen. Beide stimmen nicht nur darin überein, Kant zum wesentlichen Ausgangspunkt des Konstruktivismus zu machen. Sie betonen auch, dass sich die problematischen Entwicklungen erst im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts ergeben haben: „Kant mag zwar die Form gegossen haben, doch der Drang zur Konstruktion gehört dem zwanzigsten Jahrhundert an.“ (Hacking 1999b, S. 78) Wie es zu dieser Zuspitzung kam und welche

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ideengeschichtlichen oder theoriebezogenen Entwicklungen dem zugrunde lagen, bleibt in beiden Texten jedoch recht unbestimmt.5 Noch allgemeiner als Hacking betont Ferraris dabei, dass der Konstruktivismus im Anschluss an Kant letztlich als „Mainstream der neuzeitlichen Philosophie“ (Ferraris 2015, S. 55) begriffen werden kann. Kant hatte die Frage der Erkenntnis nicht auf das zu erkennende Objekt, sondern das erkennende Subjekt bezogen; zugespitzt in dem häufig zitierten Satz, „daß wir von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen“ (Kant 1974, B XVIII, S. 26). Damit entwirft er nach Ferraris eine Art Schablone des konstruktivistischen Denkens (Ferraris 2014a, S. 33, 35): „Ich glaube, dass der Konstruktionismus [. . .] den zentralen Zug der modernen Philosophie erfasst, der nicht einfach darin besteht, das Objekt in Korrelation mit dem Subjekt zu denken, sondern es als ein Ergebnis der Konstruktion des Subjekts zu verstehen.“ (Ferraris 2015, S. 55, Anm. 12) Mit der Umkehr der erkenntnistheoretischen Grundfrage bringe Kant damit „einen Prozess in Gang, der zu einem absoluten Konstruktionismus führt“ (Ferraris 2014a, S. 34).6 Obwohl er Kant eine maßgebliche Rolle zuweist, verortet Ferraris die Verabsolutierung des Konstruktivismus in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine These ist, dass erst die Postmoderne den Konstruktionsgedanken mit einem Relativismus verknüpft, der sich als Distanzierung von Wirklichkeit schlechthin äußert.7 Damit aber spitzt sie die konstruktivistischen Thesen weiter zu und sorgt dafür, dass jeglicher Anspruch auf Wahrheit und Objektivität (der bei Kant durch die apriorischen Kategorien des Verstandes und die Annahme des transzendentalen Subjekts gesichert wird) aufgelöst und ironisiert wird. Als symptomatisch für diese Entwicklung erachtet Ferraris bestimmte Sprachformeln, vor allem aber den extensiven Gebrauch von Anführungszeichen: „Die Postmoderne markiert den Eintritt der Anführungszeichen in die Philosophie: Die Wirklichkeit wird ‚Wirklichkeit‘, die Wahrheit ‚Wahrheit‘, die Objektivität ‚Objektivität‘“ (Ferraris 2014a, S. 18). Die 5

Der philosophiegeschichtlich naheliegende Verweis auf den Linguistic Turn bleibt in beiden Büchern aus. Im Zentrum steht bei Ferraris die Postmoderne, während es Hacking um bestimmte Gesten und Argumentationsmuster geht. Eine Genealogie des Konstruktivismus steht bei beiden nicht im Fokus. 6 Konstruktivismus und Konstruktionismus werden von Ferraris abwechselnd verwendet, eine begriffliche Unterscheidung trifft er jedoch nicht; beide beziehen sich auf die erkenntnistheoretische Disposition des modernen Denkens, die er mit Kant beginnen lässt. Während dieser Unterscheidung im Deutschen keine nennenswerte Bedeutung zukommt, spielt sie vor allem in der englischsprachigen Debatte eine wichtige Rolle: Der soziologische Konstruktivismus wird dort häufig als constructionism begriffen und vom constructivism abgegrenzt, der sich weitgehend auf psychologische und wahrnehmungstheoretische Überlegungen zur Konstruktion der Welt für ein Subjekt bzw. einen Beobachter bezieht. Bei Hacking (1999b, S. 80–81) wird constructivism auch stärker mit der erkenntnistheoretischen Differenz von Realität und Erscheinung in Verbindung gebracht. Vgl. hierzu auch Burr 1995, S. 1. 7 Ferraris’ Bild der Postmoderne lässt sich an zwei Zitaten verdeutlichen, die er im Text mehrfach heranzieht: Nietzsches gegen Kant formulierter Ausspruch „Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“ (Nietzsche 1988, S. 317) und Derridas Ausspruch „Ein Text-Äußeres gibt es nicht“ (Derrida 1974, S. 274). Beide Sätze betonen, dass wir es „niemals mit den Dingen an sich zu tun [haben], sondern im Gegenteil immer mit mittelbaren Phänomenen“ (Ferraris 2014a, S. 19).

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Anführungszeichen verweisen auf einen kulturellen Wandel, den „Sieg der Begriffsschemata über die Außenwelt“ (Ferraris 2014a, S. 19). Die typographische Geste der Anführungszeichen vollzieht so zugleich, was sie symbolisch ausdrückt: dass der Sprache eine fundamentale Rolle zukommt. Weil es hier vorwiegend um das Unbehagen am Konstruktivismus geht, sollen die Positionen im Einzelnen nicht weiter rekonstruiert werden. Sie interessieren hier deshalb, weil ihre Einwände nicht nur theoretisch begründet, sondern auch forschungspraktisch motiviert sind. Ihnen kommt trotz unterschiedlicher Motive und Theoriebezüge eine paradigmatische Stellung für mindestens vier verbreitete Einwände zu: Als erster Punkt kann die Befürchtung gelten, dass der Konstruktivismus droht, mit zunehmender Radikalisierung und Ausweitung zu einer inhaltsleeren Formel zu werden. Weil ein auf jegliche Phänomene ausgeweiteter Konstruktivismus nicht mehr imstande sei, unterschiedliche Realitätsgrade in Rechnung zu stellen, unterlaufe er sein eigentliches Forschungsprogramm. Auch die Betonung, dass Realität und Konstruktion nicht als Gegensätze zu begreifen seien, wie sie vor allem in sozialkonstruktivistischen Positionen anzutreffen ist, könne in dem Maße nicht mehr als Lösung dieses Problems begriffen werden, wie jegliche Realität und jegliche Gegenstände auf die gleiche Art und Weise behandelt würden. Ein zweiter Einwand betont, dass die emanzipative Wirkung des Konstruktivismus und das befreiende Moment der Kritik an Naturalisierungen und Essentialisierungen verschwinden, wenn jegliche Wirklichkeit bloß als Konstruktion gilt (Hacking 1999b, S. 16; Ferraris 2014a, S. 51–52).8 Ein dritter Einwand verweist darauf, dass die Generalisierung des Konstruktivismus zu einer tautologischen Forschung führen kann, die letztlich nur beweist, was sie epistemisch ohnehin bereits unterstellt: nämlich dass der untersuchte Gegenstand konstruiert ist. Vor allem Hacking kritisiert schließlich, dass konstruktivistische Forschung häufig nicht zu einem tieferen Verständnis sozialer Zusammenhänge beiträgt, sondern nur der Absicht folgt, den untersuchten Gegenstand infrage zu stellen und oft auch aus politischen oder ethischen Gründen zu relativieren. Und schließlich lässt sich ein vierter Punkt daraus ableiten, dass sowohl Hacking wie Ferraris dem exzessiven Gebrauch der These der Konstruktion der Wirklichkeit auch eine kontraproduktive und ermüdende Wirkung zuschreiben (Ferraris 2015, S. 52; Hacking 1999b, S. 14).

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Postkonstruktivistische Tendenzen: Sechs Themengebiete

Auch wenn die Kritik von Hacking nicht nur und die von Ferraris nicht einmal primär der Soziologie gilt, lässt sie sich ohne größere Probleme hierauf übertragen. Die Präsenz postkonstruktivistischer Positionen in Sozial- und Kulturtheorien wird aber noch besser erkennbar, wenn man das darin formulierte Unbehagen stärker mit 8

Dieser Aspekt ist verbunden mit dem politischen Argument, dass eine antirealistische, relativistische Haltung jegliche Möglichkeit von Kritik unterläuft (Ferraris 2014a, S. 31; s. auch Hacking 1999b, S. 16).

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dem Linguistic bzw. dem Cultural Turn in Verbindung setzt als Hacking und Ferraris dies tun. Weil konstruktivistische Positionen in der Soziologie untrennbar mit sprach- und kulturtheoretischen Einsichten verknüpft sind, äußert sich das Unbehagen am Konstruktivismus hier oftmals auch als Gegenbewegung zu dieser in den 1960er-Jahren eingeleiteten Wende der Sozial- und Kulturtheorien. Die Forderung nach einer Anerkennung der „Grenzen der sozialen Konstruktion“ ist damit häufig zugleich eine Kritik an der „Grenzenlosigkeit des kulturwissenschaftlichen Zugangs“ (Knoblauch 2008, S. 672). Dabei ist die postkonstruktivistische Tendenz in der Soziologie zugleich stärker an den Forschungskonjunkturen des Faches ablesbar.9 Weil es sich um eine Kritik handelt, die an sehr unterschiedlichen Gegenständen und Themen formuliert wird, lässt sich das Unbehagen am Konstruktivismus allerdings nicht auf ein Gebiet des Faches beschränken; es ist zumindest potenziell überall dort anzutreffen, wo es um Phänomene geht, die mit sprachtheoretischen oder bedeutungszentrierten Konzepten unzureichend oder nur umständlich adressiert werden können. Die jüngeren Debatten in den Sozial- und Kulturwissenschaften zeigen, dass sich zahlreiche Themengebiete ausmachen lassen, in denen sich solche Tendenzen entwickelt haben. Gemeinsames Kennzeichen dieser Debatten ist, dass sie den Konstruktivismus nicht bloß für ein thematisches Versäumnis im Sinne der Vernachlässigung bestimmter Themen kritisieren, sondern Phänomene untersuchen, die ein grundsätzliches theoretisches Problem für dieses Forschungsprogramm aufwerfen. Auch wenn sich hieraus noch kein allgemeiner Trend hin zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Kulturtheorie synthetisieren lässt, ähneln sich nicht nur die Argumentationsfiguren, sondern zum Teil auch die Theoriereferenzen dieser Entwicklungen. So sticht nicht nur die Ausrufung weiterer Turns (Material, Iconic, Sensory, Ontological, Spatial, Vital, Performative Turn etc.) oder die Rhetorik der Wiederkehr vergessener Phänomene oder Theorien ins Auge. Auffällig ist auch die Ähnlichkeit der Referenzpunkte dieser Debatten. Mindestens sechs Themengebiete können hierbei als Indiz für eine postkonstruktivistische Tendenz in den Kulturwissenschaften gelten. (1) Erstens wird die Differenz von Leib und Körper seit einigen Jahren zur Problematisierung einer sprach- und soziozentrischen Behandlung des Körpers in Anschlag gebracht. In Absetzung von konstruktivistischen Theorien des Körpers10 erscheint der Leib als Einspruchsinstanz gegen oder zumindest als erhebliche Herausforderung für einen sprach- bzw. diskurstheoretischen und kognitivistischen Konstruktivismus (Lindemann 1992; Knoblauch 2005, S. 96). Im Zentrum steht die Kritik an einer linguistisch-kognitivistischen Variante (oder Verengung) des Konstruktivismus, sodass sich relevante philosophische Bezugspunkte dieser Debatte neben der Lebensphilosophie (Bergson) vor allem 9

Daraus folgt nicht, dass sich die postkonstruktivistische Kritik am Konstruktivismus nur hieran zeigt. Eine genuin theorieorientierte Diskussion findet sich etwa in Renn 2006. 10 Eine Diskussion der Reichweite des konstruktivistischen Ansatzes in Bezug auf den Körper findet sich in Sarasin 1999 und eine stärkere Problematisierung dieses Verhältnisses in dessen jüngeren Schriften (Sarasin 2007). Vgl. hierzu auch Gugutzer 2015, insb. S. 49–50.

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in der Philosophischen Anthropologie (Plessner) und der Phänomenologie (Merleau-Ponty, Schmitz) finden. (2) Eng verbunden mit der Hinwendung zum Leib sind zwei weitere Themengebiete. Ein erstes kreist um die Frage der Affekte. Indem neuere Ansätze in diesem Feld Affekte nicht nur als Gegenprinzip zu Kognition und Rationalität bestimmen, sondern Affektivität als allgemeineren Grundbegriff von Sozialität vorschlagen (Seyfert 2011, S. 97–123), halten sie dem Konstruktivismus kein thematisches Versäumnis, sondern eine systematische Blindheit vor. Sie betonen, dass die Fixierung auf Sprache und Kognition per se zu einem einseitigen Verständnis von Kultur führt. Neuere Affekttheorien, die neben philosophischen Referenzen (Spinoza, Deleuze) auch auf Gabriel Tardes (wiederentdeckte) Nachahmungstheorie und Soziologie der Masse Bezug nehmen (Tarde 2015) und zugleich hohen Anschluss an die in der Soziologie ebenfalls wiederentdeckten Begriffe der Atmosphäre und der Stimmung besitzen, richten sich damit sowohl gegen rationalistische und kognitivistische Handlungs- und Sozialtheorien wie auch gegen einen sprach- und diskurstheoretischen Konstruktivismus (Massumi 1995). (3) Ein zweites mit der Frage des Leibes verbundenes Themengebiet betrifft eine allgemeine Soziologie und Philosophie (oder Ästhesiologie) der Sinne (Fischer 2015), die sich in den letzten Jahren vor allem im englischsprachigen Raum entwickelt hat. In Verbindung mit empirischen Forschungen ist es hier in soziologischer Hinsicht zu zwei Fokussierungen gekommen: einer Beschäftigung mit den unter der Dominanz des (auditiven und visuellen) Sprach- und Textparadigmas marginalisierten Sinnen (taktil, olfaktorisch, gustatorisch) und einer allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Status der Sinneserfahrung für Sozialität. Die bereits zum „sensory turn“ oder gar zur „sensorial revolution“ (Howes 2008; Bello und Koureas 2010) der Kulturtheorie ausgerufene Forschung richtet sich vor allem gegen die Dominanz textualistischer Ansätze und problematisiert so ein auf Sprache, Diskurse und Kognition reduziertes Konstruktivismusmodell. Obwohl sie auf „eine Welt jenseits der Zeichen“ zielt, wie es in Michel Serres’ programmatischer Schrift Die fünf Sinne heißt (Serres 1999, S. 264), und häufig für einen neuen Empirismus plädiert, tritt die Forschung meist eher für eine Erneuerung denn eine Abkehr vom Konstruktivismus ein (Vannini et al. 2012; Howes 2005). (4) In der Kritik am Sprachparadigma treffen sich diese Debatten auch mit neueren medientheoretischen Diskussionen zur spezifischen Rolle und Wissensform von Bildern. Kennzeichnend hierbei ist, dass der von W. J. T. Mitchell und Gottfried Boehm in den 1990er-Jahren ausgerufene Pictorial (Mitchell 1995, S. 11–34) bzw. Iconic Turn (Boehm 1994, S. 13) nicht nur als Theorieposition, sondern auch als Zeitdiagnose über eine nicht mehr schrift-, sondern bildzentrierte Kultur der Gegenwart verstanden werden muss. Trotz der Kritik am dominanten Sprach- und Textmodell ist es strittig, ob es sich bei dieser Wende überhaupt um ein Alternativmodell zum Linguistic Turn handelt (Böhme 2004, S. 27–34). Besonders Mitchell betont, dass die Wende zum Bild aus den Prämissen der Sprachtheorie selbst erwachsen ist: „If there is a linguistics of the image, there is

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also an ‚iconology of the text‘ which deals with such matters as the representation of objects, the description of scenes, the construction of figures, likenesses, and allegorical images, and the shaping of texts into determinate formal patterns.“ (Mitchell 1995, S. 112) Die These der Komplementarität von Sprachund Bildtheorie erzeugt damit letztlich keine grundsätzliche Distanzierung von konstruktivistischen Positionen. Neuere Bildtheorien betonen aber, dass sprach-, kommunikations- und zeichentheoretische Konzepte allein außerstande sind, die Eigenlogik und besondere Wirkungsweise von Bildern zu erfassen. Im Sinne der bereits von Vilém Flusser formulierten These der unterschiedlichen Logik von Bild und Schrift (Flusser 1989, 1996, S. 50–51) zielt der Pictorial Turn, so Mitchell, daher auf „a postlinguistic, postsemiotic rediscovery of the picture as a complex interplay between visuality, apparatus, institutions, discourse, bodies, and figurality“ (Mitchell 1995, S. 18). (5) Eine der Betonung des Bildlichen ähnliche Argumentation findet sich auch in Bezug auf den Raum, der seit einigen Jahren zum Grundbegriff der Sozial- und Kulturwissenschaften erhoben wird (Löw 2001; Schroer 2006). Das postkonstruktivistische Element dieser Positionen liegt weniger in der These der Raumvergessenheit der Sozial- und Kulturtheorie oder der Annahme, „daß man zu schnell mit dem Raum fertig zu sein glaubte“ (Serres 1993, S. 210). Auch hier richtet sich die Kritik vielmehr auf eine epistemisch begründete Unzulänglichkeit im Sinne einer systematischen Unsichtbarmachung des Raums. Der eigentümlichen Raum- und Ortlosigkeit der soziologischen Theoriebildung wird entgegengehalten, dass soziale Prozesse notwendig raumgebunden sind und ohne eine Berücksichtigung der räumlichen Dimension auch nicht hinreichend verstanden werden können. Konstruktivistische Positionen werden hier dafür kritisiert, dass sie die zentrale Rolle des räumlichen Aspekts bei der Konstruktion von Realität systematisch ignorieren oder zumindest unterschätzen. Zugleich kann die stärkere Aufmerksamkeit für Fragen des Raums auch zeitgeschichtliche Plausibilität beanspruchen. Sie schließt nicht nur an Michel Foucaults Prognose aus dem Jahr 1967 an – „Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte [. . .]. Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen.“ (Foucault 2005, S. 931) –, sondern gewinnt auch durch die Rolle geographischer Faktoren im Prozess der Globalisierung und angesichts der ökologischen Krise an Bedeutung. Während sich in Bezug auf die Globalisierung zeigen lässt, dass sie gerade nicht auf einen Bedeutungsverlust des Raumes hinausläuft, sondern zur Reterritorialisierung und einer neuen Macht des Raumes führt (Sassen 2013, 2008, S. 621–628), lenkt die ökologische Krise den Blick wieder stärker auf territoriale bzw. geographische Fragen und die Bedeutung des Bodens (Latour 2016a) und bereitet so einer neuartigen Geosoziologie (Schroer 2015) das Feld. (6) Mit der These, dass Räumlichkeit nicht bloß das Ergebnis sprachlicher Unterscheidungen, kommunikativer Akte oder kognitiver Zuschreibungen ist, sondern stets auch als Voraussetzung und Produkt materieller Operationen zu begreifen ist, lenken die Arbeiten der Raumsoziologie bereits den Blick auf Materialitäten. In diesem Themenkreis rund um Materialität, Dinge, Artefakte

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und Technik ist in den letzten Jahren auch die deutlichste postkonstruktivistische Tendenz zu beobachten. Einen wesentlichen Anteil hat hieran die AkteurNetzwerk-Theorie (ANT), vor allem bei Bruno Latour. Im Gefolge der ANT, der Science and Technology Studies und anderer Ansätze wurde hier nicht nur von einer Wiederkehr der Dinge gesprochen (Balke et al. 2012), sondern auch ein Material bzw. Ontological Turn ausgerufen (Sismondo 2015; Folkers 2014). Relevant in postkonstruktivistischer Hinsicht ist auch hier wieder, dass die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung des Materiellen mehr ist als eine Kritik der Artefakt- und Technikvergessenheit der klassischen Soziologie und Philosophie (Eßbach 2001). Insbesondere die philosophischen Debatten, die unter den Stichworten Neuer Materialismus (Dolphijn und Tuin 2012), Neue oder Objektorientierte Ontologie (Pickering 2007; Harman 2013), Agentieller oder Spekulativer Realismus (Barad 2012; Brassier et al. 2007) geführt werden, fordern den Konstruktivismus auch grundsätzlich heraus: „The past two decades have seen a remarkable development in the social sciences and the humanities: the rise of a ‚new materialism‘ [. . .]. Theoretical perspectives and empirical studies that focus on the diverse and plural forms of materiality are replacing or complementing research on social constructions, cultural practices and discursive processes.“ (Lemke 2015, S. 490) Weil gerade diese Positionen großen Anteil an der Problematisierung des Konstruktivismus haben, kommen sie im folgenden Abschnitt in der Auseinandersetzung mit Latour und Barad noch zur Sprache. Auch wenn es kaum möglich ist, über die Wirkungen dieser Positionen auf die Soziologie insgesamt Auskunft zu geben, lassen die genannten Debatten eine allgemeine postkonstruktivistische Tendenz erkennen. Sie stellen auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Diskussionskontexten ein konstruktivistisches Selbstverständnis der Sozial- und Kulturwissenschaften infrage, dem als genuine Objektbereiche und als primäre Erklärungsgrößen die Instanzen der Sprache, des Diskurses oder der Bedeutung gelten. In den genannten Debatten tritt damit nicht nur ein gewisses Unbehagen an einem konsequent durchgesetzten Konstruktivismus zutage, die Kritik gilt auch fast unisono den Einseitigkeiten einer solchen Position. Ungeachtet ob diese als sprachtheoretische, soziozentrische, bedeutungsfixierte oder kognitivistische Engführung beschrieben wird, findet sich dabei stets ein ähnliches Argumentationsmuster. Denn auch wenn die thematisierten Phänomene häufig als eine Art blinder Fleck des Konstruktivismus adressiert werden, geht es nicht zwingend um eine grundsätzliche Abkehr vom Konstruktivismus. Ebenso wenig aber läuft die Argumentation darauf hinaus, den Radius der bestehenden konstruktivistischen Forschung bloß um diese Themengebiete zu ergänzen. Betont wird vielmehr, dass die genannten Phänomene ein wesentliches theoretisches Problem für einen kulturalistischen oder sprachtheoretischen Konstruktivismus aufwerfen. Genuin postkonstruktivistisch ist an dieser Kritik dann, dass die Problematisierung des Konstruktivismus nicht auf eine schlichte Rückkehr zu einem Realismus zielt, der von einer unvermittelten Erkenntnis der Welt oder einer vorsprachlichen Wirklichkeit ausgeht. Die Rede von einem realistischen Konstruktivismus, die sich in post-

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konstruktivistischen Positionen häufig finden lässt, zielt vielmehr darauf, die als problematisch empfundene Trennung von Realität und Konstruktion im Ganzen produktiv zu überwinden – ohne das hierin zutage tretende und durch den Konstruktivismus aufgeworfene Problem zu ignorieren. Was dies konkret heißt und welche Konsequenzen hieraus für Kultursoziologie und -theorie gezogen werden können, zeigt sich, wenn man den Blick auf einzelne, prototypische Autor_innen dieser Diskussion lenkt.

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Postkonstruktivismus als entgrenzter Konstruktivismus

In einem ersten Schritt lässt sich der Postkonstruktivismus als Absatzbewegung und Kritik an einem entleerten und als zunehmend einseitig wahrgenommenen Konstruktivismus begreifen. Wie gerade ausgeführt hat dies den Vorteil, eine Tendenz der philosophischen und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung sichtbar werden zu lassen, die sonst – und auch bei der Beschränkung auf einen Ansatz allein – aus dem Blick geraten würde. Für eine genauere begriffliche Bestimmung wäre das allerdings noch zu wenig. Dafür ist es unabdingbar, nach der Art und Weise des Anschlusses an konstruktivistische Positionen zu fragen. Eine solche qualitativ konkretere Bestimmung findet sich etwa in dem Vorschlag von Joachim Renn, Christoph Ernst und Peter Isenböck zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Medientheorie (Renn et al. 2012b). Sie begreifen als postkonstruktivistisch solche Positionen, „die den Reflexionsstand konstruktivistischer Positionen aufgrund einer wachsenden Unzufriedenheit mit den Erträgen eines konsequenten Konstruktivismus nicht einfach regressiv unterbieten wollen, sondern alternative Absetzungen von den ‚naiv‘ realistischen Vorlagen, die konstruktivistische Einwände provozierten, im Sinne haben“ (Renn et al. 2012b, S. 13). Diese Bestimmung ist durchaus hilfreich, weil sie betont, dass die genuin postkonstruktivistische Distanzierung vom Konstruktivismus nicht zur Wiederauflage eines vorkonstruktivistischen Realismus aufruft. Problematisch wird dieser begriffliche Vorschlag aber deshalb, weil er schließlich so enggeführt wird, dass er nur solche Positionen einbezieht, die den Gegensatz von Konstruktivismus und Realismus bzw. den Unterschied von Epistemologie und Ontologie über eine erneute Reflexion auf die Erkenntnis- und Geltungsbedingungen von Wissen adressieren, also epistemologisch zum Gegenstand machen. Wenn es aber im Postkonstruktivismus darum gehen soll, „die Reflexion auf die Grenzen der Reflexion in die Phase eines weiteren Reflexionsschrittes zu überführen“ (Renn et al. 2012b, S. 13), dann ist nicht ausgeschlossen, dass es sich hierbei lediglich um eine Weiterführung bzw. Erneuerung des Kantianismus handelt. Da der Anschluss an Kant im Sinne der kategorischen Hinwendung zu den Geltungsbedingungen des Wissens bei vielen postkonstruktivistischen Autor_innen aber gerade problematisiert wird, lässt sich ein solches Element nur bedingt als Kriterium einer Bestimmung des Postkonstruktivismus heranziehen. Genaueren Aufschluss bietet der nochmalige Rückbezug auf die Argumentationen von Hacking und Ferraris. Wie ausgeführt ist für diese kennzeichnend, dass sie gegen die Vereinseitigungen des konstruktivistischen Forschungsprogramms eintre-

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ten und dabei durchaus prototypisch das Unbehagen hieran zum Ausdruck bringen. Inhaltlich treten sie dabei allerdings für eine Position ein, die nicht auf eine Reformulierung, sondern eine partielle Zurücknahme des Konstruktivismus hinausläuft. Gegen den Absolutheitsanspruch der Epistemologie und einen subjektivistischen bzw. linguistischen Konstruktivismus führen beide ontologische Differenzierungen ein, indem sie mit der „Distinktion zwischen sozialen und natürlichen Gegenständen“ (Ferraris 2014a, S. 58) operieren oder allgemein zwischen verschiedenen Arten bzw. Graden von Realität unterscheiden. Ferraris spricht hier von einem „moderaten Konstruktionismus, der nicht mit realistischen Anschauungen kollidiert“ (Ferraris 2014a, S. 60), Hacking von einem „Entitäten-Realismus“ (Hacking 1999b, S. 192, Anm. 11). Gemeinsam ist beiden trotz aller Differenzen in den Argumentationsweisen damit nicht nur, dass sie die Reichweite des Konstruktionsgedankens einschränken, sondern auch auf welche Art sie dies tun: Sie unterscheiden im Sinne eines Objektrealismus verschiedene Klassen von Gegenständen, die sie als unterschiedlich real vorstellen: „natural objects that exist in space and time independently of subjects, social objects that exist in space and time dependently on subjects, and ideal objects that exist outside of space and time independently of subjects.“ (Ferraris 2014b, S. 52; ähnlich: Hacking 1999b, S. 94–95)11 Dieses Argument erlaubt nun deshalb eine genauere Bestimmung des Postkonstruktivismus, weil es genau diese Vorstellung und die darin enthaltenen Annahmen sind, die im Postkonstruktivismus problematisiert werden. Obwohl dort auch ähnliche Einwände gegenüber den Engführungen des Konstruktivismus artikuliert werden, zeichnet sich der Postkonstruktivismus gerade dadurch aus, dass er der Option auf eine – und sei es auch nur partielle – Rückkehr zum klassischen, vorkonstruktivistischen Realismus entsagt. Damit verbunden ist es gerade die bei Hacking und Ferraris wesentliche Annahme der Unterscheidbarkeit bzw. Unabhängigkeit einzelner, dinghafter Entitäten, die im Fokus der Kritik steht. Am besten verdeutlichen lässt sich dies an Bruno Latour, der auch bereits häufig zum Hauptprotagonisten des Postkonstruktivismus erklärt wurde (Kneer 2009; Degele und Simms 2004).12 In seiner in zahlreichen Schriften präsenten Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus formuliert Latour in gewissem Sinne zunächst eine ähnliche Kritik an den Einseitigkeiten und dem Leerlaufen dieses Ansatzes (Latour 2003, 2007b). Entscheidend für seine Position ist aber, dass sie nicht auf eine Einschränkung, sondern auf eine weitere Entgrenzung und Radikalisierung des Konstruktivismus hinausläuft. Ohne dies hier ausführlich rekonstruieren zu können,13 sei lediglich auf drei Punkte hingewiesen. Erstens geht das Festhalten am Konstruktionsbegriff bei Latour mit einer konzeptionellen Reformulierung einher. Konstruktion wird hierbei 11

Ich zitiere Ferraris’ Manifest an dieser Stelle aus dem Englischen, weil die dritte Kategorie der ideal objects in der deutschen Ausgabe fälschlicherweise ebenfalls als soziale Gegenstände übersetzt ist, wodurch die Klassifizierung missverständlich wird (Ferraris 2014a, S. 57). 12 Zusammen mit Karen Barad dient er mir im Folgenden auch deshalb zur Veranschaulichung des Postkonstruktivismus, weil beide sich genau an dieser Stelle explizit von Hacking distanziert haben (Latour 2003; Barad 2007, S. 54 ff.). 13 Ausführlich dazu Gertenbach 2015; Laufenberg 2011.

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nicht als Repräsentation oder Vorstellung, sondern als immer schon materieller Vollzug begriffen. In Anlehnung an die architektonische Bedeutung von „Konstruktion“ ist das Konzept synonym mit Stabilisierung und Fertigung (Latour 2003), weshalb es sich nach Latour prinzipiell um einen realistischen Konstruktivismus handelt. „Eine Konstruktion ist also keine Vorstellung aus dem Geist oder aus der Gesellschaft über ein Ding, einen Gegenstand, eine Tatsache, sondern der Eingriff einer bestimmten Art von Welt in eine bestimmte Art von Kollektiv. [. . .] Aus dieser Sicht ist der ‚Sozialkonstruktivismus‘ kein Zweig des Konstruktivismus, sondern die Ablehnung jeder Konstruktion, eine Ablehnung, die so strikt ist wie die der realistischen Philosophen. [. . .] wir müssen uns zwischen zwei Positionen entscheiden: zwischen einer, in der Konstruktion und Realität Gegensätze sind, und einer anderen, in der Konstruktion und Realisierung Synonyme sind.“ (Latour 2008a, S. 21, ähnlich: 2007a, S. 158)

Zweitens betont Latour, dass es niemals so etwas wie eine bloß diskursive, kulturelle oder soziale Konstruktion geben kann (Latour 2002a, S. 34), weil selbst in den vermeintlich einfachsten Fällen niemals nur ein Faktor allein beteiligt ist. Wenn Konstruktionen aber niemals nur diskursiv, sozial, psychisch usw. sind, betrifft dies auch den Erklärungsanspruch des Faches: rein sprachtheoretische, kognitivistische, psychologische oder kulturalistische Ansätze sind wie auch alle Versuche einer sozialen Erklärung strukturell unterkomplex und einseitig (Latour 1988, S. 40). Damit eng verbunden betont er schließlich drittens, dass die (an Hacking und Ferraris veranschaulichten) Bemühungen um eine ontologische Klassifizierung verschiedener Objekte oder Wirklichkeiten ins Leere laufen. Sie verfehlen sowohl in theoretischer als auch zeitdiagnostischer Hinsicht die eigentliche Pointe des Konstruktivismus, die gerade ein Argument für seine konsequente Fortführung (im Sinne Latours) liefert. Denn sie schlagen die Klassifizierung vermeintlich unabhängiger und eindeutig abgrenzbarer Objekte oder Wirklichkeitsbereiche genau zu einem Zeitpunkt vor, als eine solche Unterteilung durch die zunehmenden Verflechtungen und Hybridisierungen von Natur und Kultur immer weniger möglich ist (Latour 2008b, 2016b, S. 65). Anstatt den Konstruktivismus auf sprachliche Repräsentation, Bedeutung, Sinn oder Diskurs zu limitieren, gelte es, so Latour, ihn zu reformulieren, um diese immense Ausweitung der Verschränkungen von Natur, Gesellschaft, Technik, Wissenschaft etc. überhaupt in den Blick nehmen und den Verkettungen der zahlreichen und stets heterogenen Materialien folgen zu können. Latour zieht aus diesen Annahmen die Konsequenz, dass der Konstruktivismus nur dann sinnvoll weitergeführt werden kann, wenn er nicht von den Dualismen von Welt/Sprache, Subjekt/Objekt, Natur/Kultur, Realität/Repräsentation usw. ausgeht, sondern seine Aufmerksamkeit auf die Vermittlungen und den konkreten Vollzug der gemeinsamen Konstruktion der Welt lenkt (Latour 2002c). Eine dieser Wendung sehr ähnliche Argumentation findet sich bei der Philosophin und Physikerin Karen Barad, die hier als zweite prototypische Position des Postkonstruktivismus begriffen wird. Im Kern des von ihr vorgeschlagenen Agentiellen Realismus (Barad 2012) steht die Kritik an der Überbetonung der Sprache:

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Analog zu Latour besteht ihr Vorschlag nun nicht darin, diskursive oder sprachtheoretische Ansätze auf bestimmte Bereiche der Wirklichkeit zu limitieren (Äußerungen, Begriffe, Metaphern, Ideen o. Ä.), sondern ein Modell vorzuschlagen, in dem Materialität und Diskurs zusammen gedacht werden können (ohne aufeinander reduzierbar zu sein). Als zentrales Konzept hierbei fungiert der Begriff der Intraaktivität, der im Unterschied zum Konzept der Interaktivität die Unterscheidungen von Subjekt/Objekt und Materialität/Diskurs von vornherein unterlaufen soll (Barad 2012, S. 19 f.; Hoppe und Lemke 2015, S. 263). Das Ergebnis besteht so auch bei Barad darin, an Relationalitäten und Vermittlungen anzusetzen, diese aber nicht auf die Frage der Erkenntnis zu begrenzen, sondern hieraus eine neuartige relationale Ontologie zu entwickeln. Die Grundzüge des Postkonstruktivismus aus dem Kontrast zwischen Latour und Barad auf der einen und Hacking und Ferraris auf der anderen Seite zu rekonstruieren, hat trotz der Gefahr übermäßiger Simplifizierung den Vorteil, ein bestimmtes Argumentationsmuster dieser Position sichtbar werden zu lassen. Denn es wird so deutlich, dass hier trotz allem eine Art Fortsetzung des Konstruktivismus mit anderen Mitteln vorschlagen wird. Damit begibt sich der Postkonstruktivismus in Differenz zu Ansätzen, die wie Hacking und Ferraris eher auf eine Erneuerung des klassischen Realismus hinauslaufen.14 Er zeichnet sich dadurch aus, dass er dem Dualismus von realen Entitäten und sprachlichen, subjektiven oder kulturellen Repräsentationen ebenso skeptisch gegenübertritt wie den Versuchen einer säuberlichen Trennung verschiedener Objektklassen. Der inhaltliche Kern dieser Positionen ist, dass die Differenz von Konstruktion und Realität konzeptionell zurückgewiesen und programmatisch unterlaufen wird. Obwohl dieses Ziel unterschiedlich formuliert wird und bestenfalls in ein heterogenes Forschungsfeld mündet, finden sich einige thematische und argumentative Nähen dieser Positionen, die hier deshalb abschließend noch genannt werden sollen, weil an ihnen der Bezug zur kultursoziologischen Forschung ablesbar ist. Insofern das Interesse an einer neuen Ontologie, die sich stärker mit dem Problem der Materialität beschäftigt, gegen die neuzeitliche Priorisierung der Epistemologie gerichtet ist, spielen erkenntnistheoretische Fragen in dieser Debatte eine größere

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Dies gilt etwa für einzelne Autoren des sogenannten Neuen Realismus, die zum Teil den Eindruck erwecken, wieder von Realität sprechen zu wollen, ohne die Zumutungen des Linguistic und Cultural Turns in Rechnung stellen zu müssen. Selbst wenn sie zum Teil geradezu prototypisch das Unbehagen am Konstruktivismus zum Ausdruck bringen, gründet sich die Kritik vielfach auf ein triviales oder auch indiskutabel naives Verständnis des Konstruktivismus. In Unkenntnis (oder einem Ignorieren) der wesentlichen Positionen in diesem Feld vertritt vor allem Paul Boghossian eine derart triviale Form des Realismus, dass sie zur sachlichen Debatte um diese Fragen nichts beiträgt (Boghossian 2013; zur Kritik Schmidt 2015).

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Bedeutung als es dem eigentlichen Programm entspricht. Charakteristisch hierbei ist aber, dass die Positionen (im Unterschied zur klassischen Erkenntnistheorie) sich selbst stark an den experimentellen Naturwissenschaften orientieren oder sogar direkt hieraus entstammen. Während Latour die Erkenntnisse der Science Studies zum Ausgangspunkt der Problematisierung und Reformulierung der Soziologie genommen hat (Gertenbach 2016), gründet Barad ihre Argumentation direkt auf ihre Beschäftigung mit der theoretischen Physik von Niels Bohr. Ob als Wissenschaftssoziologe oder promovierte Physikerin, beide treten damit für ein anderes Verhältnis zu den Naturwissenschaften ein. Dies ist aus zwei Gründen bezeichnend: Erstens weil die postkonstruktivistische Kritik an einem kulturalistischen oder soziozentrischen Konstruktivismus häufig an der Unterscheidung von Natur und Kultur ansetzt und die damit verbundene Trennung von Kultur- und Naturwissenschaften problematisiert. Und zweitens weil sich hiermit ein wichtiger Wandel im Vergleich zu vielen Positionen des klassischen Konstruktivismus vollzieht. Denn während die konstruktivistische Beschäftigung mit den Naturwissenschaften vielerorts auf eine Relativierung des Wissensanspruchs dieser Fächer hinauslief und so dem Modus der Kritik oder der „Entlarvung“ (Hacking) folgte, treten postkonstruktivistische Positionen häufig gegen einen solchen Relativismus und gegen die Fortführung der klassischen Trennung von Natur- und Kulturwissenschaften ein. Anzutreffen ist diese Haltung auch in den Debatten um einen Neuen Materialismus, Spekulativen Realismus oder Neue Ontologien (Pickering 2007). So nimmt etwa Quentin Meillassoux die Erkenntnisse der Astrophysik, Geologie und Paläontologie über das den Menschen sowie Bewusstsein überhaupt vorgängige, sogenannte anzestrale Zeitalter zum Ausgangspunkt einer Befragung der neuzeitlichen Erkenntnistheorie (Meillassoux 2008, S. 24–45, 2013, S. 25–40). In einem durchaus postkonstruktivistischen Sinn argumentiert er mit Rekurs auf die experimentellen Naturwissenschaften für eine Abwendung von der sogenannten korrelationistischen Philosophie (Meillassoux 2008, S. 27–28). Eine weitere Problematisierung der Unterscheidung von Natur und Kultur geht neben der Philosophie auch von anthropologisch-ethnologischen Forschungen aus, sie findet sich prominent etwa bei Eduardo Viveiros de Castro oder Philippe Descola (Viveiros de Castro 2015; Descola 2011). Trotz der unterschiedlichen Argumentationen ist diesen Positionen gemeinsam, dass sie ein bestimmtes Verständnis von Kultursoziologie infrage stellen. Denn sie kritisieren Annahmen, die im Kernbestand des Faches fest verankert sind.

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Die postkonstruktivistische Herausforderung der Kultursoziologie

Durch die Heterogenität der kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft ist es dort zumindest in Teilen bereits zu einer Diskussion der genannten Positionen gekommen (Moebius und Fischer 2014). Ebenfalls haben die weiter oben stichpunktartig angeführten Themenbereiche schon eine spürbare Resonanz im Fach gefunden. Weil es sich dabei aktuell aber lediglich um eine Tendenz der kulturwis-

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senschaftlichen Begriffsbildung handelt, ist noch offen, welche Bedeutung dem Postkonstruktivismus beigemessen werden muss. Genauer benennen lässt sich jedoch die Herausforderung, die von diesen Positionen für die gegenwärtige Kultursoziologie ausgeht. Denn selbst wenn es sich dabei zum Teil um abstrakte philosophische Debatten handelt, wird doch erkennbar, dass sie im Kern gegen bestimmte Ausprägungen des Linguistic und Cultural Turns gerichtet sind und auf eine Zurückweisung der kulturalistischen, textualistischen oder mentalistischen Konstruktivismen hinauslaufen. Dass gerade die deutsche Kultursoziologie hiervon betroffen ist, zeigt ein Blick auf einige bis heute prägende Grundannahmen des Faches. Die seit den 1970er-Jahren vorangetriebene Neubegründung der Kultursoziologie speiste sich aus der Kritik an einem strukturtheoretischen Begriff von Gesellschaft, dem sie einen das Soziale fundierenden Begriff der Kultur entgegenstellte. Charakteristisch hierfür ist, dass das Kulturelle nicht als Bereich, sondern als Aspekt jeglicher Wirklichkeit begriffen wird und im Anschluss an Weber und Simmel auf die Kernfrage der kulturellen Bedeutung bezogen wird (Gertenbach 2014). Diese Begründung ist mit dem Cultural Turn schließlich deutlicher in eine sprach- und symboltheoretische Fassung übersetzt worden. Eine gemeinsame Basis dieser Positionen besteht in der Betonung des Symbolischen, weshalb sie sich schon an Ernst Cassirer, einem frühen Klassiker der Kulturtheorie, veranschaulichen lassen, der den Menschen konstitutiv in ein symbolisches Universum gestellt sieht: „Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ‚Symbolnetz‘ oder Symbolsystem bezeichnen können.“ (Cassirer 1990, S. 49) Für Cassirer hat dieser anthropologisch begründete Eintritt ins Symbolische weitreichende Folgen: „Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten; er kann sie nicht mehr als direktes Gegenüber betrachten. Die physische Realität scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun.“ (Cassirer 1990, S. 50) Ähnlich wie Helmuth Plessner mit dem Begriff der Exzentrischen Positionalität begründet sich für Cassirer hierin eine konstitutive Distanziertheit des Menschen zur Welt, eben weil „er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.“ (Cassirer 1990, S. 50) Obwohl die Relevanz des Symbolischen hier aus der Anthropologie heraus entwickelt wird, nimmt sie geradezu prototypisch eine spätere Grundannahme der Kulturtheorien vorweg, sofern diese – wie Andreas Reckwitz rekonstruiert hat – auf einen bedeutungszentrierten Kulturbegriff hinauslaufen. Kulturtheorien zielen in diesem Sinne auf eine „Ebene – häufig unbewusster oder vorbewusster – symbolisch-sinnhafter Regeln [. . .], die die Zuschreibung von Bedeutung gegenüber Gegenständen in der Welt und ihr Verstehen regulieren und deren paradigmatischer Fall die Semantik der Sprache ist“ (Reckwitz 2003, S. 294). Aus einer solchen Perspektive heraus interessiert sich die Kultursoziologie dann primär für „kollektiv geteilte Wissensordnungen, Symbolsysteme, kulturelle Codes oder Sinnhorizonte“ (Reckwitz 2003, S. 294), sodass in das

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Gesichtsfeld der Kultursoziologie erst gerät, was bedeutsam bzw. sinnhaft ist. Indem der hier einzig relevante Ausschnitt der Welt aber bestimmt wird „über sinnhafte Wissensordnungen, über kollektive Formen des Verstehens und Bedeutens, durch im weitesten Sinne symbolische Ordnungen“ (Reckwitz 2008, S. 107), folgt daraus, dass der spezifische Wirklichkeitsbereich der Kultur einer, wie es bereits bei Weber heißt, „sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (Weber 1988, S. 180) gegenübersteht.15 Die durch den Postkonstruktivismus formulierte Herausforderung für die Kultursoziologie besteht nun darin, dass sie die Priorisierung des Symbolischen problematisiert. Prototypisch kommt dies in den Positionen zum Ausdruck, die für ein anderes Verständnis des Materiellen eintreten. Charakteristisch ist hierbei wie im vorigen Abschnitt bereits angedeutet, dass nicht die Tragweite des Symbolischen als solches infrage gestellt wird, sondern die Tendenz zur Hypostasierung und alleinigen Konzentration auf diese Dimension. Kritisiert wird, dass Materialität nicht hinreichend adressiert werden kann, weil sie ausschließlich vom Symbolischen her gedacht wird. Indem das Materielle bestenfalls als eine symbolisch aufgeladene, selbst aber stumme Substanz in Betracht kommt, erscheint es damit als im wörtlichen Sinn unbedeutend und kultursoziologisch irrelevant (Gertenbach 2015, S. 107–138). Auch Positionen, die Materialität als formbar konzipieren, indem sie etwa mit dem Modell der Performativität auf die Wirkmächtigkeit und Materialitätseffekte der Sprache hinweisen, tragen zu dieser strukturellen Abwertung des Materiellen zugunsten der Ebene des Symbolischen und der Kultur bei. Sie laufen auf eine Position zu, der das Materielle nur als Effekt von Diskursen, Symbolen oder Sprache gilt – eine Annahme, die Reckwitz sogar als Grundthese der zeitgenössischen Kulturtheorien beschreibt: „Die materielle Welt existiert nur, insofern ihre Elemente innerhalb kollektiver Bedeutungsstrukturen zu einem Objekt der Interpretation werden. Es gibt keine materiellen Entitäten als solche, sondern nur Interaktionen und Diskurse, die bestimmte materielle Objekte auf eine bestimmte Weise definieren und von anderen (materiellen und nicht-materiellen) Objekten abgrenzen.“ (Reckwitz 2008, S. 140, H.i.O.)

Indem sich die postkonstruktivistische Betonung des Materiellen gegen derartige Thesen wendet, die eben nicht nur leugnen, dass kultursoziologisch über Materialität Auskunft gegeben werden kann, sondern sogar behaupten, dass sie selbst als Spracheffekt begriffen werden muss, wird deutlich, dass hierbei über die Problematisierung einer Forschungslücke hinaus ein alternatives Theoriemodell eingefordert wird (Folkers 2014, S. 18). Gerade die Heterogenität der kulturwissenschaftlichen Forschung macht aber zugleich auch deutlich, dass die Problematisierung der konstruktivistischen Kulturtheorien nicht zwingend als neuer Turn oder als prinzipieller Bruch mit der bestehen-

Webers Definition des Kulturbegriffs ist in dem Sinne geradezu vorbildlich: „‚Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“ (Weber 1988, S. 180)

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den Kultursoziologie begriffen werden muss – wie ja auch der Postkonstruktivismus keine grundsätzliche Abkehr vom Konstruktivismus impliziert. Denn obwohl der bedeutungs- und symbolzentrierte Begriff der Kultur eine gewisse Dominanz im Fach hat, finden sich auch zahlreiche kultursoziologische Positionen, die nicht dieser Linie folgen und die im Zuge dieser Entwicklung häufig selbst marginalisiert waren. So böte die Herausforderung der Kultursoziologie durch postkonstruktivistische Tendenzen im Fach zugleich die Chance, wieder Anschluss an solche Traditionslinien zu finden, die, sei es in der Historischen Anthropologie oder der Techniksoziologie, immer schon eine Alternative zu primär sprach- und symboltheoretischen Kulturtheorien formuliert haben. Ein solcher Anschluss könnte diese Debatte nicht nur stärker mit der Kultursoziologie verbinden als dies bisher geschehen ist, er könnte auch dafür sorgen, dass die Kritik an der Überbetonung des Symbolischen nicht wiederum selbst in eine Hypostasierung des Materiellen mündet. Denn das würde die wesentlichen Einsichten der Kultur- und Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts über Bord werfen.

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Poststrukturalistische Kultursoziologien Stephan Moebius

Inhalt 1 2 3 4 5

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Strukturalismus/Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Wissen, Macht, Subjekt – Michel Foucault (1926–1984) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Kultur als Kultur des Anderen – Jacques Derrida (1930–2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Kulturtheorie der Naturalisierung, des Subjekts und der performativen Praxis – Judith Butler (*1956) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 6 Kultur und Hegemonie – Ernesto Laclau (1935–2014) und Chantal Mouffe (*1943) . . . . 90 7 Die Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 8 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Zusammenfassung

Seit Ende der 1960er-Jahre ist eine enorme Bandbreite poststrukturalistischer Ansätze entstanden, von denen an dieser Stelle die für die gegenwärtige Kultursoziologie relevantesten vorgestellt werden: Michel Foucaults Analytik der Wissen-Macht-Subjekt-Komplexe, Jacques Derridas dekonstruktive Kulturtheorie, Judith Butlers Kulturtheorie der Performativität, Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Kulturtheorie der Hegemonie sowie neuere, poststrukturalistisch inspirierte Kulturforschungen der studies. In der deutschsprachigen Kultursoziologie

Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung der Kap. IV.1.2, V.3 und V.4. aus meinem Buch „Kultur. Themen der Soziologie“ in der 2. Auflage von 2010, wiederabgedruckt mit Genehmigung durch den transcript Verlag (Moebius 2010), DOI (Kap. IV): ▶ https://doi.org/10.14361/9783839406977-003 und DOI (Kap. V): ▶ https://doi.org/10.14361/ 9783839406977-004. S. Moebius (*) Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_51

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werden diese Ansätze gegenwärtig mit praxistheoretischen und pragmatistischen Ansätzen zu einer neuen kultursoziologischen Analytik verknüpft. Schlüsselwörter

Poststrukturalismus · Dekonstruktion · Foucault · Butler · Derrida · Laclau · Mouffe · Reckwitz · Cultural Studies · Gouvernmentality Studies · Queer Studies · Postcolonial Studies

1

Einleitung

Unter dem Begriff „Poststrukturalismus“ können unterschiedliche, im Laufe der 1960er-Jahre in Frankreich, seit den 1980er-Jahren auch im englischsprachigen Raum entwickelte Theoriekonzepte zusammengefasst werden, die sprachtheoretische Grundannahmen des Strukturalismus aufnehmen und sich zugleich kritisch von spezifischen Ausprägungen dieses Strukturalismus absetzen.1 Die Entstehung der poststrukturalistischen Theorien steht in einem engen Zusammenhang mit dem als cultural turn bekannten Boom an kulturwissenschaftlichen Forschungen, Fragestellungen, Methodologien und Theoriekonzepten (vgl. Moebius und Quadflieg 2011). Während poststrukturalistische Ansätze noch in den 1980er-Jahren in Deutschland angefeindet und oftmals unter das Label der „Postmoderne“ subsumiert werden (vgl. dazu Neumeister 2000), beginnt in der englischsprachigen Forschungslandschaft im gleichen Zeitraum eine intensive und konstruktive Verarbeitung poststrukturalistischer Ansätze (vgl. Moebius und Wetzel 2005, S. 34), die in der Kultursoziologie und soziologischen Theorie im deutschsprachigen Raum insbesondere seit 2000 verstärkt rezipiert wird (vgl. Stäheli 2000; Moebius 2003, 2009a; Moebius und Reckwitz 2008). Besonders wichtige Impulse haben die poststrukturalistischen Kulturtheorien von den ästhetischen Gegenbewegungen der Avantgarden (Dadaismus, Surrealismus) erhalten, etwa von Mitgliedern des Collège de Sociologie wie Georges Bataille oder Walter Benjamin (vgl. ausführlicher Moebius 2006); das, was heute verstärkt unter Affektorientierung und Ästhetisierung der Gesellschaft (vgl. Hieber und Moebius 2011; Reckwitz et al. 2015) neu be- und verhandelt wird, ist im Poststrukturalismus von Anfang an angelegt. Der zentrale Berührungspunkt zwischen Poststrukturalismus und Avantgarde ist der grundlegende, bis hin zum avantgardistischen Postmodernismus (vgl. Hieber und Villa 2007; Hieber und Moebius 2008) reichende Stellenwert, den beide – theoretisch, praktisch und politisch – dem kulturellen Produktionscharakter und der Unkontrollierbarkeit von Sinn und Bedeutung zuschreiben. Es zeigt sich schließlich realhistorisch eine Wahlverwandtschaft zwischen poststrukturalistischen Kulturtheorien und den kulturrevolutionären, ästhetischen counter-culture-Bewegungen des Mai 1968, wobei die Theorien entweder

1

Zur näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen Poststrukturalismus und Sozialwissenschaften vgl. u. a. Moebius (2003), Moebius und Wetzel (2005), Moebius (2009a) und Moebius und Reckwitz (2008).

Poststrukturalistische Kultursoziologien

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durch den kulturellen Kontext beeinflusst oder diese kulturellen Bewegungen selber durch den Poststrukturalismus inspiriert sind. Seit Ende der 1960er-Jahre ist eine enorme Bandbreite poststrukturalistischer Ansätze entstanden, von denen an dieser Stelle die für die gegenwärtige Kultursoziologie relevantesten vorgestellt werden: Michel Foucaults Analytik der WissenMacht-Subjekt-Komplexe, Jacques Derridas dekonstruktive Kulturtheorie, Judith Butlers Kulturtheorie der Performativität, Ernesto Laclaus Kulturtheorie der Hegemonie sowie neuere Kulturforschungen der studies (vgl. Moebius 2012).

2

Strukturalismus/Poststrukturalismus

Der Poststrukturalismus ist kein vollständiger Bruch mit dem Strukturalismus, wie die Vorsilbe „Post“ suggeriert, und auch keine Neuauflage, wie es Manfred Franks Bezeichnung des „Neostrukturalismus“ nahelegt (vgl. Frank 1984). Vielmehr handelt es sich um ein Durcharbeiten und eine Radikalisierung strukturalistischen Denkens.2 Beiden Ausrichtungen ist der grundlegende Bezug auf die strukturale Linguistik von Ferdinand de Saussure gemeinsam. Im Vordergrund der an de Saussure anknüpfenden (post-)strukturalen Analysen stehen die Relationen von Elementen, also reziproke Beziehungen oder Austauschprozesse (von Zeichen, Dingen, Menschen etc.), die eine mehr oder weniger fixierte Struktur bilden. Das können mit Blick auf das Soziale und die Kultur Wahrnehmungs-, Verhaltens- oder Denkstrukturen sein, die dann wiederum auf die Subjekte zurückwirken, indem sie deren Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht nur prägen, sondern diese überhaupt erst ermöglichen. Ähnliches gilt für die Sprache, wie de Saussure gezeigt hat: Unsere einzelnen Aussagen ergeben sich vor dem Hintergrund der sprachlichen Struktur. Analog zu Durkheim, der die Gesellschaft als eine dem Individuum äußerliche, zwanghafte Macht beschreibt, ist die Sprache nach de Saussure nicht dem individuellen Willen unterworfen, sondern geht den einzelnen Sprechakten voraus. Sprache und Sinnzusammenhänge werden nicht mehr als Abbildungen einer vorsprachlichen Wirklichkeit gedacht, sondern Sinn- und Sprachsysteme als durch Differenzen und Relationen der Zeichen konstituiert aufgefasst, die das, was wir dann als „Wirklichkeit“ wahrnehmen, strukturieren. Bedeutungen ergeben sich durch die differenziellen Beziehungen zu anderen Zeichen. Eine Struktur erklärt sich deshalb nicht aus den einzelnen Elementen, sondern aus den Beziehungen zwischen den Elementen. Saussures Ansatz wird in den Sozialwissenschaften wirkungsmächtig durch die Rezeption von Claude Lévi-Strauss (1992), der in seiner strukturalen Anthropologie die strukturalistische Methode vor allem auf Verwandtschaftssysteme, Rituale, Kunst und Mythen ausdehnt. Allerdings zeigt sich, dass in vielen strukturalistischen Ansätzen die Struktur als eine geschlossene Einheit oder als über ein Zentrum fixiert 2

Im Folgenden greife ich zur Charakterisierung der Unterschiede zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus auf Überlegungen und Formulierungen aus Moebius (2009a) sowie aus der Einleitung aus Moebius und Reckwitz (2008) zurück.

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zu sein scheint. So sind nach Lévi-Strauss etwa die Heiratsregeln durch das Zentrum des Inzesttabus geregelt. Poststrukturalistische Konzepte betonen hingegen, dass jede Struktur und ihr Zentrum prinzipiell nicht abschließbar sind, weil sie nur wiederum über eine Differenz gedacht werden können. Das Inzesttabu erscheint bei Lévi-Strauss als das regulierende Zentrum der Struktur von Verwandtschaft. Es kann aber nur gedacht werden, wenn es auch Inzest gibt, insofern kann das Tabu nicht schon immer als das oberste Prinzip universell gegolten haben. „Kann es das Tabu nur geben, weil es vorher keines gab?“, würde der Poststrukturalismus fragen (vgl. Wetzel 2008, S. 4111). Ebenso kann de Saussures Ansatz befragt werden: Wenn man wie die strukturale Linguistik annimmt, dass Bedeutung sich erst durch die je spezifischen Relationen der differenten Zeichen ergibt, wie kann man dann davon ausgehen, dass diese Relationen irgendwann stillstehen, eine für immer geschlossene Einheit der sprachlichen Struktur ergeben? Wie vor allem Jacques Derrida gezeigt hat, muss die strukturalistische Einsicht in die konstitutive Rolle der Differenzen bei konsequenter Anwendung auch das von den Strukturalisten behauptete Zentrum und die Einheit der Struktur betreffen. Damit radikalisiert Derrida das strukturalistische Interesse an Differenzen und Differenzensystemen durch die Aufdeckung und das Sichtbarmachen eines ausgeschlossenen Anderen, des „konstitutiven Außen“. Gemeint ist, dass jede Anordnung, jede zeit-räumliche, soziale oder symbolische Ordnung und Struktur, jeder Diskurs, jede Identität, jede Institution bzw. jeder Kontext sich von einem Anderen, einem Außen abgrenzt, auf das er jedoch angewiesen ist, um sich (begrenzend) zu schließen, sich als Einheit zu definieren und insofern existieren zu können. Dieses Aufspüren eines konstitutiven Außen oder Anderen, auf den das Eigene, die Struktur oder die Kultur konstitutiv angewiesen ist, sowie die Ermöglichung einer Antwortbzw. in aktueller Theoriesprache: „Resonanzbeziehung“ (Rosa 2016) zum Anderen bezeichnet Derrida als genuines Betätigungsfeld der „Praxis“ und „Ethik der Dekonstruktion“ (vgl. Moebius 2003), dem vorrangigen Analyseverfahren des Poststrukturalismus.3 Bezogen auf Kultur heißt das: für eine Kultur ist es wesentlich, aufgrund des konstitutiven Anderen nicht mit sich identisch zu sein (Moebius und Quadflieg 2006, S. 310). Es geht dabei jedoch ganz und gar nicht darum zu leugnen, dass es Strukturen, Identitäten oder symbolische Ordnungen gibt, sondern darum, dass ihre jeweilige Verfasstheit keinen endgültigen Status hat, dass Stabilisierungen und Schließungen Produkt sozio-historischer und kultureller Prozesse sind, deren Fixierungs- und Schließungsversuche vielfach mit Ausschließungs-, Herrschafts- und Machtprozessen einhergehen. Im Mittelpunkt poststrukturalistischer Analysen stehen gerade diese machtbesetzten Schließungsprozesse bzw. die Prozesse der permanenten Destabilisierung und Selbstdekonstruktion kultureller Signifikationssysteme, Identitäten und Wissensordnungen, die Brüchigkeit von Sinnzusammenhängen, aber auch die Produktion von neuartigen, unberechenbaren Sinnelementen – Prozesse, die zeitweise durch kulturelle Stabilisierungen – scheinbar alternativloser kultureller Ordnungen, die ihre Kontingenz unsichtbar machen – gestoppt werden. Zur „Ethik der Dekonstruktion“ vgl. Critchley (1999) und Moebius (2003).

3

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Ein weiteres Merkmal, was den Poststrukturalismus vom Strukturalismus unterscheidet, ist demnach auch die zentrale Bedeutung, die den Machtverhältnissen zuteil wird. Einerseits gilt das Interesse der Frage, wie Machtprozesse symbolische Ordnungen konstituieren und auf Dauer stellen. Andererseits ist „Macht“ niemals ein gänzlich fixiertes Verhältnis (sonst sprechen wir von Herrschaft), sondern auch etwas, das im Sinne von Gegenmacht diese Sinnfixierungen wieder aufbrechen kann. Darüber hinaus zeichnet sich der Poststrukturalismus im Gegensatz zum Strukturalismus durch eine konsequente Verzeitlichung und Historisierung von Strukturen aus. Die Verzeitlichung ist dabei eng mit dem Aufweis der historisch spezifischen Partikularität kultureller Ordnungen verknüpft, was eine Aufdeckung der kulturellen Strategien ihrer Universalisierung und Singularisierung (Reckwitz 2017) mit einschließt. Schließlich richten die poststrukturalistischen Kulturtheorien ihren Blick auf Prozesse der Materialisierung der Kultur. Im Zentrum der Analyse der Materialisierungsprozesse stehen der Körper und die Psyche des Subjekts. Oft wird fälschlicherweise angenommen, poststrukturalistische Ansätze verleugnen die Körperlichkeit oder die Materialität. Aber vielmehr geht es dem Poststrukturalismus darum, aufzuzeigen, dass wir immer schon einen sozial und kulturell vermittelten Zugang zum Körper haben. Kulturelle Ordnungen durchdringen den Körper, sie sind am Körper abzulesen und in ihm inkorporiert, ja sie konstituieren erst das, was wir als Körper begreifen – was aber nicht heißt, Körperlichkeit als nicht existent aufzufassen. Die Körper sind aus dieser Sicht vielmehr Träger von sich stabilisierenden und sich destabilisierenden kulturellen Ordnungen. Die Annahme der Verkörperlichung der Kultur im Subjekt ist eng verknüpft mit der poststrukturalistischen Frage, wie die stabilen und instabilen kulturellen Ordnungen sich auf affektiv-emotionale Orientierungen und die sinnlich-ästhetische Wahrnehmung auswirken sowie die Psyche und das Unbewusste formen und umgekehrt durch diese sinnlichen Wahrnehmungen (de-)stabilisiert werden.

3

Wissen, Macht, Subjekt – Michel Foucault (1926–1984)

Im Mittelpunkt der Arbeiten von Michel Foucault stehen die Wissensproduktion, Machtverhältnisse und Subjektivierungsprozesse. Wissen wird in seinen Augen durch übersubjektive, dem Einzelnen nicht unmittelbar zugängliche, unbewusste und gemäß bedeutungsgenerierender Regeln produzierte Wissenscodes hervorgebracht; Wissenscodes, die erst durch diskursive und nicht-diskursive Praktiken, das heißt durch eine regelmäßige Verstreuung von Aussagen, Dingen und Worten entstehen. Dabei versteht er solche diskursiv erzeugten symbolischen Ordnungen nicht als fixe und geschichtslose Regelsysteme. Stattdessen lenkt er den Blick auf die Diskontinuitäten zwischen spezifischen historischen Wissensformationen. Neben dem Strukturalismus knüpft Foucault auch an Thematiken des Surrealismus und des Collège de Sociologie, insbesondere Georges Batailles, an (vgl. Moebius 2006, S. 454 ff.). Die explizite Nähe zum Denken der Collègiens liegt

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zum einen in der Untersuchung „heterologischer“, also von der „normalen“ Ordnung ausgeschlossener Bereiche und Erfahrungen der Überschreitung (Foucault 1996, S. 26 f.) und zum anderen in der Analyse der Dezentrierung des Subjekts. Foucault untersucht diese heterologischen Bereiche im Sinne einer „Ethnologie der eigenen Kultur“, die sich auf Analysen der „dunklen Seiten der Moderne“, das heißt auf Ausschließungs- und Verwerfungsprozesse konzentriert. Ins Blickfeld rücken beispielsweise der Beginn der Psychiatrisierung, der moderne Umgang mit Krankheit, Tod und Wahnsinn, die Entstehung der modernen Sexualität sowie die Geburt des Gefängnisses und des modernen Staates. Will man Foucaults Interessensgebiete auf Oberbegriffe bringen, so kreisen seine Schriften um die Themen Wissen, Macht und Subjektivität. In den frühen Arbeiten wie zum Beispiel Wahnsinn und Gesellschaft (frz. Org. 1961), Die Geburt der Klinik (frz. Org. 1963), Die Ordnung der Dinge (frz. Org. 1966) oder Die Archäologie des Wissens (frz. Org. 1969) untersucht Foucault vornehmlich Diskurse. Anders als bei hermeneutischen oder ideengeschichtlichen Forschungen geht es ihm nicht darum, den vom Autor intendierten Sinn eines Textes zu erfassen. Ihn interessiert stattdessen die dahinterliegende Funktionsweise der Diskurse, das heißt, die regelmäßige Verstreuung von Aussagen und das Prinzip, das diese Regelmäßigkeit durchzieht (vgl. Lavagno 2006, S. 43). Im Gegensatz zu chronologischen und linearen Fortschrittserzählungen zeigt seine Diskursgeschichte des Wissens, dass es in der Geschichte der Humanwissenschaften Diskontinuitäten und Brüche gibt und jede Epoche andere Klassifikationsschemata und Sichtweisen produziert, nach der die Wahrheit einer Erkenntnis beurteilt und Normalität konstituiert werden. Dies geschieht durch die regelmäßigen Anordnungen und Strukturierungsweisen der Aussagen einer Epoche, die sich in ihrer differenziellen Relation gegenseitig Bedeutung verleihen und eigenständige kognitive Ordnungsschemata („Episteme“) bilden. Die „Archäologie“ im Foucault’schen Sinne fragt nach den Strukturen unter der Oberfläche des Wissens, nach der Konstitution von Wissensobjekten und -subjekten. Sie fragt danach, warum der Mensch sich im Laufe der letzten Jahrhunderte selbst zum Objekt der Wissenschaften erhoben hat und die Humanwissenschaften (Ethnologie, Anthropologie, Psychologie etc.) entstanden sind. Und sie fragt danach, wie sich damit auch Vorstellungen eines humanistischen, ahistorischen, delinquenten, wahnsinnigen, hysterischen oder perversen Subjekts entwickelt haben. In den 1970er-Jahren verschiebt sich Foucaults Arbeitsfeld. Nun rücken Forschungen zur genealogischen Konstitution des Subjekts und zur Analytik der Macht in den Mittelpunkt seiner Forschung, die mit der Frage nach der Wissenskonstitution aufs Engste verknüpft werden. In Überwachen und Strafen (frz. Org. 1975) oder Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I (frz. Org. 1976) erscheint das Subjekt als ein von der Macht konstituiertes Produkt; Diskurse haben in seinen Augen die Macht, Wissen und „Rationalität“ zu produzieren, indem sie beispielsweise neue Kategorien bilden, Typisierungen und Teilungen des Sozialen vornehmen, die das Denken und Wahrnehmen sowie die Identifikationen und Verhaltensweisen und insofern Subjektivität konstituieren, modellieren und leiten. Foucaults Diskursbegriff, der zunächst eine Streuung von Aussagen bezeichnet, die bestimmten historischen Verteilungsregeln unterworfen sind (Foucault 1973,

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S. 48 ff.), wird im Laufe der Theoriebildung wesentlich erweitert. Bereits von Foucault, später insbesondere von Judith Butler und Ernesto Laclau, wird die Diskursanalyse aus der reinen Sprachbetrachtung und der Analyse kognitiver Ordnungsschemata herausgelöst und auf gesellschaftliche Praktiken, Institutionen und Machtverhältnisse ausgedehnt. Die Analyse der Ordnung des Diskurses (Foucault 1991) wird zur „Dispositivanalyse“. Damit ist eine strategische Verknüpfung von Wissen, Macht und sowohl diskursiven als auch nicht-diskursiven Praktiken gemeint. Diskurse, so die Annahme, werden nur in institutionellen Arrangements wirksam, wie auch umgekehrt Machtapparate von Diskursen durchzogen, konstituiert und reguliert werden. Foucault sieht die Aufgabe der Diskursanalyse insofern weniger darin, Diskurse als Gesamtheit von Zeichen, „sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault 1973, S. 74) Insofern geht es einer Diskursanalyse, die den Ort, die Produktion, die Regelmäßigkeiten, Grenzen, Vermittlungen und traditionellen Serien des „Sichtbaren und Sagbaren“ (Deleuze 1987, S. 69 ff.) untersucht, „nicht um die abstruse Frage, ob es noch etwas anderes als Texte gebe, sondern darum, wie die nichtsprachlichen Dinge ihre Bedeutung erhalten. Kein Diskurs, kein Klassifikationsgitter, und scheint es noch so vertraut, ist je ‚von den Sachen selbst‘ abgeleitet, sondern schafft umgekehrt erst die Ordnung der Dinge.“ (Sarasin 2003, S. 36) Natürliche Dinge werden von den Diskursen in die soziale Welt geholt, um hier als Artefakte, also als ein Teil der menschlichen und nicht mehr bloß natürlichen Ordnung, in Verbindung mit den Diskursen die sozialen Beziehungen zu lenken. Die enge Verschränkung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken führt zu einem Dispositiv das nicht nur die Macht hat, Materialitäten, Körper und Subjekte zu konstituieren (vgl. Foucault 1977, 1978); es verweist zudem auf die historische Erzeugung und Formgebung von Materialitäten sowie auf eine eigene Materialität des Diskursiven (vgl. Butler 1995). Die erwähnte enge Verschränkung von Diskurs, nicht-diskursiven Praktiken, Materialität und Macht wirft für Foucault die generelle Frage nach der Analytik der Macht auf. Aus seiner Sicht hängen die gängigen sozialwissenschaftlichen Machtkonzeptionen noch einem „juridischen“ oder repressiven Machtverständnis an, das Macht entweder ausschließlich mit Verbot, Gesetz, Zwang, Ausschluss und Gewalt oder mit Legitimität und Konsens assoziiert. Aus dem Blick gerät dabei der produktive Charakter der Macht. Foucault geht von einer „Mikrophysik der Macht“ aus, die sowohl die gesellschaftlichen Verhältnisse als auch die individuellen Körper durchdringt und sie hervorbringt. Zudem ist Macht relational und agonal. Sie ist nicht Besitz einer Gruppe, sondern ein Verhältnis. Daher gibt es dort, wo es Macht gibt, auch Widerstand und Gegenmacht (vgl. Lemke 1997, S. 98 ff.). In den späten Schriften Foucaults erfährt seine Machtkonzeption eine praxistheoretische Wendung und verweist damit schon auf spätere Verschränkungen zwischen poststrukturalistischen und praxistheoretischen Ansätzen in der Kultursoziologie (vgl. Reckwitz 2006a). Macht ist nicht zu trennen von den „Subjekten der Macht“; sie ist nach Foucault nicht einer übersubjektiven Struktur zugeordnet, sondern „Macht existiert nur in actu, auch wenn sie sich, um sich in ein zerstreutes Möglichkeitsfeld einzuschreiben, auf permanente Strukturen stützt.“ (Foucault 1987,

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S. 254 f.) In den Augen des „späten“ Foucault ist Macht eine Art von „Regierung“, also eine Weise, andere zum Handeln zu bewegen. In seinen späten Schriften wendet er sich scheinbar auf eine andere Weise als zuvor der Frage des Subjekts zu. Manche Kritiker Foucaults sehen hier einen tiefen Widerspruch oder radikalen Wendepunkt in seiner Theoriekonzeption und interpretieren ihn so, als ob er nun das Subjekt aus den diskursiven Bindungen löse. Aber ganz im Gegenteil: Foucault nimmt seine früheren Annahmen über die Konstituierung von Subjektivität durch produktive Machtverhältnisse und Wissensarrangements nicht zurück. Er macht vielmehr deutlich, dass die Subjektkonstituierung nicht rein repressiv zu verstehen ist, sondern mit Selbstpraktiken, Selbstprüfungen, Selbstformierungen und Ethiken, das heißt mit „Techniken des Selbst“ einhergeht. „[W]enn ich mich jetzt für die Form interessiere, in der sich das Subjekt auf aktive Weise, durch Praktiken des Selbst, konstituiert, [würde ich sagen], dass diese Praktiken dann nichtsdestoweniger nicht etwas sind, was das Subjekt selbst erfindet. Es sind Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet [. . .]“ (Foucault 2005, S. 889). Wie sehen dann die kulturellen Praktiken und Diskurse aus, mit deren Hilfe die Menschen sich ihre eigene Identität geben? Warum binden sich die Menschen leidenschaftlich an die kulturell erzeugten Identitätsangebote? Welche historisch unterschiedlichen Arten des Selbstverhältnisses und des Umgangs mit uns selbst existieren überhaupt? Und warum gerade diese? Dies sind nur einige der Fragen, die nun das Interesse von Foucault auf sich gezogen haben. Sie führen ihn zur Analyse der „Ästhetik der Existenz“ und der körperlichen Verhaltensroutinen, in deren Zentrum die Erforschung des Selbstverhältnisses des Menschen steht. Dass Foucault dabei immer auch politisch dachte (vgl. Lavagno 2006, S. 49), wird deutlich in seinem Diktum, die „Art von Individualität, die man uns jahrelang auferlegt hat, zurückzuweisen“, um „neue Formen der Subjektivität zustandezubringen“ (Foucault 1987, S. 250). Die in Foucaults Kulturtheorie beschriebenen Machtverhältnisse sind nicht von den Praktiken und den Subjekten der Macht zu trennen – eine Perspektive, die in der poststrukturalitischen Kulturtheorie von Judith Butler weiter ausgebaut wird. Die dadurch zutage tretende „Dezentrierung des Subjekts“ oder Absage an die Annahme eines „autonomen Subjekts“ führt jedoch keineswegs zum Verschwinden oder „Tod des Subjekts“, sondern verweist darauf, dass Subjekte erst sichtbar werden, wenn sie sich innerhalb dieser strukturellen Arrangements positionieren bzw. positioniert werden. Die jeweilige Position innerhalb eines übersubjektiven Sinnsystems ergibt sich erst aus der Differenz zu einer anderen Position. Werden Diskurse als Praktiken betrachtet, die zu kollektiven Wissensordnungen institutionalisiert werden, dann werden auch neuere Anschlüsse an Foucaults Dispositiv- und Diskursanalyse in der Wissenssoziologie verständlich (vgl. Keller 2005), deren Forschungen sich weniger auf die „sprachförmige Konstituiertheit der Sinnhaftigkeit von Welt“, als vielmehr auf die „Analyse institutioneller Regulierungen von Aussagepraktiken und deren performative, wirklichkeitskonstituierende Macht“ konzentrieren (vgl. Keller 2004, S. 8). Wie in Abschn. 7 zu sehen sein wird, liefert der handlungs- und machttheoretische Kulturbegriff des späten Foucault auch zentrale Bausteine für den Aufbau der gegenwärtig im Zentrum der Kulturso-

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ziologie stehenden poststrukturalistischen Kulturforschungen (governmentality studies, queer studies, postcolonial studies, cultural studies).

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Kultur als Kultur des Anderen – Jacques Derrida (1930–2004)

Jacques Derrida gilt als Begründer der für das Vorgehen der poststrukturalistischen Kulturtheorien zentralen „Praxis der Dekonstruktion“. Die Dekonstruktion setzt insbesondere an der Kritik des Denkens in binären Codes an. Anhand von zahlreichen philosophischen, kunstwissenschaftlichen, politischen oder literarischen Lektüren zeigt Derrida, wie sich unser Denken bis in die Gegenwart hinein immer wieder auf binäre und hierarchische Oppositionen stützt, die jedoch ihrerseits unbegründet bleiben; zu nennen wären hier u. a. die Paarungen Innen/Außen, Grund/ Begründetes, Wesentliches/Unwesentliches, Aktivität/Passivität, Identität/Differenz, Mann/Frau, Heterosexualität/Homosexualität, Kultur/Natur usw. Derart fundamentale Klassifikationen aber können nicht einfach aufgegeben oder ersetzt werden, da sie noch unser alltägliches Sprechen und Handeln leiten und strukturieren. Derridas Dekonstruktion versucht, diese Gegensätze und ihre Hierarchien zu verwirren und die gesamte Logik der hierarchischen Opposition zugunsten dessen zu verschieben, was von den binären Strukturierungen ausgeschlossen wird. Die Praxis der Dekonstruktion besteht in einer doppelten Geste (vgl. Derrida 1999, S. 154), die in einem ersten Schritt versucht, die Hierarchie von Oppositionspaaren wie beispielsweise den Gegensatz Signifikat/Signifikant oder Innen/Außen umzukehren. Indem die Dekonstruktion zeigt, dass das Innen oder das Erste nicht rein präsent oder vollständig ist, verdeutlicht sie, dass dem Ersten ein Bedeutungsmangel innewohnt, der durch Elemente des Zweiten supplementiert bzw. ergänzt werden muss. Insofern ist dieses Zweite die Möglichkeitsbedingung des Ersten. So kann beispielsweise „Heterosexualität“ nur gedacht werden durch ihr „konstitutives Außen“, durch die „Homosexualität“ oder „Bisexualität“. Das klingt zunächst banal, macht aber darauf aufmerksam, dass sich binäre Gegensätze immer wieder herstellen und dass diese Identitätszuschreibungen und die damit verbundenen Wertungen der jeweiligen Seiten der Binarität nicht aus sich heraus oder aufgrund von biologischen Notwendigkeiten existieren, sondern aufgrund ihrer differenziellen Position. Dadurch wird beispielsweise darauf aufmerksam gemacht, dass die Vorrangstellung eines der Terme (zum Beispiel von „Mann“) kein natürlicher Vorgang ist, sondern das Resultat eines gesellschaftlichen, die Differenz naturalisierenden Herrschaftseffekts. Dass sie konstruiert sind, heißt jedoch nicht, dass sie nicht wirklich oder nicht existenziell erfahrbar sind. Im Gegenteil, sie sind als unbewusst inkorporierte Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata höchst real, ihre Genese aber schwer aufzuspüren und insgesamt schwierig zu verändern. Die zweite strategische Geste der Dekonstruktion besteht in einer Verschiebung des Feldes, auf dem die Opposition bestand, bis hin zu einer Ersetzung durch ein Neues. Der allgemeinen Strategie der Dekonstruktion geht es deshalb nicht einfach um eine Neutralisierung der binären Gegensätze oder gar um eine an Hegel erin-

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nernde „Aufhebung“ in einem Dritten, sondern um ein Verschieben und Überschreiten der binären Logik selbst. Man spürt die Möglichkeitsbedingungen einer binären Logik auf und stellt dabei fest, was sie als Anderes ausschließen muss, um sich zu errichten. Am Begriff der „Identität“ lässt sich dies leicht verdeutlichen: Eine Identität kann sich nur behaupten durch die Abgrenzung zu etwas Anderem, was sie nicht ist. Dieses Andere ist dadurch die Bedingung der Möglichkeit von Identität – Homosexualität die Bedingung der Möglichkeit, dass man eine heterosexuelle Identität denken kann. Das heißt aber auch, dass es eine völlig geschlossene, totale heterosexuelle Identität gar nicht geben kann, ebenso wenig wie eine geschlossene, totale homosexuelle Identität. Die Verschiebung des gesamten Feldes setzt nun nicht mehr an einer Umkehrung innerhalb der Opposition, sondern an dem Anderen der Opposition an. Statt nun Homosexualität zum ersten Term zu erklären, wird die gesamte binäre Struktur nach ihrem ausgeschlossenen, aber dennoch konstitutiven Anderen befragt. Gemäß der de Saussure’schen Annahme einer ständigen Verweisung auf Differenz kommen so beispielswiese Andersheiten wie bisexuelle oder intersexuelle Identitäten in den Blick, die von dem üblichen binären Code „Hetero-/ Homo-Sexualität“ verworfen werden. Die „Ethik der Dekonstruktion“ (vgl. Critchley 1999; Moebius 2003) zeigt sich in dem Aufspüren dieser ansonsten ausgeschlossenen bzw. marginalisierten Andersheiten, die nicht mehr in der gängigen binären Opposition aufgehen.4 Aber auch sie werden nicht verabsolutiert, sondern einer unendlichen Dekonstruktion ausgesetzt, sodass sich – ganz im Sinne Foucaults – auch Bisexualität, Autosexualität oder andere Sexualitäten nicht als Wesenheiten, als „ursprüngliche“ oder „wahre“ Sexualitäten begreifen lassen können, sondern als Elemente in diskursiven Verweisungsketten, die konstitutiv auf andere (Elemente) angewiesen sind. Die theoretischen Überlegungen zur konstitutiven Beziehung zum Anderen bleiben mit Blick auf Derridas Kulturbegriff nicht folgenlos: Eine dekonstruktive Perspektive auf Kultur rückt davon ab, kulturelle, ethnische oder nationale Identitäten als geschlossene Einheiten zu betrachten. Vielmehr versucht Derrida aufzuzeigen, inwiefern solche Identitäten durch Relationen und durch einen konstitutiven Ausschluss, der darauf verweist, das Eigenes und Anderes nicht absolut zu trennen sind, allererst konstituiert werden. Dies impliziert zum Beispiel für kultursoziologische oder ethnologische Untersuchungen, dass „der“ Andere nicht mehr zum Objekt der Analyse avanciert. Stattdessen interessiert die Produktion und Exklusion dieses Anderen als kulturell Anderen sowie die irreduzible Verschränkung von Anderem im Eigenen (Moebius und Quadflieg 2006). Im Rahmen einer an Derrida angelehnten Theoretisierung wird also nicht behauptet, es gebe keine Kultur, sondern dass es einer jeden Kultur wesentlich ist, nicht mit sich selber identisch zu sein, d. h. mit dem Anderen unauflösbar verschränkt zu sein: „Nicht, dass sie [die Kultur, S. M.] keine Identität haben kann, sondern dass sie sich nur insoweit identifizieren, ‚ich‘, ‚wir‘ oder ‚uns‘ sagen und die Gestalt des Subjekts annehmen kann, als sie mit sich selber nicht identisch ist, als sie, wenn Sie so wollen,

Der Begriff „Ethik“ wird dabei im Lévinas’schen Sinne als „Beziehung zum Anderen“ gefasst.

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mit sich differiert. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Differenz ohne diese Differenz mit sich selbst.“ (Derrida 1992, S. 12) Allgemein gesprochen geht es der Dekonstruktion um eine herrschaftskritische Hinterfragung aller kulturellen Eindeutigkeiten sowie des Glaubens, man müsse Kultur vor ihrem Anderen schützen – was in den Augen Derridas nichts anderes bedeuten würde, als die fundamentale Dynamik und Komplexität des Kulturellen selbst auszublenden.

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Kulturtheorie der Naturalisierung, des Subjekts und der performativen Praxis – Judith Butler (*1956)

Als zu Beginn der 1990er-Jahre Das Unbehagen der Geschlechter (1991) erschien, wurde Judith Butler noch hauptsächlich als Vertreterin der poststrukturalistischen feministischen Theorie und als maßgebliche Theoretikerin der queer studies wahrgenommen. Obgleich bereits in diesem Buch angelegt, zeigt sich in den späteren Schriften Butlers – etwa in Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1995), Haß spricht. Zur Politik des Performativen (1998), Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (2001), Kritik der ethischen Gewalt (2003a), Gefährdetes Leben. Politische Essays (2005), Krieg und Affekt (2009) oder Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (2016) –, dass ihre von Foucault, Jacques Lacan, der Sprechakttheorie und Derrida inspirierten kulturwissenschaftlichen Analysen von Naturalisierungsdiskursen über den Bereich der sexuellen und geschlechtlichen Identitäten hinausgehen und sich ihre poststrukturalistische Analytik auch auf damit zusammenhängende Themen wie Gewalt, Krieg und politischer Öffentlichkeit erstrecken (vgl. auch Redecker 2011). Dabei reicht Butlers Theorie über feministische Theorie und queer studies (im engeren Sinne) insofern hinaus, als sie eine breitere kulturtheoretische Perspektive auf die performative Macht, die performative Praxis und die damit verbundenen kulturellen Prozesse der Subjektivierung eröffnet. Die Untersuchungen sexueller oder vergeschlechtlichter Subjektidentitäten liefern die besonders prägnanten Beispiele für eine allgemeine philosophische und kulturtheoretische Subjekt- und Handlungsanalyse (vgl. Reckwitz 2008a, S. 81 ff.), da das Geschlechterverhältnis und die patriarchalen Strukturen diejenigen Macht- und Handlungsbereiche darstellen, in denen die Menschen in Verkennung der Mechanismen „symbolischer Macht“ (Bourdieu)5 noch am Meisten an essenzialistische, scheinbar naturwüchsige Verhaltensmuster glauben. Wie Foucault, Derrida oder Bourdieu geht auch Butler nicht von einem der Praxis vorgängigen Subjekt aus, von dem aus in einem zweiten Schritt Handeln intentional vollzogen wird. Vielmehr konstituiert sich das Subjekt erst im Moment routinisierter Praxis. Dabei entsteht das Subjekt in ihren Augen nicht in einem einzigen Akt,

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Zur Kultursoziologie von Pierre Bourdieu und dem Konzept der symbolischen Macht siehe den entsprechenden Beitrag von Stephan Moebius in diesem Handbuch.

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sondern es wird in sich wiederholenden „performativen“ Praktiken immer neu unterworfen und produziert.6 Bei ihrer Analyse der Konstituierung von Subjekten und Handlungspraktiken bezieht sich Butler auf das Modell der performativen Sprachhandlung, von dem die Sprechakttheorie ausgeht (vgl. Austin 1972). Performative Äußerungen werden dabei als Praktiken verstanden, die das, was sie benennen, hervorbringen und bestimmte Wirkungen zeitigen. Ein Beispiel ist die Äußerung der Hebamme bei der Geburt: „Es ist ein Mädchen!“ Dies ist nach Butler nicht bloß eine Feststellung, sondern eine mit symbolischer Macht ausgestattete performative Äußerung, die einen weitläufigen Prozess der Verkörperung von Normen entfacht; eine performative Praxis, mit der im Sozialisationsprozess „ein bestimmtes ‚Zum-Mädchen-Werden‘“ erzwungen werde. Der performative Akt ist hier eine Art deklarative Direktive zur Selbstregulierung: Sei ein Mädchen! Nach Butler ist dies der Beginn eines Zwanges, die „Norm zu ‚zitieren‘, um sich als lebensfähiges Subjekt zu qualifizieren.“ (Butler 1995, S. 318) Die Wirksamkeit einer performativen Äußerung hängt aus dieser Perspektive weniger von der mit der Sprechhandlung verbundenen Absicht ab. Die performative Praxis ist vielmehr deswegen erfolgreich, „weil die Handlung frühere Handlungen echogleich wiedergibt und die Kraft der Autorität durch Wiederholung oder das Zitieren einer Reihe vorgängiger autoritativer Praktiken akkumuliert. Das bedeutet also, daß eine performative Äußerung in dem Maße ‚funktioniert‘, wie sie die konstitutiven Konventionen, von denen sie mobilisiert wird, heranzieht und verdeckt.“ (Butler 1995, S. 311, Herv. i. Orig.) Performative Äußerungen gehen über sprachliche Zuschreibungen hinaus, insofern sie nach Butler auch körperliche Praktiken (Mimik, Artikulationen, Bewegungen, Gestik etc.) und inkorporierte Verhaltensschemata umfassen. Beispielsweise lässt sich die gängige Norm der Zweigeschlechtlichkeit nach Butler nur dadurch aufrechterhalten, dass sie durch vergeschlechtlichte Körperpraktiken (doing gender), Identifizierungen und Verhaltensschemata ständig re-zitiert wird. Dies bedeutet darüber hinaus, dass es kein vorhergehendes Original (beispielsweise sex) vor der Kopie (gender) sowie keinen festgelegten Identitätskern gibt, sondern nur zitathafte Wiederholungspraktiken kultureller Codierungen von Geschlecht, die allmählich zu der Vorstellung eines natürlichen Originals sedimentieren und so die Bausteine der Naturalisierungsdiskurse liefern. Mithin ist die Kraft der Normen funktional von der Aktualisierung und Zitierung abhängig. Butler bleibt jedoch nicht bei einem Determinismus stehen, demzufolge es keine Handlungsmacht der Subjekte mehr gibt. Denn in den für die permanente Reproduktion der symbolisch-kulturellen Ordnung notwendigen Wiederholungspraktiken können zugleich auch die Normen verschoben, kreativ gewendet und falsch zitiert werden, wie dies zum Beispiel in der Travestie oder in Praktiken von queerAktivist_innen geschieht (vgl. Hieber und Villa 2007), die die gängige Geschlech-

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Butler verwendet in Anlehnung an Foucaults Begriff des assujettisement den Neologismus subjectivation, um die Doppeldeutigkeit von Subjektwerdung und Unterwerfung zu verdeutlichen (Butler 2001, S. 81 ff.).

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terordnung von Original und Imitation durcheinanderbringen und die damit laut Butler eine „Politik der Performativität“ verfolgen. Mit diesem Fokus auf performative Praktiken entwickelt Butler eine Art poststrukturalistischer Praxistheorie (vgl. Moebius 2008). Dabei ist die Praxis nie vollständig determiniert, weil die symbolischen Ordnungen, an denen sich die Praktiken ausrichten, selbst – gemäß des Theorems des konstitutiven Außens – nie ganz stabile, geschlossene und fixierte Einheiten sind, sondern immer eine Art Bedeutungsüberschuss aufweisen. „Die Praxis, vermittels derer die Entstehung sozialer Geschlechtsidentität, das Verkörpern von Normen, erfolgt, ist eine zwingende Praxis, eine gewaltsame Erzeugung, sie ist aus dem Grund aber nicht vollständig determiniert. In dem Maße, wie das Geschlecht eine Anweisung ist, ist es auch eine Anweisung, die niemals ganz erwartungsgemäß ausgeführt wird, deren Adressat das Ideal niemals völlig ausfüllt, dem sie/er sich gezwungenermaßen annähert. Darüber hinaus besteht dieses Verkörpern in einem wiederholten Prozeß.“ (Butler 1995, S. 317) Performative Äußerungen wie beispielsweise Schimpfnamen (queer), verletzende Ausdrücke (hate speech) sowie bestimmte körperliche Gesten und Verhaltensschemata (vgl. Butler 1998), aber auch Schlüsselbegriffe der Moderne, wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Subjekt“ oder „Universalität“ können Wiedereinschreibungspraktiken bzw. Resignifizierungen erfahren, die über den Kontext ihres früheren Gebrauchs hinausgehen und mit den konventionellen Bedeutungen brechen. Dies ist deshalb möglich, weil die Strukturen, symbolischen Ordnungen und kulturellen Codes, die durch zitathafte Praktiken wiederholt werden, aus poststrukturalistischer Perspektive weder eindeutige Anweisungen noch einen völlig festgelegten Sinnkern aufweisen, sondern in sich schon vieldeutig und kontingent sind. Vergleicht man Butlers Subjektanalyse mit derjenigen Foucaults, so fällt auf, dass sie sowohl den Moment der widerständigen Praxis als auch die Frage nach der Sedimentierung von Naturalisierungsdiskursen qua zitathafter Wiederholung stärker betont, und auf diese Weise dessen Macht- und Subjektanalyse weiterführt. Aber es kommt noch etwas hinzu: Sie fragt sich, warum sich die Subjekte so leidenschaftlich an (ihre) Identitäten klammern. Über Foucault hinaus und ausgehend von Freud und Lacan interessiert sie sich also auch für die „Psyche der Macht“, das heißt für die Frage, wie und warum Subjekte ihrer eigenen Identität verhaftet bleiben (vgl. Butler 2001). Mit „Psyche“ bezeichnet sie jenen innerlichen Raum, der sich ebenfalls innerhalb von machtvollen Beziehungen erst bildet und als Ort der Reflexivität unerlässlich für eine Kritik jener Machtbeziehungen scheint. Entscheidend für Butlers Subjektbegriff ist das Moment der leidenschaftlichen Verhaftung, mit dem sich Subjekte im Prozess ihrer Subjektivation an die sie ermöglichenden Operationen, Identitätsangebote und subjektkonstituierenden Bedingungen binden. Wenn das Subjekt keine vorgängige und für sich bestehende Einheit, sondern ein Produkt eines machtbesetzten Beziehungsnetzes darstellt, dann birgt die Subjektwerdung ein irreduzibles Moment der Bindung an eine äußerliche Dimension, die es selbst nicht beeinflussen kann. Die „leidenschaftliche“ Seite dieser Bindung an die vorgegebene symbolische Ordnung und ihre Kategorien bzw. Subjektpositionen ergibt sich jedoch nicht alleine durch die präreflexive Komponente der Subjektivation, sie wird

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auch durch ein Begehren des Subjekts getragen, durch die Identifizierung mit vorgegebenen Subjektpositionen anerkannt und vergesellschaftet zu werden (vgl. Butler 2003b, S. 63). Wie bei Bourdieus Konzeption der symbolischen Macht (vgl. Moebius 2011) haben wir es hier mit einer Gleichzeitigkeit von An- und Verkennung zu tun: Begehren nach Anerkennung bei Verkennung des machtbesetzten Charakters der Bedingungen der Anerkennung.

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Kultur und Hegemonie – Ernesto Laclau (1935–2014) und Chantal Mouffe (*1943)

Die poststrukturalistische Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe geht wie Butlers Kulturtheorie der performativen Macht der Frage nach, wie eine Verhaftung und Bindung an die eigene Identität und damit eine Stillstellung, Stabilisierung und Universalisierung von Subjektpositionen theoretisch gefasst werden kann (vgl. Laclau 2000).7 Neben dem Rückgriff auf Foucault und Lacan ist es vor allem die Auseinandersetzung mit Antonio Gramscis Hegemonietheorie, die Laclau und Mouffe zu einer poststrukturalistischen Analyse von Universalisierungsstrategien und der Reformulierung des Hegemoniekonzepts geführt hat (vgl. Laclau und Mouffe 1991). Ihr Ansatz erfuhr eine breite Rezeption, die neben der Soziologie von den Politikwissenschaften, der politischen Philosophie, den Cultural Studies bis hin zu anderen poststrukturalistischen politischen Theorien reicht (vgl. Nonhoff 2006). Folgende Dimensionen sind für hegemoniale Beziehungen charakteristisch: Erstens verweist Macht – wie Laclau und Mouffe im Anschluss an Foucault hervorheben – immer auf eine Gegenmacht. Zweitens versuchen hegemoniale Projekte, etwa der Versuch der Durchsetzung einer „Leitkultur“ – nicht nur einen Sinn festzustellen und eine symbolische Ordnung zu konstituieren, sondern diese gesellschaftlich auch als einzig mögliche zu universalisieren. Unter einem hegemonialen Projekt verstehen Laclau und Mouffe dabei ein komplexes diskursiv-materielles Beziehungsgeflecht, dem es gelingt, seine partikularen Denkweisen, Vorstellungs- und Verhaltensschemata sowie Identitätspositionen als allgemein und alternativlos zu instituieren. Den Universalisierungseffekt, den partikulare Diskurse bewirken können, erreichen sie nicht allein mit Zwang, sondern – im Foucault’schen Sinne – auf „produktive“ Weise, sodass bestimmte Identitäten, gesellschaftliche Leitvorstellungen, kulturelle Sinnmuster oder gesamtgesellschaftliche Projekte wie beispielsweise die „Zweigeschlechtlichkeit“, der „flexible und selbstverantwortliche Mensch“ oder die „bürgerliche Kultur“ als erstrebenswert gelten und man ihnen leidenschaftlich verhaftet bleibt. Drittens versuchen hegemoniale Formationen, ihre partikularen Diskurse in einer Letztbegründung zu fundieren, um einen vollständigen Universalisierungseffekt zu erzielen. Diese Fundierung erfolgt nach Laclau und Mouffe mithilfe der 7 Siehe ausführlich zur Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe auch Moebius (2003, S. 156 ff., 2008).

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Produktion „leerer Signifikanten“, das heißt inhaltlich unterbestimmter und höchst bedeutungsoffener Begriffe wie „Freiheit“, „Demokratie“, „Nation“, „Kultur“, „Natur“ etc., die – pars pro toto – als Knotenpunkte des hegemonialen Projekts dienen und deren inhaltliche Füllung die Hauptaufgabe der hegemonialen Formationen ist.8 Zentral für die Stabilisierung des hegemonialen Projekts und seiner diskursiven Knotenpunkte ist viertens die Abgrenzung zu einem Außen, das seinerseits wiederum für die Identität des hegemonialen Diskurses konstitutiv ist. Dieses Außen, von dem bereits die Rede war, ist nicht nur auf einer tiefer gelegenen Ebene differenztheoretisch ein „konstitutives“ Außen, Laclau versteht es darüber hinaus in einem politischen und machttheoretischen Sinne als ein antagonistisches und verworfenes Außen: In ihrem Inneren wird die hegemoniale Formation durch eine Logik der Äquivalenz ihrer diskursiven Elemente zusammengehalten, das heißt, die unterschiedlichen Elemente eines Diskurses werden durch eine im Knotenpunkt verdichtete und vereinheitlichte Identität überformt (zum Beispiel durch die imaginäre Einheit einer unterschiedliche Nationen und Kulturen umfassenden „bürgerlichwestlichen Zivilisation“); die Identifizierung mit dieser imaginären Einheit kann jedoch nur durch eine Abgrenzung von etwas radikal anderem vollständig gelingen (zum Beispiel von „den Wilden“). So sind die hegemonialen Formationen konstitutiv auf dieses antagonistische und verworfene Andere angewiesen, um sich zu formieren, konsolidieren und ihre Äquivalenz zusammenzuhalten. Die hegemonialen Projekte oder kulturellen Ordnungen sind aus dieser Perspektive nicht mehr so sehr Zwänge der Subjektivierung, sondern Verheißungen und Projektionsflächen. Mit ihnen versucht das Subjekt seine Hoffnungen auf Identität und vollkommene Einheit kulturell zu befriedigen. Jeder Versuch einer hegemonialen Formation, sich durch die Verwerfung eines Anderen zu stabilisieren und Universalität zu beanspruchen, wird durch das vom hegemonialen Diskurs präsent gehaltene Andere desavouiert, heimgesucht und auf diese Weise die Partikularität des angeblich Universellen offenbart: Denn einerseits ist der Andere die Bedingung der Möglichkeit, das hegemoniale Projekt als Einheit zu konstituieren, andererseits aber auch die Bedingung der Unmöglichkeit, es als universell und alternativlos auszugeben. Wird dieses Scheitern einer endgültigen imaginären Bedeutungsfixierung von Identitäten, Subjektpositionen und symbolischen Ordnungen (beispielsweise durch dekonstruktive Praktiken oder das „falsche Zitieren“ dieser Identitäten im Sinne Butlers) sichtbar gemacht, ist nach Laclau und Mouffe ein Raum der Unentscheidbarkeit eröffnet, der für sie mit dem „Politischen“ zusammenfällt. Das „Politische“ wird von ihnen als der Moment des Antagonismus begriffen, an dem die Unentscheidbarkeit von Alternativen und ihre Auflösung durch Machtbeziehungen erkennbar wird. Erst in diesem Moment des Antagonismus wird wirkliche Politik als demokratische Auseinandersetzung möglich. Ziel der Kulturanalyse ist es dann,

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Vgl. als ein Beispiel einer hegemonietheoretischen Analyse im Anschluss an Laclau und Mouffe die Untersuchung zum Projekt „Soziale Marktwirtschaft“ von Martin Nonhoff (2006).

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die Hegemonie mit ihrem Anderen zu konfrontieren, wie dies etwa die gegenkulturellen Bewegungen der sechziger Jahre gemacht haben, um auf diese Weise den demokratischen Moment der Auseinandersetzung zu ermöglichen. Kultursoziologisch ist das Hegemoniekonzept deswegen von besonderem Interesse, da Laclau und Mouffe darauf aufmerksam machen, dass Gesellschaften keine kulturell geschlossenen und völlig integrierten Entitäten sind, wie dies aktuell etwa wieder in den Debatten über „Leitkultur“ oder in rechtspopulistischen Diskursen propagiert wird. In ihrer Kultur- und Subjektanalyse werden dadurch scheinbar alternativlose Gesellschaftsvorstellungen oder auch Naturalisierungen von Identitäten als Ergebnisse kontingenter und machtbesetzter Entscheidungen aufgefasst. Dadurch eröffnen sie eine sozialkritische Perspektive auf kulturelle Konflikte, die Politisierung von Subjektidentitäten und gesellschaftliche Antagonismen. Sowohl Derrida, Butler sowie Laclau und Mouffe machen auf das Andere der symbolisch-kulturellen Ordnung, der Identitätsvorstellungen und der hegemonialen Projekte aufmerksam. Mittels dieses Blicks auf das konstitutive Außen, den Anderen, wird dabei deutlich, „dass die antagonistische Ausgrenzung von einem Anderen außerhalb der diskursiven Ordnung nicht affektiv neutral, sondern mit Ausschlussfantasien – bis hin zu Vernichtungsfantasien – verknüpft ist, da dieses Andere die Komplettierung der eigenen geschlossenen Identität zu bedrohen scheint.“ (Reckwitz 2008a, S. 80) Das sozialkritische und ethische Potenzial der poststrukturalistischen Kulturtheorien, das durch die poststrukturalistischen Kulturforschungen der studies noch intensiviert wird, liegt genau darin, die Subjektivierungsweisen, die Entstehung kultureller Codes und Ordnungen sowie die damit einhergehenden Ausschlüsse durch komplexe Analysen von diskursiven Logiken, Dispositiven, Naturalisierungsprozessen, performativer Macht und Praktiken sowie psychischen Vorgängen zu erklären. Dabei stellt sich jedoch mit Butler und Foucault die weitergehende Frage, ob nicht der konstatierte „Wille zur Identität“, der „Techniken des Selbst“ mit einschließt, historisch aufgefasst und darüber hinaus auch vor dem Hintergrund ökonomischer Prozesse untersucht werden müsste. Es ist diese Frage, der sich gegenwärtig insbesondere die governmentality studies verstärkt zuwenden.

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Die Studies

Seit einigen Jahren lässt sich eine verstärkte Ausdifferenzierung des kultursoziologischen und -wissenschaftlichen Feldes durch die sogenannten studies beobachten (vgl. Moebius 2012), die auch Anlass zu Befürchtungen gegeben hat, ob dadurch nicht das Profil der Kultursoziologie untergraben oder unscharf werde (vgl. Moebius 2009b). Fragt man nach den besonderen Merkmalen und dem Neuen der gegenwärtigen Kulturforschungen wie etwa den gender studies, queer studies, gouvernementality studies, visual studies etc., so lassen sich folgende Kennzeichen festhalten: Erstens ist für die aktuellen Kulturforschungen der Studies die mehr oder weniger explizite Anknüpfung an poststrukturalistische Theorien charakteristisch, welche sie zu ope-

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rationalisieren versuchen, indem sie sie für eine Vielzahl von Forschungszwecken und Forschungsgebieten empirisch fruchtbar machen. Zweitens geht diese Operationalisierung häufig mit einer innovativen Verknüpfung mit anderen theoretischen Konzeptionen aus dem sozial- und kulturtheoretischen Feld einher, sodass – wie etwa im Fall der gegenwärtigen Cultural Studies – poststrukturalistische, pragmatistische, praxistheoretische und gesellschaftskritische Perspektiven Hand in Hand gehen. Und drittens erweitern die studies die bislang in den Sozial- und Kulturwissenschaften vorherrschende Ausrichtung an symbolischen Ordnungen und den Beziehungen zwischen Menschen (Interaktionen) auf die (hybriden) Beziehungen zwischen Menschen, Objekten und Artefakten. Hierbei kommt Bildern, Medientechnologien, Körpern, technischen Dingen und den Räumen verstärkt zentrale Bedeutung zu. Zwar finden wir die Sensibilität für die Berücksichtigung von Artefakten und Objekten bereits bei Klassikern wie Georg Simmel oder Marcel Mauss, aber noch stärker als diese betonen die studies die Rolle der Objekte für die Analyse der Genese des Sozialen und des Kulturellen selbst. Artefakte und Objekte werden nicht nur sozial konstituiert oder kulturell spezifisch wahrgenommen; sie sind auch nicht nur Erkenntnisobjekte, sondern Analysekategorien und Erkenntnismittel, durch die auch umgekehrt die Bedeutung der Objekte und Dinge für die Konstituierung des Sozialen neu akzentuiert wird. Im Folgenden möchte ich ausgewählte studies in knapper Form vorstellen. Es handelt sich dabei um relativ divergente Forschungsfelder, um eine gewisse Breite an studies vorzustellen, die gegenwärtig in der Kultursoziologie eine Rolle spielen: die gouvernementality, queer, postcolonial und cultural studies. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch andere studies, die derzeit in der Kultursoziologie als Analyserahmen verwendet werden und das kultursoziologische Feld entscheidend mitprägen, ganz zentral durch poststrukturalistische Konzepte geprägt sind, man denke etwa an die gender, disability, visual oder space studies (vgl. Moebius 2012).

7.1

Governmentality studies

Die governmentality studies sind explizit an Michel Foucaults Arbeiten ausgerichtet.9 Das Konzept der „Gouvernementalität“ geht zurück auf dessen Vorlesungen aus den Jahren 1977 bis 1979 am Collège de France (vgl. Foucault 2006a, b) und stellt eine wesentliche Erweiterung seiner Analytik der Macht dar (vgl. Lemke 2007, S. 13). Das Wort „gouvernemental“ bedeutet „die Regierung betreffend“ (vgl. Senellart 2006, S. 564). Unter „Regierung“ versteht Foucault entgegen der geläufigen Bedeutung eine vom christlichen Pastorat herkommende „Gesamtheit der Insti9

Vgl. den Überblick von Lemke (2007, S. 47 ff.). Zu den ersten studies of governmentality siehe Burchell et al. (1991). In Deutschland war es zunächst Thomas Lemke (1997), der die Rezeption der Gouvernementalitäts-Studien Foucaults anstieß. Siehe auch Bröckling et al. (2000), Pieper und Gutiérrez Rodríguez (2003) sowie Krasmann und Volkmer (2007).

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tutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung.“ (Foucault 2005, S. 116) Ähnlich wie ein Schäfer sich zugleich um die gesamte Herde wie auch um jedes einzelne Schaf kümmert (omnes et singulatim), so meint „Regierung“ die Führung und die Sorge um die Gesamtheit der Menschen wie um den Einzelnen. Für Foucault rückt damit die in seiner mittleren Schaffensphase zentrale Frage der Disziplinierung der Individuen in den Hintergrund. Statt der Disziplinargesellschaft geht es jetzt um die „Risikogesellschaft“,10 das heißt, um die Frage, wie die Macht auf die Verwaltung der Risiken der Bevölkerung abzielt und damit die „Sicherheit“ zum zentralen Thema wird. Ferner setzt die sich im 18. Jahrhundert abzeichnende Regierungsform weniger die Unterwerfung als die „Freiheit“ der Individuen voraus. Was meint Foucault mit „Freiheit“? „In Wirklichkeit muss diese Freiheit, zugleich Ideologie und Technik der Regierung, muss diese Freiheit im Innern der Mutationen und Transformationen der Machttechnologie verstanden werden. Und auf eine präzisere und bestimmtere Weise ist die Freiheit nur das Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositiven“ (Foucault 2006a, S. 78). Die governmentality studies erforschen sowohl die historischen Felder der Regierungen als auch die spezifischen Bezugnahmen auf sich selbst („Technologien des Selbst“). Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich Machtverhältnisse und Herrschaftstechniken, insbesondere Staatsbildungen, Sicherheitsdispositive und neoliberale (Diskurs-)Regime, mit den Praktiken des Selbst verknüpfen; mit Blick auf das Subjekt heißt das, danach zu fragen, wie Subjekte durch bestimmte Techniken des Regierens zu bestimmten Formen des Handelns und des Selbstverhältnisses bewegt und motiviert werden können, ohne dass sie dies als einen Zwang empfinden, sondern diese Lenkung sogar als eine Befreiung betrachten. Macht regiert aus dieser Perspektive über die Bereitstellung von Handlungsmöglichkeiten, über Anreize und Lenkungen der sozialen Praktiken. Aus den neuen führenden und motivierenden Machtkonstellationen entstehen wiederum Zwänge und Gewaltverhältnisse. So ist beispielsweise der „Freiheit“ zur Selbstverantwortung und Eigeninitiative in Wirklichkeit auch ein Zwang inhärent, der das Subjekt auf sich zurückwirft. Wie Thomas Lemkes (2007, S. 47 ff.) Überblicksdarstellung zeigt, haben die governmentality studies im anglo-amerikanischen Raum eine eigene Forschungstradition ausgebildet. Im Mittelpunkt der Forschungen stehen hierbei nach Lemke besonders Untersuchungen zur sozialen Implikation biomedizinischer und biotechnologischer Praktiken („genetische Gouvernementalität“), aber auch die Anwendung des Gouvernementalitätskonzepts in der Organisationssoziologie, der Geografie, in den postcolonial studies, in den urban bzw. space studies bis hin zur politischen Analyse internationaler Flüchtlingspolitik. Das Gouvernementalitätskonzept wird unter anderem in der Kriminologie, in den Medienwissenschaften, den Politikwissenschaften, in der Pädagogik, in den Geschichtswissenschaften und in der Theologie verwendet.11

10

Aber nicht im Sinne von Ulrich Beck (vgl. dazu Lemke 2007, S. 51 ff.). Detaillierte Angaben zu entsprechenden Publikationen finden sich bei Lemke (2007, S. 50).

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Eine Vielzahl der gegenwärtigen deutschsprachigen Forschungen im Rahmen der governmentality studies untersucht aktuelle Prozesse der „Ökonomisierung des Sozialen“ (vgl. Bröckling et al. 2000; Opitz 2004). Darunter wird einerseits eine Ausweitung der ökonomischen Effizienzkriterien auf alle gesellschaftlichen Bereiche verstanden sowie umgekehrt auch eine im neoliberalen Diskurs verankerte „Kultivierung des Marktes“ (Gertenbach 2007). Andererseits fällt unter „Ökonomisierung des Sozialen“ das Kraftfeld einer neoliberalen, sich in die unterschiedlichsten Bereiche des Sozialen ausbreitenden Subjektivierungsform: das Leitbild des projektförmigen und „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007, 2017). Mit den Analysen zum Neoliberalismus und dessen Diskurspraktiken bewerkstelligt die poststrukturalistische Kulturforschung der governmentality studies ansatzweise die für eine umfassende Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendige Verbindung zwischen den noch hauptsächlich an den Diskursen orientierten poststrukturalistischen Kulturtheorien einerseits und Untersuchungen zu den objektiven ökonomischen Verhältnissen andererseits. Ein weiteres Forschungsgebiet der governmentality studies bildet im deutschsprachigen Raum die Analyse der vielfältigen aktuellen Sicherheits- und Risikodiskurse (vgl. Bröckling et al. 2000; Lemke 2007). Im Gegensatz zum Risikobegriff von Ulrich Beck (1986), bei dem „das Risiko direkt aus der industriell-gesellschaftlichen Realität folgt“, wird hierbei unter „Risiko“ „eine Art des Denkens über die Realität und der Versuch, sie vorhersehbar und beherrschbar zu machen“, verstanden (Lemke 2007, S. 51 f.). Entscheidend ist nun für die gouvernementale Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft die Privatisierung und Individualisierung der Risiken. Das heißt jedoch nicht, dass sich nun der Staat völlig zurückgezogen hätte. „Die Eigenart neoliberaler Strategien besteht darin, dass diese die Verantwortung für gesellschaftliche Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Armut etc. und das (Über-)Leben in Gesellschaft in den Zuständigkeitsbereich von kollektiven und individuellen Subjekten (Individuen, Familien, Vereine etc.) verlagern und zu einem Problem der Selbstsorge transformieren.“ (Lemke 2007, S. 55) Das Resultat dieser Entwicklung ist, dass die politischen Lösungen der sozialen Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Gewaltexzesse, Diskriminierung oder Alkoholmissbrauch nicht mehr auf einer gesellschaftlich-strukturellen Ebene, sondern bei den Individuen selbst gesucht werden.

7.2

Queer studies

Auch die queer studies beziehen ihre theoretischen Grundlagen aus den poststrukturalistischen Kulturtheorien. Insbesondere Judith Butler gilt hier theoretisch und auch hinsichtlich der politischen Strategie der queer-Bewegung als eine der profiliertesten Begründerinnen (vgl. Moebius 2003, S. 280 ff.; Villa 2003, S. 107). Im Zentrum der queer studies steht die Frage nach der Produktion und den Ausschlussmechanismen sexueller Identitäten (vgl. Engel 2008). Der Begriff „queer“ entstand gemäß Butlers Kulturtheorie der Performativität aus einer bewussten Resignifizierung bzw. Praxis des „falschen“ Zitierens: „queer“ war ursprünglich ein Schimpf-

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wort und wurde als hate speech gegen Homosexuelle verwendet. Seit Anfang der 1990er-Jahre wird der Begriff zum „umbrella term“ und zur affirmativen Selbstdefinition zahlreicher, über homosexuelle Identitäten hinausgehender sexueller Subjektpositionen. Die queer studies problematisieren in Abgrenzung zu den „traditionellen“ gay and lesbian studies den hegemonialen Charakter von sexuellen und geschlechtlichen Kategorien insgesamt – Kategorien, die im Alltagsverständnis auf einer festen, geschlossenen und kohärenten Identität basieren. Die Kategorien „schwul“ und „lesbisch“ werden einerseits als zu undifferenziert und andererseits als ausschließend betrachtet. Es wird innerhalb der feministischen Theorie und davon ausgehend in den Sozial- und Kulturwissenschaften immer mehr herausgearbeitet, dass nicht mehr von einheitlichen Identitäten und (leiblichen) Erfahrungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Geschlechtskategorie oder der gleichen sexuellen Orientierung gesprochen werden kann. Wie für die poststrukturalistischen Theorien insgesamt ist auch für die queer studies das dekonstruktive Analysekonzept des „konstitutiven Außen“ zentral. Demzufolge ist auch eine homosexuelle Identität nicht einheitlich oder zur einzigen und ausschließlichen Identifizierung eines Subjekts zu erheben, denn das würde das konstitutive Außen/Andere jeder Art von Identifizierung (also auch der homosexuellen) negieren sowie eine Vereinseitigung eines vielfach konstituierten Subjekts erzwingen (vgl. Butler 1991, S. 103). Sexualität stellt für die queer studies kein für immer festgelegtes biologisches Faktum dar. Im Gegenteil, sie entlarven die Existenz zweier Geschlechter sowie die Manifestation sexueller Vorlieben in lediglich hetero- oder homosexueller Form als diskursive und historische Produkte. Der queer-Kritik an einer Dominanz von bestimmten Identitätsmerkmalen in der Fremd- und Selbstbeschreibung geht es aber nicht einfach darum, das Subjekt als eine Pluralität von Identifizierungen zu würdigen, sondern – wie besonders Foucault und Butler betonen – die Formen und Weisen der Subjektivierungen, Identifikationsprozesse und Selbstbeziehungen der Subjekte bzw. der Subjektpositionen innerhalb von Machtbeziehungen und Dispositiven zu analysieren. Sexualität gilt aus dieser Perspektive neben Klasse, Ethnie und Geschlecht als eine weitere zentrale Form der Vergesellschaftung. Die queer studies betrachten Homosexualität und Heterosexualität als historische und diskursive Kategorien, die den Rahmen dafür konstituieren, wie in den meisten Kulturen – vermittelt über bestimmte Normierungen des Körpers, der Bedürfnisse und der Sexualität – Subjekte konstituiert werden. Dabei wird deutlich, dass ein ausschließliches Insistieren auf Hetero- und Homosexualität andere sexuierte Positionen verwirft. Dies führt zu einer generellen Beurteilung von Subjektkonstitutionen, die darin liegt, dass keine Subjektposition oder sexuierte Kategorie ohne eine Logik der Verwerfung auskommt. Das heißt, um die Einheit einer Identität zu betonen, wird das Andere der Identität verworfen. Neben allgemeinen dekonstruktiven Forschungen zur Konstituierung von Identitäten richten die queer studies den Blick neuerdings verstärkt auf die institutionellen Praktiken und institutionalisierten Diskurse, die (jegliche Rede von) Sexualität erst hervorbringen und das soziale Leben organisieren (vgl. Seidman 1996, S. 13). Insbesondere die Heteronormativität wird als hegemoniale Form der Sexualität zum

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Thema gemacht und die institutionelle Wirkungsmächtigkeit der diskursiven Formationen der Heterosexualität analysiert. Die Norm der Heterosexualität, d. h. die normative Auffassung von Heterosexualität als die „normale“ Ausprägung sexuellen Begehrens, organisiert in den Augen der queer studies nicht nur das, was als „natürliche“ Sexualität bezeichnet wird und was nicht, sondern sie produziert auch gesellschaftliche Normen, Werte, Strukturen und Konzepte, die sich nur auf den ersten Blick als „sexualitätsfreie“ Vorstellungswelten und Institutionen darstellen. Wie die Theoretiker und Theoretikerinnen der queer studies in unterschiedlichen Forschungen auf dekonstruktive Weise darlegen, ist die Norm der Hetero-Sexualität jedoch in verschiedenen kulturellen, materiell gewordenen Konzeptionen von Körperlichkeit und Geschlecht, von Familie, Individualität und (National-)Staat, in verschiedenen Oppositionen wie privat/öffentlich, passiv/aktiv, Wahrheit/Geheimnis, Hetero/Homo, Natur/Kultur, Mann/Frau, Begehren/Identität etc. tief verankert und wirksam (vgl. Warner 1993).

7.3

Postcolonial studies

Das dekonstruktive Analysekonzept des „konstitutiven Außen“ ist auch für die postcolonial studies zentral. Wie die Mehrzahl der gegenwärtigen Studies sind auch sie von den poststrukturalistischen Kulturtheorien geprägt.12 Das betrifft zum einen die dekonstruktivistisch verfahrende Infragestellung der Stabilität und Wesenhaftigkeit kultureller Differenzmarkierungen als auch die poststrukturalistisch (insbesondere von Foucault) informierte Kritik an westlich-europäischen Epistemologien. Im Zentrum der oftmals diskursanalytisch arbeitenden Forschungen der postcolonial studies stehen Prozesse des „Othering“, das heißt die spezifischen historischen Konstruktionen des kulturell Anderen sowie die Differenzmarkierungen zu einem (konstitutiven) kulturellen Anderen, das gleichermaßen sowohl zum Objekt negativer Verwerfung wie positiv-attraktiver Identifikation avanciert. Wie insbesondere Edward Said (1978) gezeigt hat, stellt der „orientalisierte Orient“ ein bedeutendes Beispiel dieser (selbstkonstitutiven) Beziehung zu einem mit spezifischen Stereotypen bezeichneten Anderen dar. Die Identität des „Westens“ ist nach den postcolonial studies abhängig von der Konstruktion („Othering“) eines nicht-westlichen Anderen. Neben den poststrukturalistischen Kulturtheorien werden von den postcolonial studies auch marxistische Ansätze rezipiert und fruchtbar gemacht. Im Vordergrund stehen hier insbesondere Prozesse der Migration, der internationalen Arbeitsteilung sowie der (Re-)Kolonialisierung. Die prominentesten Vertreter der postcolonial studies sind Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha. Während sich die Forschungen von Spivak auf die

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Vgl. Castro Varela und Dhawan (2005). Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf diese instruktive und kritische Einführung in die postkoloniale Theorie sowie auf Nandi (2006). In Bezug auf Bhabha beziehe ich mich neben Bhabha (2000) v. a. auf Bonz und Struve (2006).

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Schnittstellen zwischen Klasse, Ethnizität und Geschlechterverhältnis konzentrieren – man bezeichnet sie deshalb auch als „feministisch-marxistische Dekonstruktivistin“ –, steht Bhabha für das Analysekonzept der „kulturellen Hybridität“. Spivak versucht sowohl Marxismus, Feminismus als auch Dekonstruktion in ein wechselseitiges, für die Erforschung kultureller Ausschlussmechanismen fruchtbares Spannungsverhältnis zu rücken. Derridas Praxis der Dekonstruktion ist in ihren Augen sehr nützlich für die Erforschung von Subjektivierungsprozessen (vgl. Spivak 2008, S. 66 ff.), da sie aufzeigt, dass es keine eigenen „Wurzeln“ und damit auch keine „Reinheit“, keine Authentizität oder ein „Original“ von Identitäten oder „ Dritte-WeltSubjekten“ gibt. Die Dekonstruktion beugt in Spivaks Augen einer Verklärung und „Nostalgie der Ursprünge“ vor. „Indem Spivak Identität als ‚zerstreut‘ und ‚dezentriert‘ theoretisiert, widersetzt sie sich auch der Vorstellung, dass nur das postkoloniale Subjekt postkoloniale Themen behandeln könnte. Eine solche Position bezeichnet sie als ‚umgekehrten Ethnozentrismus‘.“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S. 63) Mit Derrida teilt sie darüber hinaus die theoretische Erkenntnis, dass eine bloße Umpolung oppositioneller Denkschemata, also beispielsweise den „Orient“ nun für pauschal besser zu befinden als den „Westen“, keine Veränderung der Herrschaftsmechanismen mit sich bringt. Und wie Butler setzt Spivak vielmehr auf die Möglichkeit, in den Praktiken der Wiederholung der Strukturen diese von innen her zu destabilisieren und zu verändern. Auch Homi K. Bhabha ist neben Einflüssen von Freud, Lévinas und Althusser vom poststrukturalistischen Denken – insbesondere von Derrida, Lacan, Foucault, Laclau und Mouffe – geprägt. Darüber hinaus erinnern seine Texte häufig an Judith Butler (vgl. Bronfen 2000, S. XIII), da er die Konstituierung von Subjekten ganz ähnlich wie diese auf performative und iterative Prozesse rückbezieht (vgl. Moebius 2002, S. 96 ff.). Wie für Derrida ist auch für seine postkoloniale Kulturtheorie das Konzept des konstitutiven Außen und damit die Einsicht zentral, dass jedes kulturelle System von einer konstitutiven Differenz durchzogen und somit niemals ganz „bei sich“ ist. Gemeint ist damit nicht die noch im Multikulturalismus oder im Ethnopluralismus der Neuen Rechten zu findende Annahme, dass jede Kultur sich von einer anderen unterscheide und eine kulturelle Entität sei – Bhabha distanziert sich ausdrücklich vom Ethnopluralismus und Multikulturalismus, die er als eine Grundlage neoliberaler Identitätspolitik bezeichnet (vgl. Moebius 2002, S. 98 ff.). Im Gegensatz zu diesen Vorstellungen von kultureller Vielfalt richtet Bhabha seinen Blick vornehmlich auf die internen Spaltungen von Kultur und betont, dass jeder Kultur eine fundamentale Differentialität immanent ist. „In seiner terminologischen Verwendung von Differenz plädiert Bhabha für einen Kulturbegriff, der Antagonismen, Widersprüchlichkeiten und gar Inkommensurabilitäten als Basis kultureller und politischer Konzepte denkt.“ (Bonz und Struve 2006, S. 143) Aus Bhabhas Sicht ist die fetischisierende Aufladung des Anderen, wie sie Said am Beispiel des Orients beschrieben hat, ambivalent, er ist – in Anlehnung an die Charaktersierung des Sakralen durch Rudolf Otto – fascinans et tremendum, faszinierend und gefürchtet zugleich. Der Andere avanciert nach Bhabha zum Objekt der Sehnsucht nach einer einheitlichen und „reinen“ Kultur (oder vor dem Hintergrund der mit dem „Othering“ einhergehenden Naturalisierungsdiskurse könnte man auch

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sagen: Natur) sowie zum Objekt der Angst vor einer unberechenbaren, differenten und unbestimmbaren Andersheit, die die Annahme von der „Reinheit“ und Essenzialität der eigenen Kultur untergraben und aufweichen könnte. Die Einsicht in die Ambivalenz des Kulturellen – oder in der Sprache Derridas: des „Anderen im Selben“ – ist zentral für Bhabhas Konzept der „Hybridität“. Mit diesem, besonders in der deutschen Rezeption oft missverstandenen (vgl. Ha 2005, S. 85 ff.) Begriff bezeichnet Bhabha Formen kultureller Überlappung und immer schon vorhandene Kombinationen kultureller Codes. Die Hybridität kultureller Codes ist dabei nicht nur auf eine soziale, institutionelle oder räumliche Ebene beschränkt, sie bezieht sich auch auf unterschiedliche kulturelle Zeitkonzepte (vgl. Bhabha 2000, S. 353 ff.; Bonz und Struve 2006, S. 141). Die postkoloniale Theorie will sich nicht nur auf Situationen postkolonialer Länder bezogen wissen. Wie die gesamte Theorie ist auch das Konzept der Hybridität ein nicht auf einen Untersuchungsgegenstand begrenztes Analyseinstrument (vgl. Reckwitz 2006b, S. 720 f.) Über den analytischen Aspekt hinaus bezeichnet das Konzept der Hybridität für Bhabha auch die Eröffnung einer subalternen Handlungsmacht und subversiven Praxis (im Butler’schen Sinne) im kolonialen Diskurs. Genau wie Butler sieht er den (kolonialen) Diskurs nicht nur als Zwangsmittel an. Da der Diskurs immer Brüche und Ambivalenzen aufweist (aufgrund seiner Unmöglichkeit der endgültigen Schließung), ergeben sich durch die Momente kultureller Hybridität bzw. der „Unreinheit“ des Diskurses neuartige Möglichkeiten der Umgestaltung. Die diskursiven Bedingungen der Herrschaft avancieren so zur Grundlage des Widerstands. Wie Butler oder die queers ist es für Bhabha das falsche Zitieren, die Entstellung und die unpassende Verwendung des herrschenden Diskurses, wodurch eine Umdeutung, Verunreinigung und Hybridisierung der (kolonialen) Hegemonie erreicht werden können (vgl. Bhabha 2000, S. 165 f.) Zusammenfassend gesagt teilen die postcolonial studies mit den anderen Kulturtheorien der Gegenwart einen anti-essenzialistischen und anti-holistischen Begriff von Kultur. Sie vertreten „die Vorstellung von hybriden Kulturen als Effekte eines mittels Differenzen Bedeutung artikulierenden Modus alles Kulturellen.“ (Bonz und Struve 2006, S. 152)

7.4

Cultural Studies

Für die poststrukturalistische Phase der Cultural Studies13 ist insbesondere die Rezeption der Derrida’schen Dekonstruktion sowie der Hegemonie- und Ideologietheorie von Laclau und Mouffe zentral (vgl. Winter 1999, S. 180, 2001a, S. 164). Kultur ist für die Cultural Studies die symbolisch-praktische Ordnung des Sozialen, das permanent in Praktiken des „doing culture“ (re-)produzierbare und transformier13

Vgl. zur Phase der Cultural Studies ab den 1990ern auch Grossberg et al. (1992). Zum Folgenden s. Winter (1999, S. 180 ff.). Zu den früheren Phasen der Cultural Studies siehe Moebius (2010, S. 119 ff.).

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bare Material, mit dem die Menschen ihren (materiellen und sozialen) Erfahrungen Ausdruck verleihen, Sinn und Bedeutung geben und das wiederum neue Erfahrungen möglich machen kann. In der poststrukturalistischen Phase der Cultural Studies rückt der Ideologiebegriff stärker als zuvor in den Mittelpunkt der Betrachtung. Er wird als ein Bindeglied zwischen Gesellschaft und Kultur aufgefasst, wobei die Sozialstruktur der Gesellschaft nicht zum notwendig determinierenden Faktor der Ideologie avanciert. Stattdessen wird mit Laclau und Mouffe von der Geschichtlichkeit und einer Vielzahl miteinander konkurrierender und widerstreitender Ideologien ausgegangen. Ein weiteres Merkmal der gegenwärtigen Cultural Studies ist die auf Laclau und Mouffe zurückgehende Annahme, dass die gesellschaftlichen Antagonismen über Klassenwidersprüche hinausgehen. Die Cultural Studies heben stattdessen die relative Autonomie beispielsweise sexistischer oder rassistischer Unterdrückung hervor – Antagonismen, die ihrer Meinung nach nicht auf einen Klassenwiderspruch reduziert werden können. Insgesamt vertreten sie die Ansicht, dass die gesellschaftlichen Antagonismen heutzutage vermehrt auf einer breiteren Ebene zwischen den (kulturell) Herrschenden und den Beherrschten zu suchen sind – oder in den Worten von Stuart Hall (1981, S. 238): zwischen einem „power-bloc“ und „the people“. Die Beherrschten sind aber keine unbewegliche, ohnmächtige Masse, sondern besitzen ihrerseits Handlungskraft und Widerstandspotenzial. Interessant ist, dass gegenwärtige Vertreter der Cultural Studies wie Stuart Hall und John Fiske dieses Widerstandspotenzial analog zu den anderen poststrukturalistischen Kulturtheorien nicht in einem Bereich außerhalb der Machtbeziehungen und gesellschaftlichen Kämpfe verorten, sondern als ein kreatives Potenzial der marginalisierten und unterdrückten Subjekte innerhalb dieser Beziehungen (vgl. Winter 2001b, S. 10 ff.). Angelehnt an den poststrukturalistischen Ansatz von Derrida geht etwa John Fiske davon aus, dass Ideologien bzw. allgemeiner: Sinnsysteme niemals endgültig verfestigt und fixiert werden können. Deutlich wird die Unmöglichkeit der Sinnfestlegung beispielsweise in der Kulturindustrie: Der Grund für eine permanente Über-Produktion kulturindustrieller Güter sei in der Unmöglichkeit zu suchen, den Sinn der kulturellen Güter endgültig zu bestimmen (vgl. Fiske 2001, S. 118). Fiske dekonstruiert auf diese Weise Produkte der populären Kultur und zeigt so „die Inkonsistenzen, die Unabgeschlossenheit, die widersprüchliche Struktur oder die Polyfonie medialer Texte auf, arbeitet heraus, wie eng populäre Texte auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezogen sind und soziale Differenzen artikulieren.“ (Winter 1999, S. 184) Die Derrida’sche Erkenntnis einer Unabschließbarkeit von Bedeutungen verknüpft Fiske in einem zweiten Schritt mit Foucaults Analytik der Macht und des Widerstands (vgl. Fiske 2001, S. 119). Macht ist aus dieser Perspektive immer ein Kräfteverhältnis, in dem die Beherrschten ebenfalls über Widerstandskräfte verfügen. Wo setzen diese jedoch an? Fiske verortet diese Widerstandskraft in dem kreativen Potenzial der „Leute“ („the people“), die bestehenden dominanten Ideologien, Sinnsysteme und Machtstrukturen vom Rand her, von ihrem kulturellen Ort der populären Kultur her, zu transformieren. Die kreative Bekämpfung der herrschenden Ideologie ist deswegen möglich, weil die dominante Kultur keine absolute

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Kontrolle über die „Polysemie“, das heißt das vielfältige Bedeutungspotenzial der ideologischen Apparate und kulturellen Güter hat.14 Fiske versteht seine Medienanalysen und Arbeiten zum Populären explizit als Werkzeuge der Transformation und der Selbstermächtigung der Gegen-Macht. Er verbindet unter dem Zeichen der Cultural Studies sowohl poststrukturalistische und (im engeren Sinne) praxistheoretische Kulturtheorien. Das kreative Potenzial ist den Akteuren hierbei nicht unbedingt bewusst (vgl. auch Joas 1992). Fiske situiert die Kreativität in expliziter Anlehnung an Kunst des Handelns von Michel de Certeau (1988) und an die Begrifflichkeit Bourdieus in den alltäglichen Routinen und Gewohnheiten des praktischen Bewusstseins bzw. des Habitus und spricht von einer „populären Kreativität“ (vgl. Fiske 2001, S. 139 ff.). Auf eine innovative Weise vermischen sich in der aktuellen Phase der Cultural Studies Poststrukturalismus, Bourdieu’sche Praxistheorie und Kreativitätstheorien. Charakteristisch ist darüber hinaus die Verlagerung der Forschungsthemen: Die Studien zur jugendlichen Subkultur werden zunehmend von Untersuchungen zum Populären, alltäglichen Praktiken, den Medien, zu Geschlecht, Sexualität, ethnischer Zugehörigkeit, kulturellen Identitäten und historisch-spezifischen Rassismen abgelöst (vgl. Hall 1994, 2004). Damit wird deutlich, dass sich „die Cultural Studies nicht so sehr über einen bestimmten Gegenstandsbereich (wie z. B. Alltagskultur oder Medienkultur oder Massenkultur) bestimmen, sondern über ihre politische Perspektive. Durch das Prisma der Cultural Studies betrachtet, stellt sich Kultur als ein Feld von Machtbeziehungen dar, auf dem soziale Identitäten wie Klasse, ‚Rasse‘, Geschlecht oder sexuelle Orientierungen konfliktorisch artikuliert und zu breiteren hegemonialen Mustern verknüpft werden.“ (Marchart 2008, S. 16) Insbesondere Stuart Hall widmet sich der Frage nach dem Zusammenhang zwischen (Re-)Produktion von Identitäten und Machtverhältnissen (vgl. zu Hall: Winter 2006). Ausgehend von Laclaus und Mouffes Hegemonietheorie und Derridas Praxis der Dekonstruktion zeigt er den kontingenten und umkämpften Charakter von kulturellen Identitäten auf (vgl. Hall 1994, S. 26 ff.; Moebius 2002, S. 91 ff.). Dabei versucht er die poststrukturalistischen Theorien mit materialistischen Analyseperspektiven zu verbinden (vgl. Göttlich 2001, S. 31). Das Ziel besteht in dem Projekt einer radikalen Demokratie. Diese Zielrichtung teilt er mit anderen besprochenen poststrukturalistischen Kulturtheorien (Derrida, Laclau/Mouffe, Butler). Dabei verknüpft er die Dekonstruktion mit Gramscis Konzeption des Stellungskriegs, das heißt, dem Kampf um Hegemonie in allen gesellschaftlichen Feldern. Gemeint ist damit eine Art „Identitätspolitik zweiten Grades“ (vgl. dazu Moebius 2003) oder Bündnispolitik im Butler’schen Sinne, die sich der Konstruiertheit der Identitäten, aber auch der politischen Notwendigkeit von Identitäten bewusst ist. Die Dekonstruktion von Identitäten bedeutet aus dieser Perspektive nicht, die Konstruktion Hier schließt das von Stuart Hall (1980) entwickelte „Encoding/Decoding-Modell“ an, das zwischen drei Lesarten oder Rezeptionsweisen von medialen „Texten“ unterscheidet: a) einem „preferred reading“, das innerhalb der vorgegebenen, dominanten Codes verbleibt, b) dem „negotiated reading“, einer Mischung aus dominanter und oppositioneller Lesart und c) dem „oppositional reading“, das den „Text“ subversiv dekodiert.

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kollektiver Identitäten als Mittel der politischen Auseinandersetzung aufzugeben. Dies wäre schon deswegen utopisch, weil Identitäten niemals das Resultat beliebiger Wahl, sondern durch vorgefundene Machtbeziehungen und Strukturen artikulierte und verknotete Subjektformationen sind. Sie haben spezifische kulturelle, soziopolitische und historische Konstitutionsbedingungen. Politisch gesehen ist es deshalb nicht unerheblich, wie die Formationen gedacht werden: Weil man Hall zufolge Identitäten nicht aufgeben kann, muss man für eine emanzipatorische Politik ein anderes Konzept von Identitätspolitik entwickeln. Anstatt weiterhin den Ausschluss der Anderen mittels einer Identitätspolitik (ersten Grades) voranzutreiben, sollte es nach Stuart Hall darum gehen, die Produktivität interner Differenzen in den Identitäten zu betonen (Hall 1994, S. 84). Fragt man nun nach dem Kulturbegriff der gegenwärtigen Cultural Studies, so kann man diesen mit Oliver Marchart (2008, S. 252) folgendermaßen definieren: Da in den gegenwärtigen Cultural Studies eine Kritik der Macht im Zentrum stehe, müsste unter „Kultur“ folglich jener „Ort“ des Sozialen „verstanden werden, an dem Machtverhältnisse verhandelt werden, an dem um die Definition und Redefinition von Unterordnung und Unterdrückung gekämpft wird, an dem soziale Ausschlüsse produziert und legitimiert werden, an dem aber auch sozialer Einschluss reklamiert werden kann.“ Die Cultural Studies weisen wesentliche Kriterien kritischer Kultur- und Gesellschaftstheorien auf, die darin liegen, erstens die sich verändernden konkreten Formen von Herrschaft zu untersuchen und zweitens Konzepte und Begriffe kritisch zu dekonstruieren, die gesellschaftliche Herrschaft ausblenden, verschleiern oder verharmlosen (vgl. Moebius und Schäfer 2006, S. 8). In diesem Sinne sind die Cultural Studies ein Beispiel dafür, wie Kultursoziologie und Kulturanalyse insgesamt nicht bloß eine Subdisziplin unter vielen darstellen, sondern dazu in der Lage sind, eine wissenschaftlich fundierte, allgemeine, politische sowie kritische gesellschaftstheoretische Perspektive zu entwickeln.

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Schluss

Die Verschränkung und gegenseitige Ergänzung poststrukturalistischer, pragmatistischer und praxistheoretischer Ansätze ist eines der Kennzeichen des gegenwärtigen deutschsprachigen Feldes der kultursoziologischen Theorieentwicklung.15 Zuweilen werden poststrukturalistische Ansätze wie derjenige von Judith Butler auch zu den Praxistheorien gezählt, ebenso wie pragmatistische Ansätze wie derjenige von John Dewey oder Hans Joas. Vertreterinnen und Vertretern der Praxistheorien wurde deswegen zuweilen vorgeworfen, in sich differente und höchst unterschiedliche Theoriekonzepte unter einem Dach zu versammeln, ohne für die Differenzen sensibel zu sein oder diese allzu schnell einzuebnen. So lässt sich aus Sicht mancher der 15

Siehe dazu auch meinen Beitrag zur deutschsprachigen Kultursoziologie im Handbuch Kultursoziologie Band 1.

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angeführten Autorinnen und Autoren selbst keine Nähe zu anderen, unter „Praxistheorie“ laufenden Ansätze finden: Hans Joas etwa würde seine Theorie der Kreativität des Handelns sicher nicht in der Nähe von Foucault sehen. Fruchtbarer erscheint mir deshalb nach Ergänzungen und Verschränkungen zu suchen, nach Punkten, an denen ein Ansatz den anderen – um es in poststrukturalistischem Vokabular zu sagen – supplementiert. Ich selbst favorisiere eine Verschränkung und gegenseitige Ergänzung von pragmatistischen, Bourdieu’schen und poststrukturalistischen Ansätzen, in der die „Kreativität des Handelns“ (Joas 1992) mit Dimensionen der symbolischen Macht und den sozialstrukturellen Distinktionspraktiken (vgl. Moebius 2011) sowie mit Dimensionen einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft und Kultursoziologie (vgl. Moebius 2003; Moebius und Reckwitz 2008) verbunden werden. So lässt sich – um dies nur skizzenhaft anzudeuten – durch den Pragmatismus die Entstehung des Bewusstseins über die Vermittlung über Andere erklären; der Bedeutung der Anderen kommt dabei eine ganz ähnlich konstitutive Rolle für die Subjektwerdung und Handlungsfähigkeit zu wie im Poststrukturalismus, wobei der Pragmatismus von Mead im Vergleich zu diesem noch viel mehr zu den Sozialisationsprozessen und der Identitätsentwicklung auf intersubjektiver Ebene sowie zur Entstehung von Symbolen überhaupt etwas zu sagen hat (vgl. Pettenkofer 2013, S. 88 ff.; Nungesser 2017). Dass diese Prozesse aber nicht in einem macht- oder hegemoniefreien Raum stattfinden und wie sich diese Machtfelder historisch diskursiv und nicht-diskursiv im Laufe der Geschichte konstituiert haben und sich zu Sinn-, Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensstrukturen verdichteten, dazu kann der Poststrukturalismus und das Konzept der symbolischen Macht von Bourdieu wiederum mehr beitragen als der Pragmatismus (vgl. Nungesser 2017). Die konkreten, in einem sozial ausdifferenzierten Raum vollzogenen Praktiken wiederum, deren habituelle Verankerung und feldspezifischen Einsatzformen lassen sich mit Bourdieus Praxeologie gut fassen, wobei hier die Momente der „Kreativität des Handelns“ (Joas), wie sie eben der Pragmatismus betont, noch stärker theoriesystematisch berücksichtigt werden sollten (vgl. Schäfer 2012). Das alles kann an dieser Stelle nur knapp angerissen werden. Die Verschränkung von Praxistheorie und Poststrukturalismus findet derzeit ihren Ausdruck besonders prominent in der Kultursoziologie von Andreas Reckwitz (2008b). Praktiken und Diskurse sind aus dieser Sicht nicht getrennte Gegenstände der Untersuchung, sondern „zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen“ (Reckwitz 2008b, S. 202). Die Analyse zielt dann auf historisch spezifische Praxis/Diskurs-Formationen, bei denen scheinbar ideelle Diskurse und scheinbar bloß materielle Praktiken „als Bestandteile der gleichen Konfiguration“ deutlich werden, die aber nicht eine homogene Einheit bilden, sondern in sich instabil sind und mit anderen Formationen konkurrieren (vgl. Reckwitz 2008b, S. 202). Kulturelle Ordnungen manifestieren sich nach Reckwitz „in Praktiken und Diskursen gleichermaßen“ (Reckwitz 2008b, S. 206). Die daraus folgende kultursoziologische Analytik ist zwar „in ihrem Kern praxeologisch ausgerichtet“, aber in der Forschungsheuristik „poststrukturalistisch inspiriert“, denn sie nimmt poststrukturalistische Analysekategorien wie „Diskurs“, „Subjektivierung“ und „Dispositiv“ explizit auf (Reckwitz 2010, S. 188), was auch

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im Analyserahmen dieser „neuen“ Kultursoziologie deutlich wird, dessen Eckpfeiler die Analyse von Praktiken, Diskursen, Artefakten und Subjektivierungen sind (Reckwitz 2010, S. 188). „Der analytische Blick der Kultursoziologie wird somit jedoch in jedem Fall von der Voraussetzung homogener Weltbilder und Diskursformationen umgelenkt in die im Detail dechiffrierbare, ‚unreine‘ Kombinationslogik diverser kultureller Elemente in den Praktiken, Diskursen, Subjektivierungen und Praxis-/Artefaktsystemen (vgl. Moebius und Reckwitz 2008).“ (Reckwitz 2010, S. 195) Eindrucksvoll hat Reckwitz diese praxistheoretisch-poststrukturalistische Kultursoziologie etwa in seinen Büchern Das hybride Subjekt (2006a) oder Die Erfindung der Kreativität (2012) umgesetzt.

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Praxistheorie als Kultursoziologie Hilmar Schäfer

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Konturen des praxeologischen Paradigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Beiträge zur Praxistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Charakteristika der Praxistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aktuelle Debatten und Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Praxistheorie bietet einen kultursoziologischen Ansatz, das sinnhafte menschliche Tun in seiner Alltäglichkeit und Vielfältigkeit zu analysieren und dabei Fehlschlüsse anderer sozialtheoretischer Perspektiven zu vermeiden, indem insbesondere die Relationalität, Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Körperlichkeit und Materialität des Sozialen anerkannt werden. Der Beitrag zeichnet die Entwicklung der Praxistheorie und ihre Konstitution als Theoriebewegung nach, fasst einzelne praxeologische Positionen zusammen und arbeitet die Charakteristika der Praxistheorie systematisch heraus. Abschließend wird auf aktuelle Debatten und Forschungsfelder verwiesen. Ein Schwerpunkt liegt dabei jeweils auf den Bezügen zur Kultursoziologie. Schlüsselwörter

Praxistheorie · Kultursoziologie · Sinn · Bedeutung · Relationalität · Körperlichkeit · Zeitlichkeit · Räumlichkeit · Pierre Bourdieu · Anthony Giddens · Theodore Schatzki · Michel Foucault · Judith Butler · Cultural Studies · Bruno Latour H. Schäfer (*) Vergleichende Kultursoziologie, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_2

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H. Schäfer

Einleitung

Die Praxistheorie ist ein gegenwärtig breit rezipiertes und angewandtes, fundamental kultursoziologisch ausgerichtetes Forschungsprogramm. Das auf den ersten Blick ungewöhnliche und vielleicht irritierende Kompositum aus „Praxis“ und „Theorie“ steht für einen Ansatz, das sinnhafte menschliche Tun in seiner Alltäglichkeit und Vielfältigkeit zu analysieren und dabei Fehlschlüsse anderer sozialtheoretischer Perspektiven zu vermeiden, indem insbesondere die Relationalität, Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Körperlichkeit und Materialität des Sozialen anerkannt werden. Mit dem Praxisbegriff wird das Soziale in regelmäßigen und beständigen lokalen Hervorbringungen verortet, dabei aber betont, dass diese übersituativ strukturiert sind. Praktiken werden als gleichzeitig ermöglichende und einschränkende Basiselemente des Sozialen begriffen, die sowohl die Grundlage für soziale Ordnung als auch für Subjektivität bilden. Die Praxistheorie überwindet damit fundamentale soziologische Dichotomien wie die Dualismen zwischen Individuum und Gesellschaft, Handeln und Struktur oder zwischen Mikro- und Makroperspektive. Den Fluchtpunkt der praxeologischen Perspektive bildet ein kulturelles Verständnis des Sozialen als bedeutungsvoll und sinnhaft strukturiert. Kultur wird dabei ausgehend von einem dezentrierten Handlungs- und Subjektverständnis gefasst, also nicht auf ein sinnstiftendes Individuum zurückgeführt. Stattdessen stehen gesellschaftlich zirkulierende Praktiken und inkorporierte Wissensordnungen, die das Verstehen des Sozialen ermöglichen und strukturieren, im Zentrum der Erklärung von sozialer Ordnung. Der Praxisbegriff umfasst sowohl den Gebrauch von Zeichen als auch den Gebrauch von Dingen und verbindet somit die symbolische und die materielle Dimension des Sozialen. Die Praxistheorie kann zum einen nach der Reproduktion und Transformation kultureller Wissensordnungen und Bedeutungen fragen, zum anderen beispielsweise die Hoch- und Alltagskultur oder ausdifferenzierte Lebensstile untersuchen. Sie ist somit in einem zweifachen Sinne kultursoziologisch ausgerichtet: Einerseits kann sie Kultur als einen Gegenstand neben anderen betrachten, wenn sie kulturelle Phänomene im differenzierungstheoretischen Sinne analysiert, andererseits vertritt sie grundsätzlich und unabhängig vom jeweils untersuchten Forschungsgegenstand eine kulturelle Analyseperspektive, indem sie Praxis als symbolisch-materielles Doppel begreift. Im Folgenden wird zunächst knapp auf die Entwicklung der Praxistheorie und ihre Konstitution als Theoriebewegung eingegangen (2), bevor einzelne praxeologische Positionen (Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Theodore Schatzki, Michel Foucault, Judith Butler, Cultural Studies, Bruno Latour) zusammengefasst werden und auf ihre jeweilige kultursoziologische Relevanz verwiesen wird (3). In einem nächsten Schritt werden die Charakteristika der Praxistheorie systematisch herausgearbeitet (4.). Dieser Teil zielt auf das Verständnis ihrer Grundzüge sowie auf ihre Einordnung als Kultursoziologie. Am Ende des Abschnitts wird ein Vergleich mit der neueren deutschen Kultursoziologie gezogen. Abschließend werden die aktuellen Debatten und Forschungsfelder der Praxistheorie betrachtet (5). Hier wird erstens ein Überblick über die theoretische Debatte innerhalb der Praxistheorie (ihre fundamentalen Kategorien, ihre analytische Perspektive, ihre Methodologie) sowie zwei-

Praxistheorie als Kultursoziologie

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tens über aktuelle Forschungsfelder (kultursoziologisch im engeren Sinne und kultursoziologisch verfahrende Praxeologien anderer gesellschaftlicher Phänomene) gegeben. Der Fokus liegt dabei auf Studien, die Praxistheorie als eine Theoriebewegung begreifen (zu den Anschlüssen an Bourdieu und die Cultural Studies siehe die entsprechenden Kapitel in diesem Handbuch).

2

Konturen des praxeologischen Paradigmas

Der Begriff „Praxistheorie“ bzw. „Theorie der Praxis“ geht auf Pierre Bourdieu zurück, der ihn 1972 in seinem Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle geprägt hat. Die Arbeiten von Bourdieu (1976) und Anthony Giddens (1979) begründen das praxeologische Paradigma in der Soziologie. Beide Ansätze zielen in den 1970er-Jahren unabhängig voneinander auf die Überwindung etablierter sozialtheoretischer Dichotomien. Während Bourdieu den subjektivistischen (Existenzialismus, Phänomenologie) und den objektivistischen (Strukturalismus) Pol wissenschaftlicher Erkenntnis miteinander zu verbinden sucht, entwickelt Giddens seine Position aus einer Kritik des Strukturbegriffs, um den Dualismus von Struktur und Handeln aufzulösen. Beiden geht es um die Frage, wie Akteure die Bedingungen ihres Handelns in der Praxis reproduzieren und aktualisieren, und beide verweisen für die Erklärung dieses Zusammenhangs auf überindividuell strukturierte Interpretationen des Sozialen durch die Akteure. Bourdieu und Giddens greifen kulturtheoretische Impulse etwa aus der symbolischen Anthropologie von Clifford Geertz oder der strukturalistischen Ethnologie von Claude Lévi-Strauss auf, die in den 1960er- und 1970er-Jahren das hegemoniale funktionalistische Paradigma kritisieren und kulturelle Ordnungen ins Zentrum ihrer Erklärungen stellen (Ortner 2006). Sozialphilosophische Wurzeln des praxeologischen Denkens liegen unter anderem in Karl Marx’ (1978, S. 5) Begriff von Praxis als „sinnlich menschliche[r] Tätigkeit“ (Hillebrandt 2014, S. 31–53) sowie im US-amerikanischen Pragmatismus (Schäfer 2012), in Martin Heideggers Verständnis des Daseins als In-der-Welt-sein (Koppetsch 2001) und in Ludwig Wittgensteins sprachanalytischer Philosophie (Schatzki 1996), die auf jeweils unterschiedliche Weise die Bedeutung von Kompetenzen und Hintergrundwissen für das Lösen alltäglicher Handlungsprobleme und ganz grundlegend für das Verstehen des Sozialen hervorheben. In der englischsprachigen Rezeptionslinie hat zunächst die Anthropologin Sherry B. Ortner (1984) auf Gemeinsamkeiten zwischen den Ansätzen von Bourdieu und Giddens hingewiesen und damit als erste Autorin „practice theory“ als eine Theoriebewegung begriffen. Theodore R. Schatzki (1996) bringt Bourdieu und Giddens in seinem praxeologischen Ansatz zusammen, der zudem wesentlich von Wittgenstein und Heidegger beeinflusst ist. Er hat neben seinen eigenen theoretischen Arbeiten durch den gemeinsam mit Karin Knorr Cetina und Eike v. Savigny herausgegebenen Band The practice turn in contemporary theory wesentlich zur Konstitution der praxeologischen Theoriebewegung beigetragen (Schatzki et al. 2001). Für die deutschsprachige Rezeption sind insbesondere die Beiträge von Andreas Reckwitz (2000, 2003) einflussreich gewesen, der die Praxistheorie im Schnittpunkt

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H. Schäfer

von interpretativen und strukturalistischen Ansätzen situiert hat. Damit hat er ihre Stellung innerhalb der Kulturtheorien herausgearbeitet und ihr analytisches Potenzial für die (Kultur-)Soziologie verdeutlicht (Reckwitz 2004a). Weitere Arbeiten haben dazu beigetragen, die Konturen der praxeologischen Theoriebewegung zu schärfen (Hörning und Reuter 2004; Schmidt 2012; Schäfer 2013, 2016b; Hillebrandt 2014).

3

Beiträge zur Praxistheorie

Zwischen den einzelnen Positionen der Praxistheorie, verstanden als einer losen, aber dennoch definierbaren Theoriebewegung mit unscharfen Grenzen, besteht eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Bevor im nächsten Abschnitt ihre Grundannahmen diskutiert werden, wird im Folgenden knapp auf einige der wichtigsten Beiträge zur Praxistheorie eingegangen. Mit Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Theodore R. Schatzki und Michel Foucault werden Positionen aus dem Zentrum der Debatte vorgestellt und mit Judith Butler, den Cultural Studies und der Akteur-NetzwerkTheorie Positionen einbezogen, die eher am Rande des Feldes situiert sind.1

3.1

Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu ist ohne Zweifel der zentrale Referenzautor für die kultursoziologische Rezeption der Praxistheorie, was nicht nur auf seine theoretischen Arbeiten, sondern auch auf seine Forschungsgegenstände zurückzuführen ist, wie etwa Lebensstile, die Felder der Literatur und der Bildenden Kunst, der Journalismus oder das Fernsehen. Sozialtheoretisch bedeutsam ist das Konzept des Habitus, das Bourdieu einführt, um die Regelmäßigkeit des Sozialen zu erklären, ohne eine bewusste Befolgung von Regeln zu unterstellen (Bourdieu 1992c, S. 86). Als Habitus bezeichnet Bourdieu inkorporierte „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987, S. 101), die in konkreten Situationen handlungsleitend werden, indem sie das praktische Erkennen der sozialen Welt sowie die Erfahrung sozialer Praktiken ausrichten. Die Dispositionen des Habitus ermöglichen soziale Praxis ebenso, wie sie sie einschränken. Sie sind strukturierte und strukturierende Strukturen (Bourdieu 1976, S. 165), die kollektiv angeeignet und somit von einer Gruppe von Akteuren geteilt werden, die ähnliche Sozialisationsbedingungen hat. Das Konzept des Habitus dient dazu, soziale Strukturen zu analysieren, dabei jedoch nicht „die leibhaftigen Akteure“ (Bourdieu 1992a, S. 28) aus dem Blick zu verlieren. Bourdieu will damit die „Logik der Praxis“ erfassen, die intellektualistischen Theorieansätzen aufgrund ihrer abstrakten, zeitenthobenen und körpervergessenen Perspektive notwendig entgeht. 1

Zu den divergierenden Zuschnitten des Feldes der Praxistheorie vgl. beispielsweise Schatzki (2001); Reckwitz (2003); Rouse (2007); Schäfer (2013); Hillebrandt (2014).

Praxistheorie als Kultursoziologie

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Der Habitus steht außerdem im Zentrum von Bourdieus Erklärung der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Bourdieu betont die Beharrungskraft des Habitus, wenn er davon ausgeht, dass dessen Strukturen im Regelfall kongruent zu den Strukturen des sozialen Raums sind, d. h. in einem „Koinzidenzverhältnis“ stehen (Bourdieu 2001, S. 188–204). Aus diesem Grund sind Akteure in der Lage, im Alltag mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit zu handeln, und reproduzieren dabei die sozialen Strukturen, ohne dass es ihnen bewusst wird. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Aneignung verschiedener Kapitalsorten (Bourdieu 1992b). Die Relevanz und der Wert der einzelnen Kapitalsorten sind dabei nicht universell gegeben, sondern abhängig von sozial ungleich verteilten Weisen des Erkennens und Anerkennens, womit Bourdieu die symbolische Dimension des Kapitals betont. Die Kapitalsorten bilden die Währung in Kämpfen um Machtpositionen in sozialen Sphären, die Bourdieu in differenzierungstheoretischer Perspektive als „Felder“, d. h. als relativ autonome soziale Teilbereiche begreift (Bourdieu 1993). Kultursoziologisch sind insbesondere Bourdieus Analysen des künstlerischen und literarischen Feldes bedeutsam (Bourdieu 1999). Auch mit seiner Lebensstilanalyse (Bourdieu 1982), in der er die klassenspezifische Verteilung von Geschmackspräferenzen mit der Frage nach den Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit zusammenbringt, hat er ein breites kultursoziologisches Forschungsfeld eröffnet. Eine zentrale Erkenntnis seiner Analyse lautet, dass jede Praxis – nicht nur kultureller Konsum, sondern beispielsweise auch die Art zu essen – als Teil eines Lebensstils eine symbolische Dimension aufweist, die sie im Verhältnis und in Abgrenzung zu anderen sozialen Praktiken erhält (Distinktion). Obwohl Bourdieus Beiträge mit Sicherheit einen Brennpunkt der praxeologischen Theoriebewegung bilden, darf nicht vergessen werden, dass auch sie nur eine spezifische Position innerhalb dieses vielstimmigen Feldes darstellen. Es gilt daher, die Praxistheorie nicht allein mit Bourdieus Theorie der Praxis zu identifizieren.

3.2

Anthony Giddens

Anthony Giddens entwickelt eine verstehende Soziologie, die im Rahmen einer „doppelten Hermeneutik“ (Giddens 1995, S. 338 f.) die überindividuell strukturierten Interpretationen des Sozialen der beteiligten Akteure interpretiert und übersetzt. Die zentrale theoretische Innovation seiner „Theorie der Strukturierung“ liegt in der Temporalisierung des Strukturverständnisses. Strukturen bestehen demnach nur, wenn und solange sie im Handeln aktualisiert werden. Agency und structure werden somit nicht als Gegensätze, sondern als rekursiv aufeinander bezogene Hervorbringungen begriffen. Da Strukturen diesem Verständnis zufolge immer zugleich einschränkend und ermöglichend sind, greift es zu kurz, sie mit Zwang gleichzusetzen. Das präreflexive Verstehen und die Stabilisierung des Sozialen erfolgen nach Giddens auf der Grundlage eines körperlich angeeigneten impliziten Wissens und vollziehen sich im Wesentlichen über Routinen: „Routinisierte Praktiken sind der wichtigste Ausdruck der Dualität der Struktur in Bezug auf die Kontinuität sozialen Lebens“ (Giddens 1995, S. 336). Das Handeln der Subjekte unterliegt einem prak-

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H. Schäfer

tischen Bewusstsein, das nur in Teilen der Reflexion zugänglich ist. Giddens zufolge besteht „[d]as zentrale Forschungsfeld der Sozialwissenschaften [. . .] weder in der Erfahrung des individuellen Akteurs noch in der Existenz irgendeiner gesellschaftlichen Totalität, sondern in den über Zeit und Raum geregelten gesellschaftlichen Praktiken“ (Giddens 1995, S. 52). Im Verweis auf die Sinnhaftigkeit, Körperlichkeit, Kontextualität, Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Sozialen sowie auf die Grenzen der Reflexivität liegen die zentralen Parallelen zwischen Bourdieus Theorie der Praxis und Giddens’ Theorie der Strukturierung.

3.3

Theodore R. Schatzki

Von Theodore Schatzki (1996, S. 89) stammt die einflussreiche Definition von Praxis als „a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“. Damit wird ausgedrückt, dass die Praxistheorie – im Anschluss an Wittgenstein – keine wesenhafte Unterscheidung zwischen der bedeutungsgenerierenden Aktivität des Tuns und des Sprechens trifft. Die Partizipation an bestehenden sozialen Praktiken bildet den Hintergrund und die Voraussetzung dafür, dass Akteure „a world of stably meaningful objects, events, and people“ (Schatzki 1996, S. 116) bewohnen. Der Zusammenhang zwischen dem Tun und Sprechen, das eine Praxis ausmacht, wird in Schatzkis Konzeption durch praktisches Verstehen, Regeln, eine teleoaffektive Struktur und allgemeines soziales Hintergrundwissen organisiert (Schatzki 2010b, S. 73). Mit dem Begriff der „Teleoaffektivität“, an den bislang in der sozialtheoretischen Debatte um die affektive Dimension des Sozialen noch nicht angeschlossen wurde, verbindet Schatzki die Zielorientierung und die affektive Gestimmtheit der Praxis und verweist – ähnlich wie der Pragmatismus – darauf, dass „ends, projects, tasks, purposes, belief, emotions, and moods“ (Schatzki 1996, S. 89) konzeptuell zusammengedacht werden müssen. Bedeutsam ist auch Schatzkis Differenzierung der Reichweite von Praktiken. Unter „verteilten“ (dispersed) Praktiken versteht Schatzki weit im sozialen Raum verbreitete Praktiken wie das Beschreiben, Befehlen, Erklären, Fragen, Untersuchen, Berichten etc. „Integrative“ (integrative) Praktiken sind dagegen „the more complex practices found in and constitutive of particular domains of social life“ (Schatzki 1996, S. 98). Er zählt dazu etwa ökonomische, religiöse und pädagogische Praktiken oder Praktiken des Kochens, der Freizeit oder der industriellen Produktion. Schatzki (2016b) begreift Praxistheorie als eine „flache“ Sozialontologie, die eine wesenhafte Trennung zwischen Makro- und Mikrophänomenen zurückweist. Insbesondere Schatzkis Reflexionen zur Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Sozialen (Schatzki 2002, 2010b) sind für die Kultursoziologie anschlussfähig.

3.4

Michel Foucault

Von Michel Foucaults Arbeiten gehen insbesondere drei Impulse für die Praxistheorie aus: In der Archäologie des Wissens steht der Begriff des Diskurses bzw. der „diskursive[n] Praxis“ (Foucault 1973, S. 260) im Zentrum. Damit werden Wissens-

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ordnungen bezeichnet, die Ergebnisse geregelter sprachlicher Hervorbringungen, also tatsächlich getätigter Aussagen, sind und die wiederum den Raum des zukünftig Denk- und Sagbaren strukturieren. Die Ordnung des Sozialen wird hier allein auf der diskursiven Ebene verortet und auf einen vermeintlich „autonomen Diskurs“ zurückgeführt (Dreyfus und Rabinow 1994, S. 91). In der Genealogie verbindet Foucault die Wissensanalyse mit der Frage nach Machtverhältnissen und verweist auf deren wirklichkeitskonstituierende, produktive Effekte, wie etwa die Ausbildung von Verhaltensweisen und Gewohnheiten. Mit der Studie Überwachen und Strafen zur Disziplinarmacht und ihrer normierenden „Dressur“ rückt der Körper als Durchgangspunkt sozialer Praktiken stärker ins Zentrum des Interesses (Foucault 1976). Zudem treten neben die Betrachtung der diskursiven auch nichtdiskursive Praktiken und materielle Arrangements (wie die Gefängnisarchitektur des Panoptikums). Als Bezeichnung für diese heterogenen Ensembles prägt Foucault (2003, S. 392) den Begriff des Dispositivs. In seinem Spätwerk, welches mit dem zweiten Band von Sexualität und Wahrheit (Foucault 1986) eingeleitet wird, untersucht Foucault Jahrhunderte umspannende Transformationsprozesse von Subjektivierungsweisen ausgehend von Veränderungen in den Formen des Selbstverhältnisses. Für seine Studien der „Technologien des Selbst“ (Foucault 2005c) wählt er explizit Praktiken als analytischen Ausgangspunkt (Foucault 2005b, S. 854–855, 2005d, S. 773). Er definiert sie als „die Gesamtheit der mehr oder weniger geregelten, mehr oder weniger reflektierten, mehr oder weniger zielgerichteten Tätigkeitsweisen, durch die hindurch sich sowohl das abzeichnete, was für diejenigen als wirklich konstituiert wurde, die es zu denken und zu verwalten trachteten, als auch die Art und Weise, wie diejenigen sich als Subjekte konstituierten, die das Wirkliche zu erkennen, zu analysieren und gegebenenfalls abzuändern imstande sind.“ (Foucault 2005a, S. 781)

Diese Definition bündelt wesentliche Annahmen der Praxistheorie, indem sie Praktiken als Basiselemente des Sozialen und als Grundlage sowohl für die Herausbildung von Subjektivität als auch für das Verständnis der Welt begreift. Sie lässt zudem eine graduelle Perspektive auf die Zielgerichtetheit, reflexive Bewusstheit und Stabilität von Praktiken zu. Foucaults genuiner Beitrag zur kultursoziologischen Perspektive besteht vor allem in der radikalen Historisierung der Gegenwart und Denaturalisierung des vermeintlich Unwandelbaren.

3.5

Judith Butler

Judith Butlers Arbeiten zur Denaturalisierung des Geschlechts, die unter anderem kritisch an Foucault anschließen, enthalten Ansätze zu einer praxeologischen Sozialtheorie von Subjektivität, Identität und Handlungsfähigkeit. Im Rekurs auf den Performativitätsbegriff John L. Austins (2002) sowie auf poststrukturalistische Positionen (Jacques Derrida, Jacques Lacan) begreift sie Geschlecht – sowie Materialität bzw. Substanz allgemein – als Effekt beständiger sozialer Hervorbringung (Butler 1991,

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1997). Über ihren Forschungsgegenstand der Geschlechtsidentität hinaus lassen sich Butlers Arbeiten somit auch allgemein als Analysen kultureller Praktiken der Grenzziehung zwischen Kultur und Natur begreifen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass mit jeder performativen Wiederholung nicht nur die Aktualisierung, sondern auch die Verschiebung einer Praxis verbunden ist, interessiert sich Butler besonders für das Zusammenbrechen scheinbar kohärenter Identitäten sowie für die subversive Aneignung von Praktiken durch marginalisierte Subjekte (Butler 1998). Dabei versteht sie Macht und Handlungsfähigkeit nicht als Besitz einzelner Individuen, der sich aus einer vorgängigen sozialen Position herleiten lässt, sondern verortet sie in der Praxis selbst.2 In ihrem Verweis auf die Möglichkeit der Subversion hegemonialer kultureller Ordnungen liegen deutliche Parallelen zu den Arbeiten der Cultural Studies.

3.6

Cultural Studies

Die Ansätze der Cultural Studies zeichnen sich durch ihren weiten, inklusiven Kulturbegriff und ihre Analysen von Populär- und Subkulturen sowie durch die aktive Rolle aus, die sie den Rezipient/innen kultureller Produkte zusprechen. In Raymond Williams’ (1958, S. 325) bekannter Definition ist Kultur „a whole way of life“, also eine Gesamtheit aus aufeinander bezogenen diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken sowie Artefakten. Die Cultural Studies richten ihren analytischen Blick auf die Vielfalt der Alltagspraxis und gehen in anti-essenzialistischer Perspektive von der Kontextgebundenheit, Prozesshaftigkeit und Dynamik des Sozialen aus (Grossberg 1999). Mit dem zentralen Begriff der „signifying practices“ wird die bedeutungsgenerierende Aktivität nicht nur in der Produktion, sondern insbesondere auch in der Aneignung von Texten, Bildern und medialen Repräsentationen hervorgehoben (Hall 1997). Dabei wird davon ausgegangen, dass Rezeptionshaltungen kontextuell und klassenspezifisch divergieren und somit sozial strukturiert sind (Hall 1999). Ähnlich wie Butler betonen die Vertreter/innen der Cultural Studies die Möglichkeit zur performativen Umwendung von Machtverhältnissen in der Aneignung, Umdeutung und Verschiebung von Praktiken. So hat etwa Michel de Certeau (1988) im kritischen Rekurs auf Bourdieu und Foucault die Vielfalt und das subversive Potenzial urbaner Praktiken beleuchtet und herausgearbeitet, wie diese Räumlichkeit allererst hervorbringen.

3.7

Bruno Latour und die Akteur-Netzwerk-Theorie

Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) tritt der Soziologie als Herausforderung und als Einladung gegenüber: Sie fordert dazu auf, den Begriff des Sozialen neu zu überdenken, indem sie dazu einlädt, den analytischen Blick zu erweitern und 2

In Hass spricht führt sie dazu eine erhellende Auseinandersetzung mit Bourdieus Sprechakttheorie, vgl. Schäfer (2015).

Praxistheorie als Kultursoziologie

117

insbesondere auf nicht-menschliche Entitäten zu richten. Damit leistet sie einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis materieller Kultur, der gegenwärtig auf vielfältiges Interesse in unterschiedlichen Disziplinen stößt. Zunächst als ein wissenschafts- und techniksoziologischer Ansatz entwickelt (Latour und Woolgar 1979; Latour 1987), wurde die ANT durch ihren prominentesten Vertreter Bruno Latour (2007) zu einer umfassenden Sozialtheorie ausgearbeitet. Zum Kern ihrer Perspektive gehören die konzeptuelle Kritik der Subjekt/Objekt-Dichotomie, die empirische Fokussierung heterogener Mensch-Artefakt-Verbindungen sowie die Gesellschaftsdiagnose, dass derartige hybride Konstellationen in der Moderne allgegenwärtig, jedoch nie ausreichend als solche begriffen worden sind (Latour 2008). In einer – von der Kritik teilweise als anti-humanistische Provokation wahrgenommenen – Ausweitung des Handlungsbegriffs wird dieser von einer intentionalistischen Verengung auf ein fundierendes Subjekt gelöst und heuristisch geöffnet. „Handeln“ bezeichnet dann umfassend alle Effekte von Entitäten auf andere Entitäten: „[J]edes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, [ist] ein Akteur“ (Latour 2007, S. 123). Dem Symmetrieprinzip der ANT zufolge müssen dabei die Beiträge menschlicher wie nicht-menschlicher Entitäten in der Analyse gleichberechtigt berücksichtigt werden, was jedoch nicht darauf hinausläuft, sie als gleichwertig zu begreifen, sondern gerade ihre spezifischen Differenzen herauszuarbeiten. Handeln wird als verteilte Kompetenz eines Netzwerks verbundener Elemente verstanden, in dem es keine eindeutige Quelle für Handlungsfähigkeit, sondern nur übertragene und dabei notwendig verschobene Kräfte gibt, und in dem „zwischen voller Kausalität und schierer Inexistenz viele metaphysische Schattierungen existieren“ (Latour 2007, S. 124). Weil sich Verbindungen lösen und neu arrangieren können, betont dieser Ansatz die Heterogenität und die Dynamik des Sozialen. Gegen interaktionistische Positionen hebt Latour die Bedeutsamkeit übersituativer Verkettungen hervor, die Verbindungen in Raum und Zeit aufrechterhalten. Mit ihrem fundamental relationalen Denken (Schinkel 2007), ihrer heuristischen Offenheit für die Vielfalt empirisch gegebener Untersuchungsgegenstände sowie ihrer Perspektive auf die materielle Dimension des Sozialen liefert die ANT wertvolle Impulse für die Praxistheorie. Kultursoziologisch bedeutsam ist insbesondere ihr Blick auf die materielle Kultur, von den Wissensobjekten in Laboren bis hin zu Hochtechnologien und Infrastrukturen sowie in jüngeren Arbeiten auch die Analyse von Architektur und Kunst (Yaneva 2003; Latour und Yaneva 2008).

4

Charakteristika der Praxistheorie

Als Theoriebewegung ist die Praxistheorie dadurch gekennzeichnet, dass sie das Soziale grundlegend in Praktiken verortet. Sie geht davon aus, dass sowohl Individualität als auch Gesellschaft in Praktiken hervorgebracht werden und sich in ihnen verschränken. „By virtue of the understandings and intelligibilities they carry, practices are where the realms of sociality and individual mentality/activity are at once organized and linked. Both social order and individuality, in other words, result

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from practices“ (Schatzki 1996, S. 13). Wesentlich für die Perspektive der Praxistheorie ist damit, wie eingangs bereits erwähnt, ihre Überwindung etablierter sozialtheoretischer Dichotomien. Der Praxisbegriff bildet die fundamentale theoretische und analytische Kategorie der Praxistheorie. Mit ihm wird grundsätzlich ein relationales und kontextuelles Verständnis des Handelns vertreten. Während die klassische Handlungstheorie davon ausgeht, dass Handlungen einen eindeutigen Beginn und ein klares Ende aufweisen, dass sie stets zielgerichtet sind und auf die Intentionen eines Akteurs zurückgeführt werden können, argumentiert die Praxistheorie, dass eine Praxis dem Subjekt und seinen Intentionen konstitutiv vorausgeht und Handlungsfähigkeit vielmehr als Effekt der Praxis zu begreifen ist. Die Möglichkeit zur Ausführung einer Praxis realisiert sich stets als Verhältnis zwischen einem körperlich angeeigneten praktischen Verstehen und präreflexiven Können sowie einem kulturell zirkulierenden Repertoire an Praktiken. Sie setzt die Existenz anderer, auch vergangener Praktiken voraus, an die die gegenwärtige Praxis anschließt und im Verhältnis zu denen sie überhaupt erst Bedeutung erlangt. Die Praxistheorie verweist darauf, dass wir unser Tun, Sprechen, Fühlen und Denken notwendig mit anderen teilen. Dass wir es mit anderen gemeinsam haben, ist Voraussetzung dafür, dass wir die Welt verstehen, uns sinnvoll darin bewegen und handeln können. Praktiken werden nicht nur von uns ausgeführt, sondern existieren bereits historisch vor uns und um uns herum. Sie durchlaufen also Körper und bilden gleichzeitig einen übersubjektiven, kollektiven Kontext, ein „Praxisgeschehen“. Praxeologische Ansätze können leicht divergierende, aber stets miteinander verbundene Perspektiven einnehmen, die entweder stärker die Verteilung von Praktiken (etwa in einem Diskurs oder einem gesellschaftlichen Teilbereich) oder die kompetente, körperliche Ausführung von Praktiken fokussieren. Doch unabhängig davon, ob die zirkulierende und subjektivierende Dimension von Praxis oder die inkorporierte Dimension von Praxis betont wird, hängen diese stets zusammen und sind nicht ohne Bezug aufeinander denkbar. Im Zusammenspiel von bedeutungsvollen Praktiken und körperlich angeeigneten, impliziten Wissensordnungen (die selbst nicht beobachtbar sind, sondern nur in der Praxis beobachtbar werden) bildet sich die sinnhafte Struktur des Sozialen. Alle sozialen Praktiken, diskursive wie nichtdiskursive (Reckwitz 2008), sind an der Produktion und Reproduktion des Sozialen als einem sinnhaften Ausschnitt des Weltgeschehens beteiligt, indem sie die überindividuell geteilten Interpretationen der Akteure strukturieren. Ein weiteres zentrales Charakteristikum der Praxistheorie ist die Berücksichtigung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Soziales besteht ihrer Auffassung zufolge nur, wenn und solange Praktiken aus- und aufgeführt und somit „Beziehungen über Zeit und Raum hinweg stabilisiert werden“ (Giddens 1995, S. 45). Soziale Ordnung wird folglich als ein Prozess verstanden, der sich in Zeit und Raum vollzieht und in seinem Verlauf und Wandel analysiert werden muss. Insbesondere die Ethnomethodologie hat auf die Notwendigkeit der beständigen Hervorbringung des Sozialen im „Doing“ hingewiesen (Garfinkel 1967; Sacks 1984). Bourdieu hat die zeitliche Eigenlogik der Praxis gegenüber ihrer abstrakten, zeitenthobenen Behandlung in Theorien wie dem Strukturalismus hervorgehoben und damit die Prozesshaftigkeit

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der Praxis betont (Bourdieu 1987). Mit dem Verweis auf die Zeitlichkeit der Praxis wird auch die Analyse ihrer Geschichtlichkeit und damit des Gewordenseins sozialer Ordnungen und Kategorien eingefordert. In ihrer Temporalisierung des Strukturverständnisses trifft sich die Praxistheorie mit poststrukturalistischen Positionen (Moebius 2008). Wie diese kritisiert sie eine statische und geschlossene Auffassung des Sozialen, der sie ein Verständnis von Struktur als Ereignis entgegensetzt: Es sind die materiellen, tatsächlich vorkommenden diskursiven wie nicht-diskursiven Praktiken, die Strukturmomente erzeugen und Bedeutung transportieren. Im Unterschied zu den meisten poststrukturalistischen Positionen unterstellt die Praxistheorie jedoch nicht einfach das unablässige „Gleiten“ des Signifikats (Lacan 1975, S. 27), bleibt also nicht bei dem abstrakten Verweis auf einen niemals zum Stillstand kommenden Signifikationsprozess stehen, sondern fragt empirisch nach dem Zustandekommen und nach den Mechanismen temporärer Stabilisierung von Bedeutung. Die Regelmäßigkeit und die Verteilung von Praktiken lassen sich ausgehend vom Begriff der Wiederholung erfassen und analysieren (Schäfer 2013, 2016a). Praktiken sind körperliche Aus- und Aufführungen, die nur im Kontext anderer Aus- und Aufführungen verständlich und als Wiederholungen mit anderen Zeiten und Orten verbunden sind. Die Praxistheorie versteht Praktiken erstens als sich wiederholende Formationen, als Strom eines Praxisgeschehens, der sich durch Zeit und Raum bewegt. Unter diesem Blickwinkel sind Praktiken ein kulturell verfügbares und zirkulierendes Repertoire, an das Subjekte zitierend anschließen können. Praktiken werden somit als Bedeutungskontexte begriffen, in welche die TeilnehmerInnen immer schon eingebunden sind. Zweitens lassen sich Praktiken als wiederholte Formationen, als körperlich ausund aufgeführte Handlungen begreifen. Für ihr Fortbestehen sind Praktiken auf die Wiederholung durch Akteure angewiesen, deren inkorporierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata die Kontinuität einer Praxis in Raum und Zeit aufrechterhalten. Die kulturelle Verfügbarkeit, die kompetente Ausführung und das präreflexive Verstehen einer Praxis durch die Akteure sind im Wiederholungsprozess untrennbar aneinander gebunden. Als wiederholbare Formationen schließlich können Praktiken drittens prinzipiell von ihrem Kontext gelöst und mit neuen Kontexten verbunden werden, wodurch sich ihre Bedeutung verändert. Hier kann die Praxistheorie von der poststrukturalistischen Reflexion der Kategorie der Wiederholung profitieren. So hat Gilles Deleuze (1992) die Wiederholung als Verschränkung von Identität und Differenz verstanden und Jacques Derrida (1999) das Konzept der Iterabilität, also der Wiederholbarkeit sprachlicher Zeichen entwickelt. Wie oben dargestellt, greift Judith Butler diese Überlegungen in ihrer performativen Sozialtheorie auf und verweist grundsätzlich darauf, dass jede Wiederholung auch die Verschiebung einer Praxis zur Folge haben kann. Die Körperlichkeit des Sozialen, die in soziologischen Theorien oftmals ausgeblendet worden ist, spielt in der Praxistheorie eine fundamentale Rolle. Sie führt das präreflexive Verstehen einer Praxis oder einer sozialen Situation sowie die kompetente Ausführung situativ angemessener Praktiken auf ein inkorporiertes „implizites Wissen“ bzw. tacit knowledge (Polanyi 1985) zurück. Aufgrund der Körperlichkeit

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dieses Wissens sind den Akteuren die Mechanismen ihres Handelns niemals vollständig transparent und ist ihre Fähigkeit zur Selbstreflexivität notwendig begrenzt. Daher vollzieht und reproduziert sich das Soziale wesentlich nicht-bewusst. Im Unterschied zu textualistischen, semiotischen und (post-)strukturalistischen Ansätzen ist die Praxistheorie aufgrund ihrer Einbeziehung der Körperlichkeit in der Lage, unterschiedliche Gruppen von Akteuren als Praxisgemeinschaften zu differenzieren (Giddens 1987).3 Sie kann untersuchen, wer bestimmte Praktiken ausführt, inkorporierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata teilt etc. Damit kann nach den „Trägern“ kultureller Codes gefragt werden, ohne die Intentionalität einzelner Individuen zu unterstellen, indem davon ausgegangen wird, dass die kulturellen Schemata kollektiv geteilt werden. Neben der Berücksichtigung der Körperlichkeit steht die Praxistheorie auch für den umfassenden Einbezug der Materialität des Sozialen. Auch die materielle Kultur, also die Relevanz und der Gebrauch von Artefakten, Technologien, Medien und Bildern, lassen sich im Rahmen einer praxeologischen Perspektive erforschen. Dabei denkt der Praxisbegriff erstens Bedeutung und Materialität stets zusammen. Kein Artefakt oder in der Natur vorkommendes Ding ist an sich sinnhaft oder praktisch relevant, wenn sich seine Existenz nicht in irgendeiner Weise mit menschlicher Praxis kreuzt und für sie einen Unterschied macht. Jedes Artefakt oder Medium muss also stets in seinem Verhältnis zu Praktiken und anderen Materialitäten untersucht werden. Zweitens lassen sich mit der Praxistheorie die Widerständigkeit und Eigenlogik des Materiellen erfassen. Erst eine Perspektive, die vom Subjekt und dessen Intentionen abstrahiert, ist überhaupt in der Lage, andere als menschliche Handlungsquellen zu berücksichtigen und somit die handlungskonstitutive Dimension des Materiellen zu untersuchen. Dabei ist die Praxistheorie in ihren Analysen offen für die Berücksichtigung unterschiedlicher Qualitäten des Materiellen – von der Software als einem quasi-materiellen Gegenüber, das nur bestimmte Praktiken ermöglicht und andere ausschließt, über den Gebrauch von Werkzeugen und Instrumenten oder die affizierende Wirkung von Kunstwerken bis hin zu technischen Infrastrukturen, die Praktiken global vernetzen. In epistemologischer Hinsicht zeichnet sich die Praxistheorie durch ihr spezifisches Theorieverständnis aus. Sie versteht sich als eine Heuristik, die ein beobachtungsleitendes Vokabular mit „dünnen“ begrifflichen Voraussetzungen bereitstellt (Reckwitz 2004b, S. 52). Mit der Substitution konventioneller sozialtheoretischer Konzepte wie Individuum, Gesellschaft, Handeln oder Norm durch den Praxisbegriff zielt sie darauf, eine größtmögliche empirische Offenheit zu gewährleisten. Sie will „den Status ihrer Aussagen reduzieren, indem sie bloße frameworks von Begriffen und Annahmen anbiete[t], in deren Rahmen substanzielle Theorien spezifischer Praktiken formuliert werden können“ (Hirschauer 2008, S. 172). Die Forschungshaltung der Praxistheorie äußert sich darin, möglichst geringe theoreti-

3

Bourdieus Klassentheorie ist hier nur eine Möglichkeit der Differenzierung von Akteursgruppen. Vgl. zum Begriff der Praxisgemeinschaft auch die „Community of Practice“-Ansätze von Lave und Wenger (1991); Wenger (1998).

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sche Vorannahmen in Bezug auf die Zielgerichtetheit und Reflexivität einer Praxis, ihre zeitliche Ausdehnung und (sozial-)räumliche Verteilung, das jeweilige Zusammenspiel von Körperlichkeit und Materialität etc. in die Analyse hineinzutragen. Eine weitere Besonderheit des Praxisdenkens ist, dass eine Praxis gleichzeitig konkret und abstrakt ist, dass sie beobachtet werden kann und sich dennoch jeder endgültigen Reifizierung entzieht, da sie stets auf andere Zeiten, Orte und Entitäten verweist, von denen ihre Identität abhängig ist. Da die Praxistheorie die Quelle der Handlungsfähigkeit nicht in der Intention eines Individuums oder in einer einzelnen Praxis verortet, ersetzt sie monokausale Betrachtungen durch die analytische Einbettung jeder Praxis in ein Netz aus Relationen. Dabei geraten vielfältige zeitlich und räumlich verbundene Elemente in den Blick, die die gegenwärtige Ausführung einer Praxis beeinflussen, aufrechterhalten, formen. Je nach Forschungsfrage können unterschiedliche analytische Kategorien den Ausgangspunkt einer Untersuchung bilden, etwa die Subjekte, die eine Praxis ausführen, oder die am Vollzug der Praxis beteiligten Körper und materiellen Arrangements. Diese analytischen Kategorien bilden jedoch niemals ein festes Fundament, sondern können in praxeologischen Studien selbst hinterfragt und zum Gegenstand der Analyse werden. So berücksichtigt die Praxistheorie zwar handelnde Subjekte, versteht diese aber wiederum als Produkte diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken. Körper sind in ihrer spezifischen Materialität für die Praxistheorie zwar der Ort inkorporierter Dispositionen und impliziten Wissens und somit ein zentraler Durchgangspunkt im Vollzug einer Praxis, sie sind aber gleichermaßen das Objekt auf sie gerichteter Praktiken, die beispielsweise die Grenze zwischen dem Innen und Außen der Körper setzen oder ihre Fähigkeit, inkorporierte Dispositionen auszubilden und aufrechtzuerhalten, überhaupt erst entwickeln. Materielle Arrangements sind zwar mehr oder weniger durable Entitäten, die Praktiken in Abhängigkeit von ihren spezifischen Eigenschaften in Raum und Zeit stabilisieren können. Sie sind gleichermaßen jedoch auch Objekte von Praktiken – etwa der Produktion, der Rezeption oder des Gebrauchs –, die sie hervorbringen und ihre Bedeutung konstituieren. Welche analytischen Kategorien eine praxeologische Untersuchung also zum Ausgangspunkt nimmt und wie weit sie in der Hinterfragung der Integrität ihrer Grundbegriffe geht, hängt ausschließlich von der jeweiligen Forschungsfrage ab. Fundamental kultursoziologisch ausgerichtet ist die Praxistheorie aufgrund ihrer vielfältigen theoretischen Bezüge auf das interpretative Paradigma, den Strukturalismus sowie den Poststrukturalismus, die sie in unterschiedlicher Weise aufgreift und konzeptuell vermittelt. Sie geht davon aus, dass der – mit Alfred Schütz gesprochen – „sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ auf gesellschaftlich zirkulierende Praktiken zurückzuführen ist. Mit ihrem Verständnis von Praxis als einem symbolisch-materiellen Doppel (immer zugleich bedeutungsvoll und körperlich ausgeführt sowie gegebenenfalls artefaktbezogen) sowie mit ihrer Überwindung des Dualismus zwischen Handeln und Struktur bietet sie eine genuine konzeptuelle Lösung des Struktur-Kultur-Problems, das die kultursoziologischen Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre geprägt hat (Archer 1988; Münch und Smelser 1992). Indem die Praxistheorie Fragen nach dem Zusammenspiel von Kultur und Struktur im Praxiskonzept verdichtet und mit der Anerkennung der Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Körper-

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lichkeit und Materialität des Sozialen verbindet, lässt sie sich als Schlüsselperspektive der Kultursoziologie begreifen. Sie bündelt damit die Erkenntnisinteressen und Forschungsfragen verschiedener „Wenden“ der Sozial- und Kulturwissenschaften (performative turn, body turn, spatial turn, material turn usw.) und tritt einer befürchteten Zersplitterung der Kultursoziologie in spezialisierte studies (z. B. visual studies, governmentality studies etc.) mit partikularen Untersuchungsgegenständen (Moebius 2009) entgegen. Sie ist mit ihrem heuristisch offenen Vokabular, mit dem sich eine Vielfalt an Forschungsgegenständen in den Blick nehmen lässt, weder auf einen thematisch oder theoretisch begründeten Ausschnitt des Sozialen festgelegt, noch auf die Analyse von Kultur im Sinne eines ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichs beschränkt. Damit entspricht sie dem Selbstverständnis der neueren deutschen Kultursoziologie (Tenbruck 1979), eine allgemeine Soziologie und keine Bindestrichsoziologie zu sein. Sie teilt außerdem deren Auffassung, dass „Kultur und Gesellschaft, Strukturen, Funktionen und Sinnbezüge, weder begrifflich noch konkret, im umfassenden soziokulturellen Geschehen, definitiv zu trennen sind“ (Lipp 1994, S. 261). Der Praxisbegriff kann somit als theoretisches Angebot verstanden werden, Kultur als „‚Aspektstruktur‘ aller Sozialität“ (Rehberg 1986, S. 107) aufzufassen und zu analysieren. Die Praxistheorie trifft sich mit der neueren deutschen Kultursoziologie nicht nur in der Anerkennung der Dynamik der Kultur und in der Aufforderung, Bedeutung, Tun und Materialität zusammenzudenken (Tenbruck 1979, S. 401), sondern auch in deren Kritik an einem reifizierten Struktur- und Gesellschaftsbegriff. Sie teilt somit Haltungen und Problemdiagnosen der neueren deutschen Kultursoziologie, gelangt jedoch zu divergierenden theoretischen Lösungen. Zwar stimmt sie Max Webers Anerkennung der kulturellen Verfasstheit des Sozialen zu, rekurriert jedoch nicht auf dessen Handlungsverständnis. Sie ersetzt sowohl die Vorstellung autonomer Strukturen als auch die klassische Konzeption des Handelns durch den fundamental relationalen Begriff der Praxis. Auf diese Weise ist sie in der Lage, übersituative Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten zu erfassen, ohne den Struktur- oder den Gesellschaftsbegriff zu verabsolutieren. Die damit einhergehende Dezentrierung des Handelns unterstellt dabei nicht die Passivität der Akteure, sondern versteht Praxis als aktive Weltbearbeitung in den von der jeweiligen Kultur gesetzten sozialen Grenzen.

5

Aktuelle Debatten und Forschungsfelder

Im Folgenden soll abschließend ein kurzer Überblick über aktuelle theoretische Debatten und empirische Forschungsfelder der Praxistheorie gegeben werden. Die binnentheoretischen Reflexionen und Auseinandersetzungen der Praxistheorie lassen sich grob in drei Bereiche unterteilen: Sie betreffen erstens ihre fundamentalen Kategorien oder setzen an diesen an, sie betreffen zweitens das Zusammenspiel der Kategorien und damit die analytische Perspektive der Praxistheorie, und sie reflektieren drittens ihre Methodologie. Zum zentralen Begriff der Praxis sei auf die Reflexion der analytischen Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken (Reckwitz 2008) sowie

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auf seine Kontextualisierung mit den Konzepten Verhalten, Handeln und Interaktion (Hirschauer 2016) verwiesen. Eine Reihe von Debatten um die Weiterentwicklung der Praxistheorie setzt an der Kategorie des Körpers (Hirschauer 2004) an (vgl. für einen umfassenden Überblick Alkemeyer 2015). Hier sind vor allem die jüngeren Beiträge zur sinnlichen Wahrnehmung, insbesondere zum Sehen, zu nennen (Prinz 2014; Göbel und Prinz 2015). Als gewinnbringend für die Analyse des Verhältnisses zwischen Wahrnehmungsdispositionen und materieller Kultur erweist sich dabei der Dialog mit phänomenologischen Positionen wie den Arbeiten von Maurice MerleauPonty (Prinz 2016). Darüber hinaus ist im engen Zusammenhang mit der Sinnlichkeit der Praxis auch ihre Affektivität herausgearbeitet worden (Scheer 2012; Wetherell 2012; Reckwitz 2016). Von fundamentaler Bedeutung ist auch die Reflexion der Beobachtbarkeit und damit Öffentlichkeit der Praxis (Schmidt und Volbers 2011). Zur Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Praxistheorie finden sich umfassende Überlegungen bei Schatzki (2010b), ebenso wie grundlegende Reflexionen zum Verständnis von Materialität (Schatzki 2010a; auf deutsch Schatzki 2016a). In Bezug auf diese analytische Kategorie steht die Praxistheorie im Dialog mit anderen Positionen aus den Sozial- und Kulturwissenschaften (Kalthoff et al. 2016), den Science and Technology Studies sowie insbesondere der oben diskutierten Akteur-Netzwerk-Theorie (Wieser 2004; Passoth 2011; Schäfer 2013; Hillebrandt 2014). Ein prominenter Vorschlag besteht darin, die Praxistheorie als poststrukturalistischen Materialismus (Hillebrandt 2016) zu begreifen. Ein weiterer Strang der Debatte setzt am Subjekt bzw. an der Konzeption von Subjektivität an (Reckwitz 2006; Alkemeyer et al. 2013; Alkemeyer und Buschmann 2016). In Bezug auf den zweiten Bereich der binnentheoretischen praxeologischen Debatte, ihre analytische Perspektive, ist zum einen die Frage zu nennen, inwiefern die Praxistheorie in der Lage ist, weitreichende Verkettungen von Praxiskomplexen zu erfassen, ohne in eine Mikro-Makro-Dichotomie zu verfallen (Schatzki 2016b). Zum anderen adressieren einige Beiträge den vielstimmigen Vorwurf, die Praxistheorie tendiere zur Betonung der Statik des Sozialen (King 2000; Bongaerts 2008), und entwerfen verschiedene Ansätze, die Dynamik der Praxis stärker hervorzuheben und analytisch zu entfalten (Shove et al. 2012; Schäfer 2013). Drittens schließlich sind einige Beiträge zur Methodologie der Praxistheorie formuliert worden. Sie reflektieren zum einen die epistemologischen Grundlagen und die daraus resultierende Forschungshaltung der Praxistheorie (Schmidt 2012). Zum anderen werden allgemeine Überlegungen zum Forschungsdesign praxeologischer Studien angestellt (Gherardi 2012) sowie konkrete methodische Ansätze wie etwa die Ethnografie, Diskursanalyse, Konversationsanalyse oder historische Methoden diskutiert (Hirschauer 2001b; Schäfer et al. 2015; Jonas et al. 2017). Neben konzeptuellen und theoretischen Debatten hat die Praxistheorie eine Reihe von empirischen Studien hervorgebracht. Aufgrund der umfangreichen Rezeption und Anwendung der Praxistheorie kann hier nur auf einen Ausschnitt eingegangen werden. Dabei existieren (1) sowohl Studien, die im engeren Sinne kultursoziologisch sind, also kulturelle Praktiken und Produkte im Sinne eines ausdifferenzierten sozialen Feldes untersuchen, als auch (2) kultursoziologisch verfahrende Praxeologien anderer gesellschaftlicher Phänomene, die in differenzierungstheoretischer Hinsicht nicht als „kulturell“ gefasst werden.

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Zu (1): Einen breiten Forschungszweig bilden erstens die vielfältigen Untersuchungen der Alltags- und Populärkultur sowie die Analysen von Geschmackspräferenzen und Lebensstilen im direkten Anschluss an Pierre Bourdieu und die Cultural Studies (siehe dazu die entsprechenden Kapitel in diesem Handbuch). Hervorgehoben sei hier lediglich die intersektional erweiterte Lebensstilforschung im kritischen Anschluss an Bourdieu, die auf einer intensiven Diskussion seiner theoretischen Kategorien aufbaut und vorschlägt, das Habituskonzept heterogener und dynamischer zu fassen (Bennett et al. 2009). Über diese Beiträge hinaus finden sich zweitens auch praxeologische Studien im starken Sinne, die nicht ausschließlich an Bourdieu oder die Cultural Studies anschließen, sondern Praxistheorie als Theoriebewegung verstehen. Hier gibt es etwa Vorschläge und Ansätze, das breite Feld der Medien (Couldry 2004, 2012; Göttlich 2004, 2006; Bräuchler und Postill 2010) und des Konsums (Shove 2003; Warde 2005) praxeologisch zu analysieren. In diesem Zusammenhang liegen auch grundlegende Reflexionen der bildlichen (Burri 2008) sowie der ästhetischen Praxis (Reckwitz 2015) vor. Zur Analyse räumlicher, städtischer und architektonischer Phänomene wird ebenfalls auf die Praxistheorie zurückgegriffen (Gieryn 2002; Löw 2008; Göbel 2015). Darüber hinaus existieren gesellschaftstheoretische und ethnografische Studien der sozialen Relevanz und Produktion von Kreativität (Reckwitz 2012; Krämer 2014), Untersuchungen künstlerischer Praktiken (Zembylas 2014) und zur Ästhetik des Tanzes (Klein 2011), ein Vorschlag zur praxeologischen Analyse von Ausstellungen (Prinz und Schäfer 2015) sowie Studien zur literarischen Textproduktion (Zembylas und Dürr 2009). Zu (2): Neben der kultursoziologischen Forschung im engeren Sinne (verstanden als Bindestrichsoziologie) finden sich praxeologische Studien auch in den benachbarten Feldern der Arbeitssoziologie (Schmidt 2008; Lengersdorf 2011), Bildungssoziologie (Röhl 2013; Kemmis et al. 2014; Alkemeyer et al. 2015), Geschlechterforschung (Hirschauer 2001a; Poggio 2006), Körpersoziologie (Meuser 2006; Schindler 2011), Organisationssoziologie (Nicolini 2003, 2012; Wilz 2015), Techniksoziologie (Pickering 1995; Hörning 2001; Pickering und Guzik 2008), Umwelt- und Infrastruktursoziologie (Brand 2011; Shove und Spurling 2013; Shove et al. 2015), Wirtschaftsund Finanzmarktsoziologie (Hillebrandt 2009; Kalthoff und Vormbusch 2012; Laube 2016) sowie der Wissenschaftssoziologie (Knorr Cetina 2002). Als übergreifende, kultursoziologisch fundierte Analyseperspektive leistet die Praxistheorie somit auch einen Beitrag dazu, unterschiedliche Forschungsbereiche über die Grenzen der soziologischen Arbeitsteilung hinweg miteinander ins Gespräch zu bringen.

Literatur Alkemeyer, Thomas. 2015. Verkörperte Soziologie – Soziologie der Verkörperung. Ordnungsbildung als Körper-Praxis. Soziologische Revue 38(4): 470–502. Alkemeyer, Thomas, und Nikolaus Buschmann. 2016. Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis. In Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Hrsg. Hilmar Schäfer, 115–136. Bielefeld: transcript.

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Rational Choice-Theorie in der Kultursoziologie Jörg Rössel und Sebastian Weingartner

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Was ist der Gegenstand der Kultursoziologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Theorie des rationalen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Kultur in der Theorie des rationalen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Kultursoziologie und RCT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab zu zeigen, dass die Theorie des rationalen Handelns (RCT) – entgegen weit verbreiteter Einschätzungen – in einem engen Verhältnis mit kultursoziologischen Fragestellungen steht. Grundlage dieses Unterfangens ist eine Definition von Kultur als Verteilung von deskriptiven und evaluativen Überzeugungen in der Bevölkerung, deren individuelle mentale Repräsentationen es ermöglichen, Objekte in der Welt mit Sinn bzw. Bedeutung zu versehen. Da die RCT darauf ausgerichtet ist, soziales Handeln im Allgemeinen unter Rückgriff auf individuelle Ziele (Präferenzen), Handlungseinschränkungen (Restriktionen) und Erwartungen über Handlungsfolgen zu erklären, müssen diese Elemente bei der Anwendung auf einen konkreten Erklärungsgegenstand durch die evaluativen (Präferenzen) bzw. deskriptiven (Restriktionen, Erwartungen) Überzeugungen von sozio-kulturell eingebetteten Akteuren spezifiziert werden. Insofern spielen kulturelle Phänomene innerhalb der RCT eine zentrale Rolle als Antezedenzbedingung des Handelns. Dies ist besonders der Fall, wenn man die Situationsgebundenheit menschlichen Handelns im Modell der Frame-Selektion – als realistische Modifikation der RCT – explizit modelliert und zusätzlich deskriptive J. Rössel (*) · S. Weingartner Soziologisches Institut, Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]; [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_5

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J. Rössel und S. Weingartner

Überzeugungen von Situationsdefinitionen (Frames) und evaluative Überzeugungen von Handlungsvorschriften (Skripte) miteinbezieht. Darüber hinaus können kulturelle Phänomene auch als Explananda von Handlungen im Sinne der RCT verstanden werden, wenn man das Erlernen und Anpassen von deskriptiven und evaluativen Überzeugungen als Entscheidung konzeptualisiert. Schlüsselwörter

Erklärende Soziologie · Repräsentationen · Überzeugungen · Frames · Skripte

1

Einleitung

Kultursoziologie und Theorie des rationalen Handelns sind zwei Konzepte, die auf den ersten Blick als gegensätzlich, gar als unvereinbar erscheinen (vgl. Esser 2010). Auf der einen Seite die Theorie rationalen Handelns, die dezidiert an einem erklärenden Modell der Sozialwissenschaften orientiert ist und die menschliche Entscheidungen als – wie immer geartetes – rationales Abwägen von Kosten und Nutzen begreift, auf der anderen Seite die Kultursoziologie, die häufig als Domäne verstehender bzw. interpretativer Methoden und allen ökonomischen Denkmodellen abhold betrachtet wird. Wir wollen in diesem Beitrag zeigen, dass es sich hier um einen Scheingegensatz handelt. Dabei werden wir uns allerdings strikt daran orientieren, dass die Theorie des rationalen Handelns dem Paradigma der erklärenden Soziologie zuzurechnen ist. Damit ist verbunden, dass Kultur in zweierlei Hinsicht in unserer Diskussion relevant werden kann: erstens als Explanandum, d. h. kulturelle Phänomene werden als zu erklärende Gegenstände betrachtet. Wir werden die These vertreten, dass die Theorie des rationalen Handelns, qua Handlungstheorie, hier bisher nur eine beschränkte Relevanz aufweist. Zweitens können kulturelle Phänomene auch als Bestandteil des Explanans, insbesondere als Randbedingungen/Ursachen von Handlungsentscheidungen relevant werden. Aus unserer Sicht ist die Theorie des rationalen Handelns eine Theorie, die in ihren zentralen Annahmen kulturelle Phänomene ernst nimmt, auch wenn dies selbst von ihren Vertretern zum Teil nicht gesehen wird. Diese Argumentation werden wir in diesem Aufsatz in mehreren Schritten entwickeln. Im folgenden Abschnitt soll kurz erläutert werden, was in diesem Beitrag unter dem Begriff der Kultur verstanden wird. Wir werden dann im nächsten Abschnitt die Grundzüge der Theorie des rationalen Handelns im Zusammenhang mit dem Programm einer erklärenden Soziologie detailliert darstellen. Abschließend soll dann gezeigt werden, wie kulturelle Phänomene in die Theorie des rationalen Handelns eingehen, nämlich als Antezedenzbedingung menschlichen Handelns und Explananda eines erklärenden Ansatzes.

2

Was ist der Gegenstand der Kultursoziologie?

Der Begriff der Kultur ist einer der definitorisch schwierigsten Grundbegriffe der Sozial- und Geisteswissenschaften. Wir wollen an dieser Stelle nicht die Geschichte der Kulturdefinitionen wiedergeben, sondern einen Kulturbegriff entwickeln, der für

Rational Choice-Theorie in der Kultursoziologie

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unser Unterfangen, die Theorie des rationalen Handelns in ihrer Relevanz für die Kultursoziologie zu diskutieren, tauglich ist (zur Tauglichkeit als Gütekriterium von Definitionen Prim und Tilmann 1977). Mit zahlreichen vorhandenen Definitionen von Kultur gehen wir davon aus, dass kulturelle Phänomene dadurch gekennzeichnet sind, dass ihnen Sinn respektive Bedeutung zugeschrieben wird (vgl. z. B. Geertz oder Weber).1 Dabei verstehen wir diese Tatsache strikt individualistisch bzw. akteurtheoretisch. Schriftzeichen, Altäre oder Gesetzbücher verfügen nur deshalb über eine Bedeutung, weil ihnen diese von Akteuren zugeschrieben wird. Ohne diese Zuschreibung würde es sich nur um materielle Objekte handeln. Kultur ist also nicht etwas außerhalb der Akteure, sondern besteht aus mentalen Repräsentationen der Akteure (im Sinne der Kognitionswissenschaften könnte man auch von informationstragenden Strukturen sprechen). Die Frage, wie diese mentalen Repräsentationen beschaffen sind, ob diese durch einen sprachähnlichen propositionalen Gehalt, durch bildhafte Vorstellungen oder durch konnexionistische Netzwerke gebildet werden, soll dabei unberücksichtigt bleiben.2 Zentral ist aus unserer Sicht lediglich, dass mentale Repräsentationen sich auf mindestens zwei Weisen auf die Welt beziehen können. Einerseits enthalten sie deskriptive Überzeugungen über den Zustand der Welt, die wahr oder falsch sein können, andererseits beziehen sich verschiedene Arten von evaluativen Überzeugungen wertend auf die Welt. Dinge werden bewertet, gewünscht, angestrebt oder verworfen. Wir wollen an dieser Stelle keine Klassifikation unterschiedlicher Arten von deskriptiven und evaluativen Überzeugungen entwickeln, sondern werden im Kontext der Explikation der Theorie des rationalen Handelns die diesbezüglich relevanten Arten von deskriptiven und evaluativen Überzeugungen einführen. Es sei hier jedoch darauf hingewiesen, dass Überzeugungen in der Regel nicht isoliert existieren, sondern Netzwerke respektive Systeme bilden. Auf diese Weise sind die mentalen Repräsentationen bzw. die Netzwerke von Überzeugungen an der Zuschreibung von Bedeutung an Objekte in der Welt beteiligt, insofern sie Akteuren zugänglich sind und von diesen verwendet werden. Schriftzeichen sind für den Akteur lesbar, wenn er die entsprechenden Überzeugungen erlernt und damit als mentale Repräsentation abgespeichert hat, ein Holztisch wird zu einem Altar, weil der Akteur die entsprechende Überzeugung erlernt hat usw. In der Kultursoziologie sprechen wir in der Regel allerdings nicht von Kultur, wenn ein einzelner Akteur eine bestimmte Überzeugung hat, sondern wenn diese Überzeugung in einer bestimmten Population verbreitet ist. Kulturen bestehen also in unserer theoretischen Perspektive aus der Verteilung verschiedener Arten von Überzeugungen und Überzeugungsnetzwerken über die Mitglieder von Populationen. Daher sind Kulturen in der Regel heterogen und nicht trennscharf voneinander abgegrenzt. Kultureller Wandel besteht aus der Veränderung dieser 1

In der philosophischen Semantik wird zwischen diesen beiden Begriffen klar unterschieden, wir verwenden sie hier synonym, werden aber in der Folge nur noch den Begriff der Bedeutung verwenden. 2 Entgegen der Selbstwahrnehmung mancher Diskussionsteilnehmer fallen aus unserer Sicht sowohl der Begriff des „embodied knowledge“ als auch die Vorstellungen von motorischen Repräsentationen unter den Begriff der mentalen Repräsentation (Wilson 2002; Gallese und Metzinger 2003).

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Verteilungen, d. h. kultureller Wandel setzt den Wandel von Überzeugungen bei den Akteuren logisch voraus.3 In unserem Beitrag werden diese Überzeugungen in zwei Hinsichten relevant: erstens als Randbedingungen, also als Ursachen menschlicher Entscheidungen und Handlungen, zweitens als Explananda, also als zu erklärende kulturelle Phänomene.

3

Die Theorie des rationalen Handelns

3.1

Die Theorie rationalen Handelns als Teil der erklärenden Soziologie

Die Ursprünge der Theorie rationalen Handelns (RCT) lassen sich geistesgeschichtlich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen und wurden insbesondere in der Philosophie des Utilitarismus weiterentwickelt (Kunz 2004, S. 7 ff.). Sie hat vor allem die Disziplinen der Ökonomie und der Psychologie nachhaltig lange geprägt, sich aber inzwischen zu einem (wenn nicht: dem) fundamentalen Bestandteil der erklärenden Soziologie entwickelt. Diese metatheoretische Perspektive zeichnet sich durch zwei Grundüberzeugungen aus (ausführlich siehe Maurer und Schmid 2010): Erstens erschöpft sich die Aufgabe der Soziologie nicht in der Identifizierung, Beschreibung und Kategorisierung gesellschaftlicher Strukturen, Institutionen oder Prozesse. Vielmehr besteht ihr Hauptanliegen darin, Erklärungen dieser sozialen Phänomene bereitzustellen, d. h. deren Entstehung durch Verweis auf kausale Ursachen (logisch) nachzuvollziehen und im besten Fall die damit verbundenen generativen Mechanismen offenzulegen und empirisch zu testen (Esser 1993; Hedström 2008). Das einflussreichste Erklärungsmodell bildet in diesem Zusammenhang das deduktiv-nomologische Schema nach Hempel und Oppenheim (Hempel und Oppenheim 1948; Hempel 1965). Ein Phänomen (Explanandum) gilt demnach als erklärt, wenn es aus mindestens einem z. B. als Wenn-Dann-Aussage formulierten allgemeinen Gesetz (nomologischer Kern) durch eine spezifische empirische Realisation der Wenn-Komponente dieses Gesetzes (Randbedingung) logisch gefolgert werden kann. Gesetz und Randbedingung bilden gemeinsam das Explanans des Phänomens, wenn das Phänomen logisch im allgemeinen Gesetz enthalten ist und die Randbedingung empirisch nachweisbar ist. In seiner einfachsten allgemeinen Form lässt sich dieses Modell folgendermaßen darstellen: Explanans Explanandum: 3

Gesetz: Randbedingung:

Wenn A, dann B. Zum Zeitpunkt t liegt an Ort l Atl (ε A) vor. Zum Zeitpunkt t liegt an Ort l Btl (ε B) vor.

Grundsätzlich könnte man hier noch die Frage stellen, wie es aus einer akteurtheoretischen Perspektive überhaupt zu bedeutungsgleichen Überzeugungen kommen kann. Dazu gibt es eine Reihe von plausiblen Antworten, die aber nicht in den Gegenstandsbereich dieses Artikels fallen. Siehe hierzu vor allem die Arbeiten von Tomasello (2006, 2011), der auch in der Soziologie schon lange diskutierte Ideen aufgegriffen und in ein empirisches Forschungsprogramm übersetzt hat.

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Durch die Subsumierung von Erklärungsgegenständen unter allgemeine Gesetze gelingt ein logisch gültiger Schluss, bei dem vor allem der Aspekt der Theorieentwicklung besondere Beachtung findet (eine kritische Diskussion des deduktivnomologischen Schemas findet sich z. B. bei Godfrey-Smith 2003, Kap. 13.2). In der Soziologie stößt dieses Erklärungsmodell jedoch relativ schnell an seine Grenzen, insbesondere, wenn auf Gesetze rekurriert wird, die soziale Phänomene mit anderen sozialen Phänomenen in Verbindung setzen (etwa: „Wenn in einem demokratischen System eine liberale politische Kultur herrscht, dann besteht eine hohe Wahlbeteiligung“). Derartige Makro-Gesetze liegen in der Regel nicht vor bzw. lassen sich nicht in einem allgemeinen Sinne als empirisch bestätigt betrachten (Problem der Unvollständigkeit; Esser 1993, S. 101 f.; Esser 1996b, S. 160). In der erklärenden Soziologie wird daher zweitens eine methodologisch-individualistische Perspektive vertreten, wonach sich alle sozialen Phänomene auf individuelle Handlungen menschlicher Akteure zurückführen lassen. Anders formuliert: Soziale Phänomene bilden kein „Wesen sui generis“ (Durkheim 1976, S. 203), sondern sind immer als unintendierte oder intendierte Folgen menschlichen Handelns zu konzeptualisieren. Vollständige Erklärungen sozialer Phänomene müssen daher immer die Mikro-Ebene der Akteure und ihrer Handlungen einschließen. Dahinter stehen zwei Vorstellungen: Erstens weisen Gesetzmäßigkeiten auf der Handlungsebene der Akteure einen höheren Grad von Allgemeinheit und Robustheit auf; zweitens haben menschliche Organismen einen ausgezeichneten ontologischen Status für die Sozialwissenschaften, weil sie die Fähigkeit zum intentionalen Handeln besitzen (Gallese und Metzinger 2003) und sich daher soziale Phänomene als intendierte und nichtintendierte Folgen intentionalen Handelns erklären lassen. Aus diesen Gründen stellt die Handlungstheorie auch den nomologischen Kern von soziologischen Erklärungen dar. Darüber hinaus ist nur durch Einbezug menschlicher Handlungen ein Sinnverstehen sozialer Phänomene möglich (Problem der „Sinnlosigkeit“ des Holismus; Esser 1993, S. 101 f., 1996b, S. 162 f.). Die ursächliche Erklärung menschlichen Handelns nach dem Hempel-Oppenheim-Schema stellt also zugleich eine sinnverstehende Interpretation eben jenes Handelns dar. Die wohl verbreitetste Variante des Methodologischen Individualismus in der erklärenden Soziologie stellt der sogenannte Strukturelle Individualismus dar (ausführlicher und zu weiteren Varianten siehe Udehn 2001, 2002). Dabei wird explizit darauf verwiesen, dass individuelle Handlungen immer in einem sozio-kulturellen Kontext stattfinden und daher zu einem gewissen Grad immer durch Macht-, Ungleichheitsund Netzwerkstrukturen, genauso wie durch Normen und andere Institutionen(systeme) geprägt sind. Gleichzeitig werden diese Kontextbedingungen allein durch die Handlungen der Akteure immer wieder neu (re)produziert und verändert (die präzisen Mechanismen der Verbindung von Kontext und Handlung werden weiter unten erläutert). Das Programm des Strukturellen Individualismus wurde im deutschsprachigen Raum von Esser (1993, Teil B) zu einem mehrstufigen Erklärungsmodell ausgearbeitet, das Makro- und Mikroebene miteinander verbindet (siehe auch Maurer und Schmid 2010, Kap. 3 und 4). Dieses „Modell der soziologischen Erklärung“ (MSE) zielt nach wie vor auf soziale bzw. kollektive Phänomene als Explananda ab, berücksichtigt im Explanans aber systematisch die Akteursebene (siehe Abb. 1).

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soziale Situation

(d)

kollektives Explanandum

(a)

(c)

Akteur

Handlung (b)

Abb. 1 Das Modell der soziologischen Erklärung nach Esser (1993, S. 98)

Das theoretische Zentrum des Modells bildet die Erklärung von individuellen Handlungen, die von Akteuren hervorgebracht werden (b). Dieser Schritt wird auch als „Logik der Selektion“ bezeichnet, da hierbei erklärt werden soll, warum Akteure eine Handlungsalternative im Gegensatz zu einer anderen Handlung auswählen. Diese Erklärungsleistung wird von einer Handlungstheorie erbracht, die möglichst allgemeine Gesetze darüber enthält, welche Akteurseigenschaften mit welchen Handlungsentscheidungen verbunden sind. Dabei wird jedoch davon ausgegangen, dass die konkreten Ausprägungen der von der Handlungstheorie als relevant angenommenen Akteurseigenschaften von den Merkmalen der jeweiligen Handlungssituation abhängen (a). Diese Situationsmerkmale umfassen den gesamten oben angesprochenen sozialen und kulturellen Kontext und es ist mithilfe von Brückenhypothesen (Lindenberg 1996) genauer zu bestimmen, wie sich die Akteurseigenschaften aus den Kontextbedingungen ableiten („Logik der Situation“). Diese Frage werden wir in Abschn. 4.1 genauer aufgreifen. Auf diese Weise lässt sich eine systematische Verknüpfung zwischen sozio-kulturellem Kontext und individuellen Handlungen herstellen, die sich dann in einem dritten Schritt zu einem kollektiven Ergebnis aggregieren lassen (c). Die Erklärung derartiger kollektiver Explananda ist das eigentliche Ziel der Soziologie, die Logik der Selektion ist nur ein notwendiger Zwischenschritt für eine vollständige und sinnvolle Erklärung. Bei der Aggregation kommen Transformationsregeln zum Einsatz, durch die die kollektiven Folgen der Handlungen mehrerer Akteure bestimmt werden können („Logik der Aggregation“). Unter Verwendung dieses Modells lassen sich auf der Makroebene gefundene Zusammenhänge (d) handlungstheoretisch erklären, auch wenn für sie keine allgemeinen Sozialgesetze vorliegen.

3.2

Kernannahmen und Varianten der RCT

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass Kultur und Handlung in einer engen theoretischen Verbindung stehen. Wie genau sich dieses Wechselverhältnis konzep-

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tualisieren lässt, hängt in erster Linie davon ab, welche Handlungstheorie zum Ausgangspunkt soziologischer Erklärungen gemacht wird, denn erst dadurch wird definiert, welche Akteurseigenschaften betrachtet und mit dem sozio-kulturellen Kontext in Zusammenhang gebracht werden. Die RCT ist nun eine mögliche Handlungstheorie, die sich im Rahmen des MSE als nomologischer Kern verwenden lässt. Die Tatsache, dass die RCT innerhalb der erklärenden Soziologie breiten Anklang findet, lässt sich mitunter damit begründen, dass sie von relativ sparsamen und gleichzeitig formal präzisen Handlungsannahmen ausgeht. Zudem ist sie explizit als erklärende Theorie angelegt, was für viele andere soziologische Handlungstheorien nicht in gleichem Maße gilt. Nichtsdestoweniger kann nicht von der RCT als einheitlichem Konzept gesprochen werden, sondern es handelt sich vielmehr um eine differenzierte Theorienfamilie (Braun 2009; Diekmann und Voss 2004). Alle RC-Theorien teilen jedoch einige grundlegende Elemente, die sogenannten Kernannahmen (Kunz 2004, S. 35 ff.; Opp 1999, S. 173): Erstens wird angenommen, dass Akteure ihr Handeln an bestimmten Zielen ausrichten, die sie realisieren wollen. Diese Ziele bilden die Motive bzw. Präferenzen des Handelns (Präferenz-Annahme). Zweitens stehen den Akteuren zur Realisierung ihrer Präferenzen gewisse Mittel zur Verfügung, die ihre Handlungsbedingungen definieren. Diese Mittel werden entweder als Opportunitäten oder Restriktionen bezeichnet, je nachdem, ob sie die Möglichkeiten der Präferenzrealisierung erweitern oder einschränken (RestriktionsAnnahme). Drittens wählen Akteure diejenigen Handlungsalternativen, die ihre Präferenzen unter den gegebenen Opportunitäten und Restriktionen am besten realisieren (Maximierungs-Annahme).4 Unter Handeln ist demnach die „Allokation [. . .] knapper Mittel auf konkurrierende Ziele“ (Kunz 2004, S. 34) zu verstehen. Ausgangspunkt ist dabei die Vorstellung, dass Akteure in Handlungssituationen einer Menge von Handlungsalternativen gegenüberstehen, die jeweils mit bestimmten Handlungsfolgen (z. B. sozialer Status, Einkommen) verbunden sind. Diese Folgen entsprechen den Zielen der Akteure, deren Bewertung durch eine Präferenzordnung definiert ist. Werden einzelnen Handlungsfolgen gemäß der Präferenzordnung gewisse (numerische) Werte zugewiesen, so spricht man auch von Nutzenwerten, die sich zu einer Nutzenfunktion zusammenfassen lassen (Diekmann und Voss 2004, S. 15). Die Präferenzordnung muss dabei vollständig und transitiv sein (Kroneberg 2011, S. 43), d. h. es muss für jede Handlungsfolge (x1, x2,. . ., xn) ein Nutzenwert vorliegen und es muss gelten: wenn x1 x2 und x2 x3 vorgezogen wird, dann wird auch x1 x3 vorgezogen. Zusammen mit dem Stetigkeits- und dem Unabhängigkeitsaxiom bilden diese beiden Prämissen die Annahmen des Erwartungsnutzens nach von Neumann und Morgenstern (1944). Die klassische Vorstellung von Rationalität in der Theorie rationalen 4

Streng genommen ist die Maximierungs-Annahme nur eine von mehreren möglichen Entscheidungsregeln, nach denen Akteure auf der Grundlage von Präferenzen und Opportunitäten/Restriktionen eine Handlung auswählen. Alternativen wären z. B. „minimales Bedauern“, „satisficing“ (Diekmann und Voss 2004, S. 16; Schoemaker 1982) oder die vieldiskutierten Entscheidungsheuristiken (Goldstein 2009). Die Maximierungsregel wird jedoch bisher mit Abstand am häufigsten eingesetzt, sodass wir uns hier auf diese konzentrieren.

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Handelns setzt die Gültigkeit genau dieser vier Axiome voraus. Rationalität wird demnach nicht durch den Grad der Bewusstheit von Entscheidungen definiert, wie dies häufig in der Literatur behauptet wird (eine Zusammenfassung der Axiome und ihrer empirischen Überprüfung findet sich bei Jungermann et al. 2005). Oftmals besteht jedoch keine Sicherheit darüber, welche Handlungsfolgen mit gewissen Handlungsalternativen einhergehen. In diesen Situationen „unter Risiko“ (Braun 2009, S. 401) werden zusätzlich zu den Bewertungen die Erwartungen darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit (p) eine Handlungsfolge bei der Wahl einer Handlungsalternative eintritt, berücksichtigt. Die zentrale Frage ist dann, nach welcher Entscheidungsregel eine Handlungsalternative auf der Grundlage von gegebenen Opportunitäten/Restriktionen, Bewertungen und Erwartungen ausgewählt wird. Bei Entscheidungen unter Risiko wird dabei zumeist auf die Erwartungsnutzentheorie zurückgegriffen (Schoemaker 1982). Demnach wird für jede Handlungsalternative ein Erwartungsnutzen („expected utility“, EU) gebildet, der sich aus der Summe der Nutzenwerte (Bewertungen) ihrer Folgen zusammensetzt, die jeweils mit den entsprechenden Erwartungen über ihr Eintreten gewichtet werden. Nach der Maximierungs-Annahme wählen Akteure die Alternative mit dem höchsten, unter gegebenen Bedingungen erreichbaren Erwartungsnutzen (EU-Gewicht). Ausgehend von diesem grundsätzlichen Aufbau lassen sich zahlreiche Spezifikationen der RCT unterscheiden, die übergreifend in eine enge und eine weite Variante eingeteilt werden können (Opp 1999, S. 173 ff.). Die enge Variante der RCT führt eine Reihe von Zusatzannahmen ein, die sich hauptsächlich auf die Menge und Art der zu berücksichtigenden Präferenzen und Restriktionen bezieht (siehe auch Kunz 2004, S. 39 ff.). Danach sind Präferenzen immer egoistischer Natur (was ein Interesse an den Konsequenzen des Handelns für andere Akteure ausschließt) und es werden nur „harte“, materielle Restriktionen (Einkommen, Preise, Strafen etc.) als relevant erachtet, die die Handlungsmöglichkeiten objektiv einschränken. Außerdem wird von Akteuren ausgegangen, die über alle Handlungsalternativen, Handlungskonsequenzen und Eintrittswahrscheinlichkeiten vollständig informiert sind. Darüber hinaus wird oftmals von zeitlich stabilen und interpersonell konstanten Präferenzen ausgegangen, sodass Verhaltensänderungen ausschließlich auf Veränderungen in den Opportunitäten bzw. Restriktionen zurückzuführen sind. RCT-Anwendungen, die der weiten Variante zugerechnet werden, machen hingegen keine Einschränkungen bezüglich der zugelassenen Präferenzen und Restriktionen. Präferenzen können sich auf alle möglichen Handlungsziele beziehen (z. B. auch altruistischer oder normativer Natur sein) und teilweise sogar auf den Konsumnutzen von Handlungen selbst, womit der instrumentelle Charakter des Handelns aufgegeben wird (Kroneberg 2011, S. 46). Zudem wird auf die Annahme von zeitlich und interpersonal stabilen Präferenzen verzichtet, was Handlungserklärungen sowohl durch Präferenzen als auch durch Restriktionen (bzw. deren Veränderung) ermöglicht. Und schließlich wird in der weiten RCT auch nicht von vollständig informierten Akteuren ausgegangen. Dies wiederum impliziert, dass nicht nur objektive, sondern auch subjektiv wahrgenommene Restriktionen in Handlungserklärungen Berücksichtigung finden können, genauso wie subjektive Bewertungen und Erwartungen bezüglich der Handlungsfolgen bzw. deren Eintrittswahrscheinlichkeit. Vor allem der letzte Punkt findet im Rahmen der sogenannten SEU-Theorie

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(„subjective expected utility“, Savage 1954; siehe auch Kunz 2004, S. 43 ff.; Diekmann und Voss 2004, S. 17 ff.) breite Anwendung innerhalb der Soziologie. Insgesamt ist jedoch weiterhin strittig, welche Variante der RCT zu bevorzugen ist. Enge RC-Theorien erlauben durch ihre restriktiven Annahmen die Ableitung von präzisen Hypothesen, haben einen sehr großen Informationsgehalt und können daher strengen empirischen Tests ausgesetzt werden. Allerdings führen diese Tests sehr oft zu Falsifikationen, sodass die enge RCT empirisch unbrauchbar erscheint (Green und Shapiro 1996). Dies kann mit weiten RC-Theorien aufgefangen werden, allerdings um den Preis eines deutlich geringeren Informationsgehalts. Da der Umfang potenzieller Präferenzen und Restriktionen kaum eingeschränkt ist, lassen sich prinzipiell alle Handlungsausgänge durch Einführung zusätzlicher, nichtinstrumenteller Präferenzen (Nutzenterme) erklären. Dadurch wird die Falsifizierbarkeit weiter RC-Theorien prinzipiell gefährdet, sobald die Theorien durch post-hoc Modifikationen an empirische Ergebnisse angepasst werden. Solange methodisch korrekt vorgegangen wird und die entsprechenden Präferenzen und Restriktionen vor der Beobachtung des Verhaltens spezifiziert werden, sind weite RCT-Modelle bezüglich ihrer Falsifizierbarkeit unproblematisch (klärend dazu, auch zu anderen Problemen der weiten RCT: Opp 1999). Ein anderes Problem besteht jedoch darin, dass die Kernannahmen der RCT grundsätzlich inhaltlich nicht gefüllt sind (Lindenberg 1996). Die für konkrete Erklärungen relevanten Ziele, Bewertungen und Erwartungen müssen daher in den Brückenhypothesen spezifiziert werden, die sich auf theoretische Überlegungen außerhalb der RCT beziehen. In der engen Variante der RCT sind diese Brückenhypothesen schon über die Zusatzannahmen (egoistische stabile Präferenzen usw.) festgelegt, in der weiten Variante der RCT müssen sie im Hinblick auf das jeweilige Explanandum spezifiziert werden (Opp 1999). Dies hat zwei wichtige Konsequenzen (Kroneberg 2011, S. 49 ff.): Erstens lassen sich die Gründe für etwaige Falsifizierungen nicht eindeutig der Handlungstheorie oder den Brückenhypothesen zurechnen, was oft zu einseitigen Änderungen bzw. Erweiterungen der Brückenhypothesen führt. Diese Änderungen bzw. Erweiterungen sind dann zweitens jedoch entweder trivial (z. B. die Einführung eines Konsumnutzenterms für die zur Debatte stehende Handlung) oder nicht aus den Kernannahmen der RCT ableitbar (z. B. die erhöhte Salienz bestimmter Präferenzen unter bestimmten Situationsbedingungen). Anders formuliert besteht das Problem also darin, dass die RCT aufgrund ihrer konzeptionellen Sparsamkeit aus sich heraus kaum Rückschlüsse auf die Spezifizierung von Brückenhypothesen und damit auf die Situations- bzw. Kontextgebundenheit menschlichen Handelns erlaubt. Letzteres wird jedoch vor allem in der Soziologie immer wieder zu Recht betont und stellt gerade bei der Erklärung des sozialen Handelns eine zentrale Herausforderung dar (weniger bei der Erklärung von Aggregationseffekten, bei denen oftmals von vereinfachten Handlungspräferenzen ausgegangen werden kann). Es ist daher erforderlich, die RCT so zu modifizieren, dass eine situative Handlungstheorie resultiert, in der „zentrale Brückenhypothesen nicht aus relativ spezifischen Theorien folgen, sondern aus grundlegenden theoretischen Einsichten, die für die Erklärung jedes Handelns von Belang und soziologisch anschlussfähig sind“ (Kroneberg 2011, S. 51). Außerdem enthält die Rationalitäts-

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theorie, die auf den von Neumann-Morgenstern-Axiomen beruht, keine Annahmen darüber, wie genau die Entscheidungsprozesse von Akteuren konkret ablaufen, solange sie diesen Axiomen genügen. Dies ist wissenschaftstheoretisch unbefriedigend, da wir auch den Mechanismus bzw. die Prozesse der Entscheidung als Teil einer wissenschaftlichen Erklärung beschreiben und erklären können sollten.

3.3

Das Modell der Frame-Selektion als realistische Erklärung von Entscheidungen

Mit dem „Modell der Frame-Selektion“ (MFS; Esser 2001, 2011; Kroneberg 2005, 2011) liegt nun eine situative Handlungstheorie vor, die sich in zwei wesentlichen Punkten von der engen Variante der RCT unterscheidet. Erstens werden die Vorstellungen der vollständigen Informiertheit der Akteure und der intersubjektiv konstanten Präferenzen und Erwartungen aufgegeben. Im Gegensatz dazu wird angenommen, dass Akteure Handlungssituationen subjektiv konstruieren bzw. definieren, indem vorgefundene Situationsmerkmale mit kulturellen Wissensbeständen abgeglichen werden. Welche Bewertungen oder Erwartungen Akteure ihren Handlungen zugrunde legen, hängt demnach davon ab, zu welchen Situationsdefinitionen sie gelangen (Esser 1996a, 1999, S. 161 ff.). Man könnte die Zusatzannahmen der engen Variante der RCT auch als implizite Situationsdefinition der Akteure interpretieren, die erstens allein auf ökonomische Merkmale der Situation fokussiert und zweitens vollständig korrekt ist. In weiten Varianten der RCT wird demgegenüber berücksichtigt, dass für Akteure in unterschiedlichen Situationstypen unterschiedliche inhaltliche Präferenzen relevant werden (Opp 1999). Das MFS geht insofern über diese Theorien hinaus, als die Definition der Situation hier explizit als Teil der Handlungstheorie modelliert wird. Dies wiederum bedeutet, dass Verhaltensvariationen zwischen Personen oder Personengruppen nicht nur auf unterschiedliche Bewertungen und Erwartungen zurückzuführen sind, sondern auch auf unterschiedliche Situationsmerkmale, die durch entsprechende internalisierte Wissensbestände bzw. Situationsmodelle definiert werden. Man spricht hier auch von Prozessen des Framings oder der kulturellen Rahmung. Derartige Framing-Effekte lassen sich u. a. in der experimentellen Spieltheorie nachweisen, wenn das Verhalten von Versuchspersonen bei zwei ansonsten identischen sozialen Dilemma-Situationen allein dadurch verändert wird, dass die Situationen einmal als „Wall Street Game“ und einmal als „Community Game“ betitelt wurden. Trotz völlig gleicher Auszahlungsmatrizen (also objektiv gleicher Anreizstrukturen und damit Präferenzen) zeigten sich im zweiten Fall mehr als doppelt so hohe Kooperationsraten; und das unabhängig von der generellen Kooperationsbereitschaft der Versuchsteilnehmer (Liberman et al. 2004; für einen Überblick ähnlicher Studien siehe Stocké 2002). In ähnlicher Weise lässt sich kulturvergleichend zeigen, dass das Verhalten bei identischen spieltheoretischen Experimenten zwischen verschiedenen (Stammes-)Gesellschaften variiert (Henrich et al. 2001, 2004). Es kommen also offensichtlich unterschiedliche kulturelle Wissensbestände zum Einsatz, um objektiv identische Situationen zu definieren. Zweitens wird im MFS die in der RCT diskutierte Entscheidungsregel (zumeist Nutzenmaximierung) explizit thematisiert und durch ein Modell ersetzt, das stärker

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141

als die von Neumann-Morgenstern-Rationalitätsaxiome die realen Prozesse modelliert, die während einer Entscheidung stattfinden. Insbesondere wird die „variable Rationalität der Akteure“ (Kroneberg 2005) betont, also die in der (Sozial-)Psychologie, Kognitions- und Neurowissenschaft weit verbreitete Einsicht, dass sich Akteure Entscheidungssituationen mit unterschiedlicher Bewusstheit oder Aufmerksamkeit zuwenden können (Chaiken und Trope 1999; Evans 2008).5 Das Befolgen von erlernten Gewohnheiten oder sozialen Normen erfolgt in den meisten Fällen (jedoch nicht unbedingt) automatisch und ohne Reflexion über Handlungsfolgen oder alternative Handlungsmöglichkeiten (Esser 2000, 2003). Gleichzeitig existieren Handlungssituationen, in denen Akteure die Folgen mehrerer Handlungsalternativen – ganz im Sinne der RCT – bewusst gegeneinander abwägen, sie also einen höheren Grad von Informationsverarbeitung aufbringen. Ob Handlungsentscheidungen eher automatisch oder durch reflexive Abwägung getroffen werden, hängt in erster Linie davon ab (Fazio 1990; Betsch 2005), welche Gelegenheiten zur Reflexion in einer Situation bestehen (z. B. Zeitdruck), wie hoch die Motivation zur Reflexion ist (z. B. Hochkostensituationen) und wie hoch die Kosten/der Aufwand der Reflexion sind/ist (z. B. Suchkosten für Informationen). Sowohl die Definition der Situation als auch die Art der Informationsverarbeitung hängen somit von der Interaktion zwischen Akteurs- und Situationsmerkmalen ab. Die Explikation der Prozesse der Definition der Situation und der variablen Elaboriertheit der Entscheidungsfindung lässt sich zu einem analytisch präzisen Modell integrieren (ausführlich Kroneberg 2005, 2011), wonach jedes menschliche Handeln in drei Schritten abläuft. (1) Zuerst definieren Akteure die Handlungssituation, in der sie sich befinden, indem sie auf mental verankerte Situationsmodelle (Frames) zurückgreifen und das Modell auswählen, das den höchsten Passungsgrad (Match) mit den vorgefundenen Situationsmerkmalen aufweist. (2) Anschließend werden Handlungsprogramme (Skripte) aktiviert, die angemessene Verhaltensweisen für die subjektiv definierte Situation enthalten. (3) Erst daraufhin wird die manifeste Handlung selegiert, die unter „Normalbedingungen“ den Vorgaben des dominanten Skripts entspricht, bei Störungen oder unzureichender Handlungsdetermination des Skripts (Regelungsgrad des Skripts) jedoch davon abweichen kann. Jeder dieser drei Schritte (Frame-, Skript- und Handlungsselektion) kann nun entweder in einem reflexiv-kalkulierenden (rc) oder in einem automatisch-spontanen (as) Modus ablaufen, deren Unterschied – wie oben bereits kurz beschrieben – im Grad der Elaboriertheit der Informationsverarbeitung besteht. Während im rc-Modus alle Einflussfaktoren bewusst gegeneinander abgewogen werden, werden im

5 Der Ausdruck der variablen Rationalität ist von Kroneberg (2005) aus unserer Sicht nicht günstig gewählt. Eigentlich geht es um das variable Ausmaß der Informationsverarbeitung. Im Prinzip können die Ergebnisse beider im MFS diskutierten Mechanismen den von Neumann-MorgensternAxiomen entsprechen, es können mit diesem Modell aber auch die Bedingungen angegeben werden, unter denen Akteure gegen diese Axiome verstoßen. Ein alternativer und einflussreicher Versuch der Formulierung einer Entscheidungstheorie unter Berücksichtigung von Abweichungen von den von Neumann-Morgenstern-Axiomen ist die Prospect Theorie (vgl. Jungermann et al. 2005).

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as-Modus die Frames, Skripte bzw. Handlungen mit dem höchsten spontanen Aktivierungspotenzial selegiert. Von zentraler Bedeutung ist dann, dass das MFS spezifische, empirisch prüfbare Bedingungen angibt, unter denen die jeweilige Selektion entweder im rc- oder as-Modus abläuft (Modus-Selektion). Allgemein lässt sich sagen, (1) dass die Frame-Selektion umso eher im as-Modus stattfindet, je besser die wahrgenommenen Situationsmerkmale zu mental verankerten und zugänglichen Frames passen, (2) dass die Skript-Selektion umso eher im as-Modus stattfindet, je eher die Frame-Selektion im as-Modus stattfindet und je stärker ein darin zugängliches Handlungsprogramm mental verankert ist, und (3) dass die Handlungs-Selektion umso eher im as-Modus stattfindet, je eher Frame- und Skript-Selektion im as-Modus stattfinden und je eindeutiger das aktivierte Skript eine konkrete Handlung vorgibt. Ist eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, wird die entsprechende Selektion im rc-Modus unter Zuhilfenahme aller verfügbaren Informationen nach dem Muster der SEU-Theorie ausgeführt. Dies wiederum ist von den Bedingungen günstiger Reflexionsopportunitäten, ausreichender Reflexionsmotivation und geringer Reflexionskosten abhängig. Sowohl die in diesem Modell integrierte Definition der Situation als auch das variable Ausmaß der Informationsverarbeitung sind allgemeine, modellinhärente Bestandteile der Handlungstheorie, die im Gegensatz zur „klassischen“ RCT nicht implizit gesetzt, sondern explizit behandelt werden. So wird in der engen Variante der RCT erstens von der Prämisse ausgegangen, dass die Akteure vollständig informiert sind. Ihnen wird also Situationsdefinition zugesprochen, die wahr ist und alle Merkmale der Situation vollständig erfasst. Zweitens wird angenommen, dass Akteure nur an ökonomischen Merkmalen der Situation interessiert sind. Diese Annahmen mögen für manche Situationen zutreffen, sicher aber nicht für alle. Diese Variabilität von Entscheidungsprozessen in unterschiedlichen Situationen greift das MFS auf und versucht diese selbst zum Gegenstand zu machen. Aus den Kernannahmen der RCT lassen sich derartige Prozesse nicht ableiten, weshalb das MFS als situative und psychologisch realistische Alternative zur klassischen RCT betrachtet werden kann.

4

Kultur in der Theorie des rationalen Handelns

Den wissenschaftstheoretischen Grundannahmen der Theorie des rationalen Handelns und des Modells der soziologischen Erklärung folgend, können kulturelle Phänomene in zwei Weisen in der Theorie behandelt werden. Einerseits kann betrachtet werden, wie diese in die Entscheidungsprozesse der Akteure eingehen, also zu Ursachen des Handelns werden (oder in der Terminologie des HempelOppenheim-Schemas zu Antezedenzbedingungen). Dies werden wir im nächsten Schritt betrachten und zeigen, dass die RCT in ihren Mechanismen kulturellen Phänomenen eine zentrale Rolle beimisst. Andererseits können kulturelle Phänomene selbst zum Gegenstand der Erklärung werden. Dabei werden wir die These vertreten, dass die RCT keine eindeutige Rolle spielt, sondern dass für die Erklärung kultureller Phänomene die RCT im Vergleich zu anderen Theorien untersucht und getestet werden muss.

Rational Choice-Theorie in der Kultursoziologie

4.1

143

Kulturelle Phänomene als Antezedenzbedingung

In den vorstehenden Ausführungen zur RCT wurde bereits angedeutet, wie zentral kulturelle Phänomene für die Theorie sind. Als Kultur haben wir hier die Verteilung von mentalen Repräsentationen deskriptiver und evaluativer Überzeugungen in der Bevölkerung definiert. Diese mentalen Repräsentationen sind strikt individualistisch verstanden, d. h. sie sind in den Zentralnervensystemen von Akteuren lokalisiert. Evaluative Überzeugungen von Akteuren stehen in allen Varianten der RCT im Fokus, nämlich in Form von Präferenzen, Zielen und Motivationen. Selbst wenn wir annehmen, dass Akteure grundsätzlich nur an ökonomischen Vorteilen interessiert sind, ist dies eine Annahme über die in der Bevölkerung verbreitete Kultur. Realistischer dürfte die Vorgehensweise der weiten RCT-Theorie oder des MFS sein, die beide annehmen, dass die evaluativen Überzeugungen der Akteure nicht nur ökonomische Präferenzen enthalten, sondern auch andere Präferenzen sowie soziale Normen im Sinne von einzelnen Verhaltensregeln oder aber ganzer Netzwerke (Systeme) von Verhaltensregeln (i. e. Skripte). Darüber hinaus werden die Handlungsentscheidungen von Akteuren in einem zweiten Sinne durch ihre Überzeugungen strukturiert: die externen Bedingungen des Handelns im Sinne von Opportunitäten und Restriktionen können die Entscheidungen der Akteure nicht direkt beeinflussen, sie müssen von ihnen wahrgenommen und interpretiert werden, d. h. die Akteure müssen deskriptive Überzeugungen über die Bedingungen in der Situation bilden. Dazu gehören unter anderem die in der SEU-Theorie diskutierten Wahrscheinlichkeiten über das Eintreffen bestimmter Handlungskonsequenzen. Auch hier stellt die enge RCT eine Art von Referenzmodell dar, da hier angenommen wird, dass die Akteure die Situation vollständig und korrekt wahrnehmen und nicht z. B. im Hinblick auf bestimmte Ziele kulturell rahmen. Dies impliziert jedoch nichts anderes, als dass Akteure eine spezifische Art von deskriptiven Überzeugungen haben. Auch in der weiten Theorie des rationalen Handelns werden die deskriptiven Überzeugungen der Akteure zumeist nur in Hinblick auf das Eintreffen bestimmter Handlungskonsequenzen thematisiert (vgl. Opp 1999). Allerdings wird in den weiten Varianten typischerweise unterstellt, dass die Akteure bestimmte soziale Situationen in ihren inhaltlichen Merkmalen wahrnehmen und definieren: So werden bei der Entscheidung über die Teilnahme an einer Demonstration nur diejenigen Merkmale der Situation beachtet, die im Hinblick auf diese Entscheidung relevant sind. Dies setzt eine vorgängige Definition der Situation in einem bestimmten inhaltlichen Sinne voraus. Explizit thematisiert wird die Definition der Situation im MFS, das davon ausgeht, dass Akteure alle Handlungssituationen durch ein Netzwerk deskriptiver Überzeugungen (Frames) kulturell rahmen bzw. interpretieren. Diese Frames werden typischerweise durch bestimmte Merkmale der Situation aktiviert, die von den Akteuren wahrgenommen und im Hinblick auf bestimmte Frames interpretiert werden. Insofern sind also auch die kulturellen Rahmungen situationsadäquat, d. h. bilden die Situation in ihren wichtigsten Merkmalen korrekt ab. Diese kurzen Ausführungen zeigen, dass Entscheidungsprozesse in der RCT allein durch die deskriptiven und evaluativen Überzeugungen der Akteure bestimmt sind. Es sind also die individuellen Repräsentationen von kulturellen Phänomenen, die in der RCT das Handeln der Akteure erklären. Allerdings enthalten diese Über-

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zeugungen auch deskriptive Informationen über die zentralen Merkmale der sozialen Situation, die auf diesem Wege das Handeln der Akteure beeinflusst. So werden Akteure in einer Kaufsituation die Preise der Güter korrekt wahrnehmen und in ihre Entscheidung einfließen lassen, auch wenn die Beurteilung der Preise möglicherweise von der jeweiligen Rahmung der Situation abhängig ist. An dieser Stelle lässt sich auch eine Brücke zum Kulturbegriff im Sinne der Verteilung von deskriptiven und evaluativen Überzeugungen in der Bevölkerung schlagen. Bestimmte Kulturen sollten sich auch in bestimmten Mustern des Handelns niederschlagen (im Sinne der Logik der Situation des Modells der soziologischen Erklärung). Wenn in einer Gesellschaft eine Vorstellung der Differenzierung kultureller Wertsphären vorherrscht, die sich in bestimmten sozialen Situationen wiederfinden, dann sollte sich das Verhalten der Akteure auch zwischen diesen verschiedenen Arten von Situationen unterscheiden. Genauso sollte sich ein Wandel in zentralen evaluativen Überzeugungen auch im Verhalten der Akteure niederschlagen. Eine Durchsetzung asketischer und leistungsorientierter Berufsnormen beispielsweise sollte daher eine entsprechende Verhaltensänderung zur Folge haben (vgl. für eine ähnliche Verknüpfung von Kulturtheorie und RCT Wildavsky 1994).

4.2

Kulturelle Phänomene als Explanandum

Das zentrale Explanandum der RCT stellen Entscheidungen bzw. Handlungen dar. Insofern fallen deskriptive und evaluative Überzeugungen auf den ersten Blick sicher nicht in den Bereich der durch die RCT erklärbaren Phänomene. Diese etwas allgemeine und formale Antwort wollen wir aber in drei Schritten differenzieren und zeigen, inwiefern auch kulturelle Phänomene Explananda der RCT sein können: (1) Wenn landläufig von Kultur gesprochen wird (dies gilt auch für die Kultursoziologie), wird zuweilen an das Phänomen der Künste gedacht (z. B. in den Begriffen von Hoch- und Populärkultur). Die Künste sind konzeptuell insofern eng verbunden mit dem Begriff der Kultur, als künstlerische Objekte und Dienstleistungen besonders herausgehobene und wichtige Gegenstände sind, die eng mit zentralen deskriptiven und evaluativen Überzeugungen verknüpft sind. Wie in Abschn. 2 ausgeführt, würden sie allerdings nicht unter die hier verwendete Definition von Kultur fallen. Zudem ist es auch nicht sinnvoll, zwei existierende Begriffe (Kunst und Kultur) synonym zu verwenden (siehe hierzu Gerhards 1989). Zum Gegenstand der RCT können nun tatsächlich die verschiedenen Handlungen werden, die im Bereich der Produktion, Vermittlung und Rezeption von Kunst relevant sind (Caves 2000; Otte 2012; Rössel 2011). Dabei handelt es sich um eine einfache Anwendung der Theorie, die nicht weiter erläuterungsbedürftig ist. (2) Bei der Erklärung von individuellen deskriptiven und evaluativen Überzeugungen ist die Anwendung der RCT vorstellbar, indem die Annahme oder das Verwerfen einer Überzeugung als Ergebnis einer Entscheidung im Sinne der Theorie betrachtet wird. Dies wiederum lässt sich an die Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger

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1957) anschließen (siehe ergänzend die eher philosophische Diskussion über die intentionale Entscheidung für rationale Überzeugungen bei Gosepath 2003). Letztere geht davon aus, dass Menschen kognitive Dissonanz als einen unangenehmen Spannungszustand erleben, den sie möglichst aufheben wollen. Hier liegt die Annahme zugrunde, dass Überzeugungen (Kognitionen in der Terminologie der Theorie) in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen können. Erstens können Kognitionen füreinander relevant sein oder nicht. So sind die Kognitionen „Ich bin ein ausgesprochener Liebhaber der Musik von Igor Strawinsky“ und „Meine Frau hasst die Musik von Igor Strawinsky“ offensichtlich füreinander relevant. Dagegen wäre die Aussage „Morgens trinke ich gerne Kaffee“ wenig relevant für die beiden anderen Aussagen. Es gibt keine übergeordneten Begriffe oder Kategorien, die eine Verbindung zwischen den Kognitionen herstellen könnten. Wenn nun Kognitionen füreinander relevant sein können, dann können sie in einem konsonanten Verhältnis stehen, wenn z. B. die Frau des Ichs auch die Musik von Igor Strawinsky schätzt, oder in einem dissonanten Verhältnis. In dem hier genannten Beispiel liegt offensichtlich eine kognitive Dissonanz vor, da sich die Liebe zum Komponisten nicht mit der Liebe zu der Frau, die diesen Komponisten hasst, verträgt. Um diese Dissonanz zu reduzieren, können Akteure nun weitere konsonante Kognitionen ergänzen, dissonante Kognitionen streichen oder auch die Relevanz bestimmter Kognitionen verändern („Ich schätze zwar Strawinsky, aber eigentlich ist mir Musik nicht besonders wichtig.“). Eine wichtige Strategie der Ergänzung von konsonanten Kognitionen ist die gezielte Suche von Interaktionspartnern, die ebendiese Kognitionen hervorrufen. Insgesamt können also Entscheidungen für oder gegen eine Überzeugung durchaus auf der Grundlage einer RCT bzw. einer eng verwandten Theorie erklärt werden. (3) Allerdings kann man sich fragen, ob alle Überzeugungen auf der Grundlage eines solchen komplexen Entscheidungsprozesses gewonnen werden. Analog zur DualProcess-Logik des MFS könnte man davon ausgehen, dass Überzeugungen in zahlreichen Fällen mehr oder weniger automatisch erworben bzw. verändert werden und nur in wenigen Situationen auf der Grundlage einer Entscheidung. Eine Standarderklärung für solche Prozesse stellt die soziale Lerntheorie dar (Bandura 1977). Diese geht im Gegensatz zu klassischen behavioristischen Annahmen in der Psychologie nicht davon aus, dass Lernen nur auf der Basis von Prozessen der Verstärkung stattfindet, sondern in hohem Maße auf der Grundlage von Beobachtung: „most human behavior is learned observationally through modelling: from observing others one forms an idea of how new behaviors are performed, and on later occasions this coded information serves as a guide for action“ (Bandura 1977, S. 22). Beim Modelllernen kommt es vor allem auf vier Aspekte an: Erstens muss die Aufmerksamkeit des Beobachtenden auf ein bestimmtes Verhalten gerichtet sein, um es beobachten und lernen zu können, zweitens müssen diese Konzepte angemessen erinnert werden, drittens ausprobiert und geübt werden und viertens muss überhaupt eine Motivation für die Wiederholung des Verhaltens vorliegen. Vor allem der erste und der vierte Aspekt sind auch für soziologische Analysen der Geschmacksbildung besonders relevant. Es ist relativ offensichtlich, dass nicht alle Vorbilder sich für das Modelllernen in gleichem Maße eignen. Personen mit großem

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J. Rössel und S. Weingartner

Einfluss oder Personen, zu denen eine enge soziale Beziehung besteht, bieten sich in besonderem Maße als Lernmodelle an (Bandura 1977, S. 88–90). Darüber hinaus lässt sich auch auf neuronaler Ebene zeigen, dass sich die automatischen Prozesse des Modelllernens in der Weitergabe und Verteilung von mentalen Repräsentationen niederschlagen (Gallese et al. 2004; Lizardo 2007). Die in Punkt (2) und (3) diskutierten Mechanismen der Erklärung von Überzeugungen behandeln allerdings nur die individuellen Überzeugungen. Eine vollständige Erklärung der Verteilung von deskriptiven und evaluativen Überzeugungen in der Bevölkerung muss ganz im Sinne des Modells der soziologischen Erklärung die sozialen Kontextbedingungen des individuellen Erwerbs dieser Überzeugungen berücksichtigen (Logik der Selektion) und die Aggregation dieser Überzeugungen zu einer spezifischen Verteilung in der Bevölkerung.

5

Kultursoziologie und RCT

Wir haben in diesem Aufsatz die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Theorie des rationalen Handelns sowie die verschiedenen Varianten dieser Theorie dargestellt. Es ist deutlich geworden, dass in den von der Theorie unterstellten Mechanismen kulturellen Phänomenen eine zentrale Rolle als Antezedenzbedingung zukommt. Aufgrund ihrer inhaltlichen Sparsamkeit bzw. Allgemeinheit muss die RCT kulturell „gefüllt“ werden, um konkrete soziale Handlungsphänomene zu erklären. Als besonders sinnvoll erscheint dabei eine situative Modifizierung der RCT im Sinne des MFS, da dieses auf die dafür notwendigen Brückenhypothesen verweist und alle damit verbundenen Prozesse der Informationsverarbeitung explizit modelliert. Allerdings ist die Anwendbarkeit der RCT für die Erklärung von kulturellen Phänomenen als Explanandum noch weniger klar ersichtlich. Wir haben vorgeschlagen, dass man auch hier an eine Art von Dual-Process-Modell ähnlich dem MFS denken kann, in dem bestimmte Überzeugungen auf der Grundlage eines aufwendigen Informationsverarbeitungsprozesses als Resultat einer reflektierten Entscheidung angenommen werden, während der Großteil der Überzeugungen vermutlich eher in automatischen Prozessen des sozialen Lernens angeeignet wird.

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Kultursoziologie zwischen Spätmoderne und Postmoderne Peter V. Zima

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die postmoderne Problematik: Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Kultursoziologische Ansätze in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Postmoderne Kultursoziologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Niklas Luhmann zwischen Moderne, Spätmoderne und Postmoderne: Epilog . . . . . . . . . . . . 6 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 150 155 159 169 171 171

Zusammenfassung

Den Schwerpunkt bilden die kultursoziologischen Theorien innerhalb der postmodernen Problematik, die als dynamisches Ensemble von Problemen konstruiert wird. Diese Theorien können noch am ehesten im Zusammenhang mit den spätmodernen Soziologien verstanden werden, die kritisch und selbstkritisch die modernen philosophischen und soziologischen Entwicklungen reflektieren. Anders als die modernen und spätmodernen Kultursoziologien, die einen vorwiegend universalistischen Charakter haben, betonen die postmodernen Ansätze das Partikulare im Kontext eines neuartigen Pluralismus. Schlüsselwörter

Moderne · Spätmoderne · Postmoderne · Kultur · Pluralisierung · Fragmentierung · Partikularisierung · Indifferenz · Tauschwert

P. V. Zima (*) Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_4

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Einleitung

Kultursoziologie, wie sie im Folgenden aufgefasst wird, hat nicht nur die „Höhenkammkultur“ im Sinne von Kunst, Literatur und Musik zum Gegenstand, sondern alle Einrichtungen, Werte, Normen und Erwartungen, die dem menschlichen Verhalten zugrunde liegen. Die postmodernen Soziologien der Kultur, die hier im Mittelpunkt stehen, können nicht unabhängig von den Entwicklungen in der spätmodernen Soziologie verstanden werden, weil die spätmoderne Soziologie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts einige Probleme des nachmodernen Denkens vorwegnimmt. Ein konkretes Verstehen der postmodernen soziologischen Theorien setzt außerdem voraus, dass sie zu soziologischen Ansätzen innerhalb der postmodernen Problematik in Beziehung gesetzt werden, die zwar auf ihre Art auf diese Problematik reagieren, ihrem Selbstverständnis nach aber nicht postmodern sind, u. a. weil ihre Vertreter die Bezeichnung „postmodern“ ablehnen oder mit Skepsis betrachten. Von der postmodernen Problematik ist hier deshalb die Rede, weil die Postmoderne allgemein (also auch ihre philosophischen, politischen und literarischen Komponenten) nicht als Weltanschauung, Philosophie oder Ideologie betrachtet wird, sondern als ein Ensemble von Problemen, zu denen sich die verschiedenen Theorien, Ideologien oder Ästhetiken sehr unterschiedlich verhalten. Es wird sich beispielsweise zeigen, dass der französische Soziologe Alain Touraine die Postmoderne als Zerfallserscheinung auffasst, auf die soziale Bewegungen in emanzipatorischer Absicht reagieren. Schon die modernen Begründer der Soziologie – Auguste Comte und Karl Marx – hielten ganz verschiedene Antworten auf Probleme der Moderne wie Industrialisierung, Säkularisierung und Individualisierung parat, und auch Vertreter spätmoderner soziologischer Theorien wie Alfred Weber, Max Weber und Émile Durkheim begegneten den Problemen ihrer Zeit mit disparaten Anliegen und mit z. T. unvereinbaren Lösungsvorschlägen.

2

Die postmoderne Problematik: Definition

Die Postmoderne im allgemeinsten Sinn wurde sehr unterschiedlich definiert. Eine der bekanntesten Definitionen stammt wohl vom französischen Philosophen JeanFrançois Lyotard, der in seinem Buch La Condition postmoderne (1979, dt.1986) die Postmoderne als „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ (Lyotard 1986, S. 14) auffasst: d. h. als die Skepsis, mit der heute in vielen Kreisen die großen religiösen und ideologischen Erzählungen der Vergangenheit – die Weltreligionen, der Rationalismus, der Fortschrittsglaube, der Marxismus-Leninismus oder der Faschismus – betrachtet werden. Dies bedeutet keineswegs, dass sie gegenwärtig keine Rolle mehr spielen; sie werden aber von den meisten europäischen und amerikanischen Intellektuellen nicht mehr ernst genommen. Komplementär zu Lyotards Definition verhält sich die des deutschen Philosophen Wolfgang Welsch, der die Postmoderne mit dem Pluralismus (dem Wertepluralismus) identifiziert: „Die Postmoderne ist dieje-

Kultursoziologie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

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nige geschichtliche Phase, in der radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaften real und anerkannt wird [. . .].“ (Welsch 1991, S. 5) Die Komplementarität der beiden Auffassungen oder Konstruktionen besteht darin, dass beide Philosophen stillschweigend voraussetzen, dass es ein einheitliches gesellschaftliches Wertsystem, aus dem eine allgemein anerkannte Metaerzählung hervorgehen könnte, nicht mehr gibt. Dieses System gibt es deshalb nicht, weil die kulturellen Werte im Laufe der Jahrzehnte durch die soziale Differenzierung (z. B. die Arbeitsteilung), die ideologischen Konflikte und vor allem durch die sich verfestigende Herrschaft des Tauschwerts und der Marktgesetze diskreditiert wurden. Die Differenzierung der sozialen Systeme bewirkt, dass in jedem System andere Werte gelten (im religiösen System ist der oberste Wert Gott, im Wissenschaftssystem die Erkenntnis, im Sportsystem die körperliche Leistung), sodass die Gesellschaft von keinem von allen anerkannten Wert mehr zusammengehalten wird. Sie ist, positiv ausgedrückt: pluralisiert, negativ ausgedrückt: fragmentiert. Es kommt hinzu, dass die ideologischen Auseinandersetzungen die Werte, auf die sich Erzieher, Politiker oder religiöse Eiferer berufen, immer mehr in Verruf bringen. Das Ergebnis dieser Entwicklungen ist die Vorherrschaft des Tauschwerts, der allen kulturellen Werten wie „Wahrheit“, „Ehrlichkeit“ oder „Zuverlässigkeit“ gegenüber indifferent ist. Seine Indifferenz ist die Kehrseite des postmodernen Pluralismus: Die fortschreitende Pluralisierung und Partikularisierung der Kulturwerte (ihre begrenzte Gültigkeit in bestimmten, einander befehdenden Gruppen und Grüppchen) bewirkt, dass letztlich alle Wertsetzungen als austauschbar erscheinen: als indifferent. Der Tauschwert als Geldwert nimmt aber als der einzige noch konsensfähige, von allen anerkannte Wert-Unwert eine zentrale Stellung ein: als der gemeinsame Nenner aller Lebensbereiche der postmodernen Wirtschaftsgesellschaft. Im Anschluss an Nietzsche und Heidegger bemerkt der postmoderne italienische Philosoph Gianni Vattimo: „Auf diese Weise ist der Nihilismus die Reduktion von Sein auf Tauschwert.“ (Vattimo 1990, S. 25) Mit dieser Reduktion befasste sich bereits die spätmoderne Soziologie Alfred Webers, Max Webers, Georg Simmels und Émile Durkheims, die einerseits als eine Selbstkritik der Moderne, andererseits als Vorläuferin der postmodernen Soziologie (etwa Zygmunt Baumans, Jean Baudrillards, Michel Maffesolis) aufgefasst werden kann.

2.1

Die spätmoderne Kultursoziologie als Vorbotin der Postmodernen Problematik

Die Kultursoziologie der Spätmoderne (ca. 1860 bis 1950), die bisweilen an die großen modernen Entwürfe von Claude Henri de Saint-Simon, dessen Schüler Auguste Comte, Herbert Spencer und Karl Marx mit Zustimmung oder Kritik anknüpft, ist eine Soziologie der Krise. Ihre Begründer – Émile Durkheim, Georg Simmel, Alfred Weber und Max Weber – betrachten die Gesellschaft nicht mehr im Lichte des Fortschritts, der bei Saint-Simon und Comte in einer humanen und säkularisierten Gesellschaft, bei Spencer in einem individualistischen Altruismus

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und bei Marx in einer vom Kapitalismus befreiten „klassenlosen Gesellschaft“ gipfeln sollte, sondern nehmen eher die destruktiven Tendenzen der sozialen Entwicklung wahr. Zu diesen Tendenzen gehören: die eingangs schon erwähnte Vorherrschaft der Wirtschaft, die Differenzierung der Gesellschaft in Subsysteme, Berufsgruppen, religiöse oder ideologische Gruppierungen sowie die Unmöglichkeit, die soziale Entwicklung in einer zusammenhängenden, auf ein bestimmtes Ziel ausgerichteten Erzählung – im Sinne von Comte oder Marx – darzustellen. Die Bedeutung der spätmodernen Soziologie als Kultursoziologie besteht u. a. darin, dass sie die linearen „Erzählungen“ von Comte, Marx und Spencer radikal infrage stellt, indem sie die gegenläufigen Tendenzen hervortreten lässt, die den menschlichen Emanzipationsprozess (Säkularisierung, Individualisierung, Befreiung aus Unterwerfung und Unmündigkeit) scheitern lassen könnten. Alfred Weber, der Bruder Max Webers, fasst gar die Möglichkeit einer „Rebarbarisierung“ der Gesellschaft ins Auge. Lange vor Vattimo und einem postmodernen Soziologen wie Jean Baudrillard (siehe weiter unten) erinnert er daran, dass das Wirtschaftssystem sich anschickt, das gesamte gesellschaftliche Leben zu beherrschen: „Ein Konflikt steigt gleichfalls auf, falls die kapitalistisch technisch fundierte Eigenevolution der Wirtschaft den Menschen, der ihr Zweck sein sollte, als eines ihrer Mittel auffrißt.“ (Weber 1997, S. 58) In diesem Zusammenhang unterscheidet A. Weber „Gesellschaftsprozeß, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung“ (Weber 1951, S. 147) und stellt die durchaus plausible Überlegung an, dass sich die Kultur keineswegs linear und parallel zu Gesellschaft und Zivilisation entfaltet (daher spricht er von Kulturbewegung, nicht vom Kulturprozess) und von der Zivilisation als Wirtschaft und Technik, „als dieses zweckmäßige und nützliche Zwischenreich“ (Weber 1951, S. 169), sogar gefährdet werden kann. Denn: „Die kulturelle Formung des Daseins [. . .] hat mit Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit gar nichts zu tun.“ (Weber 1951, S. 170) Religion und Kunst wollen nicht nützlich sein, sondern versuchen, den Menschen ethisch oder ästhetisch auf verschiedene Arten zu motivieren. Die Vorherrschaft der Wirtschaft und der Marktgesetze birgt folglich die Gefahr, dass sowohl ethische als auch ästhetische Werte und Normen sekundär oder gar bedeutungslos werden. Max Webers „verstehende Soziologie“, die in wesentlichen Punkten von der Kultursoziologie seines Bruders abweicht, weil sie soziales (individuelles) Handeln möglichst werturteilsfrei verstehen und erklären will, überschneidet sich dennoch mit dem Ansatz Alfred Webers, weil sie den sozialen Rationalisierungsprozess als eine zweigleisige Bewegung darstellt: einerseits als Befreiung von den Fesseln der Tradition und der Unvernunft, andererseits als Vorherrschaft des zweckrationalen Handlungstyps, der sich wesentlich von den anderen drei Handlungstypen – dem traditionalen (auf die Tradition ausgerichteten), dem affektualen (emotionsbedingten) und dem wertrationalen (von Wertsetzungen geleiteten) – unterscheidet, weil er nur die Zweck-Mittel-Beziehung gelten lässt und sowohl Emotionen als auch kulturell bedingte Wertungen ausblendet. Die Dominanz der Zweckrationalität im Rationalisierungsprozess könnte dazu führen, dass der soziale Verwaltungsapparat

Kultursoziologie zwischen Spätmoderne und Postmoderne

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als Bürokratie (als „legale Herrschaftsform“) die gesamte Gesellschaft gleichsam überwuchert und zu einem „stählernen Gehäuse“ (M. Weber) wird. In M. Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, einem Werk, in dem es um die Bedeutung des Protestantismus (vor allem des Puritanismus und des Calvinismus) für die Entfaltung des nordwesteuropäischen Kapitalismus geht, wird deutlich, dass die Ausrichtung auf die Zweck-Mittel-Beziehung von der kapitalistischen Wirtschaftsform begünstigt wird und letztlich den Handelnden selbst zum Mittel degradiert: „Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.“ (Weber 2013, S. 78) Hier scheint Max Weber die These seines Bruders zu bestätigen, dass die „Eigenevolution der Wirtschaft“ den Menschen, dem sie dienen sollte, in ein Mittel verwandelt. Zugleich wird deutlich, dass die spätmodernen Soziologen die historische Zuversicht, die die Entwürfe ihrer modernen Vorgänger prägte, immer wieder dämpfen. Andere, komplementäre Aspekte einer von der Wirtschaft und den Marktgesetzen beherrschten Gesellschaft beschreibt Georg Simmel in seinem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“. Dort hebt er die nivellierende Funktion des Geldes als Tauschwert hervor: „[. . .] Indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld, mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner aller Werte aufwirft, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus.“ (Simmel 1984, S. 196) Simmel, der die Ambivalenz des Geldmediums durchaus wahrnimmt und in seiner Philosophie des Geldes (1900) auch von der „Bedeutung der Geldwirtschaft für die individuelle Freiheit“ (Simmel 1977, S. 311) spricht, nimmt hier das Kernproblem der Postmoderne vorweg: die tendenzielle Austauschbarkeit der koexistierenden Kulturwerte, die die Urbanisierung der Gesellschaft und ihre Differenzierung mit sich bringen. Mit dieser Differenzierung als Arbeitsteilung befasst sich ausführlich Émile Durkheim in Über soziale Arbeitsteilung (Orig. 1893), wo er den Übergang von einer auf Ähnlichkeit und affektiver Nähe gründenden mechanischen Solidarität zu einer auf funktionaler Interdependenz beruhenden organischen Solidarität beschreibt. Während die mechanische Solidarität für archaische Gesellschaften und Dorfgemeinschaften prägend ist, ist die organische Solidarität eine Folge der Arbeitsteilung und ein Charakteristikum moderner Industriegesellschaften, in denen Menschen zwar funktional aufeinander angewiesen sind, einander aber nicht gleichen und zumeist auch nicht kennen. Durkheim zeigt nun, wie der Übergang von der mechanischen zur organischen Solidarität das Kollektivbewusstsein schwächt, weil jede Berufsgruppe bestimmte kulturelle Werte und Normen privilegiert, die in anderen Gruppen entweder nicht gelten oder sekundär sind. In einer solchen Situation kann Anomie herrschen, weil Einzelpersonen nicht mehr sicher sind, ob sie sich für einen Wert wie „Ehrlichkeit“ oder „Zuverlässigkeit“ einsetzen und die ihm entsprechenden Verhaltensnormen

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befolgen sollen. Anomie bedeutet nicht Abwesenheit von Normen, sondern deren Unbestimmtheit, die oftmals mit der Koexistenz unvereinbarer Werte und Normen zusammenhängt (Durkheim 2012, S. 228). Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton schlägt eine Brücke von Durkheims Differenzierungsproblematik zur Tauschwertproblematik, wenn er feststellt, dass auch die Orientierung am Geldmedium Zustände der Anomie hervorrufen kann, weil der Einzelne häufig die geltende Norm verletzt, um sich finanzielle Vorteile zu sichern: „Das Geld wurde weitgehend zu einem Wert an sich erhoben.“ (Merton 1970, S. 126) Dadurch stellt es die Geltung des kulturellen Wertsystems grundsätzlich in Frage.

2.2

Aspekte der postmodernen Problematik

Welche Aspekte der postmodernen Problematik nimmt die spätmoderne Soziologie vorweg? An erster Stelle sollte der reflexive Charakter der Kultursoziologien Alfred Webers, Max Webers, Durkheims, Simmels und Mertons genannt werden. Im Gegensatz zu Begründern der modernen Soziologie wie Comte und Marx betrachten die Spätmodernen den Fortschritt und die Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung (z. B. durch Revolution) mit Skepsis. Statt die gesellschaftliche Entwicklung auf ehrgeizige Ziele im Sinne des Humanismus, der Aufklärung und der Emanzipation festzulegen, denken sie über die Gefahren des Fortschritts als Modernisierung nach. In dieser Hinsicht nehmen sie wesentliche Themen und Fragestellungen postmoderner und in der Postmoderne wirkender Soziologen vorweg. Die postmoderne „Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ (Lyotard) zeichnet sich schon in ihren Theorien ab. Sie entdecken die Kontingenz und Partikularität der modernen „Metaerzählungen“, die keineswegs, wie ihre Autoren stillschweigend annahmen, mit der Wirklichkeit übereinstimmen, sondern nur mögliche (kontingente) Konstruktionen dieser Wirklichkeit sind. Zu Recht betont Simon Susen die Bedeutung der Kontingenz für die Postmoderne und ihren Abschied von der modernen Notwendigkeit vor allem auf der Ebene historischer „Gesetze“. (Susen 2015, S. 136–139) In dieser Hinsicht wird die spätmoderne (und postmoderne) Kultursoziologie bescheidener und selbstkritischer: Sie fragt eher nach möglichen Entwicklungen und scheut davor zurück, groß angelegte historische Entwürfe im Sinne von Comte oder Marx in die Zukunft zu projizieren. So fragt beispielsweise Alfred Weber, ob nicht eine „Rebarbarisierung“ der Gesellschaft als Niedergang der Kultur möglich sei. Vor allem in der Differenzierungstheorie Durkheims zeichnet sich ein Gesellschaftsbild ab, in dem die Fragmentierung oder Pluralisierung den Ton angibt. Der postmoderne Pluralismus, den Philosophen wie Lyotard, Vattimo und Wolfgang Welsch hervorheben, ist z. T. auf die von Durkheim beschriebenen Differenzierungsprozesse (allen voran die Arbeitsteilung) zurückzuführen. Vor allem die Arbeitsteilung als effizienteste Produktionsweise wird wiederum vom Markt

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gefördert, der den Pluralismus als Individualismus (des konkurrierenden Unternehmers, des auswählenden Konsumenten) begünstigt. Soziologen wie Simmel und M. Weber haben die befreiende Wirkung der Marktgesetze keineswegs übersehen; sie nahmen aber auch die Schattenseiten einer Ökonomisierung wahr, die dem Tauschwert zu unumschränkter Herrschaft über alle Kulturwerte verhelfen könnte. Dadurch nahmen sie eines der wichtigsten Themen postmoderner Soziologien vorweg: die Indifferenz als tendenzielle Austauschbarkeit aller Kulturwerte. Da jeder dieser Werte zumeist nur in einer Gruppe oder in einem Subsystem der Gesellschaft gilt, d. h. partikular ist, kann er keine universelle Geltung in der Gesamtgesellschaft beanspruchen. Nicht das Erscheinen eines großen Kunstwerks bewegt die Gemüter der Fußballfans, sondern der Sieg der eigenen Mannschaft, den wiederum die meisten Kunstliebhaber kaum wahrnehmen. Ihnen allen ist nur der Geldwert als universeller Vermittler zwischen Gruppen und Systemen gemeinsam.

2.3

Zwischenbilanz

Es zeigt sich, dass die Postmoderne als soziologische Problematik nicht unabhängig von der spätmodernen Soziologie zu verstehen ist. Denn das Misstrauen den großen Metaerzählungen des Rationalismus, des Positivismus und des Marxismus gegenüber ist schon in den Schriften Alfred Webers, Max Webers, Durkheims und Simmels angelegt. Auch die Gesellschaft als fragmentierte, pluralisierte Totalität, die sich aus einer Vielzahl von Partikularitäten zusammensetzt, von denen eine jede dazu neigt, absolute Geltung zu beanspruchen, wird von den Theoretikern der Spätmoderne vorweggenommen. Sie antizipieren auch das möglicherweise wichtigste Problem der Postmoderne, das vor allem Jean Baudrillard in den Vordergrund stellt: die sich konsolidierende Herrschaft des Tauschwerts, die dazu führt, dass alle Kulturwerte als partikular oder kontingent und somit als austauschbar oder indifferent erscheinen.

3

Kultursoziologische Ansätze in der Postmoderne

Nicht alle kultursoziologischen Ansätze, die in der postmodernen Ära (seit ca. 1950) entstanden sind, sind ihrem Selbstverständnis nach postmodern. Sie können jedoch sehr wohl als Reaktionen auf die hier skizzierte postmoderne Problematik verstanden werden. Denn auch sie betrachten die modernen „Metaerzählungen“ mit Skepsis, weil sie – ähnlich wie ihre spätmodernen Vorläufer – die Moderne als Industrialisierung, Rationalisierung und Naturbeherrschung kritisch reflektieren. Da sie nicht ohne Weiteres als „postmodern“ zu bezeichnen sind, sollen sie hier nur ansatzweise kommentiert werden. Nicht erörtert werden kultursoziologische Theorien – etwa die Pierre Bourdieus –, in denen eine Auseinandersetzung mit Begriffen wie „Moderne“, „Spätmoderne“ oder „Postmoderne“ fehlt. Dies bedeutet keines-

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wegs, dass Bourdieus kritische Position zwischen Spätmoderne und Postmoderne nicht rekonstruiert werden kann; ihre Rekonstruktion würde aber den Rahmen dieser Darstellung sprengen.

3.1

Naturbeherrschung und „Kolonisierung der Lebenswelt“: Von Adorno und Horkheimer zu Habermas

Steven Best und Douglas Kellner sprechen in ihrem Buch Postmodern Theory von „Adorno’s proto-postmodern theory“. (Best und Kellner 1991, S. 225) Obwohl diese Bezeichnung eine Übertreibung ist, weil Adorno eher der spätmodernen als der postmodernen Problematik zugerechnet werden und als Kritiker postmoderner Gesinnung gelesen werden sollte, nicht als deren Wegbereiter, haben die Autoren nicht ganz Unrecht. Denn ähnlich wie Max Weber und Georg Simmel stellen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem Buch Dialektik der Aufklärung (1944/47) die gesamte rationalistisch-positivistische Denktradition infrage, indem sie sie mit dem Herrschaftsprinzip und der Naturbeherrschung verknüpfen. Zugleich erscheint ihnen die Kultur als ein Herrschaftsinstrument, mit dessen Hilfe sich der Mensch als Subjekt die Natur als Objekt unterwirft. Die Herrschaft über die Natur schlägt schließlich in eine Herrschaft des Menschen über den Menschen um. Als besondere Herrschaftsform erscheint die Kulturindustrie, die den Einzelnen und die Masse manipuliert: „Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht.“ (Adorno und Horkheimer 1947, S. 166) Adornos spätmoderne, kritische Vision ist eine Ästhetisierung der Theorie mithilfe der Kunst. Schon in der Dialektik der Aufklärung stellen die Autoren fest: „Mit fortschreitender Aufklärung haben es nur die authentischen Kunstwerke vermocht, der bloßen Imitation dessen, was ohnehin schon ist, sich zu entziehen.“ (Adorno und Horkheimer 1947, S. 29) Dies ist der Grund, warum Adorno in seinen späteren Arbeiten, vor allem in der postum veröffentlichten Ästhetischen Theorie (1970), versucht, eine Theorie zu entwerfen, die sich an der Mimesis der Kunst orientiert. Diese Neuorientierung soll es der Theorie ermöglichen, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ (Adorno 1966, S. 25), und dadurch das Denken aus seiner Verstrickung in den Herrschaftsmechanismus zu befreien. Spätmodern ist Adornos Ansatz deshalb, weil er eine ästhetisch-politische Utopie entwirft, die in dieser Form in postmodernen Entwürfen nicht mehr vorkommt. Dennoch ist diese Utopie als Reaktion auf postmoderne Verhältnisse zu verstehen, weil sie die großen „Metaerzählungen“ des Rationalismus, des Hegelianismus und des MarxismusLeninismus als Herrschaftsinstrumente der Moderne ablehnt und dadurch wesentlich zu einem kritischen Nachdenken über die Moderne beiträgt, das in der Postmoderne ins Zentrum der Problematik rückt. Ganz anders reagiert Jürgen Habermas auf die Herausforderungen einer postmodernen Problematik, die er in seinem Buch Die Moderne als unvollendetes Projekt (1990) pauschal aus einer konservativen Gesinnung ableitet und als eine der zeitgenössischen Ideologien ablehnt. Er lehnt zugleich auch Adornos Ausrichtung der Theorie auf

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künstlerische Mimesis ab und plädiert stattdessen für einen intersubjektiven, kommunikativen Ansatz, der dazu beitragen soll, die Lebenswelt (E. Husserl, A. Schütz, Habermas), in der zwischenmenschliche Verständigung stattfindet, gegen die „sprachlosen“ Systeme Macht und Geld, die die Lebenswelt zunehmend „kolonisieren“, zu verteidigen. Ausgehend von der Lebenswelt als kultureller Grundlage kommunikativen Handelns, schlägt er eine „alternative Praxis“ vor: „Die alternative Praxis richtet sich gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktgängige Mobilisierung der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen die konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen und persönlichen Lebensstilen.“ (Habermas 1981, S. 581) Obwohl Habermas die Postmoderne mit Skepsis betrachtet und die Moderne als Aufklärung mit anderen, kommunikativen Mitteln fortsetzen möchte, richtet sich seine Kritik vor allem gegen einen Aspekt der postmodernen Problematik, der hier im Vordergrund steht: gegen die Herrschaft des Tauschwerts, der zusammen mit der Kultur alle Lebensbereiche zu erfassen droht und den der postmoderne Baudrillard zum Wert schlechthin aufrücken lässt.

3.2

Alain Touraines Kritik der Postmoderne

Ähnlich reagiert der französische Soziologe Alain Touraine, der sich u. a. auf Habermas beruft, in seinem Werk Critique de la modernité (1992), wenn er die Postmoderne als Zerfallserscheinung der Moderne auffasst. Seiner Diagnose zufolge zerfällt die Moderne, die bisher vom Staat als Nation zusammengehalten wurde, in vier konkurrierende Sphären: Eros (Sexualität), Konsum, Nationalismus und Wirtschaftsunternehmen. Im Nexus von Wirtschaft und Konsum tritt hier abermals die Vorherrschaft des Geldmediums als Tauschwert zutage, die für die gesamte Postmoderne prägend ist. Gegen diese Vorherrschaft, die den Zerfall der Gesellschaft beschleunigt, begehrt das Subjekt auf: „Was man Postmoderne nennt und was ich als extreme Zerfallsform des rationalisierten Modells der Moderne bezeichnet habe, ist das, wogegen das Subjekt aufbegehrt.“ (Touraine 1992, S. 292) Mit „Subjekt“ ist hier nicht nur der Einzelne gemeint, sondern auch und vor allem die soziale Bewegung, von der sich Touraine eine Motivierung und Stärkung der Einzelsubjekte erhofft. Frauenbewegungen, Friedensbewegungen und ökologische Bewegungen sollen den isolierten Individuen den Rücken stärken, damit sie sich gegen die Übergriffe der Staatsbürokratie und der Wirtschaftskonzerne zur Wehr setzen können. Dieser Ansatz überschneidet sich insofern mit dem von Habermas, als er von den Bewegungen, die eindeutig dem Bereich der „Lebenswelt“ zuzurechnen sind, erwartet, dass sie die lebensweltlichen Anliegen gegen die Systeme „Macht“ und „Geld“ verteidigen. Insgesamt wird deutlich, dass die Gesellschaftstheorien von Adorno, Horkheimer, Habermas und Touraine insofern an die Problematik der spätmodernen Soziologen (Alfred Weber, Max Weber, Simmel, Durkheim) anknüpfen, als sie wie ihre Vorgänger eher defensive Positionen einnehmen. Es gilt, das Schlimmste zu verhüten. In dieser

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Hinsicht hat sich sowohl die spätmoderne als auch die zeitgenössische Soziologie, die z. T. noch der spätmodernen Problematik verpflichtet ist, eindeutig von der Soziologie der Moderne – von Saint-Simon, Spencer, Comte und Marx – distanziert. Statt Zukunftsvisionen einer besseren, vernünftigeren, von aller Herrschaft befreiten klassenlosen Gesellschaft zu entwerfen, hält sie es für realistischer, auf die Gefahren und Risiken der Moderne als Modernisierung hinzuweisen.

3.3

Das Reflexivwerden der Moderne: Ulrich Beck und Anthony Giddens

In diesem Kontext sind die Werke von Ulrich Beck in Deutschland und Anthony Giddens in Großbritannien zu betrachten. Weder Beck noch Giddens bekennen sich zur Postmoderne. Während Beck von einer „zweiten Moderne“ spricht, bezeichnet Giddens die zeitgenössische Gesellschaft als „late modern“ („spätmodern“). Beck distanziert sich sogar ausdrücklich von der Bezeichnung „Postmoderne“: „Bei der ‚Postmoderne‘ beginnt bereits alles zu verschwimmen [. . .].“ (Beck 1986, S. 12) Es muss nicht verschwimmen, sofern die Konstruktion der „Postmoderne“ (und es handelt sich wie bei der „Renaissance“, der „Romantik“, der „Moderne“ oder der „Spätmoderne“ stets um eine nur mögliche Konstruktion) (Zima 2011, S. 284–308) auf einer klaren Terminologie gründet. Becks „zweite Moderne“ ist insofern als eine Reaktion auf die postmoderne Problematik und als Fortsetzung der spätmodernen Theoriebildungen zu betrachten, als sie angesichts der Katastrophe im ukrainischen Kernkraftwerk von Tschernobyl – Becks Buch Risikogesellschaft erschien 1986 – als radikale Selbstkritik der modernen Industriegesellschaft rezipiert werden konnte. Denn eine von Becks Kernthesen lautet, dass die von Marx beschriebene Industriegesellschaft als Klassengesellschaft der Vergangenheit angehört und dass die zeitgenössische nachindustrielle Gesellschaft, von der auch Touraine spricht (Touraine 1969), nicht mehr blindlings auf wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt vertrauen kann, sondern die Unwägbarkeiten, die dieser Fortschritt als Globalisierung (Beck 2007) mit sich bringt, zu reflektieren hat. Auf die Zerstörung der „Lebenswelt“ durch die Marktgesetze geht auch Beck indirekt ein, wenn er den Zerfall der Zweierbeziehung und die Vereinsamung der Individuen zur Sprache bringt. Von der „Existenzform der oder des Alleinstehenden“ heißt es in Risikogesellschaft: „Sie ist das Urbild der durchgesetzten Arbeitsmarktgesellschaft. Die Negation sozialer Bindungen, die in der Marktlogik zur Geltung kommt, beginnt in ihrem fortgeschrittensten Stadium auch die Voraussetzungen dauerhafter Zweisamkeit aufzulösen.“ (Beck 1986, S. 200) Gegen solche Auflösungserscheinungen begehren auch bei Beck soziale Bewegungen auf, deren Handlungsspielraum der Autor von Risikogesellschaft und Weltrisikogesellschaft (2007) allerdings wesentlich skeptischer beurteilt als Touraine. Dass der Fortschritt eine ambivalente Bewegung ist, die sowohl Freiheiten als auch Risiken mit sich bringt, zeigt Anthony Giddens in The Consequences of Modernity (1990) und in Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late

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Modern Age (1991). Während Beck sein Augenmerk vor allem auf globale Risiken richtet, die Umweltzerstörung sowie menschlich-technisches Versagen (Tschernobyl, Fukushima) mit sich bringen können, versucht Giddens, die Unwägbarkeiten individueller Emanzipation und Selbststilisierung ins Blickfeld zu rücken. Auf dieser Ebene ist vor allem sein Begriff des disembedding (wörtlich: „Entbettung“) aussagekräftig: Der Einzelne, der in feudalen Gesellschaften und sogar noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert in relativ stabile Dorf- und Familiengemeinschaften „eingebettet“ war, wird im Zuge der schon von Saint Simon, Comte und Spencer beschriebenen Industrialisierung, Säkularisierung und Individualisierung einerseits aus Zwangslagen freigesetzt und von der Bevormundung durch Patriarchat und Kirche befreit, andererseits aber isoliert und auf sich selbst zurückgeworfen. In dieser Situation kann ein Egozentrismus entstehen, der Ungleichheiten, soziale Konflikte und Umweltzerstörung potenzieren und beschleunigen kann. Wie Habermas, Touraine und Beck reagiert Giddens auf diese Herausforderungen eher defensiv, indem er Individuen zu „morally justifiable forms of life“ (Giddens 1991, S. 215) ermahnt und zu einer „global redistribution of wealth“ (Giddens 1990, S. 166) aufruft. Der Tatsache, dass die sich ausweitende Geldwirtschaft schon seit der frühen Moderne das disembedding beschleunigt und dadurch alle Traditionen und Kulturwerte aushöhlen könnte, ist sich Giddens durchaus bewusst: „Money is an example of the disembedding mechanisms associated with modernity [. . .].“ (Giddens 1990, S. 25) Vor allem bei Baudrillard wird dieser Mechanismus zur treibenden Kraft schlechthin.

4

Postmoderne Kultursoziologien

Als „postmodern“ werden hier soziologische Theorien bezeichnet, die nicht nur innerhalb der postmodernen Problematik entstehen, sondern von ihren Autoren als Antworten auf postmoderne Fragen und Probleme aufgefasst werden. Da sie die Entwicklungen der Moderne kritisch reflektieren, sind sie nicht unabhängig von den spätmodernen Theorien zu verstehen, die diesen Reflexionsprozess eingeleitet und in den Werken von Adorno, Habermas, Touraine, Beck und Giddens recht weit getrieben haben. Die postmodernen Soziologien sind aus diesem Reflexionsprozess hervorgegangen; ihre Kritik der Moderne ist jedoch radikaler als die der spätmodernen Autoren. Sie ist radikaler, weil sie nicht nur mit modernen Utopievorstellungen im Sinne von Marx᾽ „klassenloser Gesellschaft“ bricht, sondern auch mit spätmodernen Versuchen, der sozialen Entwicklung mithilfe von neuen theoretischen Entwürfen (Adorno, Habermas), von Bewegungen (Touraine) oder neuen moralischen Verhaltensmustern (Giddens) eine Wende zum Besseren zu geben. Viele postmoderne Soziologien und Kulturtheorien sind von dem Bewusstsein durchdrungen, dass gesellschaftliche Kräfte fehlen, die in der Lage wären, die Allmacht des Kapitals herauszufordern. Terry Eagleton, ein Kritiker postmodernen Denkens, schildert die Situation der Intellektuellen mit beredten Worten: „Die Macht des Kapitals hat gegenwärtig eine so trostlose Vertrautheit angenommen, sie ist so unbeschreiblich allmächtig und

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allgegenwärtig, dass sie sogar in linken Kreisen zunehmend als natürlich betrachtet wird, als verfestigte Struktur, die sogar den Mut, die Stimme zu erheben, im Keim erstickt.“ (Eagleton 1996, S. 23)

4.1

„Die Macht des Kapitals“ und des Tauschwerts: Von Lyotard zu Baudrillard

Lyotard, der die von amerikanischen Literaturwissenschaftlern in den 1960erJahren eröffnete (Zima 2014, S. 255–256) Diskussion über die Postmoderne mit seinem Buch La Condition postmoderne (1979) wieder angefacht hat, betrachtet die Herrschaft des Kapitals keineswegs als „natürlich“, sondern als soziale Pathologie. Der vom Wirtschaftskapital betriebenen Vereinheitlichung und Universalisierung soll in seinem Ansatz (vor allem in Le Différend, 1983) ein kultureller Faktor Widerstand leisten: die Heterogenität der in der Gesellschaft koexistierenden Sprachen: „Auf diese Weise verlangt der ökonomische Diskurs des Kapitals keineswegs das politisch-deliberative Dispositiv, das die Heterogenität der Diskursarten zuläßt. Eher das Gegenteil: er verlangt deren Unterdrückung.“ (Lyotard 1989, S. 293) Gegen diese Unterdrückung wendet sich Lyotard in nahezu allen seinen späteren Schriften. Trotz aller Differenzen, die ihn von Habermas trennen (Zima 2014, S. 190–209), stimmt er mit dem Vertreter der Kritischen Theorie in einem wesentlichen Punkt überein: in der Forderung, die Bereiche der Lebenswelt, der Kultur und der Sprache gegen die nivellierende Wirkung des wertindifferenten Tauschwerts zu verteidigen. Ganz anders reagiert der postmoderne Soziologe Jean Baudrillard auf die postmoderne Problematik, wenn er zu zeigen versucht, dass die moderne Problematik von einer postmodernen abgelöst wird, in der Schlüsselbegriffe der Moderne wie „Produktion“, „Profit“, „Ideologie“ und „Utopie“ ihren Sinn einbüßen: „Produktion, Markt, Ideologie, Profit, Utopie (der Profit ist selber eine Utopie), all das war modern, die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft war modern – die unsere, irreal und spekulativ, die nicht einmal die Idee von Produktion, Profit und Fortschritt hat, ist nicht mehr modern, sondern postmodern.“ (Baudrillard 1994, S. 61) Zunächst fällt auf, dass Baudrillard Begriffe wie „Ideologie“ und „Utopie“ verabschiedet, die nicht nur den Titel von Karl Mannheims Standardwerk Ideologie und Utopie (1929) bilden, sondern nahezu alle modernen und spätmodernen Debatten über sozialen Wandel und Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung prägten. Frappierend ist auch seine Behauptung, dass Begriffe wie „Produktion“ und „Profit“ der Moderne angehören und in der Postmoderne nicht mehr aktuell sind. Diese Behauptung hängt mit seiner Grundannahme zusammen, dass die für Marx so wichtige Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert in nachmoderner Zeit unhaltbar wird: „Dort, wo die marxistische Analyse am überzeugendsten ist, dort tritt auch ihre Schwachstelle zutage: nämlich in der Unterscheidung von Tauschwert und Gebrauchswert.“ (Baudrillard 1975, S. 10) Dieser Einwand hat in seiner maßlos übertriebenen Radikalität (Zima 2014, S. 120–124) weitreichende Folgen für Baudrillards Argumentation, die darauf hi-

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nausläuft, dass sich in der nachmodernen Marktgesellschaft Gebrauchsgegenstände im funktionalen Zusammenhang des Warentausches verflüchtigen und zu Zeichen für Tauschwertbeziehungen werden. Wo der Gebrauchswert nicht mehr wahrgenommen wird und nicht mehr bezeichnet werden kann, weil Werbung und Preismanipulation den wahren Wert der Gegenstände verdecken, dort ist auch keine Kritik der „politischen Ökonomie“ möglich, weil sich alle Gebrauchswerte und alle kulturellen (ästhetischen, ethischen, politischen) Werte im Tauschwert auflösen. In einer solchen Situation wird Kritik als solche fragwürdig, weshalb sie von Baudrillard – zusammen mit der Ideologie und der Utopie – als unzeitgemäß verabschiedet wird: weil sie dem „Schein“ des Tauschwerts keine auf Gebrauchswerten gründende „Wirklichkeit“ mehr entgegensetzen kann. Wo der Schein unumschränkt herrscht, dort gibt es nichts mehr aufzudecken, zu „entlarven“. Bei Baudrillard entspricht dem Schein des Tauschwerts auf sprachlicher Ebene der Signifikant, dessen vieldeutige Materialität die Frage nach dem Signifikat als Sinn gar nicht aufkommen lässt. Vom Signifikanten geht eine ähnliche Wirkung aus wie vom Tauschwert: „Signifikat (und Referent) sind nur ein Effekt des Signifikanten [. . .].“ (Baudrillard 1972, S. 164) Auch das Wort „Effekt“ konnotiert in diesem Fall eine Scheinwelt, aus der auszubrechen nur demjenigen gelingen könnte, der die Möglichkeit hätte, die vielfachen Effekte von Tauschwert und Signifikant zu durchschauen. Doch gerade diese Möglichkeit, so meint Baudrillard, gibt es nicht mehr, weil die Funktion postmoderner Zeichen darin besteht, „die Wirklichkeit verschwinden zu lassen und zugleich dieses Verschwinden zu tarnen (masquer en même temps cette disparition).“ (Baudrillard 1995, S. 18) Dies ist genau, was in den Medien geschieht, in denen es zu einer Synthese zwischen wirklichkeitsverdeckendem Tauschwert und referenzlosen Signifikanten kommt. Ausgehend von Marshall McLuhans These, dass das Medium selbst als Nachricht fungiert („medium is message“), versucht Baudrillard nachzuweisen, dass in den Medien die Zeichen als Signifikanten eine vorwiegend selbstreferentielle Wirkung haben: wie der Tauschwert, der auf dem Markt letztlich über die Scheinqualität eines Produkts entscheidet. Der selbstreferentielle Charakter der medialen Zeichen lässt das entstehen, was Baudrillard als Hyperrealität bezeichnet. Diese setzt sich aus Simulakra ohne Bezug zur Wirklichkeit zusammen. Baudrillard erklärt: „Das Hyperreale ist ein viel weiter fortgeschrittenes Stadium, in dem sogar der Widerspruch zwischen dem Realen und dem Imaginären ausgelöscht ist.“ (Baudrillard 1982, S. 114) Bei Baudrillard entspricht die Hyperrealität, die in den Medien, vor allem im Fernsehen, zustande kommt, dem Schein des Tauschwerts, der eine eigene Welt jenseits des Gegensatzes von Gebrauchswert und Tauschwert hervorbringt. Dies bedeutet konkret, dass die Angehörigen einer postmodernen Gesellschaft in einer Scheinwelt leben, in der die Frage nach der Wirklichkeit als Gebrauchswert oder als einem sozialen, politischen Handlungs- und Ereignisablauf gegenstandslos wird. Tatsächlich kann es geschehen, dass der Fernsehbericht über ein verheerendes Erdbeben in Honduras oder auf Sachalin nur wenige Sekunden lang den Bildschirm beherrscht und von den Zusehern vorwiegend als „Katastrophenszenario“ und als Wirklichkeit sui generis oder Scheinwirklichkeit rezipiert wird, weil sie keinerlei

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Beziehung zwischen den Namen und den Regionen, die sie bezeichnen, herstellen können. Allerdings ist das hier konstruierte Beispiel eher als Ausnahme aufzufassen, weil die meisten Zuseher sehr wohl in der Lage sind, wirkliche Ereignisse wie Naturkatastrophen (etwa Waldbrände oder Erdbeben in Kalifornien) von vergleichbaren Ereignissen in Spielfilmen zu unterscheiden. Ein analoges Argument kann gegen Baudrillards Behauptung gewendet werden, dass der Tauschwert zum Wert schlechthin avanciert, weil der Gegensatz zwischen ihm und dem Gebrauchswert verschwindet. Hier gilt uneingeschränkt, was Wolfgang Hoebig zum Verhältnis der beiden Werte bemerkt: „Das Kapital ist zwar gleichgültig gegen den Gebrauchswert, nichtsdestotrotz aber nur Kapital, solange es Gebrauchswerte produziert.“ (Hoebig 1984, S. 263) Insofern ist Baudrillards Theorie eine groß angelegte Übertreibung. Diese hat jedoch einen nicht zu unterschätzenden symptomatischen Wert, weil sie auf eine postmoderne Tendenz hinweist, die nicht nur in Lyotards Werk immer wieder zur Sprache kommt, sondern auch in den Arbeiten spätmoderner Sozialphilosophen und Soziologen wie Simmel, Habermas und Touraine: auf die sich ausbreitende Herrschaft des Tauschwerts, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg in nahezu allen Lebensbereichen bemerkbar macht. Sie hat zur Folge, dass kein anderer – kultureller – Wert mehr universelle Geltung beanspruchen kann, sodass Wertungen und Wertmaßstäbe nur noch in besonderen Bereichen gelten: in ausdifferenzierten Systemen, Subkulturen und ideologischen Gruppierungen. In der Postmoderne leisten diese Partikularitäten dem universellen Kapital als Globalisierung Widerstand.

4.2

Partikularisierung, Pluralisierung, Fragmentierung: Von Friedrich H. Tenbruck zu Zygmunt Bauman

Der gemeinsame Nenner einiger kultursoziologischer Ansätze der Postmoderne ist die Neigung zu Partikularisierung und Pluralisierung, die auch das Werk Lyotards prägt. Sowohl Zygmunt Bauman in Großbritannien als auch Michel Maffesoli in Frankreich plädieren für eine Ausrichtung der soziologischen Theorie auf das Besondere, das Spezifische in einer Gesellschaft, in der der Universalismus häufig mit der Herrschaft des Kapitals oder des Tauschwerts (Lyotard) oder mit der ihm entsprechenden Herrschaft begrifflicher Abstraktion (Adorno, Bauman) verknüpft wird. Dass das Plädoyer der postmodernen Theorien nicht willkürlich ist, sondern auf Beobachtungen konkreter gesellschaftlicher Entwicklungen gründet, lässt eine Studie des Soziologen Friedrich H. Tenbruck erkennen, der seinem Selbstverständnis nach keineswegs „postmodern“ ist. Seine Diagnose, die hier ausführlich wiedergegeben wird, lässt auch die Wechselbeziehung zwischen Partikularismus und Pluralismus erkennen, die – zusammen mit der Vermittlung durch den Tauschwert – in der postmodernen Problematik zentral ist: „Es sind auch nicht nur religiöse Sekten und Kulte, welche sich rein für das anbieten, was sie sind, ohne nach anderen Bekenntnissen zu fragen. Auch durch die neue Jugendkultur weht mächtig der partikularistische

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Zug, der nach der eigenen Lebensform, der eigenen Gruppe, dem eigenen Kult sucht ohne allen weiteren Gültigkeitsanspruch. Und jene sekundären universalistischen Gebilde wie Kulturen und Nationen sehen sich vom Separatismus regionaler oder sozialer Gruppen, die rein das Recht ihres Anspruchs vertreten, bedroht. Sogar in der Wissenschaft gilt der Pluralismus bereits als akzeptabel.“ (Tenbruck 1990, S. 118) In dieser Passage kristallisiert sich die Grundstruktur der postmodernen Problematik heraus, auf die die verschiedenen postmodernen Soziologien unterschiedlich reagieren: Partikularisierung und Pluralisierung ergänzen einander insofern, als jede besondere kulturelle, sprachliche, politische oder wissenschaftliche Gruppe andere Gruppierungen zwar toleriert, ihnen aber gleichgültig gegenübersteht. Eine solche Gleichgültigkeit kann jederzeit in Feindseligkeit umschlagen und hat etwas Beleidigendes an sich. Dazu bemerkt Goethe: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ (Goethe 1968, S. 103) Diese Maxime ergänzt insofern das von Tenbruck beschriebene Szenario, als sie zeigt, dass der postmoderne Pluralismus zugleich Fragmentierung ist: ein stummes Nebeneinander und Gegeneinander von Partikularitäten. Der Umstand, dass diese Koexistenz von einer übergreifenden Indifferenz eingefasst wird, ist darauf zurückzuführen, dass keine der Partikularitäten (Systeme, Gruppen, Bewegungen) von den anderen ernst genommen wird, sodass dem unvoreingenommenen Beobachter schließlich alle Werthaltungen als austauschbar, als indifferent erscheinen. Der einzige allgemein gültige Wert-Unwert, den alle anerkennen müssen, ist der Tauschwert. In diesem Kontext setzt sich der Soziologe Zygmunt Bauman – sowohl auf soziologischer als auch auf ethischer Ebene – für einen Pluralismus der Besonderheiten im Sinne von Lyotard ein, auf den er sich beruft (Bauman 1992, S. 38). Sein Ansatz kann am ehesten als eine postmoderne Reaktion auf die postmoderne Problematik aufgefasst werden: „I suggest that postmodern sociology can best be understood as a mimetic representation of the postmodern condition.“ (Bauman 1992, S. 42) Indirekt knüpft Bauman an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung an, wenn er die Moderne mit der Naturbeherrschung, dem Rationalismus und der Herrschaft der begrifflichen Abstraktion assoziiert, die er z. T. auch für die Entstehung repressiver Systeme wie Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus verantwortlich macht. Dies ist der Grund, weshalb er im Anschluss an Lyotard auch die modernen „Metaerzählungen“ von Hegel, Comte und Marx verwirft sowie die Utopien, die sie teleologisch anpeilen (Bauman 1992, S. 39). Die Postmoderne, mit der er sich als Weltanschauung identifiziert, erscheint ihm als Negation des modernen Universalismus: „Und sobald erst einmal wahrgenommen worden ist, daß die Vielfalt der Lebensformern unreduzierbar ist und es unwahrscheinlich ist, daß sie konvergieren, werden sie nicht nur widerstrebend akzeptiert, sondern in den Rang eines höchsten positiven Wertes erhoben, der weder in eine Lebensform aufzulösen ist, welche auf Universalität zielt, noch durch eine Form degradiert wird, die nach universaler Herrschaft strebt.“ (Bauman 1995, S. 127)

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Sein Affekt gegen das Universelle drängt Bauman dazu, eine extreme Position einzunehmen und sogar die Möglichkeit einer postmodernen Kultur zu verneinen. Da er Kultur als Hierarchie von Werten und Normen mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit identifiziert, kommt er zu dem Schluss, dass die Postmoderne eine „nachkulturelle“ Ära einläutet: „Postmodernity, in other words, is a post-cultural condition.“ (Bauman 1992, S. 34) Dieser Diagnose widersprechen freilich Autoren wie Scott Lash, die die „postmoderne Kultur“ als Pluralisierung und „Entdifferenzierung“ definieren: d. h. als Vermischung von Gattungen und Stilen, von Höhenkammliteratur und Populärliteratur sowohl im Produktions- als auch im Rezeptionsbereich. (Lash 1990, S. 174) Wie Lyotard und Welsch versäumt es Bauman, die Dialektik der Postmoderne konsequent auszutragen. Er sieht nicht, dass Pluralisierung und Partikularisierung, die er als komplementäre Prozesse nicht nur beschreibt, sondern auch herbeiwünscht, die Indifferenz des Tauschwerts nur bestätigen und potenzieren. Die Systeme, Institutionen und Gruppen, die in einer fragmentierten Gesellschaft auf ihre Autonomie und Eigenart pochen, sind letztlich auf das Geldmedium angewiesen, das die Lebenswelt als Welt der Sprache kolonisiert und ihre Akteure dazu anhält, wortlos miteinander zu kommunizieren. Insofern sind Vermittlung durch den Tauschwert und fortschreitende Pluralisierung-Partikularisierung komplementäre postmoderne Prozesse.

4.3

Das Erstarken des „Stammesbewusstseins“ als Partikularisierung und Pluralisierung: Michel Maffesoli

Das Erstarken der vielfältigen Partikularismen auf Kosten des Universalismus untersucht in einem ganz anderen Kontext als Bauman Michel Maffesoli in seinem Buch Le Temps des tribus (Die Zeit der Stammesgemeinschaften), dessen These lautet, dass die moderne, von Staat und Nation verkörperte Universalvernunft zerfällt und dass in einer fragmentierten Gesellschaft eine Vielfalt von „Stämmen“ („tribus“), Netzwerken und Gruppierungen an ihre Stelle tritt. Es ist sein Hauptanliegen, die Dynamik dieser fragmentierten Postmoderne zu untersuchen. Maffesoli selbst erklärt: „Im Grunde genommen ist die Stammesgesinnung (tribalisme) eine Kriegserklärung an das substantialistische Schema, das den Westen prägte: das Sein, Gott, der Staat, die Institutionen, das Individuum.“ (Maffesoli 2000, S. XVII) Der Untertitel seines Buches „Le déclin de l’individualisme dans les sociétés postmodernes“ („Der Niedergang des Individualismus in postmodernen Gesellschaften“) deutet an, was hier gemeint ist: Der Einzelne flieht aus der anonymen Welt der Großstädte, der Bürokratien und Institutionen und sucht Zuflucht in kleinen Gruppen (peer-groups, Punk-Gruppen, Hausbesetzern usw.), deren Substanz aus affektiven Bindungen besteht, die Geborgenheit und Stabilität bieten. Dadurch wird ein Prozess der Entindividualisierung eingeleitet, weil jeder sich genötigt sieht, seine Identität – wenigstens teilweise – der Gruppensolidarität zu opfern. Dies war freilich schon in der von Ferdinand Tönnies beschriebenen „Gemeinschaft“ (feudaler Clan, Dorfgemeinschaft, Großfamilie) der Fall, in der eine

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Individuation im modernen Sinne nicht möglich war. Es ist nun naheliegend, die von Maffesoli beschriebene Entwicklung als eine Rückkehr in archaische Verhältnisse aufzufassen, wohl auch als „regressives“ Verhalten im Sinne von Freud. Obwohl Maffesoli auf das Phänomen „Regression“ nicht eingeht, trägt er ihm Rechnung, wenn er die „Stammesgemeinschaften“ wie folgt charakterisiert: „die Vorherrschaft des Gebietes, auf dem man sich befindet, gemeinsame Geschmacksrichtungen, die Wiederkehr der Gestalt des ewigen Kindes“. (Maffesoli 2012, S. 14) Diese Betrachtungsweise erklärt die zahlreichen Regionalismen, die sich gegenwärtig in Europa lautstark zu Wort melden, und das Sich-Abschotten der ethnischen und religiösen Gruppen, die dem isolierten Einzelnen helfen, Anomie und Anonymität zu ertragen. Maffesoli scheint A. Webers Termini „Zivilisation“ und „Kultur“ umdeuten zu wollen, wenn er eine Gruppenkultur des „Instinkts“ gegen eine rationalistische „Zivilisation“ ausspielt: „Auf die räsonierende Zivilisation einer zu meisternden Geschichte und kontraktartiger sozialer Beziehungen folgt eine Kultur des Instinkts, in der man sich anschickt, das Schicksal zu meistern.“ (Maffesoli 2012, S. 11) Würde Alfred Weber diese Kultur, die aus der Zerstörung der Höhenkammkultur durch die Zivilisation als Technik und Marktgesetz hervorgeht, als „Barbarei“ bezeichnen? Tatsache ist, dass diese Kultur mit einer Fragmentierung oder Pluralisierung der Gesellschaft einhergeht, die eine Abkehr vom wirtschaftlichen und politischen Leben mit sich bringt. Maffesoli spricht – ergänzend zu Baudrillard – vom „Tod des politischen Lebens“ und von einem „Eintreten in die Ordnung der Sozialität“ (Maffesoli 2000, S. 90). Mit „Sozialität“ ist der Gemeinschaftssinn gemeint, der dem Einzelnen inmitten von anonymen Großstädten affektiven Halt bietet. Maffesoli versieht diesen Rückzug in die „Sozialität“ keineswegs mit negativen Konnotationen – jedenfalls nicht durchgängig. Ihm erscheint sie als karnevalistisches, populäres Kulturereignis, das durch seine spielerischen Elemente eine Alternative zum Utilitarismus des gesellschaftlichen Ganzen entwirft. Sie steht als radikale Partikularisierung vor allem im Gegensatz zum (noch) herrschenden Universalismus, den Staat, Nation und Institution verkörpern. Dazu bemerkt Maffesoli: „[. . .] Man beobachtet eine Rückkehr zu Partikularismus, Lokalismus – und dies in allen Bereichen.“ (Maffesoli 2000, S. 186–187) Komplementär zum Partikularismus verhält sich der Pluralismus als ideologische Vielfalt, und Maffesoli spricht von einer „Vielzahl von Ideologien, die täglich gelebt werden“ (Maffesoli 2000, S. 282). Freilich kann Maffesolis Ansatz nur eine eingeschränkte Gültigkeit zugesprochen werden, weil sich seine Kulturtheorie vor allem auf Randgruppen bezieht, die sich aus dem Zentrum der Gesellschaft zurückziehen, um an deren Peripherie Widerstand zu leisten. Es ist kaum vorstellbar, dass sich Beamte, Arbeiter und Bauern, die vor allem in Frankreich überregional organisiert sind (trotz aller „Lokalismen“ in ländlichen Regionen), den „Stammesverbänden“, die Maffesoli beschreibt, anschließen. In dieser Hinsicht überschneidet sich sein Ansatz mit dem des frühen Lyotard, der in Dérive à partir de Marx et Freud (1973) von einer Jugend spricht, die sich vom Arbeitsethos verabschiedet und in Gruppen oder Kommunen auf spielerische Art dem „Kapital“ Widerstand leistet (Lyotard 1994, S. 19–20).

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Der Rückzug aus dem öffentlichen Leben und die Hinwendung zum „Ich“: Richard Sennett und Christopher Lasch

Maffesolis These über den Rückzug vieler Gruppen aus dem politischen Leben ergänzt Richard Sennett mit seiner Studie Verfall des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (Orig. 1974). Die Ergänzung besteht darin, dass Sennett einen weiteren Aspekt der nachmodernen Partikularisierung beschreibt, der allerdings nicht kollektiven, sondern individuellen Charakter hat. Auch in seiner Darstellung kehrt der Einzelne dem öffentlichen Leben als Allgemeinheit den Rücken: nicht jedoch, um in einer „Stammesgemeinschaft“ aufzugehen, sondern um in der Privatsphäre nach Selbstverwirklichung zu streben: „Wir versuchen, Privatheit, das Alleinsein mit uns selbst, mit der Familie, mit Freunden, zum Selbstzweck zu machen.“ (Sennett 1983, S. 16) Mit dem Wort „Verfall“ deutet der Titel bereits an, dass Sennett einen etwas anderen Standpunkt einnimmt als Maffesoli: Während Maffesoli der rebellierenden Abkehr von der Allgemeinheit durchaus einen Reiz abgewinnen kann, steht der amerikanische Soziologe dem Partikularisierungs- und Privatisierungsprozess äußerst kritisch gegenüber. Er bedauert den Zerfall der Öffentlichkeit. Insofern kann er kaum als postmoderner Theoretiker, eher als ein Kritiker nachmoderner Tendenzen gelesen werden. Im Anschluss an die These „der öffentliche Raum stirbt ab“ (Sennett 1983, S. 50) versucht Sennett zu zeigen, dass wir schon seit dem „Niedergang des Ancien Régime“ (also seit Ende des 18. Jhs.) einen gesellschaftlichen Wandel beobachten können, der eine Entleerung der öffentlichen Sphäre zur Folge hat: „Die These dieses Buches jedoch lautet, daß diese augenfälligen Anzeichen für ein aus dem Gleichgewicht geratenes Privatleben und ein öffentliches Leben, das leer ist, das Ende eines langen Prozesses markieren.“ (Sennett 1983, S. 29) Das Ergebnis hat zwei Seiten: Einerseits haben wir es – vor allem in den USA – mit einem öffentlichen Raum zu tun, etwa einem Stadtzentrum oder einem Vorort, der nicht zum Verweilen einlädt und menschenleer ist; andererseits mit einer Flucht in den Privatbereich als Freundeskreis, Familie oder Zweierbeziehung. Doch diese Flucht mündet in einen Albtraum: „Je näher die Menschen einander kommen, desto ungeselliger, schmerzhafter, destruktiver werden ihre Beziehungen zueinander.“ (Sennett 1983, S. 380) Denn Sennetts Zusatzthese lautet, dass die Flucht in den intimen Privatbereich dazu führt, dass sich – vor allem in der Zweierbeziehung – der Narzissmus der Glück suchenden Individuen durchsetzt. So wird zusätzlich zur Öffentlichkeit die Intimität entleert, weil sie die von allen gesuchte „menschliche Wärme“ verliert. An diese Argumentation knüpft Christopher Lasch mit seinem Werk The Culture of Narcissism (1979) an, in dem er die nordamerikanische Kultur als eine „Kultur des Narzissmus“ bezeichnet. Der Untertitel des Originals – American Life in An Age of Diminishing Expectations – deutet an, dass Lasch einen ähnlichen Standpunkt einnimmt wie Sennett und die postmodernen Entwicklungstendenzen durchaus kritisch betrachtet, sodass er im Gegensatz zu Maffesoli nicht ohne Weiteres als postmoderner Autor bezeichnet werden kann.

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Er bestätigt jedoch sowohl Maffesolis und Sennetts These über die Flucht aus der Öffentlichkeit als auch Senetts Bemerkung über die Krise der Zweierbeziehung, die durch das Anwachsen des Narzissmus einer starken Belastung ausgesetzt wird: „Durch die Unfähigkeit, ‚Interesse an etwas zu finden, das über den eigenen Tod hinausreicht‘, wird der Drang nach engen persönlichen Bindungen in der Gegenwart stärker und die intime Beziehung flüchtiger denn je.“ (Lasch 1995, S. 266) Sie ist labil geschichtet, weil narzisstische Individuen Liebe und Bewunderung ohne Gegenleistung verlangen und dadurch eine Spirale der gegenseitigen Abkapselung in Bewegung setzen, die wachsende Isolierung zur Folge hat und schließlich zum Bruch führt. Charakteristisch für die Skepsis, mit der Kritiker nachmoderner Tendenzen die gesamtgesellschaftliche Entwicklung betrachten, ist ein Satz aus Laschs The Minimal Self: „Now that Promethean man apparently stands on the brink of selfdestruction, Narcissus looks like a more likely survivor.“ (Lasch 1984, S. 244) Diese Art von Zweifel am prometheischen Menschen war der modernen Soziologie – Saint Simons, Comtes, Marx᾽ oder Spencers – völlig fremd.

4.5

„Das Zeitalter der Leere“: Von Gilles Lipovetsky zu David Le Breton

Gilles Lipovetsky, der in einem Werk von Yves Boisvert (Boisvert 1996, S. 80) zusammen mit Baudrillard und Maffesoli die postmoderne Triade der französischen Soziologie bildet, scheint an Maffesolis und Laschs Argumentation anzuknüpfen, wenn er bemerkt: „Die Entpolitisierung und der Niedergang der Gewerkschaften nehmen nie gekannte Ausmaße an, die revolutionäre Hoffnung und der studentische Widerstand sind verschwunden [. . .].“ (Lipovetsky 1983, 1993, S. 72) Während das nachlassende politische Engagement mit dem Schrumpfen der öffentlichen Sphäre einhergeht und für die Postmoderne kennzeichnend ist, macht sich das Verschwinden der „revolutionären Hoffnung“ schon seit der Spätmoderne und seit dem Bruch der Kritischen Theorie mit dem Marxismus bemerkbar. Insofern beschreibt Lipovetsky eine Situation, die im doppelten Sinne nachmodern ist: Sie beinhaltet einen Bruch mit der Moderne im Sinne von Marx und eine Verabschiedung der politisierten Spätmoderne im Sinne von Georg Lukács, Bertolt Brecht und Ernst Bloch. Lipovetskys Diagnose überschneidet sich auf frappierende Art mit der von Christopher Lasch: Auch der französische Soziologe meint, dass wir „für uns selbst“ und den „heutigen Tag“ (Lipovetsky 1983, 1993, S. 73) leben, ohne uns um unsere Traditionen und unsere Nachkommenschaft zu sorgen. In dieser Hinsicht schätzt auch er die postmodernen Entwicklungen wesentlich skeptischer ein als Maffesoli oder Bauman. Ähnlich wie Lasch, auf den er sich streckenweise beruft, spricht er von einer „Überbesetzung des Ich“ (Lipovetsky 1983, 1993, S. 75) und beobachtet einen sich ausbreitenden Narzissmus als „neues Stadium des Individualismus“ (Lipovetsky 1983, 1993, S. 99), das er für ein Charakteristikum postmoderner Kultur hält.

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Stärker als Lasch geht er auf die narzisstische Besetzung des Körpers ein, die er als Antwort auf den dramatischen Zerfall der Werte in der Marktgesellschaft und als Reaktion auf den Alterungsprozess und den unabwendbaren Tod deutet. So entsteht eine „Kultur des Narzissmus“, an der beide Geschlechter gleichermaßen teilhaben, weil sich die Geschlechterdifferenz in einem diffusen „Unisex“ auflöst. Zugleich mit ihr löst sich tendenziell – wie schon Sennett wusste – die Zweierbeziehung auf, weil jeder dazu neigt, sich und seinen Körper als fensterlose, nach Selbstverwirklichung strebende Monade zu betrachten, die sich von ihrem sozialen Umfeld abkapselt: „Die Zeit wird weniger dem Anderen gewidmet als der Selbstverwirklichung und Umgestaltung des eigenen Ich [. . .].“ (Lipovetsky 1983, 1993, S. 106) Die „Leere“ („le vide“) besteht darin, dass es zunehmend schwieriger wird, eine feste Bindung einzugehen, die auf anhaltenden, aus sozialen Wertungen hervorgehenden Emotionen gründet: „Überall begegnet man der Einsamkeit, der Leere, der Schwierigkeit zu fühlen, aus sich heraus zu gehen [. . .].“ (Lipovetsky 1983, 1993, S. 111) Doch weit davon entfernt, sich selbst zu finden und autonom zu werden, zerfällt das individuelle Subjekt im postmodernen Konsumismus und Hedonismus und folgt zugleich blindlings bestimmten Trends wie Okkultismus, Mountainbiking oder Schlankheitskur. Körper und Körperkult sind die einzigen Faktoren, auf die sich die narzisstischen Impulse konzentrieren, und die „narzisstische Partikularisierung“ („particularisation narcissique“) (Lipovetsky 1983, 1993, S. 164) findet inmitten von Indifferenz und einer anomischen Vermischung aller Wertsetzungen statt. Dass diese Situation die Selbstmordrate steigen lässt, liegt aus der Sicht Lipovetskys, der sich auf Statistiken aus Schweden, den USA und Frankreich stützt (Lipovetsky 1983, 1993, S. 302–303), in der Logik der Dinge. Seine Untersuchungen werden von David Le Breton konkretisiert, der sich seit Jahren mit der postmodernen Körperkultur befasst. Eine seiner Kernthesen lautet: Während sich der mittelalterliche Körper innerhalb der Gemeinschaft der Kommunikation mit den Anderen öffnete, begünstigt der moderne Körper als Produkt des Individualismus „das Sich-Abkapseln des Subjekts“ (Le Breton 2011, S. 28). Während in traditionalen Gesellschaften der Mund und das Orale die Volkskultur beherrschten, fällt in modernen und postmodernen Kulturen die Hauptrolle den Augen zu. In den Augen der Anderen spiegelt sich narzisstisch der oder die isolierte Einzelne und fordert im Vorbeigehen bewundernde oder neugierige Blicke der Passanten heraus. „Unsere Gesellschaften“, bemerkt Le Breton, „machen aus dem jungen, verführerischen, gesunden und allmächtigen Körper einen Kult und aus der Leugnung des Todes oder der Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins eine Grundlage sozialer Bindungen [. . .].“ (Le Breton 2011, S. 206) Dass diese Leugnung im Laufe der Zeit Lügen gestraft wird, liegt auf der Hand. Es kommt hinzu, dass die meisten diesem Körperideal der Werbung nicht entsprechen und schon dadurch aus der marktgesteuerten Welt postmoderner Illusionen ausgeschlossen werden. Insgesamt wird deutlich, dass postmoderne Entwicklungen sehr unterschiedlich beurteilt werden können: als Protest und spielerische Partikularisierung im Sinne von Maffesoli, als Rückzug in Privatheit und Intimität in Sennetts Ansatz oder als narzisstische Körperkultur bei Lasch, Lipovetsky und Le Breton. Trotz aller

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Differenzen und Kontroversen sind sich die Autoren einig, dass sich in der zeitgenössischen Gesellschaft Partikularismen auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzen.

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Niklas Luhmann zwischen Moderne, Spätmoderne und Postmoderne: Epilog

Obwohl Niklas Luhmann auf einige Probleme der Postmoderne reagiert und sie – zumeist indirekt – erklärt, ist er als nachmoderner Denker nicht zu verstehen. Denn der Grundsatz, der seiner gesamten Soziologie als Theorie sozialer Systeme zugrunde liegt, ist modern-universalistisch. Davon zeugt seine Bezeichnung Weltgesellschaft, der der Gedanke innewohnt, dass alle Gesellschaften nach einem bestimmten Prinzip organisiert sind, das im strukturierenden Gegensatz System/ Umwelt zum Ausdruck kommt. Konkret bedeutet dies, dass jedes soziale System (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft usw.) die anderen sozialen Systeme (Medien, Kunst, Religion usw.) zur Umwelt hat und mit ihnen als autonomes System kommuniziert, indem es ihre Nachrichten in seine spezifische Sprache übersetzt. Luhmanns Universalismus nimmt extreme Formen an, wenn er in Die Gesellschaft der Gesellschaft im Anschluss an Talcott Parsons᾽ universalistisch konzipiertes Werk The System of Modern Societies (1971) schreibt: „Wie im alltäglichen Sprachgebrauch ist es auch in der Soziologie ganz üblich, von italienischer Gesellschaft, spanischer Gesellschaft usw. zu sprechen, obwohl Namen wie Italien oder Spanien in einer Theorie schon aus methodologischen Gründen nicht verwendet werden sollten.“ (Luhmann 1997, S. 158) Angesichts der Tatsache, dass Luhmann fast alle Komponenten seiner Theorie systematisch durchreflektiert, mag die unreflektierte Spontaneität dieses Satzes befremden. Denn Luhmanns Verbot, in der Theorie Bezeichnungen für Länder und Nationen zu verwenden, beinhaltet eine klare Absage an alle vergleichenden Wissenschaften wie vergleichende Kultursoziologie oder vergleichende Politikwissenschaft. Auch jemand, der kein Anhänger postmoderner Partikularisierung ist, wird diese Art von abstraktem Universalismus nicht goutieren. Es kommt hinzu, dass dieser Universalismus – wie schon der Hegels – in Wirklichkeit partikular ist. Nicht zu Unrecht wurde in der Vergangenheit die Fokussierung von Parsons᾽ Soziologie auf die nordamerikanische Gesellschaft hervorgehoben. Auch Luhmanns Systemtheorie kann nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen: Ihre Relevanz nimmt deutlich ab, sobald sie nicht auf Europa oder Nordamerika, sondern auf Länder wie China, Nordkorea oder den Iran angewandt wird, in denen nicht ohne Weiteres von autonomen Kunst- oder Wissenschaftssystemen gesprochen werden kann. Ein Versuch, sie auf Russland oder Indien anzuwenden, lässt ebenfalls ihre Lücken zutage treten – selbst wenn man sie grundsätzlich akzeptiert –, zumal es sich nicht um kleine Länder an der Peripherie der „westlichen“ Welt handelt. Angesichts des universalistischen, dezidiert modernen Ansatzes, den Luhmann vertritt, nimmt es nicht Wunder, dass er die Hypothese über die Entstehung einer postmodernen Gesellschaft zurückweist. Er sieht „keinerlei Anhaltspunkte“, die es

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rechtfertigen würden, „einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen Gesellschaft zu behaupten“ (Luhmann 1997, S. 1143). Die Diskussionen über die Postmoderne wertet er eher als Symptome einer mangelhaften Selbstbeobachtung der Gesellschaft, die darauf zurückzuführen ist, „daß die Dynamik der modernen Gesellschaft unterschätzt worden war“ (Luhmann 1997, S. 1143). Anders gesagt: Man hält das für „postmodern“, was durchaus noch zur Dynamik der Moderne gehört. Trotz ihres modernen Universalismus weist Luhmanns Systemtheorie drei postmoderne Aspekte im Sinne dieses Artikels auf: 1. Sie verabschiedet sich eindeutig von den modernen Zukunftsvisionen Saint-Simons, Comtes und Marx᾽, indem sie auch die Möglichkeit eines Untergangs der Menschheit und ihrer Kultur ins Auge fasst. 2. Die Differenzierung als ihr zentrales Element ist zugleich eine Beschreibung des postmodernen Pluralismus, der mit der marktbedingten Indifferenz einhergeht. 3. Sie verzichtet auf den Subjektbegriff, der schon von spätmodernen Autoren wie Adorno und Horkheimer problematisiert und von postmodernen Autoren wie Lyotard, Baudrillard und Maffesoli einer radikalen Kritik ausgesetzt wird. Über unser Verhältnis zu den untergegangenen Kulturen der Vergangenheit schreibt Luhmann in Beobachtungen der Moderne: „Uns ist nur ein quasi touristisches Verhältnis zu diesen vergangenen Kulturen möglich. Den Selbstverständlichkeiten und kulturellen Formen, der ‚Lebenswelt‘ unserer Gesellschaft wird es ebenso ergehen. Daran kann niemand ernstlich zweifeln. – Es ist nicht auszuschließen, ja, genau betrachtet wahrscheinlich, daß die Menschen als Lebewesen wieder verschwinden werden.“ (Luhmann 1992, S. 149) Solche Betrachtungen über das historische Endszenario waren modernen Denkern wie Comte und Marx völlig fremd. Es ist aber möglich, dass Luhmann im Rahmen der postmodernen Problematik weiter denkt als seine modernen Vorgänger – und seine Prognose überschneidet sich mit der Lyotards. Der Kernbegriff von Luhmanns Soziologie ist Differenzierung. Dieser Begriff beschreibt aber eine der Grundlagen postmoderner Pluralisierung und Partikularisierung, die beide den modernen Universalismus infrage stellen. Auch bei Luhmann geht die Pluralität aus dem Differenzierungsprozess hervor: „Man muß nur eine Pluralität von Selbstbeschreibungen zulassen, im ‚Diskurs‘ der Selbstbeschreibung also eine Mehrheit von Möglichkeiten, die einander weder tolerieren noch nicht tolerieren, sondern einander nur nicht mehr zur Kenntnis nehmen können.“ (Luhmann 1997, S. 1144) Das heißt: ihr Verhältnis ist von der Indifferenz geprägt. Denn zwischen den Systemen und ihren Selbstbeschreibungen kann nur der wertindifferente Tauschwert als Kommunikationsmedium vermitteln. Seit der Spätmoderne ist die prekäre Stellung des individuellen Subjekts, das in der Mediengesellschaft die Orientierung verliert, in Ideologien aufgeht oder sich von hermetischen Gruppen (z. B. Sekten) vereinnahmen lässt, eines der Hauptprobleme der Soziologie, dessen Brisanz in postmodernen Theorien zunimmt. Luhmann scheint dieser Brisanz Rechnung zu tragen, wenn er in Soziale Systeme kurz und bündig feststellt: „Wir können damit auch den Subjektbegriff aufgeben.“ (Luhmann 1984, S. 111) Auch mit diesem Schritt, der ihn daran hindert, in den von ihm beschriebenen Systemen mythische Subjekte als agierende Instanzen zu erkennen, reagiert er auf die postmoderne Problematik, innerhalb derer Theoretiker wie

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Lyotard, Baudrillard und Michel Foucault der individuellen Subjektivität und dem Subjektbegriff mit wachsender Skepsis begegnen – ohne die komplexen Beziehungen zwischen individuellen und kollektiven Subjekten (etwa Touraines Bewegungen) in Betracht zu ziehen (Zima 2010, S. 324–345).

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Schlussbetrachtung

Insgesamt wird deutlich, dass spätmoderne und postmoderne Kultursoziologien auf eine sich wandelnde gesellschaftliche Problematik reagieren, in der neue Probleme (z. B. Ökologie) ins Zentrum der Problematik rücken, während ältere Probleme (z. B. Klassenkampf) an ihre Peripherie abgedrängt werden. In diesem Kontext kristallisiert sich im Anschluss an die Spätmoderne eine postmoderne Problematik heraus, in der Pluralisierung, Fragmentierung und Partikularisierung mit wachsender Indifferenz einhergehen, die eine Folge der Differenzierung und der sich durchsetzenden Vermittlung durch den Tauschwert ist. Die Tatsache, dass Luhmann keine Zäsur zwischen Moderne und Postmoderne wahrnimmt, hängt mit seinem modernen (universalistischen) Standpunkt zusammen, der seiner Theorie andere Relevanzkriterien vorgibt. Aus diesen Relevanzkriterien geht eine andere Objektkonstruktion hervor, die erkennen lässt, dass „Moderne“ und „Postmoderne“ auch ganz anders konstruiert werden können. Diese Möglichkeit, anders zu konstruieren, macht eine der Faszinationen der Theorie und der soziologischen Theoriebildung aus.

Literatur Adorno, Theodor W. 1966. Negative Dialektik. Frankfurt: Suhrkamp. Adorno, Theodor W., und Max Horkheimer. 1947. Dialektik der Aufklärung. Amsterdam: Querido. Baudrillard, Jean. 1972. Pour une critique de l’économie politique du signe. Paris: Gallimard. Baudrillard, Jean. 1975. Le Miroir de la production. Paris: Galilée. Baudrillard, Jean. 1982. Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes & Seitz. Baudrillard, Jean. 1994. Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse. Berlin: Merve. Baudrillard, Jean. 1995. Le Crime parfait. Paris: Galilée. Bauman, Zygmunt. 1992. Intimations of postmodernity. London/New York: Routledge. Bauman, Zygmunt. 1995. Moderne Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer. Beck, Ulrich. 1986. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich. 2007. Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Best, Steven, und Douglas Kellner. 1991. Postmodern theory. Critical interrogations. London: Macmillan. Boisvert, Yves. 1996. Le Monde postmoderne. Analyse du discours sur la postmodernité. Paris: L’Harmattan. Durkheim, Émile. 2012. Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, 6. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eagleton. 1996. The illusion of postmodernism. Cambridge-Oxford: Blackwell. Giddens, Anthony. 1990. The consequences of modernity. Cambridge/Oxford: Polity-Blackwell.

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Wissenssoziologische Ansätze in der Kultursoziologie Rainer Schützeichel

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wissen und Kultur und ihre Soziologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wissen, Kultur und Gesellschaft: Explanative Asymmetrisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Kultursoziologisch relevante Paradigmen der Wissenssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Kultur und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Wissens- und Kultursoziologie sind kaum zu trennen. Dies gilt auch für die soziologischen Konzepte des „Wissens“ und der „Kultur“, wird doch einerseits „Wissen“ immer als elementare Komponente von Kultur(en) begriffen und andererseits aber auch als kulturell geformt und differenziert bestimmt. In diesem Beitrag werden deshalb wichtige Positionen einer kultursoziologischen Analyse des Wissens und einer wissenssoziologischen Analyse von Kultur systematisch entfaltet. Schlüsselwörter

Kultur · Wissen · Theoriegeschichte · Kultursoziologie · Wissensoziologie

R. Schützeichel (*) Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_11

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Einleitung

Dieser Beitrag widmet sich der Aufgabe, kultursoziologisch relevante Ansätze der Wissenssoziologie zu rekonstruieren. Dies würde aber eigentlich voraussetzen, dass man zwischen Wissens- und Kultursoziologie eindeutig unterscheiden kann und dass es sich bei beiden Disziplinen um logisch und sachlich disjunkte Unternehmungen handelt. Aber ist dies wirklich der Fall? Sind beispielsweise die Untersuchungen Max Webers zur Genese des okzidentalen Rationalismus und zur Rationalisierung der gesellschaftlichen Ordnungen eher der Wissens- oder der Kultursoziologie zuzurechnen? Sind die Thesen von Émile Durkheim und Marcel Mauss über die elementaren Formen der Klassifikation eine kultursoziologische oder eine wissenssoziologische Abhandlung? Wie lassen sich die Diagnosen von Georg Simmel zur „Tragödie der Kultur“ einordnen? Und wie für die klassischen Analysen, so gilt auch für spätere, dass die disziplinäre Zuordnung in der Regel nicht eindeutig ist, was man auf die enge konstitutionslogische Verwobenheit von „Wissen“ und „Kultur“ zurückführen kann – „Kultur“ wird maßgeblich durch „Wissen“ konstituiert, und „Wissen“ ist in all seinen Formen eine elementare Komponente von „Kultur“. Diese Kautelen müssen bei den folgenden Ausführungen bedacht werden. Wir werden uns dieser Relation im zweiten Abschnitt ausführlicher zuwenden und kommen dann im dritten Abschnitt unter dem Stichwort der explanativen Asymmetrisierung auf analytische Ansätze zu sprechen, die der Wissens- und der Kultursoziologie gemeinsam sind. Diese Ansätze werden im vierten Abschnitt dazu dienen, kultursoziologisch bedeutsame Ansätze aus der wissenssoziologischen Tradition vorzustellen. Angesichts der Vielfalt solcher Ansätze beschränken wir uns auf solche, die einen paradigmatischen Erklärungsansatz vertreten. Abschließend werden wir in wenigen Skizzen eine Wissenssoziologie der Kultur sowie eine Kultursoziologie des Wissens vorstellen.

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Wissen und Kultur und ihre Soziologien

Wer sich auch immer mit „Kultur“ im soziologischen wie außersoziologischen Sinne befasst hat, der wird angesichts der heterogenen Pluralität der Vorstellungen, Konzepte und Diskurse von und über „Kultur“ verzweifeln. Selbst dann, wenn man in einer überaus groben Weise nur die dominanten semantischen Oppositionsfelder berücksichtigt, in denen sich „Kultur“ lokalisieren lässt, nämlich die Oppositionen von: • Natur versus Kultur, • Gesellschaft versus Kultur, • Kultur versus Kultur, wird man der Auffassung zuneigen wollen, dass in der Soziologie „Kultur“ einen leeren Signifikanten darstellt, der je nach Kontext unterschiedlich gefüllt werden kann. Diese Probleme werden aber nun potenziert, wenn „Kultur“ mit einem Konzept oder Begriff wie „Wissen“ in einen Kontext gestellt wird, der dieselben

Wissenssoziologische Ansätze in der Kultursoziologie

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Schwierigkeiten in sich trägt. Auch hier sind die Referenzen und Gebrauchsweisen heterogen und disparat. Das Konzept des „Wissens“ wird in der Soziologie in einer generalisierten, meist unspezifischen Weise gebraucht und vereinigt in sich sehr heterogene Formen, vom propositionalen bis hin zum leiblichen oder körperlichen oder impliziten Wissen; keine soziale Praxis, kein soziales Phänomen, welches nicht auf spezifische, als „Wissen“ bezeichnete, repräsentationale oder vorrepräsentationale Dispositionen oder Haltungen von epistemischen Subjekten oder auf bestimmte Sinndimensionen sozialer Konstellationen zurückgeführt werden kann. Dies führt dazu, dass für die einen „Kultur“ und „Wissen“ im semantischen Raum der Soziologie ähnlich gelagerte Konzepte sind, während es sich für andere um Kategorien handelt, die quer zueinander stehen, also sowohl eine Kultur des Wissens als auch ein Wissen des Kulturellen vorsehen. Diese Diagnose gilt auch für das Verhältnis von Kultursoziologie und Wissenssoziologie (Schützeichel 2012a). Ob nun ein soziologischer Ansatz unter dem Etikett der Kultursoziologie die konstitutive Bedeutung des Wissens oder unter dem Etikett der Wissenssoziologie die konstitutive Bedeutung des Kulturellen für das soziale Handeln und die Vielfalt der sozialen Ordnungen heraushebt, verdankt sich im Grunde genommen nur den jeweiligen semantischen Konjunkturen. Wissen kann in all seinen Dimensionen vom propositionalen bis zum impliziten Wissen als Objekt oder Medium von Kultur begriffen werden, und Kultur umgekehrt als eine spezifische Wissensordnung oder als Raum, in dem sich Wissen in seinen Formen und Bezügen unterschiedlich entfalten kann.

3

Wissen, Kultur und Gesellschaft: Explanative Asymmetrisierungen

Sowohl in der Kultur- als auch in der Wissenssoziologie lassen sich in ihrem Erkenntnisinteresse unterschiedliche explanatorische Zielrichtungen identifizieren. Folgende Orientierungen sind zu finden: (a) Die Sphären der Kultur oder des Wissens können in ihrer Abhängigkeit von bestimmten sozialen bzw. gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen betrachtet werden. In diesem Fall nehmen also Kultur und Wissen die analytische Rolle einer abhängigen Variablen ein. (b) Aber es gibt in beiden Disziplinen auch eine Reihe von theoretischen Ansätzen, die umgekehrt die sozialstrukturelle oder gesellschaftliche Dimension in ihrer Abhängigkeit von bestimmten kulturellen Strukturen oder Wissensordnungen betrachten. Gemeinsam ist beiden explanativen Strategien, dass zwei Ebenen unterschieden und gegeneinander variiert werden, entweder in einer Bottom-up-Analyse von den gesellschaftlichen Ordnungen zu den Ebenen der Kultur und des Wissens oder in einer Top-down-Analyse von den Ebenen des Wissens und der Kultur zu den gesellschaftlichen Strukturen. Selbstverständlich schließen sich diese beiden Richtungen nicht

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aus. Im Gegenteil: Sie können als komplementär betrachtet werden und werden in manchen Forschungsansätzen auch in dieser Weise miteinander verbunden. Diese explanative Asymmetrisierung kann aus rein methodologischen oder methodischen Gründen vorgenommen werden. Nicht wenige theoretische Positionen gehen aber über solche methodologische Überlegungen hinaus und unterstellen in der Sache selbst kausale oder konstitutionsmächtige Asymmetrien dergestalt, dass die eine Ebene eine kausale oder konstitutionslogische Dominanz gegenüber der anderen Ebene ausübt, sei es in der Weise, dass bestimmte gesellschaftliche Strukturen oder Prozesse wirkmächtiger als die kulturellen oder epistemischen Ordnungen sind, oder sei es umgekehrt in der Weise, dass die Ebenen der Kultur oder des Wissens erst die gesellschaftlichen Sachverhalte prägen oder konstituieren. Über die rein methodologischen Perspektivierungen hinaus wird in diesen Fällen also ein kausales oder konstitutionslogisches „Grounding“ (Correia und Schnieder 2014) vorgenommen, das strukturelle oder ontologische Abhängigkeiten impliziert. Es muss auch von vornherein darauf verwiesen werden, dass die in weiten Teilen der Kultur- sowie der Wissenssoziologie und die auch generell in der Soziologie oft benutzte Strategie der Unterscheidung von Ebenen („levels“) gewagt ist. Weshalb sollte man zwischen den Ebenen des Sozialen und Gesellschaftlichen auf der einen Seite und denen der Kultur und des Wissens auf der anderen Seite überhaupt unterscheiden? Handelt es sich überhaupt um „Ebenen“, die derart miteinander kontrastiert und korreliert werden können? In der Kultursoziologie gibt es die Kontroverse zwischen einer „sociology of culture“ und einer „cultural sociology“ (Alexander 1996; Alexander und Smith 2001). Während in der „sociology of culture“ die gesellschaftliche und sozialstrukturelle Bedingtheit kultureller Phänomene untersucht wird, werden in einer „cultural sociology“ die kulturellen Imprägnierungen sozialer Sachverhalte analysiert. In einer parallelen Weise ist die gesamte Geschichte der Wissenssoziologie durchzogen von Kontroversen zwischen – so könnte man dies analog nennen – einer „Soziologie des Wissens“ und einer „Wissenssoziologie“. In der erstgenannten analytischen Orientierung werden die Formen und Inhalte des Wissens in ihrer Abhängigkeit von sozialen Prozessen und Strukturen untersucht, in der zweitgenannten Option die Konstruktionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch Wissen. In der frühen Phase der Wissenssoziologie ging es im Sinne einer „Soziologie des Wissens“ eher um die Problematik, die Abhängigkeit von Wissensansprüchen und Wissensformen von sozialen Entwicklungen und gesellschaftlichen Positionen zu markieren. Erst mit dem „Sozialkonstruktivismus“ der späten phänomenologischen Soziologie verschoben sich die Gewichte hin zu einer „Wissenssoziologie“.

4

Kultursoziologisch relevante Paradigmen der Wissenssoziologie

Im Folgenden werden nun einzelne wissenssoziologisch bedeutsame Argumentationsfiguren und Forschungshypothesen skizziert, die für die Kultursoziologie im weiteren Sinne von besonderer Relevanz sind. Solche liegen selbstverständlich nicht

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erst mit dem Auftreten der Soziologie als einer akademischen Disziplin vor. Wissenssoziologisch bedeutsame Argumente und Überlegungen treten gebündelt seit den Zeiten der sogenannten wissenschaftlichen Revolution und der im weitesten Sinne europäischen Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert auf. Erinnert sei beispielsweise an die Idolenlehre von Francis Bacon, in welcher ein Grundmotiv dieses frühen wissenssoziologischen Denkens besonders salient hervortritt, nämlich die Kritik von Wissens- und Geltungsansprüchen mit dem Ziel, diejenigen – später als „Ideologie“ bezeichneten – Wissensfiguren und deren gesellschaftliche Motivlagen zu bestimmen, die zu Erkenntnis- und Wissensblockaden führen. Bacon identifiziert die „idola mentis“ (Vorurteile des Geistes), die „idola tribus“ (die gattungsspezifischen Täuschungen der Erkenntnis), die „idola species“ (die Trugbilder, die in spezifischen Lebensformen und -milieus verankert sind) oder auch die „idola fori“ (die Trugbilder, die auf das Unvermögen historisch gewachsener Sprache zurückzuführen sind). Damit kritisiert er solche Erkenntnis- und Wissensblockaden, die der ungetrübten Entwicklung menschlicher Rationalität, gesellschaftlicher Aufklärung und wissenschaftlichen Fortschritts entgegenstehen. Ähnlich argumentieren zahlreiche Diskurse und Philosophien der Aufklärung.

4.1

Historischer Materialismus

Von überragender Bedeutung für die beginnende Wissens- und Kultursoziologie im akademischen Sinne sind jedoch die in kritischer Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen Idealismus und der anthropologisch fundierten Religionskritik von Ludwig Feuerbach formulierte Ideologiekritik und das sogenannte Basis-Überbau-Theorem des Historischen Materialismus von Karl Marx. Nach Marx beeinflussen die materiellen Lebensbedingungen der Menschen die Erzeugnisse des Geistes, also die Religion, die Sprache, das Recht, die Kunst und andere Bewusstseins- oder Geistesformen. Die sogenannte „Basis“, also die materiellen Lebensbedingungen in Gestalt der inneren Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, führt in ihrer widersprüchlichen Entwicklung zu einer Veränderung in den Feldern des sogenannten politischen, rechtlichen oder kulturellen „Überbaus“, was von Marx damit begründet wird, dass die Felder des Überbaus die Funktion der ideologischen Stützung und Legitimation der Verhältnisse der ökonomischen Lebensbasis und ihrer ungleichen Besitz- und Machtstrukturen haben. Ideologisch sind die Felder des Überbaus nach Marx deshalb, weil sie sich zwar als universal und allgemeingültig ausgeben, aber im Grunde genommen nur partikulare Interessen vertreten. Von daher können Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ (Marx und Engels 1969) die These vertreten, dass das herrschende Bewusstsein stets das Bewusstsein der Herrschenden ist. „Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse, also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“ (Marx und Engels 1969, S. 46) Dem liegt zudem die ebenso wissenssoziologisch enorm folgenreiche Einsicht zugrunde, dass das Bewusstsein

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„von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt“ (Marx und Engels 1969, S. 31) ist. Selbst diese wenigen Hinweise machen deutlich, dass der Historische Materialismus von Marx als eine theoretische Zäsur gelten muss, der die Entwicklung des menschlichen Geistes in einen dialektischen Zusammenhang mit den sozialen Strukturen und Prozessen stellte.

4.2

Kollektives Bewusstsein

Dass das menschliche Wissen und das menschliche Bewusstsein soziale Phänomene sind, wird – ohne unmittelbare Bezugnahme auf Marx – in der jungen französischen Soziologie insbesondere im Werk von Émile Durkheim und seinen Schülern weiter ausgeführt. Diese begründen eine auch heute noch anerkannte Position einer sozialen Theorie des Wissens und der Erkenntnis, die problem- und umstandslos auf kulturelle Phänomene übertragen werden kann. Mit einer nur leichten Zuspitzung kann man diese Position so formulieren, dass sich in dem Bewusstsein und den Denkprozessen der Individuen kollektive epistemische Ordnungen realisieren und vollziehen. Es sind kollektive Repräsentationen, die individuell angeeignet und realisiert werden. Kollektive Repräsentationen – und auch hier finden sich ohne eine direkte und unmittelbare Bezugnahme auf die gänzlich anders fundierten Thesen des Historischen Materialismus erstaunliche Parallelen zu diesen – verweisen ihrerseits auf objektive gesellschaftliche Strukturen. Dies demonstriert Durkheim in seinen religions- und erkenntnissoziologischen Untersuchungen (insbes. Durkheim 1981; Durkheim und Mauss 1990). Die kognitiven Kategorien und Klassifikationssysteme (Durkheim und Mauss 1990), mit denen die kollektiven Repräsentationssysteme von Gesellschaften arbeiten, stehen in gewissen Korrespondenzen zu der Art und Weise, wie diese Gesellschaften selbst morphologisch aufgebaut sind. Die Art und Weise, wie Dinge der Natur eingeteilt werden, ist in dem morphologischen Aufbau der Stämme in Klans und Phratrien fundiert. Der Modus, wie sich eine Gemeinschaft oder Gesellschaft selbst differenziert und selbst beschreibt, ist die Vorlage für die Klassifikationssysteme, mit denen sie auch die Dinge außerhalb ihrer selbst ordnet. Auch die Art und Weise der internen Differenzierung des Wissens in unterschiedliche epistemische Geltungsbereiche hängt nach Durkheim von der internen Differenzierung einer Gesellschaft ab. Diesbezüglich unterscheidet Durkheim zwischen der mechanischen Solidarität der frühen Gemeinschaften und Gesellschaften mit ihren hierarchisch und zentralistisch geordneten Wissensformen einerseits und der organischen Solidarität der modernen Gesellschaften mit ihren überaus differenzierten Wissensbereichen.

4.3

Realfaktoren und Idealfaktoren

In Auseinandersetzung mit den älteren Ansätzen von Comte, Dilthey und Marx entwirft Max Scheler (1960, 1975) die erste dezidiert als Soziologie des Wissens bezeichnete Position, in deren Zentrum die auch kultursoziologisch überaus wichtige Frage steht, wie gesellschaftliche Faktoren zwar nicht unmittelbar die

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Inhalte des Wissens oder von Kultur, wohl aber die Genese und Reproduktion von Wissens- und Kulturelementen beeinflussen. Nach Scheler ist dies eine Frage nach dem Verhältnis von Real- und Idealfaktoren. Als Idealfaktoren bezeichnet Scheler die Wissensformen oder kulturellen Gebilde einer Gesellschaft. Er untergliedert sie nach dem Grade ihrer Künstlichkeit und Elaboriertheit. Als „relativ-natürliche Weltanschauungen“ bezeichnet Scheler die organischen, mitunter implizit verwendeten Wissensformen von Gruppen und Gemeinschaften, die gleichsam den Boden für alle weiteren und „höheren“ Wissensformen abgeben. Zu der relativ-natürlichen Weltanschauung gehört all das, was in einer Gruppe oder Gemeinschaft als selbstverständlich gilt und keinerlei Begründung bedarf. Auf diesem Fundament der relativ-natürlichen Weltanschauung bauen sich dann mit einem zunehmenden Grad an Künstlichkeit die verschiedenen Dimensionen von „Gruppenseele“ und „Gruppengeist“, also die Legenden und Mythen und das natürliche Wissen von Gemeinschaften auf, welches in die religiösen und mystischen Wissensformen überführt wird und schließlich in die höheren, aber künstlichen Wissensformen mündet, die dem Bereich der Wissenschaft zuzuordnen sind, also das philosophische Wissen, das positive Wissen der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und schließlich in die höchste Form des technologischen Wissens, welches deshalb als höchste Form gelten kann, weil es dem Bedürfnis nach Kontrolle und Beherrschung von Natur und Gesellschaft am ehesten entspricht. Als Realfaktoren bezeichnet Scheler jene Größen, die in Entsprechung zu der Marx’schen Basis als gesellschaftliche Determinanten begriffen werden können, zu denen die ökonomischen Produktionsverhältnisse, die politischen Machtbeziehungen wie auch – wie man heute formulieren würde – die Formen der ethnischen Differenzierung gehören. Wie ist nun das Verhältnis von Real- und Idealfaktoren? Scheler spricht von einer „Schleusenfunktion“ und meint damit, dass nur dort, wo sich Idealfaktoren an Realfaktoren orientieren, wo also „Ideen“ von „Interessen“ vertreten werden, sich diese auch durchsetzen und sich Geltung verschaffen können. Idealfaktoren sind also auf Realfaktoren angewiesen. „Erst da, wo sich die ‚Ideen‘ irgendwelcher Art mit Interessen, Trieben, Kollektivtrieben oder [. . .] ‚Tendenzen‘ vereinen, gewinnen sie indirekte Macht und Wirklichkeit.“ (Scheler 1960, S. 21; Hervorh. weggel.) Wichtig für die weiteren Diskussionen in der Wissens- wie der Kultursoziologie ist Schelers moderate Auffassung in Bezug auf das Verhältnis von Real- und Idealfaktoren: Realfaktoren haben keine prägenden oder gar bestimmenden Auswirkungen im Hinblick auf die Inhalte des Wissens und die logische Geltung von Wissensansprüchen. Dies alles wird in der Sphäre des „Sinns“ bzw. der Idealfaktoren selbst verhandelt. Ihre Relevanz bezieht sich auf das, was sich in den jeweiligen Bereichen und Feldern als Wissen durchsetzt. Scheler streitet nicht ab, dass das Wissen eine eminent soziale Qualität hat oder, wie er es formuliert, „[. . .] daß erstens der soziologische Charakter alles Wissens, aller Denk-, Anschauungs-, Erkenntnisformen unbezweifelbar ist: daß zwar nicht der Inhalt alles Wissens und noch weniger seine Sachgültigkeit, wohl aber die Auswahl der Gegenstände des Wissens nach der herrschenden sozialen Interessenperspektive, daß ferner die ‚Formen‘ der geistigen Akte, in denen Wissen gewonnen wird, stets und notwendig soziologisch, d. h. durch die Struktur der Gesellschaft mitbedingt sind.“ (Scheler 1975, S. 58; Hervorh. weggel.)

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Das Denken und Wissen der Einzelnen ist maßgeblich durch ihre Positionierung in den gesellschaftlichen Klassen- und Milieustrukturen geprägt. In einer eher typisierenden Weise unterscheidet Scheler diesbezüglich zwischen Unterklassen und Oberklassen, denen er unterschiedliche epistemische Strukturen und metaphysische Dispositionen zuordnet. Aber die Positionierung innerhalb dieser sozialstrukturellen Dimensionen wie überhaupt die Verbindung von Ideen und Interessen führt nach Scheler nicht dazu, dass das Wissen und Denken auf jegliche Wahrheitsansprüche verzichten muss. Die Schleusenfunktion der Realfaktoren führt nicht zu einer Relativierung, sondern zu einer Partialisierung der Wahrheitsansprüche – jede Position ist mit einem partiellen Blickwinkel, aber nicht mit einem falschen Blickwinkel ausgestattet. Anders als Marx vor ihm und Mannheim nach ihm sieht Scheler die Realfaktoren aber weniger durch antagonistische Klassenverhältnisse bestimmt, sondern stärker durch die Dominanz von Eliten gegenüber den sozialen Massen. Es sind solche gesellschaftliche Eliten, durch die sich maßgeblich hegemoniale Wissenskulturen ausbilden.

4.4

Seinsgebundenheit des Denkens

Karl Mannheims klassische Wissenssoziologie wurde von ihm als explizite Kultursoziologie entworfen. Er orientierte sich intensiv an dem kultursoziologischen Programm seines Lehrers Alfred Weber. Dieser konfrontierte die Kultursoziologie mit der folgenden Forschungsfrage: „Wie hängen soziale Formen und Kultur, Daseinsgestaltung und Kulturgestaltung, vitaler Inhalt und Kulturtendenzen zusammen? Wie bauen sich auf den Lebensformen die Gehäuse und Medien auf, in denen sich das Geistige auswirkt? Welche Schichten tragen die verschiedenen geistigen Tendenzen, und mit welchem Lebenseingestelltsein hängt dies dann zusammen? Was ist die Kulturbedeutung dieser oder jener Lösung, Bindung, inneren oder äußeren Gestaltung der großen lebenstragenden Kräfte?“ (Weber 1913/14, S. 721)

Mannheim übernimmt diese Fragestellung. In seinen Überlegungen zu der dreifachen Sinndimension von Kulturgebilden (Mannheim 1964) gibt er der Kultur- wie der Wissenssoziologie eine bis heute unverzichtbare methodologische Grundlegung. Kulturgebilde jeglicher Art haben drei Sinndimensionen: • einen objektiven Sinn, • einen subjektiven oder intendierten Ausdruckssinn, • einen dokumentarischen Sinn. Der subjektive oder intendierte Ausdruckssinn von Kulturgebilden, die von einzelnen Sprechakten bis zu umfassenden Kulturobjektivationen reichen, besteht in dem Sinn, den die Produzenten einem Kulturgebilde beilegen; der objektive Sinn beruht auf dem überindividuellen, allgemeinen Sinn von etwas in einer sozialen Konfiguration, und die für die kultur- wie wissenssoziologische Forschung nach

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Mannheim bedeutsamste Dimension; der dokumentarische Sinn besteht darin, welche sozialen Strukturen und Prozesse sich in einem Kulturgebilde dokumentieren. Die vornehmliche Aufgabe der Kultur- sowie der Wissenssoziologie besteht also in der Analyse des dokumentarischen Sinns von Kulturgebilden. In Bezug auf Wissen dokumentiert sich nach Mannheim (1985) das „gesellschaftliche Sein“. Dieses Verhältnis zu analysieren, ist die Aufgabe der Wissens- bzw. der Kultursoziologie. Sie richten sich auf die „Seinsverbundenheit des Denkens“ und der Kultur, also auf die gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen und andere Seinsfaktoren, die einen prägenden Charakter für das haben, was als Wissen produziert und als Wissen anerkannt wird. Die von Mannheim diagnostizierte Seinsverbundenheit geht also weit über die von Scheler unterstellte Schleusenfunktion hinaus. Sie umfasst die sozialstrukturellen Differenzierungen der Klassenlagen, der Milieus und der mit ihnen verbundenen politischen Interessen sowie die sozialen Denkstandorte aller Art.

4.5

Sinnhafte Konstitution der Lebenswelt

Die phänomenologisch fundierte Soziologie von Alfred Schütz (1991, 2004) untersucht die Konstitution von Bewusstseinsphänomenen und führt auf diese Weise eine neue Fragestellung und eine neue Methode in die Wissenssoziologie ein. Sie stellt nicht nur in der Wissenssoziologie eine Zäsur dar, sondern begründet damit auch für die Kultursoziologie eine der auch gegenwärtig noch einflussreichsten Traditionen. Ausgehend von der Intentionalität, der Gerichtetheit von Bewusstseinsakten auf etwas, als der grundlegenden Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins, in welcher sich dieses auf etwas in der Welt bezieht, fragt die Phänomenologie, wie sich etwas als ein Phänomen in unserem Bewusstsein bildet. Dabei spielen nach Schütz insbesondere Prozesse der Typisierung von etwas eine herausgehobene Rolle, also der vorprädikativen oder prädikativen Bestimmung von etwas als etwas, beispielsweise dieses Wahrnehmungskomplexes vor meinen Augen als eines „Stuhls“. Solche Typisierungen oder andere intentionale Synthesen sind eingebettet in bestimmte vorgängige Relevanzstrukturen, in denen die Relevanz eines Objekts oder Sachverhalts für ein erfahrendes Subjekt gegeben ist. In späteren Werken überträgt Schütz diese Methodik von der Analyse der Konstitution von Sinn im Bewusstseinsleben auf die Analyse der Konstitution einer intersubjektiven Lebenswelt als dem Ort und dem Hintergrund unseres alltäglichen Handelns und unserer Kommunikation. Die Lebenswelt ist durch eine pragmatische Relevanz gekennzeichnet, sie ist der Hintergrund, vor dem wir als Handelnde pragmatisch im Umgang mit den Dingen tätig sind, vor dem wir uns aber insbesondere handelnd und kommunikativ auf andere Subjekte beziehen und in eine gemeinsame Welt verstrickt sind. Hier regiert die „natürliche Einstellung“, die uns unsere Welt als intersubjektiv fraglos und selbstverständlich gegeben erfahren lässt. Schon diese wenigen oberflächlichen Andeutungen zeigen das Potenzial der phänomenologisch fundierten Soziologie für jede Kultursoziologie an, wird doch in ihnen die Problematik verhandelt, wie kulturelle Objekte und Praktiken und wie

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R. Schützeichel

überhaupt eine gemeinsame kulturelle Welt in intentionalen Akten konstituiert, sedimentiert und reproduziert werden kann.

4.6

Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit

Trotz aller Differenzen im Einzelnen schließt die theoriegeschichtlich wohl einflussreichste Monografie der Wissenssoziologie, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von Peter Berger und Thomas Luckmann, weitgehend an das Werk ihres Lehrers Alfred Schütz an. Hier findet „Wissen“ auch seine bis heute in weiten Bereichen der Wissenssoziologie vorherrschende Explikation, nämlich als „Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Elemente haben.“ (Berger und Luckmann 1987, S. XIV) Durch und als Wissen findet die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit statt. In kultursoziologischer Hinsicht ist insbesondere die Analyse von Berger und Luckmann bedeutsam, wie sich die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit und damit auch der kulturellen Wirklichkeit vollzieht. Sie findet sich in der Dialektik von Internalisierung, Externalisation und Objektivierung, durch welche zugleich subjektive wie objektive Wirklichkeiten konstruiert und prozediert werden. Typisiertes Wissen wird in kommunikativen Prozessen externalisiert und in bestimmten Medien, vornehmlich der Sprache objektiviert, um dann wieder subjektiv internalisiert zu werden. Dies ist der Kommunikationskreislauf, der in gesellschaftliche Prozesse eingebunden ist, nämlich als Etablierung gemeinsamer, typisierter Bedeutungs- und Sinnstrukturen und einer symbolischen Welt, als Institutionalisierung des kommunizierten Wissens und schließlich als subjektive Aneignung des institutionalisierten Wissens.

4.7

Kognitionen und Kultur

Die vornehmlich in der amerikanischen Soziologie beheimatete „sociology of mind“ oder „sociology of cognition“ befasst sich in einer sehr engen Anlehnung an die moderne Kognitionswissenschaft einerseits, das Durkheim-Paradigma andererseits mit der Frage, wie Kulturen Kognitionen prägen (Cerulo 2002; Coulter 1979; Zerubavel 1997). Diese Wissenssoziologie versteht jedoch anders als die Kognitionsforschung unserer Tage „Wissen“ nicht unter repräsentationalistischen, sondern unter einer pragmatischen Perspektive. Wissen wird auf die Praxis von Handlungen und Kommunikationen bezogen und selbst als eine Praxis, eben als eine epistemische Praxis, ausgegeben. Auch traditionelle wissenssoziologischen Ansätzen, selbst der „Konstruktivismus“ des Symbolischen Interaktionismus wie der phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie sind der „sociology of cognition“ nicht hinreichend pragmatistisch orientiert, wird doch auch in diesen immer noch eine Differenz von Handeln und Wissen implizit zugrunde gelegt. Von daher betrachtet sie sich als eine „new sociology of knowledge“ (Swidler und Arditi 1994). Im Hinblick auf den zugrunde zu legenden Kulturbegriff weist diese Soziologie eine enge Orientierung an einem semiotischen Verständnis von Kultur auf. Sie orientiert sich an der Auf-

Wissenssoziologische Ansätze in der Kultursoziologie

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fassung von Kultur als „an historically transmitted pattern of meanings embodied in symbols, a system of inherited conceptions expressed in symbolic forms by means of which men communicate, perpetuate and develop their knowledge about and attitudes towards life“, wie es von Clifford Geertz (1973, S. 89) in seiner semiotischen bzw. symbolischen Kulturtheorie beschrieben wird. Auch die „sociology of cognition“ ist eher als eine „Wissenssoziologie“ denn als eine „Soziologie des Wissens“ einzuordnen. Wie prägen kognitiv realisierte, kulturelle Kategorien den Aufbau und den Wandel von Gesellschaften? Diese Fragestellung liegt beispielsweise der wegweisenden Studie von Barry Schwartz (1980) über vertikale Klassifikationsmuster zugrunde. Darin untersucht er diejenigen primordialen Klassifikationsmuster, die unseren Weltordnungen zugrunde liegen wie beispielsweise oben/unten, hoch/niedrig, gut/böse, heilig/profan, rechts/links, vorher/ nachher. Diese sind alle mit affektiven und pragmatischen Konnotationen durchsetzt und eignen sich von daher für die Klassifizierung und Ordnung von elementaren sozialen Phänomenen.

5

Kultur und Wissen

In diesem letzten Abschnitt werden wir uns skizzenhaft mit Forschungen befassen, die wissens- und kultursoziologische Analysen miteinander verschränken. Dies betrifft wissenssoziologische Analysen von Mannheim sowie von Luhmann bezüglich der Genese der Semantik von Kultur einerseits, dies betrifft Studien zu Wissenskulturen andererseits, wobei hier unter Kultur das epistemische Regime von unterschiedlichen Praktiken in spezifischen sozialen Konstellationen verstanden wird.

5.1

Die Genese von „Kultur“ und der „Kultursoziologie“ – wissenssoziologische Analysen

Etwas ausführlicher kommen wir nun auf wissenssoziologische Analysen der Genese von „Kultur“ und der „Kultursoziologie“ zu sprechen. Hier müssen an erster Stelle die frühen Studien von Karl Mannheim genannt werden, die leider kaum mehr zur Kenntnis genommen werden. Mannheim geht davon aus, dass „Kultur“ in der Form von Werten, von Sinn, von Bedeutung eine konstitutive Bedingung menschlicher Existenz ist. Aber das gilt nicht für die Entstehung einer eigenen Kultursphäre und für das Erleben und die Beschreibung von etwas als Kultur. „Solange die Kultur nicht als Kultur erlebt wird, vollzieht sich die Kulturschöpfung sozusagen hinter dem Rücken des schöpferischen Subjekts; es weiß von keiner Betätigung und Spontaneität, es lebt in seinen Gebilden, in seinen Sinnverleihungen wie in einer zweiten Realität, in einer zweiten Natur.“ (Mannheim 1980, S. 47) Kultur als eine eigene, aus dem gesellschaftlichen Sein sich differenzierende Sphäre verdankt sich nach Mannheim einem epochalen Wissenswandel und Kulturbruch, durch die sich die Kultur selbst als problematisch wahrnimmt. In seiner

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wissenssoziologischen Analyse führt er dies auf verschiedene dynamische Entwicklungen zurück, die man grob mit dem Beginn der neuzeitlichen Moderne identifizieren kann: • Im Gegensatz zu den geschlossenen, hierarchisch strukturierten Weltbildern vormoderner Gesellschaften, die in der Regel durch ein fundamentales Prinzip, einen Kern, durch ein – meist religiöses, theokratisches oder numinoses – Sinnzentrum organisiert sind, erfahren moderne Sinn- und Weltordnungen eine Umschichtung solcher hierarchischer Ordnungen; sie müssen gegebenenfalls ganz auf solche Hierarchien verzichten. • An die Stelle von statischen treten dynamische Kulturordnungen, die in einem ewigen Wandel begriffen sind. Diese Entwicklung ist vornehmlich mit dem Historismus verbunden. • Dies beruht auf einer zentralen Dynamik, nämlich dem „Kampf der kulturellen Sphären um Autonomie“ (Mannheim 1980, S. 41), in der sich die verschiedenen Sphären von Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Recht oder Politik verselbstständigen, sich aus einer vorgegebenen Hierarchie lösen und dabei nicht nur in einem Kampf um Autonomie, sondern auch in einem Kampf um einen Primat stehen: Gibt es eine Vorherrschaft der Wissenschaft, der Kunst, der Ethik, der Religion, der Ökonomie oder der Politik in der Interpretation und Bewertung von kulturellen Phänomenen? Diese Konflikte um Autonomie und Hegemonie innerhalb und zwischen den kulturellen Sphären führen Mannheim zufolge erst zu der „Als-Position“, aus der Phänomene als Kulturerscheinungen begriffen werden können, weil sie sich als wandelbar und kontingent und nicht als Ausfluss einer überzeitlichen und überhistorischen Ordnung erfahren lassen. Damit bezieht sich Mannheim vornehmlich auf die Bewegung des Historismus. Dieser „hatte das Gefühl der Bodenständigkeit des Menschen aufgelockert und das einst stabile Weltbild, in dem ein jedes Ding und jedes Lebende seinen nach einem göttlichen Plan bestimmten Ort hatte, in Bewegung gebracht. Unser Lebensgefühl sagt uns: alles könnte auch anders sein.“ (Mannheim 1980, S. 137) Diese Entwicklungen schlagen sich nun nach Mannheim auch in dem modernen Kulturbegriff nieder, der die folgenden Eigenschaften aufweist (Mannheim 1980, S. 45 ff.): • Die Kultursphären relativieren sich, werden autonom gegenüber anderen und der Kulturtotalität überhaupt. Gleichzeitig entsteht ein universaler und integraler Kulturbegriff als synthetischer Begriff für die Einheit der geistigen Sphären. • Ein Bewusstsein von der Relativität und Historizität der Kulturphänomene prägt sich aus; Kultur erfährt sich, wie besonders im Historismus ausgebildet, in je besonderen historischen Ausgestaltungen. • Kultur wird als ein subjektives Vermögen und Bildungsideal erlebt – es entwickelt sich ein subjektiver Kulturbegriff; gleichzeitig wird der Kulturbegriff objektiviert und Kultur wird als gesellschaftlich bedingt betrachtet.

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• Kultur- und Naturbegriff treten auseinander und werden als dichotom erfahren: „Die Natur, die den Gegensatz also der modernen ‚Kultur‘, ihr Korrelat ausmacht, ist etwas, das völlig sinnfrei, wertfrei, nur Substrat möglichen Sinnes ist. Sie enthält geradezu die Gesamtheit aller jener Bestimmungen, die dem Kulturellen nicht zukommen. Natur ist so das vom Geistigen Undurchdringbare, Wertindifferente, dem geistig-historischen Werdegang nicht Unterworfene.“ (Mannheim 1980, S. 49) An anderer Stelle spricht Mannheim auch von der „Kultur primärer Art“ (Mannheim 1980, S. 311), in der alle Bedeutsamkeiten und kulturellen Erscheinungen noch als dingliche Realitäten, als Natur erfasst werden, und stellt diese der Bildungskultur gegenüber, in der sich die Kultur als Kultur und damit als Werk erfährt. • „Kultur“ expandiert: Immer mehr Phänomene werden als „Kultur“ und damit als „gesetzt“ und „hergestellt“ begriffen: „Der Kulturbegriff absorbiert in seiner Expansion immer mehr und mehr, und als Rest bleibt nur ein minimal Hylisches zurück, nämlich unser Triebleben und unsere Sinnlichkeit, die nunmehr allein Natur heißen – nicht aus der Bewertung heraus, sondern als Folge ihrer Sinnfremdheit und Ahistorizität.“ (Mannheim 1980, S. 49 f.) Als ein die anderen Aspekte überragendes Merkmal des modernen Kulturverständnisses ist Mannheim zufolge die Relationalität von kulturellen Phänomenen zu betrachten. Kulturelle Phänomene sind relational zu anderen Phänomenen zu verstehen, zu den praktischen Lebens- und Erkenntniszusammenhängen, zu ihrem historischen Standort und ihrem Ort in einem umfassenden Kulturprozess, zu den Weltanschauungen und geschichtlichen Entwicklungen, zu den historischen Subjekten, die Kultur nicht mehr als etwas nur Vorgegebenes, als eine zweite Natur betrachten, sondern als etwas, was von ihnen selbst sinnhaft gestiftet, als etwas Werthaftes ausgezeichnet wird. Auch die Soziologie ist ein Resultat dieser kulturellen Entwicklungen. Soziologie wurde nach Mannheim erst möglich, als sich im späten 18. Jahrhundert eine eigene Sphäre des Gesellschaftlichen zu bilden begann. So wurden auch Kultursoziologie (und Wissenssoziologie) möglich, als man versuchte, kulturelle bzw. geistige Gebilde aus ihren sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen zu erklären. Und nicht nur diese Disziplinen, sondern auch deren methodologische Programmatik, nämlich die Erklärung von etwas Geistigem aus „sinnfreien Realgebilden“ (Mannheim 1980, S. 52), ist etwas, was sich auf dem Boden des modernen Kulturverständnisses finden lässt, setzen Erklärungen doch die typische Bottom-up-Strategie moderner Wissenschaften voraus, aus dem Einfachen das Komplexe abzuleiten – eine Programmatik, der Mannheim (1980, S. 52 f.) mit einer gewissen antireduktionistischen Skepsis begegnet, da sich Sinnhaftes nicht durch Sinnfreies und Komplexes nicht ohne Weiteres durch Elementares erklären lasse. Mannheim zieht daraus konsequenterweise die Schlussfolgerung, dass die Kultursoziologie sowie die Kulturwissenschaften überhaupt Teil des Prozesses sind, den sie analysieren. Auch Niklas Luhmann kommt bezüglich der Genese von „Kultur“ zu einer ähnlichen Diagnose. Zwar lehnt die Systemtheorie den repräsentationalen Wissensbegriff der älteren wie auch den Sozialkonstruktivismus der jüngeren Wissenssozio-

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logie ab und sucht in der Gestalt der Doppelfigur von „Beobachtung und Operation“ nach einem Konzept, um die problematische soziologische Differenz von Handlung und Wissen zu überwinden (Luhmann 1995a). In der Analyse der historischen Genese der Semantik von „Kultur“ kommt Luhmann aber zu einem ähnlichen Ergebnis wie Mannheim. Die Etablierung von „Kultur“ als einer ubiquitären Semantik ist ihm zufolge das Resultat von gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen, insbesondere solchen, die mit einer stärkeren Dominanz funktionaler Differenzierung im Verlauf der von den Historikern sogenannten frühen neuzeitlichen Gesellschaft verbunden sind (Luhmann 1995b). Kultur ist ein „historischer Begriff“ (Luhmann 1995b), der auf die Kontingenz der sozialen Ordnungen aufmerksam macht und sich nur dort und dann etablieren kann, wenn diese Kontingenz verstärkt in die gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen aufgenommen wird. In einem Punkt geht Luhmann jedoch über Mannheim hinaus, und zwar in Bezug auf die Performanz und Leistung, die mit der Etablierung der Kultur-Semantik verbunden sind. Kultur setzt alles, worauf es semantisch bezogen wird, dem Vergleich aus. Kultur erlaubt neue Beobachtungsdispositionen, die in der dreistelligen Operation des Vergleichens etwas mit etwas in Bezug auf einen Maßstab oder Vergleichsgesichtspunkt in Beziehung setzen.

5.2

Wissenskulturen

Kann in der Tradition von Mannheim und Luhmann „Kultur“ als ein Konzept begriffen werden, welches sich spezifischen epistemischen Ordnungen verdankt, so wird nun mit dem Konzept der „Wissenskultur“ spiegelbildlich die kulturelle Ordnung von „Wissen“ bezeichnet. So verweist Karin Knorr-Cetina mit dem Ausdruck „epistemic cultures“ (Knorr-Cetina 1999) auf Arrangements in bestimmten Wissensfeldern, in denen Wissen durch bestimmte kulturell variable Praktiken und Mechanismen erzeugt und stabilisiert wird. Anders als in der klassischen Wissenschaftstheorie vorgesehen, der zufolge solche Wissensfelder durch rationale Prozeduren, durch die Darlegung von Gründen, von Bestätigungen oder Widerlegungen gekennzeichnet sind, sind solche epistemische Kulturen nach Knorr-Cetina durch Aushandlungen, durch mikropolitische und organisationale Interessensbildungen, durch materiale Arrangements des Labors oder anderer Forschungssettings bestimmt, also durch solche Faktoren, die in den klassischen Theorien gerade als nicht-rational ausgewiesen werden. Davon unterscheiden sich zwei weitere Explikationen von Wissenskulturen. Nach Detel (2003a, b, 2007) beruhen Wissenskulturen auf Wissenspraktiken. Dabei handelt es sich um solche Praktiken, in denen im Raum der Gründe Wissen zugeschrieben und Wissensansprüche geltend gemacht oder bestritten werden. Als epistemische Kultur wird hier konsequenterweise das gemeinsame Wissen einer Gemeinschaft oder Gruppe bezeichnet. Im Unterschied zum Ansatz von KnorrCetina, der in der Tradition der sozialkonstruktivistischen Wissensforschung das als Wissen betrachtet, was in einer sozialen Konfiguration als solches repräsentiert wird, bindet Detel die Kategorie des Wissens streng an den Raum der Gründe, ohne

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damit in Abrede stellen zu wollen, dass dieses Wissen auch durch soziale Faktoren beeinflusst wird. Demgegenüber werden in einem dritten Ansatz beide Explikationen miteinander verbunden, und zwar im Hinblick auf die Frage, wie in sozialen Konstellationen der Raum der Gründe, in dem die Wissensansprüche von Behauptungen und Überzeugungen geltend gemacht werden können, überhaupt konstituiert wird. Der Raum der Gründe ist im Unterschied zum Raum der Natur (Sellars 1956; Brandom 1994) derjenige normative Handlungsrahmen, in dem sich die Teilnehmer einer Lebensform der Gründe ihres Handelns und Wissens versichern. Er ist nach Schützeichel (2007, 2009, vgl. auch das Konzept der Wissensmilieus nach Matthiesen 2007) nicht nur historisch oder kulturell wandelbar, sondern wird durch konstitutive Regeln aufgespannt. Durch solche kollektiv geteilten, konstitutiven Regeln werden nicht nur die rationalen Prozeduren, ein Raum der Gründe, bestimmt und damit das, was als „Wissen“ gilt, sondern auch, wer an solchen Praktiken teilnehmen darf, was als Wissen explizierbar ist, wer epistemisches Vertrauen genießt oder nach welchen Kriterien etwas als Wissen tradiert wird. Wissenskulturen in diesem Sinne regulieren also nicht nur den epistemischen Raum der Gründe, sondern die umfassende epistemische Ordnung in sozialen Konfigurationen. • Bezogen auf ihren jeweiligen Problembereich wird in solchen epistemischen Ordnungen in der Sachdimension festgelegt, welche epistemischen Formen, Modi und Stile in einem jeweiligen Kontext als angemessen gelten und in welchen Abhängigkeitsverhältnissen diese untereinander stehen. • In der Sozialdimension regulieren sie die Dominanz der epistemischen Akteure, also die Frage, welche Akteure bzw. welche Gruppen von Akteuren legitimiert sind, Wissen und Kompetenz zu generieren, zu distribuieren und zu konsumieren und welchem Personenkreis epistemisches Vertrauen entgegengebracht wird. • In der Temporaldimension bestimmen sie die Kriterien, nach denen Wissen und Kompetenz selektiert und transferiert wird. In den bisherigen Forschungen zu epistemischen oder Wissenskulturen wird häufig die Vorannahme mitgeführt, es handle sich um homogene Gebilde. Aber das Gegenteil dürfte der Fall sein. Sie stellen „soziale Arenen“ (Strauss 1993) dar, in denen um „epistemische Stile“ gerungen und verhandelt wird. Mit dem Terminus des epistemischen Stils oder des „Denkstils“ lässt sich ein älterer wissenssoziologischer Terminus von Karl Mannheim und Ludwik Fleck fruchtbar machen. Fleck definiert einen Denkstil als ein „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (Fleck 1980, S. 130) innerhalb eines „Denkkollektivs“ als Träger des Wissens. Denkstile als integraler Bestandteil von Wissenskulturen ordnen die Problemdefinitionen und Problembearbeitungen, die Erkenntnismittel und Methoden, die Expertisen und die Vertrauensverhältnisse. Schließlich integrieren und differenzieren sich in Wissenskulturen auch unterschiedliche Wissensformen. Damit kommen wir auf eine in jüngerer Zeit in der Wissens- wie der Kultursoziologie intensiv diskutierte Problematik zu sprechen, für

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die solche Konzepte wie „implizites Wissen“, Routinen oder Gewohnheiten stehen (Schützeichel 2012b). Wissenskulturen sind gleichsam fundiert in implizitem Wissen, also einem solchen Wissen, das prinzipiell nicht explizit gemacht werden kann und von daher eher einem Können entspricht, oder einem solchen Wissen, das aus unterschiedlichen Gründen, beispielsweise solchen eines Latenzschutzes, nicht explizit gemacht wird. Auch das propositionale Wissen, das Wissen, das aufgrund seiner Mitteilbarkeit in propositionalen Sprechakten am ehesten als Kandidat für gerechtfertigte und wahre Überzeugungen und damit für Wissen gilt, ist in einem impliziten Wissen (Polanyi 1966), in einem epistemischen, kulturellen oder körperlichen Hintergrund (Searle 1980) oder in einem „knowledge how“ (Ryle 1949) verankert. Dies wird in jüngerer Zeit über engere wissenssoziologische Diskussionen hinaus auch mehr und mehr dem kulturellen Wissen und seinen Praktiken unterstellt. Mit Collins (Collins 2010; Collins und Evans 2007) lassen sich (Wissens-)Kulturen entsprechend als soziale Konfigurationen betrachten, in denen Wissensformen unterschiedlicher Stufen von Implizitheit und Explizitheit anzutreffen sind.

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Fazit und offene Fragen

Dieser Beitrag befasst sich mit kultursoziologisch relevanten Ansätzen der Wissenssoziologie. Dabei sind wir von der Feststellung ausgegangen, dass es aufgrund der zahlreichen und intensiven Verbindungen und Komplementaritäten zwischen diesen Disziplinen wohl keine wissenssoziologischen Forschungsprogramme gibt, die nicht von einer erheblichen kultursoziologischen Relevanz sind. Wissen ist eine der zentralen Inhalte von Kultur. Damit aber ist in kultursoziologischer Hinsicht ein erheblicher Forschungsbedarf verbunden. In kultur- wie eben auch wissenssoziologischer Hinsicht sind viele Fragen noch ungeklärt. Wie konstituiert sich in Kulturen ein Raum der Gründe und wie werden die Grenzen zwischen unterschiedlichen Formen und Graden des Wissens, zwischen implizitem Hintergrund, praktischem Können und begründbaren Aussagen oder Überzeugungen gezogen? Wie konstituieren sich diese Wissensformen in dem epistemischen Spiel von Wahrnehmungen, Imitationen und Diskursen? Welche Quellen des Wissens werden in Kulturen als gerechtfertigt angesehen, welche nicht? Diese epistemologischen Fragen sind für eine weitere Disjunktion sowie Integration von kulturellen Sphären von erheblichem Interesse.

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Teil II Methoden der kultursoziologischen Forschung

Biographical Research in Cultural Sociology Maggie O’Neill

Contents 1 Introduction: Cultural Sociology/Sociology of Culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Studying Culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methods of Cultural Sociology: Biographical Research . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Creative Applications of Biographical Research for Cultural Sociology . . . . . . . . . . . . . . . . . . References . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abstract

This chapter examines and reflects on the value, history and role of biographical research methods for Cultural Sociology, defines what the concept ‘Culture’ means for Cultural Sociology. In sharing two examples that illustrate the practical application of biographical research as a method for Cultural Sociology I suggest that these examples reveal the importance of connecting individual lived experience with societal relationships and structures in order to facilitate the sociological imagination as well as highlighting the way that cultural analysis ‘involves the making, contestation and remaking of meaning’ but also culture as collective, lived experience. Keywords

Biographical Research Methods · Cultural Sociology · Creative Applications · Life Stories · Oral Histories

M. O’Neill (*) Department of Sociology, Wentworth College, University of York, Durham, UK E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_13

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Introduction: Cultural Sociology/Sociology of Culture

In this chapter I will define my use of ‘culture’ and reflect on the value of biographical research methods for cultural sociology by providing a short overview of the history, development and importance of biographical research for Cultural Sociology and I will then share two examples of the creative application of biographical research for cultural sociology. The concept, ‘culture’ is interpreted in this chapter in its broadest sense as a ‘way of life’, a central part of our identities as individuals, citizens and community members, as well as referring to the activities and practices of the arts and cultural industries. It is important to study culture using sociological concepts and much of my own research uses biographical methods to do cultural sociology. Sociology has always been concerned with “culture as a way of life” as well as culture as a process of “intellectual, spiritual and aesthetic development” and as the “practices of intellectual and especially artistic activity” (Williams 1983, p. 90). Moreover, as Edwards (2007, p. 1) makes clear, in his analysis of classical and contemporary positions on cultural theory, specifically, “the cultural significance of sociology and the sociological significance of culture” these viewpoints intersect in the development of cultural studies, developments in postmodernism and shifts in cultural feminist theory too. To participate in a cultural life is a key aspect to our health and well-being. It is hard to imagine the quality of our lives if we were cut off from the arts and the opportunity to take part in cultural activities. Additionally, a healthy economy is built upon integration with the cultural sphere. Janet Wolff (1998) argues that sociologist should want to contribute to the debate about culture and framed by the then need for debates between sociology and cultural and visual studies, she asks for two things: first, what seems to me to be an increasing acknowledgement within cultural studies of the importance of ethnography, of the study of social processes and institutions, and of the understanding of those structural features of cultural life that the sociological imagination has the ability to illuminate; and second, the work of some sociologists, small in number and marginalized though they might be, who have extended their view and their conceptual frameworks into new engagements with critical theory.

As a sociologist who undertakes ethnography and biographical research from a critical theory background and context, Wolff’s approach makes sense to me, for this approach highlights the importance of connecting individual experience, ‘private troubles’, with societal relationships and structures and engaging with the sociological imagination (Mills 1970). An understanding of the intersection of human biography and history reveals the public issues behind personal troubles; this for Mills is the promise of the sociological imagination.

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Studying Culture

The study of culture, like biographical sociology has expanded enormously in the last thirty to forty years. Indeed, this turn to culture “spawned its own distinctive field of cultural studies” (Chaney 2012, p. 3) yet, as Chaney states, ‘culture’ was a central aspect of the human and social sciences, especially anthropology “for at least a century” (p. 3). For Chaney in turning to culture, sociologists revised and defined “the sociological project of the characterisation of modernity” (p. 3) and especially how sociological work “has adapted to the cultural changes of late modernity” (p. 4). Chaney (2012, p. 4) describes how after the First World War ‘culture’ was seen as “threatened by mass audiences and mass tastes”. Post war and into the 1950s and 1960s concerns with the quality of cultural products was overshadowed by rapid cultural change, youth culture, popular culture and counter culture; and as Chaney states “patterns of cultural activity were differentiated by class and locality” (p. 6) and in this respect culture was also being used to describe community, a way of life (Williams 1958). Chaney (2012) reflects on the fact that in the 1960s one indice of cultural change was the way that film and TV sought to represent working class life. What is apparent from research and historical analyses is that a new popular, political and counter culture was developing in opposition to traditional norms, cultural forms and practices. Movements articulated around identity politics emerged, youth culture, the women’s movement, gay liberation and civil rights movement. The centre for contemporary cultural studies was formed at Birmingham University in 1964 by Richard Hoggart, succeeded by Stuart Hall and linked very much to the use of western Marxism, the work of Weber, Gramsci and use of ideology critique, indeed the use of critical theory as well as ethnography for understanding the meaning making practices people and groups/communities engage in. Wolff’s reflections about the importance of ethnography and critical theory for studying culture reminds me of Paul Willis,1 (1977) classic text ‘Learning to Labour: How working class kids get working class jobs’ an ethnography of 12 working class lads in a secondary modern school in the West Midlands UK. One reviewer described at as: the best book on male working class youth since Whyte’s Street Corner Society (1943). In the book Willis presents his ethnography in part one and analysis, drawing upon western Marxist/Marxist cultural perspectives in part two. Undertaking a critical ethnography, Willis analyses the meanings, cultural forms and processes, the relationship between agency, structure, history and culture that taken together contribute to how working class lads get working class jobs and at the same time explores their counter culture opposition to school ‘authority.’ For Willis, the field of symbolic and material, lived relations should always be presented in their own concreteness, at their own level, without continually reducing them mechanistically to basic determi-

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Willis gained his PhD in 1972 from the Centre for Contemporary Cultural Studies at Birmingham University.

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ning structures. And “the role of ethnography is to show the cultural viewpoint of the oppressed, their “hidden” knowledges and resistances as well as the basis on which entrapping “decisions” are taken with some sense of liberty, but which nevertheless help to produce “structure”. Willis book is an excellent example of the sociological understanding of culture connecting with the lives and indeed biographies of ‘the lads’ indeed it is a great example of how the intersection of human biography and history reveals the public issues behind personal troubles.

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Methods of Cultural Sociology: Biographical Research

In 1984 Bertaux and Kohli described the development of a “renaissance” in the use of life story research. Their starting point for this renaissance was a move away from the standard survey method in North American Sociology and the influence of on the one hand Thomas and Znaniecki’s (1958) The Polish Peasant with its emphasis upon “personal documents” letters, diaries, personal records, open interviews, and on the other hand life story interviews, autobiographies that may be “tape recorded life stories” (Denzin 1970; Plummer 1983). The authors argued that both personal documents, on the one hand, and life stories, on the other “give the researcher access to the actor’s perspective: his or her values, definitions of situations, and knowledge of social processes and rules that he or she has acquired through experience.” The focus of this approach is that “the life story should be based on narratives about one’s life or relevant parts thereof” and that there are many ways to elicit a life story with potentially a multiplicity of uses. For example, exploring key themes of sociological interest, social class, mobility ageing, elites, marginality, deviance and transgression; becoming “sensitive to the weight of history, and to conceive of the present as history in the making”; as well as exploring new approaches such as taking an ethnographic or hermeneutic approach. Similar to biographical sociology, the value of cultural sociology for Back et al. (2012, p. ix) is to “perceive such matters as emotion, affect, discourse, narrative, reflexivity and the visual and material basis of social life as crucial to social experience and indeed as basic elements of any considered, viable theory of social life.” Using “interpretive, discursive, textual and broadly qualitative methods” (p. 36). Biographical research methods are connected to a long and deeply embedded set of histories of doing life stories, biographies and oral histories linked to Chicago sociologists, historians, reformers and working class politics (Denzin 1996; Plummer 1983; Thompson 1983). As Miller (2000, p. 3) documents Biographies “as a literary genre go back at least as far as St Augustine” connected to the enlightenment, the focus on the individual and indeed, the rise of the novel. And it was Dilthey who concerned with ‘life and lived experience’ “attempted to bring a biographical perspective to the social sciences” and the life history method was central to the work of the Chicago school (Miller 2000, p. 4).

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In the following section I focus upon the value of biographical research methods by providing a short overview of the history, development and importance of biographical research for Cultural Sociology. Rooted in a long and diverse genealogy, biographical approaches have developed from a focus upon a single story, a ‘life story’, to encompass (more routinely) autobiographical secondary and archival research and analysis – as well as multimedia, arts based creative multi-sensory methods (O’Neill et al. 2014). Brian Roberts (2002, p. 2) like Denzin (1983) and Plummer (1983) defines biographical research as using interpretive methods, a ‘distinctive style of interviewing and analysis’ (Chamberlayne et al. 2000) to investigate individuals’ daily life experiences, past and future perspectives. Moreover that more recently, certainly in the last two decades biographical research methods include the use of visual, sensory, creative and digital applications to “collect and interpret the lives of others as part of human understanding” (Roberts 2002, p. 15) and to explore “the individual life within its social context” (Roberts 2002, p. 3). As documented initially by Bertaux and Kohli (1984) many scholars using biographical research methods, across Europe and North America in particular, documented a ‘turn’ to biographical, life history and narrative methods over the last thirty or more years (Frank 1995, Plummer 1995; Roberts 2002; Miller 2000; Chamberlayne et al. 2000; Merrill and West 2009). In a recent contribution to this literature and the history and trajectory of biographical research myself, Brian Roberts and Andrew Sparkes suggested that in creating the space for storytelling, the biographical researcher also creates the space for dialogue, listening and understanding that can connect biography to structure and history (O’Neill et al. 2014). Moreover that the main skill involved in doing biographical research involves conducting the ‘life history’ or ‘narrative interview’ (Schütze 1992, Riemann 2003; Fischer-Rosenthal 2002, Wengraf’s 2006) that aims to elicit narratives of experience. As Miller (2000, p. 156) states, as people move through their lives they are constantly doing ‘biographical work’ that is “they must construct and reconstruct their self-view in response to an ever-changing society [. . .]reflexively structuring their experiences and activities”. Sparkes and Smith (2012) discuss the experience of doing biographical research, how they feel their way into and out of analysis through their “sensual corporeality” (p. 4). The biographical interview facilitates, to varying degrees, a discursive, relational and reflective space in which feelings matter and can act as a guide. There is a blurring of dichotomies such as subject/object, self/society and time as past/ present and future. In my own research creating space for the voices and narratives of the marginalized using biographical methods can raise awareness, challenge stereotypes and hegemonic practices and can also produce texts that might mobilize for change. Collaborating with artists to represent biographical and ethnographic data in artistic form can help cultural sociologists access a richer understanding of the complexities of lived experience that may also throw light on broader structures and processes. I have argued that exploring the importance of stories and storytelling and representing life stories in visual or arts based forms can

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extend the relational and connective aspects of biographical research; capture the sensory, embodied sense of our social lives/lived experiences; open up dialogue and the transformative role of biography/art/creativity on many levels and, moreover have impact in terms of its potential application to inform policy (O’Neill and Stenning 2013, p. 218).

‘Culture is ordinary’ (Williams 1958) every day, and ‘involves the making, contestation and remaking of meaning’ but also culture is collective, lived experience. The following section and two exemplars illustrate the importance and usefulness of biographical methods for doing cultural sociology.

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Creative Applications of Biographical Research for Cultural Sociology Example 1: Guilty Except for Insanity

Examining the work of film maker Janice Haaken, O’Neill and Seal (2012) make a case for the value and importance of the use of biographical research methods in Haaken’s participatory, filmic representations of the stories of five inmates of Portland State security hospital who have pleaded ‘Guilty except for insanity’.2,3 The film movingly portrays the complex lives of the five people David, Tino, Tamara, Brandy and Nick and how their stories tell a larger tale of broken lives and as a consequence, in part, of the reduction of community mental health services, “the craziness of an American system where you have to commit a crime to get psychiatric help [. . .] and probes the consequences of the American medical management of madness” (Haaken 2010). Guilty except for insanity (2010) is a good example of cultural representation and analysis of the stories of the participants gained through deeply engaged ethnographic research and cultural analysis that combines critical theory and psychoanalysis. The tension between their lived experiences, transgressions, transition into families and communities as well as care and control is shown as complex and clearly if community mental health services were available to David, Tino, Tamara, Brandy and Nick they might not be in Oregon State Hospital. The film also focuses upon the inmates and the staff at Oregon State Hospital in Portland and the processes at work in pleading guilty except for insanity. 2

Directed by Jan Haaken, professor of psychology at Portland State University and a documentary filmmaker. Running time 90 minutes. http://www.guiltyexcept.com/. 3 The first legal case for insanity took place in England in 1843 in the McNaughton case. The Insanity Defence requires lack of awareness of what a person is doing and so cannot form intent to do wrong. Daniel McNaughton shot and killed Edward Drummond (secretary to the Prime Minister Sir Robert Peel) in an attempt to kill Peel. In court his lawyers argued that he was insane and did not understand what he was doing. The court acquitted McNaughton ‘by reason of insanity’, and he was placed in a mental institution for the rest of his life. The US adopted this defence in the Insanity Defence Reform Act 1984 that followed the assassination attempt on President Reagan.

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Their stories are shown alongside the stories of the parents and mental health workers and criminal justice representatives; we see the criminal justice and mental health system in action as well as through their eyes and bodies. Haaken speaks with the psychiatric staff and the criminal justice agencies including the police and attorneys who, in talking with Haaken, make sense of their roles and decisions in the tensions between criminal justice and mental health care. The stories of the inmates at Oregon State Hospital are tragic and deeply moving. One young man, Dave, begins his narrative by saying: ‘I am in the mental health system and not the criminal justice system because of a tragic accident and pleading guilty except for insanity’. We learn that Dave was a graduate in chemistry, developed depression at University and had a troubled relationship with his father. He describes ‘a dark gloomy cloud descending on me, the undertow sucked me under and I was drowning.’ Feeling disturbed and fearful, his father threatened him during an argument and Dave shot him. Tamara who has experienced years of extreme coercion and control from her ex-partner and describes being stalked by him, how his controlling behaviour was so extreme that he would go through the grocery list telling her what not to buy and he also took her car apart for she couldn’t drive it. Tamara describes how everything was falling apart and with increasing anxiety about violence she became anxious about her son who was ‘hard to manage’ at this time. In the end she states it was she who was violent, she shot her son. In their analysis O’Neill and Seal (2012) write that Haaken’s film shows so well are that mental illness and the hospital serve as a repository of fear and abjection and that these liminal places help to secure the borders of society and define what is normal. Haaken’s film encourages viewers to reflect upon the change causing potential of film and the way that film has the capacity to engage our intellect, emotions and bring us in touch with lived experience in ways that move us, make us think in more deeply engaged ways that may also motivate us to act and mobilise for change. Guilty except of Insanity is a remarkable and inspiring film and certainly focuses attention on the importance of biographical narratives and the transformative role and capacity of film. In Haaken’s film we gain access to the emotional relational worlds of the five individuals who shared their biographies, their stories. How different might their lives have been if they had had access to the kind of care, support and treatment offered by community mental health support and in Tamara’s case support from domestic violence and coercion and control specialist support and advice.

Example 2: Walking as a Biographical Method for Cultural Sociology

Recent work by the German Biographical Sociology network has evidenced the connections between visual sociology, digital and performing arts to enrich the potential of biographical sociology and help us to think in new ways. In a series of research projects that span a decade of work on migration I have used walking as a method for doing biographical research (Fig. 1).

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Fig. 1 Sketch of a Walk

Inspired by walking artists and especially the practice of artist Misha Myers I invited participants in a series of research projects to draw a map from a place they called home to a place that was special to them where they now lived; and they then walked the route with myself, another research participant, or policy maker. In various projects sex workers, community members, asylum seekers and refugees led walks accompanied by myself, policy makers, community artists or other residents. During the walk, the walker is in situational authority, they guide the walk and we engage in conversation about the route and the places and spaces they connect with and share. The process of narrating aspects of one’s past and present biography takes place in a dialogic space between walker, co-walker and the environment/space/place. What Myers (2010) calls ‘making place through process’ emerged as a performing of emplacement, not as a linear process but a dialectical, complex process eliciting multiple modalities of experience –‘between here and there and nowhere’, not only for the new arrivals but also for the co-walkers too (Fig. 2). In a walk between photographer John Perivolaris and Jeffer Garib published in O’Neill 2014, O’Neill and Perivolaris 2015) the reader joins John and Jeffer and gains an understanding of the walk (from the narrative and the accompanying map and photographs) as a holding space for fragments of Jeffer’s biography to emerge in the discursive, relational and reflective space facilitated by the walk and in the relationship between walker and co-walker; indeed, the intersubjective mutual recognition that occurs between the two men. “Glimpsing

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Fig. 2 A collective walk with women seeking asylum in the UK

Nottingham through Jeffer’s eyes and memories” John’s view of the city was changed forever. I have argued recently (O’Neill 2014) that walking enables us to connect with stories, to see and feel the experiences of another in an embodied way. Walking with another opens up a dialogue and a space where embodied knowledge, experience and memories can be shared (O’Neill and Hubbard 2010; O’Neill and Stenning 2013, O’Neill et al. 2014). Walking is relational in enabling multi-sensory experience and affective multisensory ways of knowing; attuning to another focuses attention on the sensory, dimensions of lived experience – and the relationship between the visual and other senses. In summary, the principles and practice of biographical research for cultural sociology can reveal the importance of connecting individual experience, ‘private troubles’, with societal relationships and structures to facilitate the sociological imagination; and reinforce the way that cultural analysis ‘involves the making, contestation and remaking of meaning’ but also culture is collective, lived experience (Williams). Hopefully, the two examples above illustrate the intersection between biographical research and critical cultural sociology can produce multi-sensory ways of knowing – through walking and ethnographic participatory film making as two approaches to doing biographical research as cultural sociology. Finally, through arts based biographical methods such as walking and film making we are able to get in touch with our ‘realities’ that demand critical reflection.

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Biographical Research in Cultural Sociology

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Diskursforschung in der Kultursoziologie Reiner Keller

Inhalt 1 Einleitung: Kulturanalyse und Diskursbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ansätze der Diskursforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methoden der Diskursforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Begreift man „Kultur“ als Bedeutungsgewebe und je spezifische, relativ stabile und veränderliche Verflechtung von Deutungs- und Handlungspraxis in sozialen Kollektiven, und betreibt man Diskursforschung als Erkundung gesellschaftlicher Konflikte, Stabilisierungen und Transformationen symbolischer Ordnungen, dann ist unmittelbar einsichtig, dass Diskursforschung als eine Form der Kulturanalyse verstanden werden kann. Allerdings muss von unterschiedlichen Ansätzen und Gebrauchsweisen des Diskursbegriffs ausgegangen werden, die mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und methodischen Umsetzungen einhergehen. Der Beitrag stellt dazu die für die Kultursoziologie wichtigsten Positionen vor, erläutert die jeweiligen Diskursverständnisse sowie Analyseinteressen und diskutiert methodische Vorgehensweisen. Schlüsselwörter

Diskurs · Kultur · Praktik · Methode · Kritik · Bedeutung · Sinn

R. Keller (*) Lehrstuhl für Soziologie, Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_14

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1

R. Keller

Einleitung: Kulturanalyse und Diskursbegriff

Seit Langem haben die Britischen Cultural Studies in ihren Beiträgen zur Analyse des „Kreislaufs der Kultur“ (Hall 1997a) dem Begriff des Diskurses einen prominenten Stellenwert gegeben (vgl. Barker und Jane 2016; Barker und Galasinski 2001). Ebenfalls schon vor einiger Zeit bezeichnete Werner Schiffauer (1995) Kultur als „Diskursfeld“. Und Andreas Reckwitz (2008) positionierte Diskursperspektiven (insbesondere im Anschluss an Michel Foucault) als eine der beiden Hauptanalysestrategien der Kulturanalyse.1 Die in diesen Positionierungen angelegte große Selbstverständlichkeit der Nähe zwischen beiden Begriffen besteht dann, wenn einerseits Kultur nicht im Sinne eines spezifischen gesellschaftlichen Praxisbetriebes („die Kulturindustrie“) oder eines sozialstrukturellen Differenzschemas (die „Unterschichtskultur“) gefasst wird, sondern als Bedeutungsgewebe bzw. „distinct, whole way of life‘, within which, now, a distinctive ‚signifying system‘ is seen not only as essential but as essentially involved in all forms of social activity“ (Williams 1995, S. 13; Herv. i. O.), in der Traditionslinie von Max Weber bis Clifford Geertz und dem linguistic oder cultural turn. Andererseits gehört dazu auch, dass der Diskursbegriff nicht auf die Untersuchung sprachlich-linguistischer Strukturbildungen und Prozesse bezogen wird, sondern auf die gesellschaftliche Prozessierung von Deutungen und ‚Deutungskämpfen‘.2 Das kann dann auch beispielsweise Auseinandersetzungen über Normfragen wie über Risiko- und Ungewissheitsdiagnosen, über den Nutzen oder die Bedrohung durch Migration, und schließlich natürlich auch über Kunstproduktion und Kulturbetrieb umfassen. Ungeachtet der Unterschiede der genannten Autoren und der Vielzahl weiterer Verknüpfungen von Kultur- und Diskursbegriff, die hier nicht erwähnt werden können, lässt sich so die Relevanz von Diskursanalysen für die Kulturforschung vielleicht am ehesten aus der weberianischen Tradition eines soziologischen Kulturverständnisses ableiten, für das „Kultur“ das Phänomen einer kollektiv-partikularen Bedeutungszuweisung innerhalb des menschlichen Weltverhältnisses bezeichnet. Anfang des 20. Jahrhunderts schlug Max Weber vor, Soziologie solle als Kulturwissenschaft betrieben werden. In seinem bis heute für das wissenschaftliche Selbstverständnis einer spezifischen Soziologietradition grundlegenden Aufsatz über „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ aus dem Jahre 1904 schreibt er:

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Weitere Bezüge werden ersichtlich durch verschiedene Beiträge, unter anderem zum Werk Foucaults, in Moebius und Quadflieg (2009) sowie Moebius (2009). Vgl. zum Verhältnis von „Diskursanalyse und Populärkultur“ etwa auch Diaz-Bone (2010a). 2 Vor allem im englischsprachigen Raum wird der Begriff „discourse analysis“ auch für konversations- und gesprächsanalytische Ansätze im Rahmen der linguistischen Pragmatik oder auch der ethnomethodologischen Tradition benutzt. Diese Ansätze sind hier nicht Gegenstand der Diskussion. Vgl. allgemein zu aktuellen Entwicklungen der Diskursforschung die Beiträge in der Zeitschrift für Diskursforschung/Journal for Discourse Research.

Diskursforschung in der Kultursoziologie

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„‚Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens. [. . .] Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ‚Kultur‘ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.“ (Weber 1988, S. 180 [1904])

Die für sich genommen „sinnlose Unendlichkeit des Weltgeschehens“ erschließt sich der menschlichen Erfahrung nur durch die Deutungsprozesse und Bedeutungszuweisungen, durch die wir das Chaos der sinnlichen Empfindungen und physikalisch-materiellen Vorgänge ordnen. Ein deutender, weltauslegender Bezug liegt all unserem Handeln in der Welt zugrunde, auch dem wissenschaftlichen Arbeiten der Soziologie selbst. Dieses später auch in der Kulturanthropologie von Clifford Geertz (1973) aufgegriffene Verständnis von Kultur als relativ abgrenzbares, verdichtetes, kollektiv erzeugtes „Bedeutungsgewebe“, das zugleich auf die schon bei Geertz betonte enge Verbindung von Wissens- und Kulturanalyse hinweist (vgl. auch Znaniecki 2010 [1919]), und in dem Sinngebungen und Handlungen bzw. Praktiken untrennbar miteinander verflochten sind, ist das Verständnis von Kultur, auf das sich soziologische Diskursforschung richtet, wenn sie Diskurse als „Fluß von Wissen bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (Siegfried Jäger) begreift. So wie Geertz mit seinem Insistieren auf der Rolle des Bedeutungsgewebes eine wissenssoziologische Positionierung verband, so können die Affinitäten eines so gefassten Kulturbegriffs zur wissenssoziologischen Tradition von Alfred Schütz (1973, 1974; Schütz und Luckmann 1979, 1984) bis hin zu Peter L. Berger und Luckmann (1980) festgehalten werden (vgl. auch Crane 1994; McCarthy 1996). Dort werden Bedeutungsgehalte als zeichengebundene, typisierte Deutungsschemata in sedimentierten gesellschaftlichen Wissens- und Handlungsvorräten begriffen und Wissen mit Kultur eng gekoppelt. In diesem Sinne lässt sich Webers frühe Analyse der „Protestantischen Ethik“ (Weber 1978 [1904/1905]) als Diskursforschung avant la lettre lesen und verstehen. Hier untersuchte er Dokumente des protestantisch-calvinistischen Diskurses zu Maximen und Praktiken der religiösen Lebensführung (wie Predigten, Katechismen, Ratgeberliteratur) und diagnostizierte deren weitreichende kulturellen Wirkungen. Auch die an Max Weber und Georg Simmel anschließende US-amerikanische pragmatistische und interpretative Soziologie interessierte sich für die Prozesse der Bedeutungsgebung, der individuellen und kollektiven Situationsdefinitionen unterschiedlicher sozialer Gruppen und Akteure, die mehr oder weniger heftig aufeinandertreffen und in Konflikt treten können, etwa im Rahmen ‚subkultureller‘ Strukturbildungen. Mit dem u. a. von Georg Herbert Mead (1963) genutzten Begriff des „universe of discourse“ wird hier der Horizont geteilter Symbole und Bedeutungen bezeichnet, den Mitglieder von Kollektiven im Prozess ihrer interaktiven Handlungsverflechtungen aufbauen, um sich verständigen zu können und die Probleme zu bearbeiten, um die herum sie sich konstituieren (vgl. Morris 1981). Ganz anders hatte schließlich Émile Durkheim im Anschluss an die frühe ethnologische Kulturforschung die Entstehung von Wissenssystemen (beispielsweise Klassifikationen) aus kollektiven Erfahrungssituationen heraus abgeleitet und damit die soziale Herstellung

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R. Keller

von „Kultur“ als kollektiven Prozess der Objektivierung und Institutionalisierung von symbolischen Systemen. Obwohl bereits die US-amerikanischen Protagonisten einer pragmatistischen Philosophie und Soziologie oder auch Alfred Schütz im Rahmen seiner Sozialphänomenologie von einem „universe of discourse“ sprachen, blieb es Michel Foucaults Arbeiten zur Archäologie des Wissens (Foucault 1988 [1966]) vorbehalten, den, oder besser: einen spezifischen Diskursbegriff mit weitreichenden Folgen in den Geistes- und Sozialwissenschaften und auch der gegenwärtigen Soziologie zu positionieren. Dass hier Kompatibilitäten zur Weber-Tradition bestehen, betonte nicht zuletzt Stuart Hall: „Heutige Kommentare betonen nicht nur die Brüche und Paradigmenwechsel, sondern auch die Ähnlichkeiten und Kontinuitäten zwischen älteren und neueren Traditionen: beispielsweise zwischen Webers klassischer interpretativer ‚Soziologie der Bedeutung‘ und Foucaults Betonung des ‚Diskursiven‘.“ (Hall 2002, S. 111 [1997])

Die Beschäftigung mit der diskursiven Erzeugung und Prozessierung von Wissen respektive Bedeutungen, im erwähnten Sinne also mit der Herstellung, Stabilisierung und Transformation von Kultur, findet im Feld der sozialwissenschaftlichen bzw. soziologischen Diskursforschungen in ganz unterschiedlicher Art und Weise statt. Nur selten, wenn überhaupt, begreifen sie sich dabei selbst explizit als Beiträge zur Kultursoziologie. Und gewiss können auch in einem ‚engeren‘ Kulturverständnis Diskurse in und über „Kunstwelten“ (Howard S. Becker) bzw. den „Kulturbetrieb“ ein aufschlussreiches Forschungsfeld für Diskursanalysen sein. Die Ansätze unterscheiden sich durch Forschungsinteressen, begriffliche Heuristiken und empirisch-methodische Strategien. Im Folgenden sollen die wichtigsten Positionen vorgestellt werden.

2

Ansätze der Diskursforschung

Den verschiedenen Ansätzen der soziologischen Diskursforschung ist die Ausgangsannahme gemeinsam, dass soziale Akteure in artikulatorischen Praktiken (diskursiven Ereignissen) und diskursiv strukturierten Prozessen kollektiv wirksame symbolische Bedeutungs- und Ordnungsstrukturen erzeugen und verändern, die gesellschaftlich weitreichende Effekte bzw. Machtwirkungen erzielen können und in unterschiedlicher Weise mit materiellen Ressourcen verkoppelt sind. Die konkrete materiale Gestalt solcher Praktiken kann sehr unterschiedlich gefasst sein: ein Buch, eine Rede, ein Flugblatt, eine Predigt, eine Lesung, die Durchführung eines Experiments oder einer Untersuchung – all das sind Varianten der empirischen und tatsächlichen Produktion von Aussagen, welche die „sinnlose Unendlichkeit des Weltgeschehens“ mit spezifiziertem Sinn versehen. Variabel sind sowohl die theoretischen Überlegungen zur Verfasstheit von Diskursen bzw. diskursiven Prozessen, zu Frageinteressen und Erklärungsleistungen der Analyse, und zu methodischen Vorgehensweisen. Einige Ansätze stellen die Eigendynamik diskursiver Strukturierungen stärker in den Vordergrund. Andere insistie-

Diskursforschung in der Kultursoziologie

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ren auf der Bedeutung handelnder Akteure, welche diskursive Ereignisse hervorbringen. Manche Ansätze unternehmen stärkere diskurstheoretisch erklärende Vorüberlegungen; andere verstehen sich eher als Analyseheuristik. Viele Positionen konzentrieren sich auf rein ‚natürliche‘ und textförmige Datenformate. Andere schließen auch interviewgestützte Erhebungen und teilnehmende Beobachtungen in ihre Vorgehensweisen mit ein. Grundsätzlich bilden aber sicherlich vorfindbare Daten im Sinne von textförmig fixierten Dokumenten (einschließlich darin enthaltener oder damit gekoppelter Visualisierungen) das hauptsächliche empirische Material der Diskursforschung. Für alle gilt damit allerdings, dass Diskursforschung nicht als eine Methode, sondern eher als eine Perspektive der Kulturanalyse verstanden werden muss. Die Ansätze schlagen unterschiedliche Frageinteressen und Vorgehensweisen vor (vgl. dazu Angermüller et al. 2014; Keller et al. 2011a, b; Keller 2010, 2011, 2013). Angemessener wäre deswegen davon zu sprechen, dass Diskursperspektiven je spezifische Methodologien und methodische Umsetzungen eines spezifischen, an Bedeutungsverkettungen und -transformationen interessierten kulturanalytischen Forschens anbieten, die natürlich immer auch Artefakte und Praktiken umfassen. Schließlich ist in Rechnung zu stellen, dass zahlreiche empirische Diskursforschungen als Beiträge zur Kultursoziologie verstanden werden können, ohne dass damit notwendig eine systematisierte Forschungsperspektive verbunden ist. Zu nennen wäre hier beispielsweise die lose in Foucault’schen und poststrukturalistischen Traditionen stehende Studie zum „Orientalismus“ von Edward Saïd (2009 [1978]), in der er die westliche Imagination des Orients analysierte, oder die ganz anders empirisch ansetzende Untersuchung „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Luc Boltanski und Eve Chiapello (2003), die sich mit der Entstehung einer neuen ökonomischen Rechtfertigungsordnung im Zusammenspiel von künstlerischkreativen und ökonomischen Prinzipien befasst, aber auch Forschungen zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von Katastrophen (Schrage 2005), zur Moralentwicklung (Maasen 1997) sowie zur Bestimmung des Todes (Schneider 1999). Im Folgenden werden ausgewählte stärker systematisierte Ansätze in den Blick genommen.3

2.1

Michel Foucault

Die heutige Konjunktur des Diskursbegriffs verdankt sich zum großen Teil dem in den 1960er- und 1970er-Jahren entstandenen Werk von Michel Foucault. Als Philosoph, der sich für Geschichte interessierte, hat Foucault in einflussreicher Weise 3

Der Fokus liegt dabei auf soziologischen bzw. soziologienahen Positionen. Die breite sprachwissenschaftliche Diskursforschung und auch Ansätze einer politikwissenschaftlichen Diskursanalyse oder im Zusammenhang feministischer Forschungen werden hier nicht angeführt. Zwar ist insbesondere die Critical Discourse Analysis bei Norman Fairclough eng an soziologischen Grundlagen orientiert. Doch die praktischen Umsetzungen der CDA bzw. auch der deutschsprachigen Kritischen Diskursanalyse zielen in erster Linie auf die Entlarvung ökonomisch basierter ideologischer Positionen oder die Analyse der sprachlich-rhetorischen Mittel rechtsextremer und rechtspopulistischer Diskurse. Sie werden in der Soziologie wenig rezipiert.

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neue Fragestellungen und Herangehensweisen an geschichtswissenschaftliche Gegenstandsbereiche formuliert. Dabei beschäftigte er sich mit Phänomenen wie Geisteskrankheit, Strafprozeduren, der Entstehung und Etablierung der Wissenschaftsdisziplinen Psychologie, Recht oder Medizin, der Entwicklung sexualitätsbezogener Ethikund Moralvorstellungen sowie der Genese moderner Subjektvorstellungen – das Grundthema seines gesamten Werkes. Mit Foucault (1988 [1966]) lassen sich Diskurse als strukturierte und zusammenhängende Praktiken der Aussageproduktion mittels der Nutzung von Zeichen- bzw. Symbolsystemen verstehen. Diese Aussagen beziehen sich auf Gegenstände der Deutung, die dadurch spezifisch als Wissensgegenstände erzeugt werden bzw. in besonderer Weise konfiguriert in Erscheinung treten: „In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit [. . .] definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, dass man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat.“ (Foucault 1988, S. 58)

Foucault hatte so in seiner historischen Studie zur „Ordnung der Dinge“ (Foucault 1974a) die Ordnungsmuster untersucht und unterschieden, die spezifischen wissenschaftlichen Aussagepraktiken in unterschiedlichen Disziplinen und in verschiedenen historischen Zeitabschnitten zugrunde lagen. In der „Archäologie des Wissens“ (Foucault 1988) skizziert er seine Methodologie solcher historischen „Ausgrabungen“ und in deren Zusammenhang einige Grundbegriffe, die für die späteren sozialwissenschaftlichen Diskursforschungen sehr bedeutsam werden. Dazu zählen neben der allgemeinen Bestimmung des Diskursbegriffs als analytisch identifizierbarer Zusammenhang gegenstandskonstituierender Praktiken u. a. die Unterscheidung mehrerer Dimensionen „diskursiver Formationen“ (als Formation der Gegenstände, der Begriffe, der Äußerungsmodalitäten und der Strategien) sowie der Differenz von empirisch singulärer Äußerung und typisierbarem Aussagemuster. Im Zusammenhang seiner Hinwendung zu historisch-politischen Auseinandersetzungen und Kämpfen Anfang der 1970er-Jahre, die unter dem Begriff der „Genealogie von Macht/Wissen-Regimen“ gefasst wird, bezieht er den Diskursbegriff zum einen stärker auf die institutionellen Strukturierungen von Aussagepraktiken und die Prozesse der „Verknappung der Sprechenden“. So schlägt seine Antrittsvorlesung am Collège de France über „Die Ordnung des Diskurses“ mehrere Ansatzpunkte zur Analyse von Verknappungen vor, etwa das Kriterium der Wahrheit, Redetabus, akademische Grade oder Kommentare (Foucault 1974b). Die Genealogie wird zu einer „Geschichte der Wahrheit“: „Nicht zu einer Geschichte dessen, was es Wahres in den Erkenntnissen geben mag, sondern zu einer Analyse der ‚Wahrheitsspiele‘, der Spiele des Wahren und des Falschen, in denen sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert, das heißt als eines, das gedacht werden kann und muß.“ (Foucault 1989, S. 13)

Wenig später betont er (wohl unter dem Einfluss der Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Pragmatismus, insbesondere mit John Dewey) in mehreren

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kleineren Texten, dass ihn nun nicht mehr so sehr die Analyse großer historischer Diskursformationen interessiere, sondern die Analyse von Diskursen als Einsätzen in konkreten, auf unterschiedliche Anlässe bezogenen Kämpfen um die Deutungshoheit:4 „Heute ist es aber an der Zeit, diese Diskursphänomene [. . .] als strategische Spiele aus Handlungen und Reaktionen, Fragen und Antworten, Beherrschungsversuchen und Ausweichmanövern, das heißt als Kampf [zu betrachten]. Der Diskurs ist jenes regelmäßige Ensemble, das auf einer Ebene aus sprachlichen Phänomenen und auf einer anderen aus Polemik und Strategien besteht. Diese Analyse des Diskurses als strategisches und polemisches Spiel bildet die zweite Achse der Untersuchung.“ (Foucault 2002, S. 670 f.)

Festzuhalten ist hier allerdings auch, dass Foucault den Diskursbegriff nicht systematisch für seine empirischen Arbeiten nutzt bzw. abgesehen von der „Ordnung der Dinge“ und den späten texthermeneutischen Analysen antiker Beiträge zur Selbstsorge keine Diskursanalysen vorgenommen hat. Die „Archäologie“ schien ihm selbst ein misslungenes Buch, und sein historisch-empirisches Arbeiten lässt sich eher als konzeptionell-theoretisch gefasste Heuristik des Forschens entlang einiger allgemeiner Grundüberlegungen (Keller 2008) begreifen, denn als methodisch angelegte „empirische“ Diskursforschung. Insoweit bleibt es auch in der Nachfolge recht unklar, was denn unter einer „Foucaultschen Diskursanalyse“ (Rainer Diaz-Bone) zu verstehen sei, und einige sich bis heute nach eigenem Bekunden in die direkte Nachfolge der Foucault’schen Methodologie stellenden Forschungen (etwa Sarasin 2001; Bublitz et al. 1999; Diaz-Bone 2010b) verfolgen denn auch ganz unterschiedliche methodische Strategien.5

2.2

Symbolischer Interaktionismus

Im Anschluss an die Chicago-Tradition der Soziologie – etwa deren Untersuchungen zur öffentlichen Bedeutung von Rassenkategorisierungen – wurden in den USA seit den 1960er-Jahren mehrere Ansätze einer symbolisch-interaktionistischen Diskursforschung entwickelt, die sich vor allem auf die Deutungskonflikte in öffentlichen Debatten (public discourse) richteten und dort das Engagement sozialer Bewegungen oder auch institutioneller Akteure in den Blick nahmen. Dabei kamen sowohl interpretativ-historisch-fallanalytische wie auch quantifizierend-inhaltsanalytische Vorgehensweisen zum Einsatz. Einige Ansätze verfolgen eine stärker an strategischdeutendem Handeln interessierte Perspektive. Dazu zählt etwa Ann Swidlers (1986) Verständnis von Kultur als „tool kit“ von Symbolen, Normenbeständen, Deutungsfiguren usw., in dem sich soziale Akteure strategisch in der Verfolgung ihrer Interessen Ein entsprechendes Beispiel gibt das Buch „Der Fall Rivière“ (Foucault 1975). Davon zu unterscheiden sind Perspektiven, für die Foucault zwar ein zentraler Ausgangs- und Bezugspunkt darstellt, die aber nicht beanspruchen, „Foucaultsche“ Forschung zu betreiben (vgl. dazu etwa die Beiträge in Bührmann et. al. 2007).

4 5

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bedienen. Auch die im Kontext der Bewegungsforschung entwickelte frame-analysis geht von strategischen Formen des Deutens aus, wenn etwa angenommen wird, dass soziale Bewegungen spezifische ‚Rahmungen‘ ihrer Anliegen vornehmen, um möglichst große Anhängerschaften zu erreichen. Soziale Bewegungen werden dort als kollektive Akteure untersucht, die mit ‚kulturellen Mitteln‘ die dominierenden gesellschaftlichen Weltdeutungen und kulturellen Codes herausfordern und dadurch auch die allgemeine Perzeption solcher Wirklichkeitszusammenhänge erneuern bzw. transformieren. William Gamson beispielsweise entwickelte seit den 1980er-Jahren Vorschläge zur Analyse öffentlicher Diskussions- und Mobilisierungsprozesse als Diskurse (z. B. Gamson und Modiglianie 1989). Er geht in seiner frame analysis davon aus, dass soziale Bewegungen in themenspezifische Interpretationskämpfe um die angemessene Deutung gesellschaftlich-politischer Probleme verwickelt sind. (Nicht nur) Bewegungsakteure konstruieren im Kontext öffentlicher Auseinandersetzungen über strittige Themen ihre Problemdeutungen in der strategischen Absicht, möglichst breite öffentliche Resonanz für ihre Anliegen zu erzielen und sich selbst als legitime, verantwortungsbewusste Akteure und Anbieter von Problemlösungen zu präsentieren. Empirisch-methodisch werden hier überwiegend zunächst qualitative Vorstudien zu Themenkarrieren und Mobilisierungen durchgeführt, die anhand ausgewählter Daten der Medienberichterstattung dann Kerndeutungen (frames) und damit verknüpfte sprachlich-rhetorische Mittel herausarbeiten und in ein Codierschema übertragen, das wiederum zur inhaltsanalytisch-quantifizierenden Analyse großer Datenkorpora eingesetzt wird. Dazu werden Argumentationsfiguren („reasoning devices“) und rhetorische Deutungsmittel („framing devices“: z. B. Metaphern, verdichtende Symbole) unterschieden, die als „package“ zur sprachlich-symbolischen Materialisierung des frame eingesetzt werden. Packages enthalten zudem eine „story line“ bzw. ein „scenario“, durch das sie neue Ereignisse im Zeitverlauf integrieren. Im deutschen Sprachraum wurde dieser Ansatz beispielsweise von Karl-Werner Brand, Klaus Eder und Angelika Poferl (1997) sowie von Friedhelm Neidhardt, Jürgen Gerhards u. a. aufgegriffen (vgl. Gerhards 2011). Auch Hubert Knoblauch (1995; vgl. auch Knoblauch 2016) schloss in seiner Studie zu „Kommunikationskulturen“ an Ideen der Frame-Forschung an, wenngleich unter Verzicht auf die inhaltsanalytische Textanalyse. Einen völlig anderen, eher freihändig ‚textanalytisch-interpretativ‘ und auch ethnografisch zu nennenden Zugang wählt Joseph Gusfield (1981) für seine Diskursanalyse der „culture of public problems“. Dabei knüpft er an Berger und Luckmann sowie an die Arbeiten von Kenneth Burke an. Gusfield analysiert – etwa am Beispiel der Formierung des politischen Interventionsfeldes „Trunkenheit am Steuer“ in den USA – die Karriere umstrittener öffentlicher Problemdefinitionen sowohl im Hinblick auf ihre konkret-materiellen Aspekte (Institutionen, Mittel und Folgen), auf ihre semantisch-symbolische Ebene, die verschiedenen, in Konflikte verstrickten Akteure und auf die eingesetzten Sprach-, Argumentations- und Visualisierungsstrategien. Er betont damit die wirklichkeitskonstituierende Macht der produzierten symbolischen Ordnungen ebenso wie ihre exkludierende Funktion im Hinblick auf andere Deutungsmöglichkeiten. Öffentliche Diskurse werden als Wirk-

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213

lichkeitsbereiche sui generis betrachtet, deren gesellschaftliche Funktion in der ritualistischen Vergegenwärtigung der Möglichkeit des Bestehens symbolischer und damit sozialer Ordnung liegt.

2.3

Cultural Studies

Die Cultural Studies, allen voran die Arbeiten von Stuart Hall und der Birmingham School, haben mit ihrer Zusammenführung von Theorietraditionen des kulturellen Marxismus, der interpretativen Soziologie und des Poststrukturalismus umfangreiche Überlegungen zum „Kreislauf der Kultur“ und seinem materiellen Unterbau entwickelt. Der „Kreislauf der Kultur“ umfasst die Stationen der Erzeugung von Bedeutungen (Repräsentationen), der Konstruktion von Identitäten, der Produktion und Konsumption von Artefakten und der institutionellen Regulierung dieser Prozesse. Er wird in zwei Richtungen analysiert: erstens im Hinblick auf kulturindustrielle Formen der Bedeutungs- sowie Artefaktproduktion und die Zirkulation dieser ‚Produkte‘ in der Gesellschaft, zweitens als lokale, taktisch-kreative Aneignungsprozesse solcher Deutungen und Artefakte durch Akteure des Alltags, die eine eigenständige Produktionsebene bilden. Ein zentrales Element dieser doppelten Analyseorientierung ist der Begriff der „Artikulation“ von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (s. u.), der in den Cultural Studies übernommen wurde. In den Blick genommen werden beispielsweise massenmediale Produktionsstrukturen oder auch ökonomisch-kulturelle Artefakte sowie die darin prozessierten oder damit verknüpften „Repräsentationen“. Gleichzeitig verfolgen die CS eine herrschafts- und kulturindustrie-kritische Perspektive, die vor allem der Eigenwertigkeit der ‚Kultur von unten‘ Beachtung schenkt. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen Bedeutungskreisläufe, Ungleichheiten, symbolische Kämpfe und Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Definitionsmacht (Hörning und Winter 1999). Exemplarisch dafür steht das von Stuart Hall vorgeschlagene Modell von Encoding/Decoding-Prozessen: Im Zusammenspiel von technischen Infrastrukturen, Produktionsverhältnissen und Wissensrahmen (frames) entsteht beispielsweise das Fernsehprogramm als „bedeutungsvoller Diskurs“ (Encoding); die Rezeption (das Decoding) durch Zuschauer erfolgt ebenfalls zwischen technischen Infrastrukturen, Produktionsverhältnissen und Wissensrahmen auf der Seite der Rezipienten (Hall 1999). Der Rezeptionsprozess ist also seinerseits ein Prozess der Produktion von Sinn. Dabei spielt der Diskursbegriff eine durchgehend wichtige, wenn auch kaum systematisch entwickelte Rolle (vgl. Hall 1997a, 2002; Barker und Jane 2016). Hall definiert zwar Diskurse wie folgt, doch wird dies nicht weiter ausgearbeitet: „Discourses are ways of referring to or constructing knowledge about a particular topic of practice: a cluster (or formation) of ideas, images and practices, which provide ways of talking about, forms of knowledge and conduct associated with, a particular topic, social activity or institutional site in society.“ (Hall 1997b, S. 4)

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„Diskurs“ wird über die Referenz zu Michel Foucault und interpretativen Soziologietraditionen eingeführt und mit Analysestrategien der Social Semiotics verknüpft (Hodge und Kress 1988). Anbindungen erfolgten auch an die Critical Discourse Analysis (Barker und Galasinski 2001).

2.4

Hegemonieanalyse bzw. „Essex School“

Seit Mitte der 1980er-Jahre haben die PolitikwissenschaftlerInnen Chantal Mouffe und Ernesto Laclau Beiträge zu einer postmarxistischen und poststrukturalistischen Diskurstheorie vorgelegt, die auf einem antagonistisch-agonistischen Politik- und Gesellschaftsmodell beruhen und insbesondere auf die Analyse politisch-populistischer Mobilisierungen ausgerichtet sind (Laclau und Mouffe 1991). Jüngere Ausarbeitungen haben etwa Martin Nonhoff (2010) und vor allem David Howarth (Howarth und Glynos 2007) vorgenommen. Die Essex School knüpft an Foucault, stärker noch an Louis Althussers Ideologietheorie, Antonio Gramscis Hegemoniekonzept und Jacques Lacans Subjekttheorie an. Nach Laclau und Mouffe existiert ‚das Soziale‘ bzw. die Gesellschaft immer und notwendig als symbolische, d. h. als Sinn-Ordnung. Diese symbolischen Ordnungen umfassen sowohl konkrete, materiale Objekte wie Handlungsweisen bzw. Praktiken und Subjektpositionen für menschliche Akteure. Die Beziehungen zwischen den Elementen dieser Ordnung werden durch Bedeutungszuschreibungen hergestellt und stabilisiert; jede soziale Praxis ist immer eine Praxis der Sinnerzeugung, egal ob es um die Herstellung eines Objektes, um eine Körperbewegung oder um Sprechen geht – alles wird zum Zeichenträger. Die erwähnten Sinnordnungen werden durch Diskurse konstituiert. Diskurse sind Systeme von Differenzbildungen, also von internen und außenbezogenen Abgrenzungen, die vorübergehend gesellschaftlich-institutionell stabilisiert wurden. Solche Prozesse der Sinnfestschreibung erfolgen in Praktiken der „Artikulation“ durch gesellschaftliche Akteure; Letztere können dadurch Diskurse stabilisieren, herausfordern und verändern. Empirische Analysen richten eine besondere Aufmerksamkeit auf Formen der signifikatorischen Äquivalenz- und Differenzkonstruktion: Welche Deutungsbausteine werden auf der Seite einer Wir-Position als zusammengehörig und zugleich intern unterschieden gesetzt, und wie werden sie von einem jeweiligen ebenfalls differenzierten und äquivalent verketteten Gegenüber abgesetzt, das für das oder die Andere(n) steht, gegen die es zu gewinnen gilt.6 Laclau (1996, S. 36 ff.) schlägt den Begriff des „leeren Signifikanten“ für das in sich leere, aber durch die positiven Äquivalenzverkettungen mit Sinn gefüllte vereinheitlichende Zeichen vor, das die Gesamt-Identität eines Diskurses bezeichnet. Als Beispiel dafür wird etwa der Wert der ‚Freiheit‘ genannt, der als eine abstrakte, mit unterschiedlichen Bedeutungen auffüllbare Chiffre gebraucht werden kann, wenn es darum geht, im Namen der Freiheit bzw. der freien Welt gegen ein Außen (etwa: die „Achse des Bösen“; „Schurkenstaaten“) vorzugehen. Als hegemonial werden Diskurse 6

Vgl. zum methodischen Vorgehen die Hinweise bei Martin Nonhoff (2010).

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beschrieben, die darauf zielen, umfassende Sinnverkettungen zu entwickeln und sich dabei auf das Wohl aller als Legitimationsgrundlage berufen. Da dies immer wieder nur bedingt und mit Brüchen gelingt, kommt die artikulatorische Praxis nicht zu einem Ende.

2.5

Ansätze im Anschluss an Pierre Bourdieu

Verschiedene jüngere Ansätze der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung verbinden Ideen Foucaults mit stärker an die Arbeiten Pierre Bourdieus angelehnten Theoriebausteinen. Die Bourdieu’schen Begriffe des sozialen Feldes, des sozialen Raumes, der verschiedenen Kapitalsorten, des Habitus und der Machtlogik der Felder werden dann als beschreibende und erklärende Größen für diskursive Prozesse eingeführt. Der Sprachgebrauch als Praxis des Sprechens und Schreibens ist so einerseits durch den erworbenen Habitus geprägt. Jede Aussage ist ein Beitrag – eine Aktualisierung oder Transformation – zu einer spezifischen symbolischen Ordnung, innerhalb derer sie ihre Bedeutung erhält. Bourdieu betont in seiner Sozialtheorie die Bedeutung sozialer Kämpfe über die Durchsetzung legitimer symbolischer Ordnungen. Die sozialen Klassen sind im Rahmen der verschiedenen sozialen Felder in Klassifikationskämpfe verstrickt. Die Macht legitimer Benennung und Weltdeutung ist nicht nur, aber doch wesentlich im Staat und dessen Verwaltungen konzentriert, wird aber von kollektiven sozialen Akteuren immer wieder herausgefordert. Kulturelle Auseinandersetzungen, etwa diejenigen über den „legitimen Geschmack“, sind Klassifikationskämpfe sozialer Gruppen. Dabei ist jeder Sprachgebrauch ein Beitrag im Kampf um Deutungsmacht, eine Stabilisierung oder Infragestellung symbolischer Herrschaftsverhältnisse (Bourdieu 1990, 1992). Der gesellschaftliche Stellenwert von Aussagen hängt von dem institutionellen Ort, der sozialen Position in einem Feld ab, von der aus sie formuliert wird. Diese Position reguliert sowohl die Möglichkeiten der Herstellung wie auch die Formen der Rezeption von Aussagen. „Das Feld hält Sprecherpositionen bereit, die von Personen eingenommen werden können, die durch das Feld autorisiert sind. Eine Gruppe kann Diskurse im Feld kontrollieren, indem sie die Besetzung solcher Positionen kontrolliert. Die Autorität eines Sprechers, sein symbolisches Kapital ist ein abgeleitetes Kapital, das [. . .] im Feld hervorgebracht und von einer Institution oder Gruppe akkumuliert wurde. [. . .] Damit das symbolische Kapital als Potenzial wirken kann, d. h. damit dem legitimen Sprecher die Anerkennung zuteil wird, muss der Diskurs in einer legitimen Sprechsituation erfolgen (er muss am richtigen Ort, zur richtigen Zeit an die richtigen Zuhörer adressiert sein) und er muss die richtige Form (Redewendungen, Anredeformen, Sprachstil usw.) aufweisen.“ (Diaz-Bone 2004, S. 55 f.)

Diaz-Bone (2010b, 2015) nutzt Ideen und Konzepte Michel Foucaults zur Untersuchung von musikstilbezogenen Diskursen, in denen die Klassifikationsschemata erzeugt werden, die für Geschmacksurteile im Sinne von Bourdieu herangezogen werden. Dabei betont er insbesondere den epistemologischen Bruch zwischen Forschung und Forschungsobjekt als notwendige Distanzierungsleistung diskursanalytischer Vorgehensweisen. In seinen Studien zu den Musikstilen Techno und Hard-

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rock sowie zur Klassifikation von Weinen (Diaz-Bone 2009) kann er so deutlich machen, dass die eingesetzten Vokabularien der ‚feinen Unterschiede‘ keineswegs aus der Alltagserfahrung der sich Positionierenden stammen, sondern als Effekte oder Produkte diskursiver Herstellungen verstanden werden können. Im methodischen Vorgehen nutzt die erwähnte Studie zu den Musikstilen Codiertechniken der Grounded Theory, die auf ein Sample von Textdokumenten aus Musikzeitschriften bezogen werden.

2.6

Wissenssoziologische Diskursanalyse

Der soziologisch wohl am breitesten, auch über Disziplingrenzen hinaus genutzte Ansatz der Diskursforschung ist die seit Ende der 1990er-Jahre vorgeschlagene „Wissenssoziologische Diskursanalyse“ (WDA; Keller 2011). Sie begreift Diskurse im Anschluss an Michel Foucault sowie den pragmatistischen Begriff des „Diskursuniversums“ als zusammenhängende und strukturierte Praktiken der Aussageproduktion in den institutionellen, organisatorischen und öffentlichen Arenen von und zwischen Gesellschaften, welche entlang der Widerständigkeit des Außerdiskursiven die spezifische Existenz von Wirklichkeiten, d. h. Deutungs- und Handlungsweisen sowie Objektwelten erzeugen. In der WDA werden zentrale Argumente der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie von Peter Berger und Thomas Luckmann mit dem Pragmatismus des Symbolischen Interaktionismus und Konzepten Foucaults sowie Anschlüssen an die Methodologie und Methoden interpretativer Sozialforschung verbunden. Die WDA untersucht gesellschaftliche Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken und stellt sich damit dezidiert in das Foucault’sche Programm einer Analyse von Macht/Wissen-Regimen. „Wissen“ wird hier im allgemeinen Verständnis des Sozialkonstruktivismus sowie in der Foucault’schen Bestimmung der Wissensetablierung durch Diskurse genutzt. Es geht ganz ähnlich wie in der weiter oben erwähnten Diskursdefinition von Stuart Hall nicht um wissenschaftliches oder wahres Wissen, sondern im Sinn der von Alfred Schütz diskutierten Funktion gesellschaftlicher Wissensvorräte um alle kategorialen Unterscheidungen und Wirklichkeitsreferenzen, welche die Existenz ihrer Referenz behaupten (einschließlich religiöser Kosmologien und politischer Ideologien) und sowohl in der Konstitution von Welt im individuellen Bewusstsein wie auch in der konfliktreichen gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit zum Einsatz kommen. Der Begriff „Wissensverhältnisse“ verweist darauf, dass soziale Kollektive Wissensformen und -systeme zueinander in asymmetrische, hierarchisierte Beziehungen und Dominanzverhältnisse setzen. Der Begriff der „Wissenspolitiken“ bezeichnet die diskursiven Interventionen sozialer Akteure, die solche Wissensverhältnisse reproduzieren, stabilisieren, herausfordern und auch transformieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse analysiert gesellschaftliche Praktiken und konflikthafte Prozesse der kommunikativen Konstruktion, Stabilisierung und Transformation symbolischer Ordnungen sowie deren Folgen, sofern sie in der Prozessform des „Diskursiven“ bzw. der Diskurse in Erscheinung treten. Gesetze, Statistiken, Klassifikationen, Techniken, Dinge oder Praktiken beispielsweise sind in diesem

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217

Sinne Effekte von Diskursen und ‚Voraus‘-Setzungen neuer Diskurse. Der Wissenssoziologischen Diskursanalyse geht es dann darum, Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d. h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren. Das schließt unterschiedliche Dimensionen der Rekonstruktion ein: diejenige der Bedeutungsproduktion ebenso wie diejenige von Handlungspraktiken, institutionellen/strukturellen und materiellen Kontexten sowie gesellschaftlichen Folgen. Akteure formulieren die kommunizierten Beiträge, aus denen sich Diskurse aufbauen; sie orientieren sich dabei in ihren (diskursiven) Praktiken an den verfügbaren Ressourcen sowie den Regeln der jeweiligen Diskursfelder. Der Begriff des Dispositivs bezeichnet sowohl Infrastrukturen der Diskursproduktion wie auch die Infrastrukturen der diskursiven Weltintervention. Die Anschlüsse an die interpretativen und sozialkonstruktivistischen Traditionen leisten zum einen eine grundlagentheoretische Unterfütterung des Zeichengebrauchs, der dem Prozessieren von Diskursen zugrunde liegt und durch Letztere strukturiert wird. Sie erlauben zudem, die Rolle sozialer Akteure differenzierter in den Blick zu nehmen als das Foucault’sche Vokabular. Schließlich schafft sie Übergänge zu methodischen Vorgehensweisen der interpretativen empirischen Sozialforschung (Keller 2010, Kap. 3 ff.). Als Daten werden ‚natürliche‘ Dokumente genutzt (Medienberichte, Expertisen, Flugblätter, Positionspapiere u. a mehr), aber auch Interviews. Die Zusammenstellung von Datensammlungen erfolgt entlang von theoriegeleiteten Auswahlkriterien (etwa wichtige Ereignisse, sukzessive Verfeinerungen von Analyseergebnissen im Sinne des Theoretical Sampling). Daten dienen dabei sowohl als Informationsquellen zur kartografischen Erschließung von Themen und Diskursbeteiligungen (vgl. dazu auch die Mapping-Strategien von Clarke 2012), wie auch zur Feinanalyse strukturierender Elemente der Aussageproduktion (Keller und Truschkat 2014). Als wissensanalytische Konzepte zur Rekonstruktion von Aussagen werden beispielsweise die Begriffe des Deutungsmusters, der Phänomenstrukturen, der narrativen Strukturen, der Klassifikationen und des Argumentativs (Schünemann 2014) eingesetzt. Sofern Dispositivstrukturen und deren Effekte in den Blick genommen werden, schlägt die WDA Strategien einer spezifisch auf Diskurse hin orientierten Diskursethnografie vor, die zunehmende Ausarbeitungen erfährt. Mittlerweile sind im deutschen Sprachraum (und darüber hinaus) zahlreiche Studien entstanden, welche die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Ausgangsperspektive nutzen (vgl. Keller und Truschkat 2012; Bosancic und Keller 2016). Dazu zählen u. a. Untersuchungen von Umweltdiskursen und Prozessen der gesellschaftlichen Konstruktion des Wertvollen (Keller 2009), von soziologischen Wissenskulturen (Keller und Poferl 2016), Analysen der Konstruktion von Stadtimages (Christmann 2004), der medialen Konstruktion des Satanismus (Schmied-Knittel 2008), der US-amerikanischen Selbstvergewisserung über Familienmodelle in den Diskursen über gleichgeschlechtliche Partnerschaften (Zimmermann 2010), der Identitätsbildungen chinesischer MigrantInnencommunities in Rumänien (Wundrak 2010), den Identitätsbildungen kreativer Milieus (Renoult 2015), der zivilgesell-

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schaftlichen Öffentlichkeit in Polen (Alber 2016), der Auseinandersetzungen über öffentlichen Rassismus (Schwarz 2016) und Mitgliedschaftsdebatten in der Schweiz (Elliker 2013), der Subjektivierung von ungelernten Arbeitern (Bosancic 2014), der Entwicklungen des Zusammenhangs von Ungleichheit und Gesundheitssystem (Kessler 2017) oder der medizinischen Bestimmung von Lebensqualität (Schübel 2016). Die Arbeiten verfolgen, ausgehend von der WDA, jeweils spezifische Fragestellungen und daran anschließende konzeptuelle Konkretisierungen.

3

Methoden der Diskursforschung

Wie vorangehend deutlich wurde, sind die Konzeptionen des Forschungsobjektes ‚Diskurs‘ in den vorgestellten Ansätzen mehr oder weniger unterschiedlich (vgl. Keller 2010, 2013; Keller et al. 2011a, b, 2015; Angermüller et al. 2014). Allen gemeinsam ist jedoch die Frage nach den Dimensionen und Prozessen strukturierter und mitunter konflikthafter kollektiver Phänomene der gesellschaftlichen Deutungsproduktion. Im Rekurs auf die eingangs vorgestellten Überlegungen zum Zusammenhang von Kultur, Bedeutung, Diskurs und Wissen, lassen sie sich mithin als Beitrag zu einer soziologischen Kulturforschung begreifen, die sich für die Stabilisierung und Transformation symbolischer Ordnungen und daran gekoppelter institutioneller sowie praktischer Formationen interessiert. In ihrem konkreten Forschungsalltag folgen Diskursforschungen den sozialwissenschaftlichen Methoden der Sammlung und Analyse von Daten und greifen dabei in Teilen auf quantifizierende Strategien zurück (Wortzählung, Wortkorrelationen, Inhaltsanalyse), überwiegend jedoch auf analytisch-interpretative Vorgehensweisen, die sich auf vertiefte Einzeltextanalyse richten. Trotz mitunter formulierter genereller Vorbehalte gegenüber einer methodologischen Reflexion der Vorgehensweisen und wenig nützlichen Abgrenzungen zwischen rekonstruktiven und dekonstruktiven Ansätzen spielen methodische Orientierungen an der rekonstruktiven Hermeneutik, an semiologisch informierten Vorschlägen zur Rekonstruktion von Signifikantenverkettungen sowie ganz allgemein an der Grounded Theory eine wichtige Rolle, Letzteres sowohl im Hinblick auf das Datensampling entlang ausgewiesener Kriterien wie auch im Hinblick auf Kategorisierungen analysierter Datenelemente und die Entwicklung übergreifender analytischer Einheiten. Sequenzanalytische Vorgehensweisen werden genutzt, um einzelne Textpassagen zu bearbeiten. Datensammlungen erfolgen über Webcrawling (für digital verfügbare Formate) bzw. über digitalisierte Datensammlungen (z. B. Medienartikel) und „händisches“ Zusammentragen, beispielsweise im Rahmen von Archivarbeit. Die für eine Analyse als notwendig bestimmten Datenmengen richten sich stark nach den jeweiligen Fragestellungen. Als Desiderata können schließlich nach wie vor die nur geringe Beschäftigung mit audiovisuellen Formaten, insbesondere mit der Frage der Analyse von Visualisierungen unterschiedlichster Art, das geringe Interesse an Bilanzierungen des bestehenden Diskurswissens, die vergleichsweise wenigen Untersuchungen zu transnationalen Diskursprozessen sowie eine eher geringe Anschlussfreudigkeit an soziologischtheoretische Debatten oder allgemeinsoziologische sowie gesellschaftsdiagnostische Fragestellungen festgehalten werden.

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Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie Gerlinde Malli

„Eine gute Soziologin muss mit erhöhter Devianzbereitschaft an ihrer eigenen Marginalität arbeiten. Sie muss sich mit empirischen und begrifflichen Mitteln eine Position erarbeiten, die es ihr ermöglicht, über das Selbstverständlichste zu staunen. Erst wenn sie hinreichend weltfremd ist, ist die Soziologie, so meine ich, keine überflüssige Wissenschaft“ (Hirschauer 2010, S. 224).

Inhalt 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zu den methodischen Besonderheiten ethnografischer Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Ursprünge der Ethnografie: Fremdes verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Soziologische Zugänge zur Ethnografie: Vertrautes befremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224 227 231 234 237 238

Zusammenfassung

Nach einer kurzen Einführung in die disziplinären, insbesondere soziologischen und ethnologischen, Hintergründe ethnografischer Ansätze, einem Überblick über die gegenwärtige Fachliteratur zur Ethnografie in der deutschsprachigen Soziologie sowie einer Darstellung des kultursoziologischen Verständnisses der Ethnografie, bietet der Beitrag eine Zusammenschau der wesentlichen methodischen Merkmale der Ethnografie, die dem soziologischen und ethnologischen Zugang gemeinsam sind.

G. Malli (*) Styria vitalis, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_15

223

224

G. Malli

Anschließend werden die disziplinären Spezifika in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt: Das Erkenntnisinteresse der ethnologischen Ethnografie geht auf die Ursprünge der modernen Feldforschung zurück und besteht im Wesentlichen in der methodischen Anstrengung, Fremdes zu verstehen. Für die Soziologie wurde mit der Chicago School die Feststellung von Fremdheit in der eigenen Gesellschaft zum markanten Bezugspunkt ethnografischer Ansätze. Im Anschluss an die Soziologie des Alltags von Alfred Schütz ist es insbesondere die Ethnomethodologie, die eine Reihe an Techniken der Verfremdung und Distanzierung entwickelte, die für eine ethnografische Erschließung sozialer Mikrokosmen genutzt werden kann. Schlüsselwörter

Soziologische Ethnografie · Ethnologische Ethnografie · Praxistheorie · Practice turn

1

Einführung

Die gemeinhin als cultural turn bezeichnete kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, hat in den letzten Jahren ihre Spuren auch in der sozialwissenschaftlichen Methodologie hinterlassen: Während die Dominanz quantitativer Verfahren aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert wurde, hat sich zugleich ein breites, heterogenes Feld qualitativer Methoden entwickelt (Reckwitz 2006, S. 25). Dabei hat auch die Ethnografie als Teil des methodischen Repertoires sozialwissenschaftlicher Forschung stärkere Beachtung erfahren. Ethnografische Verfahren werden in unterschiedlichen Disziplinen wie auch in inter- bzw. transdisziplinären Kontexten (z. B. Gender Studies) angewendet. Im vorliegenden Beitrag werde ich mich mit ethnografischen Ansätzen insbesondere aus der Soziologie auseinandersetzen. Eine eigenständige „soziologische Ethnographie“ (Knoblauch 2001) hat sich im Department of Sociology der Universität Chicago der 1920er-Jahre entwickelt (so auch Gobo 2008). Nachdem die Ursprünge der ethnografischen Methode aber etwas früher anzusetzen sind, lohnt es sich, auch einen Blick auf die Ethnologie an der Wende zum 20. Jahrhundert zu werfen. Erst ein Vergleich der methodischen Zugänge aus beiden Disziplinen macht die Ähnlichkeiten, aber auch die jeweiligen Nuancierungen und Akzentsetzungen sichtbar, die nicht zuletzt auf den disziplinären Status bzw. auf disziplininterne Problemlagen zurückzuführen sind1:

1

Eine polarisierende Gegenüberstellung soll dabei allerdings vermieden werden. Ein disziplinärer Abgleich der methodischen Zugänge in Soziologie und Ethnologie wird vor dem Hintergrund zunehmender postdisziplinärer Verhältnisse erschwert, da sich die Debatten und Schulen zu sehr vermischen, um sie eindeutig disziplinär zuordnen zu können. Ferner muss beachtet werden, dass die ethnologische Ethnografie seit den 1970er-Jahren dabei ist, ihre eigene Kolonialgeschichte und die Probleme des damit verbundenen Ethnozentrismus und Othering (Spivak 1987, 1988) zu reflektieren. Dabei hat sie sich stärker der Kultur ihrer eigenen westlichen Herkunftsgesellschaft zugewendet und sich damit tendenziell der soziologischen Ethnografie angenähert (Knoblauch 2001; Hirschauer 2010).

Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie

225

Innerhalb der ethnologischen Fächer2 steht die Ethnografie außer Konkurrenz – sie ist die Methode, die nicht weiter legitimiert werden muss: Sie braucht sich nicht gegenüber anderen Forschungsmethoden abzugrenzen. Die Ethnografie innerhalb der Soziologie muss sich dagegen stärker gegen Vorbehalte theoretischer und methodischer Art (z. B. Theorielosigkeit oder fehlende methodische Strenge) behaupten (Scheffer und Meyer 2011). Die methodischen wie theoretischen Anstrengungen fallen in der Soziologie daher wesentlich intensiver aus als in den ethnologischen Fächern.

1.1

Zum Stand der Forschung: Ethnografie in der gegenwärtigen deutschsprachigen Soziologie

Während sich die ethnografische Forschung in den USA zu einer zentralen sozialwissenschaftlichen Methode entwickelte und als kontinuierlicher Part empirischer Forschung bis heute erhalten blieb,3 wurde die Ethnografie in der deutschsprachigen Soziologie aufgrund der Dominanz von phänomenologisch geprägten Ansätzen (Knoblauch 2001, S. 124) und wegen des „scheinbar ungesicherten methodischen Status“ (Lüders 2010, S. 388) lediglich vereinzelt betrieben. Erst in den letzten Jahren lässt sich ein Anwachsen von ethnografischen Studien, Lehrbüchern und konzeptionellen Arbeiten zur ethnografischen Methode feststellen (Lüders 2010; Cloos und Thole 2006; Knoblauch 2001). Thomas Scheffer und Christian Meyer führen diesen Trend auch auf die zunehmende Bedeutung ethnografischer Forschung für außeruniversitäre Felder, etwa für die Software-Entwicklung, Stadtentwicklung, Evaluation oder Marktforschung zurück (Scheffer und Meyer 2011). Dennoch, so halten einige Autoren (z. B. Scheffer und Meyer 2011; Lüders 2010; Knoblauch 2001) fest, sind ethnografische Verfahren längst nicht selbstverständlich bzw. erscheint die „soziologische Auseinandersetzung mit ethnographischen Methoden im deutschsprachigen Raum [nach wie vor] etwas befremdlich“ (Knoblauch 2001, S. 123). Die Anzahl an deutschsprachiger Fachliteratur zur soziologischen Ethnografie bleibt also überschaubar: Ohne den Anspruch auf eine vollständige Auflistung zu erheben, möchte ich für die 1990er-Jahre vor allem die von Anne Honer 1993 publizierte Dissertation „Lebensweltliche Ethnographie“ erwähnen, ein Titel, der in leichter Modifikation als lebensweltanalytische Ethnographie zu einem vielrezipierten Ansatz ethnografischer Forschung in der Soziologie werden sollte. Stefan Hirschauer und Klaus Amann (1997) haben neben einer konzeptionellen Einführung

2

Damit sind auch die unterschiedlich bezeichneten Nachfolgedisziplinen der Volkskunde (Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie, empirische Kulturwissenschaften etc.) gemeint. 3 Zwar unterlag die Bedeutung der Ethnografie für die US-amerikanische Soziologie durch die zeitweise Dominanz anderer methodischer Verfahren Schwankungen, die Kontinuität, mit der sie betrieben wurde, findet aber beispielsweise im „Journal for Contemporary Ethnography“ oder im Journal „Symbolic Interaction“ ihren Ausdruck (auch Knoblauch 2001; Lüders 2010).

226

G. Malli

in die Methode Studien und thematische Felder gesammelt, die das Spektrum soziologischer Ethnografien veranschaulichen. Ferner haben Eberhard Berg und Martin Fuchs im Jahr 1993 das Buch „Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation“ veröffentlicht, das die theoretischen Debatten zur englischsprachigen Ethnografie in deutscher Übersetzung verfügbar macht. Ende der 1990er-Jahre wurden einführende Sammelbände zu den Cultural Studies herausgegeben (Bromley et al. 1999; Engelmann 1999), die sowohl theoretische Perspektiven wie auch empirische Forschungsfelder beinhalten. Unter den Publikationen der 2000er-Jahre möchte ich vor allem das von Michael Dwelling und Wolfgang Prus 2012 herausgebrachte Lehrbuch „Einführung in die interaktionistische Ethnografie“ sowie das von Georg Breidenstein, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Boris Nieswand 2013 veröffentlichte Lehrbuch „Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung“ hervorheben. Schließlich verweise ich auf den im Jahr 2015 von Ronald Hitzler und Miriam Gothe herausgegebenen Sammelband „Ethnografische Erkundungen, Erlebniswelten“, der neben methodischen Grundlagentexten auch „ethnografie-affine“ (Hitzler und Gothe 2015, S. 13) Aufsätze aus aktuell laufenden Forschungsprojekten versammelt und damit einen guten Überblick über die gegenwärtig im deutschsprachigen Raum ethnografisch bearbeiteten Forschungsfelder bietet.

1.2

Die kultursoziologische Perspektive der Ethnografie

Die soziologische Ethnografie kann als Ausdruck des practice turn4 gelesen werden (Scheffer und Meyer 2011), ihre kultursoziologische Perspektive ist daher in erster Linie ins Feld der Praxistheorien einzuordnen oder gewissermaßen umgekehrt ausgedrückt: „Praxistheorien leiten einen quasi-ethnologischen Blick auf die Mikrologik des Sozialen an. Die Ethnographie und die ‚dichte Beschreibung‘ stellen für sie nicht zufällig eine bevorzugte Forschungsmethode für die Rekonstruktion von Praktiken dar“ (Reckwitz 2008, S. 130). Praxistheorien (so etwa Pierre Bourdieus Praxeologie 1979), Harold Garfinkels Ethnomethodologie (1984c [1967]) oder das Forschungsprogramm der Cultural Studies (zum Überblick: During 1993) zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sie Kultur als ein praktisches Wissen, Können und Verstehen begreifen und von einer „Gelebtheit kultureller Ordnungen“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 21 [Hervorhebungen im Original]) ausgehen. Die soziale Welt setzt sich nach dieser Perspektive aus konkret benennbaren, miteinander verwobenen sozialen Praktiken zusammen: „Praktiken des Regierens, Praktiken des Organisierens, Praktiken der Partnerschaft, Praktiken der Verhandlung, Praktiken des Selbst etc.“ (Reckwitz 2008, S. 111–112).

4

Der von Theodore Schatzki, Karin Knorr Cetina und Eike von Savigny 2001 herausgegebene Band „The Practice Turn in Contemporary Theory“ gilt als erste Veröffentlichung, die Texte zur Bedeutung der Praxistheorien für die Erforschung sozialer Gesellschaftsverhältnisse versammelt.

Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie

227

Der für Praxistheorien charakteristische Wissensbegriff erweist sich für ethnografische Ansätze in der Soziologie insofern als fruchtbar, als er den Körper als Wissensträger hervorhebt; Wissen wird demnach konzeptualisiert als „Alltagswissen“, als „implizites Wissen“ oder auch als „körperliches Können“ (Hirschauer 2008, S. 977). Insbesondere die von Praxistheorien artikulierte Unterscheidung zwischen explizitem Wissen, das sprachlich vermittelt werden kann, und inkorporiertem Wissen, das „zu einem beträchtlichen Teil stumm“ ist (Hirschauer 2008, S. 977), kann für die ethnografische Forschung, die die Beobachtung zur zentralen Erkenntnisstrategie erhebt, als konstitutiv angesehen werden (Kalthoff 2003, S. 74).5 Für die ethnografische Praxis bedeutet dies, dass die Ethnografin während des Handlungsvollzugs6 der Beobachteten dabei ist, oder anders ausgedrückt: Erst die Kopräsenz (Amann und Hirschauer 1997) als zeitliche und räumliche Synchronisierung der Performance lokaler Praktiken und der Beobachtung macht es der Ethnografin möglich, das nicht erzählbare praktische Wissen zu explizieren (Kalthoff 2003). Die mit seinem „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (Bourdieu 1979) verbundene Kritik Pierre Bourdieus an der starken Stellung der Sprache, der Schrift bzw. des Diskurses in der soziologischen Theorie lässt sich nach Stefan Hirschauer auch methodisch wenden: Nämlich als Kritik an der „notorische[n] Überschätzung des Interviews [. . .]“ (2008, S. 976). Soziolog_innen erscheinen dann als „talking heads talking about talking heads“ (Hirschauer 2008, S. 976).

2

Zu den methodischen Besonderheiten ethnografischer Ansätze

Gerade für die deutschsprachige Soziologie auffällig ist, dass die Begriffe Ethnografie und Beobachtung nicht selten synonym verwendet werden bzw. in Lehrbüchern zur qualitativen Sozialforschung als Paar auftreten (z. B. in Flick 2010 oder Lüders 2010). Hier wird argumentiert, dass die „teilnehmende Beobachtung“ in den letzten Jahren durch die Ethnografie ersetzt wurde (Flick 2010, S. 281) oder etwas präziser, dass „teilnehmende Beobachtung in einem weiter gefassten Sinn als eine flexible, methodenplurale kontextbezogene Strategie zu verstehen [sei], die ganz unterschiedliche Verfahren [beinhaltet]“ (Lüders 2010, S. 389 [Hervorhebung im Original]). Für dieses Verständnis habe sich, so Lüders weiter,

5

Zahlreiche (ethnografische) Studien haben nachgewiesen, dass das, was Menschen sagen, sich von dem, was Menschen tun, oftmals unterscheidet (z. B. Deutscher 1973), dass die Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten erheblich ausfallen kann (z. B. Kaufmann 1997), dass „die Ideen und die Gesten“ auseinanderklaffen können (Wetterer 2002, S. 299). 6 Von Harold Garfinkel wird die soziale Wirklichkeit als Vollzugswirklichkeit, als ein „ongoing accomplishment of the concerted activities of daily life“ bezeichnet (Garfinkel 1984c [1967], S. vii).

228

G. Malli

mittlerweile der Terminus Ethnografie etabliert (Lüders 2010, S. 389). In Abgrenzung zu den USA, in denen sich der Begriff ethnography für die qualitative Forschung insgesamt durchgesetzt hat, plädieren deutsche Autoren dafür, dass als Ethnografie etikettiert werden sollte, was auch Ethnografie beinhaltet (z. B. Lüders 2010; Hitzler und Gothe 2015). Was aber sind nun die methodischen Spezifika, die diesen Ansatz von anderen qualitativen Verfahren unterscheidbar machen?

2.1

The native’s point of view

Christian Lüders schlägt vor, Ethnografien als „Beschreibungen von Ethnien oder [. . .] als Beschreibungen von kleinen Lebenswelten aufzufassen“ (Lüders 2010, S. 389). Angedeutet ist damit, dass die Kultur und die jeweiligen Wissensformen einer Gesellschaft in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Ronald Hitzler und Miriam Gothe fügen dieser ersten Annäherung hinzu, dass Ethnografien nicht nur durch die Beschreibung, sondern auch durch die Erkundung und das Verstehen „des Eigen-Sinns sozialer Lebenswelten“ (Hitzler und Gothe 2015, S. 9) gekennzeichnet sind. Zentral für diese Lesart erscheint hier neben dem Begriff der Lebenswelt, der in der Tradition Alfred Schützʼ verwendet wird, und dem Begriff des „Verstehens“ im Sinne einer verstehenden Soziologie nach Max Weber auch der Begriff des „Eigen-Sinns“ zu sein: Er führt auf die Spur eines Verständnisses von Gesellschaft als eine durch handelnde Subjekte konstruierte Wirklichkeit, die nur erfasst werden kann, wenn der jeweilige gesellschaftliche Referenzrahmen von den Sinnsetzungsprozessen der Handelnden her nachgezeichnet wird. Eine lebensweltanalytische Ethnografie, wie sie von Anne Honer entworfen wurde (1993), nimmt die Ethnograf_innen in die Pflicht, die Perspektive der Anderen einzunehmen, um – annäherungsweise – aus deren Sicht die Welt zu verstehen: „Der Anspruch zu verstehen, erfordert vom Sozialforscher zwingend, sich die Perspektive dessen, den zu verstehen er trachtet, mindestens typisch anzueignen“ (Honer 2011, S. 30). Damit wird eine Tradition aufgegriffen, die bereits die klassische Ethnologie als wesentliches Charakteristikum bzw. als Ziel der ethnografischen Erforschung außereuropäischer Kulturen definierte: „The final goal [. . .] is to grasp the native’s point of view, his relation to life, to realise his vision of his world“ (Malinowski 2014 [1922], S. 25). Auch für den US-amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz,7 der sich in den 1970er-Jahren vor allem durch das ethnografische Forschungsprogramm der Dichten Beschreibung bekannt machte, war es nachhaltiges Anliegen, die Möglichkeiten der Rekonstruktion des native’s point of view (1973, 1983) auszuloten.

7

Mit den Impulsen und Grenzen der symbolischen Ethnologie von Clifford Geertz für die Kulturwissenschaften hat sich z. B. Kerstin Kumoll (2006) auseinandergesetzt.

Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie

2.2

229

Beobachtung als Erkenntnisstrategie

Mit welchen Methoden lässt sich für eine (soziologische und ethnologische) Ethnografie die Welt nun so rekonstruieren, wie die Menschen sie erfahren? Wenngleich in der (Lehrbuch-)Literatur immer wieder auf die Offenheit unterschiedlichen Forschungsstrategien gegenüber, die prinzipiell für die qualitative Forschung charakteristische Situations- und Gegenstandsangemessenheit der methodischen Zugänge und die Vielfalt methodischer Mittel verwiesen wird (z. B. Lüders 2010), die Ethnograf_innen nutzen, um the native’s point of view gewissermaßen mit allen Sinnen erfassen zu können, wird zugleich auch deutlich, dass die ausschlaggebende Erkenntnisstrategie die Beobachtung ist: „In ethnography the pivotal cognitive mode is ‚observation‘. Of course, it is also essential to listen to the conversations of the actors ‚on stage‘, read the documents produced by organizations under study, ask people questions and so on. Yet what most distinguishes ethnography from other methodologies is the role of ‚protagonist‘ assigned to observation.“ (Gobo 2008, S. 5)

Da es der Ethnografie daran liegt, lokal situierte Praktiken, die in verschiedene Wissensformen eingebettet sind, zu analysieren, stellt die Beobachtung ein probates Mittel für das ethnografische Forschungsinteresse dar. Erst die andauernde Präsenz vor Ort gewährt der Ethnografin, so die Annahme, einen direkten Einblick in die Handlungsvollzüge und in die verschiedenen Wissensformen der Akteure im Feld (z. B. Kalthoff 2003). Wenn die Ethnografie daran interessiert ist, zu verstehen, wie Wirklichkeiten praktisch erzeugt werden, reichen die Aussagen der Interviewpartner_innen nicht aus bzw. stellen keinen angemessenen Ersatz für die Beobachtung der sozialen Praktiken der Akteure des interessierenden Feldes dar (Heritage 1984, S. 236).

2.3

Die Involviertheit der Ethnografin

Die in der Ethnografie angewendete Beobachtung wird gelegentlich auch als Feldforschung bezeichnet und unterscheidet sich von anderen, weit formalisierteren und kühleren Beobachtungsformen zunächst darin, dass die Ethnografin tatsächlich am (Alltags-)Leben der Akteure ihres jeweiligen Feldes teilhat, eine (vertrauensvolle) Beziehung zu ihnen aufbaut und im Laufe meist längerer Aufenthalte vor Ort die kulturellen Codes zu entschlüsseln lernt, um die Bedeutung der beobachteten sozialen Praktiken verstehen zu können. Den Feldforschungsaufenthalt, der sich methodisch v. a. durch Fragen nach der Beobachterrolle der Forscherin, nach der Balance zwischen Nähe und Distanz oder der Beziehungen zu den Akteuren im Feld auszeichnet (z. B. Hirschauer und Amann 1997; Lüders 2010; Flick 2010), rahmen Feldeinstieg am Beginn und Feldausstieg am Ende der empirischen Erhebung. Im Zusammenhang mit der Bewältigung des Zugangs zum Feld, der die Forschungssituation entscheidend prägen kann, wird häufig auf die Wichtigkeit eines Gatekeepers verwiesen. Ein

230

G. Malli

bekanntes und oft zitiertes Beispiel, wie der Feldzugang gut gelingen kann, ist der Gatekeeper Doc, der den US-amerikanischen Soziologen William Foote Whyte in das italienische Einwandererviertel des Bostoner Stadtteils North End, das er in seiner Studie „Street Corner Society“ (1993 [1943]) beschreibt, einführte und der ihm auch die methodische Empfehlung des hanging around8 (Malli 2015) gab: „The next day Doc explained the lesson of the previous evening. ,Go easy on the „who“, „what“, „why“, „when“, „where“ stuff, Bill. You ask those questions, and people will calm up on you. If people accept you, you can just hang around, and you’ll learn the answers in the long run without even having to ask questions‘.“ (Whyte 1993 [1943], S. 303)

Dass auch der Ausstieg aus dem Feld methodischer Überlegungen bedarf, wird mit der Formel des sogenannten Going Native auf den Punkt gebracht: Bezeichnet wird damit gemeinhin der Verlust der kritischen Distanz bzw. eine Überidentifikation der Forscher_innen mit den beobachteten Akteuren, die zum Aufgeben des wissenschaftsbezogenen Relevanzsystems führen kann. Das wohl prominenteste historische Beispiel für ein Going Native stellt die Erfahrung des amerikanischen Ethnologen Frank Hamilton Cushing (1857–1900) dar, der im Jahr 1879 an einer Exkursion des im selben Jahr gegründeten Bureaus of American Ethnology teilnahm, die in den Südwesten der USA zu den Pueblo, Zuni und Hopi führte. Während die anderen Teilnehmer_innen die Exkursion nach einigen Monaten beendeten, blieb Cushing fünfeinhalb Jahre lang bei den Zuni (DeWalt und DeWalt 2010, S. 6–7). Dass eine mit „Hingabe an die Erfordernisse des Feldes“ (Wacquant 2010, S. 17) betriebene Feldforschung das Risiko einer ausbleibenden oder halbherzigen Rückkehr aus dem Feld auch in der eigenen Gesellschaft in sich bergen kann, beschreibt der französische Soziologe Loïc Wacquant im Prolog seiner ethnografischen Studie über das „Boxen im amerikanischen Ghetto“ (2010): „Es kam nicht nur für mich selbst, sondern auch für mein Umfeld überraschend, dass mich diese Tätigkeit immer mehr einnahm und ich schließlich jeden Nachmittag in der Boxhalle von Woodlawn verbrachte, um mit den Profis des Clubs zu boxen und mich auf meinen ersten öffentlichen Kampf anlässlich der Chicago Golden Gloves vorzubereiten. Meine Eindrücke waren so überwältigend, dass ich zeitweilig sogar daran dachte, meine Universitätslaufbahn zu unterbrechen [. . .].“ (Wacquant 2010, S. 9–10)

Wie Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997, S. 17) argumentieren, sind mit der sozialen Integration der Forscher_innen in das Feld aber auch Erkenntnischancen verbunden, die man bei der Vermeidung des Risikos eines Going Native ausschlägt. So schildert etwa Wacquant, dass ihm erst die Aufgabe des Blicks eines distanzierten Beobachters und die Teilnahme (hier wohl auch im Sinne einer starken körperlichen Erfahrung) am Boxsport dessen sozialen Sinn verstehbar gemacht hat (Wacquant 8

Die von Ethnograf_innen gerne verwendete, aber selten zitierte Formel des nosing around für das neugierige, offene, unsystematische Herumschnüffeln bzw. Beobachten im Feld geht auf den US-amerikanischen Soziologen und Kriminologen Sheldon Messinger (1925–2002) zurück (Lofland 1980).

Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie

231

2010, S. 12). Die lebensweltanalytische Ethnografie führte für jene Form der Feldforschung, die eine existenzielle, bis in die sprachlichen und habituellen Besonderheiten hineingehende Involviertheit der Forscherin in das Feld fordert, treffenderweise als beobachtende Teilnahme (z. B. Honer 2011; Reichertz 2012; Hitzler und Gothe 2015).

3

Die Ursprünge der Ethnografie: Fremdes verstehen

Verortet man die Ursprünge der Ethnografie in der Ethnologie, kann sie als eine Methode mit einer mehr als 100-jährigen Geschichte angesehen werden.9 Die Verfahren, mit denen erste Ethnologen fremde Kulturen studierten, erschöpften sich zunächst in einer armchair anthropology10 und in der Analyse von Informationen, die sie über Abenteurer, Reisende, Missionare, Kolonialbeamte oder Handelsagenturen bezogen.11 Diesen Informanten wurden objektive Informationen weit mehr zugetraut als den Angehörigen der interessierenden Kulturen selbst (Gobo 2008, S. 8). Erst am Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts bereisten erste Ethnologen überseeische Gebiete, um durch Informationen über soziale und kulturelle Phänomene (Gewohnheiten, Rituale, Zeremonien, Mythen etc.) der für sie fremden Gesellschaften vor Ort einzuholen. Wenngleich in dieser Phase die Berührung zu den indigenen Völkern noch äußerst zaghaft blieb und Distanz die Beobachtungen dominierte, war zumindest der vertraute Schreibtischplatz verlassen. Eine grundlegende Änderung des methodischen Zugangs der ethnologischen Ethnografie markierte die Arbeit des aus Polen stammenden englischen Ethnologen Bronisław Malinowski (1884–1942), der mit seinen mehrjährigen Feldforschungen auf den Trobriand-Inseln den Beginn der modernen ethnologischen Forschung und der Systematisierung der ethnografischen Methode einläutete. In kritischer Auseinandersetzung mit der Tradition des Bücherwissens und des unkritischen Gebrauchs von Sekundärquellen seiner Kollegen wandte er sich dagegen, ethnologische Daten lediglich durch das Befragen von Informant_innen und die Lektüre von Reiseberichten zu gewinnen. In seinem allgemein als Hauptwerk bezeichneten, 1922 erschienenen Buch „Argonauts of the Western Pacific“ beschreibt er einleitend methodologische Prinzipien, die bis heute die Hauptziele der Ethnografie untermauern: Das Eintauchen 9

Stefan Hirschauer benennt den gesellschaftlichen Hintergrund des aufkommenden Interesses der Ethnologie des 18. Jahrhunderts an entlegenen Gesellschaften und der damit verbundenen Probleme des gegenseitigen Verstehens als „die historischen Anfänge der Globalisierung“: „die Begegnung von Kulturen auf dem Erdball, der Kulturkontakt, in dem Sprache, Sitten und Gebräuche zunächst wechselseitig unverständlich sind“ (Hirschauer 2010, S. 212). 10 „James Frazer, der Inhaber des ersten Lehrstuhls für Ethnologie, der sich über Jahrzehnte intensiv mit den damals so genannten ‚primitiven‘ Völkern beschäftigt hatte, soll auf die Frage, ob er denn jemals persönlich Kontakte mit Eingeborenen aufgenommen hätte, geantwortet haben: ‚But Heaven forbid!‘“ (Hirschauer 2010, S. 213). 11 Diese Arbeitsweise trifft auch auf Émile Durkheim und seine Schüler Marcel Mauss, Robert Hertz und Henri Hubert zu (z. B. Mazlish 1989).

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in die fremde Kultur, um die Innenperspektive der Bewohner_innen zu verstehen, ist mit Malinowski zum Leitmotiv des ethnografischen Forschens und ganzen Generationen von Ethnolog_innen zum Ideal der Feldforschung geworden.12 Erst die direkte, teilnehmende Beobachtung sozialer und kultureller Phänomene ermöglicht es, die Gesetze und Logiken aufzudecken, die zum Funktionieren einer Gesellschaft beitragen.13 Nun war es allerdings auch Malinowski selbst, der posthum durch die Veröffentlichung seines Tagebuches „Ein Tagebuch im strikten Sinne des Wortes“ (1985 [1967]) in den 1960er-Jahren zu einer grundlegenden Kritik der ethnografischen Methode beigetragen hat: Malinowskis Tagebuchaufzeichnungen berichten nicht nur über seine Arbeit, sondern zeugen von abschätzigen, zuweilen als sexistisch und rassistisch bezeichneten Bemerkungen über die Menschen, die er beobachtete und mit denen er zusammenlebte, von seinen Ängsten, seinem Zorn auf seine Situation und von seiner Krankheit. Diese Veröffentlichung stürzte die Ethnolog_innen nicht nur in eine Krise, sondern löste einen regelrechten Schock der gesamten Community aus (Hahn 2013, S. 193). Dabei ging es keineswegs nur um ein moralisches Problem, sondern vor allem um eine essentiell erkenntnistheoretische Frage: „Wenn ethnologisches Verstehen nicht, wie man uns glauben machte, einer außerordentlichen Sensibilität, einer beinahe übernatürlichen Fähigkeit entspringt, zu denken, zu fühlen und die Dinge wahrzunehmen wie ein Eingeborener („im strengen Sinne des Wortes“, sollte ich schleunigst hinzufügen), wie ist dann ethnologisches Wissen darüber, wie Eingeborene denken, fühlen und wahrnehmen, überhaupt möglich?“ (Geertz 1987, S. 289–290)

12

Malinowski wird gemeinhin und im Unterschied zum US-amerikanischen Ethnologen Franz Boas (1858–1942) als Vater der modernen Feldforschung bezeichnet, da er sich stärker als Boas für die alltäglichen Lebensvollzüge der von ihm beforschten Gesellschaften interessierte. Aber auch Boas verpflichtete die ethnologischen Ethnograph_innen dazu, sich intensiv mit den Denkweisen der Beforschten auseinanderzusetzen und zu versuchen, die Welt aus deren Sicht zu verstehen. Als Gegner des Evolutionismus beispielsweise des US-amerikanischen Anthropologen Lewis Henry Morgan (1818–1881) erklärte Boas den Kulturrelativismus zur Prämisse ethnologischer Forschung. In dieser Tradition stehen auch die Anthropologinnen Ruth Benedict (1887–1948) und Margaret Mead (1901–1978). In der gegenwärtigen deutschsprachigen soziologischen Ethnografie ist es vor allem die lebensweltanalytische Ethnografie, die sich auf die Boas-Schule beruft (Honer 1993; Hitzler 2000). 13 Unter Einfluss des französischen Soziologen und Ethnologen Émile Durkheim (1858–1917) haben Bronisław Malinowski und der britische Sozialanthropologie Alfred Radcliff-Brown (1881–1955) als frühe Funktionalisten wesentlich zur Entwicklung des Strukturfunktionalismus beigetragen, der die Soziologie der 1940er- und 1950er-Jahre prägte. Aus seinen Untersuchungen spezifischer kultureller Phänomene von Stammesgesellschaften (z. B. Totengedenken, Zauberei, Austausch von Geschenken etc.) leitete er die Annahme ab, dass die immer wiederkehrenden, institutionalisierten Praktiken für das Funktionieren und den Fortbestand der untersuchten Gesellschaften wesentlich sind. Für seine funktionalen Analysen wurden vor allem die Bewahrung der Integration und Solidarität der Gesellschaft zu einem wichtigen Referenzpunkt (z. B. Münch 2004, S. 19).

Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie

3.1

233

Writing Culture: Ethnografisches Schreiben

Die Einsichten in das Tagebuch Malinowskis, in denen er sich als gegensätzlich zu seinem selbst entworfenen Ideal zu erkennen gibt, ließ den propagierten Anspruch, dass Ethnograf_innen zu einer unverfälschten Analyse fremder Kulturen in der Lage seien, verblassen. In der Folge rückte der Widerspruch zwischen dem Charakter der Feldforschungserfahrung als zutiefst persönliche, komplexe und oftmals verunsichernde Begegnung und dem darauf aufbauenden Text als in sich konsistente, distanzierte und endgültige Repräsentation ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Historisch zurückzuführen auf die asymmetrische Beziehung zwischen Kolonialisierern und Kolonialisierten bricht eine Krise der ethnografischen Repräsentation (Berg und Fuchs 1993) aus, die die Aufmerksamkeit für die Übersetzung von ethnografischen Beobachtungen in Text in den Vordergrund rückte. Insbesondere die Writing Culture-Debatte (Clifford und Marcus 1986) sowie die Reflexivitätsdebatte in der Wissenschaftssoziologie (Woolgar 1988) haben verdeutlicht, dass die Darstellungsweisen der Ethnograf_innen eigenkulturellen Konventionen des Erzählens entlehnt sind und die Erzählungen sozial erworbenen Sehgewohnheiten und Vorstellungen folgen. Auch die Einsicht, dass jede wissenschaftliche Repräsentation das Problem der Autorität der Darstellung spiegelt und ethnografische Beschreibungen durch Machtdiskurse zurück auf die Wirklichkeiten der beschriebenen Gesellschaften wirken, verdankt sich der reflexiven Auseinandersetzungen im Zuge der Writing Culture-Debatte (Clifford 1993a). Die Reflexion über die Verwendungsweise rhetorischer Figuren und über Darstellungskonventionen ethnografischer Texte (z. B. Clifford 1993b) führte für eine Reihe von Ethnologen (neben James Clifford etwa auch Vincent Crapanzano, Stephen Tyler oder Kevin Dwyer) zum Entwurf alternativer, reflektierender Darstellungsformen, die sich von herkömmlichen Autoritätsstilen unterscheiden. Damit sind eine experimentelle, kreative Art des Schreibens und fragmentarische, bricolageartige Darstellungsformen angeregt worden, die beispielsweise in einer spielerischen, verfremdenden Praxis der Decodierung und Fragmentierung von Kultur wie sie etwa Clifford mit dem Konzept des „ethnographischen Surrealismus“ (1988) vorgeschlagen hat, ihren Ausdruck finden. Die reflexiven Debatten der späten 1980er- und der 1990er-Jahren führten nicht nur in der Ethnologie, sondern auch in der kulturwissenschaftlich orientierten Soziologie zu polarisierenden Standpunkten, aber auch zu erkenntnistheoretischen Neuorientierungen (Bachmann-Medick 2006, S. 144–183) und Auseinandersetzungen mit den Artikulationsleistungen der Ethnograf_innen. So etwa versucht Stefan Hirschauer mit seiner „Methodologie der Beschreibung“ (Hirschauer 2001) die schreibende Ethnografin gewissermaßen zu rehabilitieren, indem er u. a. deren interpretierende Übersetzungsleistung von Wahrnehmung in Text nicht als Fehlerquelle, durch die Ergebnisse verfälscht oder verzerrt werden, sondern als konstitutiv für den Forschungsprozess begreift.14

14

Zu Fragen der Repräsentation in der soziologischen Ethnografie siehe auch: Kalthoff (2003).

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4

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Soziologische Zugänge zur Ethnografie: Vertrautes befremden

Sowohl die ethnologische wie auch die soziologische Ethnografie folgen einer Forschungshaltung, die davon ausgeht, dass kulturelle Wirklichkeit erst noch zu entdecken ist. Beide Zugänge eignen sich den Erkenntnisstil des Entdeckens des Unbekannten (Amann und Hirschauer 1997) an, der mit der Unterscheidung von Fremdem und Vertrautem hantiert. Während die Feststellung von Fremdheit für die Ethnologie durch die Exotisierung, Überzeichnung und/oder Verklärung außereuropäischer Gesellschaften zu einer krisenhaften Herausforderung geworden ist, wurde sie für die soziologische Ethnografie geradezu zur notwendigen Voraussetzung dafür, die Rolle der professionellen Fremden (Honer 2010) oder die Position und Perspektive des marginal man (Stonequist 1961 [1937]) überhaupt einnehmen zu können.

4.1

Die Chicago School: Erfahrungen kultureller Fremdheit

Die westliche Gesellschaft, die der soziologischen Ethnografie Bezugsrahmen ist, wird als „more varied, subtle, and complicated“ (Park 1967 [1925], S. 3) von den so genannten „primitiven Gesellschaften“ bzw. „Stammeskulturen“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 12) unterschieden und weist eine unüberschaubare Anzahl an kulturellen Feldern, die dem soziologischen Blick nicht selten verborgen bleiben, auf. Der Soziologie ist dabei bekanntlich ein „Mangel an Fremdheit“ (Hirschauer 2010, S. 210–211) eigen. Die Erfahrung kultureller Fremdheit, die für die klassische Ethnologie den ersten Bezugspunkt ihrer Analysen bildete, wurde mit der Chicago School aber auch für die soziologische Ethnografie subkultureller Felder in der eigenen Gesellschaft zum zentralen Erkenntnisstil: „The same patient methods of observation which anthropologists like Boas and Lowie have expended on the study of the life and manners of North American Indian might be even more fruitfully employed in the investigation of the customs, beliefs, social practices, and general concepts of life prevalent in Little Italy or the lower North Side in Chicago, or in recording the more sophisticated folkways of the inhabitants of Greenwich Village and the neighborhood of Washington Square, New York.“ (Park 1967 [1925], S. 3)

Die Chicago School der Stadtforschung15 hat wesentlich dazu beigetragen, die Ethnografie in der Soziologie prominent zu machen und die ethnografische Forschung weiterzuentwickeln. Die Stadt Chicago der damaligen Zeit war durch Migrationsbewegungen enormen urbanen Transformationsprozessen ausgesetzt, die sie 15

Viele Studien der Chicagoer Schule über urbane Milieus gelten heute als Klassiker der ethnografisch motivierten Stadtforschung. Ausführlich mit Geschichte, Vertretern und Arbeiten der ersten und zweiten Schule der Chicagoer Stadtforschung hat sich beispielsweise der deutsche Soziologe und Volkskundler Rolf Lindner (z. B. 2004) auseinandergesetzt.

Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie

235

geradezu zu einem Laboratorium (Park et al. 1976 [1925]) machten, in dem sich vielfältigste gesellschaftliche Prozesse und kulturelle Heterogenität studieren ließen. Es sind der Stil des Entdeckens subkultureller Handlungsfelder in der eigenen Gesellschaft, die methodische Fantasie und die „unbedingte empirische Orientierung“ (Lindner 2004, S. 117) – das Verlassen des Schreibtischplatzes zugunsten des Eintauchens ins wirkliche Leben –, die den Forschungsstil der Chicago School auszeichnen: „[. . .] go get the seat of your pants dirty in real research“ (Nicht veröffentlichte Aussage von Robert Park, dokumentiert z. B. in Bulmer 1984, S. 97 und McKinney 1966, S. 71). Die zahlreichen Studien der Chicago School machen deutlich, dass differenzierte, insbesondere urbane Gesellschaften subkulturelle Felder hervorbringen, die Forschenden nicht selbstverständlich zugänglich sind und Erfahrungen der Fremdheit in der eigenen Gesellschaft potenzieren können. Diese in methodischer Hinsicht als fremde Kulturen zu behandeln, kann nach Stefan Hirschauer als Voraussetzung für eine ethnografische Analyse innerhalb der eigenen Gesellschaft betrachtet werden (Hirschauer 2010, S. 215). Heute sind es nicht mehr vorrangig marginalisierte Subkulturen, die von Ethnograf_innen beforscht werden, sondern vor allem auch Zentren der Vergesellschaftung, wie etwa naturwissenschaftliche Labore (KnorrCetina 2002), Coffee Shops (Yodanis 2006), Börsen und Banken, Software-Firmen oder Schulen.16

4.2

Die Erforschung des Alltäglichen: Brechung der Normalität

Ein Weg, sich mit ethnografischem Erkenntnisinteresse der eigenen Gesellschaft anzunähern, besteht also in der methodischen Finesse, Vertrautes so zu betrachten, als sei es fremd bzw. als selbstverständlich Hingenommenes „zum Objekt einer ebenso empirischen wie theoretischen Neugier zu machen“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 9): „If we want to find something, one way to do is to look for it out in the world in different places. Another way is to change our method of looking at the world in order to discover it.“ (Schwartz und Jacobs 1979, S. 247)

Innerhalb der deutschsprachigen Soziologie setzte sich insbesondere Stefan Hirschauer mit den methodischen und methodologischen Implikationen der „Befremdung der eigenen Kultur“ (Hirschauer und Amann 1997; Hirschauer 1999, 2001, 2010) auseinander. Geeignete methodische Mittel, um das Vertraute auf Distanz zu bringen, sieht er vor allem in der soziologischen Tradition der Beforschung des Alltags(wissens) im Anschluss an den österreichischen Soziologen

16

Einen Überblick über die Vielfalt ethnografischer Felder bietet z. B. das Journal for Contemporary Ethnography.

236

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Alfred Schütz (1899–1959).17 Neben dem theoretischen Konzept der Theatermetapher des kanadischen Soziologen Erving Goffman (1922–1982), das gewissermaßen als begriffsstrategische Verfremdungsanweisung zur analytischen Entschlüsselung des Alltagsverhaltens verstanden werden kann, muss hier vor allem die Bedeutung der vom US-amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel (1917–2011) begründeten Ethnomethodologie für die soziologische Ethnografie hervorgehoben werden, da diese wohl am pointiertesten formuliert, dass soziale Ordnung für Gruppen, Milieus oder die Gesellschaft insgesamt durch routinisierte, in der Regel nicht bewusste Methoden, mit denen Individuen ihren Alltag bewältigen und eine gemeinsame Wirklichkeit sinnhaft konstruieren, zustande kommt (Abels 2007). Der Rückgriff auf das von Garfinkel als „common sense knowledge of social structures“ bezeichnete Alltagswissen versetzt die Gesellschaftsmitglieder in die Lage, sich gegenseitig eine objektive, unhinterfragte soziale Welt anzuzeigen (Garfinkel 1984a [1967], S. 76–103). Das Interesse der Ethnomethodologie besteht nun darin, die impliziten Regeln des Alltagshandelns aufzudecken und damit zu zeigen, wie soziale Interaktionen strukturiert sind. Sie geht davon aus, dass soziale Ordnung und Stabilität von sozialen Akteuren nicht nur in systematischer Weise hervorgebracht wird, sondern dass sie diese Geordnetheit (etwa durch räumliche Verteilungen, zeitliche Strukturierungen oder durch die Anordnung von Körpern) auch performen und damit prinzipiell beobachtbar machen. Die Ethnografie kann hier als Mittel eingesetzt werden, um jenes praktische Wissen, mit dem die Gesellschaftsmitglieder ihren Handlungen kulturelle Bedeutungen geben, zu beschreiben und zu analysieren. Dabei kann sie von den Techniken der Verfremdung und Distanzierung, die von der Ethnomethodologie entwickelt wurden, jedenfalls profitieren.18 Entscheidend ist, dass es ihr gelingt, einen ethnologischen Blick auf das Vertraute und Selbstverständliche zu erarbeiten und durch die Veränderung der Normalperspektive neue Erkenntnisse zu erlangen bzw. durch die Brechung der Normalität zu rekonstruieren, wie soziale Ordnung zustande kommt. Ein Beispiel, wie dies gelingen kann, lieferte Harold Garfinkel mit seiner Studie über die transsexuelle Agnes (1984b [1967], S. 116–185), die er bei ihrem Geschlechtswechsel vom Mann zur Frau beobachtete und begleitete: Er studierte die Herstellung von geschlechtlicher Normalität anhand der Abweichung davon. Garfinkel formulierte in seiner Studie eine Reihe von Annahmen, die tief im Alltagswissen verankert sind und die Wahrnehmung von Geschlechterdifferenzen grundlegend prägen. Die mit ethnografischer Methode zu beobachtenden Praktiken der Her- und Darstellung von Geschlecht werden in seiner

An dieser Stelle sei auf den für die Ethnografie äußerst anregenden Aufsatz „The Stranger“ von Alfred Schütz hingewiesen, in dem er die Perspektive und Erfahrung des Fremden als Chance auf Objektivität und Klarsicht darstellt, weil der Fremde sich dem Zwang und dem Bedürfnis ausgesetzt sieht, sich mühselig und bewusst die Bestandteile der für ihn fremden kulturellen Muster zu erschließen (Schütz 1944). 18 Dazu zählen etwa das Krisenexperiment, das Einnehmen von Außenseiterpositionen, das doing being (Sacks and Harvey 1984) oder die im Anschluss an die Ethnomethodologie entstandene Konversationsanalyse. Ausführlicher dazu: Stefan Hirschauer 2010, S. 218–221. 17

Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie

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Untersuchung als „seen but unnoticed background of everyday life“ (Garfinkel (1984b [1967]), S. 118) aufgedeckt. Die Erkenntnisse seiner Studie führten zur Rezeption der ethnomethodologischen Perspektive auch in den Gender Studies (Kessler und McKenna 1978) und haben wesentlich dazu beigetragen, den Vorgang der Herstellung von Geschlecht – das Doing Gender (West und Zimmerman 1987) als Teil der Alltagsroutine – zum Analysegegenstand insbesondere der sozialkonstruktivistischen Geschlechtersoziologie zu machen.

5

Fazit

Die Ethnografie kann als genuin kultursoziologische Forschungsmethode betrachtet werden, da sie ihr Interesse auf Sinnzusammenhänge, Wissensordnungen und davon ausgehende Praktiken richtet. Sie hat sich in den letzten Jahren auch innerhalb der deutschsprachigen Soziologie als qualitative Forschungsmethode etabliert. Wenngleich eine Reihe von konzeptionellen Arbeiten zur ethnografischen Methode vorliegt, kennzeichnet sie aber keine in sich geschlossene Methodologie, Theorie oder Forschungspraxis. Hinzu kommt, dass ethnografische Verfahren in unterschiedlichen Disziplinen wie auch in postdisziplinären Kontexten eingesetzt werden, die Diskurse unterschiedlicher Schulen und die auf internationaler wie interdisziplinärer Ebene geführten Debatten ineinandergreifen und einander anregen. Von ethnografischen Ansätzen oder ethnografischen Bewegungen (Knoblauch 2001) zu sprechen, liegt daher näher als von einer einzigen, klar definierten bzw. definierbaren Methode. Ebenso uneindeutig verhält es sich mit der Definition des Gegenstands der Ethnografie – der Kultur. Insgesamt gesehen bewegen sich Ethnograf_innen daher auf unsicherem Terrain. Genau darin liegt aber auch ihre Stärke: Ethnografische Ansätze zeichnet (in den meisten Fällen) eine prinzipielle Offenheit und Flexibilität dem Gegenstand und der Forschungssituation gegenüber aus und sie weisen einen Erkenntnisstil auf, der Unbekanntes entdecken, Normalität brechen und Vertrautes befremden will. Mit dem vorliegenden Beitrag wurde der Versuch unternommen, ethnografische Ansätze aus zwei unterschiedlichen disziplinären Perspektiven zu beleuchten. Dabei zeigte sich zunächst, dass sich eine eigenständige soziologische Ethnografie im Chicago der 1920er-Jahre entwickelte. Mit der Chicago School wurde die aus den ethnologischen Disziplinen entlehnte ethnografische Forschungshaltung erstmals auf die eigene, westliche Gesellschaft übertragen. Der Fokus wurde auf die durch Migrationsbewegungen und soziale Heterogenität entstandenen Subkulturen und urbanen Milieus innerhalb der Stadt Chicago gelegt. Wenngleich davon ausgegangen werden muss, dass sich die soziologische Ethnografie von der ethnologischen in einigen Punkten, die einerseits auf disziplinäre Problemlagen, andererseits auf das Verständnis von und den methodischen Umgang mit kultureller Fremdheit zurückzuführen sind, wesentlich unterscheidet, existiert eine Reihe von Merkmalen, die beiden Zugängen gemeinsam ist: Ein Ziel der ethnologischen wie auch der soziologischen Ethnografie besteht im Verstehen bzw. in der Rekonstruktion der Innenperspektive der Akteure (the native’s point of view)

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des beforschten Mikrokosmos. Ebenso bezeichnend für beide disziplinären Zugänge ist es, die Beobachtung als wesentliche Erkenntnisstrategie einzusetzen. Dabei gewinnt die von kultursoziologischen Praxistheorien formulierte Unterscheidung zwischen explizitem, diskursivem Wissen und implizitem, inkorporiertem Wissen an Bedeutung: Die Befragung der sozialen Akteure allein reicht nicht aus, um deren Performance sozialer Praktiken zu verstehen. Erst die Beobachtung, die anhaltende Kopräsenz von Beobachter_in und Geschehen, macht es möglich, das nicht erzählbare Wissen zu erschließen. Schließlich ist es die meist länger andauernde Anwesenheit der Ethnograf_innen im Feld, die beiden Perspektiven gemeinsam ist und notwendigerweise zu einer stärkeren Beteiligung der Forscher_innen am sozialen Geschehen der untersuchten Lebenswelt führt. Dabei markieren Feldeinstieg und Feldausstieg wichtige Referenzpunkte, die nach ihrer methodischen Relevanz für den Forschungsaufenthalt wie auch für die Forschungsergebnisse befragt wurden. Der Blick auf die disziplinären Spezifika der soziologischen und ethnologischen Ethnografie macht vor allem einen Unterschied deutlich: Während sich die ethnologische Ethnografie, ausgelöst durch die Krise der ethnografischen Repräsentation und die Writing Culture-Debatte bis heute mit einem hohen Maß an (Selbst-) Reflexivität dem Problem der hegemonialen, paternalistischen Aneignung des Fremden (auch in der eigenen Gesellschaft) widmet, beschäftigt sich die soziologische Ethnografie mit der Frage nach den Mitteln zur Befremdung des Vertrauten bzw. zur Brechung der Normalität, um soziale Mikrokosmen der eigenen Gesellschaft ethnografisch erschließen zu können. Die ethnologische Ethnografie bewahrte sich aus den Reflexionsdebatten eine grundlegende Skepsis ihrem eigenen Gegenstand und Vorgehen gegenüber – die soziologische Ethnografie arbeitet dagegen gewissermaßen an einer Rehabilitierung insbesondere der schreibenden Ethnografin und setzt methodische wie theoretische Anstrengungen ein, um ethnografischen Ansätzen weiterhin zu einem anerkannten Status innerhalb der qualitativen Sozialforschung zu verhelfen.

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Ethnographische Ansätze in der Kultursoziologie

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Grounded Theory in der Kultursoziologie Günter Mey und Oliver Berli

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die „Entdeckung“ der GTM, ihre Weiterentwicklung und Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Essentials der GTM und ihre Anwendung in kultursoziologischen Studien . . . . . . . . . . . . . . 4 Zum Verhältnis von theoretischem Vorwissen und Theoriegenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244 245 248 254 255 256

Zusammenfassung

Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM) gehört zu den prominenten qualitativen Forschungsstilen innerhalb wie außerhalb der Soziologie. Jedoch weist sie innerhalb der Kultursoziologie keine vergleichbare Verbreitung wie in anderen Teilbereichen der Soziologie auf. Der vorliegende Beitrag umreißt die Entstehungsgeschichte der GTM, führt in ihre Essentials ein und zeigt an exemplarischen Studien mögliche Anwendungen der GTM im Rahmen kultursoziologischer Forschung auf. Abschließend werden Potenziale zur wechselseitigen Weiterentwicklung von GTM und Kultursoziologie diskutiert.

G. Mey (*) Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal, Hansestadt Stendal, Deutschland Institut für Qualitative Forschung, Internationale Akademie Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Berli Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_16

243

244

G. Mey und O. Berli

Schlüsselwörter

Grounded-Theory-Methodologie · Kultursoziologie · Kodieren · Theoretische Sensibilität · Theoretical sampling

1

Einleitung

Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM) gehört aufgrund ihres Versprechens, eine in den Daten verankerte Theorie, eine grounded theory (GT), entwickeln zu helfen, zu den prominentesten qualitativen Forschungsstilen. Hierfür hält sie ein Set an methodischen Vorschlägen bereit, das auf der einen Seite Offenheit – und das meint Kreativität, Interpretativität und Subjektivität – vorsieht und auf der anderen Seite nachvollziehbare – weil systematische, regelgeleitete – Arbeitsschritte beinhaltet. Diese Vorschläge zielen darauf ab, nahe am Material (grounded) zu bleiben, aber zugleich über eine Deskription hinausgehend eine Konzeptualisierung der Daten zu begünstigen. Schließlich zeichnet sich die GTM auch durch Überlegungen für das Design (Fallauswahl/„theoretical sampling“) einer Studie und für verschiedene Materialien („all is data“) aus. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Merkmale wird die GTM weit über den Ursprung in der Soziologie hinaus in Erziehungswissenschaft, Psychologie, Technikwissenschaften und anderen Disziplinen angewandt.1 Gegenüber dieser weiten Verbreitung der GTM findet sich im engeren Feld der Kultursoziologie nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Arbeiten, die sich dezidiert auf diesen Forschungsstil berufen. Unabhängig von der je spezifischen Akzentuierung des Kulturverständnisses und den jeweiligen Forschungsgegenständen bietet sich die GTM aufgrund ihrer methodologischen Prämissen und insbesondere aufgrund des mit ihr verbundenen Versprechens der Theorieentwicklung auch für kultursoziologische Fragestellungen an, denn sie erlaubt konkrete Phänomene daten- und feldnah zu konzeptualisieren, ohne auf kultursoziologische Rahmentheorien zu verzichten. Als spezielle Soziologie, die sich dem Wechselverhältnis von Gesellschaft und Kultur widmet, untersucht die Kultursoziologie Aspekte der Produktion, Distribution und Rezeption von Kultur. Daneben kann Kultur auch als Grundbegriff aus dem Bestand der Allgemeinen Soziologie gesehen werden. Diese Perspektive wurde historisch beispielsweise von Friedrich Tenbruck (1979) vertreten, der zu den zentralen Figuren der Neubegründung der deutschsprachigen

Das grundlegende – 1967 erschienene, erste und einzige gemeinsame methodologische Buch von Anselm Strauss und Barney Glaser „The Discovery of Grounded Theory“ überflügelt laut Iddo Tavory und Stefan Timmermans (2014, S. 10, Fn. 2) etablierte Klassiker der Sozialwissenschaften wie Max Webers „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ oder auch Émile Durkheims „Elementare Formen des religiösen Lebens“. Dass eine häufige Zitation allerdings nichts darüber aussagt, in welcher Art und Weise auf ein wissenschaftliches Werk Bezug genommen (oder ob nur wie im Falle der GTM auf das Label rekurriert) wird (vgl. Suddaby 2006), versteht sich von selbst. 1

Grounded Theory in der Kultursoziologie

245

Kultursoziologie gehört.2 Historisch gesehen zeichnete sich die (deutsche) Kultursoziologie in weiten Teilen durch eine starke Fokussierung auf „gehobene“ Kultur als Forschungsgegenstand aus. Ein wichtiges Moment für die methodische wie theoretische Öffnung der Kultursoziologie stellt die Rezeption der transdisziplinären Cultural Studies (s. bspw. Göttlich et al. 2010) dar. Gerade durch die Öffnung der Kultursoziologie für „profane“ oder „populäre“ Gegenstände und Fragestellungen entsteht aus unserer Sicht auch die Notwendigkeit, das methodische Repertoire zu erweitern und den methodologischen Zuschnitt zu reflektieren. Um den Herausforderungen zu begegnen, die die Empirie für die gegenwärtige Kultursoziologie bereithält, ist eine häufigere Anwendung der GTM aufgrund der mit ihr verbundenen Qualitäten aus unserer Sicht sinnvoll. Die folgenden Ausführungen umfassen vier Schritte: Den Auftakt macht ein historischer Abriss der GTM, ihrer Weiterentwicklungen und aktueller Varianten. Daran anschließend werden „Essentials“ der GTM wie (a) Konzeptbildung statt Deskription, (b) Konzeptbildung durch Memo-writing, (c) Fallvergleich und theoretical sampling sowie (d) die Maxime „All is data“ eingeführt und mit Bezug auf kultursoziologische Studien, die sich explizit auf die GTM beziehen, vorgestellt. Vor diesem Hintergrund sehen wir eine der zentralen Herausforderungen für Arbeiten, die sich an der GTM orientieren: das spannungsreiche Verhältnis von theoretischem Vorwissen und dem Anspruch, Theorie zu generieren.

2

Die „Entdeckung“ der GTM, ihre Weiterentwicklung und Varianten

Seit ihrem Bestehen – also nunmehr fast 50 Jahren – ist die GTM beständig weiterentwickelt worden. Begründet wurde die GTM im Rahmen der gemeinsamen Forschung von Barney Glaser und Anselm Strauss in den frühen 1960er-Jahren. Ihre erste Monografie „Awareness of Dying“ (Glaser und Strauss 1965), die Sterben und Tod im Kontext von Krankenhäusern zum Gegenstand hatte, dokumentiert den Anspruch, eine zugleich empirisch dichte wie auch konzeptuell ausgearbeitete Theorie vorzulegen. Diese Demonstration des Mehrwerts ihres gemeinsam entwickelten Forschungsstils wird begleitet durch dessen methodologische Grundlegung (bspw. Glaser 1965), die ihren ersten Höhepunkt in „The Discovery of Grounded Theory“ (Glaser und Strauss 1967) findet. Nach diesem fulminanten, eher programmatisch gehaltenem Buch – in dem einerseits eine doppelte Abgrenzung gegenüber 2

Die gegenwärtige Bandbreite der (deutschsprachigen) kultursoziologischen Landschaft lässt sich anhand des Sammelbands „Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen“ illustrieren, der von Monika Wohlrab-Sahr 2010 herausgegeben wurde. Hier versammeln sich Beiträge, die sich der Wissenssoziologie, Systemtheorie, Praxistheorie oder auch erklärenden Soziologie zurechnen (lassen). Einblicke in die Entwicklung der deutschen Kultursoziologie gibt u. a. das Sammelwerk „Kultur-Soziologie“ (Moebius und Albrecht 2014). Für einen englischsprachigen Überblick bieten sich das „Handbook of Cultural Sociology“ (Hall et al. 2010) wie auch das „Oxford Handbook of Cultural Sociology“ (Alexander et al. 2012) an.

246

G. Mey und O. Berli

den „grand theories“ und einer hypothesentestenden, deduktiven Forschung vorgenommen und andererseits einer rein illustrativen Verwendung qualitativer Daten eine rigorose Absage erteilt wurde – ist die GTM zunächst von Glaser (1978, 1992) und Strauss (1987; später gemeinsam mit Corbin 1990) elaboriert worden. Diese Fortentwicklungen betreffen insbesondere auswertungspraktische Herangehensweisen. Mit dem Hinzukommen weiterer Akteure – mittlerweile wird von einer „second generation“ (Morse et al. 2008) gesprochen – wurde die GTM auch theoretisch weiter fundiert (siehe Abschn. 2.2).

2.1

Die Rezeption der GTM in Deutschland

Mit Blick auf die Rezeption der GTM in Deutschland fällt auf, dass für lange Zeit beinahe nur die Strauss’sche Variante wahrgenommen wurde bzw. deren Weiterführung durch Strauss und Juliet Corbin.3 Zum einen scheint diese Fokussierung darin begründet zu sein, dass prominente Vertreter der deutschsprachigen Soziologie – insbesondere Hans-Georg Soeffner, Fritz Schütze und später Gerhard Riemann – regen Kontakt zu Strauss hielten und dessen Arbeiten z. T. im Rahmen ihrer eigenen Forschung aufgriffen.4 Zum anderen lagen – anders als die Texte von Glaser – sowohl das Buch von Strauss wie das von Strauss und Corbin recht früh als deutsche Übersetzungen vor. Diese „Zugänglichkeit“ beförderte die zeitweise Dominanz der Strauss’schen Variante in der deutschsprachigen Rezeption mit. Dem gegenüber sind die Arbeiten von Glaser erst im letzten Jahrzehnt wieder wahrgenommen worden. Darunter vor allem seine wiederkehrenden Versuche, die Merkmale einer „klassischen“ GTM zu definieren und gegenüber Ab-Wandlungen zu bewahren (s. bspw. Glaser 2004). Ein anderer Teil der Debatte fokussierte sich vornehmlich auf den Streit zwischen Glaser und Strauss und führte damit Glaser ex negativo ein (dazu und zu weiteren Besonderheiten der Rezeption vgl. Mey und Mruck 2011a, S. 19–22). Im Mittelpunkt stehen hierbei vornehmlich das möglicherweise folgenreichste Selbstmissverständnis der GTM, das vor allem Glaser zugeschrieben wurde: die Idee der Möglichkeit von „tabula rasa“-Erkenntnissen und damit verbunden die Vorstellung, dass Konzepte aus den Daten emergieren (vgl. Kelle 2005). Über diese als Glaser-vs.-Strauss-Debatte verhandelte Kontroverse (Strübing 2014, Kap. 4) ist eine weitergehende Diskussion – insbesondere zwischen Glaser und Charmaz (s. Byrant 2003) – entflammt, in der die Frage nach der Konstruktion von Daten und die Rolle 3

Anzumerken ist hierbei, dass sich dies insbesondere auf die 1996 erschienene Übersetzung der Erstauflage von 1990 beschränkt. Demgegenüber wird die zweite – z. T. geänderte, nur im englischen verfügbare – Auflage von 1998 in geringerem Maße und noch weniger die nach dem Tod von Strauss durch Corbin verantwortete 2008 grundsätzlich neu ausgerichtete, nunmehr aktuell vierte Auflage (Corbin und Strauss 2015) rezipiert. 4 Exemplarisch stehen hierfür die biografieanalytischen Arbeiten von Schütze (1989; Riemann und Schütze 1991), in denen an das Konzept der Verlaufskurve von Glaser und Strauss (1968) angeschlossen wird.

Grounded Theory in der Kultursoziologie

247

der Forschenden ins Zentrum rückte. Diese Diskussion wurde in Deutschland aber nur zum Teil zur Kenntnis genommen.

2.2

Weiterentwicklungen und Varianten der GTM

Besonders deutlich tritt die fortlaufende Weitentwicklung der GTM zutage, wenn man sich mit Fragen der Analyse befasst. Aus der methodologischen Leitidee der Methode des ständigen Vergleichens (Glaser 1965; Glaser und Strauss 1967) entwickeln sich im Zuge der Ausdifferenzierung und Elaborierung der GTM verschiedene Verfahrensvorschläge. Gemeinsam ist der Vielzahl von Varianten von Kodierprozeduren, dass sie darauf abzielen, dass die Forschenden „in Dialog mit den Daten“ (Berg und Milmeister 2008) im Zuge des Kodierens fortlaufend konzeptionell arbeiten. Im Zuge dieser Elaboration wurden für das sogenannte Kodieren spezifische Sets an forschungspragmatischen Vorschlägen unterbreitet, die mit Benennungsvarianten einhergehen: Glaser unterscheidet grundsätzlich zwischen „theoretischem“ (theoretical) und „gegenstandsbezogenem“ Kodieren (substantive coding), wobei Letztgenanntes wiederum sowohl „offen“ als auch „selektiv“ sein kann. Zudem spricht sich er dafür aus, sukzessiv diverse formale (wie Prozess, Interaktion etc.) und inhaltliche Kodierfamilien (wie Kultur, Identität etc.) hinzuzuziehen (s. Glaser 1978, S. 74–82, s. weiterführend Glaser 1998). Strauss (1987, S. 55–81) bzw. Strauss und Corbin (1990, S. 61–142) hingegen unterscheiden drei Modi (offen, axial und selektiv) des Kodierens und schlagen eine integrierte Modellierung der Analyseergebnisse auf der Basis einer handlungstheoretischen Heuristik durch Anwendung des sogenannten Kodierparadigmas vor. Bei dessen Anwendung werden der „Kontext“, „kausale“ und „intervenierende Bedingungen“ sowie „Strategien“ und „Konsequenzen“ auf das untersuchte Phänomen hin angeordnet. Bei Charmaz (2014, S. 109–161) findet sich eine Unterscheidung zwischen „initialer“ (initial) und „fokussierter“ Kodierung (focused coding), wobei bei erster die kleinteiligen Analyseergebnisse dazu dienen, provisorisch verstandene Kodes bzw. Kategorien zu bündeln. Hierin ähnelt ihr Vorschlag dem offenen Kodieren bei Glaser wie auch dem Vorschlag von Strauss und Corbin. Im weiteren Vorgehen des fokussierten Kodierens wird dann die Konzeptbildung durch das Hinzuziehen weiterer Textstellen und weiterer Fälle vorangetrieben. Hier zeigen sich wiederum Ähnlichkeiten mit dem selektiven Kodieren bei Glaser und dem axialen Kodieren bei Strauss – ohne jedoch das Straussʼsche Kodierparadigma zu nutzen. Besonders wichtig ist es Charmaz herauszustellen, dass diese Arbeitsschritte einen Entscheidungsprozess der Auswertenden implizieren und damit die hinzugezogenen Präkonzepte im Zuge dieses Arbeitsschritts aufzudecken sind. An diesem und verwandten Problemen setzen zum Teil die Weiterentwicklungen der „second generation“ an. Insbesondere Kathy Charmazʼ Rekonstruktion einer eher positivistisch ausgerichteten GTM gegenüber einer von ihr vertretenen „konstruktivistischen“ Variante – und ebenso die Ansätze, die auf Subjektivität bzw. SelbstReflexivität der GTM abheben (so Breuer et al. 2011; Mruck und Mey 2007) – machen die Limitation einer „naiven“ Vorstellung von Erkenntnisbildung ohne konkrete

248

G. Mey und O. Berli

Forschende deutlich. Ähnlich wie der Ansatz von Charmaz lässt sich auch die „Situationsanalyse“ von Adele Clarke (2005) als „postmoderne“ Variante einordnen. Sie stellt theoretische Bezüge zur Diskurs- und Akteur-Netzwerk-Theorie her und formuliert ihre Techniken des Mapping unter Rekurs auf das Strauss’sche „Konzept der sozialen Arena“ (1978) aus. Clarkes Weiterentwicklung der Analyseinstrumente der GTM sieht vor allem die Hinzunahme von Mapping-Techniken zu Analysezwecken vor, die neben menschlichen Akteuren auch Dinge sowie Diskurse berücksichtigen (s. dazu Diaz-Bone 2012). Sie unterscheidet zwischen diversen MappingFormaten (Clarke 2005, S. 83–144): Situations-Maps („situational maps“) dienen der Analyse der Relationen zwischen allen situativ relevanten Elementen. Maps von sozialen Welten und Arenen („social world/arena maps“) sowie Positions-Maps („position maps“) kartografieren stärker als die situational maps transsituative Phänomene wie soziale Welten oder Diskurspositionen. Im Vergleich wird deutlich, dass auf der konkret-handwerklichen bzw. arbeitstechnischen Ebene durchaus Ähnlichkeiten bestehen. Es geht allen GTM-Varianten um eine zunächst kleinteilige Analyse von Segmenten (i. S. einer Wort-fürWort- bzw. Zeile-für-Zeile-Analyse), die dann zunehmend ausgedehnt wird und einen größeren und großteiligeren Materialkorpus umfasst, um gehaltvolle Kategorien und später eine grounded theory zu präsentieren. Divergenzen bestehen neben der Terminologie in den jeweiligen Akzentuierungen der Vorgehensweisen, am deutlichsten jedoch in den jeweils der Datenanalyse zugrundeliegenden theoretisch-methodologischen Verständnissen. Schon die beiden Gründungsfiguren zeichnen sich durch unterschiedliche wissenschaftliche Prägungen aus. Während Glaser in seiner formativen Phase an der Columbia School ausgebildet wurde, zeichnen sich bei Strauss – und Corbin – die Einflüsse von Pragmatismus und symbolischem Interaktionismus ab, während Charmaz wie Clarke eher postmoderne bzw. -strukturalistische Positionen vertreten. Neben diesen beiden letztgenannten Entwicklungen aus der Reihe der „second generation“ sind weitere Ansätze zu nennen: Die reflexive GTM (Breuer 2010), Versuche, die GTM mit anderen Ansätzen wie der Objektiven Hermeneutik (Hildenbrand 2004) oder der Narrationsanalyse (Ruppel und Mey 2015; Mey und Ruppel 2016) zu verbinden; bis hin zu ersten Vorschlägen einer Visual Grounded Theory (Konecki 2011; Mey und Dietrich 2016). Die Vielgestaltigkeit und Entwicklungslinien der GTM spiegeln sich auch in den systematisierenden Handbüchern wider (s. Bryant und Charmaz 2007; Mey und Mruck 2007, 2011b; Equit und Hohage 2016).

3

Essentials der GTM und ihre Anwendung in kultursoziologischen Studien

Trotz aller theoretischen Divergenzen und trotz auch z. T. verschiedener Termini für die Kodierprozeduren lassen sich nach wie vor einige übergeordnete Essentials der GTM benennen, dies sind insbesondere: (a) Konzeptbildung statt Deskription; (b) Konzeptbildung durch Memo-Writing, (c) Fallvergleiche und theoretical sam-

Grounded Theory in der Kultursoziologie

249

pling und (d) All is Data. Die genannten Essentials möchten wir im Folgenden nicht ausschließlich aus Perspektive der Methodologie diskutieren, sondern immer auch Beispiele aus der kultursoziologischen Forschungspraxis heranziehen. Ausgewählt haben wir dazu „Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil“ von Rainer Diaz-Bone (2010, s. a. 2005); „Die Welt der Gothics“ von Axel Schmidt und Klaus Neumann-Braun (2004), „Kleider schaffen Ordnung“ von Alexandra König (2007), „Grenzenlos guter Geschmack“ von Oliver Berli (2014) sowie die Studie „Inszenierung von Jugend/lichkeit“ von Marc Dietrich und Günter Mey (2015) aus dem BMBFForschungsverbund „JuBri – Techniken jugendlicher Bricolage“. In diesen Studien wird eine große Bandbreite von kultursoziologischen Fragestellungen empirisch untersucht. Bei der hier getroffenen Auswahl ist uns bewusst, dass von der Kultursoziologie zu sprechen ähnlich voraussetzungsreich wie die Rede von der Grounded Theory Methodologie ist. Das Feld der Kultursoziologie ist in sich sehr vielgestaltig, was nicht nur für den deutschsprachigen Raum, sondern gerade auch international gilt. Die genannten Studien basieren nicht immer ausschließlich auf den Verfahrensvorschlägen der GTM, sondern nehmen sie in unterschiedlichem Maße als methodologische Inspiration für forschungspraktische Umsetzung des jeweiligen Untersuchungsinteresses. So führt Diaz-Bone im Kern eine durch Michel Foucault inspirierte Diskursanalyse durch und greift für die praktische Umsetzung auf die Verfahrensvorschläge der GTM zurück. Schmidt und Neumann-Braun kombinieren in ihrem Untersuchungsdesign Ethnografie und GTM, während sich König in gleichen Anteilen auf die Dokumentarische Methode und GTM bezieht. Berli orientiert sich primär an der GTM in der Strauss’schen Variante ebenso wie die Studie von Dietrich und Mey, wobei sie diese reflexiv wenden und Bezüge zur ikonografischen Analyse ausarbeiten.

3.1

Konzeptbildung statt Deskription

Mit der GTM ist seit ihrer Formulierung der Anspruch verbunden, über deskriptive Sozialforschung hinauszugehen. Die Offenheit der GTM bei gleichzeitigem Vorhandensein von forschungspragmatischen Vorschlägen zur Umsetzung und Erfüllung ihres Versprechens der Theoriebildung ermöglichen die Adaption der Interpretationsarbeit für unterschiedlichste Untersuchungsfragen und Generalisierungsziele. Daneben können auch sozialtheoretische Perspektiven, die einer Untersuchung zugrunde liegen, für eine Veränderung der Kodierprozeduren sprechen. Beispielsweise „verurteilt“ eine Orientierung an der Strauss’schen Tradition nicht zum Einsatz des Kodierparadigmas (s. auch Corbin und Strauss 2015). Sowohl König (2007) als auch Berli (2014) verzichten in ihren Studien auf die Anwendung des paradigmatischen Modells und einer Anordnung der Ergebnisse in Kontext, Bedingungen, Strategien und Konsequenzen. In beiden Fällen liegt eine deutliche Bezugnahme auf praxistheoretische Annahmen vor – vor allem die Arbeiten Pierre Bourdieus werden hier zentral gesetzt. Der Bezug zu Bourdieus Forschungsperspektive weist auf eine selten untersuchte Wahlverwandtschaft hin, da Bourdieus Forschungsstil mit Franz Schultheis als „Grounded Theory avant la lettre“ (2007)

250

G. Mey und O. Berli

bezeichnet werden könnte.5 Da das Kodierparadigma keineswegs sozialtheoretisch „neutral“ angelegt ist, liegt es nahe, es nur bei sozialtheoretischer Passung anzuwenden. Eine Alternative zum Verzicht auf das Kodierparadigma stellt die Neuformulierung eines eigenen Kodiermodells dar. In „Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil“ (2010, insbes. S. 197–207) nutzt Diaz-Bone die Verfahrensvorschläge der GTM, um das fehlende Instrumentarium für eine gleichermaßen diskurs- wie distinktionsanalytische Untersuchung zu schaffen. Auch er verzichtet auf den Gebrauch des Kodierparadigmas, mit folgender Begründung: „Sobald die Vernetzung der Grounded Theory zum Symbolischen Interaktionismus und Pragmatismus zum Tragen kommt, sperrt sich ihre Kodierstrategie für einen diskursanalytischen Einsatz.“ (Diaz-Bone 2010, S. 199) An die Stelle des Strauss’schen Kodierparadigmas setzt er ein eigenes Modell, das für seine Untersuchungsziele angepasst ist (Diaz-Bone 2010, S. 200–201). Dieses Modell enthält Begriffe und Objekte wie „Künstler“, „Qualität“ oder „Werk“ und ist folglich stärker als das ursprüngliche Kodierparadigma an die konkrete Untersuchungsfrage, den Gegenstand sowie die verwendete Theoriegrundlage angepasst.

3.2

Konzeptbildung durch Memo-writing

Ein weiterer wichtiger Aspekt der GTM ist die Betonung der Bedeutung des Schreibens für den Forschungsprozess. Dem Schreiben von Memos kommen dabei mehrere Funktionen zu: Memos werden u. a. genutzt, um den Forschungsprozess zu dokumentieren, die Ebene der Deskription zu verlassen und eine Erhöhung des Abstraktionsniveaus zu erreichen, Eigenschaften und Merkmale von Konzepten auszuarbeiten, den Theoriegenerierungsprozess zu unterstützen (vgl. Bex Lempert 2007) – und im Sinne „reflexiver Memos“ –, das Verhältnis von ForschendenForschungsthema-Forschungsprozess zu explizieren (vgl. Breuer et al. 2011, S. 440). Diese Aufzählung macht deutlich, dass dem Schreiben in der GTM eine hohe Relevanz zugesprochen wird, wobei hier – ähnlich Howard S. Beckers Überlegungen in „Writing for Social Scientists“ (2007) – Schreiben als praktischer Prozess verstanden wird, der zentral für die entstehende Theorie ist (s. auch Mey und Ruppel 2016). Die Anfänge von Memos und Theorien nehmen sich im Vergleich zu den

5

Diese Einschätzung erstaunt zunächst angesichts der vehementen Kritik, die Bourdieu wiederholt an Pragmatismus und Symbolischem Interaktionismus geäußert hatte – schließlich sind sowohl Methodologie als auch Methodik der Grounded Theory tief in beiden Traditionen verwurzelt. Vergleicht man das Forschungsprogramm Pierre Bourdieus mit der GTM in der Tradition von Anselm Strauss, fallen dennoch zwei Aspekte auf, die Schultheis’ Beobachtung bestätigen könnten: (a) Obwohl Bourdieu im Vergleich zu Strauss in stark differierenden theoretischen Traditionen und Diskussionen geschult und sozialisiert ist, fällt der Erfahrung der Forschung „im Feld“ eine wichtige Rolle zu. (b) Eine weitere Gemeinsamkeit lässt sich in der Beziehung von empirischer Forschung und Theorieentwicklung bzw. -formulierung feststellen.

Grounded Theory in der Kultursoziologie

251

publizierten Ergebnissen von Forschung häufig bescheiden aus und haben vorläufigen, provisorischen Charakter – was auch im folgenden Beispiel deutlich wird. Berli untersucht in seiner Studie „Grenzenlos guter Geschmack“ (2014) im Anschluss an kultursoziologische Diskussionen um das Phänomen der sogenannten „Omnivorizität“6 den Musikgeschmack von (hochqualifizierten) Erwachsenen. Es folgt aus dieser Untersuchung ein kurzes Beispiel für ein frühes Memo, in dem eine neue Idee hinsichtlich Regelmäßigkeiten in Interviews mit MusikhörerInnen festgehalten wurde: In den Interviews zeichnen sich vorläufig zwei Gruppen von Gütekriterien ab, die von den Interviewten genutzt werden, um Musik zu bewerten. Da wären zum einen Kriterien wie Klang oder Texte und zum anderen politische Einstellung, Style etc. Auf den ersten Blick scheint sich eine Familie objektbezogener Kriterien und eine Familie interpretenbezogener Kriterien abzuzeichnen. Weitere denkbare Kriterien könnten sich auf die Rezeptionssituation, auf die Differenz Aufführung oder ‚Konserve‘ etc. beziehen.

Im Fortlauf der Untersuchung wurden aus den hier benannten „Gütekriterien“ vier Typen von Qualitätskriterien, die zur Legitimierung von musikalischen Geschmacksurteilen herangezogen werden, und zwar in Bezug auf (a) musikimmanente Qualitätskriterien (wie Klang oder Geschwindigkeit), (b) die erwartete Funktion von Musik (z. B. Erinnerung hervorrufen); (c) musikexmanente Qualitätskriterien (bspw. Authentizität) und (d) habitualisierte Hörstrategien (wie Konzertbesuche) (vgl. Berli 2014, S. 165–210). Jede dieser vier Gruppen weist mehrere Untertypen auf, wobei nicht nur die Anzahl der Qualitätskriterien enorm zugenommen, sondern sich auch ihr Ort im konzeptionellen Rahmen der Arbeit verändert hat. So werden Wertzuschreibungen in Bezug auf Musik (oder auch andere kulturelle Güter) in ihrem Zusammenwirken mit dem „Spiel der Klassifikationen“ und alltäglichen symbolischen Abgrenzungen zu einer „Theorie des unterscheidenden Hörens“ verdichtet. Solche im Zuge der Forschungsarbeit angefertigten Memos dokumentieren diesen Prozess der kontinuierlichen Veränderung des konzeptionellen Gerüsts einer Untersuchung und erlauben – zunächst ohne Publikum – konzeptuelle Überlegungen zu erproben und sukzessive zu entwickeln. Geradezu notorisch ist die Aufforderung der GTM mit Beginn des Forschungsprozesses auch in das kontinuierliche Verfassen von (theoretischen) Memos einzusteigen (Glaser und Strauss 1967, S. 105–113; Strauss 1987, S. 109–129). Die Prozesse des Schreibens, Überarbeitens und Sortierens von Memos, für die es wiederum eine Reihe von Faustregeln gibt (bspw. Strauss 1987, S. 127–128), sind wertvolle und notwendige Schritte für die Entwicklung eines konzeptuellen Rahmens bzw. einer grounded theory (s. a. Mey und Mruck 2009, S. 113–114).

6

Um das Stichwort der Omnivorizität hat sich vor allem international seit den 1990er-Jahren eine Diskussion entwickelt. Dabei wird eine zeitdiagnostische These verhandelt, die zuerst von Richard A. Peterson (1992) formuliert wurde und die Ablösung eines exklusiven durch einen inklusiven Elitengeschmack behauptet (dazu ausführlich Berli 2014, S. 52–70).

252

3.3

G. Mey und O. Berli

Fallvergleich und theoretical sampling

Das wohl bekannteste Essential sind die Samplingstrategien der GTM. Glaser und Strauss votieren für ein iteratives Vorgehen, bei dem sich Datenerhebung und -auswertung ständig abwechseln und für die Studien genau zu überlegen ist, welches der nächste Fall sein soll, mit welcher Absicht dieser erhoben und ausgewertet wird (s. Glaser und Strauss 1967, S. 47–55). Entscheidend für die Samplingstrategie ist also die theoretische Relevanz der bearbeiteten Fälle. Hierüber werden dann etwa Minimal- oder Maximalkontraste gebildet, mit denen der konzeptuelle Gehalt weiter ausgearbeitet wird. Für GTM-Studien ist das Vorgehen gemäß dem theoretical sampling unabdingbar (und ist erst abgeschlossen, wenn keine weiteren Erkenntnisse durch weiter hinzuzuziehende Daten erwartbar sind, also eine „theoretische Sättigung“ eingetreten ist). Mittlerweile findet sich diese Idee allgemein aufgegriffen in Vorschlägen zum „purposive sampling“, wobei hierzu dann auch „top down“neben „bottom up“-Strategien bzw. mixed-Ansätze gerechnet werden (vgl. Gobo 2004; Schreier 2010). König hat in ihrer Studie „Kleider schaffen Ordnung“ (2007) Jugendliche in Einzelinterviews und Gruppendiskussionen zu ihren vestimentären Praktiken befragt. Im laufenden Forschungsprozess wurde eine Kombination von Samplingstrategien angewendet, dabei wurden sowohl nach vorab festgelegten Kriterien (wie sozialer Status und Alter) ausgewählt, als auch aufgrund ihres sich entwickelnden gegenstandsbezogenen Wissens weitere Interviewees nach Kriterien wie Kleidungsstil gesucht (vgl. König 2007, S. 56–57). Die entwickelte Theorie in „Kleider schaffen Ordnung“ wird fallübergreifend, d. h. kontrastiv entwickelt. Zum Fallverständnis der GTM gehört es, dass im Forschungsprozess unterschiedlich nah „herangezoomt“ wird. Der Anspruch des theoretical samplings, theoretisch relevante Fälle auszuwählen, impliziert, dass die „Untersuchungseinheit“ im fortlaufenden Forschungsprozess keineswegs konstant gehalten werden muss.7 So untersucht beispielsweise König mit ihrer Kombination von Einzel- und Gruppeninterviews (2007, S. 52–55) jugendliche Erfahrungen und Selbst-Präsentationen durch Kleidung mit unterschiedlichen „Brennweiten“. Neben der Auswahl von Interviewees finden eine ganze Reihe weiterer Selektionsprozesse statt, die allerdings auf der Ebene der Ergebnisdarstellung teilweise nur schwer zu vermitteln sind, dies betrifft insbesondere alle Selektionsprozesse im Zuge der Interpretation von Daten wie auch in der Darstellung von Ergebnissen. Umso wichtiger ist es, diese mit Blick auf die Erkenntnisproduktion zu reflektieren (vgl. Mruck und Mey 2007, S. 524–529).

7

Damit ist letztlich auch verbunden, dass sich die Erhebungsverfahren im Forschungsprozess verändern (können). Das betrifft sowohl das „Feintuning“ beispielsweise von Interviews, für welche die Fragenkomplexe angepasst werden, als auch die Kombination unterschiedlicher Datenformate im Forschungsprozess.

Grounded Theory in der Kultursoziologie

3.4

253

„All is data“

Bereits aus den Überlegungen des theoretical Sampling folgt die von Glaser und Strauss (1967) erstmals aufgestellte Maxime „All is Data“. Denn im Zuge des iterativen Prozesses kann es für die Bearbeitung der Forschungsfrage angezeigt sein, das Datenformat zu variieren, also nach einigen Interviews sich für einen Feldaufenthalt und ein ethnografisches Vorgehen zu entscheiden (bzw. vice versa), eine Gruppendiskussion zu führen oder vorliegende Dokumente heranzuziehen. Deutlich wird daran, dass die GTM-Analyse für jedwedes textuelles Datenformat anwendbar ist (und – auch wenn qualitative Daten bevorzugt werden – auch quantitative Daten Eingang finden können, s. Glaser und Strauss 1967, S. 185–220). Die Studien „Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil“ (Diaz-Bone 2010), „Die Welt der Gothics“ (Schmidt und Neumann-Braun 2004), „Kleider schaffen Ordnung“ (König 2007) „Grenzenlos guter Geschmack“ (Berli 2014) und „Inszenierung von Jugend/lichkeit“ (Dietrich und Mey 2015) verdeutlichen einen Teil der Bandbreite unterschiedlicher Datentypen, die im Rahmen der GTM bearbeitet werden können. Hier finden schriftlich vorliegende Daten (Rezensionen aus dem Musikjournalismus bzw. komplette Fanzines) ebenso selbstverständlich Verwendung wie verschiedene Varianten verbaler Daten (Einzel- wie Gruppeninterviews) und Beobachtungsdaten. Diaz-Bone arbeitet in seiner Studie mit einem Textkorpus, der unterschiedliche Textformate aus zwei Musikmagazinen (Metal Hammer und Raveline) umfasst (Diaz-Bone 2010, S. 236–237). Das gewählte Datenformat korrespondiert mit dem Ziel der Untersuchung diskursiver Kulturproduktion. König greift in ihrer Untersuchung sowohl auf Gruppendiskussionen wie auch auf leitfadengestützte Interviews zurück. In beiden Fällen wie auch in Berlis Studie wird der Datenkorpus sukzessive mit Fortschreiten der Analyse erweitert. Für die Hinzunahme weiterer Datenformate im Zuge des Forschungsprozesses liefert Berlis Untersuchung „Grenzenlos guter Geschmack“ (2014) ein Beispiel. Zunächst als reine Interviewstudie konzipiert, wurden erste Beobachtungsprotokolle im Musikhandel und auf Plattenbörsen angefertigt. Diese Feldaufenthalte waren zum Teil „gescheiterte“ Versuche, Interviewees für eine Mitwirkung zu gewinnen. Jedoch wurde auf der Basis dieser Protokolle entschieden, zusätzliche Beobachtungen im privaten Raum der Interviewten mit in die Untersuchung aufzunehmen. Auf diese Weise konnte die Materialität des Musikgeschmacks stärker als mit einem rein interviewbasierten Vorgehen in die konzeptuellen Überlegungen mit einbezogen werden. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des „visual turns“ – und darüber hinausgehend angesichts des „material turn“ – findet auch in GTM-Studien eine Ausdehnung auf nicht-textuelle Daten statt. Allerdings weist die GTM für die Analyse dieser Daten (Bilder, Zeichnungen, Fotos, Videos) verglichen mit der Textanalyse bislang erst in Ansätzen dafür Auswertungsroutinen auf Konecki (2011); Mey und Dietrich (2016). In dem Forschungsprojekt „Inszenierung von Jugend/lichkeit“ werden insbesondere in Jugendszenen von den Akteuren selbst produzierte Fanzines herangezogen, um darin die intra-/intergenerationalen Szene-Positionierungen und Selbstkonstruktionen zu untersuchen. Hierbei werden neben den Inhalten auch die Cover (also Text-

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G. Mey und O. Berli

Bild-Collagen) – und vereinzelt, sofern über das theoretical sampling nahegelegt und aufgrund von „Verweisen“ aus den Fanzines heraus – zudem Platten/CD-Cover und Objekte wie Patches, Sticker als Szene-relevante Utensilien berücksichtigt. Bei den Kodierungen wird die Analysearbeit mit Blick auf die Bildlichkeit/Materialität organisiert, insbesondere durch eine strukturierte Inventarisierung der Bildinhalte und eine Untersuchung der Bildkomposition, um den Bildaufbau und seine analytisch relevanten Bestandteile herauszuarbeiten. Dazu werden in die GTM-Analyse Elemente der ikonografischen Analyse (vgl. Bohnsack 2009) integriert. Eine besondere Herausforderung eines solchen Vorgehens liegt in der Integration der entlang unterschiedlicher Datenformate gewonnenen Kategorien.

4

Zum Verhältnis von theoretischem Vorwissen und Theoriegenerierung

Das Verhältnis zwischen (theoretischem) Vorwissen und dem Anspruch Theorie zu generieren, ist eine der zentralen Herausforderungen der GTM. Vor dem Hintergrund der vergangenen methodologischen Diskussionen (bspw. Kelle 2005; Strübing 2014, S. 52–55) wird deutlich, dass Erkenntnis keineswegs „rein“ induktivistisch, mittels aus den Daten emergierenden Konzepten zu haben ist. Das lange Zeit mit der GTM verbundene „tabula rasa“ trägt nicht einmal als Metapher. Vielmehr kommt theoretischem Vorwissen und theoretischen Rahmungen an vielen Stellen im Forschungsprozess eine wichtige Rolle zu. Hierfür steht die in der GTM geforderte theoretische Sensibilität (Strauss und Corbin 1990, S. 41–47), wobei zu unterscheiden ist, ob es sich hierbei um theoretisches Vorwissen im Sinne wissenschaftlicher (Prä-)Konzepte oder um (berufs-)biografische Prägungen der Forschenden handelt. Damit ist verbunden, die Forschenden-Subjektivität mit Blick auf die Ergebnisdarstellung und Theorien-Konstruktion zu reflektieren, wie es für die GTM zunehmend zentral geworden ist und als integraler Bestandteil insbesondere bei der von Charmaz als „konstruktivistisch“ oder von Breuer als „reflexiv“ bezeichneten GTM-Varianten verstanden wird (vgl. auch Breuer et al. 2011; Mruck und Mey 2007). Bezugnahmen auf vorgängige Theorien finden sich in den von uns dargestellten Untersuchungen in vielfältiger Weise: Diaz-Bone arbeitet in seiner Studie „Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil“ (2010) mit einem elaborierten theoretischen Gerüst, das wesentlich sowohl durch die Foucaultʼsche Diskursanalyse wie auch die Bourdieuʼsche Distinktionsanalyse beeinflusst ist. König macht in ihrer Untersuchung „Kleider schaffen Ordnung“ (2007) in theoretischer Hinsicht sowohl Anleihen bei interaktionistischen Ansätzen wie auch bei der ungleichheitsanalytischen Kultursoziologie Bourdieus. Berlis Untersuchung „Grenzenlos guter Geschmack“ (2014) nimmt ihren Ausgang bei einer theoretischen Diskussion über die Grenzen der Bourdieuʼschen Distinktionsanalytik wie sie durch zeitgenössische Untersuchungen angeregt werden. Bei Dietrich und Meys „Inszenierung von Jugend/lichkeit“ (2015) gehen Überlegungen zu „Szenen“ als „juvenile Vergemeinschaftungspraxis“ (Hitzler und Niederbacher 2010) ein und werden mit Generationskonzeptionen (u. a. der Ambivalenz nach Lüscher 2005) verknüpft. All diese Referenzen stellen jeweils einen wesentlichen theoretischen Rahmen für die

Grounded Theory in der Kultursoziologie

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einzelnen Studien dar, sind aber nicht im Sinne von „grand theories“ misszuverstehen. Denn mit der Grundlegung der Grounded-Theory-Methodologie durch Glaser und Strauss wurde nicht nur das hypothetico-deduktive Modell kritisiert, sondern auch eine rigorose Absage an die rein illustrative Verwendung qualitativer Daten wie auch empirieferner Großtheorien erteilt. Die in den 1960er-Jahren geführte Debatte um Großtheorien resultierte vor allem aus Einwänden gegen Parsons’ voluntaristische Handlungstheorie und seinen Strukturfunktionalismus, die aus Perspektive der Kritiker/innen eine „grand theory“ par excellence darstellte. Robert K. Merton bezeichnete Großtheorien als generalistisch und naturwissenschaftsorientiert und plädierte demgegenüber für die empirisch gehaltvolleren „middle range theories“ (vgl. Merton 1998, S. 3–8; s. a. Mackert und Steinbiker 2013). Aus der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus wurde insbesondere die Vernachlässigung des interaktionsbezogenen Aushandlungscharakters von Werten und Normen sowie die damit verbunden starre Gesellschaftsvorstellung hinterfragt, die auch ein ebenso starres „cultural system“ implizierte (vgl. dazu überblicksartig Joas und Knöbl 2004, S. 72–142, 183–219). Die vielstimmige Kritik an Großtheorien à la Parsons lässt sich treffend als „Aufstand des Konkreten“ charakterisieren (Keller 2012, S. 9–19) und mündet in die Formierung des interpretativen Paradigmas. Eine elaborierte Relationierung von Theorie und Empirie scheint aktueller denn je angesichts eines neuen postqualitativen Theorismus, dessen Forschungspraxis Reiner Keller (2014) folgendermaßen charakterisiert: „was die Theorie nicht vor-sieht, gerät nicht mehr in den Blick. Forschen wird dann wieder ein Zeitvertreib zur Veranschaulichung des theoretischen Vokabulars“ (Keller 2014, Abs. 29). Wenn die GTM in dem von uns skizzierten Sinne Eingang in kultursoziologische Studien findet, bei der auf der einen Seite die theoretischen Rahmungen expliziert und reflektiert werden und auf der anderen Seite die Daten eingehend analysiert und konzeptualisiert werden, ist es möglich, in kultursoziologischen Studien eben eine solche elaborierte Relationierung von Theorie und Empirie zu gewährleisten.

5

Fazit

Die Geschichte der GTM kann als eine Erfolgsgeschichte dargestellt werden. Seit ihrem Bestehen wird sie beständig weiterentwickelt und hat auch im deutschsprachigen Raum weite Verbreitung gefunden. Einzelne methodologische Entwicklungen wie das theoretical sampling sind derart folgenreich, dass sie auch weit über die GTM hinaus Verwendung finden (vgl. Abschn. 3.3). Allerdings gibt es gegenwärtig trotz der weiten Verbreitung der GTM in ihren mannigfaltigen Varianten nur wenige genuin kultursoziologisch ausgerichtete Arbeiten, die sich diesem Forschungsstil verpflichtet sehen. Dem muss jedoch nicht zwangsläufig so sein. Eine Nicht-Passung von kultursoziologischem Interesse und theoretischen Vorannahmen der GTM kann aus unserer Perspektive nicht als Erklärung herangezogen werden für die geringe Zahl an GTM-orientierten Arbeiten. Denn zum einen decken die aktuell parallel verfolgten Varianten der GTM ein breites sozialtheoretisches wie methodologisches Spektrum ab (vgl. Abschn. 2.2). Und zum anderen belegen die von uns beispielhaft

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G. Mey und O. Berli

herangezogenen Studien, wie breit die Einsatzmöglichkeiten der GTM für kultursoziologische Fragestellungen sind. Eine andere mögliche Erklärung für die wechselseitige Zurückhaltung zwischen Kultursoziologie und GTM könnte das spannungsreiche Verhältnis von theoretischem Vorwissen und dem Anspruch der Theoriegenerierung sein. Das in sich anspruchsvolle Selbstverständnis der Kultursoziologie – zwischen spezieller und allgemeiner Soziologie – trifft hier auf einen Forschungsstil, der mit einem folgenschweren induktivistischen Missverständnis belastet war. Methodologisch wie auch in den genannten Beispielen ist der Diskussionsstand einen Schritt weiter als überholte Induktivismusvorwürfe vermuten lassen. Die Kunst besteht darin – in diesem Punkt treffen sich das generelle Prinzip der Offenheit (Hoffmann-Riem 1980) in der qualitativen Sozialforschung und die GTM – ein Maß an theoretischer Sensibilität zu entwickeln und zu elaborieren, das gleichzeitig offen genug ist für neue Erkenntnisse im Forschungsprozess. Die vorgestellten Studien dokumentieren, dass sich im Kontext kultursoziologischer Forschung der Forschungsstil der GTM den spezifischen Fragestellungen und Erfordernissen des Gegenstands anpassen lässt. Diese Verbindung von Offenheit und Regelgeleitetheit macht ihren Charme aus – um an dieser Stelle Strauss zu zitieren: „Study them, use them, but modify them in accordance with the requirements of your own research. Methods after all, are developed and changed in response to changing work contexts“ (Strauss 1987, S. 8). Der potenzielle Mehrwert von kultursoziologischen Untersuchungen, die sich durch die GTM anregen lassen, ist aus unserer Sicht für beide Seiten gegeben. Dies gilt einerseits, da aktuelle kultursoziologische Problemstellungen angetan sind, das methodische und methodologische Repertoire der GTM herauszufordern. Insbesondere wird sich die GTM vermehrt um die Analyse von Artefakten und visuellen Daten (bzw. generell nicht textförmiges Material) kümmern müssen. Andererseits ermöglicht eine Orientierung an der GTM kultursoziologische Forschung jenseits von Großtheorien und illustrativem Datengebrauch. Hier ergänzen sich aktuelle Themenkonjunkturen und Problemstellungen innerhalb der Kultursoziologie bestens mit den Entwicklungspotenzialen der GTM.

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Quantitative Kultursoziologie Franz Höllinger

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Wertewandelsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Lebensstilanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In der aktuellen Kultursoziologie spielen quantitative Zugänge nur eine marginale Rolle. Eine Ausnahme bildet die Lebensstilforschung in der Traditionslinie von Pierre Bourdieu und Gerhard Schulze. Für die kultursoziologische Analyse des Zusammenhangs zwischen sozialstrukturellen und kulturellen Entwicklungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind auch Studien zum Wertewandel von Interesse, selbst wenn der methodologische Ansatz dieser Forschung dem herkömmlichen Erkenntnisideal der Kultursoziologie nicht entspricht. Schlüsselwörter

Lebensstilanalyse · Kulturelle Milieus · Wertewandel · Interkulturelle Wertestudien · Soziale Surveys

F. Höllinger (*) Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_17

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Einleitung

Seit der kulturtheoretischen Wende der Soziologie in den 1980er-Jahren distanziert sich der Großteil der Kultursoziologinnen und -soziologen vom Einsatz quantitativer Forschungsmethoden. Dies gilt insbesondere für den deutschsprachigen Raum. Nach Friedrich Tenbruck war eine Neuausrichtung deshalb erforderlich, weil sich die Soziologie im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr von ihren geistes- und kulturwissenschaftlichen Ursprüngen entfernt und zu einer reinen Sozialwissenschaft entwickelt hatte, die sich nach dem Vorbild der Naturwissenschaften auf die Untersuchung messbarer sozialer Tatbestände und gesellschaftlicher Strukturen beschränkte und die kulturellen Aspekte des gesellschaftlichen Lebens sowie die Ideen und Bedeutungen des menschlichen Handelns aus ihrem Gegenstandsbereich ausgrenzte (Tenbruck 1979; Eickelpasch 1997). Die Kultursoziologie richtet sich somit auch gegen Strömungen des ökonomischen Reduktionismus und gegen den Parsons’schen Strukturfunktionalismus. Kultursoziologen vertreten vielfach die Ansicht, dass zwischen der Verwendung quantitativer Forschungsansätze und der Verengung auf Strukturfragen nicht nur eine Wahlverwandtschaft, sondern ein notwendiger Kausalzusammenhang bestehe: Quantitative Methoden seien gar nicht dazu in der Lage, die Bedeutung von Symbolen und den Sinn des menschlichen Handelns zu erfassen; die kulturellen Tiefenschichten der Gesellschaft könnten nur mithilfe der interpretativen Methoden einer qualitativ-verstehenden Soziologie erhellt werden (Geertz 1987; Alexander et al. 2013). Kultursoziologische Forschungen bedienen sich hierbei eines breiten Spektrums an methodologischen Ansätzen, das von den Beobachtungsstudien und dichten Beschreibungen der Ethnografie und des symbolischen Interaktionismus über die verschiedenen Verfahren der phänomenologisch-wissenssoziologischen Hermeneutik bis hin zur Entschlüsselung der Ordnungsprinzipien sprachlicher Praktiken und kultureller Symbolsysteme im Strukturalismus und Poststrukturalismus reicht (Edles 2002; Moebius 2009a). Die kultursoziologische Kritik, dass die symbolischen Ordnungen, die dem Handeln des Menschen Sinn verleihen, in der quantitativen Sozialforschung ausgeklammert würden, mag für bestimmte sozialwissenschaftliche Ansätze und Forschungsbereiche zutreffend sein; so etwa für die Demografie, die Schichtungs- und Ungleichheitsforschung, die Mobilitätsanalyse, aber auch für gewisse Strömungen in den speziellen Soziologien, wie beispielsweise in der Familien-, Wirtschafts- und Organisations- und Stadtsoziologie. Ein breites Spektrum an quantitativen soziologischen Studien beschäftigt sich aber durchaus nicht nur mit der Erhebung und Analyse sozialstruktureller Fakten, sondern auch mit Fragestellungen, die zur kulturellen Sphäre der Gesellschaft zählen: mit kulturellen Präferenzen im engeren und weiteren Sinn; mit politischen und religiösen Weltanschauungen; mit sozialen Wertorientierungen, Einstellungen und Motiven, die dem Verhalten der Menschen in verschiedenen Lebensbereichen zugrunde liegen. Und selbst dort, wo sich die empirische Analyse auf das schlichte Zählen und Vergleichen der Häufigkeit bestimmter Handlungen in einem sozialen Raum beschränkt, kann diese Analyse dazu dienen, im Zuge des Interpretationsprozesses die kulturellen Sinnstrukturen, die dem Handeln zugrunde liegen, offenzulegen. Ein bekanntes klassisches Beispiel

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für diese Art von Analyse ist Émile Durkheims Selbstmordstudie. Durch den systematischen Vergleich der Selbstmordraten in verschiedenen soziodemografischen Gruppen, Ländern und konfessionellen Gruppen gelingt es Durkheim, soziale und kulturelle Bedingungsfaktoren für höhere oder niedrigere Selbstmordraten und damit die über den Einzelfall hinausgehende soziale Bedeutung des Selbstmords herauszuarbeiten. Ein ähnliches Beispiel aus jüngerer Zeit ist Jürgen Gerhards Studie über den Wandel der Beliebtheit von Vornamen. Hier werden aus der Häufigkeit der Wahl bestimmter Kategorien von Vornamen Rückschlüsse auf den Bedeutungsverlust familiärer Traditionen, auf Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse oder auf die unterschiedliche Akkulturationsbereitschaft bei bestimmten Migranten-Populationen gezogen (Gerhards 2010). Die Gegenüberstellung von qualitativer, ideografisch-verstehender versus quantitativer, nomothetisch-erklärender Sozialforschung ist ein idealtypisches Konstrukt. In der Praxis der Forschung können sehr wohl auch aus quantitativen Studien Bedeutungs- und Sinnstrukturen menschlichen Handelns rekonstruiert werden, wie dies in exemplarischer Weise Gerhard Schulze (1992) in seiner hermeneutischen Analyse quantitativer Lebensstildaten demonstriert hat; umgekehrt kann auch qualitative Forschung durch die interpretative Beschreibung der inneren Logik verschiedener Typen sozialen Handelns ursächliche Handlungsbedingungen erklären, auch wenn es sich hier nicht um Kausalerklärungen im Sinne des positivistischnaturwissenschaftlichen Erkenntnismodells handelt (Gerhards 2010). Die eindeutige Bevorzugung qualitativer Forschungsmethoden in der heutigen Kultursoziologie und die damit einhergehende Konzentration auf mikrosoziologische, alltagsweltliche Fragestellungen lässt sich mit wissenschaftstheoretischen Argumenten nur zum Teil begründen. Sie beruht vielmehr auch darauf, dass sich im Verlauf der Entwicklung einer Wissenschaftsdisziplin immer wieder Diskursgemeinschaften bilden, die ähnliche Erkenntnisinteressen verfolgen, eine Präferenz für bestimmte Themenfelder haben und sich von anderen Forschungsrichtungen abschotten. Im Folgenden möchte ich aus dem vielfältigen Spektrum an quantitativen Forschungen, in denen kultursoziologisch relevante Themen untersucht werden, zwei Bereiche herausgreifen: zum einen die Erforschung des Wertewandels und die interkulturell vergleichende Werteforschung, zum andern die Lebensstilanalyse. Während die Lebensstilforschung in der Kultursoziologie gut verankert ist und namhafte Kultursoziologen wichtige Beiträge dazu lieferten, findet die Wertewandelsforschung in diesem Bereich der Soziologie bislang nur wenig Beachtung. Wenn sich die Kultursoziologie nicht nur darauf beschränken will, die Sinnstrukturen spezifischer kultureller Phänomene zu entschlüsseln, wie dies heute vielfach in den cultural studies der Fall ist, sondern wenn sie ihr Augenmerk auch auf die Zusammenhänge zwischen sozialstrukturellen und kulturellen Entwicklungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene richten will (Moebius 2009b), dann kann die Wertewandelsforschung dazu durchaus wertvolle Beiträge liefern, selbst wenn der quantitativ-empiristische Zugang dieser Forschung nicht dem hermeneutischen Erkenntnisideal der Kultursoziologie entspricht. In diesem Sinn werden im Folgenden zunächst einige methodologische und inhaltliche Aspekte der Wertewandelsforschung erörtert.

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Die Wertewandelsforschung

Die Analyse der grundlegenden kulturellen Werte und Bestimmungsgründe des menschlichen Handelns, die Frage des Wandels von Wertorientierungen im Zeitverlauf und der Vergleich der Relevanz bestimmter Weltanschauungen und Werte für verschiedene soziale Gruppen und Gesellschaften waren zentrale Themen der Soziologie seit ihren Anfängen. Die soziologischen Klassiker haben diesen Themenkomplex vorwiegend durch soziologisch-historische Studien, zum Teil unter Einbeziehung hermeneutischer Analysen von historischen oder zeitgenössischen Quellen wie etwa religiösen oder literarischen Texten untersucht. Den Wandel von Werten und diesbezügliche Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen erklärten sie vielfach mithilfe von Typologien und Stufenmodellen der Entwicklung. Durch die Möglichkeit, statistische Massendaten mithilfe des Computers auszuwerten, wurde seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Methode der repräsentativen Bevölkerungsumfrage zu einem wichtigen neuen Instrument der Sozialforschung. Mit dieser Methode können individuelle Verhaltensweisen, Einstellungen und Wertorientierungen zusammen mit sozialstrukturellen Personenmerkmalen in großem Umfang erhoben und mit komplexen statistischen Verfahren analysiert werden. Die Erfindung des Internet trug maßgeblich dazu bei, dass sich die Analyse des Wertewandels in einzelnen Ländern sehr schnell zur interkulturell vergleichenden Werteforschung weiterentwickelte. Seit den 1980er-Jahren wurden nicht nur zahlreiche themenspezifische Einzelprojekte durchgeführt, sondern auch eine Reihe von internationalen Forschungsprogrammen etabliert, die den Wertewandel in bestimmten geografischen Makroregionen oder auf weltweiter Ebene in systematischer Weise kontinuierlich untersuchen. Zu den größten und bekanntesten Forschungsprogrammen dieser Art zählen die European Value Study, der Word Value Survey, das International Social Survey Programme, Eurobarometer, Latinobarometer und Afrobarometer sowie der European Social Survey und der East Asian Social Survey. Um zu gewährleisten, dass die erhobenen Daten tatsächlich den Wandel von Wertorientierungen und Verhaltensmustern sowie dementsprechende Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern wiedergeben, werden bei diesen Forschungsprogrammen zwei methodische Verfahren in kombinierter Form eingesetzt: erstens die Replikation von Surveys mit identischen Frageformulierungen in bestimmten Zeitintervallen; zweitens die Erhebung der gleichen Fragen – in möglichst sinnäquivalenter Übersetzung – in allen Ländern, die an der Vergleichsstudie teilnehmen. Diese Forschungsstrategie ist allerdings mit erheblichen Herausforderungen verbunden und ihr wissenschaftlicher Ertrag ist umstritten. Zunächst stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es im Sinne des wissenschaftstheoretischen Universalismus möglich ist, Weltanschauungen, Werte und Handlungssysteme über verschiedene Kulturen der Welt hinweg nach einheitlichen Kriterien zu vergleichen oder ob Kulturen letztlich nur aus der Innenperspektive ihrer Mitglieder verstanden werden können, wie die Vertreter des Kulturrelativismus annehmen (Cappai 2005; Bachleitner et al. 2014). Wissenschaftler, die im Bereich der interkulturell vergleichenden Werteforschung tätig sind, haben meist ein Naheverhältnis zu modernisierungstheoretischen Ansätzen und vertreten somit – zum Teil in unreflektierter Weise – den

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universalistischen Standpunkt. Seit einiger Zeit steigt allerdings auch in diesem Forschungsfeld das Bewusstsein dafür, dass die methodologische Herausforderung nicht nur darin besteht, funktional äquivalente Indikatoren zu finden und die entsprechenden Fragebogenitems in adäquater Weise zu übersetzen, sondern dass es darüber hinaus auch darum geht, sich ernsthaft mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit die Übertragung von Begriffen und Konstrukten, die auf dem Fundament der westlichen Kultur entwickelt wurden – wie beispielsweise Religiosität oder Umweltbewusstsein –, auf andere Kulturkreise gerechtfertigt ist, oder ob der interkulturelle Vergleich hier ein ethnozentrisch verzerrtes Bild fremder Kulturen liefert (Braun 2006; Bachleitner et al. 2014). Ein weiteres Problem dieser Forschung besteht darin, dass die Suche nach Indikatoren, die über alle Länder hinweg dieselbe Bedeutung haben, oft dazu führt, dass man sich bei der Operationalisierung eines theoretischen Konstrukts auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, wodurch das Konstrukt letztlich nur in sehr reduzierter Form erfasst wird. Die Forderung nach funktionaler Äquivalenz der Indikatoren steht somit in einem Spannungsverhältnis zur inhaltlichen Validität der Konstrukte (Van de Vijver und Leung 1997). Ein konkretes Beispiel für dieses Problem ist die interkulturell vergleichende Messung von Nationalbewusstsein anhand konkreter Verhaltensindikatoren. In den genannten interkulturell vergleichenden Forschungsprogrammen werden individuelle Verhaltensweisen und Einstellungen zu zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erhoben und analysiert: Familie und Verwandtschaftsbeziehungen, Arbeit und Berufsleben, Freizeit, zivilgesellschaftliches Engagement, politisch-weltanschauliche Orientierungen und Präferenzen, Einstellungen zu Staat, Wohlfahrtsstaat und sozialer Ungleichheit, Religion, Nationale Identität und Nationalstolz, Einstellung zu ethnischen Fremdgruppen und sozialen Randgruppen, Umweltbewusstsein und anderes mehr (Inglehart 1998; Haller et al. 2009). Einen Kernbereich dieser Studien bildet die Untersuchung des Wandels der grundlegenden Wertorientierungen, die das Handeln der Menschen über verschiedene Lebensbereiche hinweg mitbestimmen. Einer der renommiertesten Forscher in diesem Bereich ist Ronald Inglehart. Ausgangspunkt für Ingleharts Forschungen war die Postmaterialismusthese, die vor dem Hintergrund der Suche nach alternativen Lebensformen in der amerikanischen Counter-Culture der 1960er- und 1970er-Jahre postuliert, dass Menschen, deren materielle Grundbedürfnisse befriedigt sind, vermehrt das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstverwirklichung verspüren (Inglehart 1977). Ingleharts Index zur Messung des Anteils an „Materialisten“ und „Postmaterialisten“ in verschiedenen Gesellschaften wurde zu einem zentralen Erhebungsinstrument des World Value Survey. Anhand dieser Daten zeigt Inglehart in seinen späteren Arbeiten, dass sich der weltweite kulturelle Wertewandel auf zwei empirischen Achsen abbilden lässt: Die erste Achse verläuft von traditionellen zu säkular-rationalen Werten; die zweite Achse ist durch den Übergang von Überlebens- zu Selbstentfaltungswerten bestimmt und deckt sich weitgehend mit der Materialismus-Postmaterialismus-Dimension. Inglehart geht davon aus, dass sich das Wertesystem von Gesellschaften im Zuge der sozioökonomischen Modernisierung tendenziell entlang dieser beiden Achsen verändert, dass der kulturelle Wandel jedoch nicht allein von

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der ökonomischen Entwicklung, sondern auch von den kulturellen Traditionen einer Gesellschaft bestimmt ist (Inglehart 1998; Inglehart und Baker 2000). Ebenfalls einen hohen Bekanntheitsgrad haben die Dimensionen des Kulturvergleichs von Geert Hofsteede (1980). Dieser Ansatz wurde im Rahmen einer weltweiten Befragung von Mitarbeitern des IBM- Konzerns entwickelt, die das praktische Ziel verfolgte, die Arbeitsweise und das Interaktionsverhalten von Menschen aus verschiedenen Kulturen besser zu verstehen, um dadurch die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene zu verbessern. In der Untersuchung wurden vier zentrale Handlungsorientierungen ermittelt: Individualismus versus Kollektivismus, Machtdistanz zwischen verschiedenen Hierarchieebenen, Unsicherheitsvermeidung sowie Maskulinität versus Femininität (assertiv-kompetitiver versus sozial-kooperativer Arbeitsstil); in einer späteren Untersuchungswelle wurde dieses Modell um die Dimension der kurz- oder langfristigen Zeitorientierung ergänzt. Auch das Modell der Kulturdimensionen von Fons Trompenars (1993) entstand im Kontext der internationalen Managementforschung. Dieses Modell greift die fünf Handlungsdichotomien der Parsons’schen pattern variables auf (Partikularismus versus Universalismus, Kollektivismus versus Individualismus, Affektivität versus affektive Neutralität, Diffusität versus Spezifizität und Statuszuschreibung versus Leistungsorientierung) und ergänzt diese um die beiden weiteren Dichotomien sequentielle versus synchrone Zeitorientierung und Fremdbestimmung versus Selbstbestimmung. Ähnlich komplex ist das Wertemodell des Sozialpsychologen Shalom Schwartz (2006); es umfasst insgesamt 10 Grundwerte, die in grafischer Darstellung auf zwei Achsen angeordnet sind: Die erste Achse bezieht sich auf das Spannungsverhältnis zwischen Bewahrung des Bestehenden (Traditionalismus, Sicherheitsbedürfnis) und Offenheit für Wandel (Selbstbestimmung, SelbstStimulation); die zweite Achse verläuft zwischen den Polen Selbststärkung (Machtund Leistungsorientierung) und Selbsttranszendenz (Altruismus und Universalismus). Die gängigen Wertemodelle erfassen zum Teil die gleichen Grundorientierungen, wie etwa den Gegensatz zwischen Individualismus und Gemeinschaftsorientierung oder die Art des Umgangs mit der Zeit. Die einzelnen Autoren gehen allerdings von einer unterschiedlichen Zahl an Grundwerten aus und Wertedimensionen, die ähnliche Inhalte messen, werden je nach Modell anders bezeichnet. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass auf unterschiedliche theoretische Konzepte Bezug genommen wird, zum Teil darauf, dass Werttypologien ohne theoretische Einbettung auf rein induktivem Weg gewonnen werden. Da je nach Studie andere Bündel an Indikatoren verwendet werden, ergibt die Extraktion von Faktoren mittels Faktorenanalyse jeweils andere Resultate. Ein weiteres Problem ist die Generalisierbarkeit der Konstrukte. Wenn der Anspruch erhoben wird, dass es sich bei den untersuchten empirischen Konstrukten um universelle Werte handelt, dann müsste die statistische Analyse über alle Länder hinweg die gleichen Faktoren (Wertedimensionen) ergeben; dies ist jedoch in der Praxis durchaus nicht immer der Fall (Bachleitner et al. 2014). Der mainstream der heutigen Kultursoziologie hat zur Wertewandelsforschung ein distanziertes Verhältnis. In kultursoziologischen Einführungen und Überblicksdarstellungen wird dieses Forschungsfeld entweder gar nicht erwähnt oder es nimmt nur einen marginalen Platz ein und wird meist kritisch beurteilt. Ein Hauptvorwurf lautet, dass sowohl die Wertedimensionen als auch die Thesen zur Erklärung des

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Wertewandels bzw. zur Erklärung interkultureller Unterschiede vorwiegend induktiv gewonnen und nicht in ausreichender Weise theoretisch begründet werden (Rössel 2006). Da sich die Wertewandelsforschung und die aktuelle Kultursoziologie sowohl in Hinblick auf die favorisierten theoretischen Ansätze als auch in Hinblick auf methodologische Zugänge stark unterscheiden, gibt es bislang nur wenig Anknüpfungspunkte für einen gemeinsamen Diskurs.

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Lebensstilanalysen

Die Lebensstilanalyse ist ein Forschungsfeld, auf das die eingangs skizzierte Trennung von Sozialstrukturanalyse und Kulturanalyse nicht zutrifft; vielmehr sind diese beiden Analyseebenen hier eng miteinander verwoben. Die Lebensstilanalyse ist somit ein wichtiges Bindeglied zwischen Sozialstrukturforschung und Kultursoziologie und wird von beiden Seiten als solches wahrgenommen. Die aktuellen Ansätze der Lebensstilanalyse lassen sich auf zwei wissenschaftliche Ausgangspunkte zurückführen. Den ersten, historisch weiter zurückliegenden Ursprung bilden Max Webers Analysen des Zusammenhangs zwischen sozialer Lage und Lebensführung. Der Begriff Lebensführung meint hier die charakteristische Art und Weise, wie Menschen ihr Berufs- und Alltagsleben gestalten. Webers Interesse richtet sich insbesondere auf die methodischen Prinzipien und Werte, die dem Alltagshandeln bestimmter Stände und Berufsgruppen zugrunde liegen, und die Verbindung zwischen Lebensführung und religiöser Ethik. Den zweiten Ausgangspunkt und eigentlichen Beginn der heutigen Lebensstilanalyse stellen Pierre Bourdieus kultursoziologische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen sozialer Klassenlage und kulturellem Geschmack dar (Bourdieu 1982). Der kulturelle Geschmack umfasst hierbei nicht nur die Präferenz für bestimmte Arten von Musik, Filmen, Lektüre und darstellende Kunst, sondern auch Vorlieben bei der Gestaltung des Alltagslebens, die Art der Wohnungseinrichtung, den Kleidungsstil, die Ernährungsweise, Freizeitpräferenzen und Urlaubsgestaltung. Ähnlich wie Weber verfolgt auch Bourdieu das Ziel, den inneren Zusammenhang des Handelns in verschiedenen Bereichen des Alltagslebens aufzuzeigen und zu erklären. Bourdieu geht davon aus, dass Menschen, die derselben Klasse angehören, aufgrund ihrer ökonomischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen einen ähnlichen Geschmack und Habitus entwickeln. Die Oberschicht und obere Mittelschicht geben aufgrund ihrer gesellschaftlichen Machtstellung den „legitimen Geschmack“ vor; die aufstiegsorientierte Mittelschicht hat einen „prätentiösen Geschmack“; der „barbarische Geschmack“ der Unterschicht ist von ökonomischen Notwendigkeiten bestimmt. Die gemeinsamen Präferenzen stärken den Zusammenhalt der Angehörigen einer Klasse; zugleich dient der Geschmack zur Distinktion und Abgrenzung zwischen den Klassen, insbesondere zur Abgrenzung der oberen von den unteren Klassen, und trägt somit wesentlich zur Reproduktion sozialer Lagen bei (ebd., Hillebrandt 1997). Bourdieu entwickelte seinen Lebensstilansatz vor dem Hintergrund der französischen Industriegesellschaft der 1960er-Jahre. Die Sozialstrukturforschung in Frankreich und England hielt in weiterer Folge an der Annahme fest, dass soziale

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Klassenlagen und damit einhergehende Lebensstile auch in der Gegenwartsgesellschaft ein zentrales Kriterium für die Strukturierung der Gesellschaft darstellen. In Deutschland vertraten hingegen maßgebliche Soziologen, insbesondere Ulrich Beck, die These, dass sich im Zuge des Individualisierungsprozesses und des Übergangs vom Industriekapitalismus zur postmodernen Dienstleistungsgesellschaft die Grenzen zwischen den ökonomischen Klassen und somit auch der Zusammenhang zwischen Klassenlage und Lebensstil in zunehmendem Maße auflösen würden (Beck 1993). Diese Perspektive fand auch Eingang in die Lebensstilforschung in Deutschland (Hillebrandt 1997). Diese geht davon aus, dass die soziale Lage, insbesondere das unterschiedliche soziale und kulturelle Kapital, das durch höhere oder niedere Bildungswege vermittelt wird, zwar weiterhin eine wichtige Rolle für den Lebensstil spielen, dass die kulturellen Präferenzen und die Art der Lebensführung aber maßgeblich von anderen sozialstrukturellen Determinanten mitbestimmt werden: vom Alter bzw. von der Stufe des Lebenszyklus, in der man sich befindet, vom Geschlecht, vom Wohnort (Stadt oder Land) und von der ethnischen Zugehörigkeit. Dementsprechend ist in der deutschen Lebensstilforschung, wie etwa bei Gerhard Schulze oder in den Sinus-Milieu-Studien, nicht mehr von klassenspezifischen Lebensstilen, sondern von soziokulturellen Milieus oder LebensstilMilieus die Rede (Otte und Rössel 2000). Bei der Entwicklung und empirischen Überprüfung von Lebensstil-Typologien werden vielfach qualitative und quantitative Methoden in kombinierter Form eingesetzt. In diesem Beitrag richtet sich das Augenmerk jedoch ausschließlich auf quantitative Zugänge. Zudem wird, abgesehen von den Arbeiten Bourdieus, nur auf Forschungsansätze im deutschsprachigen Raum eingegangen. Bourdieu verwendet die Methode der standardisierten Befragung zur Erhebung individueller kultureller Präferenzen, bevorzugter Musikrichtungen, Zeitungen, Speisen, Sportarten, Hobbies und dergleichen, in unterschiedlichen sozialen Gruppen. Diese Daten dienen ihm dazu, mithilfe des heuristischen Verfahrens der Korrespondenzanalyse den inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Facetten des kulturellen Alltagshandelns besser zu durchleuchten und seine These über die Korrespondenz zwischen dem Raum der sozialen Lagen (Klassen- und Berufspositionen) und dem Raum der Lebensstile empirisch zu überprüfen. Die ästhetischen Bewertungskriterien und ethisch-weltanschaulichen Orientierungen, die mit bestimmten Lebensstilen in Verbindung stehen, werden nicht quantitativ erhoben, sondern aus den subjektiven Beschreibungen des Lebensstils in qualitativen Interviews rekonstruiert, die parallel zur quantitativen Erhebung durchgeführt wurden (Bourdieu 1982). In den meisten Lebensstiluntersuchungen im deutschsprachigen Raum werden hingegen nicht nur kulturelle Präferenzen, sondern auch psychologische Persönlichkeitsmerkmale und Wertorientierungen quantitativ erfasst und in die statistische Analyse miteinbezogen. Besonders komplex ist in dieser Hinsicht das Erhebungsinstrument von Gerhard Schulze (1992). Dieses enthält neben einer Vielzahl an Fragen zu häuslichen und außerhäuslichen Freizeitbeschäftigungen, Lesegewohnheiten, Präferenzen für Musikrichtungen, Fernsehsendungen und Kulturveranstaltungen eine erhebliche Zahl an Itemlisten, mit denen Persönlichkeitsmerkmale,

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Berufs-, Wohn- und Lebenszufriedenheit, Religiosität und politische Orientierungen erhoben werden. Analog zu den drei Haupttypen des Geschmacks bei Bourdieu unterscheidet Schulze drei alltagsästhetische Schemata: Hochkultur-, Trivial- und Spannungsschema. Im Unterschied zu Bourdieu geht Schulze aber davon aus, dass die ästhetischen Orientierungen nicht nur von der sozialen Lage, sondern auch vom Lebensalter bestimmt sind. Er konstruiert demgemäß ein Modell von fünf Lebensstilmilieus, die unterschiedliche Muster der Affinität oder Distanz zu den drei ästhetischen Schemata aufweisen und den Bedürfnissen und Präferenzen bestimmter soziodemografischer Bevölkerungssegmente (kombinierte Alters-Bildungs-Gruppen) in besonderer Weise entsprechen. Bei der statistischen Datenanalyse setzt Schulze zum einen die strukturentdeckenden Verfahren der Korrespondenz- und der Faktorenanalyse ein; zum andern reduziert er die Datenmenge durch Likertskalen-Bildung und ordnet die Befragten entsprechend ihren Skalenwerten bezüglich der drei ästhetischen Erlebnisweisen den Lebensstiltypen zu. Im Verlauf einer sehr differenzierten und detailreichen „Hermeneutik von Massendaten“ werden sodann die Merkmalsprofile, die Art des Genussempfindens und die Lebensphilosophie der einzelnen Lebensstiltypen herausgearbeitet. Die Überprüfung der Korrespondenz zwischen Lebensstiltyp und sozialer Lage ergibt, dass etwa die Hälfte der Befragten in den fünf AltersgruppenBildungs-Segmenten eindeutig dem theoretisch erwarteten Lebensstiltyp entspricht; bei einer statistischen Zufallsverteilung würde dies nur auf ein Fünftel der Fälle zutreffen. Ein sehr bekannter Ansatz der Lebensstilanalyse im deutschsprachigen Raum sind die Sinus-Milieus des Markt- und Sozialforschungsinstituts Sinus Sociovision. Diese werden sowohl von kommerziellen Betrieben, Medienunternehmen und Werbeagenturen als auch von Behörden, politischen Parteien, Kirchen und Verbänden für die Zielgruppenanalyse bei der Konzeption von Angeboten und Werbekampagnen genutzt. Im akademischen Raum wurde der Forschungsansatz der Sinus-Milieus von der Forschungsgruppe um Michael Vester aufgegriffen und weiterentwickelt (Vester et al. 2001). Die ursprüngliche Basis für die Beschreibung der Sinus-Milieus bildete ein Pool von über tausend narrativen Interviews. Aufbauend auf dieser Grundlage wurde anfangs der 1980er-Jahre ein standardisiertes Messinstrument entwickelt, das 45 zentrale Lebensstilmerkmale sowie einige soziodemografische Variablen erfasst. Anhand dieser Daten werden die Befragten mit einem clusteranalytischen Verfahren einem von zehn Lebensstil-Milieus zugeordnet, wie etwa den „KonservativEtablierten“, den „Sozialökologischen“, den „Prekären“ oder den „Hedonisten“. Die Milieus lassen sich grafisch in einen zweidimensionalen Raum einordnen, der durch die beiden Dimensionen der sozialen Lage und der grundlegenden Wertorientierung bestimmt wird. Die Wertedimension gliedert sich in die drei Segmente Tradition, Modernisierung/Individualismus und Neuorientierung (Diaz-Bone 2004; Vester et al. 2001). Mit diesem Erhebungsinstrument und Analyseverfahren kann auch der Wandel der Lebensstile, das heißt die Vergrößerung oder Verringerung des Anteils einzelner Lebensstil-Milieus im Zeitverlauf untersucht werden. Zudem wurde die Sinus-Methode der Milieu-Klassifikation mittlerweile auch in einer Reihe anderer westeuropäischer Länder eingesetzt, womit auch die Verteilung der Bevölkerung nach Lebensstil-Milieus in verschiedenen Ländern verglichen werden kann.

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Der Sinus-Milieu-Ansatz ermöglicht somit eine Verbindung von Lebensstil- und Wertewandelsforschung (ebd.; Otte 2008). Gunnar Otte hat vor dem Hintergrund einer Metaanalyse von Lebensstil- bzw. Milieutypologien im deutschsprachigen Raum ein Modell konstruiert, das mit einem viel geringeren Erhebungsaufwand als bei bisherigen Verfahren eine Zuordnung der Befragten zu neun Typen der Lebensführung ermöglicht und seiner Ansicht nach wesentliche Vorzüge bisheriger Ansätze in sich vereint. Die Typen sind wie bei den meisten derartigen Modellen in einem zweidimensionalen Raum angeordnet. Die erste Achse betrifft das Ausstattungsniveau, das heißt die Nähe oder Distanz zum Hochkulturmilieu und zu einem gehobenen Konsumstil. Die zweite Achse bezieht sich auf die weltanschauliche Orientierung; die drei Stufen dieser Dimension – traditional, teilmodern und modern – lassen sich auf der Zeitebene sowohl im Sinn einer lebenszyklischen biografischen Entwicklung (biografische Offenheit, Konsolidierung und Schließung), als auch im Sinne eines kohortenspezifischen Wertewandels von Traditionalismus in Richtung Modernität interpretieren (ebd.). Die Frage, ob das von Otte entwickelte Analysemodell tatsächlich einen Mehrertrag im Vergleich zu anderen Ansätzen bringt, hängt von den Zielen der Analyse ab. Wenn das Ziel darin besteht, mit einem zeitsparenden, transparenten und statistisch zuverlässigen Analyseverfahren, das sich auch für Längsschnittstudien und Ländervergleiche eignet, die Verteilung von Lebensführungs-Typen in bestimmten Populationen zu ermitteln und zu vergleichen, dann bedeutet dieses Verfahren zweifelsohne einen Fortschritt gegenüber früheren Verfahren. Vom Standpunkt einer verstehenden, interpretativ-phänomenologischen Kultursoziologie aus betrachtet sind jedoch die Analysen von Bourdieu und Schulze wesentlich höher zu bewerten, weil sie durch dichte Beschreibungen und einen hermeneutischen Zugang zu quantitativen Daten (bei Bourdieu in Verbindung mit qualitativen Daten) den Sinn und die Bedeutung von Lebensstilen in einer Tiefe erfassen, die quantitativen Analysemethoden, bei denen die erhobenen Variablen nur zur statistischen Skalenbildung dienen, nicht zugänglich ist.

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Abschließende Bemerkungen

Quantitative Methoden der Sozialforschung haben in der Kultursoziologie aus verschiedenen Gründen, die am Beginn dieses Beitrags kurz erörtert wurden, eine untergeordnete Bedeutung. Akzeptanz und Wertschätzung finden vor allem solche Beiträge, bei denen quantitative Daten in einem hermeneutischen Analyseverfahren und auf der Grundlage einer ernsthaften Auseinandersetzung mit kultursoziologisch relevanten Theorien zur Deskription und Erklärung der Bedeutung sozialen Verhaltens herangezogen werden, wie dies bei den kultursoziologisch orientierten Lebensstilanalysen von Bourdieu und Schulze der Fall ist. Stärker sozialstrukturell orientierte Ansätze der Lebensstilforschung wie auch die Wertewandelsforschung und der interkulturelle Wertevergleich werden von vielen Kultursoziologen als weniger relevant wahrgenommen und kaum rezipiert, weil diesen Forschungen ihrer Ansicht nach die Tiefenperspektive der verstehenden Soziologie fehlt. Da es

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quantitativen Sozialforschern tatsächlich oft mehr um die Brillanz und Signifikanz ihrer statistischen Modelle als um ein tieferes Verstehen des zugrunde liegenden menschlichen Handelns geht, ist dieser Vorwurf in vielen Fällen berechtigt; er gilt aber sicherlich nicht für die gesamte quantitative Werteforschung. Zu bedenken ist auch, dass bei makrosoziologischen Kulturanalysen, bei Längsschnittstudien und vor allem im Bereich der international vergleichenden Sozial- und Kulturforschung aus verschiedenen Gründen – aufgrund der Komplexität des Forschungsfelds und der Schwierigkeit, Interviews, die in unterschiedlichen Sprachen geführt wurden, vergleichend zu analysieren, wie auch aufgrund des hohen logistischen und finanziellen Aufwands – der Einsatz qualitativer Methoden schwierig oder aus praktischen Gründen gar nicht möglich ist, und dass hier quantitative Erhebungsmethoden und komplexitätsreduzierende statistische Analysemethoden soziologisch bedeutsame Erkenntnisse ermöglichen, die nur auf diesem Weg erreicht werden können. Am heutigen Entwicklungsstand der Soziologie wäre es daher durchaus wünschenswert, wenn die eingangs skizzierte Polarisierung zwischen quantitativ-makrosoziologischer Sozialstrukturforschung und qualitativ-mikrosoziologischer Kultursoziologie wieder abgebaut wird, wenn sich Kultursoziologen wieder mehr mit makrosoziologischen Ansätzen des Kulturvergleichs beschäftigen und Befunde der quantitativen Wertewandelsforschung in ihre Überlegungen einbeziehen und wenn sich umgekehrt Sozial- und Werteforscher mehr darum bemühen, ihre Daten nicht nur statistisch, sondern auch soziologisch verstehend auf dem Hintergrund kultursoziologischer Theorien zu interpretieren.

Literatur Alexander, Jeffrey, Ronald Jacobs, und Philip Smith. 2013. Introduction: Cultural sociology today. In The oxford handbook of cultural sociology, Hrsg. Jeffrey Alexander, Ronald Jacobs und Philip Smith, 3–25. Oxford: Oxford University Press. Bachleitner, Reinhard, Martin Weichbold, Wolfgang Aschauer, und Markus Pausch. 2014. Methodik und Methodologie interkultureller Umfrageforschung. Zur Mehrdimensionalität der funktionalen Äquivalenz. Wiesbaden: Springer. Beck, Ulrich. 1993. Jenseits von Stand und Klasse. In Riskante Freiheiten. Individualisierung in der modernen Gesellschaft, Hrsg. Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, 43–60. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre. 1982. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Braun, Michael. 2006. Funktionale Äquivalenz in interkulturell vergleichenden Umfragen. Mythos und Realität. Mannheim: ZUMA. Cappai, Gabriele. 2005. Der interkulturelle Vergleich. Herausforderungen und Strategien einer sozialwissenschaftlichen Methode. In Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Hrsg. Ilja Srubar, Joachim Renn und Ulrich Wenzel, 48–78. Wiesbaden: VS Verlag. Diaz-Bone, Rainer. 2004. Milieumodelle und Milieuinstrumente in der Marktforschung. Forum: Qualitative Social Research 5(2): http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/ view/595/1292. Zugegriffen am 15.09.2015. Edles, Laura Desfor. 2002. Cultural sociology in practice. Malden/Oxford: Blackwell.

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Teil III Felder, Phänomene, Prozesse kultursoziologischer Forschung

Architektur aus kultursoziologischer Perspektive Felder, Phänomene, Prozesse kultursoziologischer Forschung Heike Delitz

Inhalt 1 Vielfalt der Architekturen, Vielfalt der Aufgaben kultursoziologischer Analysen der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Architektursoziologische Theorie- und Forschungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Jede Gesellschaft, jedes Kollektiv besitzt in seinen architektonischen Artefakten eine je eigene, unumgängliche, räumlich-visuelle Gestalt; in jedem Kollektiv durchdringen architektonische Artefakte und Aktivitäten das soziale Leben, die Interaktionen permanent, und dies meist in vorbewusster, und stets nichtsprachlicher Weise. Kultursoziologien können sich auf diese materielle Kultur sowohl methodisch als auch methodologisch-gesellschaftstheoretisch in sehr verschiedener Weise beziehen (Architektur als Spiegel der Kollektive oder als deren aktiven Part verstehend); sich auf differente Aspekte konzentrieren (Artefakte, Wissens-, Praxisformen), als empirisch interessierte Subdisziplin oder gesellschaftstheoretisch und -analytisch angelegt sein, ethnografisch, in historischer oder in synchron kulturvergleichender Perspektive forschend. Schlüsselwörter

Architektur · Artefakte · Material turn · Infrastruktur · Stadt · Raum

H. Delitz (*) Lehrstuhl für Soziologie, insbesondere soziologische Theorie, Bamberg, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_19

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Vielfalt der Architekturen, Vielfalt der Aufgaben kultursoziologischer Analysen der Architektur

Das kulturelle Phänomen Architektur – all jene kulturell, historisch und typologisch vielfältigen architektonischen Artefakte, Aktivitäten und Wissensformen – stellt ein vielversprechendes Feld kultursoziologischer Forschung dar: Es ist dasjenige kulturelle Phänomen, das alltagspraktisch, ‚im Gebrauch‘ rezipiert wird; von dem sich kein soziales Leben und kein Subjekt distanzieren kann, das vielmehr ebenso visuell stets präsent ist, wie es die Körper permanent umgibt. Es ist zugleich diejenige Artefakt-Kultur, die in der Moderne eine autonome, auf das Neue zielende Haltung diszipliniert – mit dem expliziten Ziel einer Gesellschaftsveränderung. Architektonisch erzeugen sich schließlich alle Kollektive (auch die nicht modernen) ein je bestimmtes ‚Gesicht‘, eine konkrete körperräumliche Gestalt sowie je spezifische Lebensräume, die die sozialen Beziehungen tief affizieren. Architektonische Artefakte schaffen je bestimmte Sichtbarkeiten; motivieren Bewegungen und Haltungen; ermöglichen je visuelle, taktile und akustische Kontakte. Ihre soziologische Analyse ist so vielversprechend wie herausfordernd: Nötig sind gegenstandsadäquate Methoden der Datenerhebung und -auswertung (Vorschläge z. B. in Schubert 2005; Müller und Reichmann 2015, S. 234 ff.). Der Komplexität des Phänomens Architektur, aber auch der Komplexität der Disziplin Kultursoziologie entsprechend, sind die Perspektiven, Gegenstände und Erkenntnisinteressen architektursoziologischer Forschung vielfältig: Kultursoziologie ist sowohl eine empirische Subdisziplin (die sich auf die Erforschung kultureller Phänomene – Musik, Kunst, Literatur, Architektur – konzentriert); als auch eine Perspektive der Allgemeinen Soziologie, der Theorie und Analyse sozialer Beziehungen, Institutionen und Gesellschaften, die von der kulturellen oder symbolischen Erzeugung und Strukturierung von Kollektiven ausgeht (in kollektivzentrierter oder in handlungstheoretischer Perspektive). Und Architektur ist einerseits ein hochkulturelles, spezifisch modernes Phänomen (einer ausdifferenzierten Profession); andererseits ein universelles, eine historisch, global und auch innerhalb der Kollektive zum Teil überaus differenzierte Kulturtechnik und Wissensform (zur vernakulären Architektur vgl. z. B. Rudofsky 1989; Vellinga et al. 2007). Es gibt implizite und explizite Architektursoziologien; Soziologien der Architektur im engeren Sinne und architektursoziologische Sozial- und Gesellschaftstheorien. Jede Architektursoziologie ist Kultursoziologie (da es stets um Architektur, um ein kulturelles Phänomen geht); nicht jede Architektursoziologie zielt indes auch auf eine Gesellschaftsanalyse. Architektursoziologien können sich also auf das Phänomen Architektur beschränken oder durch es hindurch auf die Gesellschaft zielen – auf deren Strukturierung und Veränderung oder auf soziale Beziehungen und ihren Zusammenhang mit architektonischen Artefakten, Wissensformen und Aktivitäten. Konkrete Analysen haben verschiedene Bautypen im Blick (politische, Disziplinararchitekturen, religiöse, Bank-, Büro-Konsumbauten, Wohn- oder Infrastrukturbauten, Landschaftsarchitektur; oder auch Ruinen; vgl. zu Bautypen Seidl 2012). Zudem gibt es methodische Unterschiede – historische Architektursoziologien, synchron vergleichend ange-

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legte Studien oder Einzelfallstudien. Die Aufmerksamkeit gilt verschiedenen Zeitpunkten respektive Aktivitäten des Architektonischen – dem Entwurf von Architekturen; oder ihrer Artefakt-Wirkung (im Blick auf die ‚soziologische Imagination‘ der Gesellschaft oder die Beeinflussung und Ermöglichung bestimmter Interaktionsweisen oder Subjektformen); oder der (gegebenenfalls widerständigen, ‚subversiven‘) Gebrauchsweise. Soziologien der Architektur unterscheiden sich also darin, ob sie auf das Artefakt konzentriert sind, die Profession im Blick haben (z. B. die Herausbildung architektonischer Stile, architektonischen Prestiges, architektonischen Wissens) oder den Gebrauch fokussieren – oder auch gesellschaftliche Diskurse um Architektur. Das Interesse kann verschiedenen Temporalitäten der Architektur selbst gelten (Avantgarden; Rekonstruktionen; Zerstörungen; Bautraditionen und -ritualen). Auch können differente Aspekte an Architekturen interessieren: architektonische Trennungen und sichtbare Differenzierungen (der Generationen, Geschlechter, Klassen, Schichten, Ethnien); architektonisch erzeugte Subjektformungen; die Affektivität religiöser Architekturen oder das Naturverhältnis. Sozial- und gesellschaftstheoretisch interessierten Architektursoziologien geht es in diesem Sinn nicht allein um Analysen einzelner Gebäude, Stile oder Bautypen (ihrer sozialen Genese, ihrer gesellschaftlichen Bedeutung oder ihres sozialen Gebrauchs), sondern vielmehr auch darum, die „antiästhetische und antitechnische“ Sozialtheorie der klassischen Soziologie (Eßbach 2001) zu revidieren – die sozial- und gesellschaftstheoretische Verbannung der Artefakte generell und der architektonischen Artefakte speziell. Die Frage, aus welchen Entitäten sich eine Gesellschaft konstituiert, welche socii beteiligt sind, wird hier im Blick auf Architekturen erneuert. Insofern zielen Architektursoziologien auch auf die Allgemeine Soziologie. Dabei geht es um die Frage der gesellschaftlichen Bedeutung, der Positivität oder der sozietalen Effekte von Architekturen: Was bedeutet die Präsenz, die Materialität, die Unumgehbarkeit, der enge Körperbezug dieser Artefakte für die je spezifische Gesellschaft, was die Tatsache einer professionell kreativen Disziplin für deren Transformation und Identität? Zwischen der These des architektonischen Ausdrucks von Gesellschaft (die der klassischen Konzeption des Sozialen als Sphäre sinnhaft orientierter Handlungen ebenso entspricht wie ökonomistisch-materialistischen Konzepten) und der architektonischen Existenzform von Kollektiven (wie sie die neuen sozialen Ontologien wie auch Erweiterungen von Luhmanns Kommunikationstheorie und post-/strukturalistische Ansätze zu denken erlauben), sind mehr oder weniger radikale Antworten möglich. Wie die soziologischen Theorien generell, so lassen sich die architektursoziologischen Konzepte dabei differenten Theorietraditionen zuordnen: ob sie eher Kollektivzentriert oder handlungstheoretisch ansetzen; eher dem Interesse an sozialen Unterschieden folgen oder Subjektformierungen analysieren; einen mikrosoziologischen Ansatz teilen oder ‚Gesellschaft‘ in den Blick zu bringen suchen; ob sie die soziale Bedeutung der Architektur eher Diskurs-erzeugt, affektiv oder im Körperbezug sehen. Dem entsprechen je verschiedene Architektur-zentrierte Gesellschaftsanalysen – Antworten auf die Frage, welche Funktion diese konkreten architektonischen Artefakte und Aktivitäten für diese Kollektive, diese typischen Interaktionsweisen, diese Subjektformen haben. Wie in der Soziologie

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generell, gibt es schließlich verschiedene Erkenntnisinteressen (vgl. dazu Fischer 2009). Oft fällt der architektursoziologische Blick auf subversive Akte, den kreativen Umgang mit Architektur als Kritik an ArchitektInnen und BauherrInnen bis zur revolutionären Zerstörung von Bauten; oft ist eine Gesellschafts-, Macht- und Ungleichheits-kritische Perspektive impliziert, die der Architektur ein materialisiertes Machtverhältnis zuschreibt. Andere Blicke üben eher analytische Distanz (was richtet sich mit, in und durch eine Architektur eigentlich für eine soziale Lebensform ein?); weitere plädieren für soziologische Architektur- und Planungsberatung. Schließlich macht es einen Unterschied, welchen Architekturbegriff die Kultursoziologie verwendet, für welche Artefakte und Praxen sie sich unter dem Titel ‚Architektur‘ interessiert: nur für solche, die mit der Profession verknüpft sind, für ästhetisch definierte ‚Architektur‘ im Gegensatz zum ‚gewöhnlichen Gebauten‘ oder generell für die ‚gebaute Umwelt‘? Statt dieses (immer noch ethnozentrischen) Begriffes entfalten verschiedene Architektursoziologien einen formalen Architekturbegriff (mit Luhmann: Baecker 1990; Fischer 2009, 2010); einen, der auch gewebte, genähte, ephemere und weiche architektonische Artefakte einbezieht (zu einem derart grundlegenden Architekturbegriff vgl. Cache 1995). Diese Vielfalt der impliziten und expliziten Architektursoziologien ist nur selektiv darstellbar (Übersichten nach Thurn 1972 und Schäfers 2006 z. B. in Delitz 2010, Kap. I; Löw und Steets 2014; Jones 2016). Das gilt umso mehr, als kultursoziologisch Relevantes nicht notwendig unter dem Begriff ‚Architektur‘ auftritt, sondern auch unter dem der built environment (in der urban sociology bzw. der Stadtsoziologie, vgl. Löw 2008) oder des gebauten Raumes in der Raumsoziologie. Auch wenn der Begriff ‚Architektur‘ nicht im Zentrum steht, entfalten gerade die neuere Raum- und Stadtsoziologie auch architektursoziologische Studien, indem sie etwa den architektonischen Anteil an der ‚Eigenlogik der Städte‘ betonen (Löw 2008, S. 102 ff.; Reckwitz 2012, S. 269–312; Müller 2013) oder die architektonische Einrichtung und Veränderung gesellschaftlicher Differenzierungen im Blick halten (Schroer 2006, S. 174–181 auch Löw 2001, S. 254 ff.). Architektursoziologische Konzepte finden sich auch in der Architekturtheorie, in den Kultur- und Medienwissenschaften, den studies (u. a. urban, urban crime, disability, gender studies), in Archäologie (Trebsche et al. 2010) und Ethnologie/Anthropologie (Parker Pearson und Richards 1994; Carsten und Hugh-Jones 1995); implizit architektursoziologische Studien weisen darüber hinaus auch Politik- und Geschichtswissenschaft einschließlich Kunstgeschichte (z. B. Warnke 1984) auf. Erwähnt werden im Folgenden jene Beiträge in (und auch jenseits) der Soziologie, die methodisch, konzeptionell oder analytisch für eine Kultursoziologie der Architektur besonders instruktiv waren. Insbesondere liegt das Augenmerk auf solchen Beiträgen, die dabei explizit und programmatisch auf die Architektursoziologie zielen. Was die impliziten Klassiker der Architektursoziologie betrifft, so werden auch sie nicht vollständig genannt (vgl. dazu Delitz 2009), sondern nur im Blick auf Aktualisierungen (wie auch z. B. in Fischer und Makropoulos 2004; Fischer und Delitz 2009).

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Architektursoziologische Theorie- und Forschungslinien

2.1

Implizite Architektursoziologien. Klassische Konzepte zur Soziologie architektonischer Artefakte

Die Vielfalt der Analysen einzelner Gebäude, Stile oder Bautypen ist unüberschaubar. Gleichwohl sind einzelne Orientierungspunkte, Traditionslinien, Schlüsselanalysen erkennbar: klassisch gewordene Architektursoziologien. Von den Klassikern der Soziologie generell sind hier zunächst die Durkheimiens hervorzuheben, namentlich Marcel Mauss’ und Maurice Halbwachs’ Ergänzungen zu Durkheims sozialer Morphologie. Mauss’ Studie über die soziale Morphologie der Inuit (1989) ist bedeutend, weil sie zu sehen erlaubt, wie tief die architektonische Kultur mit allen Details des kollektiven Lebens verknüpft ist: Im ‚natürlichen Experiment‘ (das die Inuit durchführen, da sie einen radikalen Jahreswechsel erzeugen (das Jahr zweiteilen in Winterund Sommerdinge, Winter- und Sommerwesen, religiöse, ökonomische, politische Lebensweisen), sind es zwei verschiedene Architekturen, die mit diesem Rhythmus der Jahreshälften und Lebensweisen zutiefst verbunden sind: kleine, verstreute, mobile Sommerzelte; mehrere Familien beinhaltende, fixierte Winterhäuser. Dieser Rhythmus zwischen individuell-profanem und kollektiv-sakralem Leben ist ein zentraler Aspekt von Durkheims später Theorie der Gesellschaft, ihrer Selbsterzeugung und -heiligung in rituellen und symbolischen Praxen. Halbwachs hat sich einerseits der Funktion architektonischer Artefakte für das kollektive Gedächtnis und damit der Kontinuität von Gesellschaft gewidmet (1967); zum anderen religiöse Architekturen analysiert, die heiligen Stätten als Existenzgrundlage des christlichen Glaubens enthüllend (2003 [1941]). Indem es derart auf die konstitutive und permanente Symbolisierung des Kollektivs verweist, kommt das Durkheim-Paradigma zu einer kultursoziologischen Gesellschaftstheorie, die architektonische Artefakte zutiefst mit einbezieht. Es war Claude Lévi-Strauss, der das durkheimsche Schwanken zwischen einer (soziozentrischen) soziologischen Theorie des Symbolischen und einer (kulturtheoretischen) symbolischen Theorie der Gesellschaft zugunsten des cultural turn entschied. Seither hat sich dank dieser französischen Debatte und anderen, auch angloamerikanischen Quellen des cultural turn (vgl. dazu Reckwitz 2001) die Kultursoziologie als grundlegende soziologische Perspektive etabliert. Auch wenn Lévi-Strauss selbst eher immaterielle Aspekte der kulturellen Konstitution des Sozialen analysiert, ist er für Architektur-zentrierte anthropologische Analysen ein zentraler Anknüpfungspunkt, nämlich im spät entwickelten Konzept der ‚Hausgesellschaft‘. Auch hat er implizit architektursoziologisch gearbeitet, die räumliche Organisation von Gesellschaften, die architektonische Strukturierung von Kollektiven sichtbar machend (Lévi-Strauss 1977). Architekturanalysen innerhalb der Soziologie, aber auch der Kultur- und Medienwissenschaften sind in Frankreich seither ebenso von Michel Foucault, Henri Lefebvre und Michel de Certeau beeindruckt (vgl. insgesamt zur Affinität poststrukturalistischer Perspektiven für Architekturanalysen Prinz und Schäfer 2008). Foucaults Transformation der Diskurs- in die ‚Dispositivanalyse‘ (1975) analysiert die Art und Weise, wie die Körper der Einzelnen in Architekturen visuell präsent und diese damit diszipliniert werden.

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Während Foucault historisch vergleichend vorgeht, die gesellschaftliche Effektivität von Bauten und Entwurfsprinzipien zeigend, indem er die bürgerliche Gesellschaft mit ihren architektonischen ‚Techniken der Macht‘ dem Absolutismus (und antiken Kollektiven) gegenüberstellt, vollzieht die ‚Architektursoziologie‘ bei Gilles Deleuze eine strukturalistische, d. h. hier: synchrone, kontrastive Analyse von Gesellschaften. Die nomadische ‚Kriegsmaschine‘ erweist sich architektonisch, räumlich und affektiv als das Gegenteil einer staatlich organisierten Gesellschaft – beide haben konträre „Gefüge“ von Körpern, (architektonischen) Artefakten und Diskursen (Deleuze und Guattari 1992 [1980], Kap. 12, 14). Was für die französische Soziologie das Paar Lévi-Strauss-Foucault ist, ist für die deutschsprachige Architektursoziologie die Philosophische Anthropologie: Plessner und Gehlen erlauben eine tiefe, sozial- und gesellschaftstheoretische Einbeziehung der Artefakte. Als Klassiker der Architektursoziologie wirkten aber ebenso die Erfinder der deutschen Kultursoziologie schlechthin, namentlich Georg Simmel, in Andeutungen Max Weber, dann Walter Benjamin und Norbert Elias. Bei Simmel geht es einerseits um die Wahrnehmung der räumlichen Strukturierung von Wechselwirkungen generell – ihre Gebundenheit an einen bestimmten, auch architektonisch erzeugten Raum (Simmel 1968 [1908]). Anderseits bezieht sich Simmel speziell auf die eminente, in der Soziologie sonst indes kaum thematisierte Tatsache der architektonischen und städtebaulichen Neugestaltung moderner Gesellschaften und insbesondere auf die Effekte der neuen Großarchitekturen auf die Subjekte (Simmel 1903). Benjamins Passagenwerk (1991) ist ein Klassiker der Architektursoziologie, da er die marxistische Perspektive, welche Architektur als passives, allenfalls soziale Verhältnisse verschleierndes ‚Überbauphänomen‘ versteht (vgl. Adorno 1967), aufbricht: Die Konsumarchitekturen im Paris des 19. Jahrhunderts, die Passagen haben das konsumierende Subjekt erst mit hervorgebracht, in jener ‚Begehrlichkeit‘, die die Schaufenster weckten, im geschützten überdachten Straßenraum. Auch Ernst Bloch (1959), der sich auf architektonische Entwürfe bezieht, hat in diesem Sinne die Basis-Überbau-Theorie aufgelockert: Architektonische Utopien haben eine affektive Kraft, erzeugen, was bislang nicht vorstellbar war – verändern die Gesellschaft. Und Norbert Elias (1983) denkt gegen die von ihm selbst gebrauchten Begriffe des ‚Anzeigers‘ und ‚Spiegels‘ den aktiven Beitrag der Architektur zur je spezifischen Strukturierung der Gesellschaft, wobei es sich in seinem Fall um einen stabilisierenden Effekt handelt: Das Schloss von Versailles, so entworfen und gebaut, dass es die zentrale Macht des Königs in Körperbewegungen, Laufwege, Distanzen instituiert, und so, dass es die absolutistische Geschlechterordnung, nämlich die relativ emanzipierte Stellung der adligen Frau, mit erzeugt. Ein Klassiker der Architektursoziologie mit gesellschaftstheoretischem Impuls liegt auch in Martin Warnkes Soziologie der mittelalterlichen religiösen Architektur vor (1984): Warnke macht Sinn und Effekt der großen Kathedralbauten und der enormen Investitionen, die darin eingingen, sichtbar – als nur in dieser Architektur möglich gewesene Kooperation sozialer Kräfte; als materialisierte Gemeinorientierung, als Hinauswachsen über bis dato Mögliches im Akt des Bauens, als architektonische Transformation der Gesellschaft.

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Wie erwähnt, wären viele weitere klassische kultursoziologische Studien zu Architekturen als Artefakten zu nennen (in den beiden Bedeutungen einer empirischen Subdisziplin und Allgemeinen Soziologie) – im angloamerikanischen Raum etwa solche, die an den symbolischen Interaktionismus anschließen, während die klassische ‚School‘ der amerikanischen Soziologie (die Chicago School) das stadtsoziologische Thema vorgab: Segregation als quasi-ökologische Nischenfindung. Die Stadtsoziologie thematisiert auf dieser Basis erst in jüngerer Zeit explizit Architekturen; lange ist sie demgegenüber eher durch die Absenz kultursoziologischer Positionen geprägt.

2.2

Explizite Architektursoziologien: Neuere kultursoziologische Konzepte

Nicht alle kultursoziologischen Studien zur Architektur konzentrieren sich auf die Artefakte. Sie können auch – und das kennzeichnet viele neuere angloamerikanisch inspirierte Positionen – für zentral halten, was Akteure (Architekten, Nutzer usw.) ‚tun‘. Die Aktivitäten des Entwerfens und der Nutzung von Architekturen stehen dann hinsichtlich der Bedeutungszuschreibungen, die Architekturen erfahren, im Blick. Leitend ist dabei oft Pierre Bourdieus Soziologie der Kultur als Kampf um Distinktion. Architektursoziologien, die diese Perspektive teilen, betonen die gesellschaftlichen, distinktiven Bedingungen des Entwerfens (gegen die Illusion der ‚autonomen‘ Disziplin Architektur) und in diesem Sinne die Macht von Architekturen, deren Einsatz im Kampf um inner- und zwischengesellschaftliche Distinktion. Architektur ist eine Ressource, ist kulturelles Kapital, erlaubt Distinktionsgewinne sowohl in architektonischem Wissen wie Geschmack. Thematisch sind in solchen Analysen bislang die aktuellen ‚globalisierten‘ Architekturen zentral, und zwar, sofern sie zur Bildung kollektiver nationaler Identitäten (Jones 2011; Delanty und Jones 2002), und im nationalen und globalen Wettbewerb von Städten (Löw 2008; Grubbauer 2011) eingesetzt werden – Bourdieus Feldtheorem erlaubt es dabei, die „Logik der architektonischen Praxis“ als die einer symbolischen Herrschaft zu entlarven. Letztlich zeigen oder unterstellen solche Analysen eine „tiefe Komplizenschaft“ von ArchitektInnen und sozialer Ordnung, sie sehen eine zutiefst „politische Funktion“ der (Star-)Architektur (Jones 2011, S. 25). Viele Studien gerade zur Gegenwartsarchitektur in der jüngeren Soziologie, Architekturtheorie, urban studies, cultural anthropology oder postcolonial studies nehmen derart eine Hegemonie-, Kapitalismus- und Globalisierungs-kritische Perspektive ein (vgl. z. B. King 1976, 2004; Sklair 2005; Guggenheim und Soderstrom 2010). Andere Studien betonen hingegen die Eigenaktivität des Nutzers, den subversiven Gebrauch von Architekturen gegen die Anmutung harter, zwingender Baukörper. Unter ihnen heben sich aktuell STS-inspirierte Architektursoziologien hervor, insofern sie Architekturen insgesamt verflüssigen (s. u.). Generell vertreten solche Kultursoziologien die These der Arbitrarität der Bedeutung von Architektur. Sie interessieren sich entsprechend für Bedeutungsgenerierungen, Bedeutungszuschreibungen und -erosionen. Um veränderliche, flüssige Praxen geht es dabei auch im Hinblick auf den

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Entwurfsprozess selbst: Albena Yaneva (2009; vgl. Latour und Yaneva 2008) hat in dieser Perspektive stilbildend die Aktivität des Entwerfens als fluides und komplexes Netz von ArchitektInnen, Modellen, Entwurfsskizzen etc. beschrieben, indem die am Entwerfen ‚beteiligten‘ Artefakte eine wichtige Rolle erhalten – mit jedem Modell ändert sich das Netzwerk. Klassischere Soziologien der Praxis des Entwerfens hingegen stellen die Professionssoziologien dar, in denen (in nicht zwingend kulturalistischer Perspektive) Architekturfirmen im Blick stehen: hinsichtlich der Ansprüche, Dynamiken und Konflikte, die den Architektenberuf vielfältig affizieren (Blau 1984; Cuff 1991; Stevens 1998; Champy 2001; vgl. Schmidtke 2006; Grubbauer und Steets 2014). Gegenüber der klassischen Soziologie hat sich im Zuge des cultural turn ein vielschichtiges neues sozial- und gesellschaftstheoretisches Interesse an (architektonischen) Artefakten herausgebildet, ebenso wie vielfältige kulturtheoretische Positionen. In ihnen stehen zunehmend visuelle und materielle Aspekte der Architekturen im Blick, tendenziell in Ablösung jener semiotischen Theorien, die von der Arbitrarität der ‚Aussage‘ von Architekturen ausgingen. Neu thematisiert werden die Alltagsbedeutung und visuelle Präsenz der Baukörper, deren raumkonstituierende Bedeutung (auch gegenüber ‚raumvoluntaristischen‘ Tendenzen in der Raumsoziologie, Schroer 2006, S. 175), die Affektivität der Artefakte, ihrer Materialien, Formen und Dimensionen. Neue theoretische Impulse betreffen dabei einerseits die Sozialtheorie als Bestimmung der sozialen Akteure (im Anschluss an die bereits erwähnten: Foucault und Deleuze sowie die Akteur-Netzwerk-Theorie); andererseits die Frage nach der ‚Gesellschaft‘. Es lassen sich mithin zwei konzeptionelle Ebenen unterscheiden: Die Sozialtheorie wird erweitert, indem die architektonischen Körper als socii ernst genommen werden, als nicht lediglich passive Objekte; die Gesellschaftstheorie gewinnt eine neue Bedeutung der Architektur, indem sie nicht soziozentrisch oder ökonomistisch von einer bereits vorliegenden, strukturierten Gesellschaft ausgeht, die sich in den Architekturen lediglich ‚repräsentiert‘, ‚symbolisiert‘ oder ‚spiegelt‘ (so Delitz 2010). Architekturen werden – in verschiedener Theoriesprache und Ausdrücklichkeit – in beiden Hinsichten als sozial aktiv verstanden. Tatsächlich bilden sie nicht nur eine permanente artifizielle Umgebung der Interaktionen, die architektonischen Körper verbinden sich mit den menschlichen zu je spezifischen Bewegungen, Haltungen und Wahrnehmungen – sie sind den Interaktionen nicht äußerlich. Zugleich bilden Architekturen in ihrer Gesamtheit die je konkrete räumlich-visuelle Gestalt der ‚Gesellschaft‘ – sie machen diese auf eine Weise erfahrbar, die kein anderes Medium ermöglicht. Die nachfolgend skizzierten neueren, programmatischen Architektursoziologien unterscheiden sich konzeptionell darin, ob sie eher die architektonische Materialität, ihre Eigenlogik denken, oder eher an Bedeutungszuschreibungen interessiert sind, das ‚Soziale‘ jenseits der Architektur sehend; zudem darin, ob sie eher Kollektiv-zentriert oder handlungstheoretisch argumentieren, Architektur eher als Subjekt-konstituierend oder eher als Subjekt-konstituiert sehen. Architektur als Aktant und als Effekt von Akteur-Netzwerken: Die Neuen sozialen Ontologien (u. a. Latour, Descola) bringen in das klassische Schema der soziologischen Ansätze zwischen Handlungs- und Kollektiv-Ansätzen, zwischen Ansätzen

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am konstituierenden oder am konstituierten Subjekt neue Akzente hinein. Sie beziehen sich zwar auf Interaktionen, kritisch gegenüber Kollektivbegriffen, meinen aber systematisch menschliche wie nichtmenschliche (organische und artifizielle) Körper. Sozialtheoretisch orientiert, wird seitens der ANT/STS die klassische Handlungstheorie im Interesse für die permanente, instabile Konstitution von Kollektiven in Interaktionen zwischen Artefakten und Körpern ersetzt – in der Frage, wie Kollektive (u. a. als Machtverhältnisse) permanent erzeugt, stabilisiert und verändert werden. STS-inspirierte Architektursoziologien interessieren sich für dynamische Praxen, sie verstehen Gebäude als „veränderliche immobile Dinge“ (Guggenheim 2009). Das Artefakt Architektur sei nur scheinbar stabil und unverrückbar, vielmehr befinde es sich in ständiger Bewegung, da stets in Praxen eingebunden. Sicher, Architekturen stehen fest auf dem Boden, permanent seien sie indes Prozessen unterworfen, die ihren „materiell-semiotischen ‚Charakter‘“ transformieren (Steinmetz 2012, S 340). Auch die Affektivität, der ästhetische Wert von Architektur erscheint als relationales und momentanes Produkt vielfältiger „Handlungen in und mit Gebäuden“ – Gebäude sind in dieser Hinsicht „Atmospheric-Actor-Networks“ (Göbel 2015, S. 343 ff.). STS-inspirierte Analysen verstehen sich dabei als ‚empiristisch‘, d. h. als nur mit ‚Realem‘ befasst – konkreten Prozessen, in denen Gebäude ‚etwas‘ ‚tun‘, in denen sie ‚mobilisiert‘ werden, soziales Leben zu stabilisieren oder Netzwerken Dauer zu verleihen (Gieryn 2002; Müller und Reichmann 2015). Architektur als Erzeugung einer objektiven Sinnstruktur (architektonisch stabilisierte Inter-Subjekt-Relationen): Ein handlungstheoretischer Ansatz kennzeichnet auch phänomenologische Ansätze, wobei sie Interaktionen klassisch vom Subjekt her konzipieren. In Übertragung des soziologischen Konzeptes von Schütz und Berger/Luckmann (Steets 2015) erscheinen Architekturen dann zunächst als ‚Externalisierung‘ von subjektivem Sinn (der ArchitektInnen); sodann als materielle Art und Weise, solche subjektiven Sinngehalte ‚objektiv‘ oder intersubjektiv wahrnehmbar und gültig zu machen; und schließlich als Sinngehalt, der von Subjekten ‚internalisiert‘ wird – indem Gebäude zeichenhaft oder symbolisch typisiert wahrgenommen werden (man ihnen Funktion, Status, Sakralität usw. ansieht) und indem sie sich auf den Körper beziehen. In all dem tragen sie zur ‚gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‘ bei, bauen am ‚sinnhaften Aufbau der Welt‘ mit: einer gemeinsam geteilten Alltagswirklichkeit. Zugleich sind sie ein Element der individuellen Identitätsbildung, indem sie kreativ genutzt werden, Einzelne einen ‚gekonnten Umgang mit ihnen entwickeln‘, sich darin wohlfühlen. Architektur als Kommunikationsmedium der Gesellschaft (architektonische InterObjekt-Relationen/‚Interphänomenalität‘): Kommunikationstheoretische, genauer: systemtheoretische Architektursoziologien betonen die Gesellschafts-konstitutive Funktion und darin die Eigenlogik des ‚schweren‘ Kommunikationsmediums Architektur im Vergleich zu ‚leichten‘ Medien wie Sprache oder Geld (Fischer 2010). Entscheidend ist hier mithin die Erweiterung des Luhmann’schen Konzepts der ‚symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien‘ um das Medium Architektur, das als analytisch von Subjekten abgelöst, als sich selbst (über bestimmte Codes, Programme und Medien) stabilisierendes Kommunikationsgeschehen erscheint. Gesellschaften erscheinen als

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durchzogen und konstituiert durch inter-objektive oder ‚interphänomenale‘ Kommunikation zwischen Baukörpern. Analytisch führt die Beobachtung der Ausdifferenzierung des Mediums Architektur – ko-evolutiv zu anderen Kommunikationsmedien – zu einer Komplexitätssteigerung: Mitzuführen ist demnach auch in der Frage nach modernsten Gegenwartsgesellschaften stets die, welche Kommunikationen architektonisch ablaufen, zwischen den Gebäuden, ihren Fassaden ‚prozessieren‘. Wegen der unleugbaren körperlichen Existenz der Handelnden bleiben architektonische Kommunikationen auch in modernen, funktional differenzierten Kollektiven „unausräumbar“, kommunizieren etwa stets ältere und jüngere Generationen in Baukörpern (Fischer 2009, S. 407 ff.). Zudem erfindet die Architektur immer Neues, bewegt sich die moderne Gesellschaft auch architektonisch (und sei es im Rekonstruktionsmodus, Fischer 2012). Im Anschluss an Luhmann hat vorher bereits Dirk Baecker (1990) die Eigenlogik des Kommunikationsmediums Architektur formuliert, und zwar als Form der Innen-Außen-Differenzierung. Die architektonische Differenzierung von Bekanntem vs. Unbekanntem ist es etwa, die eine urbane Vergesellschaftung voraussetzt: „Keine Wand, keine Tür, kein Fenster, keine Decke ist [. . .] sozial unschuldig. Sie schirmen ab, kontrollieren Zugänge und sind die Symbole einer Ordnung, die in jedem Moment dazu auffordert, angenommen oder abgelehnt zu werden“ (Baecker 2015, S. 70). Architektur als Medium des Sozialen (architektonische Modi der kollektiven Existenz): Die kultursoziologische Gesellschaftstheorie, wie sie unter anderem Lévi-Strauss ermöglicht hat, geht wie auch die Luhmann’sche Theorie von der gleichzeitigen – symbolischen – Konstitution der ‚Gesellschaft‘ und ihrer Subjekte aus. Viele Positionen nach Lévi-Strauss betonen dabei zunehmend die Angewiesenheit des Symbolischen auf Materielles, auf Artefakte. Zugleich teilen sie Durkheims These der Notwendigkeit der Präsenz der ‚Gesellschaft‘, des Kollektivs. Was Cornelius Castoriadis und andere postfundationalistische Autoren ins kultursoziologische Denken bringen, ist die notwendige, symbolische (Selbst-) Konstitution der Gesellschaft – die verwiesen ist auf materielle Praxen, je bestimmte Artefakte, deren Materialität nicht mit beliebigem Sinn beschreibbar ist, sondern eine Eigenlogik einbringt. Architektursoziologisch bedeutet dies: Gesellschaften spiegeln sich nicht in ihren Architekturen, sie bringen sich vielmehr im Medium ihrer Architekturen, in deren Gestalt zur Existenz und transformieren sich auch architektonisch (Delitz 2010) – sie haben einen (je eigenen) architektonischen Modus der kollektiven Existenz (Delitz 2015). Zum einen sind architektonische Artefakte den Interaktionen nicht äußerlich, statt isolierter Subjektbeziehungen gibt es stets „Gefüge“ aus Körpern, Artefakten, Diskursen (Deleuze und Guattari 1992); architektonische Artefakte evozieren Wahrnehmungen, Bewegungen, Haltungen und Affekte. Zum anderen bestehen Kollektive als solche nur, indem sie sich als ‚diese Gesellschaft‘ imaginär instituieren oder fixieren, und sich dies symbolisch veranschaulichen, sich eine architektonisch erzeugte Gestalt geben. Architektonisch fixiert sich ein Kollektiv, instituiert es sich als diese Gesellschaft mit diesen sozialen Teilungen, diesem Raumbezug, diesen Verortungen der Einzelnen, diesem Natur-Kultur-Verhältnis, diesem zentralen Imaginären und diesen Subjekten.

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3

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Fazit

In diesem notwendig kursorischen Durchgang wird deutlich, dass sich eine Kultursoziologie der Architektur nicht mehr ausschließlich auf jene einst kanonischen Konzepte von ‚Sozialem‘ und ‚Gesellschaft‘ stützt, wie sie mit den (gleichwohl geläufigen) Ausdrucks- und Spiegelbegriffen einhergehen. Mit solchen Begriffen, wie auch mit dem der ‚Repräsentation‘, ist impliziert, dass Artefakte nicht selbst sozial sind, die Gesellschaft anderweitig strukturiert ist, sich vor und unabhängig von ihrem Symbolisch-Materiellen in Klassen, Schichten, Generationen, Geschlechter oder Funktionssysteme differenziert. Bei Elias fällt diese Begriffs-Gewohnheit noch auf, die die Architektursoziologie auf das engere Verständnis von Kultursoziologie als empirische Subdisziplin verweist – gegen die eigene Intuition. Demgegenüber sehen selbst aktuelle Architektursoziologien in ökonomistisch-materialistischer Tradition Architektur als „Medium“ (z. B. der Durchsetzung eines ökonomischen Konzeptes: Grubbauer 2011). Architekturen sind – angesichts des investierten Materials, der finanziellen und kognitiven Ressourcen, die in diese Kulturtechnik eingehen –, ein eminenter, permanent präsenter, sich stetig verändernder Teil des sozialen Lebens. In der Diversität, Expressivität und Affektivität dieser Artefakte konstituieren sich Gesellschaften. Sie differenzieren sich stratifikatorisch, funktional, generational; sie erzeugen sich eine kollektive Identität und Geschichte; lokalisieren und ordnen die Einzelnen. Oder in einer anderen Theoriesprache: Es handelt sich um Netzwerke, bei denen die Gebäude als materielle Artefakte nur ein Aktant sind – aber ein stabilisierender. Oder noch anders formuliert: in globalisierten Architekturen wird eine hegemoniale Definition kollektiver Identität durchgesetzt. Die Analysen einzelner Gebäude, Bautypen und -stile bis zu ganzen architektonischen Kulturen in und jenseits der Soziologie lassen sich kaum noch überblicken. Sie bewegen sich in unterschiedlichen Zeitschichten der Architekturen, mit unterschiedlichem Zeithorizont und anderen Erkenntnisinteressen. Entscheidend für die Architektur- als Kultursoziologie ist dabei jene Unterscheidung, die für die Kultursoziologie insgesamt gilt: die Frage, ob es sich eher um einzelne empirische Studien zu konkreten architektonischen Phänomenen handelt, oder aber um eine gesellschaftstheoretische Perspektive, die nach der architektonischen Erzeugung, Gestaltung und Veränderung von Kollektiven insgesamt fahndet. Der bislang erreichte Impuls der Architektursoziologie in anderen Disziplinen verdankt sich gerade dem Letzteren – der Entfaltung soziologischer Konzepte, welche den Beitrag der Artefakte zum Sozialen, also zur Einrichtung, Stabilisierung und Veränderung von Kollektiven zu denken erlauben. Die Effekte einer solchen (durchaus konträr sich entfaltenden) Theoriebildung, das wachsende Interesse an ihr ist gerade in jenen Disziplinen zu beobachten, die von ihrem Gegenstand her selbst prädestiniert gewesen wären, die Architektur ins Zentrum zu rücken. Denn selbst für die Akteur-Netzwerk-Theorie und STS gilt, dass sie konzeptionell und analytisch lange blind für diese Artefakte waren – und mehr noch ist dies für die Stadtsoziologie festzustellen, für Anthropologie resp. Ethnologie, und selbst für die Archäologie. Empirisch und methodisch darf man auf weitere Systematisierungen, auf größer angelegte,

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auch vergleichende Analysen der Architektur unserer Gesellschaft und ihrer architektonischen Transformationen gespannt sein – über die bereits vorliegenden empirischen Forschungen und Konzepte hinaus.

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Design aus kultursoziologischer Perspektive Sophia Prinz

Inhalt 1 Moderne und Modernismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Konsum- und Lebensstilsoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Material Turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Eine Praxistheorie des Designs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Während viele Designer_innen der Jahrhundertwende ganz selbstverständlich voraussetzten, dass die Form einer Gesellschaft mit den Formen ihrer Artefakte korreliert, hat die Kultursoziologie die soziale Relevanz von Gestaltung lange Zeit unterschätzt. Im Zuge des jüngsten ‚Material Turn‘ wurde zwar die traditionelle ‚Objektblindheit‘ der Soziologie ein Stück weit aufgebrochen, aber die Frage des Designs spielt auch in diesem Diskussionszusammenhang kaum eine Rolle. Zu der zentralen Herausforderung einer Kultursoziologie des Designs gehört demnach, neben der Zeichenhaftigkeit und Materialität der Artefakte auch die Ordnung der sinnlich wahrnehmbaren Formen als konstitutiven Bestandteil von Gesellschaft theoretisch und empirisch greifbar zu machen. Schlüsselwörter

Praxistheorie · Material Turn · Artefakte · Ästhetik · Design

S. Prinz (*) Vergleichende Kultursoziologie, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_21

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„Fast jeder Verbraucher“, stellt Theodor W. Adorno in seinem 1965 auf der Berliner Werkbundtagung gehaltenen Vortrag Funktionalismus heute fest, „wird das Unpraktische des erbarmungslos Praktischen an seinem Leib schmerzhaft gespürt haben“ (Adorno 1977, S. 381). Diese lakonische Bemerkung, die sich in polemischer Absicht gegen den weitgehend entpolitisierten Funktionalismus der Ulmer Schule richtet, deutet ex negativo darauf hin, dass die soziale Funktion des Designs weit mehr umfasst als einen bloß praktischen Nutzen. Keine Form, so heißt es an anderer Stelle, kann „gänzlich aus ihrem Zweck geschöpft“ werden (Adorno 1977, S. 378). Doch was ist dieses Mehr der dinglichen Form? Woraus setzt sich das Soziale des Designs zusammen? Adorno gibt darauf erste Hinweise: Neben einem ökonomischen und einem symbolischen Mehrwert ist es seiner Ansicht nach vor allem die ästhetische Form, die den Gebrauchsgegenstand als einen bloß zweckdienlichen transzendiert. Design hat also nicht nur mit der Befriedigung praktischer Bedürfnisse zu tun, sondern immer auch mit der Gestaltung von Bedeutungen, Begehrlichkeiten und sinnlichen Erfahrungen. Mehr noch: Es ließe sich darüber hinaus sogar behaupten, dass selbst der praktische Zweck gesellschaftlich variieren kann. Es gibt mit anderen Worten nicht den einen unveränderlichen Nutzen eines Gegenstandes, der dann in einem Gestaltungsprozess in eine mehr oder weniger adäquate Form gegossen wird. Vielmehr muss umgekehrt angenommen werden, dass das Design die sozialen Praktiken, denen es lediglich zu dienen vorgibt, zumindest zum Teil mithervorbringt. Als vorläufige These ließe sich demnach festhalten, dass Design in praktischer, symbolischer und ästhetischer Hinsicht an der Bildung, Reproduktion oder Umformung von gesellschaftlichen Ordnungen beteiligt ist. Während die Designer_innen und Architekt_innen der Jahrhundertwende dieses komplexe Wechselverhältnis von formaler und sozialer Ordnung wie selbstverständlich vorauszusetzen schienen und es als ihre Aufgabe ansahen, die gesellschaftliche Modernisierung mit gestalterischen Mitteln voranzutreiben – man denke beispielsweise an Adolf Loos’ anti-bürgerliches Pamphlet Ornament und Verbrechen (Loos 1931), an die radikalen sozialistischen Gesellschaftsentwürfe des russischen Konstruktivismus oder das modernistische Menschenbild der ‚Bauhäusler‘ – hat die Kultursoziologie die soziale Relevanz von materieller Kultur und ihrer ästhetischen Gestaltung weitgehend unterschätzt. Insbesondere das für die Frage der Gestaltung zentrale theoretische Problem der materiellen, sinnlich wahrnehmbaren Form scheint einer ernsthaften soziologischen Auseinandersetzung mit dem Design lange im Weg gestanden zu haben.1 So hat etwa die Konsum- und Lebensstilsoziologie zwar den Zeichencharakter der alltäglichen Dingwelten eingehend diskutiert, sich aber kaum mit ihrer Materialität und ästhetischen Erscheinung beschäftigt. Und auch die Kunstsoziologie, die sich als einziges soziologisches Forschungsfeld dezidiert mit ästhetischen Fragen auseinandersetzt, hat zum Thema Design nicht viel beizutragen. Denn abgesehen davon, dass sie sich auf das hochkulturelle Feld der

1

Erst in jüngerer Zeit sind einige kultursoziologische Arbeiten zum Design entstanden wie etwa Shove et al. 2007 oder Moebius und Prinz 2012. Zudem gibt es theoretische und methodologische Überschneidungen zur Architektursoziologie (vgl. Delitz in diesem Band).

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autonomen Kunst konzentriert, geht es ihr zumeist nur um die sozialen Produktionsund Rezeptionsbedingungen von Kunst und nicht um die genuine Objekthaftigkeit und formalen Eigenschaften der künstlerischen Arbeiten. Diese allgemeine ‚Objektblindheit‘ der kultursoziologischen Forschungslandschaft hat zum einen mit der traditionell „anti-technologischen und anti-ästhetischen Haltung“ (Eßbach 2001) der klassischen Soziologie zu tun,2 zum anderen mit der theoretischen und methodologischen Grundausrichtung der neueren, kulturwissenschaftlich inspirierten Kultursoziologien, die im Gefolge des ‚Cultural Turn‘ vor allem die Sinn- und Bedeutungsdimension von sozialer Praxis in den Vordergrund rückten. In ihrer Perspektive sind alle kulturellen Erzeugnisse Ausdruck oder Medien eines kollektiv geteilten, kulturellen Sinns, nicht aber eigenlogische Entitäten, die aufgrund ihrer Materialität und sinnlichen Gestalt in das soziale Geschehen aktiv eingreifen. Erst unter dem Eindruck des jüngsten ‚Material Turn‘, der u. a. von der Praxistheorie, der Körpersoziologie und der Techniksoziologie vorangetrieben wurde, haben sich auch die kultursoziologischen Forschungsfelder für die genuine Materialität von Kultur zu interessieren begonnen. Allerdings konnte die Formfrage bislang noch nicht befriedigend geklärt werden. Die zentrale Herausforderung einer Kultursoziologie des Designs ist demnach, neben der Zeichenhaftigkeit und Materialität der Artefakte auch die Ordnung der sinnlich wahrnehmbaren Formen als konstitutiven Bestandteil von Gesellschaft theoretisch und empirisch greifbar zu machen. Wie noch genauer aufzuzeigen sein wird, erscheint insbesondere das praxistheoretische Instrumentarium für eine solche allgemeine designsoziologische Heuristik geeignet. An dieser Stelle soll es aber zunächst um einen kurzen historischen Abriss der soziologischen Auseinandersetzung mit dem Thema Design, Gestaltung und Dinglichkeit gehen.

1

Moderne und Modernismus

Wie bereits angedeutet, gehört weder die Frage der Ästhetik noch die der materiellen Kultur zu den Kerngebieten der Soziologie. Grund dafür ist zum einen das anthropozentrische Gesellschaftsmodell der klassischen Sozialtheorien, denen zufolge die soziale Ordnung allein auf die sinn-, interesse- oder normgeleiteten Handlungen der menschlichen Akteure und der damit korrespondierenden Institutionen und Sozialstrukturen zurückzuführen sind. Sofern die materiellen Infrastrukturen hierbei überhaupt Erwähnung fanden, dann nur als Ausdruck oder Stütze logisch vorgängiger sozialer Prozesse. Zum anderen wurde die Moderne von den Gründervätern der Soziologie als ein ‚entästhetisiertes‘ Zeitalter charakterisiert, in dem das sinnliche Erleben aufgrund der repetitiven Maschinenarbeit (Marx), der allumfassenden Rationalisierung aller Lebensbereiche (Weber) oder aber des Bedeutungsverlusts religiös motivierter kollektiver Efferveszenzen (Durkheim) zunehmend marginalisiert wird.

2

Zum Status des Ästhetischen in der Soziologie siehe auch Reckwitz 2015.

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Dabei wurde jedoch nicht berücksichtigt, dass auch die rational verwaltete Welt ganz eigene Formen der Ästhetik hervorgebracht hat. So hat beispielsweise Georg Simmel in seinen empirischen Analysen einzelner urbaner Phänomene immer wieder auf die komplexe sinnliche Textur des modernen Großstadtlebens und der wuchernden Warenwelt aufmerksam gemacht (Simmel 1998). Zudem vertritt er in Soziologische Ästhetik (Simmel 1998, S. 77–92) die etwas gewagte wenn auch designsoziologisch interessante These, dass eine streng hierarchisch und sozialistisch organisierte Gesellschaft insgesamt zu einem symmetrischen Erscheinungsbild neige, während sich in kapitalistisch-liberalen Gesellschaften eine heterogene, individualisierte Alltagsästhetik herausbilde. Allerdings impliziert der liberale Individualismus eine grundlegende Ambivalenz: Wie Simmel am Beispiel der Mode, des Schmucks, der Mahlzeit und der Inneneinrichtung aufzeigt (Simmel 1998, S. 183–190, 151–160; 2008, S. 78–106, 17–23) sieht sich das moderne Individuum auf der einen Seite gezwungen, sich mithilfe ästhetischer Mittel gegenüber den Nivellierungstendenzen der anonymen Masse zu behaupten, läuft damit aber auf der anderen Seite Gefahr, nicht mehr als Teil der Gemeinschaft wahrgenommen zu werden. Es muss mit anderen Worten stets die schwierige Balance zwischen ästhetischer Selbststilisierung und gesellschaftlicher Anpassung finden. Auch die marxistisch inspirierten Kultursoziolog_innen und -theoretiker_innen der Zwischenkriegszeit haben sich mit diesem grundlegenden Spannungsverhältnis von Ästhetik, Rationalisierung und urbaner Massenkultur auseinandergesetzt, nahmen aber angesichts der einschneidenden ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Unruhen ihrer Zeit eine stärker politisierte Haltung als Simmel an. Je nach gesellschaftspolitischem Kontext wichen ihre Positionen jedoch relativ stark voneinander ab: So sahen es etwa die russischen Konstruktivist_innen als ihre Aufgabe an, die sozialistische Umstrukturierung und Modernisierung der russischen Gesellschaft mit künstlerisch-gestalterischen Mitteln voranzutreiben. Dies bedeutete nicht nur, dass sie sich von den ‚asozialen‘ bürgerlichen Kunstformen, allen voran der Staffeleimalerei, lossagten, um stattdessen ihre künstlerische Produktion in den Dienst der Industrie zu stellen.3 Es ging ihnen zudem um die Entwicklung einer ganz eigenen, radikal neuen Formensprache, die jeglichen historistischen und ornamentalen Ballast zugunsten eines reinen Gebrauchswertes hinter sich lässt.4 Eine gesellschaftliche Revolution, so die zugrunde liegende Annahme, kommt nicht ohne eine Revolution der Formen aus.5 Die Sozial- und Kulturtheoretiker aus dem Umfeld der Frankfurter Schule standen hingegen der Verbindung von Ästhetik und instrumenteller Vernunft sehr viel

3

Allerdings gab es auch einige Künstler_innen im Umfeld des Konstruktivismus, unter ihnen Kazimir Malevič, und Vasilij Kandinskij, die das Staffeleibild als künstlerisches Medium verteidigten. 4 Ähnliche Gestaltungsprinzipien – wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen – finden sich früher schon bei Adolf Loos und später beim Bauhaus. 5 Siehe dazu auch Kiaer 2005 und Hennig 2010.

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skeptischer gegenüber. So untersuchte etwa Siegfried Kracauer, ein studierter Architekt und Schüler Simmels, in seinen kurzen Essays, die er in den 1920er-Jahren für die Frankfurter Zeitung verfasste, wie sich die sozialen und politischen Missstände der Weimarer Republik in den ‚Hieroglyphen‘ der deutschen Großstädte abzeichneten. Neben Abhandlungen über die soziale Beziehungslosigkeit in Hotellobbys (Kracauer 1963, S. 157–170), die trostlose Ausstrahlung von Arbeitsämtern (Kracauer 1987, S. 66–74) oder das ‚Ornament der Masse‘ als Anzeichen einer regressiven Remythologisierung (Kracauer 1963, S. 50–63), findet sich darunter auch eine Rezension der Stuttgarter Werkbund-Ausstellung von 1927. Darin sympathisiert Kracauer zwar mit dem funktionalistischen Grundimpuls, den veränderten sozialen, ökonomischen und technologischen Bedingungen der Gesellschaft mit einem ornamentlosen ‚neuen Bauen‘ Rechnung tragen zu wollen, bezweifelt aber, dass die ästhetische Entsagung eine befriedigende Lösung des Problems darstellt (Kracauer 1990). Auch Walter Benjamin arbeitete an einer gesellschaftstheoretischen Analyse von materieller Kultur, ging dabei aber grundlegender und systematischer als Kracauer vor. Ziel seines Fragment gebliebenen Passagenwerks war, anhand der Dingwelten des 19. Jahrhunderts – den Boulevards, Warenhäusern, Weltausstellungen, der Mode, der Reklame und dem Interieur – die gesamte bürgerliche Lebenswelt samt ihrer Phantasmagorien offenzulegen. In diesem Sinne charakterisierte er etwa die bürgerliche Wohnung als ein gut ausgepolstertes „Futteral“ (Benjamin 1991, S. 292), das in erster Linie dazu dienen würde, den „Privatmann“ vor der harten Realität der kapitalistischen Produktionsbedingungen abzuschirmen. In Abgrenzung von den zu seiner Zeit üblichen Formen der Geschichtsschreibung, ging es ihm dabei weniger um ein lineares Narrativ als um den Versuch, anhand einzelner ‚dialektischer Bilder‘ die unrealisierten Utopien der Moderne aufblitzen zu lassen. Indem er etwa die reale Architektur der Pariser Passage mit den architektonischen Entwürfen des Frühsozialisten Charles Fourier konfrontiert, macht er augenscheinlich, dass der modernen Technologie der Glasüberdachung, die in der Passage lediglich kommerziellen Zwecken dient, auch das emanzipatorische Potenzial innewohnt, alternativen Wohnund Arbeitsformen Raum zu geben (Benjamin 1991, S. 45 ff.). Während also Benjamin die Ambivalenzen der modernen Dingkultur betont, steht für Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vor allem die Kritik der Massenkultur im Mittelpunkt des Interesses. In ihrer gemeinsam verfassten Dialektik der Aufklärung (Horkheimer und Adorno 1969), der zentralen programmatischen Schrift der Kritischen Theorie, konstatieren sie im Anschluss an Kracauer, dass die Aufklärung aufgrund der Verabsolutierung der wissenschaftlichen und technologischen Vernunft in ihr Gegenteil, den Mythos, umgeschlagen sei. Diese Tendenz manifestiert sich ihrer Ansicht nach insbesondere in der kulturindustriellen Massenware: Im Unterschied zur Kunst, die der instrumentellen Vernunft ein ‚Nicht-Identisches‘ entgegenstellt, trügen die ‚immergleichen‘ Produkte der Kulturindustrie dazu bei, die wahren gesellschaftlichen Verhältnisse zu verschleiern. Doch wie Adorno im bereits eingangs erwähnten Vortrag Funktionalismus heute bemerkt, reicht es nicht aus, den ornamentalen Kitsch zugunsten einer eindimensionalen Verabsolutierung des praktischen Zwecks abzuschaffen. Vielmehr müss-

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ten sich die Designer_innen und Architekt_innen „Rechenschaft ablegen vom Standort [ihrer] Arbeit in der Gesellschaft“ und auf dieser Grundlage die soziale Funktion des Ästhetischen reflektieren anstatt es nur zu verdrängen (Adorno 1977, S. 393). Etwa zeitgleich zu den europäischen Debatten hat sich auch in den USA ein kritischer Diskurs über Massenkultur entwickelt. So stimmt etwa der marxistische Kunstkritiker Clement Greenberg mit Horkheimer und Adorno darin überein, dass die industrielle Massenkultur nicht nur einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, sondern potenziell auch einem totalitären politischen System zuarbeite, während die „autonome Kunst“ den Geist der Aufklärung hochhalte (Greenberg 1939). Demgegenüber vertrat der Pragmatist John Dewey ein inklusiveres Ästhetikkonzept. Für ihn war das Ästhetische weder an das Erhabene oder Kunstschöne gekoppelt noch einem gesonderten gesellschaftlichen Bereich zugeordnet. In seinem 1934 erschienen Buch Kunst als Erfahrung schreibt er vielmehr jeder Tätigkeit oder Erfahrung, die „eine Entwicklung bis hin zur Vollendung durchläuft“ (Dewey 1980, S. 47) eine potenziell ästhetische Qualität zu. In diesem Sinne kritisiert Dewey einerseits die moderne Trennung von (autonomer) Kunst und Leben – ein Motiv, das sich in anderer Form auch bei den russischen Konstruktivist_innen findet – sowie andererseits den unästhetischen Charakter der industriell hergestellten Gebrauchsgegenstände (Dewey 1980, S. 37, 394 ff.). Denn anders als das Handwerk oder die Kunst verhindert die moderne Maschinisierung der Produktion eine „ganzheitliche Erfahrung“. Ein Designobjekt kann also den „Hunger des Organismus nach Sättigung durch das Auge“ (Dewey 1980, S. 395) niemals erfüllen, auch wenn es noch so sorgsam gestaltet ist.

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Konsum- und Lebensstilsoziologie

Diese Ansätze einer Soziologie der Alltagsästhetik wurden in der Nachkriegszeit zunächst nicht weiterverfolgt. Erst angesichts der postfordistischen Ausdifferenzierung der Konsumwelten und des ‚Cultural Turn‘ der Sozial- und Kulturwissenschaften in den 1970er-Jahren wurde die soziale Bedeutung der materiellen und visuellen Kultur vor allem im Kontext der Konsumsoziologie und Lebensstilsoziologie wieder stärker diskutiert. Einer der wichtigsten theoretischen Referenzen für dieses neuerliche Interesse an der alltäglichen Bild- und Dingwelt ist Roland Barthes, Kultursemiotik, die im Anschluss an Claude Lévi-Strauss’ strukturalistische Anthropologie den ‚mythologischen‘ Gehalt alltäglicher Phänomene offenzulegen sucht. In Barthes’ Verständnis ist der gesellschaftliche Mythos eine sekundäre, ideologisch aufgeladene Metasprache (oder Konnotation), die sich dem ersten semiologischen System (oder Denotation) eines Bilds oder Objekts überstülpt (Barthes 1964, 1990). In diesem Sinne verweist etwa die Fotografie eines schwarzen Soldaten in französischer Uniform auf dem Cover von Paris-Match nicht nur auf den jungen Mann, der als Fotomotiv herhalten musste, sondern führt gleichzeitig die zweifelhafte politische Aussage mit sich, dass der französische Kolonialismus kein ernsthaftes gesellschaftliches Problem darstellt (Barthes 1964, S. 95). Dieser bildanaly-

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tische Ansatz trifft sich mit Erving Goffmans späterer interaktionstheoretisch ausgerichteter Analyse von Geschlechterdarstellungen in Werbeanzeigen (Goffman 1981) und wurde insbesondere von den Visual Culture Studies weiter ausgearbeitet (Sturken und Cartwright 2001). Darüber hinaus hat sich Barthes aber auch mit dem semiotischen Gehalt von materieller Kultur auseinandergesetzt. Bekannt ist etwa sein Versuch, Die Sprache der Mode zu rekonstruieren (Barthes 1985), doch auch scheinbar rein funktionelle Alltagsdinge – wie ein Telefon, ein Füllfederhalter oder ein Wasserglas – lassen sich Barthes zufolge als Zeichen für die gesellschaftliche Position oder soziale Rolle der Benutzer_innen lesen (Barthes 1988, S. 189–198). In Das System der Dinge buchstabiert Jean Baudrillard diesen Gedanken am Beispiel der Inneneinrichtung aus: Während sich in dem schwerfälligen Mobiliar der bürgerlichen Wohnung ein starres, patriarchales Weltbild abzeichnet, scheint in den modernen Multifunktionsmöbeln das ökonomische Prinzip der Abstraktion und des Kalküls auf (Baudrillard 1991). Pierre Bourdieus soziologische Lebensstilanalyse Die feinen Unterschiede (Bourdieu 1982) folgt einem ähnlichen Erkenntnisinteresse, ist aber ungleich differenzierter ausgearbeitet. So kann Bourdieu mithilfe der eigens entwickelten Korrespondenzanalyse belegen, dass die sozialen Akteure je nach Klassenherkunft und sozialer Position eine je spezifische Geschmacksdisposition ausbilden, die sich wiederum in der Wahl von Konsumgütern und Kulturangeboten niederschlägt. Das Habitat eines sozialen Akteurs kann mithin als systematischer Ausdruck seines klassenspezifischen Habitus gelten. Im Unterschied dazu haben die Vertreter_innen der Cultural Studies das subversive Potenzial der Konsumentscheidung herausgestellt. So werden in Jugend- und Subkulturen einzelne Dinge und Kleidungsstücke – wie Sicherheitsnadeln, Armeeparka oder Doc Martins – aus ihrem vormaligen Bedeutungskontext herausgelöst und zu Symbolen einer subkulturellen Mitgliedschaft umcodiert (Hebdige 1979). Auch die Sozialanthropologie und die interdisziplinären Material Culture Studies betonen, dass die Dinge im Verlauf ihrer ‚Objektbiographie‘ einen Bedeutungswandel durchleben. Durch ihre individuelle Aneignung und Verwendung verlieren sie nicht nur ihren Warencharakter, sondern können sogar zu ‚heiligen Objekten‘ (Durkheim) avancieren, die in der Bedeutungs- und Identitätsökonomie eines Haushalts eine zentrale Rolle spielen (Kopytoff 1986; Miller 1987).

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Material Turn

Während die Konsum- und Lebensstilsoziologie vornehmlich einem semiotischen Paradigma folgt, wurde in jüngerer Zeit von verschiedener Seite eingefordert, neben der Zeichenhaftigkeit auch die genuine Materialität der Dinge zu berücksichtigen. So haben vor allem die Science and Technology Studies betont, dass Artefakte nicht nur gelesen und gedeutet werden, sondern ebenso aufgrund ihrer materiellen Widerständigkeit an dem sozialen Geschehen beteiligt sind. Bruno Latours AkteurNetzwerk-Theorie (ANT) vertritt dabei wohl die radikalste Position: Als ‚symmetrische Anthropologie‘ geht sie nicht mehr von einer Subjekt-Objekt-Dichotomie

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aus, sondern unterstellt auch den nicht-menschlichen Aktanten eine eigene, aktive Handlungsträgerschaft. Latour macht dies u. a. am Beispiel des ‚Berliner Schlüssels‘ deutlich, der aufgrund des in seine Mechanik eingelassenen ‚Aktionsprogramms‘ die Bewohner_innen eines Wohnhauses zwingt, die Haustür immer abzuschließen (Latour 1996). Einige Vertreter_innen der ANT verwenden zudem die aus der Wahrnehmungspsychologie entlehnten Begriffe des ‚attachments‘ und der ‚affordance‘ (J. J. Gibson), um den sinnlich-affektiven ‚Aufforderungscharakter‘ der Artefakte benennen zu können. Während jedoch das Design von der ANT und ihrem Umfeld bisher nur vereinzelt diskutiert wurde (Verbeek 2005; Latour 2009; Yaneva 2009), hat der Kognitionswissenschaftler Donald A. Norman schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass der ‚Aufforderungscharakter‘ von Dingen immer auch eine Frage der Gestaltung ist (Norman 1988, S. 9 ff.). Denn um Handlungen in bestimmte Bahnen zu lenken, müssen Material und Form so eingesetzt werden, dass in der praktischen Handhabung der Artefakte weder größere Missverständnisse entstehen, noch subversive ‚Gegenprogramme‘ (Latour 1996, S. 47) ausgebildet werden können. Ähnlich wie die ANT lassen auch die Vertreter_innen des New Materialism, der Assemblagetheorie und der Affective Studies die klassischen erkenntnistheoretischen Dichotomien hinter sich, um stattdessen die multidimensionalen Assoziationen zwischen Körpern, Artefakten und Architekturen zu beleuchten. Im Anschluss an Deleuzes und Guattaris Gefüge-Begriff betonen sie dabei insbesondere die genuine Vitalität und Dynamik eines jeden Zusammenschlusses: Ein Gefüge kann sich nur dann dauerhaft etablieren, sofern seine Elemente dazu in der Lage sind, sich gegenseitig zu affizieren (Bennett 2010). In diesem Kontext sind vor allem Arbeiten zur Architektursoziologie und -theorie entstanden (Delitz 2010; Frichot und Loo 2013), es gibt aber auch schon einige Versuche, die Assemblagetheorie für das Design fruchtbar zu machen (Marenko und Brassett 2015). Während die ANT und der New Materialism auf das ‚Dazwischen‘ fokussieren und daher auch über keinen ausgearbeiteten bzw. einen entindividualisierten Körperund Wissensbegriff verfügen, haben die Körpersoziologie und die Praxistheorie betont, dass eine gelungene Interaktion mit der sozio-materiellen Umwelt ein spezifisches ‚Körperwissen‘ voraussetzt: Der Körper muss durch wiederholte Einübung lernen, sich der Dinge, Bilder und Geräte zu bedienen. Dieses inkorporierte Wissen kann im Unterschied zu dem bewusst Erlernten nicht expliziert werden, sondern liegt als unbewusste Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata allen seinen Praxisvollzügen als generatives Prinzip zugrunde. Dabei geht die Praxistheorie von der Kollektivität einer jeden Praxis aus: Aus ihrer Sicht gibt es keine ‚individuelle‘ Praxis, selbst wenn diese ohne das Beisein von anderen sozialen Akteuren vollzogen wird. Vielmehr ist anzunehmen, dass sich durch die intersubjektive und interobjektive Sozialisation die allgemeinen gesellschaftlichen Daseinsbedingungen in dem Körperwissen des Akteurs abgelagert haben und daher jede seiner Praktiken in einem überindividuell und übersituativ gültigen „total nexus of interconnected practices“ (Schatzki 2001, S. 2) eingebettet ist (Reckwitz 2003). Im Anschluss daran wurde in jüngerer Zeit diskutiert, inwiefern auch die sinnliche Ordnung der Gesellschaft bei der Herausbildung und Stabilisierung von Praxis eine Rolle spielt (Prinz 2014; Göbel und Prinz 2015; Göbel 2015). In jede Praxis, so die These, geht ein

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spezifisches Wahrnehmungsvermögen ein, welches das Subjekt im konkreten Kontakt mit den vorherrschenden visuellen, haptischen, akustischen und olfaktorischen Eigenschaften seiner sozio-materiellen Umwelt ausgebildet hat. Der soziale Gebrauch der Sinne hängt mit anderen Worten immer auch von der formalen Gestalt der vorherrschenden Artefakt- und Praxiskomplexe ab. Wie abschließend noch genauer aufgezeigt werden soll, bieten diese Ansätze erste Anknüpfungspunkte für eine allgemeine Soziologie des Designs.

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Eine Praxistheorie des Designs

Im Unterschied zur Architektursoziologie, die mittlerweile auf eine breite internationale Diskussion zurückblicken kann, steckt die Designsoziologie noch in ihren Kinderschuhen. Nimmt man jedoch die praxistheoretische Forderung ernst, auch die Materialität im weitesten Sinne – das heißt Artefakte, Architekturen, Kunst, Medien, aber auch Geräusche, Licht und Atmosphären (Kalthoff et al. 2016) – in die soziologische Betrachtung zu integrieren, kommt man nicht umhin, über die Frage der Gestaltung nachzudenken. Denn das Design bildet in dreifacher Hinsicht das sinnlich wahrnehmbare ‚Interface‘ zwischen dem handelnden Akteur auf der einen und seiner materiellen und sozialen Umwelt auf der anderen Seite (Bosch 2012; Prinz 2013): So kann im Anschluss an die ANT erstens postuliert werden, dass jeder materiellen Form ein Aktionsprogramm eingeschrieben ist, das bestimmte Praktiken und Interaktionen provoziert oder verunmöglicht. Diese dinglichen Aktionsprogramme wirken jedoch nur im Grenzfall determinierend, wie im Fall von Schlössern, Zäunen oder anderen Zwangsapparaten. Viele alltägliche Gebrauchsgegenstände und Geräte sind hingegen so offen in ihrer Funktion und Gestalt, dass sie je nach Praxiskontext verändert, angepasst oder umfunktioniert werden können. Das Design schreibt somit den praktischen Gebrauch nicht vollständig vor, sondern wird in der Praxis selbst nach Maßgabe der Flexibilität, die der jeweiligen Form und Materialität des Gegenstandes innewohnt, immer auch ein Stück weit umgestaltet (Brandes et al. 2009). Wie von der Konsum- und Lebensstilsoziologie hinlänglich aufgezeigt wurde, weist die gestaltete Materie zweitens stets eine Zeichendimension auf. Sie beschränkt sich, mit Barthes gesprochen, also niemals auf ihre rein praktischphysische Funktion, sondern führt immer auch einen symbolischen Mehrwert mit sich. So haben beispielsweise die Entwürfe des Bauhauses gezeigt, dass selbst die Anmutung der nüchternen, technoiden ‚Funktionalität‘ zu einem ‚mythologischen‘ Wert avancieren kann. Schließlich ist der gestalteten Materie drittens eine sinnlich-ästhetische Qualität inhärent, die ihrerseits auf ein spezifisches Körperbild und einen damit korrelierenden Gesellschaftsentwurf verweist und somit beeinflusst, ob und wie sich der Akteur zu seiner Umwelt in Beziehung setzt. So kann die Choreografie von Farben, Formen, Geräuschen, Oberflächen und Düften, die einem Artefakt-Komplex anhaftet, als angenehm-einladend, als kühl-rational und distanziert oder gar als abstoßend oder furchteinflößend empfunden werden. Sie kann die Aufmerksamkeit auf sich ziehen,

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nur peripher registriert werden oder als störend oder lästig erscheinen. In jedem Fall ist sie jedoch konstitutiver Bestandteil einer jeden interobjektiven oder dinglich gerahmten Praxis. Im konkreten Praxisvollzug lassen sich diese drei Dimensionen von Gestaltung – die praktisch-funktionale, die semiotische und die sinnliche – jedoch nicht voneinander trennen. Vielmehr muss der Akteur nach Maßgabe seiner jeweiligen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata auf all diese Herausforderungen der Dingwelt gleichzeitig reagieren. Soziologisch gesehen lässt sich ein Designobjekt zudem niemals isoliert betrachten. Eine Form hat nicht ‚an sich‘ eine Bedeutung, Funktion oder sinnliche Eigenschaft, sondern erhält diese erst in einem weiteren, konstellativen Praxis- und Artefaktkontext.6 Auf der Basis einer solchen sozialtheoretischen Heuristik können unterschiedliche empirische Analysefelder anvisiert werden. Im Anschluss an die frühen designtheoretischen Überlegungen der Jahrhundertwende kann erstens das Wechselverhältnis von gesellschaftlicher Moderne und ästhetischer Gestaltung näher beleuchtet werden. So wurde zum einen verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich die postfordistische Gesellschaft weniger durch eine industrielle Zweck-Mittel-Rationalität als durch eine allumfassende Ästhetisierung und Singularisierung der Arbeits- und Lebenswelten auszeichne, wodurch auch das Design an ökonomischer und gesellschaftlicher Bedeutung hinzugewonnen habe (Reckwitz 2012, S. 133 ff.). Zum anderen können die Analysen zur kulturellen Globalisierung um den Aspekt des Designs ergänzt werden. Entgegen der großen Erzählungen von der ‚Verwestlichung‘ (Rifkin), der ‚Clash of Cilizations‘ (Huntington) oder der ‚Cultural Flows‘ (Appadurai) wäre in diesem Zusammenhang nicht nur die transkulturelle Genealogie westlicher Designgeschichte zu rekapitulieren, sondern auch die gegenwärtige globale Migration, Verflechtung und Übersetzung von ästhetischen Formen als Modus der Transkulturalisierung von Praxis zu beleuchten (Bick und Chiper 2007; Jacobs und Cairns 2008; Bello 2010; Iselin 2012; Haehnel et al. 2014; Savaş 2014; Prinz 2015). Neben den Moderne- und Globalisierungstheorien ließe sich zweitens im Anschluss an die bestehenden lebensstilsoziologischen Analysen fragen, ob soziale Dispositive und professionelle Felder neben diskursiven und institutionellen Strukturen auch eine gestalterisch-ästhetische Ordnung aufweisen und wie diese mit den darin ausgeführten Subjektpositionen, Selbsttechnologien und Praktiken in Verbindung stehen.7 So greifen etwa die Bürodesigns der spätmodernen „Creative Class“, für die weniger die Disziplin als der kreative Innovationsoutput im Mittelpunkt des Arbeitsprozesses steht, auf die Ästhetik von Clubs, Privatwohnungen, Themenparks 6

Eine solche relationale Betrachtung von Design, die nicht einzelne Gegenstände, sondern ganze Gestaltungszusammenhänge berücksichtigt, findet sich beispielsweise auch bei Lucius Burckhardt (2012). 7 Vor allem die ‚Work Place Studies‘ und die organisationswissenschaftliche Subdisziplin der ‚Organizational Aesthetics‘ haben sich bisher mit der Frage der Gestaltung von Arbeitsumgebung auseinandergesetzt.

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oder Kunstgalerien zurück, während die Großraumbüros der organisierten Moderne, die in erster Linie einer klar regulierten Verwaltungsarbeit dienten, noch streng tayloristisch organisiert waren (Warren 2002; Myerson 2004; Prinz 2012). In ähnlicher Weise ließen sich beispielsweise auch die ästhetischen Codes der Kosmetikbranche (Chugh und Hancock 2009), der Gastronomie, des Gesundheitswesens oder der Modeindustrie analysieren. Dabei spielt gerade in serviceorientierten Branchen neben der Gestaltung von Arbeitsräumen und -materialien immer auch die feldspezifische Stilisierung der eigenen äußeren Erscheinung eine zentrale Rolle (Karlsson 2012; Mears 2014). Neben der soziologischen Analyse feldspezifischer Gestaltungsregime kann zudem das Produktionsfeld des Designs selbst Gegenstand soziologischer Betrachtung werden. Dazu gehören einerseits klassische Diskurs- und Feldanalysen, wie sie beispielsweise schon von Bourdieu hinsichtlich des Kunstfeldes (Bourdieu 1999) und ansatzweise auch für das Feld der Mode (Bourdieu 1993) vorgelegt worden sind,8 sowie andererseits ethnografische Analysen des Entwurfsprozesses als sozio-materielle Praxis, in dessen Verlauf sich das Design als ‚epistemisches Objekt‘ (Rheinberger) konstituiert (Mareis et al. 2010; Krämer 2014). Ausgehend von den bestehenden Studien zu Machtverhältnissen und sozialer Ungleichheit ließen sich drittens Formen der Subjektivierung (Foucault) und sozialen Differenzierung – wie die Unterteilung in Klasse, Ethnizität, Geschlecht und Alter – auf ihre gestalterische Dimension hin untersuchen: Welche Rolle spielt das Design für die Konstruktion und Stabilisierung von gesellschaftlich etablierten Selbstbildern, Macht-Wissens-Komplexen und sozialen Ungleichheiten?9 In Abwandlung von Simmels Analyse der ‚Selbststilisierung‘ in der Moderne hat etwa Boris Groys darauf hingewiesen, dass der Mensch im Zeitalter des Neoliberalismus zu einem permanenten ‚Selbstdesign‘ genötigt sei (Groys 2008). Die Frage der sozial adäquaten Selbstdarstellung ist auch zentrales Thema der Fashion Studies,10 die darüber hinaus noch stärker den Aspekt der geschlechtsspezifischen körperlichen Performativität (Entwistle 2000) sowie des in der Modeindustrie verankerten Rassismus in ihre Betrachtung miteinbeziehen. In eine ähnliche Richtung weisen zudem eine Reihe feministisch inspirierter kunsthistorischer Analysen des ‚Gendering‘ von Interieur, Alltagsgegenständen und Designprozessen (Bischoff und Threuter 1999; Attfield 2007; Brandes 2017), die vornehmlich semiotisch orientierten, repräsentationskritischen Analysen von Grafikdesign und Werbeanzeigen (Goffman 1981; Hall 1997; Williamson 2004) sowie die neueren post-phänomenologischen Studien zur impliziten, rassistischen Ordnung von Dingkulturen (Ahmed 2006). An die Kritik des Designs schließt sich die Frage an, ob und inwiefern Formen des Widerstands und Protests mit Prozessen der (Um-)Gestaltung verknüpft sind, also ob der Entwurf zu einer Praxis der Ent-Unterwerfung beitragen kann (Borries 2016). So wurde in jüngerer Zeit insbe-

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Siehe etwa Rocamora 2002 und McRobbie 2007 für das Feld der Mode. Zum Designdiskurs siehe auch Julier 2008, S. 39 ff. sowie Mareis 2011. 9 Zum Thema Design und Diversity siehe etwa Tauke et al. 2016. 10 Für einen Überblick siehe Gaugele 2016.

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sondere im Diskursumfeld des „Social Design“ wieder vermehrt diskutiert, wie sozial inklusivere, partizipatorische und ökologisch verantwortliche Formen des Designs entwickelt werden können (Verbeek 2005; Banz 2016).

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Emotion aus kultursoziologischer Perspektive Sighard Neckel und Sarah Miriam Pritz

„The sociology of emotion lies at the very heart of sociology.“ Arlie Russell Hochschild

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Soziologie der Emotionen: Positionen und Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Gegenwartsdiagnose: Emotionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Emotionen sind zentrale Bindeglieder zwischen Akteuren, Kultur und Gesellschaftsstruktur und rücken als spezifische Art des ‚Weltbezugs‘ in den Mittelpunkt (kultur-)soziologischer Forschung. Die Soziologie der Emotionen hat seit den 1970er-Jahren strukturalistische, behavioristische, sozialkonstruktivistische und phänomenologische Emotionstheorien hervorgebracht, deren Verschränkung für eine soziologisch angemessene Untersuchung von Gefühlen unerlässlich ist. Emotionen sind wesentlich mit habituellen, inkorporierten Dispositionen verknüpft, die aus der sozialstrukturellen, kulturellen und historisch stets spezifischen gesellschaftlichen Einbettung von Akteuren resultieren. Methodologisch bieten sich daher vor allem Forschungsstrategien an, die in der Lage sind, Alltagswirklichkeiten möglichst genau zu erfassen. Einer Kultursoziologie der Gefühle kommt insbesondere in der Gesellschaftsdiagnose eine Schlüsselposition zu: Moderne westliche Gegenwartsgesellschaften S. Neckel (*) · S. M. Pritz Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_22

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lassen sich durch einen kulturellen Wandel der Emotionalisierung – der expliziten Thematisierung, Förderung, Steuerung und In-Wert-Setzung von Emotionen – charakterisieren. Gefühle sind nicht mehr allein Objekte subjektiver und sozialer Kontrolle, sondern werden zu Gegenständen zahlreicher Sozialtechniken, die auf eine Optimierung des emotionalen Erlebens, Handelns und Darstellens abzielen. Damit gehen paradoxe Effekte einher, deren Erforschung ein zentrales Thema der Kultursoziologie der Gefühle in der Gegenwart ist. Schlüsselwörter

Emotion · Kultur · Emotionssoziologie · Emotionalisierung · Emotionstheorien · Emotionen und Ökonomie · Emotionen und Arbeit

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Einleitung

Emotions- und Kultursoziologie verbindet in ihrer Beziehung zur Allgemeinen Soziologie eine zentrale Gemeinsamkeit: Sie stellen keine ‚Bindestrich-Soziologien‘ im eigentlichen Sinne dar, die einen spezifischen Bereich gesellschaftlicher Wirklichkeit für sich als Forschungsfeld beanspruchen. Vielmehr zeichnen sich beide Perspektiven dadurch aus, grundlegende und allgegenwärtige Dimensionen von Sozialität in den Blick zu nehmen. Ähnlich wie es sich bei der kultursoziologischen Perspektive um eine „allgemeine Betrachtungsweise des Sozialen“ (Moebius 2009, S. 8–9) handelt, die die kulturelle Bedingtheit aller sozialen Phänomene betont, geht es der Emotionssoziologie darum, soziales Leben insgesamt durch das Prisma von Emotionen zu erfassen (Flam 2015). Als fundamentale und integrale Bestandteile des Sozialen stehen Emotionen im Mittelpunkt der Soziologie, da menschliches Wahrnehmen, Deuten, Erleben und Handeln stets von Emotionen begleitet und untrennbar mit ihnen verflochten sind. Emotionen stellen eine eigene Art der „Weltaneignung“ (Gerhards 1988a, S. 72; Schimank 2000, S. 107–143) dar. In dieser spezifischen Art des Weltbezugs ‚verkörpern‘ Emotionen den praktischen Sinn, den Akteure ihrer alltäglichen Erfahrung zumessen. Gefühle1 werden dadurch zu einem zentralen Forschungsobjekt der Kultursoziologie, die insgesamt ja die symbolischen Ordnungen zum Gegenstand hat, in denen soziale Lebensformen verfasst sind. Da sich in Emotionen der jeweilige Erfahrungsbestand sozialer Beziehungen und kultureller Deutungsbestände repräsentiert, vermitteln sich die Grundmuster sozialer Ordnungen in die subjektiven Erlebniswelten Einzelner hinein.2

Die Begriffe ‚Emotion‘ und ‚Gefühl‘ werden im Rahmen dieses Beitrags synonym gebraucht. Für Begriffsdebatten vgl. z. B. Engelen et al. 2009. 2 Im Folgenden greifen wir zum Teil auf eine frühere Darstellung kultursoziologischer Emotionsforschung (Neckel 2006) zurück, die für den vorliegenden Beitrag verändert, erweitert und aktualisiert wurde. 1

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Machtdifferenziale und Ungleichheitspositionen ‚verinnerlichen‘ sich in Emotionen als körpernahe Sinnzumessungen, mit denen Individuen auf die je eigene Form der Einbindung in soziale Beziehungen reagieren. Emotionen entstehen dadurch als untrennbarer Teil sozialer Beziehungen, auf die sie selbst wiederum einen gestaltenden Einfluss nehmen. Gefühle werden als Bewusstseinszustände erfahren, in denen sich das eigene Ich transformiert. In dem Maße, wie darin das subjektive Erleben sozialer Beziehungen je aktuelle Bewertungen erfährt, transformieren sich diese Beziehungen selbst, weil deren Akteure sich nunmehr in einer verwandelten Weise aneinander orientieren. Diese Wechselwirkung verdeutlicht die beiden Perspektiven, denen die soziologische Erforschung von Emotionen vorwiegend folgt. Entweder stehen dabei die spezifischen Formen einer emotionalen Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit im Mittelpunkt des Interesses oder aber die gesellschaftlichen Bedingungen, die bestimmte Emotionen entstehen lassen (z. B. Barbalet 1998; Gerhards 1988b).

2

Soziologie der Emotionen: Positionen und Entwicklungen

2.1

Emotionen als Gegenstand der Soziologie

Auch wenn Emotionen nicht zu den zentralen Themen der soziologischen Klassik zählen, enthalten die kanonischen soziologischen Analysen zur modernen Gesellschaft doch zahlreiche Bezüge auf Emotionen, die deren Bedeutsamkeit als soziologische Kategorie dokumentieren. So hat Émile Durkheim (1912) das Gruppenleben und das Kollektivbewusstsein aus der Erfahrung gleichgerichteter Emotionen („Efferveszenz“) abgeleitet. Für Georg Simmel (1921) waren geteilte „soziale Gefühle“ die Voraussetzung sozialer Wechselwirkungen. Und Max Weber hat Gefühlen unter anderem in der „Protestantischen Ethik“ (1920) eine große Bedeutung zukommen lassen, indem er herausarbeitete, wie im Umkreis calvinistischer Lebensformen die Angst vor der Verdammnis zum Ausgangspunkt rastloser unternehmerischer Tätigkeit wurde und somit die Herausbildung des modernen Kapitalismus befördert hat. Insgesamt aber waren Emotionen, sieht man von solchen eher impliziten Bezugnahmen ab, in der soziologischen Theoriegeschichte ein vernachlässigtes Thema, ging es den soziologischen Klassikern doch vor allem darum, Genese und Konsequenzen einer rationalisierten Moderne in den Blick zu nehmen. Daraus resultierte ein rationalistisch geprägtes Handlungs- und Akteurskonzept, welches die Soziologie über lange Zeiträume beherrschte (z. B. Barbalet 1998). Seit den 1970er-Jahren hat sich jedoch – ausgehend von den USA – ein ‚emotional‘ oder ‚affective turn‘ in den Sozialwissenschaften eingestellt.3 Als Gründe für diese Entwicklung lassen sich sowohl gesellschaftliche Transformationsprozesse als

3 Für Überblicksdarstellungen zur Soziologie der Emotionen vgl. z. B. Flam 2002; Senge und Schützeichel 2013; Stets und Turner 2014.

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auch innerwissenschaftliche Umbrüche begreifen. Zum einen waren die sozialen Bewegungen seit den 1960er-Jahren vielfach in Kämpfe um Identitätsfragen verstrickt, in denen es um subjektive Freiheiten und die Anerkennung emotionaler Befindlichkeiten ging. Rationalistische Menschenbilder wurden infrage gestellt, die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verschwammen. Zum anderen befand sich die Soziologie als akademische Disziplin in einer Phase der Expansion, die es ermöglichte, Themen aufzunehmen, die bisher eher gemieden wurden, weil Nachbardisziplinen wie etwa die Psychologie sie für sich reklamierten (Scherke 2009). Und nicht zuletzt war es der in den 1990er-Jahren durch die Neurowissenschaften erbrachte Nachweis einer engen Verbindung von Rationalität und Emotionalität im Gehirn (z. B. Damasio 1994), der die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Emotionen erneut befördert hat.

2.2

Theoretische Debatten in der Emotionssoziologie

Gegenwärtig sind soziologische Emotionstheorien in eine starke Konkurrenz zu neurowissenschaftlichen Erklärungsansätzen geraten. Die Debatte zwischen „biologisch-universalistischen“ und „kulturell-konstruktivistischen“ Positionen (RöttgerRössler 2002) mag dazu führen, dass die theoretischen Differenzen innerhalb der Emotionssoziologie weniger relevant erscheinen als die Auseinandersetzung mit jenen wissenschaftlichen Emotionsverständnissen, die sozialen Prozessen insgesamt eine geringe Bedeutung bei der Erklärung von Emotionen beimessen. Gleichwohl spiegelt sich in der Emotionssoziologie die ganze Vielfalt der Paradigmen wider, welche die Soziologie als Ganzes charakterisiert, und so ist die Soziologie der Gefühle vornehmlich im Plural zu denken. Theoriegeschichtlich lassen sich vier verschiedene Positionen unterscheiden, die bis heute eine zentrale Rolle in der Emotionssoziologie spielen: der Strukturalismus, der Behaviorismus, der Sozialkonstruktivismus und die Phänomenologie. Kultursoziologisch bedeutsam sind dabei vor allem die sozialkonstruktivistische und die phänomenologische Emotionsforschung, die beide der kulturellen Bedingtheit des Erlebens und der Performanz von Gefühlen besondere Beachtung schenken, während behavioristische Konzepte von kulturellen Faktoren weitgehend absehen und strukturalistische Emotionstheorien den relationalen Entstehungskontext von Gefühlen betonen. Strukturalistische Emotionstheorien untersuchen Emotionen denn auch in ihrem Wirkungszusammenhang mit sozialen Strukturbildungen. Thomas Scheff, Randall Collins und Jack Barbalet als prominente Vertreter der strukturalistischen Position verbinden das emotionale Erleben mit der Stellung von Einzelnen und Gruppen innerhalb von sozialen Beziehungen und Interaktionen. Makrosoziale Strukturbildungen (wie z. B. Klassen, Nationen) stellen hierbei ebenso vielfältige Kontexte bereit, in denen aus Interaktionen Gefühle entstehen, wie umgekehrt mikrosoziale Gefühlskonstellationen soziale Strukturen erzeugen, die sich in einzelnen Gefühlsepisoden niederschlagen und beobachten lassen. Demzufolge hat etwa Thomas Scheff zu nationalen Gefühlskulturen (1994) und der von ihm so genannten „Masteremotion“, der Scham (z. B. 1988, 2000), geforscht, wie umge-

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kehrt Randall Collins in seiner Theorie „ritueller Interaktionsketten“ (2004) die Bildung von Eliten aus deren Kontrollmacht über kollektive Emotionen zu erklären versucht, oder Jack Barbalet (1998) Gefühle wie Ressentiment und Entrüstung aus den alltäglichen Sozialbeziehungen gesellschaftlicher Klassen rekonstruiert. Insbesondere die Bedeutung kollektiver Emotionen wurde in den letzten Jahren verstärkt in den Blick genommen (z. B. Scheve und Salmela 2014) und auch im Rahmen der sozialen Bewegungsforschung diskutiert (z. B. Flam und King 2005). Auch behavioristische Emotionstheorien, deren bekanntester Vertreter Theodor Kemper (z. B. 1978, 2006) ist, stellen den Zusammenhang von Person und Sozialstruktur in den Mittelpunkt. Der emotionssoziologische Behaviorismus nimmt allerdings eine direkte kausale Beziehung zwischen bestimmten Emotionen wie Angst, Scham oder Wut und sozialen Ereignissen an, wobei die wechselnden Positionen von Akteuren in Macht- und Statuskonfigurationen als ursächliche Reize betrachtet werden, auf die eine physiologische Reaktion emotionaler Erregungszustände erfolgt. Behavioristische Emotionstheorien lassen sich hierbei von der Annahme der Verknüpfung je einheitlicher physiologischer und struktureller Bedingungen bei der Entstehung von Emotionen leiten, die sich damit gleichsam zu einem interpretationsfreien inneren Geschehen wandeln. Dies stellt jedoch ein gravierendes Missverständnis von Emotionen dar: Gefühle unterbrechen starre Reiz-Reaktions-Schemata – dies unterscheidet sie von Instinkten, die allein auf Schlüsselreize reagieren. Allein die Tatsache, dass sich Kempers zentrales theoretisches Anliegen, die Entstehung von Emotionen in ein Koordinatensystem von Macht und Status aufzutragen, von diesem überholten physiologischen Automatismus abgrenzen lässt, hat zu dessen andauernder Relevanz in der soziologischen Forschung geführt. Sozialkonstruktivistische Emotionstheorien (z. B. Hochschild 1979, 1983; Shott 1979; Thoits 1989) beruhen auf einem implizit kognitivistischen Emotionsverständnis, wie es etwa auch in der Philosophie vertreten wird (z. B. Nussbaum 2001), und können als der aktuell wohl am weitesten verbreitete Ansatz innerhalb der soziologischen Emotionsforschung gelten. Sozialkonstruktivistische Emotionstheorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie den intentionalen Gehalt und evaluativen Charakter von Emotionen betonen: Emotionen sind in dieser Sichtweise jeweils auf etwas bezogen, sind interpretative Akte gegenüber der erlebten Wirklichkeit. Die soziale Konstruktion von Gefühlen wird dabei als iterativer und kontinuierlicher Prozess verstanden, der sich im Rahmen von sozialen Beziehungen und vor dem Hintergrund von bestimmten Emotionskulturen vollzieht, die durch ein jeweils spezifisches Emotionsvokabular gekennzeichnet sind (Boiger und Mesquita 2012). Emotionsvokabeln implizieren Bedeutungshorizonte und kulturelle Semantiken, die dazu beitragen, Emotionen erfahrbar, verstehbar und kommunizierbar zu machen (z. B. DʼAndrade 1995; Gordon 1990). Als Beispiel für ein semantisch stark ausgestaltetes Gefühl lässt sich in westlichen Gesellschaften die romantische Liebe anführen. Emotionsvokabeln werden in sozialisatorischen Prozessen erlernt und inkorporiert (z. B. Gordon 1981). Emotionskulturen sind daher keine statischen Entitäten, sondern variieren historisch (z. B. Frevert et al. 2011) und interkulturell (z. B. Wierzbicka 1999).

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Emotionskulturen schließen aber nicht nur Emotionsvokabeln ein, sondern auch normative Vorstellungen ( feeling rules, Hochschild 1979) darüber, was in bestimmten Kontexten und Situationen mit welcher Ausrichtung, Intensität und Dauer gefühlt und als Gefühl dargestellt werden soll. Um solchen Emotionsnormen gerecht werden zu können, müssen sich Akteure immer wieder aufs Neue praktisch mit ihren Emotionen und denen anderer auseinandersetzen – sie müssen „Emotionsarbeit“ leisten (Hochschild 1983; Lively und Weed 2014). Phänomenologische Emotionstheorien (z. B. Denzin 1984) schließlich charakterisieren sich dadurch, dass sie als wesentliches Merkmal von Emotionen das mit ihnen einhergehende leibliche Erleben identifizieren, das über rein körperbezogene Empfindungen (z. B. Herzklopfen, Händeschwitzen) hinausgeht. Gefühle werden in dieser Perspektive als ‚Selbsterleben‘ von Körper und Identität inmitten kultureller Bedeutungszusammenhänge thematisiert, als „existentially embodied modes of being which involve an active engagement with the world and an intimate connection with both culture and self“ (Williams und Bendelow 1998, S. XVI). Ihre ideengeschichtlichen Wurzeln finden diese Emotionstheorien vor allem im phänomenologischen Existenzialismus, wie er insbesondere von Maurice Merleau-Ponty (1966) vertreten wurde. Die Phänomenologie stellt ohne Zweifel den ‚subjektivistischsten‘ Ansatz in der gegenwärtigen Emotionssoziologie dar, insofern seine Vertreter betonen, dass die Ursachen von Emotionen nicht in Faktoren gesucht werden können, die außerhalb der Sphäre der Person liegen. Will die moderne Emotionssoziologie ihrem komplexen Gegenstand einigermaßen gerecht werden, sollte sie sich um eine Verschränkung der unterschiedlichen Perspektiven in der Gefühlsanalyse bemühen. Denn keine der hier genannten Emotionstheorien reicht allein zur Erklärung von Gefühlen hin, und jede Einzelne ist – mit Ausnahme gewisser behavioristischer Annahmen – unverzichtbar, wenn es gilt, Gefühle soziologisch angemessen zu untersuchen. Strukturalistische Emotionstheorien rücken die Bindung von Gefühlen an soziale Stellungen und Figurationen in den Mittelpunkt des Interesses, was zumal gerade dann einleuchtend erscheint, wenn Gefühle nicht nur vorübergehende Bewusstseinszustände dokumentieren, sondern sich dauerhaft um die Erfahrung der je eigenen Wirklichkeit legen. Allerdings liegt hier kein ‚instinktiver‘ Automatismus vor, wie dies der Behaviorismus annimmt, da Gefühle erst in der bewertenden Deutung von sozialen Situationen entstehen, wie dies sozialkonstruktivistische Emotionstheorien zu Recht hervorheben. Die soziale Konstruktion von Gefühlen beschränkt sich aber nicht auf deren Darstellung, sondern bleibt als emotionale Sinnzumessung des Erlebens mit der Identität von Personen verbunden. Diese Akte emotionaler Bedeutungserzeugung sind jedoch keine rein kognitiven Vorgänge, sondern über den Leib vermittelt, wie dies phänomenologische Emotionstheorien herausgearbeitet haben. Dabei steht die Leiblichkeit von Emotionen nicht im Gegensatz zu den kognitiven Gehalten und den sozialisatorischen Dimensionen von Gefühlen, weil sich das Bedeutungsvermögen des menschlichen Körpers nicht rein individuell, sondern intersubjektiv konstituiert. Es ist insbesondere diese ‚verleiblichte‘, ‚inkorporierte‘ Sozialität, wie sie in der soziologischen Theorie insbesondere – wenngleich nicht explizit auf Emotionen

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bezogen – von Pierre Bourdieu herausgearbeitet wurde, die in der sozialwissenschaftlichen Emotionsforschung in den letzten Jahren mehr Beachtung erfährt (z. B. Flach et al. 2010; Reed-Danahay 2005; Scheve 2009, 2010). Emotionen werden hierbei nicht nur als Effekte sozialer Praktiken verstanden, sondern vielmehr selbst als Praktiken begriffen (Scheer 2012), die wesentlich mit dem Habitus von Personen verknüpft sind und auf einem impliziten Wissen beruhen (Adloff 2013). Gefühle sind somit Teil habitueller Dispositionen, die aus der sozialstrukturellen, kulturellen und historisch stets spezifischen gesellschaftlichen Einbettung von Akteuren resultieren. Ein solches Emotionskonzept bietet den Vorzug, die körperliche Dimension emotionaler Prozesse konsequent in soziologische Emotionstheorien integrieren zu können, ohne auf ein asoziales oder ahistorisches Verständnis von Körperlichkeit zurückfallen zu müssen (Scheer 2012, S. 220). Im Gegenteil lässt sich mit einer Praxistheorie der Emotionen gerade zeigen, dass der menschliche Körper und damit auch emotionale Phänomene selbst „Leib gewordene Geschichte“ (Bourdieu 1985, S. 69) darstellen.

2.3

Methodologische Konzepte in der Emotionssoziologie

Während theoretische Debatten in der Emotionssoziologie stets recht ausführlich geführt worden sind, sind methodologische Reflexionen erst in den letzten Jahren zu konstatieren (z. B. Flam und Kleres 2015; Olson et al. 2015; Patulny et al. 2015). „Historically, the sociology of emotion has been relatively long on theory and short on methods“ (Lively 2015, S. 181). Viele der Untersuchungen, die der Emotionssoziologie wichtige Perspektiven eröffnet haben, sind bisher als qualitative Fallstudien zustande gekommen. So liegt der Untersuchung Arlie R. Hochschilds (1983) über die Konstitution gesellschaftlicher feeling rules im Bereich moderner Dienstleistungsarbeit eine ethnografische Langzeitbeobachtung des Arbeitsalltags von Flugbegleiterinnen zugrunde, die mit Interviews und Dokumentenanalysen ergänzt wurde. Auch Jack Katz (1999), der die Bedeutung von Emotionen in Alltagssituationen erforscht hat, arbeitete mit der Methode der Beobachtung und kombinierte sie mit Audio-/Videomitschnitten. Sighard Neckel wiederum zeigte in seiner Studie „Status und Scham“ (1991) auf, wie die systematische Rekonstruktion selbstbeobachteter Situationen in der emotionssoziologischen Analyse zum Einsatz kommen kann. Zentral für die sozialwissenschaftliche Emotionsforschung sind zudem die vielfältigen Varianten qualitativer Interviews, da Narrative stets emotional strukturiert sind und wichtige Einblicke in Gefühls- und Erfahrungswelten geben können (z. B. Kleres 2011). Einen vielbeschrittenen Weg der soziologischen Gefühlsanalyse stellt schließlich die Analyse von Texten und Dokumenten dar, in denen sich – häufig in latenter Weise – die Gefühlslagen ganzer kultureller Epochen, sozialer Bewegungen oder Gesellschaftsklassen mitteilen. So studierte Norbert Elias (1939) ‚Benimm-Bücher‘ der Neuzeit, um seine Thesen zum „Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen“ zu belegen. Innerhalb der zeitgenössischen Emotionssoziologie sind in diesem Zusammenhang Thomas Scheff und Eva Illouz zu nennen. Während Scheff (1997) aus Texten der Weltliteratur systematisch das konfliktreiche Gefühls-

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muster der romantischen Liebe rekonstruiert hat, analysierte Illouz (2006) in ihrer Studie über „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ vor allem Ratgeberliteratur. Da Emotionen stets durch soziale Kontexte geprägt sind, bieten sich für eine Kultursoziologie der Gefühle vor allem Forschungsstrategien an, die in der Lage sind, Alltagswirklichkeiten genau zu erfassen. Der Feldstudie kommt daher eine besondere Bedeutung in der Emotionssoziologie zu. Denn nur das Prinzip, die sinnhafte Realität sozialer Akteure in deren eigenen Lebenswelten zu untersuchen, kann der Komplexität hinreichend gerecht werden, durch die emotionale Vorgänge gekennzeichnet sind.

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Gegenwartsdiagnose: Emotionalisierung

Moderne westliche Gegenwartsgesellschaften sind durch einen kulturellen Wandel charakterisiert, der sich als umfassender Prozess der Emotionalisierung bezeichnen lässt (Neckel 2014). Programme und Praktiken der expliziten Thematisierung, Förderung, Steuerung und In-Wert-Setzung von Emotionen vollziehen sich in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Historisch betrachtet markiert dies einen Umbruch in der sozialen Regulation von Gefühlen. Gefühle sind nicht mehr allein Objekte subjektiver und sozialer Kontrolle, sondern werden zu Gegenständen zahlreicher moderner Sozialtechniken, die allesamt auf eine Optimierung des emotionalen Erlebens, Handelns und Darstellens abzielen. So lässt sich nicht nur eine Vielzahl von Ratgeberliteratur zur besseren emotionalen Selbststeuerung ausmachen (Duttweiler 2007); ebenso finden wir heute Strategien einer pharmakologischen Optimierung emotionaler Zustände durch Neuroenhancement vor (Wagner 2015) sowie zahlreiche Instrumente digitaler Selbstbeobachtung und -quantifizierung von Gefühlen (Pritz 2016). Zumeist liegt diesem populären Emotionswissen die Vorstellung zugrunde, dass Menschen ihre Gefühle selbst wählen könnten, wenn sie nur über bestimmte erlernbare Fertigkeiten und intelligente Hilfsmittel verfügten. Insbesondere in der modernen Wirtschaft hat sich die kulturelle Emotionalisierung mit Prozessen der Ökonomisierung auf folgenreiche Weise verbunden und zur Herausbildung einer eigenen „emotions industry“ (Moshe 2014) geführt. Dass Prozesse der Emotionalisierung ausgerechnet in Ökonomie und Arbeitsleben zu beobachten sind, erscheint zunächst überraschend. Gerade die moderne Wirtschaft wurde von der Soziologie vielfach als weitgehend emotionsfreie Sphäre beschrieben und als Triebkraft bei der Ausbreitung von Selbstkontrolle, Versachlichung und Rationalisierung identifiziert. Auch in der Organisationsforschung wurden Emotionen lange Zeit als irrationale Störung rationaler Abläufe begriffen (Neckel 2005). Die moderne Emotionssoziologie hat demgegenüber nachgewiesen, dass wirtschaftliches Handeln keineswegs rein sachlich und zweckrational orientiert ist, sondern sich vielfältig mit Emotionen verbindet und Gefühle gezielt in Wert zu setzen versucht (z. B. Fineman 2003). In der Arbeitswelt werden Emotionen heute als Wettbewerbsfaktoren betrachtet. Als sogenannte soft skill hat sich Emotionsmanagement in eine nachgefragte Arbeitsqualifikation verwandelt (z. B. Funder 2008; Sieben und Wettergren 2010), gewinnen ‚Schlüsselkompetenzen‘ wie Kommunika-

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tions- und Teamfähigkeit, Motivation und Empathie (Köppen 2015) in dem Maße an Bedeutung, wie sich moderne Industriegesellschaften in Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften transformieren. Prozesse der Emotionalisierung finden in Wirtschaftsorganisationen sowohl nach ‚außen‘ als auch nach ‚innen‘ statt und werden über das Prinzip der Kundenorientierung miteinander verbunden. Emotionalisierung nach ‚außen‘ ist dabei nichts grundsätzlich Neues: Seit es Werbung gibt, wurde versucht, Produkte und Marken mit Emotionen aufzuladen, sie mit bestimmten Werten und Lebensstilen zu verbinden. Allerdings hat heute der (pseudo-)wissenschaftliche Planungscharakter der emotionalen Unternehmenskommunikation deutlich zugenommen (z. B. Bittner und Schwarz 2010). Emotionalisierung nach ‚innen‘ vollzieht sich als Intensivierung der KundenMitarbeiter-Beziehung, die in modernen Konsum- und Serviceberufen die paradoxe Anforderung erfüllen soll, Authentizität für standardisierte Produkte und Dienstleistungen zu verbürgen. Derartige emotionalisierende Aktivitäten beschränken sich allerdings nicht mehr allein auf den Dienstleistungsbereich. Zur flexiblen Emotionsarbeit in der Lage zu sein, hat sich vielmehr in eine berufliche Anforderung verwandelt, die zunehmend auch die Bewertung von Arbeitskräften in den gewerblichen Bereichen des Wirtschaftslebens bestimmt. Assessment und Coaching sind auf diese Weise zu den wichtigsten ökonomischen Praktiken der Emotionalisierung geworden. Deren prominentestes Beispiel findet sich im kulturellen Programm der „Emotionalen Intelligenz“ (z. B. Goleman 1995; kritisch: Fineman 2004; Neckel 2005; Sieben 2007), mit dem Personen erlernen sollen, den ‚intelligenten‘ Umgang mit Gefühlen als „emotionales Kapital“ (Hochschild 1998; Penz und Sauer 2016) zu begreifen. In der ökonomischen In-Wert-Setzung von Emotionen vermischt sich ein humanistisch anmutender Anspruch auf Selbstverwirklichung und kulturelle Liberalisierung mit dem Ziel der Steigerung von ökonomischer Effizienz. Damit gehen paradoxe Effekte einher (Neckel 2014). So beeinträchtigt die gewachsene ökonomische Aufmerksamkeit für Emotionen gerade deren Funktionalität in wirtschaftlichen Prozessen; ökonomisch nützliche Wirkungen von Emotionen schwinden durch jene gezielten Organisationsstrategien, durch die sie gesteigert werden sollten. Der Grund hierfür liegt in den intuitiven und leiblich-affektiven Komponenten von Emotionen, ohne die die eigene Gefühlswelt nicht als ‚authentisch‘ erscheinen kann.4 Genau diese unbewussten und unwillkürlichen affektiven Anteile von Emotionen werden aber durch kulturelle Programme geschwächt, die sich die individuelle Wählbarkeit und die bewusste Steuerung von Gefühlen als Ziele gesetzt haben. Strategien der Emotionalisierung führen dann letztlich zu neuen Formen emotionaler Entfremdung (z. B. Neckel und Wagner 2013). Im Erleben von Akteuren verlieren Emotionen ihre Unmittelbarkeit und lassen mit ihrer mangelnden subjektiven Glaubwürdigkeit auch ihre Funktionalität in sozialen Prozessen vermissen.

Unsere Analyse unterstellt hier keine ‚authentischen‘ Emotionen, sondern allein die Notwendigkeit, an die Authentizität von Emotionen glauben zu können. Für den strategischen Einsatz von Gefühlen ist ein solcher subjektiver ‚Authentizitätsglaube‘ unerlässlich, nicht eine wie auch immer verstandene ‚Authentizität‘ selbst (Neckel 2014).

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Fazit

Angesichts der folgenreichen Transformationen in der Emotionskultur moderner westlicher Gegenwartsgesellschaften kommt einer Kultursoziologie der Gefühle eine Schlüsselstellung in der soziologischen Gesellschaftsdiagnose zu. Insbesondere der kultursoziologische Blick auf Gefühle ist für den soziologischen Nachweis prädestiniert, dass noch die scheinbar persönlichsten menschlichen Regungen durch kollektive Muster geformt werden, auf die sie gleichzeitig zurückwirken. Auf diese Weise bilden Gefühle eine Art beidseitig durchlässiger Membran zwischen Person und Gesellschaft. Soziale Prozesse, die Handlungen und Strukturen miteinander verknüpfen, vollziehen sich durch Emotionen in einer Tiefendimension, die eine ‚gefühllose‘ Soziologie kaum erfassen kann. Wie Arlie R. Hochschild (2009, S. 31) dies einmal ausgedrückt hat, liegt die Emotionssoziologie daher tatsächlich im „Herzen der Soziologie“ begründet.

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Ernährung aus kultursoziologischer Perspektive Tanja Paulitz und Martin Winter

Inhalt 1 Einleitung: Ernährung als Thema der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grundlagen: Soziale und kulturelle Dimensionen der Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Mahlzeit als soziale Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Lebensmittel: Auswahl und Herstellung als kulturelle Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Ernährung und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ausblick und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Essen und Ernährung werden im Rahmen des vorliegenden Beitrags als kulturelles Phänomen und Resultat kultureller Prozesse verstanden. Der kultursoziologische Blick auf Ernährung richtet sich damit immer auf Essen in Relation zu Prozessen der Produktion Regulierung, Repräsentation, Identitäts-/Subjektkonstitution und des Konsums sowie auf das Zusammenspiel materieller und symbolischer Aspekte, die beim Essen zusammenkommen. Quer zu verschiedenen Dimensionen liegen im Bereich der Ernährung verschiedene Formen sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Neben einer kultursoziologischen Gegenstandsbeschreibung von Essen und Ernährung orientiert sich dieser Artikel an zentralen Zugriffspunkten kultursoziologischer Ernährungsforschung: der Mahlzeit als sozialer Institution der Essensaufnahme und -zubereitung, den Lebensmitteln und ihrer symbolischen und materiellen Dimension und am Verhältnis von Ernährung und Körper.

T. Paulitz (*) · M. Winter Institut für Soziologie, Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_23

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T. Paulitz und M. Winter

Schlüsselwörter

Ernährung · Essen · Lebensmittel · Körper · Geschlecht

1

Einleitung: Ernährung als Thema der Soziologie

Das Themenfeld Essen und Ernährung1 ist ein hochproduktiver Bereich sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung, der aber – entgegen seines Potenzials auch für weiterreichende sozialtheoretische Fragestellungen – zumindest im deutschsprachigen Raum (noch) kaum eigenständig innerhalb der Soziologie institutionalisiert wurde. Dabei haben bereits einige soziologische „Klassiker“ der Ernährung eine gewichtige Rolle zugeschrieben. Georg Simmel etwa sprach der Mahlzeit eine „unermeßliche soziologische Bedeutung“ zu, auch wenn Essen „das Egoistischste, am unbedingtesten und unmittelbarsten auf das Individuum Beschränkte“ sei (Simmel [1910] 1998, S. 183–184). Wesentliche Einsichten in die Gesellschaftlichkeit von Ernährung kamen aber verstärkt aus der benachbarten Kulturanthropologie (als Überblick Mintz und Du Bois 2002; Counihan 2012).2 Bis auf wenige Ausnahmen, die zumeist nicht genuin ernährungssoziologisch gerahmt sind, sondern Ernährung als Beispiel für eine breiter angelegte Gesellschaftstheorie heranziehen, hat sich die deutschsprachige Soziologie der Nachkriegszeit bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts nur am Rande mit Ernährung beschäftigt (z. B. König 1965; Eder 1988). Mit Blick auf das Gesamtbild wissenschaftlicher Forschung im deutschsprachigen Raum zum Thema Ernährung dominier(t)en lange Zeit naturwissenschaftliche Ansätze, bis Anfang der 1990er-Jahre eine interdisziplinäre Forscher_innengruppe Essen verstärkt als „Kulturthema“ auf die Agenda brachte, um dieses zumindest gleichberechtigt neben die naturwissenschaftliche Ernährungsforschung zu stellen (Wierlacher et al. 1993). Damit begann sich Ernährung im deutschsprachigen Raum als sozialwissenschaftlicher Forschungsbereich stärker herauszubilden. Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts erschienen die ersten umfangreicheren, dezidiert ernährungssoziologischen Arbeiten (Barlösius [1999] 2011; Prahl und Setzwein 1999; Setzwein 1997) und förderten die „Formierung eines Forschungsfeldes“ (Brunner 2000) innerhalb der Soziologie. Im anglo-amerikanischen Raum erschienen bereits früher umfangreiche Einführungen und Übersichten in die Ernährungssoziologie (Murcott 1983; Mennell et al. 1992; McIntosh 1996; Beardsworth 1997). Mit den interdisziplinären, sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten,

1

Einige Autor_innen unterscheiden zwischen Essen als sozialem und kulturellem Phänomen und Ernährung als natürlichem Phänomen (z. B. Barlösius [1999] 2011). Aufgrund der starken Überschneidung symbolischer und materieller Dimensionen problematisieren wir diese vermeintlich eindeutige Aufteilung des Phänomenbereichs und plädieren dafür, die Unterscheidungspraxis kultursoziologisch zum Gegenstand der Betrachtung zu machen. Daher werden die Bezeichnungen Essen und Ernährung in diesem Artikel weitgehend synonym verwendet und spiegeln keine systematisch terminologische Differenzierung wider. 2 Viele zentrale kulturanthropologische Texte zur Ernährung finden sich wiederabgedruckt in Counihan und van Esterik ([1997] 2008).

Ernährung aus kultursoziologischer Perspektive

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Food Studies hat sich international eine eigenständige Forschungsrichtung etabliert (Miller und Deutsch 2009; Albala 2014; Murcott et al. 2013). Eine kultursoziologische Perspektive auf Ernährung bedeutet im Rahmen des vorliegenden Beitrags, Ernährung in einem breiteren soziologischen Sinne als kulturelles Phänomen und als Resultat kultureller Prozesse zu betrachten und nicht im Sinne einer speziellen Soziologie zu fassen. Der Blick richtet sich damit primär auf Ernährung in Relation zu den Prozessen von Produktion, Regulierung, Repräsentation, Identitäts-/Subjektkonstitution und Konsum (Ashley et al. 2004). Im Fokus steht dabei insbesondere auch das Zusammenspiel materieller und symbolischer Aspekte (Abbots und Lavis 2013). Zentral für weite Teile der im Rahmen dieses Beitrags bearbeiteten Literatur ist außerdem, dieses Zusammenspiel kritisch im Kontext sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu betrachten. Im Folgenden wird zunächst die grundsätzliche Frage einer kultursoziologischen Gegenstandsbeschreibung von Essen und Ernährung geklärt. Anschließend werden die zentralen soziologischen Zugriffspunkte behandelt: die Mahlzeit als soziale Institution der Essensaufnahme und -zubereitung (Abschn. 3), die Lebensmittel und ihre symbolischen und materiellen Dimensionen (Abschn. 4) und das Verhältnis von Ernährung und Körper (Abschn. 5). Quer zu diesen Zugriffspunkten liegen soziale Distinktionen, die in den folgenden Abschnitten entlang der sozialen Ungleichheitskategorie Geschlecht (Rückert-John und John 2009) in ihrer Überschneidung mit Klasse illustriert werden.

2

Grundlagen: Soziale und kulturelle Dimensionen der Ernährung

Ernährung stellt ein Gegenstandsfeld dar, das mit vielen und weitreichenden sozialen Dimensionen und Prozessen verwoben ist und an welchem sich, wie zu sehen sein wird, die Frage nach dem Verhältnis von Natürlichem und Kulturellem mit besonderer Brisanz entzündet (Paulitz und Winter 2017; auch Kofahl 2014): Welche Forderung stellt die Natur des zu ernährenden Körpers jenseits aller kulturellen Variabilität? Welche Prämissen im Sinne unhintergehbarer natürlicher Vorgaben akzeptiert eine kultursoziologische Ernährungsforschung bzw. an welchen Stellen erweisen sich Vorgaben der Natur als selbst kulturell bedingt? Die naturwissenschaftliche Ernährungsforschung, deren Ideen im Zuge der Aufklärung zunehmend religiös motivierte Ernährungsgrundsätze abgelöst haben (Kaufmann 2006, S. 24–30) und ihren Anspruch auf die Produktion sicheren Wissens über die Natur institutionell verankerten, ist die gesellschaftlich dominante Instanz, wenn es darum geht, die physische Seite der Ernährung zu erfassen. Allerdings wurde die naturwissenschaftliche Wissensproduktion inzwischen von kulturwissenschaftlichen Forschungen kritisch hinterfragt und historisch differenziert in ihre kulturellen Bedingungsgefüge eingeordnet: So geht beispielsweise die Methode, Kalorien zu zählen, auf ein Menschenbild zurück, das sich an modernen Maschinenkonzepten orientiert und den Körper als Kalorien verbrennenden „Motor“ behandelt (Rabinbach [1990] 2001, S. 156–161). Dieses Bild wurde Ende des 19. Jahrhunderts dazu benutzt, „angemessene Kostsätze“, d. h. die

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notwendige (und damit angemessene) Menge Nahrung, für Arbeiter_innen zu berechnen (Barlösius [1999] 2011, S. 60–61). Auf diese Weise haben sich in der jüngeren Vergangenheit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive deutlich vernehmbare Problematisierungen hinsichtlich des Natur-Kultur-Verhältnisses Gehör verschafft. Ernährungsforschung war und ist, so der heute vorliegende Aufweis, eng mit biopolitischen Agenden der Versorgung, Leistungsfähigkeit und Gesundheit von Bevölkerung verbunden (z. B. historisch: Thoms 2006; aktuell: Wirtz 2010; Bauer 2010). So setzt die Ernährungswissenschaft mit ihren Empfehlungen zur Steuerung des Ernährungsverhaltens der Bevölkerung genau an einem auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Vernunft erzeugten Gesundheitsbewusstsein an. Entsprechend wird in einem Strategiepapier der DFG eine fast ausschließlich naturwissenschaftlich verfahrende Ernährungsforschung gefordert, und die „biologische Basis von Ernährungsverhalten“ als ein zentrales Desiderat benannt (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2006, S. 13; zur Kritik Barlösius [1999] 2011, S. 66–67). In Abgrenzung dazu richtet eine (kultur-)soziologische Ernährungsforschung ein besonderes Augenmerk auf die Frage, wie (weit) Ernährung nicht ausschließlich bzw. teilweise auch entgegen des Konzepts eines aufgrund naturwissenschaftlich bestimmbarer körperlicher Erfordernisse konsumierenden Individuums als soziales und kulturelles Phänomen zu betrachten ist. In einem weiteren Schritt wären so auch naturwissenschaftlich fundierte Ernährungsempfehlungen hinsichtlich ihrer kulturellen Voraussetzungen in Form von beispielsweise bestimmten Gesundheitsnormen, Körperkonzepten oder Ernährungspraktiken zum Gegenstand kultursoziologischer Ernährungsforschung zu machen. Eva Barlösius ([1999] 2011; auch Barlösius und Manz 1988) hat einen der bislang umfassendsten ernährungssoziologischen Ansätze im deutschsprachigen Raum vorgelegt, dessen Anspruch eine gegenstandsangemessene Theoretisierung von Essen ist. Mit Bezug auf die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners geht sie von einer „natürlichen Künstlichkeit des Essens“ aus. Das bedeutet, „dass Menschen von ihrer Natur her dazu gezwungen sind, ihre Essweise selbst zu bestimmen – also kulturell auszuwählen und zu bewerten“ (Barlösius [1999] 2011, S. 32). Diese kulturellen Bestimmungen sind „Möglichkeitsbegrenzung – moderner ausgedrückt Kontingenzverdeckung“ (Barlösius [1999] 2011, S. 35), weil der Mensch immer mehr und anders essen könne, als er bzw. sie es tatsächlich tut. Esskultur gerate dann zur „zweiten Natur“, wenn der Begrenzungszusammenhang nicht mehr offenbar ist. Im Plessner’schen Verständnis von Kultur ist diese Begrenzung laut Barlösius dabei an soziales Handeln gebunden, wodurch Kultur und seine Verfestigungen in Institutionen herausgebildet werden. Barlösius macht für den Bereich des Essens drei Institutionen aus, die sie als menschlich-universell annimmt, da sie „offenbar in den meisten Gesellschaften vorkommen“ (Barlösius [1999] 2011, S. 39), und zwar, die Teilung der Nahrung in essbar und nicht-essbar, die Küche als Regelung der Art und Weise der Zubereitung von Speisen und die Mahlzeit als soziale Situation der gemeinsamen Essensaufnahme. Barlösius arbeitet heraus, wie sich in den von ihr identifizierten Institutionen Ernährung als zugleich gesellschaftlich integrativ und distinktiv verhält. Ernährungspraktiken erweisen sich demnach auf der einen Seite als vergemeinschaftend, sie schaffen aber auf der anderen Seite auch Distanz zwischen sozialen Akteur_innen.

Ernährung aus kultursoziologischer Perspektive

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Die Mahlzeit als soziale Institution

Eine der grundlegenden sozialen Institutionen im Bereich der Ernährung ist die Mahlzeit (Schlegel-Matthies 2011; Schönberger 2011a) als soziale Situation der Essenseinnahme, die mit einer Reihe kultureller Regulierungen einhergeht. Die Abstimmung der Mahlzeiten zu regelmäßigen Zeitpunkten ist für Simmel „die erste Überwindung des Naturalismus des Essens“ ([1910] 1998, S. 185). Durch die Aufnahme des Essens mit bestimmtem Essgeschirr, wie Teller und Besteck, erfährt die Mahlzeit darüber hinaus eine Ästhetisierung, die soziale Ordnung herstellt: „Der Teller symbolisiert die Ordnung, die dem Bedürfnis des Einzelnen gibt, was ihm als Teil des gegliederten Ganzen zukommt, aber ihn dafür auch nicht über seine Grenzen hinausgreifen läßt.“ (Simmel [1910] 1998, S. 186, H.i.O.) Mahlzeiten wirken dabei zugleich integrativ – das Bilden einer Tischgemeinschaft – als auch distinktiv: Die soziale Ordnung einer Tischgemeinschaft drückt sich darin aus, wer von wem, wann und welche Speise, welchen Teil davon und in welcher Menge aufgetragen bekommt (Barlösius [1999] 2011, S. 172). In sozialen Gruppen bestehende Hierarchien finden hier eine kulturell praktizierte materielle Form. Im Rahmen seiner „Theorie der Zivilisation“ verfolgt Norbert Elias ([1969] 1978) einen kulturhistorischen Zugang, mit dem er distinktive Muster der Benimmregeln und Affektkontrolle herausarbeitet: So setzte sich der Adel im Laufe der Zeit auch durch ein immer feineres Reglement der Gestaltung von Mahlzeiten symbolisch von der restlichen Gesellschaft ab. Hier setzte sich ein bestimmter Gebrauch der auch heute gebräuchlichen Esswerkzeuge, insbesondere der Gabel, durch (Elias [1969] 1978, S. 170–172), womit auch eine zunehmende Individualisierung der Essenden durch eine klare Portionszuteilung verbunden ist. An Elias’ historischen Arbeiten zeigt sich, dass die Mahlzeit nicht nur auf der mikrosoziologischen Ebene durch Machtverhältnisse innerhalb einer Gruppe strukturiert ist, sondern auch auf der Makroebene zur Distinktion zwischen sozialen Schichten dient. Elias’ Studien zeigen, dass die diachrone Untersuchungsperspektive auf die soziale Ordnungsstruktur der Mahlzeit Prozesse des Wandels sichtbar machen kann. Was eine „richtige“ Mahlzeit auszeichnet, basiert sowohl darauf, was genau gegessen wird, als auch darauf, mit wem sie wann eingenommen wird. Ein häufiger Bezugspunkt des Ideals einer „richtigen“ Mahlzeit in der modernen Gesellschaft ist die Familie, insbesondere das Bild der bürgerlichen Kernfamilie. Das „traditionelle Leitbild der Familienmahlzeit“ (Schlegel-Matthies 2011, S. 33) symbolisiert eine Gesellschaftsordnung nach dem Modell des männlichen Ernährers und der für die Reproduktionsarbeit und damit auch für die Zubereitung des Essens zuständigen Hausfrau. Die bürgerliche Position des Mannes artikuliert sich in der als pars pro toto funktionierenden, verbreiteten Formulierung als „Ernährer“. Sie verweist damit einerseits auf den zentralen Stellenwert des Essens als Sammelkonzept für die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs in ihrer gesamten Breite, d. h. der genuinen Existenzsicherung, und sichert andererseits im Gegenzug den Status des männlichen Familienoberhauptes ab. Gerade die tägliche Mahlzeit steht als Institution für die gelebte soziale Bindung und Stabilität der bürgerlichen Familie und reaktualisiert darin die ihren Mitgliedern zugewiesenen Positionen (von Erwerb,

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Zubereitung und Konsum der Nahrung), was Monika Setzwein auch als „Genderismus in der Küche“ (Setzwein 2004a, S. 198) bezeichnet. Unter Bezug auf Pierre Bourdieu arbeiten Petra Frerichs und Margareta Steinrücke (1997) heraus, dass Praktiken des Kochens sowohl zur Klassen- als auch zur Geschlechtsdistinktion dienen. Sie vergleichen zu diesem Zweck ein Arbeiter-, ein Angestellten-, ein Beamten- und ein Managerpaar und zeigen auf, dass die geschlechtliche Codierung der Zuständigkeiten für die alltägliche Versorgungsleistung mit Essen im Privathaushalt klassenbezogen variiert. Während etwa beim Arbeiterpaar eine „traditionelle“, komplementäre Arbeitsteilung mit strikt strukturierter Zeitplanung zu beobachten ist, zeichnet sich insbesondere das Beamtenpaar durch ein situativ zwischen Alltag und Nicht-Alltag differenzierendes Muster der Arbeitsteilung aus: Dabei ist die Frau für die alltägliche Versorgungsleistung zuständig, wohingegen der Mann „‚öffentlich‘, für Gäste außerhalb des engsten Familienkreises [kocht]“ (Frerichs und Steinrücke 1997, S. 251; auch Baum 2012). Die Autorinnen stellen fest, dass „Kochen, zumal für Männer, umso mehr den Charakter eines Distinktionsmediums annimmt, je weiter man in der sozialen Hierarchie nach oben steigt“ (Frerichs und Steinrücke 1997, S. 251). Das Bild der Familienmahlzeit und ihren vergeschlechtlichten Positionen hält sich nachhaltig, zum Beispiel in der Werbung (Flick und Rose 2012), auch wenn es in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Praxis einen zunehmenden Bedeutungsverlust erfährt. Nichtsdestotrotz bleibt das Ideal weiterhin Gegenstand weitreichender Auseinandersetzungen, wenn etwa die Verpflegung von Kindern und Jugendlichen in der Schule als Gegenentwurf zur Familienmahlzeit oder als Kompensation einer nicht mehr gewährleisteten Sicherung gesunder Ernährung durch Familien angesehen wird (Schlegel-Matthies 2011; Schönberger 2011b). Die beharrliche Wirkmächtigkeit dieses Bildes führt dazu, dass insbesondere „berufstätige Mütter tagein, tagaus einen erheblichen intellektuellen und zeitlichen, aber auch finanziellen und logistischen Aufwand betreiben (müssen), um den Essalltag ihrer Familien zu gewährleisten“ (Meier-Gräwe 2009, S. 209). Gleichzeitig wird aber eine „Erosion“ dieses Bildes beobachtet, infolge derer Frauen nicht mehr bereit seien, diese Arbeit zu übernehmen. Darüber hinaus wird für Mahlzeiten eine weitere Zunahme an Ästhetisierung konstatiert, wonach „Essen in Gemeinschaft [. . .] zunehmend nach Maßgabe symbolischer Repräsentationen genutzt“ werde (Rückert-John et al. 2011, S. 43). Dies geschieht vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der eine steigende Versorgung mit Essen „außer Haus“ zu beobachten ist, mit der sich die Frage nach einer angemessenen und nachhaltigen Ernährungsversorgung für große Bevölkerungsgruppen stellt (Rückert-John 2007).

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Lebensmittel: Auswahl und Herstellung als kulturelle Leistung

Barlösius ist der Auffassung, die Trennung zwischen „essbar und nicht essbar [. . .] [sei] bis auf wenige Ausnahmen eine nicht natürlich festgelegte, sondern kulturell erzeugte Differenz“ (Barlösius [1999] 2011, S. 93). Hierbei gibt es verschiedene

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Arten der Regulierung, wie etwas in den Bereich des Nicht-Essbaren ausgesondert wird: Sie reichen von expliziten moralischen oder religiösen Tabus über gesundheitsbezogene Risikobewertungen bis zu Meidungen aufgrund von Konnotationen wie Armut, wenn bestimmte Speisen z. B. an Hungersnöte erinnern. Für die Frage nach der Auswahl und Zubereitung von Lebensmitteln kommen zentrale Impulse aus der Kulturanthropologie. Mit dem „kulinarischen Dreieck“ erarbeitet Claude Lévi-Strauss ([1966] 2008) einen Rahmen zur Erfassung von kulturspezifisch variablen Natur-Kultur-Verhältnissen, in denen je Unterschiedliches als roh, gekocht oder verfault (und damit nicht essbar) gilt. Mit nachhaltigem Einfluss fordert Claude Fischler (1988), soziale und biologische Aspekte im Kontext von Ernährung zu beachten: Weil der Mensch omnivor (d. h. potenziell alles essend) sei, müsse er oder sie auswählen und die Inkorporierung von Nahrungsmitteln, die den Organismus am Leben halten und aus denen er schlussendlich besteht, werde dadurch zu einem bedeutungsvollen, weil potenziell gefährlichen, Akt. Damit wird hervorgehoben, dass es dieser kulturelle Vorgang des Auswählens und Bewertens von Nahrungsmitteln als essbar oder nicht essbar ist, auf dem der symbolische Zeichencharakter von Essen aufbaut. An diese sind nicht zuletzt Identitätskonstruktionen gekoppelt, man denke nur an viele (oft abwertende) Bezeichnungen von Nationen anhand ihnen zugeschriebener Nahrungsvorlieben (wie z. B. „Krauts“ für Deutschland) (Fischler 1988). Ähnliches gilt für die Art und Weise der Zubereitung von Speisen (Barlösius [1999] 2011, S. 126). Religiöse Vorgaben bezüglich des Essens wurden, auch wenn sie nach wie vor in Teilen wirksam sind, in den letzten Jahrhunderten in ihrer Bedeutung zunehmend durch wissenschaftlich gestützte Ernährungsempfehlungen verdrängt. Grundsätzlich gehören diätetische Lehren – was wie zu essen sei – zu den ältesten Wissensbeständen, deren Praktiken teilweise lange Zeiten überdauern (Kaufmann 2006, S. 22). Die sich im 19. Jahrhundert etablierende und auf naturwissenschaftliche Ansätze aufbauende Ernährungswissenschaft generierte weitreichendes Wissen über Ernährung, bei dem neben der Bekämpfung des Hungers zunehmend die, physiologisch betrachtet, optimale Versorgung des Körpers mit Nährstoffen und Energie im Zentrum stand bzw. steht. Allerdings wurde dieser wissenschaftliche Anspruch, ein sicheres Wissensfundament für die Auswahl von Nahrungsmitteln zu schaffen, mittlerweile von sozialwissenschaftlicher Seite hinterfragt (Bauer et al. 2010). So sei dieser Anspruch infrage zu stellen, weil sich das wissenschaftliche Wissen einerseits in einer rasanten Geschwindigkeit wandle und andererseits ein beachtliches und in sich häufig auch Widersprüche hervorrufendes „Stimmengewirr“ erzeuge, welche Ernährung nun die „richtige“ sei (Kaufmann 2006, S. 28). Gesellschaftlich weit verbreitet sei heute, so Jean-Claude Kaufmann, die Ansicht, dass bestimmtes Essen zu Gesundheit verhelfen kann, weswegen sich Menschen ihren eigenen „Glauben“ zurechtlegten, wohingegen Verstöße gegen diesen Glauben (z. B. Pommes oder Süßigkeiten) in „kleinen Arrangements“ in den Alltag eingepasst werden. Neben der Auswahl der Lebensmittel mit all ihren symbolischen Implikationen, stellt die Herstellung von Nahrungsmitteln eine immense kulturelle Leistung auf verschiedenen Ebenen dar. Sowohl in historischer Perspektive als auch mit Bezug auf die aktuellen Praktiken zeigt sich, dass das Wissen über die Erzeugung, Verar-

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beitung und Zubereitung von Lebensmitteln weltweite Wanderungsbewegungen aufweist, die häufig an konkrete soziale Prozesse wie z. B. Flucht oder Kolonisierung, aber auch an verschiedene Konjunkturen des Handels (z. B. der Genussmittel, Schivelbusch [1980] 2010) gekoppelt sind (Abrahamson und Mol 2014). In der Lebensmittelproduktion stellen wissenschaftliche Forschung und staatliche Regularien umfangreiche Möglichkeiten bereit, in den menschlichen Körper einzugreifen, wie Susanne Bauer (2010) am Beispiel der Nutrigenomik zeigen kann. Die Herstellung von Nahrungsmitteln unterliegt spätestens seit Anbruch der industrialisierten Moderne einem radikalen Wandel. Nahrungsmittel – pflanzlichen wie tierischen Ursprungs – werden industriell gefertigt und in Massen produziert (Zachmann 2011; Orland 2004). Kaum ein Nahrungsmittel kann demnach eindeutig als „natürlich“ bezeichnet werden, vielmehr handelt es sich, insbesondere bei den für die Lebensmittelproduktion gezüchteten Tieren, um „Biofakte“, also „biotische Artefakte, d. h. sie sind oder waren lebend“ (Karafyllis 2003, S. 12). Fleisch ist ein zentrales „biofaktisches“ Lebensmittel mit besonders hohem symbolischen Gehalt, denn durch Fleisch wird ein Essen oft erst zur „richtigen“ Mahlzeit (Fiddes 1993). Auch für Elias nimmt Fleisch eine besondere Rolle ein, er zeigt, wie die Vorbereitung von Fleisch bzw. von Tieren zu Lebensmitteln im historischen Prozess immer weiter von der Nahrungsaufnahme abgekoppelt und schließlich nahezu gänzlich verborgen wird, was Elias als Indiz einer zunehmenden Affektkontrolle betrachtet: „Von jenem Standard des Empfindens, bei dem der Anblick der erschlagenen Tiere auf der Tafel und sein Zerlegen als unmittelbar lustvoll, jedenfalls ganz und gar nicht als unangenehm empfunden wird, führt die Entwicklung zu einem anderen Standard, bei dem man die Erinnerung daran, daß das Fleischgericht etwas mit einem getöteten Tier zu tun hat, möglichst vermeidet.“ (Elias [1969] 1978, S. 162) Fleisch galt trotzdem lange Zeit als besonders wertvolles Essen und als Statussymbol. Mit der Industrialisierung stieg auch die allgemeine Verfügbarkeit tierischer Lebensmittel, und Fleisch wurde zunehmend für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich. Auch mit der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekam Fleisch die Wirkung zugeschrieben, direkt in Zusammenhang mit dem Aufbau von Muskelkraft zu stehen, und erhielt auf diesem Wege eine starke männliche Konnotation (Fischer 2015). Doch werden damit auch Folgeprobleme für die Gesundheit thematisiert, etwa verbunden mit der Auffassung, dass der „Fleischgeist“ der modernen westlichen Welt, der Fleisch eine zentrale Stellung im Speiseplan zuweist, vor einer ernsten Herausforderung stehe (Frei et al. 2011). In der sozialwissenschaftlichen Forschung hat sich in der jüngeren Vergangenheit mit Fokus auf den Umgang mit Tieren u. a. in der Lebensmittelproduktion eine reflexive Forschungsrichtung unter der Bezeichnung Human-Animal Studies formiert (Chimaira Arbeitskreis 2011; Pfau-Effinger und Buschka 2013). Hier wird die Unterdrückung von Tieren durch Menschen mit den Begriffen „Speziesismus“ und „Anthropozentrismus“ als gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis kritisch betrachtet. Nicht zuletzt am Fleisch entzünden sich damit weitreichende gesellschaftliche Fragen zur Ethik des Konsums (Hirschfelder et al. 2015; Grauel 2013). Die historische und gegenwärtige Verbreitung alternativer Ernährungsstile, wie insbesondere Vegetarismus und Veganismus

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(Ruby 2012; Wicks 2004), können als gegenkulturelle Antwort auf eine soziale Norm des Fleischkonsums oder auch als distinktiver Lebensstil gewertet werden (Barlösius 1997; Rinas 2012). Zur Betrachtung der Materialität von Essen hat Annemarie Mol ausgehend von der Akteur-Netzwerk-Theorie einen Ansatz vorgelegt, mit dem sie Realitäten, die die Materie in Form von Nahrungsmitteln oder ernährten Körpern annimmt, als multipel begreift (Mol 1999; Mol und Mesman 1996). Multiple Realitäten werden durch je kontextspezifische Performances hervorgebracht: „they are different versions, different performances, different realities, that co-exist in the present.“ (Mol 1999, S. 79) Mittels eines ethnografischen Ansatzes zeigen Mol und Emily Yates-Doerr beispielsweise, dass „Fleisch“ – und damit auch Tiere – nicht eine Natur von sich aus haben. „Fleisch“ ist ihrer Analyse zufolge nicht als natürlich anzusehen, da in seiner Erzeugung in beträchtlichem Umfang menschliche Arbeit steckt: „Such cultivation does not represent, mean, or imagine ‚nature‘. Rather, it puts a shape to it.“ (YatesDoerr und Mol 2012, S. 54) Mol fragt außerdem danach, was jeweils „goods and bads relevant to different ways of enacting food, and of affording food with particular possibilities to act“ sind (Mol 2012, S. 381). Um diesen unmittelbaren Zusammenhang von Normen und Ontologien – also der Moral und der Form, die Essen annimmt – zu erfassen, prägt sie den Begriff der „Ontonorms“ als Forschungsheuristik. Mol zeigt, dass in der Ernährungsforschung und -beratung parallel verschiedene Zugänge verfolgt werden, mit denen Essen und Körper multipel hervorgebracht werden (Mol 2012, S. 379). Der Fokus liegt hier darauf, dass die verschiedenen Diättechniken je eigene materielle Realitäten erst produzieren, und Essen für die verschiedenen Techniken daher „simply not the same thing“ sei (Mol 2012, S. 380). Organische Materialität muss aus dieser Perspektive erst durch konkrete Praktiken als ein bestimmtes Nahrungsmittel mit bestimmten Eigenschaften inszeniert werden, um als essbares Objekt mit entsprechenden Konsequenzen in der sozialen Praxis zu gelten (auch Roe 2006). Ob ein Nahrungsmittel daher als Nährstoff- oder Vitaminlieferant oder als wohlschmeckendes Genussmittel hervorgebracht wird, produziere damit unterschiedliche Handlungsnormen. Nicht zuletzt in der Werbung werden Lebensmittel mit symbolischen Implikationen aufgeladen bzw. werden diese reaktualisiert. Hierbei werden Lebensmittel symbolisch stark vergeschlechtlicht (Flick und Rose 2012; Wilk 2013). Bezüglich der symbolischen Bedeutung von Fleisch kommen Sabine Flick und Lotte Rose zu dem Befund, dass Fleisch als einziges Lebensmittel in ihrem Sample mit einem nicht hegemonialen, d. h. eher proletarischen Männlichkeitsmilieu verbunden wird. Sie fragen daher, ob diese soziale Verortung möglicherweise ein „Indiz für die zunehmende Diskriminierung des Fleischverzehrs in den privilegierten männlichen Milieus und für eine fleischarme Annäherung der Ernährungsweisen der Geschlechter in privilegierten Milieus“ ist (Flick und Rose 2012, S. 52–53). Auch Frerichs und Steinrücke erkennen im Nahrungsmittel „Fleisch eine Art Scheidemarke“ (Frerichs und Steinrücke 1997, S. 252) zwischen Arbeitermilieu und den anderen Klassenfraktionen. Nicole Wilk (2013) zeigt darüber hinaus Unterschiede zwischen verschiedenen Fleischsorten auf. Sie analysiert die TV-Werbung für Geflügelwurst mit Jörg Pilawa als männlicher Werbefigur als „Umkodierung genderbasierter Rollenklischees“, da Geflügelwurst ihr zufolge als

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weiblich konnotierte Wurst gelten kann. Sie kommt zu dem Schluss, dass „über den Geltungswert eines maskulinisierten Wissensbegriff die Machtachse ‚Gesundheitshandeln‘ in die soziale Codierung der Ernährungsstile“ einfließen, wodurch sich auch Männer für den Verzehr von Geflügelwurst im Sinne ihrer Gesundheit (neben dem doch für Pilawa überraschend guten Geschmack) begeistern sollen und diese Wurst eben nicht mehr nur etwas für Frauen sei (Wilk 2013, S. 120). Eine weitere Strategie, um Fleisch mit Männlichkeit zu verknüpfen, ist „die Verdinglichung der Frau zum Objekt der Begierde in der Analogie von Fleischspeise und Frauenkörper“ (Wilk 2013, S. 122; auch Fiddes 1993, S. 172; Adams 2010).

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Ernährung und Körper

Innerhalb der Soziologie des Körpers (u. a. Schroer 2005; Gugutzer 2006) ist das Thema Ernährung bislang eher randständig geblieben. Dies ist erstaunlich, weil in wichtigen theoretischen Vorarbeiten der Körpersoziologie Ernährung bereits zu Illustrationszwecken herangezogen wurde. So haben Peter L. Berger und Thomas Luckmann ([1969] 2010, S. 191–195) auf das Potenzial hingewiesen, welches der Gegenstand Ernährung (neben Sexualität) für eine Soziologie des Körpers und insbesondere eine „wissenschaftliche Soziosomatik“ haben kann. Denn Ernährung stelle einen unmittelbar körperlichen Prozess dar, in dem Nahrungsmittel dem Körper zugeführt, in einem Stoffwechselprozess einverleibt und Teil des Körpers werden. Die Grenze zwischen essendem Subjekt und gegessenem Objekt ist demnach nicht so klar zu bestimmen (Mol 2008), da der Stoffwechsel eben Austauschprozesse auf materieller Ebene umfasst. Der Körper stellt damit ebenfalls einen Kristallisationspunkt symbolischer und materieller Dimensionen dar, was sich besonders an der Konstruktion von Geschlechtskörpern zeigt (Setzwein 2004a). Denn „als auf den Körper zugreifende Praktiken sind ernährungsbezogene Handlungen und Diskurse in exponierter und fundamentaler Weise an der Hervorbringung der Geschlechterdifferenz beteiligt“ (Setzwein 2004b, S. 57). Insbesondere über die Medien finden stark normative Vorstellungen vom idealen Körper Verbreitung, einem Körper, der vermittels eines bestimmten Ernährungsverhaltens, z. B. durch entsprechende Diäten, hergestellt werden soll. Verstanden als Technologien des Selbst (Villa 2008), ist ein individuell zu erreichendes Körperideal mit dem Versprechen nach sozialer Anerkennung und Erfolg verbunden (Günter 2013). Diese Körperbilder sind stark vergeschlechtlicht (u. a. Parasecoli 2005; Williams und Germov 2004). Setzwein denkt viele Bourdieu’schen Einsichten in die Sozialität des Essens konsequent für die Geschlechterforschung weiter und integriert sozialisationsbezogene Perspektiven: Die „Verwobenheit von Ernährungsstrategien und gesellschaftlichen Machtverhältnissen“ (Setzwein 2004a, S. 67) resultiere aus einer vergeschlechtlichten Körper- und Ernährungssozialisation, wonach Jungen/ Männer reichlich essen und „groß und stark“ werden und Mädchen/Frauen gemäßigt essen und „schlank und schön“ sein sollten (Setzwein 2004a, S. 258). Die starke Vergeschlechtlichung von Körpernormen zeigt sich in Daniela Schieks (2011) Studie: Sie hat Jugendlichen Schaubilder von 7 stilisierten Jungen- bzw. Mädchenkörpern

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gezeigt, die von links nach rechts in Umfang zunahmen. Während von Jungen fast immer der mittlere als für sich „normal“ gewählt wurde, wurden von Mädchen eher die mit geringerem bis zum geringsten Körperumfang gewählt. Daraus folgert Schiek: „Eine strengere Sicht auf Körperformen zu praktizieren gilt als spezifisch weiblich, und von den Mädchen wird dies mehr abverlangt als von den Jungen, wie sich auch im Ernährungshandeln zeigt.“ (Schiek 2011, S. 210) Körpernormen werden dabei immer auch an vergeschlechtlichte Vorstellungen von Gesundheit gekoppelt (Gransee 2008; Mense 2007). „Norm-Körper“ existieren nicht ohne ihre gesellschaftlich stigmatisierten Gegenbilder. „Essstörungen“ (zur Kritik am Begriff Hepworth 2004) können dabei als spezifisch moderne Problematisierungsform von Ernährung betrachtet werden, weil sie in Gesellschaften auftreten, in denen eine ausreichende Ernährung weitgehend sichergestellt ist und eher ein Nahrungsmittelüberangebot besteht (Ogden 2013). Die Stigmatisierung von „Adipositas“ im Sinne eines individuellen Fehlverhaltens (Schmidt-Semisch und Schorb 2008; Barlösius 2014) wird zumeist mit Risiken für die Gesundheit begründet, wobei das Individuum zugleich selbst dafür verantwortlich gemacht wird, diese Risiken zu vermeiden. Nicht zuletzt deshalb wird Adipositas mit „Faulheit“ und einem Mangel an Eigeninitiative gleichgesetzt, weswegen insbesondere sozial unterprivilegierte Teile der Gesellschaft qua „falschem“ Ernährungsverhalten für die eigene Lage verantwortlich seien (Schorb 2008). Mit den Fat Studies hat sich eine kritische Forschungsrichtung etabliert, die sich mit der Geschichte und Gegenwart von Körperformen und Fett auseinandersetzt (Cooper 2010; Gilman 2008; für eine Kritik Guthman und DuPuis 2006). Am anderen Ende der Skala der modernen Abweichungen vom idealen Körper steht mit „Anorexia“ ein Körper, der zwischen Problematisierung und übermäßiger Erfüllung der Schlankheitsnorm steht. Sozialwissenschaftlich kann Anorexie als am Körper ausgetragener Machtkampf zwischen Individuum und sozialer Umwelt gesehen werden (Gugutzer 2005). Akteur_innen der „Pro Ana“- bzw. „Fat Acceptance“-Bewegungen setzen sich gegen Stigmatisierungen zur Wehr (Richardson und Cherry 2011; Traue und Schünzel 2014). Auch der Stoffwechselprozess selbst und damit die Materialisierung von Körpern hat eine soziale Dimension, da die in einer jeweiligen kulturellen Ordnung regulierten und in je spezifischen, gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen hergestellten „biofaktischen“ Nahrungsmittel einverleibt und verstoffwechselt werden. Das Soziale wird so zu einer Größe in der materiellen Herstellung und Formung des Körpers durch das Essen. Um Ernährung als derartigen körperformenden sozialen Prozess zu begreifen, kann hierfür insbesondere auf das Konzept des Embodying (Schmitz und Degele 2010) bzw. der Verkörperung verwiesen werden (Freedman 2011; Paulitz und Winter 2018). Körperliche Physis und Soziales werden hierbei nicht als zwei getrennte Sphären verstanden, sondern als unmittelbar aufeinander verwiesen: „[E]mbodied food studies is therefore fundamentally focused on the ways that food and food practices allow us to become biologically the social world in which we live.“ (Freedman 2011, S. 89) Auf diese Weise werden Körper sozial geformt und Differenzierungen wie Geschlecht oder Klassenzugehörigkeit schreiben sich in die Körperformen ein. Stefan Hirschauer (1989, S. 111; mit Bezug auf Tyrell 1986) hat,

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wenn auch nur am Rande, Ernährungspraktiken als eine Form des Doing Gender benannt: Der Körper werde „durch Ernährungspraktiken ‚soziosomatisch‘ geformt [. . .]. Bearbeitung und Formierung des Körpers sind dabei selbst körperliche Praktiken“ (H.i.O.). Bourdieu beschreibt mit dem Begriff des „Körperschemas“ ebenfalls sowohl die Formung von Körpern als auch die damit einhergehenden körperlichen Praktiken und führt dies mit Geschmackspräferenzen zusammen: „Der Geschmack für bestimmte Speisen und Getränke hängt [. . .] sowohl ab vom Körperbild, das innerhalb einer sozialen Klasse herrscht, und von der Vorstellung über die Folgen einer bestimmten Nahrung für den Körper, d. h. auf dessen Kraft, Gesundheit und Schönheit“ (Bourdieu 1987, S. 305). Obwohl der Geschmack als körperliche Empfindung physiologisch relativ geringe Unterscheidungsmöglichkeiten bietet, ist dieser in hohem Maße sozial reguliert (Barlösius [1999] 2011, S. 84). So weist der Geschmack für bestimmte Speisen und Getränke eine soziale Prägung und einen Zusammenhang mit sozialen Differenzierungskategorien auf. Bourdieu (1987, S. 288) unterscheidet zwischen einem Geschmack der Notwendigkeit und einem Geschmack der Freizügigkeit. Welchen dieser Geschmacksmodi man sich aneignet, ist nicht nur durch ökonomisches Kapital vermittelt, sondern schreibt sich im Habitus als Dispositionen ein. Der Geschmack für bestimmte Speisen ist für Bourdieu „Natur gewordene, d. h. inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse“ (Bourdieu 1987, S. 307). Barlösius ([1999] 2011) fügt Bourdieus Zweiteilung eine dritte Art von Geschmack hinzu: den „naturgemäßen Essstil“. Dieser „ist bestimmt vom Streben nach einfacher, frugaler, reiner, gesunder und natürlicher Nahrung“ (Barlösius [1999] 2011, S. 117) und unterscheidet sich auf moralischer Ebene von den anderen Essstilen, weswegen dieser v. a. auf symbolischem Kapital aufbaue. Mit dieser Ergänzung lassen sich alternative Essstile als sozial distinktiv betrachten. Neben Milieuunterschieden geht Bourdieu auch auf Geschlechterungleichheiten ein: So sollten Frauen „wenig und ohne Appetit [. . .] essen“, während es Männern anstünde „mit vollem Mund und mit kräftigem Biß“ zu essen (Bourdieu 1987, S. 308 H.i.O.). Männern steht also mehr und anderes (Wurst statt Salat) zu als Frauen, was Bourdieu als inkorporierte Geschmacksmuster des Habitus begreifbar macht (Bourdieu 1987, S. 309). Wenn auch mit einiger gesellschaftlicher Beharrungskraft ausgestattet, so ist der Geschmack doch in der sozialen Praxis nicht auf Dauer fixiert. Vielmehr erscheint er als Gegenstand der beständigen Aushandlung durch sich verschiebende Grenzlinien sozialer Distinktion, wenn etwa der Krabbencocktail nicht länger allein die Speise der Privilegierten bleibt, sondern im Discounter für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich wird, und parallel die Oberschicht die deftige Küche in raffinierten Kombinationen und hochpreisigen Arrangements für sich (wieder) entdeckt. Aushandlung erfolgt aber auch in Interaktionen, bei denen soziale Identitäten konstruiert werden (Teil und Hennion 2004; Sneijder und te Molder 2005). Darüber hinaus ist darauf hingewiesen worden, dass nicht nur der konkrete Reiz von Nahrungsmitteln auf der Zunge einen „guten Geschmack“ ausmacht, sondern auch Aspekte wie eine (angenommene) gesundheitsfördernde Wirkung oder die ethische Vertretbarkeit (z. B. „Fair Trade“, „Vegan“ oder „Bio“) der Produktion (Mol 2009).

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Ausblick und Fazit

Nicht nur aufgrund seiner hohen Komplexität und Verwobenheit mit vielfältigen sozialen und kulturellen Dimensionen, der grundlegenden und lebenserhaltenden Rolle im alltäglichen Leben und des großen Potenzials für sozialtheoretische Problemstellungen ist Ernährung ein kultursoziologisches Themenfeld, welches eine erhöhte Aufmerksamkeit verdient. Denn aktuell ist Ernährung und die Frage, wie wir uns ernähren sollten, ein brandaktuelles gesellschaftliches Thema. Beispiele sind biopolitische Diskurse und Kampagnen etwa der deutschen Bundesregierung („Fit statt Fett“ aus dem Jahre 2007), die Zunahme an Ernährungstrends wie Veganismus, Paleo-Diät oder Super-Foods, gesellschaftliche Kontroversen um politische Interventionen, wie die Auseinandersetzungen um die Einführung eines „Veggie-Days“ im Bundestagswahlkampf 2013, oder ein gesteigertes Bewusstsein über die Folgen eines hohen Fleischkonsums für den Klimawandel. Diese kleine Auswahl zeigt, dass der Bereich der Ernährung in Bewegung ist und sich hier auf verschiedenen Ebenen, globale und lokale, gesellschaftliche Konfliktlinien überkreuzen. Aus einer kultursoziologischen Perspektive ist Ernährung aufgrund seiner untrennbaren Verbindung von symbolischen und materiellen Ebenen lohnend und bietet vielfältige Anknüpfungspunkte an aktuelle Theoriediskussionen, wie etwa zum new materialism (Barad 2003). Auch für die Körpersoziologie eröffnen sich neue Impulse durch die Beschäftigung mit Essen und Ernährung. Angrenzend an Fragen zur Ernährung haben sich bereits einige interessante und dynamische Forschungsrichtungen etabliert, wie etwa die Human-Animal Studies, die Fat Studies oder auch der Bereich der Gesundheitssoziologie. Hier ist in Zukunft einiges an neuen Impulsen zu erwarten, die kultursoziologisch relevant sein werden. Quer zu den verschiedenen, im Beitrag behandelten, Dimensionen liegen soziale Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse, die sich im Bereich der Ernährung überschneiden bzw. zu deren Reproduktion Essen und Ernährung einen wichtigen Beitrag leisten. Das Beispiel Geschlecht zeigt die Komplexität des Themas Ernährung auf besonders eindrückliche Weise: Hier treten Materialität und Repräsentationsweisen von Körpern sowie (wissenschaftliches) Wissen über diese in eine enge Verbindung. Darüber hinaus ist dieses Wissen an die Herstellung der Nahrungsmittel gekoppelt, was sich u. a. in ihrer symbolischen Vergeschlechtlichung ausdrückt, welche wiederum formierend auf Alltagspraxis und die über diese stabilisierten Ungleichheiten und Machtverhältnisse wirkt. Auf ähnliche Weise, wie dies hier für die Ungleichheitskategorie Geschlecht skizziert worden ist, ließen sich die Fäden von Ernährung an verschiedenen Stellen sozialer Wirklichkeit zusammenziehen, was die Dynamik und die Komplexität dieses Forschungsfeldes zeigt. Über eine solche, auf einzelne Ungleichheitsachsen konzentrierte, Betrachtung hinaus wäre zukünftig eine intersektionale Betrachtung der symbolisch-materiellen Verknüpfungen von Essen in der Überkreuzung von Kategorien wie race, class und gender mehr als lohnend, will man die gegenwärtige Rolle des alltäglichen kulturellen Phänomens Essen angemessen einfangen.

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Gedächtnis aus kultursoziologischer Perspektive Dietmar Wetzel

Inhalt 1 Einleitung: Kultursoziologie und die Erforschung des Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Klassische Arbeiten und begriffliche, konzeptionelle Ausdifferenzierungen: Halbwachs & Co. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aktuellere Studien und diskursive Verschiebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Im Anschluss an Überlegungen zum Verhältnis von Kultursoziologie und Gedächtnisforschung (Abschn. 1) stellt der Beitrag klassische Arbeiten (Maurice Halbwachs, Jan und Aleida Assmann, Harald Welzer und Alfred Schütz) sowie begriffliche Differenzierungen vor, die um vier Formen des Gedächtnisses (kollektives, kulturelles, kommunikatives und soziales) kreisen (Abschn. 2). In einem dritten Teil geht der Text exemplarisch genauer auf einige aktuelle Studien ein, bei denen kultursoziologische Momente eine wichtige Rolle spielen. Diese Studien werden den folgenden Themenblöcken zugeordnet: „Erinnerungskulturen“, „Generationengedächtnis und Biografie“, „Soziologie des Vergessens“, „Körper und Gedächtnis“ sowie „Social and Cultural Memory Studies“ (Abschn. 3). Abschließend werden zentrale Punkte aufgegriffen und Desiderate weiterer Forschung angeführt (Abschn. 4). Schlüsselwörter

Gedächtnis · Erinnerung · Vergessen · Kultur · Maurice Halbwachs

D. Wetzel (*) Institute of Sociology, University of Basel, Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_24

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1

D. Wetzel

Einleitung: Kultursoziologie und die Erforschung des Gedächtnisses

Wenn es einen Konsens in den Wissenschaften bezüglich der Erforschung des Gedächtnisses gibt, dann besteht dieser in der Einsicht, dass es der Einnahme einer inter- und transdisziplinären Perspektive bedarf, um über die Funktionsweise und die Bedeutsamkeit von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen Auskunft zu erteilen. Alle drei Begriffe fungieren mittlerweile als Schlüsselkategorien in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Gedächtnis und Erinnerung lassen sich wie folgt voneinander unterscheiden: „Wenn das Gedächtnis bereits eine Auswahl aus dem im Laufe der Zeit erlebten Ereignissen bildet, so könnte man die Erinnerung als jene Auswahl bezeichnen, die aktuell für einen Augenblick aus den Beständen des Gedächtnisses getroffen wird.“ (Hahn 2010, S. 100) Dass bei der Erforschung der damit verbundenen Prozesse der Erinnerung und des Vergessens die Kultursoziologie eine wichtige Rolle einnimmt, soll mit den folgenden Ausführungen verdeutlicht werden. Wie Adloff et al. (2014) in Anlehnung an Karl-Siegbert Rehberg schreiben, erscheint es sinnvoll, Kultur als „Aspektstruktur aller Sozialität“ (Adloff et al. 2014, S. 14) zu fassen. Rehberg schreibt diesbezüglich genauer: „Zwar kann die Kultursoziologie ein Fundament nur in Einzelforschungen und -ansätzen finden. Aber soweit sie Soziologie zu sein beansprucht, muß es ihr immer darauf ankommen, die Rückbindung von Kulturtatsachen an den jeweiligen sozialen Gesamtzusammenhang (in der Moderne also an das Interdependenzgeflecht der jeweiligen „Gesellschaft“) herzustellen.“ (Rehberg 2013, S. 394–395) Warum ist nun Kultur für die soziologische Gedächtnisforschung von Bedeutung? Prinzipiell kommt jede soziologische Gedächtnisforschung kaum ohne Berücksichtigung einer kultursoziologischen Perspektive aus. Kultur und Gedächtnis sind miteinander verzahnt und müssen daher in ihrer gegenseitigen Durchdringung erforscht werden. Aspekte des Kulturellen spielen, wie noch genauer gezeigt wird, eine weitreichende (um nicht zu sagen tragende) Rolle, wenn wir über die Funktionsweise und die Bedeutung des Gedächtnisses sowie über die Vielfältigkeit von Erinnerungspraktiken Auskunft geben wollen. Kultur kann sogar, wie etwa Dirk Baecker nahezulegen scheint, mit Gedächtnis gleichgesetzt werden: „Wer sich kulturell für identisch hält, vergißt, daß er seine Identität aus dem Vergleich gewonnen hat und der und das Andere daher im Zentrum dieser Identität sitzt. Eine Kultur stellt Interpretationsspielräume zur Verfügung, ein Gedächtnis der Gesellschaft mit Blick auf eine offene Zukunft“ (Baecker 2001, S. 9, Hervorhebungen D.W.). Hier scheint mir zweierlei wichtig zu betonen: Zum einen die Interpretationsspielräume, die sich gleichsam (er-)öffnen, wenn wir zum anderen Kultur im Sinne eines (prinzipiell unendlichen) Reservoirs an Ideen, Praktiken, Materialitäten etc. begreifen und letztlich damit das Gedächtnis meinen. Kultur lässt sich damit wesentlich als soziales Deutungsmuster begreifen, welches der Selbstverständigung von Gesellschaften und Individuen dient: „Nicht die Frage, was Kultur ist, sondern wie sie hergestellt – im Sinne von gedacht, gelebt und gemacht – wird und wie sich in, mit und über Kultur soziale Ordnung herstellt, aufrecht erhält und legitimiert, steht dabei im Mittelpunkt.“ (Klein 2008, S. 237)

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Im Anschluss an diese ersten Überlegungen zum Verhältnis von Kultursoziologie und Gedächtnisforschung stelle ich in einem zweiten Schritt klassische Arbeiten (von Maurice Halbwachs, Jan und Aleida Assmann, Harald Welzer und Alfred Schütz) sowie begriffliche Differenzierungen vor, die wesentlich um vier Formen des Gedächtnisses (kollektives, kulturelles, kommunikatives und soziales Gedächtnis) kreisen (Abschn. 2). In einem dritten Teil gehe ich exemplarisch auf einige aktuelle Studien etwas genauer ein, bei denen kultursoziologische Aspekte eine wichtige Rolle spielen. Inhaltlich werden diese Studien den folgenden Themenblöcken zugeordnet: „Erinnerungskulturen“, „Generationengedächtnis und Biografie“ und „Soziologie des Vergessens“ (Abschn. 3). Abschließend werden zentrale Punkte aufgegriffen und Desiderate weiterer Forschung genannt (Abschn. 4).

2

Klassische Arbeiten und begriffliche, konzeptionelle Ausdifferenzierungen: Halbwachs & Co.

In diesem Abschnitt werden sowohl wichtige klassische Arbeiten als auch die daran anschließenden begrifflichen und konzeptionellen Differenzierungen zu den Formen des Gedächtnisses präsentiert.1 Das Spektrum reicht dabei vom „kollektiven Gedächtnis“ (Maurice Halbwachs) über das „kulturelle Gedächtnis“ (Jan Assmann) und das „kommunikative Gedächtnis“ (Assmanns und Welzer) bis zum „sozialen Gedächtnis“ (Welzer u. a.). Obwohl er keine Gedächtnistheorie im strengen Sinne entwickelt hat, wird abschließend kurz auf den Beitrag von Alfred Schütz zur Thematik Gedächtnis und Erinnerung eingegangen.

2.1

Halbwachs‘ Arbeiten zur Soziologie und Sozialpsychologie des Gedächtnisses

In Halbwachsʼ Arbeiten zur Soziologie und Sozialpsychologie des Gedächtnisses – am bekanntesten und wichtigsten sind dabei „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“ (orig. 1925, dt. 1985) und „Das kollektive Gedächtnis“ (orig. 1950, dt. 1967) sowie „Stätten der Verkündigung im Heiligen Land“ (orig. 1941, dt. 2003) – gelingt es ihm als dem ersten empirischen Soziologen der französischen DurkheimSchule zu zeigen, dass es sich bei Erinnerungen an die Vergangenheit wesentlich um Rekonstruktionen im Lichte der Gegenwart handelt (vgl. dazu Wetzel 2009a, b). Auch Lewis A. Coser, der ein Wiedererstarken der Kultursoziologie für die 1990erJahre konstatiert hat, sieht die Bedeutsamkeit von Halbwachs und dessen kollektives 1

Zu den Vorläufern Emile Durkheim, Henri Bergson und Edmund Husserl vgl. den Überblick bei Heinlein und Dimbath (2010). Zu Durkheim, der wie Bergson auch ein Lehrer von Halbwachs war, schreiben sie: „Durkheim entwickelt eine Gedächtniskonzeption, um die Entstehung und Erhaltung eines kollektiven Bewusstseins theoretisch zu untermauern. Mit seinem Hinweis auf das Ritual schafft er zugleich die Möglichkeit, Gedächtnis überindividuell, kollektiv und damit als genuin soziologischen Tatbestand zu verstehen.“ (Heinlein und Dimbath 2010, S. 280)

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Gedächtnis im Herausarbeiten und der Betonung der (re-)konstruktiven Leistung des Gedächtnisses begründet (Coser 1992, S. 372). Im Unterschied zu Halbwachs’ Zeitgenossen Aby Warburg geht dieser stets von der „Kulturgeprägtheit des Gedächtnisses“ aus, wie Jan Assmann in dem Geleitwort zu dem Band von Echterhoff und Saar (2002, S. 8) betont. Statt einer individualistisch-verkürzten Sichtweise zeigt Halbwachs im Rahmen seiner „kollektiven Psychologie“ auf, in welcher Art und Weise das kollektive Gedächtnis gerade kein Archiv ist, das die Ereignisse als Kopie ablegt und als Erinnerung beliebig abrufbar macht. Vielmehr werden diese Ereignisse im „Prozess des Erinnerns“ bearbeitet. Dies geschieht, indem gewisse Dinge betont und andere wiederum verformt oder vergessen werden. Dabei ist es für Halbwachs immer das Individuum, welches als Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung in Erscheinung tritt, wobei dieses individuelle Gedächtnis nicht als ein psychisches, sondern als ein soziales Phänomen verstanden werden muss. Wie das individuelle Gedächtnis ist das kollektive Gedächtnis perspektivisch organisiert; beide zeichnen sich durch eine starke Selektivität aus. Kollektive Gedächtnisse garantieren ihren Trägern den Zusammenhalt in der Gegenwart und sichern zudem eine Kontinuität, die in die Zukunft verweist. Gerade insofern kollektive Gedächtnisse konstitutiv für soziale Gemeinschaften sind, Halbwachs fokussiert besonders auf die Familie, setzen sie allfälligen sozialen Unbeständigkeiten eine Form der Dauerhaftigkeit entgegen. Hier handelt es sich also um langfristige Erinnerungen, die sich relativ stabil über längere Zeiträume erhalten. Die aus der jeweiligen kulturellen Lebenswelt stammenden Praktiken und Zeichen sind für die Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses verantwortlich. Daraus resultiert, dass es viele kollektive Gedächtnisse gibt, die gruppenspezifisch und damit sozial bedingt sind und keinesfalls zufällig in Erscheinung treten. Für Halbwachs steht fest: „Erinnerungsbilder treten nicht spontan und selbstständig im Bewußtsein des einzelnen auf, sondern werden unter Beteiligung gesellschaftlich präformierter Schemata (des Wahrnehmens, der Interpretation, des Klassifizierens etc.) rekonstruiert. Diese Rekonstruktion erfolgt indessen nicht in den Bahnen historischer Reflexion, sondern folgt eigenen, in der Lebenswelt der Gruppe entwickelten Vorstellungen von sozialer Kohärenz“ (Harth 1991, S. 34). Für Halbwachs ist der Prozess der Erinnerung notwendigerweise an die Gesellschaft respektive an Gruppen gebunden und insofern als ein eminent sozialer Prozess zu begreifen. Die in der Gegenwart situierten cadres (Rahmen) helfen den jeweiligen Gruppen, sich zu erinnern. Diese Erinnerungen werden durch andere, bereits früher unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das vergangene Bild immer schon – mehr oder weniger stark – verändert hervorgegangen ist (Halbwachs 1967, S. 55). Auch noch die scheinbar persönlichste Erinnerung, die wir als Einziger bezeugen können, ja selbst unausgesprochene Gedanken und Gefühle stehen zu Begriffen und semantischen Feldern in Beziehung, über die noch viele andere außer uns selber verfügen. Halbwachs zufolge stehen wir stets in einem ebenso dynamischen wie notwendigen Austausch mit dem ganzen materiellen und geistigen Leben der Gruppen, denen wir angehörten beziehungsweise auch weiterhin angehören (Halbwachs 1985, S. 71). In den „Stätten der Verkündigung im Heiligen Land“ (2003) befindet sich das Denken von Halbwachs im Übergang vom kollektiven zum kulturellen Gedächtnis.

Gedächtnis aus kultursoziologischer Perspektive

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Der von ihm erforschte Wandel christlicher Überlieferungen beschreibt den Zugriff religiöser Gruppen auf die materiellen und räumlichen Bedingungen ihres Gedenkens. Dementsprechend werden mentale Veränderungen über ihre Materialisierungen in Raum und Zeit untersucht, denn die Heiligen Stätten erinnern gerade nicht an von zeitgenössischen Zeugen beglaubigte Tatsachen, sondern vielmehr an Überzeugungen. Dabei veranschaulicht Halbwachs, auf welche Weise sich das religiöse Gedächtnis selbst eine Ordnung, also einen Rahmen des Erinnerns, gibt, der sich in geografischer Kontinuität versinnbildlicht. Insgesamt zeichnen sich die Arbeiten von Halbwachs durch die folgenden, kulturell geprägten Merkmale aus: 1. (Re-)Konstruktivität: Nicht nur kann eine ursprüngliche Szene niemals wiederholt werden, auch wäre diese Wiederholung selbst niemals eine identische Entsprechung des einstmals Gegebenen, da sich auch die Kontexte durch die Wiederholung unwiederbringlich verschoben haben. 2. Interaktivität und Angewiesenheit auf Bezugsrahmen („cadres sociaux“): Der sich Erinnernde ist elementar auf die Hilfe dieser Bezugsrahmen angewiesen, um den Akt des Erinnerns vollziehen zu können. 3. Funktionalität: Soziales Erinnern besitzt eine Orientierungsfunktion für Gruppen in der Gegenwart (vgl. Olick und Robbins 1998; Sebald und Weyand 2011).

2.2

Jan und Aleida Assmann: kulturelles und kommunikatives Gedächtnis

Im Anschluss an Halbwachs’ Gedächtnistheorie sind vor allem die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann bedeutsam geworden, wobei beide auf Schrift und Literatur als Quellen rekurrieren, ohne jedoch darauf reduziert werden zu können.2 Unter Ausblendung all der hier nicht zu würdigenden Facetten ihres produktiven Schaffens kritisieren beide an Halbwachs hauptsächlich, dieser würde die objektivierte Kultur zu wenig berücksichtigen.3 Ausgehend von diesem Befund, haben Aleida und Jan Assmann seit den 1980er-Jahren eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses entwickelt (Assmann 1988, 2007, 2001, 2006). Wie lässt sich das kulturelle Gedächtnis verstehen? „Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt“ (Assmann 1988, S. 15). Neben dem kulturellen Gedächtnis, was 2

Vgl. dazu den hervorragenden Überblick von Andreas Langenohl (2011). Dabei wäre es umso wichtiger, diese objektivierte Form der Kultur in den Blick zu nehmen, da sie im Vergleich zur subjektiven Kultur ständig am Zunehmen ist: „The extraordinary extension of the social capacity of memory mediated by technology is one of the most evident aspects of the typically modern contradiction between the exponential growth of ‚objective culture‘ and the relative atrophy of ‚subject culture‘ described by Simmel at the beginning of the century.“ (Jedlowski 2001, S. 38).

3

342

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sich als fruchtbare Kategorie in den Geistes- und Sozialwissenschaften etabliert hat, fokussiert vor allem Aleida Assmann auf den Unterschied zwischen einem Funktions- und Speichergedächtnis: „Das bewohnte Gedächtnis wollen wir das Funktionsgedächtnis nennen. Seine wichtigsten Merkmale sind Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung. Die historischen Wissenschaften sind demgegenüber ein Gedächtnis zweiter Ordnung, ein Gedächtnis der Gedächtnisse, das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat. Dieses Gedächtnis der Gedächtnisse schlage ich vor ‚Speichergedächtnis‘ zu nennen.“ (Assmann 2006, S. 134) Mit diesen und weiteren Differenzierungen gelingt es, eine „historische Tiefendimension von Kultur“ freizulegen, die „sich den Assmanns zufolge also in der Prozessstruktur der die Zeit übergreifenden und gleichzeitig auf den Vorgang der Lektüre verdichtenden Interaktion zwischen Leser und kulturellem Text, die in der Struktur von Text und Schrift schon immer angelegt ist“ (Langenohl 2011, S. 553), zeigt. Im Unterschied zu diesem so verstandenen kulturellen Gedächtnis, das wesentlich durch seine Alltagsferne gekennzeichnet ist, tritt das durch seine Alltagsnähe zu fassende kommunikative Gedächtnis strukturell als ein Kurzzeitgedächtnis in Erscheinung. Es ist an den Menschen gebunden, verbreitet sich durch mündliche Alltagskommunikation und umfasst ungefähr einen Zeitraum von 80 Jahren (das entspricht drei bis vier Generationen) (Welzer 2001, S. 13) und „dann auf eine immer im gleichen Abstand mitwandernde Trennlinie ( floating gap) [stößt], hinter der auf undifferenziert einheitlicher Linie die ‚graue Vorzeit‘ liegt“ (Bering 2001, S. 330).

2.3

Das soziale Gedächtnis (Welzer u. a.)

Harald Welzer (2002) greift die bereits von Aleida und Jan Assmann vollzogene Unterscheidung zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis auf. Beiden Gedächtnisformen ist gemeinsam, dass sie intentional mit der Vergangenheit umgehen, was bedeutet, dass der Fokus auf bewussten beziehungsweise auf bewusstseinsfähigen Kommunikationspraktiken sowie der Formierung von Vergangenheit liegt. Mit der Einführung des sozialen Gedächtnisses, das als Generationengedächtnis verstanden werden kann, plädiert Welzer für eine weitere Differenzierung in puncto Gedächtnisformen. Weit gefasst – und kultursoziologisch bedeutsam – begreift er „das soziale Gedächtnis als die Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-Gruppe“ (Welzer 2001, S. 15). In Anlehnung an Peter Burke fallen unter eine so gefasste „Sozialgeschichte des Erinnerns“ die „Praxis der mündlichen Tradition, der Bestand an konventionellen historischen Dokumenten wie Memoiren, Tagebücher etc. gemalte oder fotografische Bilder, kollektive Gedenkrituale sowie geografische und soziale Räume“ (Welzer 2001, S. 15). Für besonders wichtig hält Welzer jedoch eine stärkere Hinwendung der Forschung zu den unbewussten und nichtintentionalen Praktiken des sozialen Gedächtnisses, „denn in ihnen scheint am ehesten aufgehoben zu sein, was uns immer schon zu geschichtlichen Wesen macht, auch wenn wir intentional gerade mit ganz anderen

Gedächtnis aus kultursoziologischer Perspektive

343

Dingen beschäftigt sind, als Vergangenheit zu reflektieren oder zu verfertigen“ (Welzer 2001, S. 18).

2.4

Der Klassiker Alfred Schütz

Im Unterschied zu den Assmans und Welzer spielt Alfred Schütz (1899–1959), ein Klassiker der Soziologie, eine Vorläuferrolle für aktuellere Studien zu Körper und Gedächtnis sowie der Frage nach Relevanz und Lebenswelt. Schütz hat zwar keine explizite Gedächtnistheorie entworfen, aber mit seinem Konzept der Lebenswelt und der „Relevanzstruktur“ (Schütz 1971, 1991 [1932]) interessante Rückgriffe auf Gedächtnis und Erinnerungsprozesse geleistet. Sein soziologisch bedeutsamer Beitrag „beginnt dort, wo er die egologischen Überlegungen eines umfassend durch die Erfahrung des Sozialen geprägten subjektiven Wissensvorrats auf Fragen der Intersubjektivität und Sozialität mit dem Ziel der Konzipierung eines gesellschaftlichen Wissensvorrats bezieht. Und auch für die Frage nach Gedächtnis und Erinnerung erfolgt hier der Schritt von einem gesellschaftlich geprägten Individualgedächtnis, auf dessen Grundlage die Lebenswelt gestaltet wird, zur Annahme kulturspezifisch geprägter Strukturen der Lebenswelt.“ (Heinlein und Dimbath 2010, S. 284) Unabhängig von der Zugehörigkeit zu verschiedenen Lebenswelten, spielt der „Erwerb eines habituellen Wissens“ (Schütz 1971, S. 102), was sich vor allem auch körperlich niederschlägt, eine wichtige Rolle für die Möglichkeiten des Erinnerns. Eben dies wird später für die Erforschung von Körper und Gedächtnis zu einer wichtigen Grundlage.

3

Aktuellere Studien und diskursive Verschiebungen

In Arbeiten aus den letzten Jahren rücken verschiedene Themen in den Vordergrund, die für neue Akzentsetzungen in der Gedächtnisforschung sorgen. Überblicke und historische Einordnungen liefern das Lexikon Gedächtnis und Erinnerung von Pethes und Ruchatz (2001), das interdisziplinäre Handbuch Gedächtnis und Erinnerung von Gudehus et al. (2010) sowie der Sammelband The Collective Memory Reader von Olick et al. (2011). Ohne hier den Anspruch auf Vollständigkeit vertreten zu können, werden fünf Bereiche etwas genauer vorgestellt, und vor allem in ihren kultursoziologischen Gehalten exemplarisch ausgewiesen.

3.1

Erinnerungskulturen

In Deutschland hat sich der Gießener Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen (1997–2008) der Erforschung der Inhalte und Formen kultureller Erinnerungen in ihrer Pluralität, Konstruktivität und Dynamik aus interdisziplinärer Perspektive gewidmet. Sein Anliegen war es, Formen und Funktionen des Erinnerns von der Antike bis ins 21. Jahrhundert zu analysieren und so das Bewusstsein für die Historizität erinnerungskultureller Konstellationen und der damit einhergehenden Kategori-

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sierungen zu schärfen. Das Konzept der Erinnerungskulturen unterstreicht die Vielfalt eines durch Konkurrenzen geprägten Erinnerungsgeschehens. Es versteht die Dynamik des Erinnerungsgeschehens als Resultat der Pluralität von gleichzeitigen Erinnerungsfeldern, die um gesellschaftliche Deutungshoheit konkurrieren. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang nicht nur kulturelle Machtverhältnisse, die selbst wiederum durch Erinnerung stabilisiert werden, sondern auch kommunikationsgeschichtliche Ausgangslagen. Jedem kulturellen Erinnerungsprozess ist eine historisch bedingte Medienselektion vorgängig, die weitreichende Konsequenzen für Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns mit sich bringt (vgl. dazu Erll 2005). Unterschieden werden drei Dimensionen der Erinnerungskultur: (1) Eine materiale Dimension, die sich auf Medien und andere kulturelle Artefakte bezieht (Denkmäler, Fotos etc.). (2) Eine soziale Dimension, die soziale Institutionen und deren Praktiken untersucht (Archive, Forschungseinrichtungen etc.). (3) Eine mentale Dimension, die erinnerungskulturelle Schemata und Codes erfassen will (Geschichtsbilder, kulturelle Stereotype etc.).

3.2

Generationengedächtnis und Biografie

Das als Alltagsgedächtnis zu verstehende Generationengedächtnis gehört zum Bereich des kommunikativen Gedächtnisses: „Das Generationsgedächtnis bezieht sich dabei nicht in erster Linie auf die ähnlichen Erfahrungen, die eine Gruppe von Menschen in einem bestimmten zeitlichen Kontext gemacht hat, sondern vor allem auf die Form der Erfahrungsverarbeitung. Der Erfahrungshintergrund der Generation bestimmt in diesem Sinne die individuelle Wahrnehmung und Einordnung von Ereignissen.“ Dabei ist dieses Generationengedächtnis ein „zentraler Gegenstand der ‚Oral History‘, die subjektive Erinnerungszeugnisse in Form von narrativen Interviews erhebt und analysiert“ (Moller 2010, S. 4). Über die vielfältigen Zusammenhänge zwischen „Generation und Gedächtnis“ gibt der gleichnamige (interdisziplinäre) Sammelband von Kristin Platt und Mihran Dabag (1995) Auskunft, wobei dieser Erinnerungen und kollektive Identitätsbildungsprozesse ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Aus kultursoziologischer Sicht leistet Gabriele Rosenthal mit „Zur Interdependenz von kollektivem Gedächtnis und Erinnerungspraxis“ (2010) einen aufschlussreichen Beitrag, der sowohl einen sozialkonstruktivistischen als auch biografietheoretischen Zugang zur Kultursoziologie eröffnet. Die als kulturell gefasste Praxis des Erinnerns bringt die kollektiven Gedächtnisse verschiedener Gruppierungen stets neu hervor; sie steht ebenso in Wechselwirkung mit der erlebten Vergangenheit der sich erinnernden und darüber kommunizierenden Menschen wie mit den über die Generationen hinweg etablierten und internalisierten kollektiven Wissensbeständen. Wie Rosenthal zeigt, ist diese Praxis des Erinnerns je nach historisch-kulturellem Kontext unterschiedlichen sozialen Regeln unterworfen, die sich wiederum über die Generationen hinweg verfestigen und wandeln.4 4

Vgl. dazu auch den instruktiven Beitrag von Jörn Rüsen (2001).

Gedächtnis aus kultursoziologischer Perspektive

3.3

345

Soziologie des Vergessens

Zunehmend hat sich in den letzten Jahren eine Soziologie des Vergessens herausgebildet, die sehr stark auf wissens- und kultursoziologischen Einsichten aufbaut. Bereits bei Halbwachs wird das Vergessen als ebenso bedeutsam wie das Erinnern aufgefasst, denn durch den Mechanismus der Selektion wird weniges betont, vieles dagegen ausgeblendet und dementsprechend nicht mehr erinnert (vgl. Wetzel 2011). Dem Verlust der sozial und kulturell geprägten Rahmen kommt dabei eine entscheidende Erklärungskraft zu. Im Anschluss an die Arbeiten von Niklas Luhmann argumentiert die italienische Soziologin Elena Esposito aus einer systemtheoretischen Perspektive in ihrer Arbeit „Soziales Vergessen“, dass „das Gedächtnis eher für den Verlust von Inhalten denn für deren Aufbewahrung zuständig“ ist, „eher für das Vergessen denn für die Erinnerung. Die Form des Gedächtnisses besteht nicht in der Identität der Erinnerung, sondern in der Differenz Erinnern/Vergessen“ (Esposito 2002, S. 27). Insgesamt betrachtet gibt es für Esposito bezüglich den Formen und Stärken des Gedächtnisses eine Abhängigkeit von den jeweils historisch verfügbaren Kommunikationsmedien: diese reicht von der Schrift über die Massenmedien bis hin zu den jüngsten elektronischen Technologien. Diese Medien, die gegenwärtig vergleichsweise viel mehr zu erinnern und zu vergessen erlauben als in früheren Zeiten, verlangen, so die These von Esposito, nicht nur stets komplexere soziale Strukturen, sondern auch eine andere gesellschaftliche Organisation des Gedächtnisses. Kultursoziologisch bedeutsam sind dabei in puncto Gedächtnis die Fragen „nach den Medien der Speicherung, Kommunikation, Verbreitung und Erschließung“ (Assmann 2002, S. 414). Im deutschen Sprachraum haben sich vor allem Oliver Dimbath und Peter Wehling mit ihrem Sammelband „Soziologie des Vergessens“ (2011) für eine stärkere Berücksichtigung der Prozesse des Vergessens im Kontext von Gedächtnis-Studien verdient gemacht. Die diesbezüglichen Erkenntnisse werden in einem weiteren Sammelband von Dimbath und Heinlein (2014), der vor allem wissenssoziologische Zugänge enthält, zusammengefasst und ergänzt. Versammelt werden empirische Forschungsfelder zu Fragen des Vergessens mit theoretischen Überlegungen zu einer soziologischen Theorie des Vergessens.

3.4

Körper und Gedächtnis

Dem ebenso vielfältigen wie kultursoziologisch bedeutsamen Thema Körper und Gedächtnis haben sich mittlerweile einige Studien gewidmet. Alois Hahn geht in seinem Band „Körper und Gedächtnis“ (2010) sowohl auf die Frage der „Inszenierung der Erinnerung“ (Hahn 2010, S. 17–36) ein, als auch auf die generativen Momente eines „habituellen Gedächtnisses“ (2010, S. 97–112). Im Anschluss an Halbwachs’ Einsichten zum kollektiven Gedächtnis und Luhmanns’ Reflexionen zum Gedächtnis, vertritt Hahn die These, derzufolge heute das kollektive Gedächtnis „nur durch Inszenierungen zu bewerkstelligen [sei], die Massenaufmerksamkeit bindet. Kollektives Gedächtnis wird deshalb im Gegensatz zu vormodernen Gesellschaften kürzere Verfallszeiten aufweisen.“ (Hahn 2010, S. 25) Mit Pierre Bourdieu und dessen

346

D. Wetzel

Habitus-Konzept wird bei Gedächtnisleistungen die Notwendigkeit einer unbewussten und körperlich verankerten Kompetenz herausgearbeitet, die u. a. auf dem Verfügen von unterschiedlichem kulturellen Kapital basiert. Aus dem Sammelband von Michael Heinlein Der Körper als soziales Gedächtnis (2016) sei exemplarisch der Beitrag von Hilmar Schäfer „Immaterielles Kulturerbe“ erwähnt, der darin sehr klar die Körperlichkeit des sozialen Gedächtnisses herausarbeitet. Im Vordergrund stehen orale Traditionen, Rituale und Bräuche, die eine körperliche und performative Dimension des sozialen Gedächtnisses darstellen. Dieses Gedächtnis lässt sich nur mithilfe von Körpern aufrechterhalten, die das Wissen schützen; dabei ist es auf ständige Wiederholung und Einübung angewiesen. Der Körper fungiert nicht nur als Speichermedium, sondern darüber hinaus in zweifacher Weise „als Agens historischer Übertragung“ sowie „als Wahrnehmungsorgan“ (Schäfer 2016, S. 198).

3.5

Social und Cultural Memory Studies

Olick (1999) unterscheidet im Kontext der im Entstehen begriffenen Social oder auch Cultural Memory Studies zwischen collected memory und collective memory.5 Zur kollektiven Erinnerung (collective memory) zählt er „allein Kultur als Rahmen gesellschaftlicher Erinnerung, wie er in öffentlichen Praktiken, Symbolen und Objekten zum Ausdruck kommt. [. . .] Individuelle Erinnerung, die gesammelt und aggregiert wurde – sei es im Rahmen einer Oral-History-Befragung oder einer Repräsentativerhebung auf nationaler Ebene –, rechnet Olick dem Bereich collected memory zu, weil hier Kultur als Kategorie subjektiver Bedeutungszuschreibung fokussiert wird“ (Moller 2010, S. 5). In dem von Olick, Vinitzky-Seroussi und Levy herausgegebenen Sammelband The Collective Memory Reader (2011, S. 29–39) ist die Idee der „Memory Studies“ weiterentwickelt worden.

4

Fazit und Ausblick

Bevor auf drei herausragende, kultursoziologisch einschlägige Forschungsfelder und Themen hingewiesen wird, die gegenwärtig, aber vor allem auch in der Zukunft zu erschließen wären, kann vorab im Sinne einer umfassenden Forschungsaufgabe eine themenübergreifende Untersuchungsperspektive mit Dimbath und Heinlein (2015) wie folgt umrissen werden: „die Rekonstruktion der Gewordenheit gesellschaftlicher Gegenwart anhand von Pfadabhängigkeiten (Historizität), die sich im Rückgriff auf Selektionsmuster verstehen“ und das Herauspräparieren „der sozialen Relevanzstrukturen, die aufgrund vergangenen Erlebens die ‚Wahrnehmung‘ von Individuen und Gruppen im Hinblick auf aktuelle Situationen und die Geltung ihrer Zukunft zu orientieren vermögen“ (Dimbath und Heinlein 2015, S. 250). Hierbei Einschlägig hierzu sind die Zeitschrift „Memory Studies“ sowie die Reihe „Medien und kulturelle Erinnerung“ bei de Gruyter.

5

Gedächtnis aus kultursoziologischer Perspektive

347

sind verschiedene Akzentuierungen ebenso notwendig wie der Rückgriff auf transund interdisziplinär erhobene Wissensbestände.

4.1

Soziale Medien und Wandel der Kommunikations- und Speichertechnologien

Absehbar ist, dass der im Alltag postmoderner Gesellschaften wachsende Einfluss sozialer Medien (Facebook, Instagram etc.) die unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses, aber auch die Erinnerungspraktiken nachhaltig verändern werden. Neue digitale Techniken befördern eine regelrechte Überflutung der menschlichen Wahrnehmungskapazitäten mit Bildern und Informationen, die neue Fragen des Bewertens und des aktiv zu Erinnernden aufwerfen. Wie sich die kollektiven, kommunikativen, kulturellen und sozialen Gedächtnisformen entwickeln und in welchem Verhältnis sie strukturell zueinander stehen, wird eine permanente Forschungsaufgabe bleiben. Darüber hinaus gibt es bereits Hinweise, die die Rede von einer „Krise des kulturellen Gedächtnisses“ (Assmann 2006) plausibel erscheinen lassen, wenn auch damit nicht gemeint sein kann, dass das Gedächtnis und die Erinnerung am Ende sind. Archivierung ist bereits zu einem Instrument politischer Kontrolle geworden, wie Aleida Assmann in Weiterführung von Derrida und Foucault verdeutlicht, und damit zu einem veritablen Problem vulnerabler Gesellschaften (Assmann 2006, S. 343). In der Forschung scheint es mittlerweile Common Sense zu sein, dass es einer Engführung von Erinnerung und Vergessen bedarf, um die Funktionsweise und Bedeutsamkeit des Gedächtnisses noch besser verstehen zu können. Bereits Halbwachs hatte diesbezüglich überzeugend nachweisen können, dass unser Erinnerungsvermögen ganz wesentlich von der Einbettung in soziale Rahmen (cadres sociaux) abhängt. Wir vergessen etwas besonders schnell und nachhaltig, wenn wir es nicht sozial in Gruppen verankern beziehungsweise mit diesen verbinden können. Das hat durchaus praktische Konsequenzen: Die Alzheimerforschung geht davon aus, dass ein aktives soziales Umfeld zur geistigen Tätigkeit und Wachheit anregen kann. Insofern wäre dafür Sorge zu tragen, dass sich die sozialen Rahmen (Netzwerke) auch und gerade im Alter nicht auflösen. Einsamkeit und Isolation fördern den Prozess des Vergessens, da ohne den kommunikativen Austausch Erinnerungen verblassen beziehungsweise verloren gehen (vgl. dazu Wetzel 2011, S. 51).

4.2

Zunahme der Problematik der Relevanz und der Selektion

Was erachtet wer als der Erinnerung wert und was kann und darf umgekehrt – mit welcher Begründung – vergessen werden? Max Weber hatte bereits auf die Schwierigkeit hingewiesen, aus der Kultur dasjenige auszuwählen, was als ‚wahre Erkenntnis‘ wert und würdig befunden wird, ins (kollektive) Gedächtnis einer Gesellschaft Eingang zu finden (Weber 1968, S. 181). Gesellschaftskritisch und kultursoziologisch wichtig muss zudem gefragt werden, was es für das kollektive Gedächtnis bedeutet, wenn wir an Durkheim anschließend davon ausgehen, dass es „immer

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D. Wetzel

weniger Inhalte gibt, die von allen Individuen einer Gesellschaft geteilt werden“ (Hahn 2010, S. 23). Diese Frage nimmt die Arbeit von Sebald und Weyand (2011) auf. Die Autoren diskutieren und kritisieren die beiden üblichen Varianten des soziologischen Verständnisses sozialer Gedächtnisse, also Fundierung des Gedächtnisses auf sozialer Interaktion einerseits und Bindung an Leitmedien im Kontext der Theorie funktionaler Differenzierung andererseits, die sie zu verbinden versuchen. Dies mündet in eine Untersuchung variierender und selektiver Mechanismen der Formierung sozialer Gedächtnisse. In diesem Zusammenhang wird Relevanz als zusätzlicher selektiver Mechanismus identifiziert und im Verbund mit weiteren variierenden Faktoren wird eine wissenssoziologisch fundierte Theorie der Formierung sozialer Gedächtnisse erarbeitet.

4.3

Notwendige Verschränkungen: inter- und transdisziplinäre Perspektiven

Kultursoziologische Reflexionen sind für die Aufklärung über das Gedächtnis und die Prozesse des Erinnerns und des Vergessens grundlegend. Allerdings ist die (Kultur-) Soziologie auch in dieser Thematik auf die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen aus den Geistes- und Naturwissenschaften angewiesen. Bestes Beispiel dafür sind die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann aus dem kulturwissenschaftlichen Bereich. In den letzten Jahren sind vor allem auch neurowissenschaftliche Arbeiten entstanden, die sich mit sozialwissenschaftlichen Erklärungsmodellen ergänzen oder auch in Konkurrenz zu diesen stehen (vgl. dazu Rosenfield und Ziff 2008; Markowitsch 2001, 2009). Bislang wurde der folgende Befund von diesen Forschungen bezüglich der Funktionsweise des Gedächtnisses und der Erinnerung bestätigt: „The paradox of memory is the same as that referred to by the ‚hermeneutic circle‘: the past structures the present through its legacy, but it is the present that selects this legacy, preserving some aspects and forgetting others, and which constantly reformulates our image of this past by repeatedly recounting the story.“ (Jedlowski 2001, S. 41) Dass bei diesem paradoxen Befund hinsichtlich des Gedächtnisses kultursoziologische Aspekte und Reflexionen von eminenter Bedeutung sind, hat dieser Beitrag verdeutlicht.

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Gedächtnis aus kultursoziologischer Perspektive

349

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Geschlecht aus kultursoziologischer Perspektive Sonja Engel

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Um 1900: Geschlechterverhältnisse in Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Neue Konzepte: die Fundamente der Geschlechterordnung angreifen und verändern . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

352 353 358 363 364

Zusammenfassung

Ausgehend von der Annahme, dass kultur- und geschlechtersoziologische Interessen in der Theoretisierung von Kontingenz, Historizität und Praxis konvergieren, skizziert dieser Beitrag, inwiefern sich die Thematisierung von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen im Kontext kultursoziologischer Forschung gewandelt hat. Dabei stehen im ersten Teil die heute als klassisch geltenden Theoretiker und die Kritiken und Konzepte zeitgenössischer Denkerinnen im Mittelpunkt. Im zweiten Teil wird darauf eingegangen, wie konstruktivistische und poststrukturalistische Perspektiven dazu verhelfen, die Frage nach Geschlechterdifferenzen und -verhältnissen zu reformulieren. Die Analysen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen erhält in geschlechtersoziologischen Studien besondere Aufmerksamkeit. Historische Kontinuitäten zeigen sich dabei in den von frauenbewegter/feministischer und geschlechterforschender Seite geäußerten Kritik an der Naturalisierung von Geschlecht, Geschlechterdifferenz und Heterosexualität sowie an verschiedenen Erscheinungen von Androzentrismus, die lebensweltliche und kultursoziologische Wissensordnungen prägen.

S. Engel (*) Institut für Soziologie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_25

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Schlüsselwörter

Geschlecht · Geschlechterverhältnisse · Androzentrismus · Machtverhältnisse · Herrschaftsverhältnisse

1

Einleitung1

Dass Geschlecht als zentrale Ordnungskategorie (nicht nur) moderner Gesellschaften und Kultur sowohl konstituierende als auch strukturierende Bedeutung für das Soziale und Kulturelle hat, ist inzwischen weitgehend anerkannt. Im folgenden Beitrag wird deshalb dargestellt, inwiefern die Untersuchung von Geschlechterverhältnissen Produktivität in und für kultursoziologische Studien entwickelt und welche Potenziale die Reflexion auf Geschlecht für ein adäquates Verständnis der komplexen sozialen Wirklichkeit in sich trägt. Im Vordergrund stehen dabei Entwicklungen und Diskussionen im deutschsprachigen Raum. So wird zunächst skizziert, in welcher Hinsicht kultursoziologische und geschlechtersoziologische Problemstellungen konvergieren, um daraufhin herauszuarbeiten, inwiefern sowohl die Geschichte wie die Gegenwart kultursoziologischer Studien durch Vorstellungen von Geschlechtlichkeit und deren Wandel geprägt sind. Schließlich werden einige Ansätze dafür benannt, wie die Gefahr einer der Realität unangemessenen Geschlechterblindheit in kultursoziologischer Theoriebildung vermieden oder diese zumindest reflektiert werden kann. Eine zentrale heuristische Gemeinsamkeit, die geschlechter- und kultursoziologische Programmatiken teilen, ist die Überzeugung, dass die jeweilige Gegenwart ein Produkt ihres historischen Gewordenseins ist, wobei sich dieses nicht entlang einer Notwendigkeit, sondern entlang menschlicher Praxis entwickelt. Historizität und Kontingenz stellen mithin zwei zentrale Probleme dar, die ihre Gegenstände und ihre Perspektiven prägen. Das Interesse richtet sich sowohl auf die Konstitution von sozialen Verhältnissen wie auf deren Dynamisierungs- und Stabilisierungsbedingungen. Aus diesen Problemen ergibt sich als Aufgabe der Kultur- wie Geschlechtersoziologie: die konsequente Hinterfragung von Selbstverständlichkeiten, d. h. die Verunsicherung von Gewissheiten sowohl auf Ebene des Alltagswissens als auch auf der des Wissenschaftswissens (vgl. Nassehi 1999; Degele 2003). Eine immer wieder auftauchende Problemstellung ist die Grenzlinie zwischen Natur und Kultur, wobei eine Tendenz zunehmender Kulturalisierung insofern zu verzeichnen ist, dass die Autorität naturwissenschaftlicher (insbesondere biologischer) Wissensproduktion bezüglich sozialer Phänomene zunehmend infrage gestellt wird. In der Erforschung von Geschlechterverhältnissen schlägt sich diese Auseinandersetzung auf besonders augenfällige Weise nieder. Vielfältige Irritationspotenziale werden he-

1

Ich danke den Herausgeber_innen sowie Sarah Speck und Imke Schmincke für ihre hilfreichen Kommentare zu der ersten Fassung dieses Textes.

Geschlecht aus kultursoziologischer Perspektive

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rausgearbeitet und neue Begriffe, Modelle und Perspektiven entworfen. Neben der Grenzziehung zu biologischen und anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen ist auch eine gegenüber einer kulturgeschichtlichen zu benennen, insofern eine kulturwissenschaftliche2 Untersuchung einen stärker systematisierenden Anspruch erhebt, indem darauf fokussiert wird, wie und unter welchen Bedingungen soziale Phänomene Sinn und Relevanz erhalten. Damit rückt die gelebte Praxis von Menschen als Gegenstand der Kultursoziologie ebenso in den Vordergrund wie die Frage nach ihrer adäquaten Theoretisierung. Die bemerkenswerte Verbreitung von Gerundien wie Verunsicherung, Individualisierung, Vergesellschaftung, Subjektivierung, Vergeschlechtlichung in kultursoziologisch orientierten Studien und Theorien bringt zum Ausdruck, dass sich ein großes Interesse auf Prozesse, Dynamiken und Wechselwirkungen richtet. Dieses lässt sich reflexiv auf die Produktion kultursoziologischen Wissens selbst wenden, indem epistemologische und theoretische Annahmen expliziert werden. Das heißt, eine Verortung des jeweiligen Erkenntnisinteresses, der jeweiligen Begriffe und Ordnungskriterien stellen die konsequente Umsetzung eines kultursoziologischen Anspruches dar, die soziale Welt als Ergebnis und zugleich Voraussetzung menschlicher Praxis zu studieren. In geschlechtersensiblen Forschungen und Theorien sind dabei die Wechselwirkungen mit feministischen Frauenbewegungen (und seit jüngerer Zeit queeren und queerfeministischen) von besonderer Relevanz, die vielfältige Anregungen für die Hinterfragung von Selbstverständlichkeiten lieferten und liefern. Auseinandersetzungen mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie dem Komplex von Gleichheit und Differenz sind für die Geschlechtersoziologie in hohem Maße prägend. Die Reflexion darauf, welche Grenzziehungen, Ausschlüsse und Normen die verwendeten Begriffe, Theorien und wissenschaftliche Praxen etablieren oder welche gesellschaftlichen und wissenschaftsinternen Veränderungspotenziale sie bieten, ist integraler Bestandteil eines geschlechtersoziologischen Interesses. Zwar sind der Kultursoziologie diese Fragen nicht fremd, wie Debatten um die Verhältnisbestimmung zu der Arbeiter- und sozialen Frage und um die Werturteilsfreiheit bereits Ende des 19. Jahrhunderts zeigen, sie entfalten jedoch keine vergleichbare Kraft wie die Diskussionen in feministischen und geschlechtersoziologischen Kreisen.

2

Um 1900: Geschlechterverhältnisse in Bewegung

Die moderne Gegenwart am Ende des 19. Jahrhunderts stellt sich für die aus heutiger Sicht als Klassiker bezeichneten Soziologen häufig ebenso wie für die mehr oder weniger explizit frauenbewegten Denkerinnen als eine dar, in der die Geschlechterverhältnisse in Bewegung geraten sind. Insofern ist die (Neu-)Formierung der Soziologie als Kulturwissenschaft eng verbunden mit der Wahrnehmung einer Krise 2

Die Bezeichnung kulturwissenschaftlich wird in einem breiten Sinne verwendet und impliziert hier keine Abgrenzung gegenüber sozialwissenschaftlichen Untersuchungen.

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einer Krise der Kultur und des Wissens (Lichtblau 1996; Šuber 2007), die von einer Krise der Geschlechterordnung (Bublitz 2000) begleitet wird. Die Verwerfungen moderner Vergesellschaftung, die politisch allgegenwärtige soziale Frage sowie die Erosion von Gewissheiten riefen soziologische Theoriebildung auf den Plan, um die Funktionsweise sozialer Ordnung, ihre Dynamiken und Stabilisierungen zu verstehen. Ein zentrales Element dieser Ordnungen war ihre Vergeschlechtlichung, die sich in der Trennung von öffentlich und privat, der Sphäre der Erwerbsarbeit und der des ‚Hauses‘ niederschlug. Die Zuweisung von Frauen an das Haus und damit verbundenen Ausschlüssen wurde von zeitgenössischen Denkerinnen als politisches Problem adressiert, jedoch auch theoretisch untersucht. Die seit den 1980er-Jahren unternommenen Relektüren sogenannter klassischen Sozialtheorien durch Frauenund Geschlechterforscher_innen haben die vielfältigen Erscheinungen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen in ihnen zum Vorschein gebracht und diskutiert (vgl. Sydie 1987; Kandal 1989; Marshall 1994; Marshall und Witz 2004; Gildemeister und Hericks 2012). Geschlechterverhältnisse erscheinen am Ende des 19. Jahrhunderts als ein äußerst fruchtbarer Gegenstand, wenn es darum geht, für die Historizität und Kontingenz sozialer Ordnungen zu argumentieren. J. J. Bachofens Publikation Das Mutterrecht (1982 [1861]) sowie Lewis Morgans Urgesellschaft (1987 [1877]) boten dabei wichtige Ansatzpunkte, da sie patriarchale Gesellschaftsordnungen als historische Nachfolgeform von matriarchalen konstatierten. Dabei wurde insbesondere Evolutionismus als sozialwissenschaftliche Denkfigur erschlossen, die sowohl die Dimension historischer Entwicklung als auch die der synchronen kulturellen Vielfältigkeit einbezog (vgl. Dahme 1994; vgl. zu einer kritischen Anwendung Perkins Gilman 1898). Familien- und Eheformen wurden als dem sozialen Wandel unterworfen sichtbar gemacht und zudem als zentrales Element für die Strukturierung gesellschaftlicher Verhältnisse – die sich v. a. in dem zentralen Topos der Arbeitsteilung zeigt – anerkannt. Darüber hinaus wird die Semantik von Weiblichkeit und Männlichkeit jedoch auf Ebene der symbolischen Ordnung verwendet, sodass um 1900 von einem Höhepunkt der Rede von Geschlecht zu sprechen ist, die sich auch im Topos einer ‚Feminisierung der Kultur‘ (vgl. Helduser 2004) manifestiert. Diese bewegt sich in einem vielschichtigen Spannungsfeld zwischen einerseits der Historisierung und andererseits der Naturalisierung respektive Essentialisierung von Geschlechterverhältnissen und Geschlecht selbst. In der Thematisierung sozialen Wandels zeigen die verschiedenen historischen Stadien, die durch die Soziologen identifiziert werden, häufig eine vergeschlechtlichende Konnotation auf. Bei Émile Durkheim werden Geschlechterverhältnisse explizit in den Zusammenhang der historischen Entwicklung von Arbeitsteilung betrachtet, die sich in der begrifflichen Opposition von ‚mechanischer‘ und ‚organischer Solidarität‘ ausdrückt. Die Regulierung sexueller und vergeschlechtlichter Beziehungen im Phänomen der Ehe wird als zentrales Beispiel Letzterer angeführt (vgl. Roth 1992). Ebenso unterscheidet Ferdinand Tönnies zwei Arten der Solidarität mit der von ihm nachhaltig in die soziologische Debatte eingebrachten Opposition von ‚Gesellschaft‘ und ‚Gemeinschaft‘. Anders als bei Durkheim, der in seinen Äußerungen zur Arbeitsteilung die Ausdifferenzierung der (zwei) Geschlechter als parallele Entwicklung zur

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Ausdifferenzierung von häuslichem und öffentlichem Tätigkeitsbereich kennzeichnet (vgl. Gildemeister und Hericks 2012, S. 57 ff.; Greven 1991), erscheinen bei Tönnies die zwei Formen als in sich vergeschlechtlicht: die von ‚Wesenwille‘ und durch ‚Wärme‘ gekennzeichnete Gemeinschaft sei die Sphäre des Weiblichen, während Gesellschaft durch ‚Kürwille‘ und Fremdheit gekennzeichnet wird, die dem Männlichen näherliege (vgl. Gildemeister und Hericks 2012, S. 53 ff.). Auch in marxistischen respektive sozialistischen Theorien erhält die Arbeitsteilung eine zentrale Stellung. Friedrich Engels untersuchte in Der Ursprung der Familie (1952 [1884]) ebenfalls den sozialen Wandel dieser Form und kam zu dem Ergebnis, dass die Unterdrückung von Frauen aufs Engste mit der Entstehung des Privateigentums verknüpft sei und so die Stellung der Frau als Zeichen für den Grad der Emanzipation der Gesellschaft insgesamt zu werten sei. Ausführlich bespricht August Bebel in Die Frau und der Sozialismus (1994 [1879]) den Zusammenhang von kapitalistischer und sexueller Ausbeutung, wobei er die soziale Gleichstellung der Geschlechter als notwendige Komponente menschlicher Emanzipation charakterisiert. Auch bei Max Weber dient Geschlecht als Vehikel der Analyse von Herrschaftsverhältnissen, indem patriarchale Herrschaft in der Erläuterung des Wandels von Herrschaftsformen Aufmerksamkeit findet. Eine systematische und mehrdimensionale Untersuchung von Geschlechterverhältnissen führt er allerdings nicht durch (vgl. Wobbe 2011; Meuser 2006, S. 18; Gildemeister und Hericks 2012, S. 69 ff.). Georg Simmel schließlich, der als der frühe Kultursoziologe mit einer stärker ausgearbeiteten Geschlechtertheorie auftritt, widmet sich in seinen frühen soziologischen Schriften der Stellung von Frauen und der Familienformen, durch die verschiedene Kulturstufen markiert werden, und streicht die historische und kulturelle Mannigfaltigkeit von Ehe-, Familien- und Sexualitätsformen heraus. In seinen stärker kulturphilosophisch orientierten Essays erhalten Weiblichkeit und Männlichkeit dagegen eine stark symbolische Aufladung, die zum einen das ‚Haus‘ als die ‚Kulturmission‘ und die den Frauen angemessene Tätigkeitssphäre ausweist, und zum anderen die arbeitsteilige und differenzierte ‚objektive Kultur‘ als den Männern/ dem Männlichen entsprechende Sphäre charakterisiert (vgl. Klinger 1988; Menzer 1992; Oakes 1984). Diese Hinweise auf die Veränderlichkeit von Geschlechterverhältnissen und ihren Ausgestaltungen werden jedoch in vielfältiger Weise von naturalisierenden und essentialisierenden Zuschreibungen an die Geschlechter und vorrangig an Frauen und Weiblichkeit durchkreuzt. Die Verortung von Geschlecht in der Opposition von Natur und Kultur betrifft auch die soziologischen Grundbegriffe von Gesellschaft und Individuum, da sie die Grenzen und Wandelbarkeit der Geschlechter und ihrer Beziehungen ebenso wie die Grenze des (veränderlichen) Sozialen und (fixierenden) Natürlichen oder Essentiellen abstecken. Auch wenn Ehe- und Familienformen der historischen Veränderbarkeit zugeführt wurden, unterliegt den Behandlungen meist die Überzeugung einer polaren Zweigeschlechtlichkeit und natürlichen Heterosexualität. So greift Durkheim in seiner Selbstmord-Studie auf essentialisierende Geschlechtsstereotype zurück (vgl. Gildemeister und Hericks 2012, S. 60), bei Marx bleibt das Geschlechterverhältnis effektiv an die biologische Reproduktivität gebunden (vgl. Haug 2001), bei Simmel wird die Frau in mehreren Schriften über ihre

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Geschlechtlichkeit bestimmt, d. h. ihr ‚Sein‘ wird über Sexualität bestimmt, wohingegen Sexualität für Männer ein ‚Tun‘ sei. Diese Verknüpfung von psychologischen, handlungsbezogenen und sozialstrukturellen Grundannahmen erhält in der Konstruktion von ‚Geschlechtscharakteren‘ ihren Ausdruck. Neben der Polarität der Geschlechter Mann und Frau ist die Auffassung einer funktionalen Komplementarität zentraler Bestandteil dieses Konzepts (vgl. Hausen 1976; Honegger 1991). Naturalisierung der Geschlechter bezeichnet damit eine Argumentation, die insbesondere Weiblichkeit im Bereich des Natürlichen und damit außerhalb des historischen Zugriffs verortet, wobei die Reproduktion der Gattung als biologischer Akt die zentrale Stelle des Begründungszusammenhangs darstellt. Während die Frau(en) und das Weibliche so der Natur und dem Stofflich-Materiellen zugeordnet werden, wird die Kultur und das Geistige den Männern zugeschrieben. Wenn Simmel konstatiert, dass „unsere Kultur [...] durchaus männlich ist“ (Simmel 1985a, S. 161) eine männliche ist“ und zumindest für das bisherige Wissen und die bisherige Kultur die Formel gelte: „objektiv = männlich“ (Simmel 1985b, S. 200), erhebt sich die Frage nach dem Komplex von Zweigeschlechtlichkeit auf einer weiteren Ebene. Mit der häufig impliziten Gleichung Mensch = Mann wird das Weibliche in die Position des Devianten verschoben und eine ‚weibliche Sonderanthropologie‘, wie sie lange Tradition in der Philosophie hat, legitimiert. Parallel zu der Naturalisierung ist eine temporalisierende Komponente in den soziologischen Theorien zu beobachten: Das Weibliche erhält vielfach die Funktion, entweder eine ‚vormoderne‘ Vergangenheit oder – seltener – idealisierende Alternativen für eine Zukunft zu repräsentieren. Selbst wenn einige der klassischen Kultursoziologen die Frauenbewegung als eine der dringlichen und offensichtlichen Fragen der Gegenwart anerkennen, der Frauenemanzipation aufgeschlossen entgegensehen und zumindest ein Modell der Gleichheit in der Differenz verfolgen (so Simmel und Durkheim), zeigt sich so immer noch ein spannungsreiches Verhältnis zu einer möglichen Gleichstellung oder gar Gleichheit der Geschlechter.3 Viele Denkerinnen haben dies erkannt und schreiben gegen die Naturalisierung ebenso wie gegen die Autorität eines Narrativs von männergemachter Kulturgeschichte als normative Engführung an, die Frauen in der inferioren und beschränkten Stellung fixieren und ‚verewigen‘. So wenig wie ihre männlichen Zeitgenossen verfolgen dabei die weiblichen Denkerinnen und Kritikerinnen eine einheitliche Theorie oder aufeinander reduzierbare Ansätze.4 Als Gemeinsamkeit kann jedoch

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Auch in marxistischen und sozialistischen Diskussionen wird die Emanzipation der Frauen häufig als ‚Nebenwiderspruch‘ dem ‚Hauptwiderspruch‘ kapitalistischer Vergesellschaftung untergeordnet (vgl. Thönessen 1969). 4 Die Abgrenzungen zwischen bürgerlicher und sozialistischer sowie zwischen radikaler und gemäßigter Frauenbewegung sind wohlbekannt, aber bei Weitem nicht die einzigen Differenzierungslinien und insofern problematisch, dass sie eine innere Homogenität der jeweils oppositionell gedachten Strömungen unterstellen (vgl. Frevert 1986; Gerhard 1991). Zudem gab es weibliche Soziologinnen, die sich nicht innerhalb der Frauenbewegung verorteten, aber Geschlecht untersuchten. Hedwig Dohm kritisierte die Argumentation auch weiblicher ‚Antifeministen‘ schon früh (Dohm 1902).

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ausgemacht werden, dass Androzentrismus5 in den Theorien und historischen Narrativen sowie in der alltäglichen Lebenswelt kritisiert wird. Die weiblichen Intellektuellen schreiben eine andere Geschichte, die Frauen in den Mittelpunkt stellt. Die Integration in den Bereich der Kultur folgt dabei unterschiedlichen Argumentationen, die sich als ambivalente Bewegung der Abkehr und Anlehnung an den herrschenden Diskurs in der soziologischen Theoriebildung äußert. Marianne Weber, die in Austausch sowohl mit ihrem Ehemann Max wie mit Georg Simmel stand, widmet sich mit ihren Aufsätzen in Frauenfragen – Frauengedanken (1913) einem breiten Spektrum von rechtlichen, bildungspolitischen und soziologischen Themen, wobei insbesondere ihre Antwort auf Simmels Konzept der Weiblichen Kultur das Problem des Androzentrismus diskutiert. Sie kommt schließlich zu einem ähnlichen Ergebnis wie Simmel: die Frau habe das zu leisten, was Männer nicht können. Hedwig Dohm und Rosa Mayreder beanspruchen dagegen die Freiheit für Frauen, (geistiger) Arbeit nachzugehen, auch wenn sie ebenfalls von einem grundsätzlichen Geschlechterunterschied ausgehen. Sie zeigen aber in präziser Weise Schwächen in den dominanten Argumenten für den Ausschluss von Frauen aus Politik, Wissenschaft und anderen öffentlichen Bereichen durch eine Festlegung auf die Rolle der Mutterschaft (vgl. Dohm 1893, 1902; Mayreder 1905a). Mayreder sieht darin eine Tyrannei der Norm, die für den Mann einen „geräumigen Panzer“, für Frau ein „beengendes Mieder“ (Mayreder 1905b, S. 90 f.) vorsehe. Dagegen argumentieren z. B. Helene Lange und Gertrud Bäumer u. a. für eine Aufwertung des Weiblichen, gerade indem Fürsorge aufgewertet wird (vgl. Bäumer 1904; Lange 1928; Schröder 2001). So wird Kultur respektive Gesellschaft als in sich gespalten und vergeschlechtlicht konstituiert: Während die männliche Seite oder Form von Kultur mit Technik, Zivilisation, Rationalisierung und vereinseitigender Differenzierung assoziiert wird, bildet die weibliche Kultur eine Opposition oder Ergänzung, weil sie durch Fürsorge, Nachhaltigkeit, Gefühl und Ganzheitlichkeit getragen wird. Die Komplementarität wird damit aufrechterhalten, aber das Weibliche als dem Männlichen gleichrangig oder gar überlegen dargestellt. Diese Form der Beschäftigung mit gesellschaftlichen Fragen wird wiederum von sozialdemokratischmarxistischen Autorinnen wie Clara Zetkin kritisiert, die in diesen Diskussionen den Faktor von Klassenzugehörigkeit vernachlässigt sehen, der erstens als grundlegend und zweitens als hochrelevant für die unterschiedliche Erfahrung der sozialen Wirklichkeit für Frauen der bürgerlichen und der proletarischen Klasse ausgemacht wird (Zetkin 1889). Die heute fast unbekannte Professorin M. Vaerting verfolgt in ihrer Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib (1921)6 einen weiteren Ansatz, der auf die bereits benannten Matriarchatskonzepte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts reagiert. Es handelt sich um eine historische Arbeit, die matriarchale und patriarchale als jeweils ‚eingeschlechtliche‘ Herrschaftsformen kritisiert und zugleich radikal die

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Dieser Begriff kann auf Lester F. Ward zurückgeführt werden (Ward 1903), für eine feministische Analyse wurde er von Charlotte Perkins Gilman (1998 [1898]) fruchtbar gemacht. 6 Dr. M. Vaerting veröffentlichte sowohl unter den Vornamen Mathilde wie Mathias.

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Geschlechterunterscheidung sowohl aufgrund biologischer wie soziologischer Ansichten hinterfragt und damit konstruktivistischen Ansätzen bereits nahekommt. Als kritische Auseinandersetzung mit dem dominanten Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit sind ebenfalls die wissenschaftlichen Arbeiten Karl Heinrich Ulrichs’ und Magnus Hirschfelds zu nennen. Beide stellen die Alternativen zu einer heteronormativen Grundlegung von sozialen Verhältnissen und Individuen bereit, indem sie (Homo-)Sexualität und die Erfahrungswelten Homosexueller in den Vordergrund stellen und Geschlecht als Kontinuum von Männlichkeit und Weiblichkeit und Konzepte des ‚Dritten Geschlechts‘ entwerfen. Die Kritik an einer Ordnung, die nur zwei Geschlechter kennt, blieb leise und die Vermischung oder Auflösung wurde eher im Rahmen einer Vermännlichung von Frauen bzw. der Verweiblichung von Männern (vgl. kritisch dazu Dohm (1902)) adressiert. Das Thema Geschlecht und Geschlechterverhältnisse zeigt sich in den soziologischen Klassikern also durchaus als ein wichtiger Hebel, wenn es um die Verunsicherung von Gewissheiten geht – zugleich wird die Versicherung deutlich, die durch die Verweisung von Frauen ins Haus und an die Natur respektive Natürlichkeit betrieben wird. Diese Spannung kennzeichnet auch die frauenbewegten Diskussionen, die jedoch eine Gemeinsamkeit aufweisen: sie fordern Sichtbarkeit und Aufwertung weiblicher Tätigkeiten, eine höhere Praxisnähe und den Status von Subjekten in einer androzentrischen Welt und Wissenschaft.

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Neue Konzepte: die Fundamente der Geschlechterordnung angreifen und verändern

Dieser Impuls bleibt auch in der Frauen- und Geschlechterforschung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten, wird jedoch in vielfältiger Weise verfeinert und vertieft. Ziel ist es, Geschlecht als konstitutiv für die Praxen der Lebenswelt sowie der Wissenschaft herauszuarbeiten und auf die systematische Einbeziehung des Gegenstands Geschlecht und den Blick auf Geschlechterverhältnisse in (kultur-)soziologische Theorien hinzuwirken. Die Kritik an Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie androzentrischen Reduktionismen in der Theorie bleibt dabei zentral. Simone de Beauvoir hat 1949 (dt. 1951, 1992) mit ihrer umfänglichen Untersuchung Das andere Geschlecht wichtige Impulse für die Weiterentwicklung von Theorien zu Geschlechterdifferenzierungen und -hierarchisierungen geliefert und die Ideen der zweiten Frauenbewegung maßgeblich beeinflusst. Der erste Teil bietet eine philosophisch-systematische Aufarbeitung dessen, wie Frauen und Weiblichkeit in die Position des Anderen verwiesen werden, der zweite eine Analyse der konkreten Sozialisationsprozesse von Frauen. Ihre Arbeit, die Aussagen über Frauen und Weiblichkeit aus verschiedenen Disziplinen in einen Zusammenhang brachte und kritisierte, trieb sowohl das Bemühen um die De-Naturalisierung von Geschlecht als auch die Analyse von Androzentrismus (die eine kritische Auseinandersetzung mit Heterosexualität einschloss) voran. Dass seit den 1980ern eine zunehmende Institutionalisierung von Frauen- und Geschlechterforschung stattfindet, die einen infrastrukturell abgesicherteren akademischen Diskursraum schafft, hat eine Vervielfältigung von Ansätzen unterstützt, die die

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Schnittstelle von Kultur und Geschlecht bearbeiten (vgl. Becker und Kortendiek 2008). Verschiedene turns, konstruktivistische und poststrukturalistische Perspektivenverschiebungen werden in kultursoziologischen wie in geschlechtersoziologischen Kreisen diskutiert. Die zu Beginn des Jahrhunderts noch weitaus klarere Trennung zwischen mit akademischen Weihen versehener Sozialtheorie und den frauenbewegten Paralleldiskursen wird durchlässiger, sobald zumindest prinzipiell ein Dialog auf Augenhöhe durch die Institutionalisierung von Geschlechterforschung möglich ist (vgl. Hark 2005). Als ein äußerst wirkungsreiches Instrument für den Versuch, die Historizität und Kontingenz von sozialen und kulturellen (Macht-)Verhältnissen aufzuzeigen, erweist sich dabei der Begriff der Konstruktion, der in den 1990ern zu breiten Diskussionen im deutschsprachigen Raum führt und seitdem kultur- wie geschlechtersoziologische Theorien prägt (vgl. Helduser et al. 2004). Mithilfe einer konstruktivistischen Perspektive werden durch Geschlechterforscher_innen altbekannte Themen erneut aufgenommen und zugleich neue Perspektiven erschlossen, indem die Prozesse und Dynamiken der Geschlechterdifferenzierung und -hierarchisierung problematisiert werden. Die Frage nach Stabilisierungs- und Destabilisierungsbedingungen wird auf neue theoretische Füße gestellt, wobei eine weitere Annäherung an die Praxis vergeschlechtlichender, aber auch ethnisierender und rassifizierender Differenzierungen und ihrer Verwicklungen in hierarchisierende Herrschafts- und Machtverhältnisse angestrebt wird. Inwiefern ein klassisches Thema der (kultur-)soziologischen Klassiker und des zeitgenössischen frauenbewegten Diskurses von einer konstruktivistischen Perspektivierung profitiert hat, zeigt die neuerliche Diskussion um vergeschlechtlichte Arbeitsteilung. Interessiert an der De-Naturalisierung dieser Verhältnisse widmen sich Forscherinnen der Frage, inwiefern die lebensweltliche Praxis der Geschlechterdifferenzierung und damit verknüpfter Zuweisung von Ressourcen, Zuschreibung von Fähigkeiten und Interessen qua Geschlecht Gesellschaften strukturiert (vgl. Becker-Schmidt und Knapp 1995). Unter anderem an marxistische Ansätze anschließend wird damit die „Strukturkategorie Geschlecht“ (Beer 1990) hinsichtlich ihrer Relevanz und ihrer Effekte gesellschaftstheoretisch erschlossen und eine androzentrisch verengte Sichtweise auf gesellschaftliche Integration durch Arbeitsteilung kritisiert. Die Konzepte der „doppelten Vergesellschaftung“ qua Geschlecht und Klasse (Becker-Schmidt 2008) bzw. der „dreifachen Vergesellschaftung“ qua Geschlecht, Klasse und Nation von Frauen (Lenz 1995) verweisen darauf, dass und wie eine vergeschlechtlichte Arbeitsteilung eine normative Zweigeschlechtlichkeit hervorbringt und stützt (Gildemeister und Wetterer 1992). Dies zeigt, inwiefern Individualisierung und soziale Integration in der Moderne geschlechtsspezifisch und machtasymmetrisch verläuft.7 Die genannten Konzepte 7

Getragen wurde und wird diese Auseinandersetzung auch von der Frage, ob und inwiefern Geschlechterasymmetrien durch steigende Erwerbstätigkeit von Frauen reduziert werden, wobei in der Frauen- und Geschlechterforschung grundsätzlich Skepsis gegenüber der These vorherrscht, dass sie im Abnehmen begriffen sei. Deshalb sei zwar von einer ‚rhetorischen Modernisierung‘ (Wetterer 2003), nicht jedoch von einer realen Aufhebung von Geschlecht als Hierarchisierungskategorie zu sprechen.

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sensibilisieren zum einen dafür, dass Theoretisierungen die soziale Wirklichkeit verfehlen, wenn die Erfahrungen männlicher Subjekte als universal und allgemein unterstellt werden. Zum anderen plädieren sie für die Verkomplizierung des Verständnisses von Geschlechterverhältnissen. Nicht nur die Beziehungen zwischen Männern und Frauen müssen erfasst werden, sondern darüber hinaus „die Art und Weise, wie diese Beziehungen in bestimmten historischen Konstellationen gesellschaftlich organisiert sind“ (Becker-Schmidt und Knapp 1995). Zudem werden Konstruktionen bezüglich Geschlecht auch auf ihre Wechselwirkung mit solchen der ‚Rasse‘/Ethnizität und Klasse hin untersucht, deren gesellschaftliche Strukturierungsmacht unter dem Begriff „Achsen der Differenz“ (Knapp und Wetterer 2003) gefasst wird. Aufgenommen wird damit die internationale Diskussion um Intersektionalität (Crenshaw 1989), die die Überschneidungen, Konvergenzen und Divergenzen von verschiedenen, machtgeladenen Differenzkategorien theoretisiert (Klinger und Knapp 2008; Kerner 2009). In dieser Debatte wird die stets noch aktuelle Frage nach Gleichheit und Differenz, die sich zunächst auf diejenige zwischen Genusgruppen bezog, auf Differenzen innerhalb der Genusgruppe Frau ausgedehnt sowie die „Interdependenz“ dieser Konstruktionen untersucht (Walgenbach et al. 2007).8 Breitere Forschungen zu den Veränderungen von Hausarbeit/Care Work im Prozess der Globalisierung bzw. Internationalisierung (Lutz 2007; Gutiérrez Rodriguez 1999) haben dabei ökonomische und globalisierungstheoretische Perspektiven einfließen lassen. Dezidiert die Praxis von Geschlechterdifferenzierung in den Fokus zu rücken, ist der Ansatz ethnomethodologischer Studien, die die Herstellung und Aufrechterhaltung von Zweigeschlechtlichkeit in Interaktionen untersuchen. Damit wird die vergeschlechtlichende Individualisierung, die vormals häufig durch Sozialisation und Positionierung im Verlaufe der Biografie begriffen wurde, neu konzipiert. Die Veränderungen und Verfestigungen von Geschlechterdifferenzierungen spielen in diesen Ansätzen seit Beginn eine herausragende Rolle und haben die Theoriebildung vorangetrieben, die Geschlechterperformanzen mit dem Begriff des ‚Doing Gender‘ untersucht (Garfinkel 1967; Kessler und McKenna 1978; West und Zimmerman 2002[1987]; Lindemann 1993a; Hirschauer 2001). Der durch Simone de Beauvoir geprägte Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (Beauvoir 1992, S. 334), wird durch eine Theorie unterfüttert, die Geschlecht-Werdung als kommunikative Inszenierung begreift. Mit dem Konzept des ‚Doing Differences‘ (Fenstermaker und West 2002 [1995]) wurde dieser Ansatz wiederum dahingehend erweitert, dass die Effekte von rassifizierenden, ethnisierenden, klassenbezogenen Fremd- und Selbstidentifizierungen in die Analyse einbezogen werden. Seit Neuerem findet sich auch ein ‚Doing Culture‘ in der Kultursoziologie, wobei das doing als Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Subjekt etabliert wird (Hörning und Reuter 2004).

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Die Thematisierung von diesen Überschneidungen ist in der feministischen Debatte nicht völlig unbekannt gewesen, hat aber mit einer lauter werdenden Kritik von women of color an einer durch weiße Frauen dominierten feministischen Politik starken Antrieb erhalten.

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Die verschiedenen Konstruktivismen haben bereits die Produktionsweise von normativer Zweigeschlechtlichkeit in den Blick gerückt, die sich zu einem fruchtbaren Feld weiterer Untersuchungen entwickelt und das Zusammenspiel mit Sexualitätsnormen und Heteronormativität in der Lebenswelt und ihren Theoretisierungen erforschen (vgl. z. B. Rubin 2003; Wagenknecht 2007; Engel 2013). Die Zuweisung von Geschlechterkategorien rief eine Auseinandersetzung mit den Stabilisierungsund Destabilisierungspotenzialen der Kategorien auf den Plan, die die Frage nach vergeschlechtlichter Subjektivierungen und die in sie integrierten Machtverhältnisse auf der epistemologischen Ebene adressiert. Verschiedene poststrukturalistische Instrumente liefern weitere Möglichkeiten, um die Kontingenz und Dynamik sozialer Phänomene zu analysieren (vgl. Moebius und Reckwitz 2013), indem sie die innere Instabilität und diskursive Produktion kultureller Konstruktionen von Identitäten und Kategorien betonen und damit dem Interesse von Geschlechterforscher_innen an De-Naturalisierung und De-Essentialisierung entgegenkommen.9 Die analytische Trennung von sex und gender, die dazu dient, das biologischnatürliche und kulturell-soziale Geschlecht zu entkoppeln, findet sich bereits bei Beauvoir und in feministischen Diskussionen der 1980er-Jahre (vgl. Rubin 2003 [1984]), mithilfe poststrukturalistischer Instrumente wie der Diskurstheorie wird sie radikalisiert, wofür Judith Butlers Gender Trouble (1990, dt. 1991) besonders in der deutschsprachigen Diskussion eine wichtige Rolle einnimmt. Sex sei ebenso wenig wie gender im Außen des Diskurses (d. h. im Vorsozialen) verortet, betont sie in ihrer diskursanalytischen ‚Genealogie der Geschlechterontologie‘ und fordert dazu auf, die Bedingungen der Produktion und den Modus der Regulierung von intelligiblen Subjekten mithilfe der dreiwertigen Konstellation von sex, gender und Heterosexualität zu untersuchen. Der Angriff auf Androzentrismus wird hier nicht geleitet durch die Frage danach, inwiefern Frauen anders sind als Männer, sondern inwiefern diese Unterscheidung intelligibel und performativ wiederholt und durchbrochen wird. Diese Blickwendung unterstützte die Hinwendung zu der Untersuchung von Männlichkeit als normgeleitete Konstruktion (vgl. Connell 1995; Connell und Messerschmidt 2005; Meuser 2006). Die zunehmende Einbeziehung der Dimension der Sexualität, die v. a. durch Homosexuellen- und Transsexuellenforschungen vorangetrieben wurde und besonders in der Queer Theory fruchtbar gemacht wird, führt zu einem komplexeren Verständnis von Geschlecht und hat zugleich die Theoretisierung von Subjektivierungen maßgeblich beeinflusst. Das Verständnis von Individuen mit einer festen und kohärenten Persönlichkeit, das als Voraussetzung für Theorien des Handelns in soziologischer Theoriebildung fungiert, wird in seiner Selbstverständlichkeit hinterfragt, indem eine personale (und vergeschlechtlichte) Identität des ‚Ich‘ als Ergebnis hochkomplexer Operationen gekennzeichnet wird. Indem das Weibliche und Frauen 9

Die Diskussion um Poststrukturalismus ging mit den Chiffren Postmoderne und Postmodernismus einher, anhand derer eine (neue) Krise des Wissens festgemacht wird (vgl. Gouldner 1974), und in der (theoretischen) Geschlechtersoziologie hinsichtlich ihrer Potenziale und Problematiken für feministische Forschungen untersucht wurden (vgl. Helduser et al 2004; Hornscheidt et al 1998; Villa 2008).

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vollständig der Naturalisierung und Essentialisierung entzogen werden und sowohl sex als auch gender als kulturelle Konstruktionen benannt werden, konnten und können neue Sichtweisen auf das Thema der Materialität entwickelt werden. Insbesondere anhand der Frage nach (vergeschlechtlichten) Körpern wurden und werden empirisch und theoretisch Erkenntnisse generiert (Villa 2001; Lindemann 1993b), Geschlecht als Existenzweise modelliert (Maihofer 1995) und biologische Geschlechtermodelle untersucht (Voß 2010). Auch wenn sich Butlers Diskussionen an der Problematisierung eines feministisch-bewegungspolitischen ‚Wir‘, das durch die Kategorie Frau gestützt werden soll, entzündet, sind ihre Thesen und die an sie anschließenden Diskussionen weit über die Gender Studies hinaus relevant. Sie werfen grundlegende epistemologische Fragen der Erforschung kultureller Objekte auf, die die Normativität der Normalität sichtbar machen und darauf verweisen, dass die Prozesse der Reifizierung dieser Normen auch in wissenschaftlichen Beschreibungen und Analysen reflektiert werden sollten (Hartmann und Klesse 2007). Die vorgestellten Ansätze zeigen auf, dass die Kritik an hierarchisierenden Machtverhältnissen sich nicht einfach dadurch lösen lässt, Frauen oder eine weibliche Perspektive sichtbar zu machen oder hinzuzufügen. Kritiken am Androzentrismus könnten insofern auch für eine Reflexion auf die epistemischen Grundlagen der (Kultur-)Soziologie fruchtbar gemacht werden, indem die Praxis des Theoretisierens selbst in den Blick genommen wird. Die blinden Flecken, die Forschungen produzieren, indem sie eine Universalität von Erfahrungen annehmen, die sich bei genauerer Betrachtung als partikular erweisen, werden in Entwürfen von feministischen Epistemologien explizit thematisiert. Wenn, wie bereits die Klassiker wussten, Erkenntnisinteressen einen ‚subjektiven Faktor‘ (Simmel) haben, ist es nötig, auf die gesellschaftliche Positionierung der Forschenden und die daraus resultierende Perspektive zu reflektieren. Diese besonders in der englischsprachigen Wissenschaftskritik entwickelten Konzepte bieten vielfältige Ansätze, die Begriffs- und Theoriebildungen auf vergeschlechtlichte biases hin zu untersuchen. Smith verweist 1974 auf eine doppelte Entfremdung („double estrangement“) bei Soziologinnen, da sie angehalten seien, sich sowohl von den sozialen Phänomenen als auch von ihrer vergeschlechtlichten Positionierung in sozialen Verhältnissen zu distanzieren (Smith 1974). Eine vergeschlechtlichte epistemische Hierarchie kompromittiere den Anspruch auf Objektivität nachhaltig (Ernst 1999). Mit Epistemologien, die – wie z. B. feministische Standpunkttheorien (Harding 1986; Hartsock 1983) – die Perspektivität der Wissensproduktion als konstitutives Element hervorheben, wurde die Reflexion auf die jeweils historische, soziale und auch politische Gebundenheit der forschenden Subjekte forciert. Dass dabei die marginalisierte Position nicht per se eine ‚bessere Sicht‘ garantiere, stellt Haraway heraus – mit ihrem Begriff des ‚situierten Wissens‘ plädiert sie für eine feministische Form von wissenschaftlicher Objektivität, die auf der Metapher der Vision basiert. Sie nutzt dafür die (im Englischen deutlichere) doppelte Bedeutung von Vision als Sehen, das stets an Körper aber auch die Welt gebunden sei, und als Zukunftsentwurf, der die Überwindung sozialer Machtverhältnisse anstrebt (Haraway 1988). Die Kritik an einer verfehlten Universalisierung findet neben der Kritik an Androzentrismus auch in einer an Eurozentrismus seinen Ausdruck, der im Zuge postkolonialer Theorien

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konstatiert wurde. Diese Perspektive, ebenso wie jene auf rassistische und (post-)koloniale Ausschlüsse und Marginalisierungen gerichtete Kritik (vgl. Harding 2008; Castro Varela und Dhawan 2009; Collins 1986; Spivak 2008), erhält im deutschsprachigen Raum erst in jüngster Zeit und langsam Aufmerksamkeit (vgl. Reuter und Villa 2010; Gutiérrez Rodriguez 2010; Wollrad 2009).

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Fazit

Aus kultursoziologischer Perspektive kann Geschlecht nicht auf eine sozialstatistische Variable reduziert werden, denn sie ist eine Kategorie, die für die Wissensordnungen der sozialen Wirklichkeit und ihrer Theoretisierungen konstitutiv und strukturbildend ist. So ist Geschlecht seit Beginn der Kultursoziologie in vielfältiger Hinsicht bedeutsam in der Erforschung des Kulturellen und des Sozialen. Es lassen sich jedoch Verschiebungen der Interessensschwerpunkte aufweisen, die sich mit verschiedenen Paradigmenwechseln vervielfältigen und ausdifferenzieren. In den Theorien der ‚soziologischen Klassiker‘ wurde der beobachteten Destabilisierung von Geschlechterverhältnissen tendenziell durch eine naturalisierende Stabilisierung mithilfe von binär und komplementär gedachten Geschlechterkonstruktionen begegnet. Der frauenbewegte Gegendiskurs insistierte auf einen Blick, der sich stärker an der sozialen Wirklichkeit orientierte, die für Frauen in vielfacher Hinsicht durch Ausschlüsse, Abwertungen und naturalisierende Projektionen geprägt war. Ihre Kritiken bieten wertvolle Ansätze, um Revisionen der und Anschlüsse an die kultursoziologischen ‚Klassiker‘ fruchtbar voranzutreiben und würden das Wissen um die Geschichte der disziplinären Denkfiguren und Begriffe vervollständigen. Solche Revisionen wurden und werden durch konstruktivistische und poststrukturalistische Perspektiven begünstigt, da sie den Blick auf die Produktion von Differenzen richten und mit ihrem antiessentialistischen und ent-universalisierenden Impuls die genuine Instabilität von (Differenz-)Kategorien und Wissensordnungen betonen. Dabei bieten geschlechtersoziologische Debatten wiederum wichtige Anstöße zu einer Vertiefung und Verkomplizierung, da sie in hohem Maße die Rückbindung an die soziale Wirklichkeit und einen Blick auf gesellschaftliche Veränderungsmöglichkeiten stärken. Die Gefahr der ‚Gesellschaftsflucht‘, die Bachmann-Medick der deutschsprachigen Kultursoziologie attestiert, wird in solchen Fragestellungen diskutiert und zu vermeiden gesucht (Bachmann-Medick 2008). Wenn also die Hinterfragung von Selbstverständlichem als eine relevante Aufgabe kultursoziologischer Forschungen in Anspruch genommen wird, ist der Blick auf Diskussionen und Konflikte, die auch die eigenen Traditionen, Vorannahmen und Leerstellen thematisieren und irritieren, von hohem Wert. Wie anfangs des Artikels aufgezeigt, konvergieren die Interessen und Perspektiven von geschlechtersoziologischen und kultursoziologischen Studien – im akademischen Betrieb erscheinen sie jedoch häufig als parallel gehend. Bezüglich der disziplinären Felder der Kultur- und der Geschlechtersoziologie zeigen sich Ungleichzeitigkeiten und Asymmetrien: Während die Geschlechtersoziologie kultursoziologische Theorien

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aufnimmt, mit ihnen arbeitet und sie umarbeitet, scheint der Transfer in umgekehrter Richtung zu stocken und Geschlecht verbleibt so – entgegen einer weitverbreiteten Anerkennung seiner Relevanz – häufig in dem Status eines Sonder- oder Teilproblems. Dies verändert sich in jüngerer Zeit vielleicht, und der Eintritt in einen lebendigen Dialog – oder auch in ein Streitgespräch – zwischen Kultursoziologie und Geschlechtersoziologie würde sowohl die wissenschaftsinterne Auseinandersetzung als auch den Dialog zwischen Akademie und Öffentlichkeit begünstigen.

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Gewalt und Krieg aus kultursoziologischer Perspektive Sabine A. Haring

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Begriff „Gewalt“: Bedeutungselemente und Anwendungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Gewalt aus einer kultursoziologischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zum Verhältnis von Moderne und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Krieg und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Kriege am Beginn des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zusammenfassende Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag betrachtet „Gewalt“ und „Krieg“ aus einer kultursoziologischen Perspektive und verwendet dabei folgende thematische Gliederung: Zunächst werden kurz die unterschiedlichen Bedeutungselemente und Anwendungsebenen des Begriffs der „Gewalt“ vorgestellt. Mithilfe von Heinrich Popitz’ Analyse der vier anthropologischen Grundformen von Macht und dessen „engem“ Verständnis von „Gewalt“ als „Aktionsmacht“ sowie anhand der von Peter Imbusch formulierten sieben Fragen rund um den Gewaltbegriff („wer“, „was“, „wie“, „wem“, „worum“, „wozu“, „weshalb“) wird das Spektrum unterschiedlicher Gewaltverständnisse skizziert und damit korrespondierende kultursoziologische Perspektiven herausgearbeitet. Anschließend wird das Verhältnis von Moderne und Gewalt unter Bezugnahme exemplarischer Autoren diskutiert und Kriege als spezifische Formen kollektiver Gewaltausübung im Hinblick auf einige mögliche kultursoziologische Fragestellungen behandelt.

S. A. Haring (*) Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_26

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Schlüsselwörter

Gewalt · Krieg · Moderne · Zivilisation · Kultur

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Einleitung

Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen begleitete und begleitet die gesamte überlieferte Menschheitsgeschichte, wenngleich Intensität und Häufigkeit gewaltsamer Handlungen stark variieren können. Während (Sozio-)Biologinnen und -Biologen die biologisch verankerte Bereitschaft zu aggressivem Verhalten und damit einhergehend die Bereitschaft zur Gewaltausübung betonen, richten Soziologinnen und Soziologen ihr Augenmerk zumeist auf die sozialen Bedingungen, Praktiken und Konsequenzen von Gewalt. Ob gewaltsames Handeln in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen letztlich eine anthropologische Konstante ist, wird wie die Frage, ob die Kulturentwicklung des Menschen zu mehr oder weniger Gewalt oder nur zu anderen Gewaltformen führt, innerhalb und außerhalb des soziologischen Diskurses nach wie vor kontroversiell diskutiert. Der „scheinbaren oder realen Tabuisierung von Gewalt“ sowohl in vielen wissenschaftlichen als auch in zahlreichen alltäglichen Diskursen bestimmter Schichten und Milieus steht nach wie vor, so Imbusch in Moderne und Gewalt, „eine ‚Allgegenwart von Gewalt‘ (Rauchfleisch 1992) gegenüber“ (Imbusch 1995, S. 15). Dieser Beitrag stellt „Gewalt“ und „Krieg“ aus einer kultursoziologischen Perspektive in den Mittelpunkt der Betrachtung und folgt dabei einer thematischen Gliederung in sechs Abschnitten. In Abschn. 2 werden kurz die unterschiedlichen Bedeutungselemente und Anwendungsebenen des Begriffs der „Gewalt“ vorgestellt. Mithilfe von Heinrich Popitz’ Analyse der vier anthropologischen Grundformen von Macht und dessen „engem“ Verständnis von „Gewalt“ als „Aktionsmacht“ sowie anhand der von Peter Imbusch formulierten sieben Fragen rund um den Gewaltbegriff („wer“, „was“, „wie“, „wem“, „worum“, „wozu“, „weshalb“), die dessen verschiedene Bedeutungselemente zeigen, wird das Spektrum unterschiedlicher Gewaltverständnisse skizziert und in Abschn. 3 damit korrespondierende mögliche kultursoziologische Perspektiven herausgearbeitet. Zunächst stellt dieses Kapitel die unterschiedlichen Zugangsweisen von „Mainstreamern“ und „Innovateuren“ der Gewaltforschung vor, differenziert anschließend zwischen individueller und kollektiver Gewalt und arbeitet danach kultursoziologische Bezüge institutioneller, struktureller, kultureller und symbolischer Gewaltverständnisse heraus. Der Transformation von Gewalthandeln im Zuge des Modernisierungsprozesses und der Beziehung zwischen der Kultur der Moderne und der „Kultur der Gewalt“ widmet sich der Abschn. 4. Kriege als spezifische Formen kollektiver Gewaltausübung werden in Abschn. 5 im Hinblick auf einige mögliche kultursoziologische Fragestellungen behandelt. Fragen der Wechselbeziehungen von Werten, kulturellen Grenzziehungen und Praktiken sowie des Stellenwertes von Kriegen in Vergangenheit und Gegenwart werden diskutiert, bevor dann in Abschn. 6 die „neuen Kriege“ am Beginn des 21. Jahrhunderts behandelt werden. In Abschn. 7 sollen abschließend die unterschiedlichen Ebenen der in diesem Artikel gewählten kultursoziologischen Betrachtung von Gewalt und Krieg nochmals zusammengefasst werden.

Gewalt und Krieg aus kultursoziologischer Perspektive

2

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Der Begriff „Gewalt“: Bedeutungselemente und Anwendungsebenen

Der aus dem indogermanischen Terminus „val“ (lateinisch „valere“) hergeleitete althochdeutsche Begriff „giwaltan“ bzw. „waldan“, auf den im Deutschen der Begriff „Gewalt“ zurückgeht, meint in einem breiteren Sinne „Kraft und Macht“ haben, um über etwas oder jemanden verfügen und herrschen zu können (Imbusch 2002, S. 29). Betrachtet man im Deutschen die Geschichte des Gewaltbegriffs über die Jahrhunderte hinweg,1 so zeigt sich ein Bedeutungswandel von „einer relativ engen, konkreten Bezeichnung von Obrigkeiten, deren Legitimität außer Frage steht, hin zu einem breiten und relativ diffusen, weil beträchtliche Unterschiede aufweisenden Bedeutungsgehalt des Terminus, der dazu noch verschiedenartige normative und deskriptive Komponenten transportiert“ (Imbusch 2002, S. 31). Sehr enge Konnotationen gibt es zu den Begriffen „Aggression“, „Konflikt“, „Herrschaft“ und „Macht“. So unterscheidet beispielsweise Heinrich Popitz (1992) in seiner Abhandlung über Phänomene der Macht vier anthropologische Grundformen von Macht: Aktionsmacht im Sinne von „Gewalt“, instrumentelle Macht, autoritative Macht und datensetzende Macht. Popitz versteht dabei Macht als das „Vermögen“ des Menschen, „sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen“ (Popitz 1992, S. 22). Aktionsmacht basiert auf der Macht von Menschen, andere verletzen und töten zu können, instrumentelle Macht auf dem „Geben- und Nehmen-Können“, also auf der „für die Betroffenen glaubhafte[n] Verfügung über Strafen und Belohnungen“. Autoritative Macht beruht auf der „Maßstab-Bedürftigkeit des Menschen und dem Bestreben, von den Personen und Gruppen, die als maßgebend anerkannt werden, selbst anerkannt zu werden“ (Popitz 1992, S. 23–26); denn gerade diese Anerkennung sei für das menschliche Selbstwertgefühl bedeutsam. Die datensetzende Macht schließlich basiert darauf, dass der „Mensch Machtentscheidungen in die Dinge einbaut“ (Popitz 1992, S. 32). „Menschen können anderen Menschen unmittelbar etwas antun; sie können darüber hinaus Erwartungen, Maßstäbe und Artefakte für andere bestimmend verändern“ [Hervorhebung im Original], fasst Popitz die seiner meiner Meinung nach zentralen machtfundierenden Faktoren zusammen, die „jede Art von Vergesellschaftung jederzeit prägen können“. „Wir [Menschen] leben eine verletzbare Existenz, angewiesen auf Artefakte, zukunftsbezogen und begründungsbedürftig in unserem Handeln. Daher müssen wir Macht erleiden“ (Popitz 1992, S. 33–34). Gewalt diskutiert Popitz im Zusammenhang mit Aktionsmacht, wobei durch „bindende Aktionsmacht“ dauerhafte Machtbeziehungen begründet werden (Popitz 1992, S. 43–47): „Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat (als bloße Aktionsmacht), oder, in Drohungen umgesetzt,

Der deutsche Begriff „Gewalt“ weist im Vergleich zum angelsächsischen, frankophonen oder iberoamerikanischen Sprachgebrauch eine geringere sprachliche Präzision auf, da er die Unterscheidung zwischen „violentia“ im Sinne von direkter persönlicher Gewalt und „potestas“ im Sinne legitimer institutioneller Gewalt nicht mitvollzogen hat (Imbusch 2002, S. 28 f.).

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zu einer dauerhaften Unterwerfung (als bindende Aktionsmacht) führen soll“ (Popitz 1992, S. 48). Dass jede Form sozialen Handelns, also auch gewaltsames Handeln, als kulturell eingebettetes Handeln zu verstehen ist, wissen wir von den Klassikern der Soziologie – man denke hier insbesondere an Max Weber und Georg Simmel –, die in der Analyse der Wechselbeziehung zwischen kulturellen Bezügen und sozialen Strukturen die Aufgabe zukünftiger Soziologie sahen (Moebius 2009, S. 1). Mit sieben Fragen lassen sich nach Imbusch die unterschiedlichen Bedeutungselemente des Gewaltbegriffs erschließen (Imbusch 2002, S. 34–36). Die Frage „Wer“ bezieht sich auf die individuellen und/oder kollektiven Akteure, die Gewalt ausüben. Die Frage „Was“ konzentriert sich auf den konkreten Ablauf von Gewalt, während Fragen nach dem „Wie“ die Ausübung von Gewalt und den Einsatz bestimmter Mittel in den Blick nehmen. Die Opfer der Gewaltausübung – von einzelnen Individuen über soziale Gruppen bis hin zu ganzen Ethnien – rückt die Frage „Wem“ in den Vordergrund. Fragen nach dem „Warum“ und nach dem „Wozu“ konzentrieren sich sowohl auf allgemeine Ursachen und konkrete Motive für Gewalthandlungen als auch auf die etwaigen Ziele, die die jeweiligen Akteure und Akteurinnen mit dem Ausüben von Gewalt zu erreichen versuchen. Die in unterschiedlichen sozialen Gruppen, Gesellschaften und Kulturen geltenden und sich an den herrschenden Norm- und Wertvorstellungen orientierenden Rechtfertigungsmuster und Legitimationsstrategien von Gewalt analysieren schließlich Fragen nach dem „Weshalb“. Mithilfe dieser sieben Fragen können, so Imbusch, die Bedeutungselemente des Gewaltbegriffs herausgearbeitet und unterstrichen werden, dass „Gewalt immer eine komplexe Figuration darstellt“ (Imbusch 2002, S. 37).

3

Gewalt aus einer kultursoziologischen Perspektive

Von einer durch Praktiken und Kommunikation überhaupt erst hervorgebrachten „symbolischen Ordnung der sozialen Welt“ (Schroer 2010, S. 197) gehen Vertreter und Vertreterinnen unterschiedlicher kultursoziologischer Zugangsweisen aus. „Sinn“, „Bedeutung“ und „Interpretation“ werden zum Ausgangspunkt ihrer Analysen gemacht, die „Auslegungs-, Deutungs- und Interpretationsleistungen der Subjekte“ (Schroer 2010, S. 197) rücken in den Vordergrund. Vertritt man einen Kulturbegriff, der meint, dass letztlich alle gesellschaftlichen Bereiche kulturell geprägt sind und mit Sinn und Bedeutung versehen werden, wird auch Gewalt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen als etwas verstanden, das mit Bedeutungszuschreibungen und Wertideen der individuellen und kollektiven Akteure – sowohl der Täter als auch der Opfer – in Beziehung gesetzt werden muss.

3.1

„Mainstreamer“ versus „Innovateure“

Sehr lange war der sozialwissenschaftliche Gewaltdiskurs von Fragestellungen nach dem „Warum“ geprägt. Aus welchen Motiven üben Individuen, soziale Gruppen und Gesellschaften Gewalt aus bzw. welche sozialstrukturellen Ursachen können für indi-

Gewalt und Krieg aus kultursoziologischer Perspektive

373

viduelles und kollektives Gewalthandeln festgemacht werden? Soziale Ungleichheit, soziale Exklusion, Armut und zunehmende Armutsgefährdung, ungleiche Bildung, Chancenungleichheit, unterschiedliche Wertvorstellungen, kulturelle Präferenzen et cetera wurden als Ursachen gewaltsamer Konflikte benannt und in zahlreichen Studien untersucht. Doch sind nach Schroer für kulturwissenschaftliche Fragestellungen insbesondere Fragen nach dem „Wie“ „konstitutiv“ (Schroer 2010, S. 199), im Hinblick auf Gewalt also Fragen danach, wie sich Gewalt ganz konkret vollzieht (Knöbl 2017, S. 5) und welche kulturellen Praktiken den Vollzug von Gewalt bestimmen. Diesen Fragen widmeten und widmen sich in der Gewaltforschung vorrangig die sogenannten Innovateure – Trutz von Trotha, Wolfgang Sofsky, Jan Philipp Reemtsma und andere –, die Ende der 1990er-Jahre neue Fragestellungen in den Gewaltdiskurs einbrachten und für die Untersuchung von Gewalt insbesondere Georg Simmels Konstellationsanalyse sowie die Figurationssoziologie von Norbert Elias für fruchtbar hielten (Nedelmann 1997, S. 72).2 Die zahlreichen und detaillierten Forschungen zur Gewalt seien bisher – so von Trotha in dem von ihm 1997 herausgegebenen Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienenen Aufsatz „Zur Soziologie der Gewalt“ – eine „Soziologie der Ursachen, aber keine Soziologie der Gewalt“ (von Trotha 1997, S. 9; Hervorhebung im Original). Während also die untereinander schwach vernetzten „Mainstreamer“ in erster Linie nach den Ursachen von Gewalt fragen, plädieren die personell stark vernetzten Innovateure dafür (Nedelmann 1997, S. 60), „einen genaueren, phänomenologischen Blick auf die Gewalt zu werfen“, sowie dafür, „neben der zerstörerischen Wirkung auch die ordnungsstiftende Funktion der Gewalt in den Blick zu nehmen“ (Knöbl 2017, S. 5). Dabei rücken die Praktiken der Gewaltausübung in den Fokus, die im Sinne einer „dichten Beschreibung“ zu untersuchen seien (von Trotha 1997, S. 20–22). Denn die Konzentration auf Motive und Ursachen von Gewalt hätte, so Kritiker der „Ursachen-Soziologie“, „die Gewalt selbst und ihre spezifischen Merkmale, etwa ihre Anlasslosigkeit und Entgrenzung, aber auch ihre Situationsoffenheit“ (Knöbl 2017, S. 5) ignoriert.3 Oder wie es Popitz in Phänomene der Macht formuliert: „Gewaltakte können nüchtern und illusionslos vollzogen werden, etwa als routinemäßige Befolgung von Befehlen. Gewalt geschieht spielerisch-neugierig, gedankenlos-gelangweilt, beflissen-verbohrt.“ (Popitz 1992, S. 48–49)

2

Für Peter Imbusch ist die diskursive Auseinandersetzung zwischen sogenannten Mainstreamern und Innovateuren aus mehreren Gründen eine „kuriose Debatte“, deren Verlaufsformen bisweilen selbst „Züge ‚diskursiver Gewalt‘“ angenommen hätten (Imbusch 2004, S. 125). Die Analyse der jeweiligen Ansätze und der Argumente für und Kritiken an den unterschiedlichen Zugängen erweist sich im heuristischen Sinne jedoch meines Erachtens durchaus als fruchtbar. 3 Birgitta Nedelmann (1997, S. 62–72) nennt acht Dimensionen, die die Unterschiede von „Mainstreamern“ und „Innovateuren“ markieren: „Ignorieren“ versus „Konzentrieren“ auf Körperlichkeit; „subjektiv gemeinter Sinn“ versus „Sinnlosigkeit“; „Fremddynamik“ versus „Eigendynamik“; „Täterzentrierung“ versus „Figurationsanalyse“; Begrenzungs- versus Entgrenzungsthese; „Business as usual“ versus „dichte Beschreibung“; Eindeutigkeit versus Ambivalenz von Gewalt; und schließlich „Kameralistische“ versus „Betroffenheits“-Forschung.

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Im Anschluss an die amerikanischen Pragmatisten und die von ihnen beeinflussten sozialwissenschaftlichen Strömungen wird menschliches Handeln als häufig unreflektiertes und sich kontinuierlich vollziehendes Handeln verstanden, im Zuge dessen Motive situationsspezifisch ständig neu interpretiert werden. Möglicherweise bestehe daher, so eine mögliche Lesart, gar kein direkter Zusammenhang zwischen Motiv und Gewalthandeln (vgl. Knöbl 2017, S. 7). Das muss jedoch nicht bedeuten, wie Knöbl unterstreicht, dass „Motive deshalb völlig bedeutungslos und vernachlässigenswert wären! Es heißt lediglich, dass zwar von den jeweiligen Akteuren Motive aus bestehenden kulturellen Versatzstücken zum Zwecke der Rationalisierung oder der Legitimierung manchmal erst nachträglich gebastelt werden, dass aber diese Versatzstücke – einerlei ob voll bewusst und klar ‚ausformuliert‘ oder nicht – schon im Handeln selbst vorhanden sein müssen. Sie sind damit Teil der Realität des Gewaltgeschehens, selbst wenn es der Sozialforscherin nicht gestattet ist, sie umstandslos als Ursache der Gewalt zu interpretieren“ (Knöbl 2017, S. 10). Kulturelle Faktoren spielen also – folgt man dieser Argumentation – sowohl im Hinblick auf die Motive und Ursachen von Gewalt als auch im Wahrnehmen, im Erleben und in der Deutung von Gewalt im Gewaltvollzug selbst eine bedeutende Rolle. Für von Trotha ist Gewalt insbesondere eine „Wirklichkeit der Gefühle, der Emotionen, der sinnlichen Erfahrung und der Phantasie“, wobei der „Mittelpunkt der Sinnlichkeit der Gewalt [. . .] der Körper“ sei (von Trotha 1997, S. 26). Wolfgang Sofsky macht die körperliche Gewalt zum Zentrum der Gewalterfahrung und demgemäß auch zum Zentrum seiner Analyse: „Die erste Waffe, die jedermann zur Verfügung steht, ist der eigene Körper. [. . .] Umgekehrt ist es der menschliche Körper, dem Gewalt angetan wird. [. . .] In seinem Leib widerfährt dem Menschen die Vernichtungskraft der Gewalt, in seinen Knochen, Organen und Eingeweiden. [. . .] Eine Gewaltanalyse, die nur von Handlungen, Interaktionen oder Konflikten spricht, verfehlt oder verharmlost ihren Gegenstand. Sie hat keinen Begriff von den Widerfahrnissen der Gewalt“ (Sofsky 1997, S. 103–104). Jan Philipp Reemtsma wiederum unterscheidet in seiner „Phänomenologie des gewalttätigen Körperbezugs“ „lozierende“ Gewalt, die er in „dislozierende“ und „captive Gewalt“ unterteilt, „raptive“ und „autotelische“ Gewalt. Während „lozierende“ und „raptive“ Gewalt den „Körper“ für andere Zwecke benutzen, ihn „entfernen“ oder „verletzen“, verfolgt „autotelische“ Gewalt keinen außerhalb der Gewalthandlungen liegenden Zweck, sondern wird um ihrer selbst willen – beispielsweise zum Lustgewinn – angewandt. Diese Form von Gewalt sei in der Moderne nun „vollständig delegitimiert“ worden (Reemtsma 2008, S. 52–55). Die unterschiedlichen Formen gewalttätigen Körperbezugs unterliegen also einer kulturspezifischen Wahrnehmung, sie können von den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen als Norm oder Abweichung, als legitim oder illegitim, als anerkannte kulturelle Praxis oder als zu ächtende Perversion angesehen werden. Kulturen differenzieren zwischen verbotener, erlaubter und gebotener Gewalt und definieren Zonen des Erlaubten, Gebotenen und Verbotenen (Reemtsma 2008, S. 56–59). Sogenannte „Gewalträume“ können hierbei den Rahmen bilden, in dem sich Gewalthandeln vollzieht. Wolfgang Knöbl plädiert im Hinblick auf das von ihm

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stark kritisierte Konzept der Gewalträume (Snyder, Baberowski)4 für ein „typologisch-vergleichendes Vorgehen, das nach der jeweils spezifischen Qualität von Räumen fragt, in denen sich das Handeln von Akteuren bewegt, und das die spezifischen geografischen Bedingungen untersucht, die in unterschiedlichen Räumen jeweils zum Vorherrschen eines spezifischen Gewalthandelns führen“ (Knöbl 2017, S. 25).

3.2

Individuelle versus kollektive Gewalt

Individuelle Gewalt wird von einzelnen Tätern oder Täterinnen (oder von einzelnen in peer groups) auf Straßen, Plätzen oder in öffentlichen Gebäuden gegen oftmals fremde Personen oder im privaten Bereich gegen nahestehende Personen ausgeübt, wobei zwischen Tätern und Opfern eine Beziehung bestehen kann, aber nicht muss. Im sozialen Nahbereich spricht man auch von privater Gewalt, die fern der Öffentlichkeit hinter „verschlossenen Türen“ stattfindet und deren Opfer vorrangig Frauen und Kinder sind (Imbusch 2002, S. 45 f.). Der in der Tradition des symbolischen Interaktionismus stehende US-amerikanische Emotionssoziologie Randall Collins geht sowohl bei der Analyse von Mikro- als auch von Makrogewalt von einem Menschenbild aus, das menschliche Wesen als vorwiegend solidarisch begreift. Daher falle Gewaltausübung den Menschen auch schwer. Collins spricht hier von der Konfrontationsanspannung und -angst, die es erst zu überwinden gilt. Diese Konfrontationsangst geht über die Angst vor körperlichen Schmerzen hinaus, „[. . .] es handelt sich vielmehr um eine Anspannung, die unserer Neigung uns auf andere einzustellen, wenn unsere Aufmerksamkeit sich auf dasselbe richtet, direkt zuwiderläuft“ (Collins 2011, S. 46). Zwar ist der Mensch durchaus in der Lage, Aggressionen zu generieren. Allerdings treffen diese nach Ansicht Collins davor auf das Bedürfnis des Menschen nach Gemeinschaftlichkeit. Collins (2011) interessiert sich jedoch nicht für die Gewalttäter oder -täterinnen, sondern rückt die Gewaltsituation in den Mittelpunkt der Analyse und argumentiert, dass unterschiedliche Gewaltformen „ähnliche Mechanismen emotionaler Energie“ (S. 21) zeigen. Es gehe immer um Reduktion der Konfrontationsanspannung – sei es dadurch, dass man sich ein „schwaches“ Opfer sucht, sei es dadurch, dass man die emotionale Aufmerksamkeit auf das Publikum richtet, das die Gewalthandlung beobachtet. „Erfolgreiche Gewalt nährt sich Neben der Körperlichkeit der Gewalterfahrung und Fragen nach dem „Was“ (was geschieht, wenn Gewalt ausgeübt wird) rücken Zeit-Raum-Bezüge zunehmend in den Fokus. So zeigte Timothy Snyder in seinem Bestseller Bloodlands (2010), dass es sogenannte „Gewalträume“ gibt, wo sich Massengewalt verdichtet. Er verortet diese in Räumen, die zwischen funktionierenden staatlichen Verwaltungen – im Falle des Zweiten Weltkriegs zwischen nationalsozialistischer und sowjetischer Herrschaft – liegen. Der Osteuropahistoriker Jörg Baberowski wiederum „radikalisiert“ diese Analyse von Snyder insofern, als er die Maßlosigkeit der Gewalt auf die Vollzugsdefizite der Verwaltung zurückführt. Baberowski definiert Gewalträume als „Ermöglichungs- und Ermächtigungsräume, in denen Regeln sozialer Kommunikation, die im Frieden gelten, suspendiert sind. In solchen Räumen ist das Verhalten von Menschen vor allem eine Antwort auf die Präsenz der Gewalt, wenn es keine Möglichkeit gibt, vor der Gewalt zu flüchten“ (Baberowski 2013, S. 25).

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insofern von Konfrontationsanspannung und -angst, als eine Seite den emotionalen Rhythmus beherrscht und die andere als Opfer darin gefangen ist. Denn es handelt sich dabei um eine strukturelle Eigenschaft von Situationsfeldern, nicht um eine Eigenschaft von Individuen“ (S. 35), fasst Collins seine „allgemeine Theorie der Gewalt als situationsbedingten Prozess“ (S. 35) zusammen.5 Während individuelle Gewalt hauptsächlich auf den gesellschaftlichen Nahbereich fokussiert ist (private Gewalt) und häufig nicht in der Öffentlichkeit stattfindet, steht kollektive Gewalt in einem gemeinschaftlichen Aktions- und Organisationszusammenhang von Individuen und/oder sozialen Gruppen. Kollektive Gewalt weist nach Meinung vieler Autoren und Autorinnen und entgegen der Sichtweise von Collins, der sich, wie es Karin Knorr-Cetina (1988) ausdrückte, einem „methodologischen Situationalismus“ verpflichtet fühlt, andere Strukturbedingungen als individuelle Gewalt auf; sie kann nicht durch die Aggregation individueller Gewalthandlungen erklärt werden. Zuschauerinnen, Mitwisser und Mittäterinnen sind Teil der kollektiven Gewaltausübung, die ganz anders als individuelle Gewaltakte legitimiert wird (vgl. Imbusch 2002, S. 43–44). Erst jüngst stellten Axel T. Paul und Benjamin Schwalb (2015) in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband zu „Gewaltmassen“6 Analysen zu einer spezifischen Form kollektiver Gewalt, nämlich zur gemeinschaftlich ausgeübten, nicht-organisierten Gewalt gegenüber Dritten vor und betonten in ihrer Einleitung die Bedeutung einer Phänomenologie der unterschiedlichen Formen kollektiver Gewaltakte (Paul und Schwalb 2015, S. 10). Von der kollektiven Gewalt, wie sie beispielsweise im Rahmen von Aufständen, Pogromen, sozialen Unruhen, unfriedlichen Massenprotesten sowie terroristischen Aktionen, Guerillabewegungen, Rebellionen et cetera (letztgenannte werden zu Formen politischer Gewalt gezählt7) stattfindet, sind nach Imbusch noch die unterschiedlichen Formen staatlicher Gewalt – von der legitimen Ausübung des Gewaltmonopols in liberal-demokratischen Gesellschaften bis hin zu Formen des Staatsterrorismus, wo Gewalt „systematisch und verallgemeinert“ als Mittel der Politik eingesetzt wird – zu unterscheiden (vgl. Imbusch 2002, S. 47–49). Im Hinblick auf die Ausübung kollektiver Gewalt muss der Einzelne aufgrund der sich bereits vor der Gewaltausübung verändernden Wertorientierungen keine persönliche Legitimierung entwickeln: „Stattdessen wird die Tat in spezifischer Weise als soziale Notwendigkeit, Pflichterfüllung, Befehlsnotstand oder über Gruppen- und Konformitätsdruck

Vgl. zur Analyse von und Kritik an Collinsʼ Theorie der „Dynamik der Gewalt“ vor dem Hintergrund der Figurationssoziologie von Norbert Elias u. a. Kuzmics 2013. Weitere kritische „Überlegungen“ finden sich bei Greve 2012. 6 Der Begriff „Gewaltmasse“ beschreibt nach Paul und Schwalb ein „besonderes Täterkollektiv, auch wenn die Gewalt in der Regel mehr als nur ein einzelnes Opfer trifft, und indiziert zugleich, dass die gewalttätige Gruppe sich außerhalb formaler Strukturen bewegt oder zumindest über diese hinwegsetzt“ (Paul und Schwalb 2015, S. 11). 7 Als Kennzeichen politischer Gewalt gilt, dass die Akteure die Funktionsprinzipien eines politischen Systems oder Kollektivs verändern wollen. Allerdings ist die Grenze zwischen kollektiver Gewalt im Sinne von Gruppengewalt und politischer Gewalt nicht immer eindeutig zu ziehen. Zur politischen Gewalt vgl. auch Enzmann 2013. 5

Gewalt und Krieg aus kultursoziologischer Perspektive

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rationalisiert“ (Imbusch 2002, S. 44). Als weitere „Neutralisierungsmechanismen“ fungieren die Veränderung kollektiver moralischer Werte, die Dehumanisierung der Opfer, Desensibilisierungsprozesse in Bezug auf Gewaltausübung sowie die Entlastung von Verantwortlichkeit und die faktische Entkriminalisierung a priori. All diese – gerade kultursoziologisch analysierbaren – Faktoren tragen zur Abschwächung, Relativierung oder gänzlichen Ausschaltung von Gewalt- und Tötungstabus bei. Nach wie vor ist der Terminus „Gewalt“, wie Peter Imbusch zusammenfassend festhält, wohl „einer der schillerndsten und zugleich schwierigsten Begriffe der Sozialwissenschaften“ (Imbusch 2002, S. 26), dessen „Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit“ auf eine „Ausdifferenzierung von Gewaltverständnissen“ zurückzuführen seien, die selbst als das „Resultat eines langfristigen historischen Demokratisierungs- und Zivilisierungsprozesses“ verstanden werden können, „der zwischen legitimen und illegitimen Formen von Gewalt zu unterscheiden gelehrt und eine größere Sensibilität für Gewaltphänomene als jemals zuvor bewirkt hat“ (Imbusch 2002, S. 34; vgl. Nunner-Winkler 2004, S. 32–37).

3.3

Zur Ausdifferenzierung des Gewaltbegriffs: Institutionelle, strukturelle, kulturelle und symbolische Gewalt

Gemeinhin wird in der soziologischen Gewaltforschung – neben einer rein metaphorischen Verwendung des Begriffs „Gewalt“ – zwischen physischer, psychischer, institutioneller, struktureller, kultureller, symbolischer und eventuell noch ritualisierter Gewalt unterschieden (vgl. Imbusch 2002, S. 37–42; Nunner-Winkler 2004, S. 21–24). Dabei müssen die sich wandelnden sozialwissenschaftlichen Gewaltverständnisse selbst wissenssoziologisch eingeordnet und als Ausdruck spezifischer zeitgenössischer Denkstile und Wertorientierungen begriffen werden. NunnerWinkler zeichnet in ihrem 2004 erschienenen Aufsatz „Überlegungen zum Gewaltbegriff“ einige Aspekte im Hinblick auf Bedeutungsverschiebungen und neue Akzentuierungen nach, die letztlich zu einer allmählichen Ausweitung des Gewaltbegriffs führten (vgl. Nunner-Winkler 2004, S. 21–24). Im Hinblick auf physische Gewalt stehe nicht mehr der Körper des Täters bzw. der Täterin und seine/ihre Intention und Macht, den eigenen Willen durchzusetzen, im Vordergrund sozialwissenschaftlicher Untersuchungen, sondern vielmehr die jeweilige Schädigung des Opfers, wobei durch die zunehmende Miteinbeziehung psychischer Gewalthandlungen sowie durch den sozialen Tatbestand „Schädigung durch Unterlassung“ weitere Gewalt-Aspekte in den Blick genommen werden. Neben die Unterscheidung in physische und psychische Gewalt – zweitgenannte stützt sich insbesondere auf „Worte, Gebärden, Bilder, Symbole oder den Entzug auf Lebensnotwendigkeiten, um Menschen durch Einschüchterung und Angst oder spezifische ‚Belohnungen‘ gefügig zu machen“ (Imbusch 2002, S. 38) – tritt eine weitere Differenzierung in institutionelle, strukturelle sowie kulturelle bzw. symbolische Gewalt. Die institutionelle Gewalt geht insofern über die personale direkte Gewalt hinaus, „als [sie] nicht allein auf eine spezifische Modalität sozialen Verhaltens, sondern auf

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dauerhafte Abhängigkeits- und Unterwerfungsverhältnisse abstellt. Man kann [sie] definieren als eine durch physische Sanktionen abgestützte Verfügungsmacht, die den Inhabern hierarchischer Positionen über Untergebene und Abhängige eingeräumt ist. [. . .] Prototyp institutioneller Gewalt in der Moderne ist der Hoheits- und Gehorsamsanspruch, mit dem der Staat dem einzelnen gegenübertritt“ (Waldmann 1995, S. 430–431). Hier rücken ordnungsstiftende Funktionen institutioneller Gewalt sowie Fragen der Legitimität bzw. Illegalität institutioneller Gewaltausübung – beispielsweise des Staates oder seiner Exekutivorgane wie der Polizei und des Militärs – in den Vordergrund. Das auf den als Begründer der Friedens- und Konfliktforschung geltenden norwegischen Sozialwissenschaftler Johan Galtung zurückgehende Konzept struktureller Gewalt geht davon aus, dass strukturelle Gewalt vorliege, „wenn Menschen so beeinflusst werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung“ (Galtung 1975, S. 9). Strukturelle Gewalt basiert insbesondere auf gesellschaftlichen Strukturen wie Normen, Werten, Institutionen oder Diskursen sowie ganz konkreten – nicht zuletzt globalen – Machtverhältnissen. Anonyme Massenverelendung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sowie das weltweite Massensterben aufgrund ungleicher Lebenschancen sind, so Galtung, die Konsequenzen struktureller Gewalt. Diese Begriffsbestimmung verzichtet auf die Voraussetzung, dass, um von Gewalt sprechen zu können, eine Person oder Gruppe subjektiv Gewalt empfinden muss; die Wer-Komponente bleibt anonymisiert (Nunner-Winkler 2004, S. 23). Strukturelle Gewalt werde von den Opfern oft nicht einmal wahrgenommen, da diese die Unterdrückung, Entfremdung und ungleiche Ressourcenausstattung legitimierenden Strukturen bereits als Normen und Werte internalisiert hätten und daher nicht mehr infrage stellten. Auch die indirekt Gewalt ausübenden Akteure, die „Täter“, die die bestehende unterdrückende Ordnung aufrechterhalten, üben diese Form von „Gewalt“ häufig nicht intendiert aus.8 Galtung erweiterte sein Konzept struktureller Gewalt noch um das der kulturellen Gewalt: „By ,cultural violence‘ we mean those aspects of culture, the symbolic sphere of our existence – exemplified by religion and ideology, language and art, empirical science and formal science (logic, mathematics) – that can be used to justify or legitimize direct or structural violence“ (Galtung 1990, S. 281). Soziale Ungleichheit und Unterdrückung spielen auch im Konzept symbolischer Herrschaft bzw. Gewalt eine zentrale Rolle. Der Begriff der symbolischen Gewalt steht dabei in engem Zusammenhang mit Pierre Bourdieus Analysen zu symbolischer Herrschaft, die, wie Stephan Moebius festhält, „am deutlichsten den kulturtheoretischen Aspekt seines Werkes offenbaren“ (Moebius 2011, S. 55). In Bourdieus Werken, in denen Fragen der sozialen Ungleichheit und Herrschaft, insbesondere der symbolischen Herrschaft, einen zentralen Stellenwert einnehmen und facettenreich untersucht werden (vgl. u. a. Nungesser 2017, S. 9–11), werden die Begriffe „symbolische

8

Für eine kritische Würdigung bzw. Fruchtbarmachung des Konzepts von Galtung für die Gewaltforschung und Gesellschaftsanalyse siehe u. a. Imbusch 2017.

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Macht“, „symbolische Herrschaft“ und „symbolische Gewalt“ synonym gebraucht.9 Symbolische Gewalt trägt – neben politischer, ökonomischer und physischer Gewalt – zur (Re-)Produktion und Stabilisierung sozialer Ungleichheit und Herrschaft bei; sie wird „vor allem über Kultur, das heißt über die symbolischen Dimensionen des sozialen Lebens, die Sinnbezüge, die Weltansichten und selbstverständlichen Denkweisen vermittelt“ (Moebius 2011, S. 57), wobei Institutionen wie beispielsweise das öffentliche Bildungswesen, Kirchen, Parlamente, Medien, Literatur- sowie Kunstbetriebe und die Wissenschaften als bedeutsame Vermittlungsinstanzen dieser „sanften Gewalt“ über die „Köpfe und Herzen“ (Krais 2004, S. 186) fungieren. Dass symbolische Gewalt bzw. Herrschaft ihre Wirksamkeit entfalten kann, setzt voraus, dass sowohl Herrschende, die insbesondere über symbolisches Kapital verfügen, als auch Beherrschte „über die gleichen Beurteilungs-, Denk- und Deutungsschemata verfügen. Nur so kann die symbolische Gewalt eine unanzweifelbare Geltung in der Wahrnehmung der Menschen bekommen“ (Moebius 2011, S. 59). In den Konzepten struktureller, kultureller und symbolischer10 Gewalt erfährt, so Nunner-Winkler, die „wer-Komponente“ eine Erweiterung, „so daß nicht nur – wie bislang unterstellt – konkrete Menschen, sondern auch kulturspezifische Denkgewohnheiten oder soziale Ungleichheitsstrukturen eingesetzt werden“ (Nunner-Winkler 2004, S. 22). Die zuvor beschriebene Erweiterung und teilweise wohl auch Entgrenzung des Gewaltbegriffs führte nach Nunner-Winkler wiederum zu unterschiedlichen Reaktionen: erstens zum Verzicht auf den Gewaltbegriff, zweitens zur „Radikalisierung der normativen Komponente“ durch dessen „Einengung auf das Erleiden extremer physischer Gewalt“ und drittens zum „Verzicht auf die normative Komponente“ durch eine möglichst enge, eindeutige und „zweckmäßige“ Verwendung des Begriffs. NunnerWinkler vertritt die dritte Position. Sie versteht unter „Gewalt“ die „absichtsvolle physische Verletzung von Menschen durch Menschen“ (S. 28) und argumentiert dahingehend, dass dieses Gewaltverständnis sich auf die zentralen „Wertideen unserer Frithjof Nungesser wies erst jüngst auf die „Konstruktionsprobleme“ des Bourdieu’schen Konzeptes symbolischer Gewalt hin. Er argumentiert, dass die „begrifflichen Widersprüchlichkeiten keinen rhetorischen Kunstgriff darstellen, sondern aus einem unintendierten Bruch mit der grundlegenden terminologischen Strategie Bourdieus resultieren, anhand von scheinbar widersprüchlichen Formulierungen die emische und etische Perspektive der Soziologie miteinander zu verbinden“ (Nungesser 2017, S. 7). Darüber hinaus werde die „Eigenleistung der unterworfenen Akteure“ (S. 12) in der Analyse weitgehend ausgeblendet, das Individuum wird vorrangig als passives, durch unterschiedliche Sozialisationsinstanzen umfassend geprägtes Geschöpf gezeichnet. Auch ist Bourdieus Position im Hinblick auf eine im Zuge des Prozesses der Zivilisation (Elias 1997) sich vollziehende zunehmende Transformation von Fremdzwängen in Selbstzwänge, wie Nungesser nachzeichnet, unklar. 10 Neben dem Bourdieu’schen Verständnis symbolischer Gewalt ist in diesem Zusammenhang noch auf jene Analysen hinzuweisen, die unter symbolischer Gewalt insbesondere sprachlich vermittelte Gewalt verstehen, wobei verbale Gewalt auf eine Herabwürdigung und Einschüchterung des Anderen abzielt. Imbusch (2002, S. 41 f.) ordnet verbale Gewalt im Hinblick auf ihre Wirkungsweise allerdings eher der psychischen Gewalt zu. Daneben nennt er auch noch die ritualisierte Gewalt als „spielerisch-rituelle Inszenierung“ von Gewalt, die letztlich zur Steigerung des Lustprinzips – sei es bei bestimmten Sexualpraktiken oder im Sport, wie Elias und Dunning (2003) zeigen – führen soll. 9

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Kultur“ (S. 31) beziehe sowie der „realhistorischen Wirksamkeit“ (S. 32) entspreche: „Kulturbedeutung gewinnt die Kontrolle physischer Gewalt nicht nur aus ihrem Bezug zu den leitenden Wertideen eines säkularisierten Menschenbildes und Weltverständnisses, sondern auch aus einem realhistorischen Prozeß, in dessen Verlauf das Problem der sozialen Ordnung zunehmend weniger durch den direkten Einsatz physischer Gewaltmittel gelöst wird.“ (S. 32) Damit rückt die in der Soziologie stark kontroversiell diskutierte Frage des Verhältnisses von „Moderne“ und „Gewalt“ in den Fokus, der sich der nächste Abschnitt widmet.

4

Zum Verhältnis von Moderne und Gewalt

Mit den Fortschrittsoptimisten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts begann jenes Denken, das moderne Gesellschaften als zunehmend friedlicher werdende und in Frieden lebende, zunehmend „zivilisierte“, soziale Verbände begriff. So konzipierten beispielweise Marquis de Condorcet und Henri de Saint-Simon die Geschichte der Menschheit als immanentes weltgeschichtliches Entwicklungsgeschehen, das als kontinuierlicher Fortschritt, oftmals in der Abfolge unterschiedlicher Stadien, gezeichnet wurde und in dessen späteren „Entwicklungsstadien“ Gewalt und Krieg obsolet werden würden (vgl. Haring 2008, S. 377–390). Während also frühere Epochen durch Gewalt und Krieg geprägt waren, Krieger und Priester als Eliten die Geschicke von Gesellschaften lenkten und Kriege gesellschaftlichen „Fortschritt“ bewirkten, wird Krieg, so liest man unter anderem bei Auguste Comte, im industriellen Zeitalter schließlich überflüssig. In einer industriellen und rationalen, ja „positiven“ Kultur hat der militärische Geist keinen Platz (vgl. Haring 2008, S. 430–435; weiters Kruse 2010). Doch bereits bei den Klassikern findet man Stimmen, die diese optimistische Erzählung menschheitsgeschichtlicher Entwicklung nicht teilten sowie Krieg und dessen gesellschaftliche Konsequenzen in ihre Theorie zu integrieren suchten. So hielt beispielsweise der altösterreichische „Konflikttheoretiker“ Ludwig Gumplowicz die Deutung der Fortschrittsoptimisten von Geschichte als eines „stetigen Vervollkommnungsprozesses“, an dessen Ende Gewalt und Krieg als Konfliktlösungsstrategien obsolet werden und eine „bessere“, friedliche Weltgesellschaft entstehen wird, für eine „Verkennung der sozialen Gesetzmäßigkeiten“ (Mozetič 2001, S. 357). Sowohl den Fortschrittsoptimisten als auch jenen, die wie Rousseau von einem glücklichen Urzustand ausgingen und die Geschichte als Verfallsgeschichte zeichneten, erteilte Gumplowicz, der neben Comte und Spencer als „dritter Gründervater der (positivistischen) Soziologie im 19. Jahrhundert“ (Kruse 2010, S. 30) gilt, eine eindeutige Absage (vgl. Haring 2011, S. 39). Beide Richtungen seien im Unrecht, da sie von der Menschheit als einheitliches Substrat der Entwicklung ausgingen.11 Weltgeschichtlich betrachtet gebe es weder Rückschritt noch Fort11

In den einzelnen Perioden, in einzelnen Ländern lassen sich nach Gumplowicz jedoch sehr wohl Anfang, Höhepunkt und „Verfall“ der Entwicklung beobachten (vgl. Gumplowicz 1883, S. 340).

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schritt, sondern einen ewigen Kreislauf (Zykloismus). Ebenso erteilte er einer „mit dem Mittel des wissenschaftlich-technischen Fortschritts operierenden Sättigungstheorie der menschlichen Bedürfnisse“ (Acham 1995, S. 187) eine Absage; vielmehr prognostizierte er Zunahme und Ausdifferenzierung, ja zunehmende „Raffinesse“ der Bedürfnisse mit steigender Kultur und fortschreitender Technik (Gumplowicz 1910, S. 161). Die für die Moderne so charakteristische ausdifferenzierte soziale Arbeitsteilung vollzog sich dabei stets durch physischen Zwang und/oder wurde durch die „natürlichen“ Verhältnisse bestimmt: „Gewalt oder List brachten sie zu Wege – sonst würde sie heute noch nicht existieren“ (Gumplowicz 1883, S. 218; Hervorhebung im Original). Den modernen Staat als einheitliche Gesamtheit zu betrachten oder ihm gar einen homogenen Willen oder einheitliche Zwecke zuzuschreiben, lehnte Gumplowicz ebenso ab wie unterschiedliche Ansätze einer Theorie der Herrschaftsfreiheit (Acham 1995, S. 173, 186–187). Kriege werden nach Gumplowicz zwar seltener, jedoch in ihrem Ausmaß größer und verlustreicher. Der „ewige Friede“ ist für Gumplowicz nicht „von dieser Welt“. Betont werden nicht die „Eigenschaften des modernen oder des ‚letzten‘ Menschen“, so Weiler (2003, S. 18), sondern die Aufmerksamkeit gilt dem „zeitlosen, omnipräsenten Es, das seit jeher im Menschen denkt und lenkt“: „Diese [die Menschen] bleiben immer dieselben, ob sie im Kanoe rudern, im Segelschiff fahren oder mit Hilfe des Dampfes das Weltmeer durchfliegen; sie bleiben immer dieselben, ob sie in beiden Hemisphären voneinander eine Ahnung haben oder sich mittelst Telegraph und Telephon von einem Weltteil zum anderen zu überlisten trachten; sie bleiben dieselben, ob sie sich mit Keulen und Jatagans totschlagen oder mit Krupps und Hinderlader [sic] totschießen, mit Dynamit oder Torpedos in die Luft sprengen. Es ist kein Fortschritt und kein Rückschritt, es ist immer dasselbe, es kann auch nicht anders sein, weil die Menschen immer dieselben sind, weil die sozialen Elemente immer von denselben Kräften beseelt sind, weil die Qualität und Quantität dieser Kräfte immer dieselbe bleibt“ (Gumplowicz 1883, S. 336–337). Trotz solcher Stimmen blieb die fortschrittsoptimistische Vorstellung eines „Vervollkommnungsprozesses“ und der damit einhergehenden „Unvereinbarkeit“ von Moderne und Gewalt das dominierende Narrativ unterschiedlicher soziologischer Makro-Theorien des 20. Jahrhunderts: So beschreiben beispielsweise sogenannte Modernisierungstheorien moderne Gesellschaften als Zivilgesellschaften ohne kriegerische Konflikte; Gewalt erscheint hier als Ausdruck rückständiger, zu überwindender Barbarei (vgl. Joas 2000, Teil I). Gewalt sei – so von Trotha – ein „analytisches Stiefkind der allgemeinen soziologischen Theorie“ (von Trotha 1997, S. 10). Noch am Beginn des 21. Jahrhunderts, so lautet der Befund von Bonacker und Reckwitz im Jahre 2007, ist das „Zentrum der soziologischen Perspektive“ vom Narrativ der Modernisierungstheorien „besetzt“, dem ein „uneinheitlicher Gegendiskurs, der im weitesten Sinne auf kulturtheoretischen Prämissen aufbaut“ (Bonacker und Reckwitz 2007, S. 8), gegenübersteht. Sogenannte Kulturtheorien der Moderne gehen erstens von einer „kulturellen Konstitution des Sozialen“ aus, das bedeutet, dass „jegliche soziale Formen [. . .] in hochspezifische kulturelle Codes und Diskurse, die sie einschränken und ermöglichen“ (S. 12), integriert sind. Zweitens relativieren Kulturtheorien der Moderne die Dichotomisierung von und Grenzziehung zwischen Traditiona-

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lität und Modernität. Drittens rücken Kulturtheorien die Diversität und die Konflikthaftigkeit der Moderne in den Vordergrund und viertens betonen sie die kulturelle Produktion von Rationalität (vgl. Bonacker und Reckwitz 2007, S. 13–14). Die eng mit dem Modernisierungsparadigma verwobene Einschätzung, dass moderne „aufgeklärte“ Gesellschaften ein distanziertes Verhältnis zu (physischer) Gewalt hätten und auf deren Abschaffung hinarbeiten, hält unter anderen Harald Welzer für ein „Selbstmissverständnis der Moderne“ (Welzer 2010, S. 342). Doch lasse sich das „Vertrauen in das zivilisatorische Niveau der Moderne, unserer Moderne, [. . .] paradoxerweise nur dann aufrechterhalten, wenn Gewalt nicht zu ihrem Normalzustand, zu den Routinen ihres Funktionierens gerechnet wird“ (Welzer 2010, S. 343). Jan Philipp Reemtsma fasst in seinem Aufsatz „Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie“ (2008) verschiedene Narrative zusammen, die es erlauben würden, dieses „Vertrauen“ aufrechtzuerhalten. Als „Coping-Strategien“, um gegenwärtige Gewalt zu erklären (S. 46–48), dienen: erstens deren „Temporalisierung“, also die Einschränkung von Gewalt auf einen bestimmten Zeitrahmen, auf die uns Niklas Luhmann hingewiesen hätte; zweitens die oftmals mit der „Temporalisierung“ einhergehende „Spatialisierung“, die Einschränkung von Gewalt auf bestimmte Räume wie ein Schlachtfeld, einen Todestrakt im Gefängnis et cetera; drittens die Verrätselung, im Hinblick auf Individuen spricht Reemtsma von Pathologisierung oder „primärer Verrätselung“. Daneben gebe es aber auch die „sekundäre Verrätselung“, die den gegenwärtigen Diskurs (der Artikel erschien 2008) beherrscht. Darunter versteht Reemtsma jenes Narrativ, in dessen Mittelpunkt das Rätsel steht, wie „ganz normale Familienväter“ – wie die von Christopher Browning (1993) und Daniel Goldhagen (1996) untersuchten Männer des Polizeibataillons 101, die allein oder mit anderen Einheiten zusammen rund 80.000 Männer, Frauen und Kinder erschossen oder in Vernichtungslager deportierten (Goldhagen 1996, S. 278) – zu solchen Grausamkeiten fähig gewesen wären.12 Für die Einordnung „kollektiver Gewaltexzesse“ stehen nach Reemtsma drei „idealtypisch“ (im Sinne Webers) verstandene Rhetoriken zur Verfügung (Reemtsma 2008, S. 48): die Rhetorik des Zivilisationsauftrags, das heißt, Gewalt werde dahingehend legitimiert, dass deren Einsatz schlimmere Gewalt verhin-

12 Erst jüngst (2015) argumentierte der in der Tradition der Elias’schen Figurationssoziologie stehende niederländische Soziologe Abram de Swaan gegen das Narrativ von Massenmördern als ganz normale Männer. Dabei geht es de Swaan nicht um eine biologische Pathologisierung, sondern um die Rekonstruktion der sozialen und historischen Voraussetzungen von Genoziden sowohl auf einer makrosoziologischen als auch auf einer mesosoziologischen Ebene, die er schließlich mit mikroziologischen, psychoanalytischen Befunden ergänzt: „The key concept in de Swaan’s analysis is ‚compartmentalization‘, which includes a number of parallel mental, social, political, legal, and spatial and temporal processes [. . .]: the creation of hostile categories of despised ‚others‘ that usually crystalizes over a long period of time, the construction of an enemy group that needs to be eliminated, the spatial separation and rounding up of the target population, the creation of ‚killing compartments‘, that is, the formation of separate (often isolated or secluded) spaces where mass killings are permitted in demarcated spaces and temporal slots, and last but not least the compartmentalization or ‚doubling‘ taking place in the minds of the perpetrators who separate the massmurderer-in-them from theirs ‚real self‘“ (Duijzings 2016, S. 575).

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dere bzw. den Wertvorstellungen und Normen der Moderne zum Durchbruch verhelfe; die Rhetorik der „eschatologischen Säuberung“;13 sowie die Rhetorik des Genozids, des Bruchs mit der Moderne. Gewalt werde, wie Welzer unterstreicht, nach wie vor ausgeübt, wenn ihr Einsatz den individuellen und/oder kollektiven Akteuren und Akteurinnen aufgrund bestimmter kultureller und sozialer Rahmenbedingungen als sinnvoll erscheint. In der Moderne hätte sich zwar der „Referenzrahmen der Gewalt“, in welchem situative, habituell-kulturelle, normative und hierarchische Bedingungen zusammenwirken, geändert, es gehe aber nicht um „Gewalt oder Nicht-Gewalt, sondern um Maß und Modus ihrer Regulierung“ (Welzer 2010, S. 344). Die Situationsdefinition des Individuums erfolgt dabei jeweils vor dem Hintergrund des jeweiligen Referenzrahmens (vgl. dazu Goffmans Rahmenanalyse), daneben spielt jedoch auch die Figuration für soziales Handeln (vgl. dazu Norbert Elias Figurationssoziologie), hier für den Einsatz von Gewalt, eine zentrale Rolle (vgl. Welzer 2010, S. 344–345).14 Gerade die Etablierten-Außenseiter-Figuration (Elias und Scotson 2002) sei – wie Welzer am Beispiel der Ausgrenzung, Deportation und schließlich physischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus zu zeigen versucht – besonders bedeutsam: „In der sozialen Figuration, die Zugehörige und NichtZugehörige gemeinsam bilden, bedeutet jede Positionsveränderung der anderen zugleich auch eine Veränderung der eigenen Position“ (Welzer 2010, S. 360). Die soziale Wirklichkeit, so Welzer, veränderte sich somit von Tag zu Tag. Für eine ambivalente Deutung des Verhältnisses von Moderne und Gewalt plädieren unter anderem Zygmunt Bauman und im Anschluss an diesen auch Peter Imbusch, der sich explizit gegen die „Vorstellungen einer im großen und ganzen gelungenen Einhegung von Gewalt [wendet], die jene strikt historisiert, marginalisiert oder exterritorialisiert hat, so daß Gewalt in ihren vielfältigen Theoretisierungen – sofern sie überhaupt vorkommt – als Früheres, Fremdes oder rein Pathologisches aufgefaßt wird“ (Imbusch 1995, S. 7). Die Kultur der Moderne berge zum einen eine „größere Chance zur Humanität und Friedfertigkeit“ (Imbusch 1995, S. 42), doch gleichzeitig haben „Kultur und Zivilisation [. . .] das Potential an Gewalt vervielfacht, sie effektieren die Gewalt durch Artefakte und Institutionen und liefern Rechtfertigungen und Begründungen für ihren Einsatz“ (Imbusch 2002, S. 35).

Unter Eschatologie versteht man die „Lehre von den letzten Dingen“, die sich mit dem Schicksal des Einzelnen als auch mit der Zukunft des „Weltganzen“ beschäftigt. Die Vorstellung, dass das Ende der Welt kurz bevorstünde, war und ist in den unterschiedlichsten Religionen vertreten, wobei bestimmte Vorboten das Weltende ankündigen. Dem Weltuntergang kann schließlich ein „Weltfrühling“, ein besseres Weltzeitalter folgen. In der Moderne knüpften politische Weltanschauungen an eschatologische, apokalyptische und messianische Vorstellungen der Religionen an (vgl. Haring 2008). In der Gegenwart wird nun der „letzte Kampf“ gegen das Böse, den Feind, geführt; die Gegenwart wird zum „gewaltoffenen Raum, wo Gewalt noch ausgeübt werden muss, soll das Versprechen der Moderne eingelöst werden“ (Reemtsma 2008, S. 48). 14 Zum Vergleich zwischen Norbert Elias und Erving Goffman siehe Kuzmics 2003. 13

384

4.1

S. A. Haring

Moderne, Ordnung und Gewalt

In seiner Schrift „Culture as Praxis“ (1973) entwarf Zygmunt Bauman, so schreiben Markus Baum und Thomas Kron in diesem Handbuch, „das Profil seiner kulturtheoretisch orientierten Soziologie, die das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft in den Blickpunkt rückt“.15 Bauman versteht Kultur als einen Raum, in dem Individuen aus einer Fülle von Möglichkeiten eine soziale Ordnung schaffen. Kultur ist dabei nicht statisch zu begreifen, sondern vielmehr ein „fortdauernder kreativer Prozess“ der Wechselwirkungen von Handeln und Strukturen. Kultur gibt die Möglichkeiten des Handelns vor, wird ihrerseits jedoch wieder durch soziales Handeln verändert (Bauman 1995, S. 243). In der sogenannten festen Moderne, die Bauman mit der Aufklärung beginnen lässt und die sich bis in die 1980er-Jahre erstreckt, wurde das Streben nach Sicherheit und Ordnung dominant (Bauman 1992a): „Wir können uns die Moderne als eine Zeit denken, da Ordnung – der Welt, des menschlichen Ursprungs, des menschlichen Selbst, und der Verbindung aller drei – reflektiert wird; ein Gegenstand des Nachdenkens, des Interesses, einer Praxis, die sich ihrer selbst bewußt ist, bewußt, eine bewußte Praxis zu sein und auf der Hut vor der Leere, die sie zurücklassen würde, wenn sie innehalten oder auch nur nachlassen würde“ (Bauman 1992a, S. 17; Hervorhebung im Original). Die mit der Modernisierung einhergehende und sich mit deren „Erfolgen“ ständig steigernde Ambivalenz sei, so Bauman, meist von einem Gefühl des Unbehagens und von Angst begleitet. Das Individuum fühlt sich bedroht und in Gefahr. „Der Krieg gegen das Chaos zersplittert sich in eine Vielzahl lokaler Kämpfe um Ordnung“ (Bauman 1992a, S. 25), hält Bauman am Beginn seines Buches Moderne und Ambivalenz fest. Um also Ordnung herzustellen und soziale Wirklichkeit in klare Kategorien einteilen zu können, unternehmen die moderne Politik und der moderne Mensch mit niemals zu Ruhe kommender „Anstrengung“ und „Gewalt“ zahllose Versuche, Ordnung und Eindeutigkeit herzustellen. Kultur soll zu diesem Zwecke weitgehend durch äußere und innere Disziplinierung homogenisiert werden (vgl. Bauman 1992a, S. 13–25).16 Als zentrale Kennzeichen der modernen Kultur erweisen sich das Rationalitäts- bzw. Objektivitätspostulat, der moderne Nationalstaat, der Glaube an Sozialtechniken und an Gleichheit, die durch Erziehung oder biologische Züchtigung hergestellt werden sollte, sowie das Streben nach Eindeutigkeit, die das Gefühl der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit reduzieren soll (Bauman 1992a). Der Nationalstaat bindet, wie Bauman ausführt, Freunde und Feinde ein und definiert als eine seiner zentralen Aufgaben, sich dem Problem des Fremden zu stellen. Der Nationalstaat erzwingt „Freundschaft, wo diese sich nicht von selbst herstellt“, und fördert „ethnische, religiöse, linguistische und kulturelle Homogenität“ (Bauman 1998, S. 34). Die

Vgl. dazu Baums und Krons Aufsatz „Zygmunt Bauman und die Kultursoziologie“ in Band 1 dieses Handbuchs. 16 Gerade für das sogenannte Modell der Sozialdisziplinierung bildete das Militär das Modell, das dann auf die gesamte Gesellschaft übertragen wurde. Insofern fungierte das Militär auch als „ein gesellschaftliches Laboratorium für kontrollierende Machttechniken“ (Spreen 2010, S. 67). 15

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Ausübung von Gewalt ist nach Bauman dem modernen Denken, das in einem besonders starken Maße nach Ordnung und Sicherheit strebt, inhärent. „So erwächst physische Gewalt aus anonymen Strukturen – aus klassifikatorischen Distinktionen und Denkordnungen“ (Nunner-Winkler 2004, S. 23). Sowohl Hitler als auch Stalin sind für Bauman „legitime Kinder des modernen Geistes, jenes Dranges, den Fortschritt der Menschheit zur Vollkommenheit zu unterstützen und zu beschleunigen, der durchweg das hervorstechendste Merkmal der Moderne war – jener ‚optimistischen Ansicht, daß wissenschaftlicher und industrieller Fortschritt im Prinzip alle Beschränkungen der möglichen Anwendung von Planung, Erziehung und Sozialreform im Alltagsleben beseitigt habe‘, jenes Glaubens, ‚daß soziale Probleme endgültig gelöst werden konnten‘“ (Bauman 1992a, S. 46). Die Shoa ist nach Bauman also nicht als „Rückfall in die Barbarei“ zu interpretieren, sondern ist vielmehr – wie er im Vorwort von Dialektik der Ordnung anmerkt – „aus dem Zusammentreffen alter, von der Moderne ignorierter, unterschätzter oder ungelöster Spannungen mit den mächtigen Instrumenten rationalen, zielgerichteten Handelns, die ein Ergebnis der Moderne selbst waren“ (Bauman 1992b, S. 13), entstanden. In der Moderne verschwindet Gewalt nicht, sondern nimmt einerseits andere Formen an und erzeugt andererseits aus sich heraus bis dato „unbekannte Gewalteruptionen“ (Imbusch 1995, S. 456). Die Moderne liefert nach Bauman, wie Helmut Kuzmics festhält, „mit ihrer Perfektionierung instrumenteller Rationalität nicht nur die Grundlagen von Wirtschaftswachstum und Massenwohlstand, sondern eben auch für die fürchterlichsten Verbrechen. Die einzige Voraussetzung ist das Zerbrechen der Identifikation mit anderen Menschen, ihre Verwandlung in unpersönliche, seelenlose Zielobjekte ideologischer, nationaler oder politischer Gegnerschaft, um sittliche Hemmungen gegen schrankenlosen Gewaltgebrauch hinwegzuspülen. Sie werden zu Fremden, mit denen einen nichts verbindet, und statt eines Zuviels an Emotion gibt es eher ein Zuwenig“ (Kuzmics 2013, S. 499–500).

4.2

Zivilgesellschaftliche versus kriegsgesellschaftliche Moderne

Sowohl gegen das Narrativ der Fortschrittsoptimisten und der in ihrer Tradition stehenden Modernisierungstheoretiker und -theoretikerinnen, die die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts als Pathologien des „Projekts der Moderne“ begreifen, als auch gegen Baumans Dialektik der Ordnung argumentiert Volker Kruse.17 Kruse (2015) plädiert für eine „Unterscheidung zwischen zivilgesellschaftlicher Moderne und kriegsgesellschaftlicher Moderne“, die über ihre je eigenen Strukturlogiken verfügen. „Abweichungen vom vermeintlichen modernen Normalpfad“ (S. 7) (wie beispielsweise das „Dritte Reich“ oder der Sowjetkommunismus) sind, so Kruse, auf 17

Für Bauman ist die nationalsozialistische und stalinistische Massenvernichtung eine radikale Konsequenz der „gärtnerischen Arbeit“ der Moderne, während Kruse die These vertritt, dass „es maßgeblich (wahrgenommene) kriegsbedingte Zwangslagen und Kalküle waren, die zur Massenvernichtung von Menschen führten“ (Kruse 2015, S. 177).

386

S. A. Haring

die strukturbildende Kraft moderner großer Kriege zurückzuführen. Bereits Herbert Spencer wies, wie Kruse ausführt, darauf hin, dass Gesellschaften unter Kriegsbedingungen sich ganz anders entwickeln als im Frieden. Für Gesellschaften in kriegerischen Zuständen ist die umfassende Mobilisierung sowohl von Soldaten als auch von Zivilisten zentral: Militärische, ökonomische und psychische Ressourcen müssten optimal aufeinander abgestimmt und organisiert werden, das Individuum, seine Interessen, Bedürfnisse und Wünsche sind dem Kollektiv streng untergeordnet (vgl. Kruse 2010, S. 37–38). Unter den Bedingungen des Krieges verändern sich, so Spencer, gesellschaftliche Werte: „Tapferkeit, Patriotismus, Vertrauen, Ehre, Rache, Gehorsam und altruistischer Selbstmord sind wichtige Tugenden. Dagegen werden Werte wie privater Unternehmergeist oder persönliche Freiheit eher verachtet“ (Spencer nach Kruse 2010, S. 38). Spencer, der auf eine zunehmend friedlicher werdende Zukunft hoffte und die Militarisierung in Großbritannien und Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großem Unbehagen beobachtete, konzipierte also im Sinne von „Idealtypen“ zwei Gesellschaftsformen, die militärische und die industrielle, die nicht sukzessive aufeinanderfolgen, sondern zwischen denen sich historische Gesellschaften bewegen (Kruse 2010, S. 36–40). In Anlehnung an Spencer, aber auch an Emil Lederer, Georg Simmel, William I. Thomas und Lewis Coser sowie insbesondere an Max Weber, welchem er sich methodologisch und theoretisch verpflichtet fühlt, betont Kruse (2015) die durch „große“, langandauernde Kriege – wie beispielsweise den Ersten und Zweiten Weltkrieg – ausgelösten strukturellen Dynamiken und Transformationen, die für die Situationsdefinitionen kriegsgesellschaftlicher Akteure die Handlungsräume und -orientierungen vorgeben. Kruse geht in seiner Analyse davon aus, dass sich Handeln in Kriegsgesellschaften oft im Rahmen „eigendynamischer sozialer Prozesse“ (S. 13) vollzieht, das heißt, dass nicht die Handlungsmotive den Prozess bestimmen, sondern umgekehrt. Der Mobilisierungswettlauf zwischen Kriegsgesellschaften sowie das Kriegshandeln an den jeweiligen Fronten können Formen eigendynamischer Prozesse annehmen. Darüber hinaus sind nach Kruse Kriegsgesellschaften im Unterschied zu zivilen modernen Gesellschaften durch einen Entdifferenzierungsprozess gekennzeichnet, im Zuge dessen die einzelnen Funktionssysteme nicht mehr autonom agieren, sondern unter Dominanz einer politischmilitärischen Spitze stehen.18 Alle Kräfte in Front und Hinterland sind auf den Krieg ausgerichtet. Während die Männer in den Krieg ziehen, bilden die Frauen und Kinder, die Älteren und die nicht als Soldaten Eingezogenen die sogenannte Heimatfront, an der, wie es Gerd Krumeich im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg formuliert, „für den Krieg konstruiert und produziert, aber auch gesungen, gedichtet, gebetet – und gelogen“ (Krumeich 1997, S. 12) wurde. Die jeweiligen miteinander verflochtenen Kriegsgesellschaften bilden nach Kruse schließlich die „kriegsgesell-

Die „Hochzeit“ der sogenannten kriegsgesellschaftlichen Moderne verortet Kruse in Europa zwischen 1914 und 1945. Außereuropäisch nennt Kruse Japan zwischen 1868 und 1945 und nach dem Zweiten Weltkrieg die Sowjetgesellschaft, China, Korea, Vietnam und Kuba als Beispiele für sogenannte Kriegsgesellschaften (Kruse 2009, S. 199).

18

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schaftliche Moderne“, die er als „den Raum moderner Gesellschaft“ versteht, „der durch die strukturbildende Kraft großer Kriege bestimmt wird“ (S. 21): „Kriege sind nicht einfach Ereignisse, die kommen und gehen, sondern sie können eine spezifische systemische Dynamik induzieren. Große, langandauernde, ‚symmetrische‘, tendenziell totale Kriege (nicht: kleine, asymmetrische Kriege) führen zu gesellschaftlichen Transformationen“ (Kruse 2009, S. 199; Hervorhebung im Original). Unter langandauernden Kriegsbedingungen nehmen Akteure Wirklichkeit anders wahr und interpretieren sie anders als in Friedenszeiten.

5

Krieg und Gewalt

Das, was für die Gewaltsoziologie ganz allgemein gilt, trifft auf die Soziologie des Krieges noch in einem weitaus stärkeren Ausmaß zu: Obwohl „Krieg eine universelle kulturgeschichtliche Institution der Gewalt“ (Spreen 2010, S. 49) ist, sind „Kriege und Kriegsgewalt [. . .] ganz zweifellos vernachlässigte Themen und die am wenigsten erforschten Gebiete der Soziologie“ (Imbusch 1995, S. 48). Es lässt sich vielmehr eine „Verweigerungshaltung“ (Imbusch) im Hinblick auf Krieg als soziologisches Phänomen und als konstitutives Element der Moderne, nicht nur ihrer Vorgeschichte beobachten. Hans Joas und Wolfgang Knöbl sprechen von „Kriegsverdrängung“ innerhalb der Sozialtheorie und führen diese auf die „tief verankerten Relevanzstrukturen der Soziologie“ (Joas und Knöbl 2008, S. 12) zurück – und zwar insbesondere auf die Dominanz der evolutionistischen Modernisierungstheorie, die zwar für die Genese moderner Gesellschaften die Bedeutung von Kriegen anerkennt, für „entwickelte“ moderne Gesellschaften Krieg jedoch nur als dysfunktional, destruktiv und pathologisch begreift (vgl. Spreen 2010, S. 53–54). „Kriegsverdrängung“ innerhalb der Sozialtheorie wird daran deutlich, dass von Hobbes bis Habermas „Kriege als Erfahrungshintergrund des Denkens“, wie Joas und Knöbl detailliert nachzeichnen, „oft konstitutiv für die Theoriebildung“ (Joas und Knöbl 2008, S. 8–9) sind, sie aber in den theoretischen Abhandlungen nicht oder kaum eine Rolle spielen.19

5.1

Krieg und kulturelle Grenzziehungen

Im Krieg tritt für das kämpfende Individuum, den gegen die jeweiligen Feinde – sei es in klassischen Schlachten oder in den Bewegungs- und Stellungskriegen des 20. Jahrhunderts – kämpfenden Soldaten eine Ausnahmesituation ein, indem das in modernen Gesellschaften weitgehend gültige kulturelle Konstrukt des Tötungsver19

Dierk Spreen (2010) sieht in der vielfach in der soziologischen Gewaltursachenforschung stattfindenden Etikettierung von Gewalt als ausschließlich anomisches und deviantes Phänomen sowie in der normativen Gesellschaftsvorstellung, die moderne Gesellschaften als weitgehend friedliche und auf ziviler sprachlicher Kommunikation als Konfliktlösungsmittel beruhende Systeme fasst, weitere Gründe für die „kriegstheoretische Abstinenz der Soziologie“ (S. 56).

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botes durch das Tötungsgebot ersetzt wird. Während dem Individuum die Verfügung über menschliches Leben in der Regel nicht zusteht, kann die Gruppe, die sich dabei beispielsweise auf den Willen der Götter, der Ahnen oder auf das Gesetz der Geschichte berufen und/oder mit der Abwehr von (angeblichen) Übeln sowie mit Verteidigung bzw. Notwehr argumentieren kann, ihre Zustimmung zum Töten im Krieg geben; die Tötungshemmung wird also, begleitet von unterschiedlichen Symboliken, aufgehoben. Die weitreichendste Form legitimierten Tötens von Menschen stellt der Krieg dar. Dabei nimmt derjenige, der tötet, jedoch auch das Selbst-GetötetWerden in Kauf (Stietencron 1995, S. 17–19). Der von vielen konstatierten Tötungshemmung kann durch das gezielte Schaffen von Distanz beziehungsweise von Nähe begegnet werden: erstens durch die Schaffung von räumlicher Distanz, die zum Charakteristikum moderner Kriegsführung wurde und mit der Entwicklung von Distanzwaffen einhergeht; zweitens durch die Erzeugung sozialer Distanz durch die Herabsetzung des Gegners oder im Extremfall dadurch, dass ihm das Menschsein schlechthin abgesprochen wird; und drittens durch den engen Gruppenzusammenhalt (Stichwort: Kameradschaft), durch die enge emotionale Bindung an die unmittelbare Gemeinschaft (Herberg-Rothe 2003, S. 117–119). Mit dem Ende des Krieges endet zwar in der Regel auch die „Lizenz zum Töten“, die alten Feindbilder bleiben jedoch noch lange in den Köpfen und Herzen der Menschen (Stietencron 1995, S. 21). Oftmals verdichten sich in Krisen- und Kriegszeiten jahrhundertealte Vorurteile und Stereotype zu Feindbildern, wobei dieser Prozess durch die öffentliche Meinung oder durch gezielte Propaganda verstärkt, intensiviert bzw. teilweise auch gelenkt werden kann. „Kein Krieg ohne Feindbilder. Sie sind Fanfaren, die ein Kollektiv zum Angriff sammeln; sie dienen der Rechtfertigung von Gewalt“ (Wagener 1999, S. 10), hält Wagener in ihrem Buch Feindbilder fest. Dem Feind wird dabei die Schuld für einen konkreten Übelstand oder eine missliche Situation, für politische, ökonomische und/oder kulturelle Problemlagen und Spannungsfelder zugeschrieben. Gleichzeitig wird durch die Projektion der Schuld auf den Anderen, auf den Fremden, die Kohäsion der eigenen Gruppe, werden also die Wir-Gefühle gestärkt; eigene Verlustund Bedrohungsängste werden auf das Fremde abgelenkt (Benz 1996, S. 11–19). Eine zentrale Rolle spielen bei der Generierung von Feindbildern Metaphern und Bilder, „mit deren Hilfe und durch die erst politische Konstellationen vorstellbar und veranschaulicht werden“ (Münkler 1994, S. 8). „Benennung und Bebilderung lassen die Beziehung zum Feind enger und intensiver werden“ (S. 22), hält Münkler in seiner Schrift Politische Bilder, Politik der Metaphern fest. Baumans berühmter Aufsatz „Moderne und Ambivalenz“ beginnt mit der Differenzierung von „Freunden“, „Feinden“ und „Fremden“: „Freunde und Feinde stehen in Opposition zueinander. [. . .] Gegen diesen vertrauten Antagonismus, dieses konflikthafte Einverständnis von Freunden und Feinden rebelliert der Fremde“ (Bauman 1998, S. 23, 25). Gelten, worauf Simmel hinwies, sowohl Freundschaft als auch Feindschaft als Grundmuster der Vergesellschaftung, „gefährdet“, so Bauman in Moderne und Ambivalenz, „der Fremde das soziale Leben selbst. Und all dies, weil der Fremde weder Freund noch Feind ist; und weil er beides sein könnte“ (Bauman 1998, S. 25). Die Uneinordenbarkeit des Fremden, seine Uneindeutigkeit, erzeugt Unsicherheit, die wiederum ein

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Gefühl der Bedrohung verursachen könne. Nicht Distanz, sondern Nähe kennzeichnet den Fremden, welcher gleich dem Freund die Übernahme von Verantwortung beansprucht (vgl. Bauman 1998, S. 27–29): „Der Fremde zerstört den Zusammenhang zwischen physischer und psychischer Distanz – er ist physisch nah und bleibt geistig weit entfernt. Er bringt in den inneren Kreis der Nähe eine Form von Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit, die nur auf Distanz antizipiert und toleriert wird, wo sie als irrelevant vernachlässigt oder als feindlich zurückgewiesen werden kann“ (Bauman 1998, S. 30). Die Beziehung zu Fremden wird aber nicht nur durch das Zusammenleben mit realen Fremden, die die soziale Wirklichkeit, in der wir leben, mitprägen, sondern auch durch den „imaginären“ Fremden, den es „nicht mehr“ oder „noch gar nicht“ gibt, bestimmt (vgl. Bielefeld 1998, S. 98). Nicht Gleichgültigkeit, sondern Gefühle prägen die Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem. Die Stärkung der Gruppenkohäsion und gleichzeitig die emotional aufgeladene jeweilige Feindstilisierung beschreibt der Pazifist Stefan Zweig bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs folgendermaßen: Es lag „in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches [. . .], dem man sich schwer entziehen konnte. [. . .] Wie nie fühlten Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten.“ Und Zweig fährt fort: „Keine Stadt, keine Gruppe, die nicht dieser grauenhaften Hysterie des Hasses verfiel. Die Priester predigten von den Altären, die Sozialdemokraten, die einen Monat vorher den Militarismus als das größte Verbrechen gebrandmarkt, lärmten womöglich mehr noch als die anderen, um nicht nach Kaiser Wilhelms Wort als ‚vaterlose Gesellen‘ zu gelten.“ Retrospektiv hält Zweig dann fest: Krieg brauche „einen gesteigerten Zustand des Gefühls, er braucht Enthusiasmus für die eigene Sache und Haß gegen den Gegner“ (Stefan Zweig nach Hamann 2008, S. 40). Im Krieg wird also die Identifikation mit der eigenen Gruppe und ihrem „Wir-Bild“ vorausgesetzt sowie immer wieder eingefordert; und zwar in einer Intensität und Ausschließlichkeit, die sich von alltäglichen sozialen Interaktionen stark unterscheidet. Soldaten, aber nicht nur diese, sondern auch die Akteurinnen und Akteure an der Heimatfront, müssen ihre Bedürfnisse und Interessen den Zielen und Bedürfnissen des Kollektivs unterordnen. Innerhalb der unterschiedlichen militärischen Einheiten „wird die Rollenverteilung und -ausübung viel strenger und rigider vorgegeben und der Spielraum für individuelle Abweichungen ist sehr begrenzt. [. . .] Die wechselseitige Abhängigkeit wird zur existentiellen Grunderfahrung und alle unterliegen einem starken Zwang, sich mit den kollektiven Handlungs- und Denk-Normen zu identifizieren“ (Volkan 2013). Nicht nur der Körper soll für Ausnahmesituationen verfügbar sein, sondern auch die Psyche und das ganze Leben. Jede Distanzierung bedeutet real und/oder symbolisch möglicherweise den Tod“ (Friedman 2015, S. 195–196). Weltbilder und Wertideen bedingen Kriege mit und begleiten sie20 – der Topos des Kulturkrieges, wie er in den „Ideen von 1914“ formuliert wurde, macht dies in

Andreas Herberg-Rothe (2003, S. 86–87) plädiert dafür, statt von „Kriegsursachen“ von „Bedingungen“ zu sprechen, die zur Entstehung von Kriegen beigetragen haben, aber nicht „zwangsläufig“ zum Krieg führen müssen.

20

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besonderer Art und Weise deutlich (Ernst et al. 2004). So sah beispielsweise Georg Simmel den Ersten Weltkrieg als Mittel, um aus der Erstarrung der modernen Kultur mit ihrer Vielheit von unverbindlich bleibenden ästhetischen Angeboten und Lebensidealen auszubrechen und ein neues, ursprünglicheres Verhältnis zur Kultur ebenso wie zu den materiellen Bedingtheiten des modernen Daseins zu begründen. Für Max Scheler war der Erste Weltkrieg ein Indiz dafür, dass die „Urkräfte des Lebens“ sich nunmehr gegen ihre Demütigung durch eine von den „Lebensschwachen errichtete Nützlichkeitszivilisation“ aufbäumten; er solle den individualistischen Rationalismus der Aufklärung überwinden. Für Thomas Mann wiederum war der Erste Weltkrieg als Entscheidungskampf zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“, als Kulmination eines seit der römischen Antike währenden „ewigen Kampfes“ Deutschlands „mit der äußersten westlichen Welt“ zu verstehen (Haring 2008, S. 463–464).

5.2

Krieg und der Prozess der Zivilisation

In dem 1985 gehaltenen Vortrag „Conditio Humana. Beobachtungen über die Entwicklung der Menschheit“ bezeichnet Norbert Elias Kriege, definiert als „Versuche von Menschengruppen, einander zu töten und Gewalt gegeneinander zu üben und einander zu beherrschen“, als eine „wahre Conditio humana“ (Elias 2002, S. 94). Der Krieg – als eine „von Menschen geschaffene gesellschaftliche Institution“ (Elias 2002, S. 95) – sei ein konstanter Begleiter der Geschichte der Menschheit, er prägte und prägt die Persönlichkeitsstrukturen der Menschen, auch wenn es Elias durchaus für möglich hielt, das gegenseitige Töten abzuschaffen. Die Gelegenheiten, die Gewalt erzeugen, sind die Konflikte, die Menschen nicht anders bewältigen können. Sie weisen aber veränderliche Strukturen auf, denen auch eine veränderte Struktur der menschlichen Psyche entspricht; Kriege gehören also „zu einer festen Tradition der Menschheit. Sie sind in deren gesellschaftlichen Einrichtungen wie im gesellschaftlichen Habitus, im Wirbild der Menschen, selbst der friedliebendsten, verankert“ (Elias 2002a [1985], S. 110). Elias beschreibt in seinen Werken dabei zum einen die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Stämmen und Staaten und zeigt, wie sich im Zuge dieser „Ausscheidungskämpfe“ Hegemonialstrukturen aufbauten und im Laufe dieses Prozesses immer größere Staatsgebilde entstanden. Er nimmt hier also die Makroebene in den Blick. Zum anderen betont Elias aber auch, wie sich das affektive Erleben der Individuen im abendländischen Prozeß der Zivilisation (Elias 1997) veränderte, das in Richtung wachsender Hemmung der Befriedigung spontaner Bedürfnisse und zugleich deren Verfeinerung deutet, wobei eine zentrale Komponente die Pazifizierung, das Friedlicher-Werden vom Hochmittelalter bis zum späthöfischen 18. Jahrhundert, ist. Dieser Prozess vom „Fremdzwang“ zum „Selbstzwang“ vollzog sich in unterschiedlichen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten: Einzelne „national“ verfasste Staatsgesellschaften und hier wiederum deren Eliten können den Kriegerkanon früherer Zeiten (z. B. des Hochmittelalters) stärker konservieren als andere, so etwa Preußen/Deutschland im Vergleich mit England. Dabei fällt für Elias, wie Helmut Kuzmics im Artikel

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„Norbert Elias und die Kultursoziologie“ (2018) nachzeichnet, der „‚kulturelle‘ Aspekt untrennbar mit den politischen, ökonomischen und allen übrigen Aspekten gesellschaftlicher Prozesse“ (Kuzmics in Band 1 dieses Handbuchs) zusammen. Elias nennt zwei Szenarien, die es ermöglichen würden, das Töten abzuschaffen: Im ersten Fall gelingt es einer militärischen Großmacht – Elias denkt hier an die USA und an die damals noch existierende UdSSR – die absolute Hegemonie zu erlangen und somit eine Pax Americana oder eine Pax Sovietica zu erzeugen. Im zweiten Fall lösen sich alle Staaten von der „Vorstellung einer absoluten Souveränität“ im Hinblick auf die Entscheidung über Krieg und Frieden und übertragen die Konfliktlösung übernationalen Organisationen (Elias 2002, S. 96–97). In den letzten Jahren argumentieren der Gewaltforscher Manuel Eisner (2003), der die Veränderung individueller Gewalt seit dem Mittelalter untersucht, und der Psychologe Steven Pinker (2011), der die Geschichte individueller und kollektiver Gewalt in globaler Perspektive von prähistorischen Stammesgesellschaften der Jäger und Sammler bis in das frühe 21. Jahrhundert analysiert, für einen Rückgang der Gewalt im Zuge des Zivilisationsprozesses, wobei der Ausbildung des staatlichen Gewaltmonopols für den „decline of violence“ (2011) eine zentrale Rolle zukommt.

5.3

„Emotionale Energie“ und Krieg

Auch für den bereits in diesem Aufsatz in Abschn. 3.2 kurz vorgestellten USamerikanischen, in der Tradition des symbolischen Interaktionismus stehenden Emotionssoziologen Randall Collins spielt die unter Abschn. 5.1 diskutierte Differenzierung in „Wir“ und die „Anderen“, in Freunde und Feinde, insbesondere für die Gewaltausübung eine große Rolle.21 Gerade die emotionale Grenzziehung zwischen „Gemeinschaft“ und „Nicht-Gemeinschaft“ sei die bedeutsamste Dimension für Entscheidungen im Hinblick auf die Anwendung von Gewalt in sozialen Verhältnissen. Emotionale Besetzung der Gemeinschaft stiftet Solidarität nach innen und ermöglicht Feindschaft nach außen, wobei durch Rituale öffentlicher Gewaltdokumentation die emotionale Ausgrenzung sichtbar gemacht und die Integration nach innen gestärkt wird. Gefühle der Wärme, des Selbstvertrauens und des Enthusiasmus sind nach Collins die Solidargemeinschaft umschließende Gefühle, die des Neides, des Hasses und der Wut nach außen gerichtete Gefühle (vgl. Collins 2012, S. 121–156). In Interaktionsritualen wird nach Collins sogenannte „emotionale Energie“ als „a feeling of confidence, elation, strength, enthusiasm, and initiative in taking action“ (Collins 2004, S. 49) erzeugt, wobei er zwischen Macht-, Statusund Solidaritätsritualen unterscheidet. Doch muss auch im Krieg die Konfrontationsanspannung/-angst erst überwunden werden: „Der einfachste Weg, die Barriere zu umgehen, besteht darin, den Konflikt aus der Ferne auszutragen, sodass man die andere Person nicht sieht; Gewalt in der Form von Bombardierungen oder Vgl. zu „Wir-Gefühlen, Feindbildern und Feindseligkeit“ unter einer emotionssoziologischen Perspektive und am Beispiel der k. u. k. Armee im Ersten Weltkrieg insbesondere Haring 2013.

21

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Artilleriebeschuss aus großer Entfernung fällt am leichtesten; je näher sich die Gegner kommen, desto schwieriger wird sie. Sie fällt leichter, wenn die Gegenspieler ihre Gesichter nicht sehen, vor allem jeden Blickkontakt vermeiden – also auch dann, wenn der Gegner mir den Rücken zukehrt, zu Boden gegangen ist oder sein Gesicht bedeckt. Genau das also, was eingeschüchterte, passive Opfer zu tun pflegen, macht es den Angreifern leichter, in entfesselter Vorwärtspanik auf sie loszugehen“22 (Collins 2015, S. 210). Die Konfrontationsanspannung wird hier in emotionale Energie umgewandelt. Fühlen sich Soldaten stark überlegen, sind Massaker nach Collins wahrscheinlicher. Soldaten treten in einen emotionalen Tunnel der Gewalt ein, wobei die „moralische Auszeit“ (moral holidays) auch mehrere Tage dauern kann. Während Norbert Elias den sich im Zuge des Zivilisationsprozesses sich vollziehenden „Wandel der Angriffslust“ im Krieg „historisch situierend und eben prozessual erklären will“, möchte Collins, wie Kuzmics in einer Gegenüberstellung von Elias und Collins herausarbeitet, „leidenschaftliche wie kalte, private wie öffentliche, kriegerische wie sportliche Gewalt situativ erklären“ (Kuzmics 2013, S. 507; Hervorhebung im Original). Er erklärt also in einer bewusst „mikrosoziologisch“ gehaltenen Perspektive Gewalt fast ausschließlich aus Situationen, die Gewalt erzeugen; mögliche kulturelle Variationen sind für Collins „Ergänzungen dieses grundlegenden Prozesses“, nämlich der durch ganz bestimmte Muster ablaufenden „zentralen Dynamik des Gewaltprozesses selbst“ (Collins 2015, S. 230), dessen Motor die „emotionale Energie“ zwischen Akteuren ist.

5.4

Zur Konstitutionsfunktion von Kriegen

Hat man – wie im Hinblick auf Gewaltphänomene ganz allgemein – auch im Hinblick auf die Entstehung von Kriegen lange nach dem „Warum“, nach den Ursachen von Kriegen gefragt, rückt die konstitutionstheoretische Perspektive die „produktive“ Rolle und Wirkungen von Kriegen in den Vordergrund. Es findet demnach eine Perspektivenverschiebung auf die Konsequenzen kriegerischer Auseinandersetzungen statt. Welchen „Beitrag“ leisten Kriege für gesellschaftlichen Wandel? (Spreen 2010, S. 49–50) Oder anders formuliert, „inwieweit [werden] gesellschaftliche Phänomene, Strukturen, Einheiten und Prozesse substanziell durch das kriegerische Gewaltverhältnis mitbestimmt“ (Spreen 2010, S. 49–50; Hervorhebung im Original)? Dabei liegt die Betonung auf „mitbestimmt“. Denn wie Hans Joas unterstreicht, gehen Konstitutionstheorien von einer Offenheit sozialer Prozesse und von der Kontingenz gesellschaftlicher Entwicklungen aus. Soziale Einheiten – als labile Strukturen und Handlungsverflechtungen verstanden – können sich über Handlungsprozesse stabilisieren, aber sich eben auch verändern.

22

Zum Begriff der Vorwärtspanik vgl. Collins 2011, S. 160–171, 2015, S. 205–206 sowie S. 210–212.

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Zu den konstitutionstheoretischen Ansätzen in der Soziologie zählt Spreen den zu den Innovateuren der Gewaltforschung zählenden Trutz von Trotha, Jens Warburg sowie Hans Joas (vgl. Spreen 2010, S. 57–73). Von Trotha möchte unterschiedliche Ordnungsformen der Gewalt – die „neodespotische Ordnung“, die „Ordnung der vervielfältigten Gewalt“, die „Ordnung der gewalttätigen Verhandlung“, die „wohlfahrtsstaatliche Ordnung“ und die „präventive Sicherheitsordnung“ – phänomenologisch beschreiben (von Trotha und Hanser 2002), wobei er physische Gewalt in den Mittelpunkt stellt. „Neo-Despotismus“ wird nach von Trotha von einer Kultur der Gewalt begleitet. Gewalt sei in diesem Fall nicht Mittel zum Zweck, sondern „Zeichen der Macht, die sich als Macht feiert“ (S. 326). Die Basislegitimität (Popitz) beruht gerade in postkolonialen und neodespotischen Regimen, in welchen Grenzen zwischen alten „Freunden“ (Wir) und „Feinden“ (die jeweiligen Kolonialherren) zunehmend verschwimmen und ethnische Konflikte oft blutig ausgetragen werden, vorrangig auf „siegreicher Gewalt“; sie kann Herrschaftsordnungen herstellen und garantieren. In „Ordnungen der vervielfältigten Gewalt“ findet man – etwa in vielen südamerikanischen Städten – eine ausgeprägte Kultur zur Selbsthilfe: Gewalt als Streit- und Konfliktregelungsform ist „veralltäglicht“ und gleichzeitig „eingegrenzt“, gesellschaftliche Konflikte beruhen vorrangig auf ökonomischer und sozialer Ungleichheit. In der „wohlfahrtsstaatlichen Ordnung“ wird gesellschaftliche Gewalt weitgehend als „soziales Problem“ wahrgenommen, auch wenn es im Hinblick auf das Zulassen und die Akzeptanz gesellschaftlicher Gewalt eine große Variationsbreite in unterschiedlichen Ländern gibt. Die „wohlfahrtsstaatliche Ordnung“ werde durch die „präventive Sicherheitsordnung“ abgelöst, die wiederum durch eine „Kultur der Gewaltnormalisierung“ (Spreen 2010, S. 62) sowie durch eine allmähliche Verschmelzung von Krieg und Kriminalität gekennzeichnet sei. Die von von Trotha beschriebenen Ordnungsformen der Gewalt können auch als „Ordnungsformen des kleinen Krieges“ begriffen werden, die weitgehend auf privatisierter Gewalt beruhen. Diese „neo-hobbesschen Kriege“ sind „Kriege der Niederlagen“ (von Trotha 2003, S. 728), die zwar auf globaler Ebene dysfunktional seien, auf einer regionalen Ebene jedoch durchaus eine strukturierte, gesellschaftliche Ordnung herstellen können, die auf primären Beziehungen und Klientelismus beruht. Für die unterschiedlichen Gewaltformen können wiederum differente Praktiken der Gewaltausübung sowie unterschiedliche Werthaltungen in Bezug auf Gewalt unterschieden werden. Jens Warburg untersucht in seiner Studie zum „Militär und seinen Subjekten“ (2008) unter anderem die Bedeutung von Krieg und kriegerischen Auseinandersetzungen für die „soldatische Subjektkonstitution“. Die Erwartungen, die sich an Soldaten richten, hätten sich mit dem Wandel des Gesichts des Krieges und mit den Transformationen der Streitkräfte im letzten Jahrhundert stark verändert. Damit einher geht, dass auch die Akteure, sprich die Soldaten, neue „Selbstdefinitionen“ ausbildeten, „die ihr Handeln prägten und ihrerseits zu einem Wandel der Formen organisierter Gewaltausübung beitrugen.“ (Warburg 2008, S. 21) So wird vom Soldaten heute erwartet, dass „er nicht nur Kämpfer, sondern auch Polizist, Helfer und Sozialarbeiter sein soll, ausgestattet mit interkultureller Kompetenz, hoher Frustrationstoleranz und Empathiefähigkeit: Wie diese Vorstellungen in einer hoch-

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riskanten und gewalthaltigen Umgebung [. . .] umgesetzt werden sollen, bleibt eine unbeantwortete Frage“ (Spreen 2010, S. 65). Die Bedeutung von Kriegen für die „Entstehung von Werten“ bzw. Wertideen betont Hans Joas (2000). In Anlehnung an Simmel, der die kollektiven Gefühle rund um das sogenannte Augusterlebnis von 1914 als „Erfahrungen der Selbsttranszendenz“ beschrieb, geht Joas davon aus, dass Kriege auch gesellschaftsintegrative Werte konstituieren können. Unterschiedliche Formen von Kriegen und differente gesellschaftliche Rahmenbedingungen „produzieren“ dabei auch unterschiedliche Konsequenzen: Sie können kollektive Wertideen und Legitimationsmuster schwächen oder gar zerstören oder aber diese verstärken (vgl. Spreen 2010, S. 73–74). Gewalt- und Verlusterfahrungen können jedoch auch neue Werte hervorbringen, also eine Wertegenese bedingen.

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Kriege am Beginn des 21. Jahrhunderts

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kalten Krieges wurde zunächst die Hoffnung auf das „definitive Ende der Geschichte als Kriegsgeschichte“ verstärkt. Heute, fast 30 Jahre später, ist die „Perspektive auf die Abschaffung des Krieges – vorläufig jedenfalls – wieder durch die Vorstellung von dessen beständigem Wandel ersetzt worden“ (Münkler 2006, S. 9). Die die Geschichte Europas über viele Jahrhunderte prägenden klassischen Staatenkriege wurden teilweise durch einen neuen Typus des Krieges abgelöst, den der Politologe Herfried Münkler durch eine „weitgehende Entstaatlichung der Akteure“ sowie durch eine „durchgängige Asymmetrierung ihrer Fähigkeiten und Rationalitäten“ (Münkler 2006, S. 9) gekennzeichnet sieht. Der asymmetrische Charakter ist typisch für den low intensity conflict, in dem mindestens eine Konfliktpartei auf einer nicht-staatlichen Ebene verortet und technisch weit unterlegen ist. Es handelt sich dabei meist um Guerillagruppen, Terroristen oder auch Zivilisten. Martin van Creveld schätzt, dass es sich bei gut drei Viertel aller Konflikte seit 1945 um low intensity conflicts handelt, also um Revolutionen, Aufstände, Unruhen, terroristische Aktionen usw. (van Creveld 1998). Heute sind die Mehrzahl der Kriege viele Jahre lang dauernde innerstaatliche Kriege, wo die Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, zwischen Front und Hinterland, auch zwischen Kriegs- und Friedenszeiten nicht eindeutig zu ziehen sind. Während in populären wie auch in wissenschaftlichen Debatten Kriege in der Regel als Ausnahmezustand dargestellt werden, untersucht Teresa Koloma Beck (2012) im Anschluss an phänomenologische und pragmatistische Theorien von Alltäglichkeit und am Beispiel des Bürgerkriegs in Angola (1975–2002) Normalität in kriegerischen Auseinandersetzungen sowie deren Grenzen und Konsequenzen für die jeweiligen Nachkriegsgesellschaften. Wesentliche Gegensätze kennzeichnen die momentane Entwicklung in Kriegsführung und gewaltsamen Konflikten: „Auf der einen Seite gibt es Kriege mit ‚Messern und Macheten‘, auf der anderen futuristisch anmutende Hightech-Kriege. Zwischen diesen Kriegsformen existieren zahlreiche Übergänge und Mischformen,

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in denen etwa ethnisch überformte oder ‚vormoderne Konflikte‘ mit modernsten Waffensystemen ausgetragen werden“ (Herberg-Rothe 2003, S. 10). Die „Siege der Moderne“ erzeugten, wie Ulrich Beck in seinem Buch Weltrisikogesellschaft unterstreicht, eine „Weltgefahrengemeinschaft“, wobei Beck im „clash of risk cultures“, im Zusammenprall kulturell unterschiedlicher Risikowahrnehmungen, ein Grundproblem der Weltpolitik dieses Jahrhunderts sieht. In der Weltrisikogesellschaft kommt es dabei, so Beck, zu einer „Transformation und Pluralisierung des Krieges bzw. der Entstehung, Ausdifferenzierung und Mischung post-kriegerischer Formen organisierter Gewalt“, die sich analytisch danach unterscheiden lassen, welche Ziele, welche Mittel und welche Akteure die entscheidende Rolle spielen: nämlich in „neue Kriege“ oder privatisierte Gewalt, in virtuelle Kriege und in globalisiertes Terrorrisiko (Beck 2007, S. 264). Der Diskurs globaler Sicherheit bestimmt am Beginn des 21. Jahrhunderts, wie Spreen festhält, das „Verhältnis zwischen dem Krieg und modernen, in der Tendenz wohlfahrtsstaatlich verfassten Zivilgesellschaften“ (Spreen 2010, S. 78). Der vom Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) jährlich veröffentlichte „Conflict Barometer“ nennt für das Jahr 2017 385 politische Konflikte, wovon mehr als die Hälfte gewaltsam ausgetragen wurden, sowie 20 Kriege. Der Großteil der „hochgewaltsamen Konflikte“ und die Hälfte aller Kriege weltweit werden in Afrika südlich der Sahara geführt (Conflict Barometer 2017). In weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit ist die Erinnerung an vergangene Feindseligkeiten und an Kriege an sich jedoch verblasst, sie können sich heute für Europa oder die „westliche Welt“ einen Krieg nicht mehr vorstellen. Der Grundkonsens der sich zivilisiert fühlenden öffentlichen Meinung europäischer Staaten, die auch den am Ende des vorigen Jahrhunderts in Europa geführten Balkankrieg fast schon wieder vergessen hat, ist pazifistisch und rubriziert die blutigen Geschehnisse in der Ostukraine, in Afrika, dem Vorderen Orient, in Afghanistan und überall sonst als „irrational“ (Haring und Kuzmics 2008, S. 9–10). In Fernsehen, Radio und diversen Zeitungen hört und sieht man tagtäglich Berichte über gewalttätige Konflikte; mittels embedded journalists, also kontrollierten und zivilen, im Krieg einer kämpfenden Militäreinheit zugewiesenen Kriegsberichterstattern, ist man seit dem Irakkrieg „live“ an aktuellen Kriegsschauplätzen dabei. Gleichzeitig scheinen jedoch militärische und zivile Sinn- und Wertewelten zunehmend auseinanderzudriften. Für die meisten Angehörigen der nicht-militarisierten Gesellschaften bleibt der Krieg ein entferntes, durch die Medien mitgeteiltes Phänomen (Warburg 2008, S. 326).

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Zusammenfassende Schlussbemerkung

Gewalt und Krieg aus einer kultursoziologischen Perspektive in einem Handbuchartikel zu beleuchten, verlangt von der Autorin, Auswahlentscheidungen zu treffen: und zwar sowohl im Hinblick auf die Darstellung unterschiedlicher Positionen als auch im Hinblick auf die Auswahl bestimmter Autorinnen und Autoren. Die dem Beitrag zugrundeliegende Struktur, die sich in vier Ebenen darstellen lässt, soll an dieser Stelle nochmals kurz zusammenfasst werden: Auf Ebene 1 rückt

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die kultursoziologische Betrachtung kulturelle Aspekte des Gewalthandelns selbst bzw. der individuellen und kollektiven Gewaltausübung in den Vordergrund (vgl. Abschn. 2 und 3). Hier werden Fragen nach der Rolle kultureller Wertorientierungen und -vorstellungen für die Ausübung von Gewalt, den kulturellen Praktiken, die sich unter anderem mithilfe dichter Beschreibungen phänomenologisch nachzeichnen lassen, und den kulturellen Legitimierungsstrategien, die die individuellen und kollektiven Akteure, die Gewalt ausüben, anwenden, verhandelt. Ebene 2 fragt nach dem Ort von Gewalt in der Kulturgeschichte der Menschen und diskutiert das Verhältnis von Gewalt und Kultur der Moderne vor dem Hintergrund unterschiedlicher soziologischer Makro-Theorien und zentraler, das moderne Zeitalter analysierender Soziologen (Abschn. 4). Ebene 3 rückt nun den Krieg als spezifische Form von kollektiver Gewalt in den Fokus und zeichnet die unterschiedlichen Perspektiven, die das Verhältnis von Krieg und Kultur beleuchten, nach: Kulturelle Grenzziehungen und der Krieg um Werte sowie die Rolle von kriegerischen Auseinandersetzungen in vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaften wurden mithilfe unterschiedlicher kultursoziologischer Positionen und historisch-soziologischer Analysen nachgezeichnet (Abschn. 5 und 6). Auf Ebene 4 schließlich wurde in allen Kapiteln eher implizit als explizit darauf hingewiesen, dass soziologische Konzepte sowohl einer Gewaltanalyse im engeren Sinne als auch einer Kultur- oder Zivilisationsgeschichte, die Gewalt und Krieg stark thematisiert, im weiteren Sinne als Ausdruck spezifischer gesellschaftlicher und kultureller Kontexte begriffen werden und wissenssoziologisch untersucht werden müssen. Denn die soziologische Betrachtung und Analyse von Gewalt und Krieg unterliegen selbst spezifischen kulturellen Rahmungen und Deutungen, die zum einen eher zu einer Marginalisierung und zum anderen eher zu einer Betonung von Gewaltphänomenen und Kriegen innerhalb von wissenschaftlichen Diskursen und Abhandlungen führen können.

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Globalisierung aus kultursoziologischer Perspektive Manfred Prisching

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Phänomene der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zwischen Sachzwängen und Verschwörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Weltkulturelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Wirtschaftskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Politische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kulturelle Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Globale Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Strukturelle Segmentierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Kulturelle Synkretismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Identitäten und Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Globalisierung ist eine der beherrschenden Tendenzen unserer Zeit. Sie spielt sich nicht nur über den Köpfen der Menschen ab, sondern dringt auch in deren Lebensalltag ein. Während eine gewisse Neigung besteht, Globalisierung als Sache der Konzerne und der Wirtschaftsverflechtungen, der Kommunikationsnetze, des Tourismus und der geopolitischen Strategien zu sehen, ist doch die kulturelle Globalisierung eines jener Phänomene, die nicht nur im eigentlich kulturellen Bereich wirksam sind, sondern auch andere Teilsysteme – wie Wirtschaft und Politik – durchwirken. Wenn man allerdings die einzelnen Befunde näher betrachtet, so findet man ganz unterschiedliche Verhältnisse: Synkretismen ebenso wie Segmentierungen, Konvergenzen ebenso wie Abgrenzungen, Ideen

M. Prisching (*) Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_27

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und Praktiken, Ideologien und technische Wirkkräfte. In der allseitigen Interdependenz mag schon so etwas wie eine Weltgesellschaft entstehen, doch diese ist intern differenziert, heterogen, konflikthaft. Schlüsselwörter

Globalisierung · Weltkultur · Wirtschaftskultur · Politikkultur · Migration · Identität · Weltgesellschaft

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Einleitung

Globalisierung ist, wie zuweilen vermerkt wird, das „Klischee unserer Zeit“ (auch wenn die erste Welle von Wahrnehmungen, Theoretisierungen und Analysen seit den achtziger Jahren bereits wieder abgeflaut, also eine gewisse Gewöhnung an den Sachverhalt eingetreten ist).1 Mit dem Begriff der Globalisierung werden oft alle Phänomene der Spätmoderne verknüpft, nicht immer werden davon der Fortgang der Modernisierung oder die Expansion des Kapitalismus unterschieden. Jedenfalls lässt sich kaum noch etwas erklären, ohne die globale Perspektive zu berücksichtigen, denn „global“ ist vieles geworden – es handelt sich um grenzüberschreitende Ströme von Gütern und Kapital, von Arbeitskräften und Touristen, von Rechtsregeln und Moden, von Informationen, Sprachen und Texten, von Bildern und Praktiken, von Filmen und Stars, von Technologien und Lebensstilen; aber auch von Terror und Gewalt, von Korruption und Kriminalität, von Menschenhandel und Prostitution; und dass die Verschmutzung der Meere, Emissionen und Klimawandel zu den großen Problemen gehören, welche die ganze Menschheit betreffen, ist seit Längerem klar. In prägnanten Formulierungen wurde gesagt: Globalisierung bedeute die „Aufhebung von Raum und Zeit“; das „globale Dorf“; das „Verschwinden der Distanz“; einen Wandel „from solids to flows“ (Ritzer 2009, S. 4). Die „Erde wird flach“ (Friedman 2008). Globalisierung scheint die „große neue Erzählung“ zu sein, zu deren wichtigen Schlagworten etwa „Multikulturalismus“ und „Kosmopolitismus“ (Beck und Grande 2005) oder die globale „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2004) zählen. Wir sind vielleicht schon in der „Weltgesellschaft“ gelandet (Beck 1998; Albert 2002; Becker 2005; Heintz et al. 2005), vielleicht auch in der „McWorld“ (Barber 1995) oder in der „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 2011). Globalisierung muss nicht immer den ganzen Globus erfassen, sie kann aber definiert werden „als die Verschiebung der Grenzen von verdichteten sozialen Handlungszusammenhängen – als derjenigen Orte, an deren Grenzen eine signifikante Reduktion in der Häufigkeit und Intensität einer gegebenen Interaktion auftritt – jenseits der Grenzen von nationalen Gesellschaften, ohne gleich global sein zu müssen.“ (Zürn 1997, S. 342) In jedem Falle werden die bisherigen Größenordnungen

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Für einen Überblick siehe Friedman 1999; Beck 1997; Schmidt und Trinczek 1999; Giddens 2004; Greider 1998; Stiglitz 2002; Steger 2003; Fäßler 2007; Koller 2006; Leggewie 2003; Müller 2002; Prisching 2002; Ritzer 2009.

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überschritten, es kommt in Kontakt, wird verflochten oder wächst zusammen, was vorher getrennt war. Globalisierung ist (1) ein Wahrnehmungsphänomen: Die Welt wird (in reziproker Weise) „sichtbar“. Alle sehen alles. Dies war schon über das Fernsehen der Fall, erst recht über die elektronische Vernetzung der Welt. Man sieht in Indien: Europäer essen Kühe. Man merkt in Deutschland: Amerikaner sind anders. Man nimmt in Nigeria wahr: Die Welt ist nicht überall so wie „zu Hause“; sie ist andernorts viel schöner – und diese „Sichtbarkeit“ ist der entscheidende Impuls für die neuen Migrationsbewegungen. (2) ein Interaktionsphänomen: Immer mehr Interaktionen gehen über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus. Das sind nicht nur Güter und Dienstleistungen, sondern auch Bilder, Moden, Kriminalfilme, Speisen, Musik und vieles andere – und sie beeinflussen einander. Bestimmte Gewohnheiten oder Praktiken (Essen, Freizeitverbringung, Information) werden übernommen oder modifizieren bisherige Handlungsweisen. Kulturen von Lebensräumen sind nicht mehr auf lokale Ressourcen und Traditionen beschränkt. Der globale Massentourismus vermittelt nicht nur Kenntnisse über andere Lebensweisen, er übt auch ökonomischen Druck (in Richtung einer attraktiven und adaptiven Bereitstellung von Gütern und Diensten nach globalisierten Praktiken) aus. Wenn sich (3) diese Interaktionen verfestigen, wird daraus ein Verflechtungsphänomen. Staaten (als die bisher dominierenden Akteure auf der internationalen Szene) können nicht mehr als autonome „Einheiten“ betrachtet werden, zumindest sind Dimensionen und Intensitäten von staatlicher Unabhängigkeit im Abnehmen und der klassische Begriff der Souveränität wird fragwürdig. In der Weltwirtschaftskrise haben sich alle Staaten – gewissermaßen solidarisch – gefürchtet, sogar die ansonsten einander feindselig betrachtenden. Die Vielfalt der Globalisierungsphänomene lässt sich kaum eingrenzen, und die Beschränkung auf „kulturelle Globalisierung“ hilft dabei nicht viel. Einerseits ist die Kultursoziologie selbst zu einer umfassenden Perspektive geworden, weil sie sich nicht nur mit Kunst und Mode, Literatur und Film befasst, sondern als Grundlage der Gesellschaftsanalyse schlechthin dient; andererseits sind aktuelle kulturelle Phänomene (auch wenn sie nach Ort und Zeit bestimmbar sind) nicht mehr hinlänglich zu analysieren, wenn man den globalen Kontext außer Acht lässt.

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Phänomene der Globalisierung

Die wirtschaftlichen Verflechtungen engen die Spielräume der Staaten ein, eine Unzahl von internationalen und supranationalen Organisationen und Verträgen lässt ein Ausscheren einzelner Staaten gar nicht zu, Touristen reisen um die Welt, Schadstoffe beachten keine Grenzen, McDonald’s ist überall, und terroristische Bedrohungen gibt es auf der ganzen Welt. Das Geschäft der Steuerhinterziehung großer Konzerne ist längst global geworden, so wie Mafia-Organisationen oder der Menschenhandel. Diese Welt wird in den global cities (Sassen 1996a, b) gesteuert, durch das Netzwerk großer Städte und Metropolen – sofern man überhaupt von „Steuerung“ sprechen kann. Globalisierung ist: Erdbeeren kaufen im Winter; Moscheen in Europa; CNN; Sushi essen; Kiwi mögen; den neuesten Hollywood-Blockbuster anschauen; das

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neue Samsung Galaxy kaufen; Halloween; T-Shirts aus der Dritten Welt anziehen; im McCafé einkehren; in Google suchen; in ein Resort nach Thailand fliegen; bei der Oscarverleihung zuschauen etc. Etwas abstrakter sind Vernetzungsphänomene wie die folgenden: Transnationale Organisationen regulieren nationale Verfahren, zum Beispiel im Wirtschaftsrecht. Kulturelle Ausdrucksformen werden universalisiert, ebenso geistige Formen des Denkens und Erlebens. Jazz mischt sich mit afrikanischer Folklore. Weltweite Migrationsbewegungen bringen den Polykulturalismus in den Alltag. Elektronik kommt aus Südasien und Callcenter sitzen in Indien. Globalisierung ist Selbstverständlichkeit und Allgegenwärtigkeit. Denn auch wenn wir Migrationsbewegungen in abstrakten Statistiken und Landkarten erfassen – die Menschen leben jeweils vor Ort, und dort werden konkrete Formen der Globalisierung spürbar und sichtbar, in Form von Menschen, Gütern, Bildern und anderen Phänomenen. Der Beginn der Globalisierung war wohl in grauer Vorzeit die Wanderung der Vorfahren out of Africa; dann die europäisch-asiatische Völkerwanderung um 500 n. Chr.; die Erkundungsfahrten der europäischen Mächte rund um 1500; der Ausbau einzelner Handelsrouten in den Fernen Osten; die voranschreitende Entdeckung und Eroberung der Welt durch die europäischen Staaten; die menschheitsuniversalen Ideen der Aufklärung; die Intensivierung von Industrialisierung und Welthandel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Verlegung von Telegrafenkabeln, die Organisierung des Postwesens, die Gründung internationaler Organisationen; nach den Rückschlägen am Ende des 19. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit setzte aber die „eigentliche“ Globalisierung im letzten halben Jahrhundert ein. Dazwischen gab es noch die ersten „Weltkriege“, die man mit Recht als solche bezeichnen kann (Osterhammel und Petersson 2007). In der Spätmoderne ist jedenfalls eine neue Quantität (Reichweite: die entferntesten Orte werden erreicht) und Qualität (Wirksamkeit in das alltägliche Leben hinein) der Globalität erreicht, durch gesunkene Transport- und Kommunikationskosten, durch die elektronischen Netze, durch weltweite Zulieferprozesse und Produktionsverlagerungen, durch die ständige mediale Beobachtbarkeit der ganzen Welt – eine neue Phase der Zivilisation, neue Logiken der Entwicklung, nicht nur über den Köpfen, sondern mit Folgen für das Handeln aller Menschen. In der Praxis wird Globalisierung allerdings auch als Schlagwort benutzt, auf das viele dürftig verstandene oder schlecht verstehbare Entwicklungen projiziert werden können. Optimisten sehen die unglaubliche Chance, die ganze Welt für alle zugänglich zu machen; Pessimisten deuten sie als ein Phänomen, das an allem schuld ist, was unerfreulich ist in dieser Welt. Die faktischen Veränderungen beeinflussen auch Wahrnehmungen und Denkweisen (Safranski 2003), denn Globalisierung bedeutet ständige „kognitive und normative Kontamination“.

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Zwischen Sachzwängen und Verschwörungen

Einigkeit über die Globalisierungswirkungen besteht nicht, denn spezifische Weltsichten und ideologische Vorannahmen dominieren. Kritiker sind oft Verschwörungstheoretiker: Die Weltbank, die WTO, die transnationalen Konzerne wollten

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die Globalisierung, sie trachteten danach, ihre Herrschaft zu stärken, sie nähmen auch die Verschlechterung von Lebensbedingungen für viele Menschen in Kauf. Tatsächlich hat die Globalisierung ihre Schattenseiten: Der europäische Wohlfahrtsstaat, ja alle öffentlichen Güter geraten unter Druck, ebenso wie die unqualifizierte Arbeit. Das ist das Wesen eines einheitlichen Marktes. Das Finanzkapital erhält Bewegungsfreiheit. Von offenen Grenzen profitieren auch die organisierte Kriminalität und der Terrorismus. Apokalyptiker (Altvater und Mahnkopf 1996; Klein 2001; Martin und Schumann 1996) fassen alle Vorwürfe, die bis vor einiger Zeit dem „Spätkapitalismus“ angelastet wurden, unter den Begriff der Globalisierung. Bei allen Vorwürfen bleibt jedoch ungeklärt, was von den (spät-)modernen Erscheinungen dem Fortschreiten des Modernisierungsprozesses, was dem entwickelten Kapitalismus, was der neuen technischen Welt und was einer schlechten Politik zuzurechnen ist. Die anderen sind die Sachzwangtheoretiker. Für sie werden durch Globalisierung alle von der weiten Welt gebotenen Chancen zugänglich, eine Auffassung, die nicht zuletzt von neoliberalem Marktvertrauen getragen wird. Geringere Transportkosten und neue technische Kommunikationsmöglichkeiten ermöglichen Mobilität: einen echten „Weltmarkt“. Tatsächlich wurde im globalen Maßstab der Lebensstandard der Massen verbessert, die meisten Menschen leben länger und gesünder. Wie internationale Organisationen melden, schrumpft die Ungleichheit zwischen den Ländern, gleichwohl steigt die Ungleichheit innerhalb vieler Länder. Verbraucher in aller Welt können sich über billigere Güter freuen (was die Konsummentalitäten anheizt); aber wer nicht reagiert, wer sich nicht öffnet und anpasst, der verliert, denn das Tempo der Veränderungen hat sich beschleunigt. Sicher ist jedenfalls: Es gibt keinen Weg zurück, der nicht katastrophische Begleitumstände aufwiese. Nur ein paar Visionäre denken an eine neue small is beautiful-Variante, indem sie nach dem Durchgang durch die Globalisierung eine erwünschte Wiederkehr zur „neotribalistischen Segmentierung“ in Aussicht stellen (Maffesoli 1996).

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Weltkulturelemente

Vorstellungen von der durch Globalisierung bewirkten Zerstörung oder Aushöhlung einer Kultur gründen auf dem Verständnis, dass Kulturen weitgehend in sich geschlossene, einheitliche Gebilde sind, die an Orte und Menschen gebunden sind; doch solche authentischen Kulturen stellen eine Fiktion dar, weil sie niemals in reiner Form bestehen und immer durch Austauschverhältnisse beeinflusst werden. Allerdings gibt es gute Gründe für kulturelle Unterscheidungen: Der französische Film ist nun einmal anders als der amerikanische; eine finnische Mentalität mag sich von der italienischen unterscheiden, die russische Weltsicht von der deutschen. Obwohl es so etwas wie einen (historisch gewordenen) „Nationalcharakter“ (Kuzmics und Axtmann 2000) geben mag, ist unser Bild von der Welt von (oft unbewussten) „Hintergründen“ geprägt. So ist etwa der Begriff des „Westens“ oder der „westlichen Welt“ zunächst als „Abendland“ gegen das „Morgenland“, gegen den

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muslimischen „Orient“ und gegen den osmanischen Eroberungsdruck gestellt worden; später dann gegen den Sowjetkommunismus; schließlich neuerdings gegen den „Islamismus“ (Osterhammel 2011, S. 143). Dahinter liegen in alter Zeit noch antike Kosmologien, in neuerer Zeit Gefühle transatlantischer Partnerschaft, und die Berufung auf „europäische Werte“ oder auf die „jüdisch-christliche Zivilisation“ ist aktuelles Ergebnis situativer Selbstbesinnung in Anbetracht einer neuen Flüchtlingssituation. Es ist strittig, inwieweit es (bereits) eine „Globalkultur“ gibt; ohne Zweifel scheint es so etwas wie eine (westlich geprägte) globale Referenzkultur zu geben, die (je nach Region und je nach Sachverhalt) auf unterschiedliche Weise auf globale Verhältnisse einwirkt. Dazu haben seinerzeit, nachdem europäische Länder fast die ganze Welt erobert hatten, bestimmte zivilisatorische Elemente gezählt, die von den Kolonialmächten übernommen wurden; heute zählen zu solchen globalen Elementen etwa Schönheitsideale, das westliche Händeschütteln, Soap Operas oder die Formatierung von Nachrichtensendungen. Komplexer sind die in der Folge zu besprechenden Elemente einer Wirtschaftskultur, einer politischen Kultur oder kultureller Praktiken.

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Wirtschaftskultur

Im Hinblick auf Wirtschaftssysteme war das 20. Jahrhundert geprägt von der Differenz zwischen Marktwirtschaft/Kapitalismus und Planwirtschaft/Kommunismus. Erst mit der Abschwächung dieses Gegensatzes wurde der Blick frei auf differente Konfigurationen innerhalb des „kapitalistischen Weltsystems“ – und damit kamen auch Perspektiven von Wirtschaftsstil und Wirtschaftskultur in den Blick (Klump 1996). Im einfachsten Fall war es der Unterschied zwischen dem amerikanischen Kapitalismus und dem europäischen Modell (Albert 1992), genauere Unterscheidungen hat die varieties of capitalism-Forschung (Hall und Soskice 2001; Esping-Andersen 1990; Berghahn und Vitols 2006) getroffen. Wirtschaftskultur ist die Gesamtheit aller kognitiven, normativen und emotionalen Einstellungen bezüglich wirtschaftlicher Sachverhalte. Die Globalisierung der Wirtschaft, die nach Auffassung von Immanuel Wallerstein zu einem asymmetrischen „Weltsystem“ (Wallerstein 2004) herangewachsen ist, wird oft an „harten“ Indikatoren abgelesen: Kapital- und Bahnverkehr, Mobilität von Arbeitskräften und anderen Personen, Transportverhältnisse, Kommunikation; die Verfügbarkeit globaler Güter, die Konzentration des Kapitals, transnationale Konzerne, internationales Wirtschaftsrecht und dergleichen. Die Universalisierung der westlichen Wirtschaftsordnung, teilweise auch der westlichen Wirtschaftskultur (Berghoff und Vogel 2004), hat ein kapitalistisch-marktwirtschaftliches System in beinahe allen Ländern als reichtumsschaffende Ordnung plausibel werden lassen, selbst in den residualen Ländern, die sich als kommunistische oder sozialistische verstehen; und als Trägerschicht dieser Globalisierung wird die „Davos-Kultur“ gesehen. Die klassische Modernisierungstheorie (Flora 1974; Wehler 1975; Zapf 1979) hätte nicht nur einen bestimmten Pfad für diese Entwicklung vorausgesagt,

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sondern auch einen engen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Elementen einer Gesellschaft als Vorbedingung für einen erfolgreichen Weg in die Moderne angenommen. Die in den sechziger Jahren in Lateinamerika entstandene Dependenztheorie hingegen hat die hierarchische Abhängigkeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern betont und eine automatische Konvergenz bestritten (Cardoso und Faletto 1976; Frank 1968), sodass die anhaltende Unterentwicklung des afrikanischen und lateinamerikanischen Raums nicht durch interne politische Verhältnisse, sondern durch die Außenhandelsbedingungen (wahlweise auch: durch die Spätwirkungen früherer kolonialistischer Herrschaftsstrukturen) verursacht sei.2 Die Weltsystemtheorie Wallersteins hat ein vielfältigeres kapitalistisches Weltsystem beschrieben, das sich in Länder gliedert, die dem Kern oder Zentrum, der Semi-Peripherie oder der Peripherie zuzurechnen sind; daraus entwickelt sich eine hierarchische Ordnung der Weltgesellschaft mit einer spezifischen Arbeitsteilung (Wallerstein 2004). Ulrich Menzel hat in einer scharfsinnigen Analyse vom Scheitern der Entwicklungshilfe und der großen Entwicklungstheorien gesprochen (Menzel 1992), schon in den frühen neunziger Jahren, als man noch den raschen Triumph einer marktwirtschaftlichen Dynamik auf der ganzen Welt erwartete. Es haben sich, entgegen diesen Konvergenzerwartungen, verschiedene Varianten eines autoritären, etatistischen, korrupten und hierarchischen Kapitalismus herausgebildet. Die Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere in Ostasien, haben (1) zu Überlegungen darüber geführt, was Äquivalente zur „protestantischen Ethik“ Max Webers in anderen Kontinenten sein könnten (denn für den rasanten Aufschwung der „Tigerstaaten“ und des chinesischen Imperiums kann diese offensichtlich keine Rolle gespielt haben), (2) zu Überlegungen über „multiple Modernen“ und ihre Spielräume (Eisenstadt 2000) (denn erfolgreiche Entwicklungen haben Unterschiede gegenüber dem europäischen Modell aufgewiesen, sodass es offenbar nicht nur das europäische Modernisierungsmodell gibt); und (3) zu Spekulationen über zusätzliche historische Voraussetzungen einer westlichen Form des Kapitalismus: Warum war Europa so erfolgreich? (Jones 1991; Diamond 1997; Robinson und Wiegandt 2008; Osterhammel 2011) Denn seit dem Beginn der Neuzeit ist Europa, allen Indikatoren zufolge, in seiner Entwicklung dem Rest der Welt „davongezogen“, und dies ist im Hinblick auf die vor Europa weit höher entwickelte arabische und chinesische Zivilisation erklärungsbedürftig. Es sind nicht nur geografische und klimatische Begünstigungen (Diamond 1997; Sachs 2004), nicht nur die (wettbewerbsfreundliche) politische Fragmentierung der vergleichsweise kleinen europäischen Halbinsel, nicht nur zufällige Ereignisse; letzten Endes meinen die meisten Forscher, dass die europäischen Innovationen und Dynamiken auf ein eigentümliches Zusammentreffen von kulturellen Entwicklungen zurückzuführen sind. Es

Allerdings lässt sich der erfolgreiche Weg der unterentwickelten südostasiatischen „Tigerstaaten“ dann nur schwer erklären; und die Plausibilität der Erklärung, dass man vor achtzig Jahren einmal unter kolonialer Besatzung zu leiden hatte und deshalb heutzutage kein leistungsfähiges politisches System errichten könne, nimmt mit dem Voranschreiten der Zeit ab.

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scheint viel für den Titel eines Buches von Lawrence E. Harrison (Harrison 1985) zu sprechen: Underdevelopment is a State of Mind (Grondona 2004). Oder für die präzise Aussage im Titel zweier anderer Bücher: Culture Matters (Huntington und Harrison 2000) und A Culture of Growth (Mokyr 2016).

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Politische Kultur

Politische Kultur ist die Summe der Einstellungen, Meinungen und Wertorientierungen einer Bevölkerung, die sich auf politische Sachverhalte beziehen (Almond und Verba 1963; Westle und Gabriel 2009). Globalisierung heißt dann: Verbreitung des (europäischen) demokratischen Modells (Huntington 1991; Fukuyama 1992). Es weist jedoch (innerhalb und außerhalb Europas) die unterschiedlichsten Varianten, bis hin zur reinen „Fassaden-Demokratie“ (Höffe 1999; Crouch 2004; Klingemann und Neidhardt 2000), auf. Gleichzeitig wird aber auf den Niedergang souveräner Staaten (Zürn 1997, 2005; Castles 2007) und auf den Bedeutungszuwachs internationaler Rechtsmaterien und internationaler Organisationen, insbesondere von Nichtregierungsorganisationen, hingewiesen: Stärkere globale Verflochtenheit reduziert zwangsläufig Autonomie und Souveränität. „Humanitäre Interventionen“ korrigieren die souveränitätsbegründende Westfälische Ordnung. – Die Stabilität demokratischer Ordnungen ist jedoch nicht nur von der Etablierung bestimmter Regelsysteme (oder von der Abhaltung von Wahlen) abhängig, sondern auch von den Besonderheiten einer „politischen Kultur“, die ihrerseits wieder in allgemeine kulturelle Verhältnisse eingebettet ist. Edward Banfield und Robert Putnam haben beispielsweise die für leistungsfähige Gesellschaften eminente Bedeutung von allgemeinen geistigen Dispositionen wie Vertrauen, Mäßigung und Kompromissbereitschaft überzeugend herausgearbeitet (Banfield 1958; Putnam et al. 1993). Generell wird in vergleichenden Studien auf wesentliche kulturelle Voraussetzungen politisch erfolgreicher Gesellschaften hingewiesen: Rationalität, Kleinfamilie, soziale Mobilität, Rechtsstaatlichkeit, Universalismus; und auf Hemmnisse wie: amoralischer Familismus und Partikularismus, etatistischer Kommunitarismus, religiöse Hierarchien, Patrimonialismus, Korruption. Nationen, Gruppierungen und Bewegungen sind nicht nur allemal imagined communities (Anderson 1991), sie werden als nationale Einheiten in vielen Situationen auch politisch-strategisch aufgebaut oder geschaffen: mittels eines strategischen Klientelismus, durch bewusste Konstruktion einer übergreifenden und emotionell massenwirksamen „nationalen Identität“, als Bewegung gegen eine marktwirtschaftliche Modernisierung (Hobsbawm und Ranger 1983). Ob in China oder in der Türkei, in Russland oder in Osteuropa, autoritäre Regime setzen auf Patriotismus und Nationalismus, auf die „Tiefe“ der eigenen Geschichte, auf die „Seele“ des Volkes oder die eigenständigen „Werte“, um mit diesen emotionellen Komponenten eine Art von „Gemeinschaftlichkeit“ zu erzeugen. In europäischen Ländern wird die im 19. Jahrhundert stattgefundene „Nationalisierung der Kulturen“ dadurch irritiert, dass die zunehmende global-kulturelle Gemengelage, in der neue

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Migrationsprozesse als Katalysator des Unbehagens wirken, Identitätsprobleme aufwirft. Internationale Vergleiche und Statistiken bleiben deshalb problematisch, weil sich hinter den (institutionellen) Ähnlichkeiten oft relevante Unterschiede, unterschiedliche Ausprägungen des politischen Bewusstseins, verbergen, die auch für den Rückschlag der letzten Jahre gegenüber den demokratieoptimistischen neunziger Jahren (Huntington 1993) verantwortlich gemacht werden. Dass bestimmte Bewegungen der islamischen Welt sich mit einem heutzutage pazifistischen Christentum nicht arrangieren wollen, ist offensichtlich. Es gibt auch antiliberal-antidemokratische Gegenbewegungen von großer Wirkungsmacht (Benhabib 2014), die allenfalls auch die Gültigkeit zentraler Elemente des europäischen Denkens (wie etwa der Menschenrechte) bestreiten (Benhabib 2016). Allerdings kommt Ulrich Menzel in seiner groß angelegten Studie zu dem Schluss: „Erst seitdem China ab 1978 seine letzte Selbstisolation aufgegeben hat und vor allem seit der großen Wende des Jahres 1990 hat die Pax Americana wirklich globale Reichweite, kann erstmals in der Weltgeschichte auch von einem globalen Weltsystem gesprochen werden. Ob darin die USA ab etwa 2035 von China und womöglich China eines künftigen Tages von Indien als Ordnungsmacht abgelöst wird oder ob eine Rückkehr zur Anarchie der Staatenwelt das Resultat eines möglichen Hegemonialkonflikts zwischen den USA und China ist, wird man sehen. Bis dahin bildet die Pax Americana die Ordnung der Welt.“ (Menzel 2015, S. 1138) Diese beruht aber teilweise auf soft power, auf kulturellem Einfluss.

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Kulturelle Elemente

Schon in der Ära von Herder, Schlegel und Goethe taucht der Begriff der „Weltliteratur“ auf, als Produkt der Aufklärung und eines neuen universellen Denkens, damit verbunden auch der Begriff des „Weltbürgertums“ (Thielking 2000). Diese Bestrebungen kollidierten mit dem im 19. Jahrhundert wachsenden Nationalismus, mit dem sich das Interesse an Nationalliteratur und Nationalkultur verband. Dennoch weitete sich die Idee bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auch auf Musik und bildende Kunst aus, nicht zuletzt gefördert durch die Entwicklung von Speicher-, Wiedergabe- und Reproduziertechniken (Wagner 2002). Kulturelle Elemente wurden, bis zur Gegenwart in zunehmend intensiverer Weise, durch Migranten und Touristen transportiert, vor allem aber durch die weltweit zugänglichen Massenmedien sowie neuerdings durch die elektronischen Netze. Der Blick auf „kulturelle Globalisierung“ im neueren Sinn (Senghaas 2002) oder auf „Hyperkulturalität“ (Han 2005) ist oft durch die Vermutung geprägt gewesen, dass es durch zunehmende Interaktionen zu einer Vereinheitlichung der Kulturen kommen werde, etwa im Sinne von George Ritzers „McDonaldisierung“ (Ritzer 1993). Ritzer verwendet den Begriff als Chiffre dafür, dass sich standardisierte und effiziente Verfahrensweisen und Module nicht nur bei der Produktion der einschlägigen Speisen, sondern auch anderswo durchsetzen werden: bei standardisierten Motels und Hotels ebenso wie bei Universitätskursen, die (angetrieben durch Ange-

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bote der elektronischen Welt und stärkere Mobilität) Tendenzen zu einer globalen Standardisierung aufweisen. Offenkundige kulturelle Globalisierung hat sich im weiten Feld der Populärkultur vollzogen: Überall weiß man Bescheid über James Bond und die Biennale von Venedig, über die großen Filmstars und die berühmten Designer (Tomlinson 1999). Fernsehen, das leicht zu konsumieren ist, prägt Meinungen und Stile. Prägend für die globale Vernetzung sind aber immer mehr elektronische Netze und soziale Netzwerke. Der Blick über die Grenzen wird aber auch in spezifischen Politikfeldern wirksam: Während man bislang das nationale Bildungssystem im Kontext eigener Erfahrungen beurteilt hat, setzen (etwa im PISA-Projekt) internationale Vergleiche die neuen Standards. Die Unterhaltungsindustrie ist zu einer wesentlichen Vermittlungsinstanz von Lebensweisen und Weltbildern geworden, insbesondere für Jugendliche stellt sie eine wichtige Orientierungsquelle dar. Im Segment der Mode gibt es einen großen Bereich globaler Vereinheitlichung; aber auch in den ästhetischen Idealen stecken kulturelle Besonderheiten, Lebenseinstellungen und Wertvorstellungen. Solche Ideale werden transportiert durch Pop-Stars und Sportveranstaltungen, durch Massenmedien und Modehandelsketten. H&M hat (2013) mehr als 3000 Filialen in 53 Ländern und 132.000 Mitarbeiter. IKEA hat (2014) fast 150.000 Mitarbeiter in 44 Ländern – und der IKEA-Katalog, gedruckt in 220 Millionen Stück, ist das auflagenstärkste Druck-Erzeugnis der Gegenwart. Auch für den kulturellen Markt im engeren Sinn, also für die Kulturindustrie, gilt, dass es transnationale und multinationale Konzerne sind, die Weltkultur vermarkten. Ein Homogenitätsverdacht darf allerdings nicht allzu schnell geäußert werden, denn alle kulturellen Produkte, auch jene der Massenkultur, sind mehrdeutig und unterliegen verschiedenen Rezeptionsweisen. Es ist eine „Zivilisationsökumene“ (Lübbe 2005) mit internen Differenzierungen. Die postkoloniale Theorie hat sich auf die Beschreibung kultureller Mischungsverhältnisse spezialisiert, und sie hat ihren Anstoß in den Ländern gefunden, die den kolonialen Status verlassen haben (Bhabha et al. 2000; Said 1995). Das Denken der Menschen fand sich nach dem Rückzug der europäischen Kolonialherren von den verschiedensten Elementen geprägt: von der eigenen vorkolonialen Tradition, von den Erfahrungen aus der Kolonialzeit (über Sprache, Wissenschaft, Religion, Administration), von späteren Wahrnehmungen über Unterdrückung und Widerstand, Migration und Geschlecht – aber alle diese Elemente waren überformt, neu interpretiert, umgeprägt, teilweise neu geschaffen. Während die neuen Staaten in Asien und Afrika ihre unabhängige kulturelle Identität betonten, drangen alternative kulturelle Elemente aus aller Welt immer stärker in die westliche Kultur ein. Manchmal wird hinsichtlich dieser Vermischungsprozesse von „Synkretismus“, „Kreolisierung“ oder „Hybridisierung“ gesprochen (Leggewie 2000). Konkrete Fallanalysen zeigen immer wieder, wie Globalisierung durch Lokalisierung beantwortet wird, wie kulturelle Konformisierung durch oppositionelle Akzentuierung konterkariert wird, wie Universalismus und Partikularismus, Homogenisierung und Heterogenisierung einander bedingen. – Für die westliche Welt überlagern sich zwei Prozesse: einerseits der eigendynamische Prozess einer fortschreitenden Pluralisierung und Liquidisierung der Kultur (Bauman 2000), andererseits der durch Globalisierung ausge-

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löste Prozess der Diffundierung außereuropäischer Kulturelemente. Die Überlegung wäre nicht unberechtigt, ob eine solche Erfahrung im Zuge fortgesetzter Globalisierung nicht zu einem generellen Problem für spätmoderne Gesellschaften werden könnte, die über die unterschiedlichsten Prozesse mit der Kultur der ganzen Welt verknüpft sind. Alle treten ein in einen „postkolonialen“ Bewusstseinszustand.3

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Globale Praktiken

Wenn man (mit der Frage nach dem Sinn und der Legitimation von Institutionalisierungen) in das alltägliche Leben schaut, stößt man auf die zunehmende Hervorbringung von vergleichsweise einheitlichen Modellen bestimmter Institutionen und Handlungen (Meyer und Krücken 2005). Die großen Hotels erlebt man auf der ganzen Welt in gleicher Weise. „Netiquette“ wird global. Ein einheitliches Demokratie-Modell hat sich entwickelt, trotz unterschiedlicher Konfigurationen: Dazu gehören Parlamente und Wahlen, Gerichtshöfe und Verwaltung, Aufgaben im Bereich der Wohlfahrt und Gesundheit, Systeme von Bildung und Wissenschaft usw. (Schriewer 2007) Die englische Sprache wird zur Weltsprache, und andere Sprachen übernehmen Teile des Vokabulars und der Struktur in die jeweils eigene Sprache. Verhalten wird abgebildet in einheitlich ausgestalteten internationalen Statistiken, es wird geformt durch transnationale Institutionen und herausgefordert durch internationale Vergleiche. Weltkulturelemente sind aber auch: technische Standards für Geräte, die Gestaltung wissenschaftlicher Aufsätze, Flughäfen, Impfungen gegen Kinderkrankheiten, Smartphones, Buchhaltung, basale Schulbildung, Verkehrsampeln in Großstädten, ägyptische Mumien, Mozart, Jazz. Vieles davon wird heute nicht als nationales Erbe, sondern als Weltkulturerbe – als Hervorbringung und als Schatz der ganzen Menschheit – verstanden. Aber auch Fitness-Center schauen auf der ganzen Welt gleich aus. Marc Augé hat von „Nicht-Orten“ gesprochen, die von Uniformität, Beschleunigung und Ökonomisierung geprägt sind: Einkaufszentren, Fast-Food-Ketten, Hotelanlagen, Vergnügungsparks, Flughäfen, Bahnhöfe (Augé 1994). Es sind, so die Kritik, „asoziale Raumgebilde“, in denen einsame Menschen ihre Kommunikation ritualisiert abwickeln. Die Etablierung weltweit ähnlicher Modelle ist durch strukturellen Isomorphismus erfolgt: Man hat voneinander „abgeschaut“ (Powell und DiMaggio 1991). Diese Angleichung ist aber nicht als Trend zur Gleichheit aufzufassen. Das Rätsel besteht 3

In den letzten Jahren ist der Konsens darüber, dass wirtschaftliches Wachstum die Grundvoraussetzung für eine allgemeine Steigerung des Lebensstandards in den weniger entwickelten Ländern sein müsste, insofern abgeschwächt worden, als vergleichende Untersuchungen eine strikte Korrelation zwischen dem Sozialprodukt pro Kopf und der Zufriedenheit bzw. dem Glück einer Bevölkerung infrage gestellt haben: Inglehart 1997; Huntington und Harrison 2004. Natürlich sind die Menschen in reicheren Ländern glücklicher; aber es gibt große Unterschiede innerhalb des Bereichs armer Länder, von großer Unzufriedenheit bis zu weitgehender Zufriedenheit; und ebenso innerhalb des Bereichs reicher Länder – jenseits einer bestimmten mittleren Schwelle trägt eine weitere Zunahme des Sozialprodukts pro Kopf nicht mehr wesentlich zur Glückssteigerung bei.

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darin, wie nach 1945 trotz der ökonomischen, politischen und sozialen Heterogenität von Ländern eine Strukturähnlichkeit in vielen Bereichen entstanden ist. So diffundieren Muster und Praktiken, nicht immer aus guten Gründen: Universitäre Studienprogramme wurden erst in jüngster Zeit in ganz Europa an angelsächsische Strukturen angepasst. Die Übernahme anderer Kulturelemente ist nicht nur durch die Superiorität entsprechender „Muster“ bedingt, auch internationale Organisationen, Studien und Meetings üben konformisierenden Druck aus. Die Anpassung hat mit Legitimierung und rationalisierten Mythen zu tun, nicht nur mit funktionaler Problemlösung (Meyer und Rowan 1991).

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Strukturelle Segmentierungen

Widerstände gegen Vereinheitlichungsprozesse gründen sich auf Traditionen. Nicht jeder Stamm, jedes Volk, jede soziale Gruppe will alte Gewohnheiten aufgeben, um sich der globalen Stromlinienförmigkeit anzugleichen. Oft sehen sie sich veranlasst, Differenzen zu „erfinden“, die mit den globalen Prinzipien in Kollision stehen. Es gibt ein kulturelles Gedächtnis, welches durch Texte und Bilder, durch Symbole und rituelle Inszenierungen verfügbar gehalten, entwickelt und modifiziert wird, und es lässt sich nicht so leicht im Dienste der globalen Vereinheitlichung aus der Welt schaffen, sondern erzeugt Verbundenheit mit der gegenwärtigen Gemeinschaft und mit früheren Generationen (Assmann 1999). Gerade in den europäischen Ländern hat sich (nach zwei Jahrhunderten der Nationalisierung und durch die ethnische Entmischung in der Nachkriegszeit) ein höheres Maß an Homogenität innerhalb von Staaten bei entsprechend wahrgenommener Heterogenität zwischen den Staaten („wir sind gleich und die anderen sind ganz anders“) entwickelt; deshalb ist es so schwierig, den Begriff einer „europäischen Kultur“ im Bewusstsein der Menschen wirksam werden zu lassen. Noch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die Welt segmentiert: zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd. Für Auslandsreisen hatte man kein Geld. Der Bewusstseinshorizont richtete sich auf Alltagsprobleme: Wohnung, Arbeit, Wohlstandserwerb. Selbst Jazz und Rock ‘n’ Roll waren Nischenphänomene. Das änderte sich durch Massenkonsum, Massenmedien und Massentourismus. Die westlich-amerikanische Konsumentendemokratie wurde zum Vorbild; schließlich musste sie als attraktive Idee auch im Kalten Krieg bestehen. Auf der westlichen Seite sind kulturrelativistische Ideen einflussreich geworden: Alle Kulturen seien gleich, die Verbreitung europäischer Ideen sei eine späte Form von Kolonialismus bzw. eine neue Form von Imperialismus. Solche Ideen werden vor allem von Intellektuellen vertreten, die des Bezugs zu lebenspraktischen Zwängen ermangeln. Denn die (oft gut gemeinte) Oktroyierung kultureller Authentizität kann (etwa für Immigranten) auch in Ghetto-Situationen führen oder Menschen in ihrer (wirklichen oder angenommenen) Herkunftskultur gefangen halten (Sen 2007): Wenn Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft als Verrat an der eigenen Authentizität betrachtet wird, werden Immigranten in ihre Herkunftskultur „eingesperrt“, jedenfalls werden ihre Chancen auf Integration und sozialen Aufstieg im Dienste „illusionärer Respektierung“ beeinträchtigt.

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Die (bewusste oder affektive) Aufrechterhaltung traditioneller Elemente bedeutet nicht notwendig, dass das gesamte System in seiner einmal gewonnenen geschichtlichen Ausprägung verharren soll, zumal die Vorstellung geschlossener, authentischer Kulturen ohnehin immer unrealistisch war; aber in der Gegenwart gibt es intensive Verknüpfungen und Begegnungen traditionellen Denkens mit modernen Elementen. Saudi-Arabien hat die modernsten Hotels und Infrastrukturen, aber Menschen werden wegen Ehebruchs oder Hexerei zum Tode verurteilt, es wird gesteinigt und gepeitscht. Terroristen, die ein archaisches Recht durchsetzen wollen, bedienen sich bei ihrer Kommunikation über das „deep net“ ausgefeilter moderner Technik. Es gibt offenbar keine einheitliche „kulturelle Gestalt“, im Sinne einer kulturellen Gesamtformation, die sich Gruppen und Völker im Zuge der Modernisierung aneignen müssen (Menzel 2001): Die Nutzung eines Smartphones erzeugt nicht automatisch rationales Denken. Früher einmal hat man von „cultural lags“ (Ungleichzeitigkeiten) gesprochen. Doch auch der Begriff der „multiplen Moderne“ (Eisenstadt 2000) stellt eher ein Forschungsprogramm als eine Erklärung dafür dar, was im Zuge der Globalisierung geschieht.

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Kulturelle Synkretismen

Kulturelle Elemente der Welt (aus unterschiedlichen Kulturkreisen) werden überall gegenwärtig und verfügbar. Lokale Orte, insbesondere größere Agglomerationen, werden durch kulturelle Transfers aus dem globalen Raum vielfältiger, sie gruppieren Elemente aus unterschiedlichen Herkünften nebeneinander und verbinden sie miteinander (etwa ethnische Restaurants und neue Speisen mit Komponenten aus unterschiedlichen Kulturen). Solche Vorstellungen friedlicher „Buntheit“ werden üblicherweise als Diversität gewürdigt. Paradoxerweise bedeutet dies aber auch, dass gerade durch die Vielfalt mobiler Kulturelemente die größeren Agglomerationen quer durch die ganze Welt einander ähnlicher werden, dass größere Städte zwar intern heterogener werden, durch Immigration, sich aber zugleich aneinander anpassen, durch eine global sich verbreitende Mischung fremdkultureller Elemente. Das beginnt schon bei den europäischen Großstädten, deren Fußgängerzonen einander weitgehend ähneln, nicht zuletzt deswegen, weil sie in hohem Maße von internationalen „Ladenketten“ bestückt werden. Aber auch Pizze und Spaghetti sowie chinesische Restaurants sind quer durch Europa verfügbar, und das fremdkulturelle Angebot weitet sich aus und wird gerne angenommen. In der Vision einer Hyperkultur fließen Weltbilder, Rituale, Symbole und Praktiken in einer gemeinsamen Kultur zusammen, wobei stärkere Kulturelemente die schwächeren verdrängen. Kulturelle Muster aus vielen Ländern diffundieren in alle Teile der Welt. Am sichtbarsten ist allerdings eine Globalisierung, die als „Amerikanisierung“ oder „Westernisierung“ auftritt: Musik und Mode, Fernsehserien, Bluejeans, Coca-Cola, diverse Brands, ein moralisch lockerer Lebensstil, Gleichberechtigung der Frauen, Halloween – diese Elemente finden Verbreitung über die Welt. Ein kritisches Etikett ist Coca-Colonization (Wagnleitner 1991). American Lifestyle ist: verpacktes Brot,

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Fertigspeisen, Take-out coffee, low fat (diet) soft drinks, fast food, suburbane Siedlungen, Baseball-Kappen, Sportschuhe als Alltagskleidung etc. Die Verbreitung solcher Phänomene funktioniert über die Medienkonzerne (ein globaler Kulturbetrieb, der über die Inszenierung von „Stars“ und „gossip markets“ sowie „ungleichgewichtigen“ News funktioniert), über konkrete Konsumangebote, aber auch über den Massentourismus. In Anbetracht der starken Position US-amerikanischer Kulturelemente rätseln Beobachter über die besondere Kompatibilität der amerikanischen Kultur mit so vielen anderen Kulturen. Natürlich ist die US-Kulturindustrie wirtschaftlich stark, und die englische Sprache, die zur „Weltsprache“ geworden ist (in einem Prozess der Verflechtung, in dem zahlreiche lokale Sprachen aussterben), ist ein Vorzug; aber es könnte auch der Umstand eine Rolle spielen, dass die gemischte Einwanderergesellschaft der USA eine „kulturelle Sprache“ (unter Einschluss von entsprechenden Stories und Visualisierungen) entwickelt hat, die mit unterschiedlichen Herkunftskulturen besonders gut verträglich ist. Der oberflächliche Blick übersieht jedoch die vielen synkretistischen Praktiken und Interpretationen, die sich oft mit einer Übernahme fremdkultureller Elemente verbinden: Es erfolgt nicht nur Übernahme, sondern eine aktive Aneignung und Uminterpretation globaler Elemente, eine Verbindung mit lokalen Kulturen und Traditionen im Sinne einer Hybridisierung (Nederveen Pieterse 2004). Jeder Ort ist von einer zunehmenden Mischung von kulturellen Elementen aus verschiedenen Quellen geprägt. Die Vermischungen zwischen globalen und lokalen kulturellen Gepflogenheiten werden auch als Glokalisierung bezeichnet (Robertson 1992): Konzerne produzieren global, passen ihre Produkte aber lokalen Gegebenheiten an. In der Esskultur ist McDonald’s Inbegriff der Standardisierung (Ritzer 1993), aber die Firma orientiert sich geschickt an lokalen Gepflogenheiten: kein Rindfleisch in Indien, geschmacklich angepasste Gewürzmischungen, von Amerika bis Japan. Politisch geht zuweilen Zentralisierung mit Föderalisierung einher: Kulturelle Formen werden „importiert“ und angepasst; so entsteht beispielsweise deutschsprachiger Hip Hop. Das Globale wird nicht einfach vor Ort nachgeahmt, vielmehr werden lokale Gegebenheiten vom Globalen durchdrungen: fusion cooking, Ethno-Jazz, christlich-buddhistische Spiritualität. Wie schon öfters in der europäischen Geschichte werden attraktive Elemente nichteuropäischer Kulturen aufgenommen, von der chinesischen Medizin über ostasiatisch-esoterische Vorstellungen bis zu literarischen Quellen, und sie werden in die europäische Normalität eingebettet. Zwischen Homogenisierung und Heterogenisierung der Welt gibt es eine „dritte“ Kategorie.

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Identitäten und Konflikte

Interaktion, Zusammenhang, Austausch, Kenntnis – das muss keineswegs nur in Verständnis und Freundlichkeit enden. Integration heißt: sich identifizieren, zusammen fühlen und leben, zusammen lernen und wissen. Vollständige Gleichheit würde auf Assimilation hinauslaufen. Auch innerhalb der westlichen Welt tut man sich nicht leicht, im Zeitalter flexibler, multipler, wählbarer und deshalb pluralistischer

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Identitäten (Keupp 1999) zu leben. Auch innerhalb des Westens steigt die Heterogenität, schon ohne und erst recht mit Migration. Dem westlichen Kulturbetrieb (insbesondere den Massenmedien) wird zudem vorgeworfen, zur „Entwirklichung“, zur Entpolitisierung und zur Schwächung gemeinschaftlicher Bindungen, zur Sensationalisierung, zur Entertainisierung, aber auch zur Angsterzeugung beizutragen. Steigende Sichtbarkeit und steigende Interaktion macht Differenzen offensichtlich, die zuvor durch die Distanz unzugänglich, ja unsichtbar waren. Samuel P. Huntington hat in seinem Buch Clash of Civilizations die kulturelle Vereinheitlichung bestritten (Huntington 1996). Seines Erachtens weisen die Kulturkreise, die er im Wesentlichen mit den Verbreitungsgebieten der großen Religionen gleichsetzt, eine gewisse Widerständigkeit auf, und es werde an den Berührungslinien dieser Kulturkreise zu den großen Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts kommen. Sein Buch ist schon in den neunziger Jahren veröffentlicht worden, aber eine besonders heikle Konfliktlinie hat er schon damals zwischen der islamischen und der westlichen Welt gesehen (Riesebrodt 2000). Erst recht ist der Heterogenitätsanstieg durch die „neue Migrationsepoche“ bedingt, durch den Zuzug nach Europa, gefördert nicht nur durch die Destabilisierung im Nahen Osten und in Afrika, sondern auch durch die Sichtbarkeit unterschiedlicher Lebensbedingungen auf der ganzen Welt. „Jedermann bekommt, heute anders als früher, im weltumspannenden System der Medien leibhaftig vorgeführt, daß es tatsächlich noch Länder gibt, in denen Milch und Honig fließen und die Märkte und Supermärkte überquellen von allem, was unsere Welt anzubieten hat. Da Hilfe ausbleibt, welcher Grund, wenn nicht Gewalt, sollte Menschen im Elend festhalten [. . .]? Wähnten früher die Europäer Eldorado in den neuen Welten, so suchen es deren Bewohner heute – auch – in Europa.“ (Soeffner 2000, S. 373) Vor Jahrzehnten entstandene soziologische Studien haben gezeigt, dass der wesentlichste Faktor für Migration vor allem auf ein sozialökonomisches Entwicklungsgefälle zurückzuführen ist (Heintz 1982; Hoffmann-Nowotny 1970); aber die Pull-Faktoren haben sich durch die erhöhte Sichtbarkeit attraktiver Länder erhöht, die PushFaktoren haben sich durch die Bevölkerungsexplosion im Nahen Osten und in Afrika verschärft, eine Bevölkerungsexplosion, die zum Youth Bulge, d. h. zur lebenslangen Chancenlosigkeit der jüngeren Generation selbst bei halbwegs befriedigender Wirtschaftsentwicklung, führt (Heinsohn 2003). Migrationsprozesse dieser Art führen zu veränderten Wahrnehmungen und Thematisierungen: Während etwa die Entwicklungsproblematik in den letzten Jahrzehnten kein dringliches Thema schien (weil man einen Konvergenzprozess der Lebensstandards – zuerst durch Fortschritts- und Modernisierungsideen, dann durch den Globalisierungsprozess – annahm), führt die europäische „Flüchtlingswelle“ zur erneuten Beschäftigung mit der Frage, ob man die Herkunftsländer so attraktiv gestalten könnte, dass Migration unterbleibt. Nur ansatzweise werden die Zusammenhänge zwischen ungelösten globalen Problemen angesprochen, also etwa jene Klimaveränderungen, die gerade in den bevölkerungsexpansiven afrikanischen Ländern Katastrophen auslösen und weitere Wanderungsprozesse bewirken würden. Wenn die Integration von Migranten nicht gut gelingt, werden Huntingtons clashes noch stärker in die Innenräume der jeweiligen Kulturkreise getragen, sie finden ihre

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Quellen in bestimmten Vorstädten von London, Paris und Brüssel. Auch Gegenkulturen können sich, auf ethnischer bzw. fremdkultureller Grundlage, als Untergruppen in einer kulturellen Einheit bilden, nicht nur als Jugend- und Protestkulturen, sondern, wie seinerzeit als Chinatown und Little Italy, nun in der Gestalt neuer „Gegengesellschaften“, die zuweilen als Brutstätte von Aggression und Gewalt gegen den Mainstream dienen. Die mittelbare und unmittelbare Konfrontation löst allerdings mancherorts, so auch in Europa, Überlegungen und Reflexionen zur jeweils eigenen Besonderheit aus: etwa unter dem Titel einer Bewahrung und Entwicklung „europäischer Werte“. Oft stellt sich erst in solchen Situationen heraus, dass man Schwierigkeiten hat, kulturelle Elemente, die man als selbstverständlich wähnte, zu definieren, zu leben oder anzuwenden.

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Weltgesellschaft

Wenn man die Ausweitung und Intensivierung der transnationalen Netzwerke in die Zukunft verlängert, entsteht die Vision der Weltgesellschaft (Beck 1998; Appiah 2009; Stichweh 2000; Görg 2002): Gemeinsame Probleme erfordern die Weltgesellschaft, Konvergenzen ermöglichen sie, klassische utopische Erwartungen (über Verständnis und Friedlichkeit) werden damit aktualisiert. Weltgesellschaft würde bedeuten, dass die Erwartungen individueller und kollektiver Akteure von einem „ausgeweiteten“ Umfeld, nämlich von der Weltlage, beeinflusst werden. Es handelt sich nicht nur darum, dass soziale Gruppierungen (wie Nationalstaaten) in einem Geflecht von Zusammenhängen stecken (denn regionale und kontinentale Machtpolitik ist kein neues Phänomen), sondern darum, dass diese Weltgesellschaft ein emergentes Phänomen, eine Entität mit eigener Logik, darstellt (Wobbe 2000). Ein solches Modell setzt keineswegs Einheitlichkeit im Sinne zentralisierter politischer Steuerung oder kulturelle Homogenität voraus. Für Niklas Luhmann handelt es sich bei der Weltgesellschaft einfach um den größtmöglichen denkbaren Kommunikationszusammenhang (Luhmann 1997). Insofern ist sie „das einzige Sozialsystem, das völlig eindeutige Grenzen aufweist.“ (Stichweh 2000, S. 31) Offenkundig sind die kulturellen Beeinflussungen: in der Weltliteratur, der Weltmusik, der Weltkunst und den Weltmedien. Die (wirtschaftlichen) Verflechtungen, so hofft man, machen große Kriege unmöglich; jedenfalls würden die supranationalen Wirtschaftseliten Konfrontationen verhindern, da sie viel zu verlieren hätten: Welthandel ist rentabler – und das sollte eine rational-pazifistische Mentalität erzeugen (Schumpeter 1953). Als gemeinsame moralisch-kulturelle Grundlage ist bereits eine Weltethik (Küng 1998) ins Auge gefasst worden, und manche spekulieren über einen Weltstaat oder eine Weltrepublik (Lutz-Bachmann und Bohman 2002), die parallel zur nachlassenden Integrationskraft von Nationalstaaten entstehen könnten (Münch 2001, 1998). Über die Stärke der politischen Veränderungen ist man jedoch uneins. Ein Blick auf die weltweite Szene lässt nicht erwarten, dass die großen Staaten sich in ein souveränitätsbeschränkendes Gefüge einordnen. Die Vereinigten Staaten sind auf

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ihre Unabhängigkeit bedacht, Russland will auf die Großmachtbühne zurückkehren, China erwartet sich den Aufstieg zur Weltmacht. Es gibt offenbar tief verankerte Neigungen der Menschen zum Tribalismus, und der Nationalstaat ist bloß ein besonders großer „Stamm“ (Blomert et al. 1993), vielleicht der größte praktisch realisierbare. Was Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühle betrifft, so scheinen „Staaten“ Agglomerationen von funktionsfähiger Größe zu sein (Alesina und Spolaore 2005); sie lassen „kulturelle Nähe“ verspüren, sie bauen eine gemeinsame „symbolische Welt“ auf. Wenn eine Weltgesellschaft hingegen das Zusammenleben von acht oder mehr Milliarden Menschen organisieren sollte, würde sie als „grenzenlose“ Entität scheitern; sie wäre zu groß, zu heterogen, orientierungslos, nicht legitim, und letzten Endes chaotisch. In den kulturellen Sphären werden gleichwohl unterschiedliche Prozesse gleichzeitig vorangetrieben: gewisse Prozesse der Vereinheitlichung, insbesondere die weltweite Etablierung einer Oberflächen- und Referenzkultur; eine steigende Konflikthaftigkeit findet sich bei widersprüchlichen sowie normativ und emotionell wichtigen Kulturelementen; ein multikulturelles Nebenund Miteinander (wie etwa in der gastronomischen Globalisierung); schließlich auch synkretistische bzw. hybride Verfahren der Verknüpfung und Vermischung. Die Welt wird – überall – bunter.

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Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive Katrin Döveling und Denise Sommer

Inhalt 1 Der Kommunikationsbegriff – eine Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kommunikation als reflexiver Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Verbale und non-verbale vermittelte Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Massenkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aktuelle Perspektiven. Digitale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag konkretisiert den Begriff der Kommunikation zunächst aus der Perspektive verschiedener Teildisziplinen, leitet ihn auf dieser Basis her und berücksichtigt dabei kommunikationswissenschaftliche, psychologische und soziologische Erkenntnisse und Ansätze. Die theoretischen Konzeptionen von Kommunikation dienen als Grundgerüst für die näheren Fundierungen des Kommunikationsbegriffes, dessen Veränderungen im Zuge des Medienwandels diskutiert werden. Die kultursoziologische Perspektive stellt dabei den grundsätzlichen Rahmen dar, der das Verständnis von Kommunikation als komplexem reflexivem Prozess symbolischer Interaktion verortet. Schlüsselwörter

Kommunikation · Symbolische Interaktion · Verständigung · Medien · Massenkommunikation · Medienwandel

K. Döveling (*) · D. Sommer Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_28

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K. Döveling und D. Sommer

Kommunikation ist eingebettet in kulturelle Begebenheiten. Kultur als Set von Regeln, die soziales Verhalten, Wahrnehmungsmuster und Kommunikationsformen normieren, und Kommunikation sind daher immer miteinander verbunden. Daher gilt es, Kommunikation und Kultur in Beziehung zu setzen und Kultur als ein Gefüge aus Bedeutungskomplexen, das kohärenten Sinn erzeugt (Lüddemann 2010, S. 11), zu verstehen. 1. Zum einen transportiert dabei Kommunikation Kultur, indem sie Bedeutungen auf den verschiedenen Ebenen von Inhalten und Darstellungsweisen generiert und so die symbolische Bedeutungsproduktion mit der sozialen Praxis verbindet (vgl. Mauss 1990). 2. Zum anderen ist Kommunikation kulturell tradiert, durch kulturelle Zeichen verankert und übermittelt. Kultur als Bedeutungskonstrukt sowie als „‚verhaltensrelevanter Deutungsvorrat‘ (Nassehi 2008, S. 147) ist über interpretative Akte zugänglich“ (Lüddemann 2010, S. 11). Kultur ist dabei auf allen Ebenen der interpersonalen wie massenmedialen Kommunikation als Symbolsystem organisiert. Nach Tenbruck (1996) und Soeffner (1988) umfasst Kultur damit alle menschlichen Handlungen mit den Bedeutungen, die sie hervorbringen. Dabei gilt sie als Referenzrahmen dieser Handlungen und wird als latenter Strukturgeber des gesellschaftlichen Lebens angesehen (Jäckel 2010; Nassehi 2008). Somit lässt sich Kommunikation als wesentlicher Teil von Kultur verstehen. Kommunikatives Handeln als alltägliches und zugleich kulturell tradiertes Verhalten konstituiert dann einerseits Kultur und geschieht andererseits vor dem Hintergrund kultureller Einflüsse. Kommunikation konstruiert und aktualisiert Bedeutungen (Merten 1999) und kann als Spezialfall von Kultur begriffen werden, dessen Analyse zugleich eine Reflektion der ihr übergeordneten Kultur ist. Kommunikation wird hier folglich als kulturelles Phänomen schrittweise entwickelt und aus den verschiedenen theoretischen Perspektiven heraus in ihrem Verhältnis zu Kultur und Gesellschaft expliziert.

1

Der Kommunikationsbegriff – eine Verortung

Der aus dem Lateinischen entlehnte Begriff „Kommunikation“ lässt sich zurückführen auf ‚communication is‘, übersetzt als Mitteilung, Gewährung sowie auf das entsprechende Verb ‚communicare‘, verstanden als gemeinsam machen, teilen, mitteilen, teilnehmen und Anteil haben. Dies verdeutlicht bereits einige grundsätzliche Komponenten des Kommunikationsbegriffes. Paul Watzlawick, der sich als einer der Ersten mit dem Begriff konzeptionell auseinandersetzt, und ihn zugleich damit sozial verortet (Watzlawick et al. 1969), setzt dabei im ersten Axiom seiner Theorie der zwischenmenschlichen Kommunikation „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (S. 53) Kommunikation mit Verhalten gleich. Jegliche Art der menschlichen Regung und des menschlichen Ausdrucks wird als Kommunikation und damit als sozial

Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive

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einflussreich erachtet. Kommunikation, so Watzlawick und Kollegen (1969), habe kein Gegenteil. Auch, wenn dies aus systemischer und psychotherapeutischer Sicht durchaus plausibel erscheint, ist dieser Gedanke theoretisch zu hinterfragen: Worin besteht dann die Besonderheit von Kommunikation im Vergleich zum allgemeinen Verhalten? Klaus Merten (1999, S. 15–18) hebt hierzu fünf wesentliche Merkmale hervor, die in der Analyse menschlicher Kommunikation berücksichtigt werden sollten: 1. Profanität: Kommunikation widerfährt uns fortwährend im Alltag, jeder Mensch ist aus seinen persönlichen Erlebnissen damit erfahren. 2. Universalität: Kommunikation ist allgegenwärtig, denn sie reicht in alle Bereiche des menschlichen Daseins hinein. 3. Flüchtigkeit: Kommunikation kann nur im Nachhinein analysiert werden, weil sie sich fortlaufend ereignet und damit flüchtig ist. 4. Relationalität: Kommunikation stellt sich nicht als dingfestes Objekt dar, sondern bildet die Beziehung zwischen sozialen Objekten und Subjekten. 5. Unvermeidbarkeit: Kommunikation besitzt keine Ausnahme, sie stellt eine notwendige Bedingung für das Funktionieren sozialer Systeme dar. Alle genannten Merkmale verweisen auf die kulturelle Relevanz von Kommunikation, da sie ihre Kontextbezogenheit und soziale Einbettung untermauern. Es war ebenso Klaus Merten (1977), der zunächst eine umfassende Begriffsanalyse des Terminus „Kommunikation“ durchführte, der er 160 unterschiedliche wissenschaftliche Definitionen von Kommunikation zugrunde legte. Dabei nennt er unter anderem folgende in der Literatur geläufigen inhaltlichen Merkmale von Kommunikation (S. 38): 1. 2. 3. 4. 5.

Übertragung/Transmission Handlung, Handeln Interpretation Austausch, Interaktion Verständigung

Diese Kennzeichen von Kommunikation verweisen auf verschiedene theoretische Konzeptionen von Kommunikation und dienen im Folgenden als Grundgerüst für die näheren Erläuterungen des Kommunikationsbegriffes. 1. Übertragung, Transmission Ausgehend von Kommunikation als Mitteilung (s. o.) ist sie zunächst, simplifiziert, als Signalübertragung denkbar: Eine Botschaft wird gesendet, erreicht einen oder mehrere Empfänger, ein Reiz führt zu einer Reaktion. Diese Vorstellung, das Stimulus-Response-Modell, ist das einfachste und gängigste Modell von Kommunikation. Wenn auch vielfach und vor dem Hintergrund der kultursoziologisch relevanten Einflussfaktoren zurecht als zu simpel und mechanistisch kritisiert, hat

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es doch zunächst das Nachdenken über Kommunikation nachhaltig beeinflusst (Beck 2013). Die Mitteilung wird hiernach zur Übermittlung, die Botschaft informationstheoretisch zu einem Signal. Frühe Modelle der Kommunikation, wie das von Claude E. Shannon und Warren Weaver (1949/1998) aus der Telekommunikationstechnik, entstammen dieser Denkrichtung. Die Autoren entwickelten ihre schematische Darstellung eines Kommunikationsprozesses (Abb. 1) während ihrer Arbeit in den Bell Telephone Laboratories, in denen an der Optimierung von telefonischen Übertragungswegen und -techniken geforscht wurde. Dabei wird in linearer Abfolge eine Botschaft in ein technisches Signal verwandelt, über einen Übertragungskanal vermittelt, wobei es zu technischen Störungen kommen kann, dann wieder entschlüsselt und an ein Ziel weitergegeben. Diese Vorstellung von Kommunikation greift jedoch nur einen Teil der oben angeführten Bedeutungen ihres lateinischen Ursprungsbegriffes auf. Der Blickwinkel Shannon und Weavers ist mathematisch, aber nicht soziologisch (Dittmar 2011, S. 11). Denn: Das Teilen und Gemeinsam Machen (s. o.) wird in diesem linearen und streng kausalen Modell nicht berücksichtigt. Menschliche Kommunikation als wechselseitiges Geschehen, als interaktives Handeln, das Rückkopplungsprozesse beinhaltet, wird hier noch unterkomplex abgebildet. Die Annahme, dass bei der Kommunikation Inhalte übertragen werden, wird inzwischen von den meisten Autoren als Fehleinschätzung erkannt (Beck 2006, S. 131–132; Krotz 2008, S. 34). Dies führt zum nächsten Abschnitt, der die kultursoziologische Relevanz der Reziprozität in der Kommunikation hervorhebt. 2. Kommunikation als soziales Handeln Aus soziologischer Perspektive wird Kommunikation als soziales Handeln verstanden. Hierbei ist der Begriff der Reziprozität grundlegend. Dies meint

Abb. 1 Lineares Kommunikationsmodell in Anlehnung an Weaver 1949/1998, S. 7

Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive

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„dass im Kommunikationsprozess prinzipiell eben keine einseitige Intention, Transmission und Rezeption möglich ist, sondern dass die Rolle des Kommunikators und des Rezipienten jeweils auswechselbar sind im schnellen Austausch der Wahrnehmungen, ja dass diese Rollen – die Existenz mehrerer, voneinander unabhängiger Wahrnehmungskanäle vorausgesetzt – simultan von ein und demselben Partner ausgefüllt werden können“ (Merten 1977, S. 45–46).

Roland Burkart (2002, S. 25–29) versteht dabei das kommunikative Handeln als einen der Kommunikation vorgelagerten sozialen Prozess. Kommunikatives Handeln folgt hiernach immer zwei Arten von Intentionen: 1. Der allgemeinen Intention der Mitteilung, mit dem Ziel der Verständigung, und 2. der speziellen Intention eines bestimmten Interesses, das verwirklicht werden soll. Ob Kommunikation tatsächlich stattgefunden hat, ist in dieser Perspektive erst im Nachhinein bestimmbar. So wird dem Gegenüber als notwendig Beteiligtem an Kommunikation und damit dem Gedanken der Reziprozität Rechnung getragen. Aus Burkarts Sicht stellt das allgemeine Ziel der Verständigung die notwendige Bedingung hierfür dar. Erst wenn Alter wahrgenommen und angenommen hat, dass Ego kommunikativ gehandelt hat, lässt sich von Kommunikation sprechen. Die spezielle Intention, die nach Burkart (2002) ebenfalls mit jeder kommunikativen Handlung verfolgt wird, muss dagegen nicht erfüllt werden. Damit wird die Konzeption Max Webers Idealtypus von Handeln als Verhalten, dem subjektiver Sinn zugeschrieben wird (Weber 1922/1980, S. 1), gerecht. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die genuin menschlichen Züge der Kommunikation, die aus der Fähigkeit zum Denken und zum Handeln resultieren, zu fokussieren und damit hier Burkarts Vorstellung vom kommunikativen Handeln als sozialem Handeln (2002) und Kommunikation als erfolgreichem kommunikativem Handeln zu folgen. Max Weber (1922/1980, S. 2) hebt in seiner Konzeptualisierung des sozialen Handelns als sinnhaft orientiertes Handeln die Wechselseitigkeit der Verhaltensorientierung hervor, denn nach Weber ist der vom Handelnden gemeinte Sinn auf das Verhalten anderer bezogen und der Handlungsablauf daran orientiert. Der subjektive Sinn impliziert verstehbare Motive des Akteurs, die in der Interaktion wahrnehmbar werden. 3. Interpretation als Grundlage von Kommunikation Die Konzeption von Verständigung nach Burkart (2002) zeigt eine grundlegende Einschränkung in der Betrachtung sozialer Kommunikationsprozesse. Hiernach ist jede Kommunikation gelungen, wenn sie auftritt, denn dann hat bereits Verständigung stattgefunden. Zugleich bedeutet dies nicht, dass die Kommunikation auch zum gewünschten Ausgang im Sinne einer spezifischen Interessenrealisierung geführt hat. Denn: Ein tatsächliches gegenseitiges Verstehen oder darüber hinaus gar eine Einigung werden aus dieser rein deskriptiven Sichtweise nicht als Voraussetzung erfolgreicher Kommunikation verstanden. Dieser Gedanke verweist auf

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konstruktivistische Auffassungen von Kommunikation, die davon ausgehen, dass ein Kommunikationsprozess keine direkte Übertragung von Informationen sein kann, wie sie im Stimulus-Response-Modell (siehe Abb. 1 zu Kommunikation als Signalübertragung) postuliert wird, sondern immer der subjektiven Wahrnehmung und Konstruktion des Einzelnen unterliegt (Schmidt 1994). Denn: „Nicht das Zeichen löst etwas aus, sondern seine Interpretation ist Basis für Erleben und Handeln.“ (Krotz 2008, S. 34)

Eine Botschaft wird demnach nicht so empfangen, wie sie ausgesendet wurde, sondern ist diversen Störeinflüssen unterworfen, selektions- und interpretationsgebunden. In diesem Sinne ist auch Luhmann zu verstehen, der davon ausgeht, dass das Missverstehen der Regelfall sei, während Verstehen eher unwahrscheinlich ist (Luhmann 1984, S. 217–218). Kommunikation muss jedoch, wie eingangs deutlich wurde, in einen kultursoziologischen Rahmen gefasst werden. Auch wenn die menschliche Kommunikation über eine eindeutige evolutionär verankerte, biologische Basis verfügt, sind kulturelle Einflüsse auf Kommunikation weder inkompatibel mit ihrer evolutionären Verankerung, noch schließen die beiden Einflussfaktoren einander aus. Denn Menschen verfügen über die Möglichkeit der symbolischen Repräsentation. So erhalten Dinge, Worte und Taten in bestimmten Kontexten eine gewisse Bedeutung für das Individuum. Kultur als Rahmen der Bedeutungsproduktion wird durch Kommunikation übermittelt. Kommunikation als „symbolischer Treibstoff“ (Lüddemann 2010, S. 8) ist dabei nicht starr, sondern ermöglicht Flexibilität und Rückbezüglichkeit in sich wandelnden interpersonal-kommunikativen wie massenmedialen Medienumgebungen. Kultur ist dabei selbst wandelbar und besteht in ihrer kommunikativen Ausprägung nicht nur aus unverrückbaren Regelwerken. 4. Austausch, Ko-Orientierung. Kommunikation in der Symbolischen Interaktion Auf den Interpretationsgedanken bauen die Thesen des Symbolischen Interaktionismus auf. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass erst durch kommunikatives Handeln und Kommunikation den Dingen in unserer Umwelt Sinn verliehen wird. Unter Verwendung von Symbolen schreiben Menschen den Dingen Bedeutungen zu und handeln dann auf der Grundlage dieser Bedeutungen. Symbole sind dabei Stellvertreterzeichen, die je nach Kontext verschiedene Bedeutungen annehmen können. Das wichtigste Symbolsystem stellt die menschliche Sprache dar, die in komplexer und abstrakter Weise zur Bedeutungskonstruktion beiträgt: „Der Mensch ist Bewohner einer kommunikativ konstituierten symbolischen Welt, die über Sprache und andere Symbolsysteme sozial und kulturell vermittelt hergestellt wird.“ (Krotz 2008, S. 34)

Im Gegensatz zum Konstruktivismus betont der Symbolische Interaktionismus die Relationalität von Kommunikation, denn die Bedeutungen, die den Dingen subjektiv

Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive

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zugeschrieben werden, entstehen einerseits in der kommunikativ konstituierten symbolischen Welt aus der Kommunikation und verändern sich andererseits permanent durch sie (Blumer 2004). Kommunikation verbindet nicht nur das Individuum mit seiner Umwelt, sondern auch die Individuen untereinander mit ihren jeweiligen Bezügen zur Umwelt. Menschen interpretieren nicht subjektiv im luftleeren Raum, sondern lernen durch ihre kulturelle Sozialisation bestimmte Bedeutungen kennen, die es ihnen ermöglichen, sich mit anderen zu verständigen: Sie teilen einen gewissen Symbolvorrat. In diesem Verständnis stellt Kommunikation einen „kollaborativen Konstruktionsprozess (Krotz 2008, S. 34)“ dar, bei dem die beteiligten Akteure Zeichen produzieren, denen sie Bedeutungen zuweisen (vgl. auch Keuneke 2012). Je nach kulturellen und soziodemografischen Faktoren ist der geteilte Symbolvorrat größer, differenzierter oder geringer und ermöglicht eine mehr oder weniger weitreichende Verständigung. In neuen Situationen und Umgebungen müssen Symbolgebrauch und Bedeutungen deshalb zunächst kommunikativ abgeglichen und gegebenenfalls neu ausgehandelt werden, um die Verständigung zu gewährleisten. Diese fortwährenden Aushandlungsprozesse wirken schließlich auf die Kultur zurück. Die kultursoziologische Tragweite der symbolisch interaktionistischen Perspektive wird im Kommunikationsbegriff als symbolische Interaktion deutlich. Die Übermittlung von Gesten ermöglicht hiernach eine wechselseitige Bezugnahme, sodass die Haltung der anderen Wesen wiederum den Organismus beeinflusst und der Organismus mit seinen entsprechenden Gesten antwortet und damit die Haltung der anderen innerhalb seiner eigenen Prozesse auslösen kann. Nur so entwickelt sich Identität. „In the process of communication there appears a social world of selves standing on the same level of immediate reality as that of the physical world that surrounds us.“ (Mead 1964, S. 305)

So hebt auch Krotz (2008, S. 30) hervor: „Kommunikation [. . .] ist kulturell und gesellschaftlich strukturiert und institutionalisiert, vielleicht sogar sehr viel mehr, als wir uns das gemeinhin vorstellen, wenn wir von vereinfachenden Kommunikationsmodellen wie ‚Informationstransport‘ ausgehen.“

Denn: „Kommunizieren ist also zu allererst ein auf andere Menschen bezogenes und damit soziales Handeln.“ (Krotz 2008, S. 30). Durch die Verhaltensantizipation kann das Individuum sein eigenes Verhalten mit Rücksicht auf die Interaktionspartner regulieren. Die Antizipation und Internalisierung der Haltungen und des Verhaltens anderer sich selbst gegenüber, die Möglichkeit sich selbst aus der Sicht anderer zu erfahren, ist für den Gründungsvater des Symbolischen Interaktionismus, George Herbert Mead (1934) der Kern der Identität, des „Self“. Auch wenn Kommunikation und Interaktion umgangssprachlich manchmal synonym verwendet werden und zweifelsohne zusammenhängen, so unterscheiden sie sich doch. Während Kommunikation eher Verständigung und damit die inhaltliche

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Bedeutungsübertragung meint (Maletzke 1998, S. 43), beschreibt Interaktion den Handlungsverlauf sozialer Beziehungen (Pürer 2003, S. 59; Jäckel 1995, S. 465). Das damit verbundene Handeln und die ihm inhärente Verständigung sind grundlegend und konstitutiv für die kulturelle und soziale Realität und deren Entstehungsund Entwicklungsprozesse. 5. Verständigung im kommunikativen Handeln Schließlich wird Verständigung als wesentliches Merkmal von Kommunikation begriffen (Merten 1977). Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch die Konzeptionen von Verständigung sehr unterschiedlich sind. Während aus deskriptiver Sicht (z. B. Burkart 2002) die Wahrnehmung von Kommunikation als solcher durch beide Kommunikationspartner bereits als Verständigung angesehen wird, bedeutet sie für Jürgen Habermas weit mehr. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1988) vertritt er ein normatives Konzept der Verständigung, das von gegenseitigem Verstehen und Einverständnis gekennzeichnet ist. So charakterisiert Habermas (1988, S. 412–416) vier wesentliche Aspekte, die eine gelungene Kommunikation aufweisen sollte: 1. Verständlichkeit: kommunikatives Handeln sollte sprachlich verständlich und „wohlgeformt“ sein (S. 416), sich also z. B. an grammatikalische Regeln und sprachliche Konventionen im Sinne des oben erwähnten geteilten Symbolvorrates halten. Die Verständlichkeit sieht Habermas dabei als grundlegende Voraussetzung von Kommunikation, die den folgenden Geltungsansprüchen übergeordnet ist (Burkart und Lang 2004, S. 48). 2. Richtigkeit: Richtigkeit meint hier weniger die inhaltliche Richtigkeit, sondern eher die des Umgangs miteinander vor dem Hintergrund geteilter Werte und Normen (S. 412), was erneut die kulturelle Einbettung kommunikativen Handelns verdeutlicht. 3. Wahrheit: kommunikatives Handeln sollte einen Realitätsbezug besitzen, d. h., beide Kommunikationspartner sollten das, worüber geredet wird, als existent anerkennen (S. 412). Auch dieser Aspekt knüpft an die symbolisch-interaktionistische Vorstellung geteilter Bedeutungen an. 4. Wahrhaftigkeit: schließlich sollte kommunikatives Handeln glaubwürdig sein, die Kommunikationspartner sollten ihre Absichten offenlegen und sich gegenseitig nicht täuschen (S. 412). Als Resultat einer grundlegenden kommunikativen Kompetenz unterstellen die Kommunikationspartner implizit ihren kommunikativen Handlungen diese vier Aspekte und akzeptieren sie (Burkart und Lang 2004, S. 42). Hierdurch entsteht und gelingt Verständigung. Weiterhin grenzt Habermas (1988) damit kommunikatives Handeln vom strategischen Handeln ab (S. 384–385). Kommunikatives Handeln zielt dabei tatsächlich auf die Verständigung im Sinne einer Einigung ab, während strategisches Handeln die subjektive Interessenrealisierung in den Vordergrund stellt.

Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive

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Kommunikation als reflexiver Prozess

Resümierend gestaltet sich Kommunikation also als ein komplexer Prozess des sozialen Handelns, der von Wechselseitigkeit gekennzeichnet und kulturell geprägt ist durch die symbolische Interaktion, die zur Verständigung und damit zur Aushandlung geteilter Bedeutungen führt, die wiederum auf Kultur und Gesellschaft zurückwirken. Damit, so schlussfolgert auch Merten (1977) in seiner Begriffs- und Prozessanalyse, ist Kommunikation in hohem Maße reflexiv. Die Reflexivität, verstanden als Rückkopplung und Rückbezüglichkeit einer kommunikativen Struktur, ist für den Kommunikationsprozess konstitutiv und wird in sowohl zeitlicher als auch in sachlicher und sozialer Hinsicht deutlich. • Reflexivität in zeitlicher Dimension meint die Rückwirkungen der Folgen der Kommunikation auf den Kommunikationsprozess (Kübler 2003, S. 29), während • die sachliche Dimension der Reflexivität meint, dass „Kommunikation jeweils mit dem Kanal bzw. Code operieren kann, der dem sachlichen Anliegen am angemessensten ist.“ (Kübler 2003, S. 29). Hierbei rekurriert Kommunikation immer auf kulturelle Sinnstrukturen, an die sie anknüpft. • Die soziale Dimension der Kommunikation wird in der Verbindung der Individuen durch die gemeinsame Realitätskonstruktion deutlich. Sie stiftet Sozialität und konstruiert damit Identität in sozialen Kontexten (Kübler 2003, S. 30). Pürer (2003, S. 61) hebt hierzu hervor, dass Kommunikation in diesem Verständnis immer an zeitliche, sachliche und soziale Konditionen „andockt“. Dittmar (2011, S. 11) fasst die Tragweite des Kommunikationsbegriffs vor dem Hintergrund seiner Prozesshaftigkeit zusammen: „Kommunikation ist ein sozialer Prozess, der in einem kulturellen und sozialen Umfeld geschieht, der symbolische Informationen schafft, die zu Wissen werden können, das wiederum das Denken und Handeln der Menschen beeinflussen kann.“

In diesem Prozess werden die zuvor genannten soziologischen, psychologischen und semiotischen Erkenntnisse kultursoziologisch relevant. Grundlegend ist dabei, dass Menschen mittels kulturell tradierter Zeichen kommunizieren, deren Bedeutung sie erst in gemeinsamen Interpretationsleistungen konnotieren. Die Herausforderung der Kommunikation formuliert Luhmann (1984, S. 217, 232) als das Problem der doppelten Kontingenz, als ständige Erwartungsunsicherheit in der Kommunikation. In dieser Perspektive werden die Mängel des zuvor diskutierten simplifizierten Stimulus-Response-Modells augenfällig. Diese Schwächen können zudem in der „funktional offeneren Beschreibung, wie sie auch Maletzkes Schema des Feldes der Massenkommunikation darstellt“ (Dittmar 2011, S. 32), überwunden werden.

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Verbale und non-verbale vermittelte Kommunikation

Menschliche Kommunikation wird zudem als vermittelte Kommunikation verstanden. Das grundlegendste Vermittlungssystem stellt dabei die Sprache dar. „Mit der Sprache – genauer: mit dem Sprechen als sozial geregelter Verwendung des Kommunikationsinstruments Sprache – entsteht die Möglichkeit eines völlig neuen Handlungstyps, nämlich des symbolischen Handelns“ (Schmidt 2005, S. 22).

Karl Bühler (1934, S. 24) begreift die Sprache als Werkzeug (= „Organon“), das dreierlei Funktionen erfüllt. Es dient 1. der Darstellung, also der Vermittlung eines bestimmten Inhaltes, 2. dem Ausdruck des Sprechers seiner selbst und 3. dem Appell des Sprechers an den Empfänger. Damit sei Sprache Symbol, Symptom und Signal zugleich (Bühler 1934, S. 28–31). Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Watzlawick, der den Inhalts- und den Beziehungsaspekt in der Kommunikation voneinander abgrenzt, wobei Letzterer Ersteren entscheidend beeinflusst (Watzlawick et al. 1969, S. 56). Friedemann Schulz von Thun leitet aus beiden Vorstellungen sein Modell des Nachrichtenquadrates her: Jede der vier Seiten des Quadrates repräsentiert dabei eine Ebene der Kommunikation. Somit weist jede kommunikative Handlung eine Sachebene (vergleichbar mit dem Inhaltsaspekt), eine Appellebene (vergleichbar mit der Signalfunktion), eine Beziehungsebene und eine Selbstoffenbarungsebene (analog zum Symptom und Ausdruck des Sprechers) auf (Schulz von Thun 1997, S. 26–30). Viele kommunikative Störungen werden damit erklärt, dass die Kommunikationspartner sich jeweils auf verschiedene Ebenen oder Aspekte der Kommunikation beziehen und sich folglich missverstehen. Das verdeutlicht die Mehrdeutigkeit und Interpretationsabhängigkeit des Symbolsystems Sprache und damit seine soziale Komplexität und kulturelle Gebundenheit. Deshalb ist die sprachliche Kommunikation aus kultursoziologischer Sicht bedeutsam, denn hier lassen sich wechselseitige Einflüsse zwischen Kultur und Sprache aufzeigen. Sprache transportiert kulturelle Zeichen und ist kulturell tradiert: So geht die sogenannte Sapir-Whorf-These, benannt nach den amerikanischen Linguisten Edward Sapir und Benjamin Whorf, vom Prinzip der sprachlichen Relativität aus (zit. nach Burkart 2002, S. 97; Stöber 2008, S. 37). Hiernach codieren verschiedene Sprachgemeinschaften die Realität auf unterschiedliche Weise sprachlich, was zur linguistischen Inkongruenz führt. Diese spiegelt sich darin wider, dass einige Sprachen für bestimmte Dinge zahlreiche Begriffe kennen, andere hingegen nur einen oder gar keinen Ausdruck dafür haben. Zudem ist Sprache von kulturellen Kreisen abhängig. Wenn Menschen nicht die gleiche Sprache sprechen, können sie nicht sprachlich erfolgreich kommunizieren.

Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive

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Dieses Potenzial liegt jedoch in der non-verbalen Kommunikation, der nun Rechnung zu tragen ist. In der gesprochenen Sprache werden paraverbale Aspekte wie Tonfall und Lautstärke ebenso vermittelt, während in der non-verbalen Kommunikation Mimik, Gestik und Körperhaltung über den optischen, visuellen Kanal vermittelt werden. Während die sprachliche Kommunikation sich einerseits über akustisch hörbare wie auch geschriebene Symbolvermittlung manifestiert, bezeichnet die nonverbale Kommunikation „Formen des menschlichen Elementarkontaktes außerhalb der Sprache“ (Beth und Pross 1976, S. 93). Hierzu zählt vor allem die visuelle Kommunikation, aber auch die Kommunikation, die über Geruch, Geschmack etc. vermittelt wird, gehört zu der non-verbalen Kommunikation. Zudem hält Merten fest, dass der verbale Kanal und der nonverbale Kanal sich ergänzen. Sie sind somit „komplementär zu einer wirksamen Struktur, die in der Bezogenheit aufeinander Leistungen ermöglicht, die keiner der Kanäle allein erbringen könnte“ (Merten 1977, S. 82). Für Watzlawick und Kollegen (1969, S. 54–55) ist es vor allem der Beziehungsaspekt, der oftmals nonverbal vermittelt wird und damit Mehrdeutigkeit in der sprachlichen Kommunikation erzeugt. Damit wird die nonverbale Ebene der Kommunikation für das soziale und kulturelle Miteinander besonders bedeutsam. Die Vermittlung von Kommunikation kann zudem zahlreiche weitere Formen annehmen. Kommunikation kann durch Medien vermittelt sein, wobei eine solche Vermittlung rein technisch wie im Fall der oben erwähnten Telefonie ausfallen kann, oder aber durch Medien als soziale Systeme im Sinne einer professionalisierten Kommunikation, die sich an ein breites Publikum richtet, wie die Massenmedien (z. B. Fernsehen).

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Massenkommunikation

Das Feldschema der Massenkommunikation Maletzkes (1963) konzeptualisiert auf der Basis des Sender-Empfänger-Modells die über die Massenmedien vermittelte öffentliche Kommunikation als Prozess mit seinen verschiedenen Einflussfaktoren auf allen gesellschaftlichen Bezugsebenen (Abb. 2). Auch wenn das in der Kommunikationswissenschaft etablierte Konzept in seinen Kernmerkmalen auf dem einfachen Grundmodell der Kommunikation als Signalübertragung beruht, so integriert es doch auch zahlreiche der oben genannten soziologischen und psychologischen Aspekte. Maletzke versteht unter Massenkommunikation „jene Form der Kommunikation, bei der Aussagen öffentlich, durch technische Verbreitungsmittel indirekt und einseitig an ein disperses Publikum vermittelt werden.“ (Maletzke 1963, S. 28). Sein Modell greift dabei trotz der Einseitigkeit der dargestellten Kommunikationsprozesse über klassische Massenmedien ebenso die Reaktionen der Rezipienten sowie die gegenseitigen Vorstellungen, die die Akteure im Kommunikationsprozess voneinander haben, auf: Wie im Modell deutlich wird, ist für Maletzke die Massenkommunikation damit ein rückgekoppelter Prozess. Zudem werden wesentliche Faktoren aufseiten des Rezipienten (wie u. a. Persönlichkeit, Selbstbild in sozialen Beziehungen) sowie

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K. Döveling und D. Sommer

Abb. 2 Feldschema der Massenkommunikation: K = Kommunikator, A = Aussage, M = Medium, R = Rezipient. In Anlehnung an Maletzke 1963, S. 41

aufseiten des Kommunikators (wie u. a. Selbstbild, Zwang der Öffentlichkeit) sowie das Bild des Rezipienten beim Kommunikator und vice versa integriert.

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Aktuelle Perspektiven. Digitale Kommunikation

Durch die zunehmende Vernetzung im digitalen Zeitalter des Internets steht auch der Kommunikationsbegriff auf dem Prüfstand. So vermischt beispielsweise das Internet durch die Möglichkeit partizipativ und weltweit ortsungebunden zu kommunizieren die klassischen Formen der Kommunikation und schafft neue Formen der Interaktion, die zur Ableitung und stetigen Erweiterung des Interaktivitätsbegriffes geführt haben (vgl. zum Überblick Pürer 2003, S. 94–95): • Die Mensch-Maschine-Interaktion wandelt sich zur Kommunikation zwischen Menschen, die virtuell dialogisch ermöglicht wird (vgl. hierzu Höflich 1997). • Interaktion ist somit nicht nur technisch mediatisiert, sondern beinhaltet auch die Nutzungsmodalitäten, den Nutzer sowie den Nutzungskontext. • Interaktive Medien sind demnach technische Systeme, die einen Rollentausch zwischen Sender und Empfänger ermöglichen. • Durch das Feedback wird die Einseitigkeit der herkömmlichen medialen Kommunikation aufgehoben. • Zudem wird die Massenkommunikation von der Netzkommunikation unterschieden, da sie neben der einseitigen Kommunikation ebenso eine „Eine-an-Viele“ und „One-to-One“ sowie „One-to-Few“-Kommunikation ermöglicht (Pürer 2003, S. 95). • Durch die Möglichkeit, Inhalte zu verändern, kommt dem Teilnehmer ebenso eine andere, eine gestalterische Rolle im interaktiven Kommunikationsprozess zu. • Nicht zuletzt sind Nutzer in der Online-Kommunikation „telepräsent“. Sie können zudem anonym bleiben.

Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive

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Durch die oben genannten Kriterien haben sich das Spektrum und das kommunikative Potenzial von Kommunikationsmedien entscheidend erweitert und neue Formen der Kommunikationskultur hervorgebracht. Stegbauer (2008) rekurriert auf das Raumverständnis von Simmel (1908) und betrachtet das Internet als eigenen sozialen Raum, in dem Ort und Zeit grundsätzlich keine Barrieren mehr darstellen (S. 4–5). Hepp (2008, S. 10) prägt den Begriff der transkulturellen Kommunikation, der durch „kulturübergreifende Kommunikationsbeziehungen [. . .] in einem globalen Kommunikationsnetzwerk“ gekennzeichnet ist. Damit entstünden Kommunikationsräume und -kulturen, die sich nicht mehr an Nationalstaaten oder -kulturen festmachen ließen. Er beschreibt eine Netzkultur, die über die technische Vermittlung der Kommunikation durch das Internet hinausgeht: Sie umfasst spezifische gesellschaftliche Kommunikationsstrukturen, die von Vernetzung geprägt sind – technisch ebenso wie sozial (Hepp 2010, S. 230). Meckel (2008, S. 17) identifiziert ein „virtuelle[s] Netzwerk der sozial und global Verbundenen“, dem sie Eigenschaften wie Reflexivität und Dezentralisierung sowie das Potenzial zur Egalisierung und Demokratisierung zuschreibt. Es verändere durch seinen partizipativen, vernetzten und transparenten Charakter die gesellschaftliche Wissensproduktion und -repräsentation (S. 19). Diese Gedanken, die die aktuellen Fachdiskussionen prägen, rekurrieren einerseits stark auf die klassischen Merkmale interpersonaler Kommunikation wie Wechselseitigkeit, Austausch und Gemeinsamkeit, verdeutlichen aber andererseits das große Spektrum an unterschiedlichen Kommunikationsarten und -kontexten, die aus kultursoziologischer Perspektive zu untersuchen sind. Sie bieten somit weiteres Erkenntnispotenzial hinsichtlich des Kommunikationsbegriffs und seiner kultursoziologischen Tragweite. So lässt sich fragen, wie die sich wandelnde individuelle und gesellschaftliche Bedeutungskonstruktion in den neuen Medien auf Kultur wirkt und sie prägt und wie kultureller Wandel zugleich Kommunikationsstrukturen und -kontexte verändert. Das betrifft ebenso die Rahmenbedingungen von Kommunikation, beispielsweise ihre zeitliche und räumliche Entgrenzung, wie auch die Symbole selbst, die einer immer rascheren und komplexeren Aktualisierung unterworfen sind. Nur in der Wechselseitigkeit dieser kulturellen und kommunikativen Prozesse ist medialer Wandel als wesentlicher Teil gesellschaftlicher Umbrüche zu verstehen.

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Kommunikation aus kultursoziologischer Perspektive

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Konsum – eine Kultur der Abwechslung Michael Jäckel

Inhalt 1 Ambivalenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Unterschiedsreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Konsumalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Konsum mit einer Kultur der Abwechslung in Verbindung zu bringen, ist das Ziel des Beitrags. Es soll gezeigt werden, dass das ständige Spiel mit den Rahmenbedingungen – sei es z. B. im Bereich der Mode oder der Ernährung – ein Grundmuster ist. Selbst die Aufforderung zum Verzicht lebt von Originalität, ethischer Konsum kommt ohne die Variation der Angebote nicht aus. Dieses Muster ist nicht neu, sondern Teil einer Steigerungslogik, die sich bereits in klassischen Texten der Konsumforschung widerspiegelt. Daher geht es in der Analyse nicht so sehr um Detailbeschreibungen neuer Trends, sondern um verbindende Linien vermeintlich disparater Phänomene. Schlüsselwörter

Ambivalenz · Ansprüche · Bedürfnisse · Konsumalltag · Nachahmung · Unterschiedsreize · Verzicht

M. Jäckel (*) Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_50

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M. Jäckel

Ambivalenzen

Während seines ersten Besuchs in den USA, so Jürgen Neffe in seiner Biografie über Albert Einstein, registrierte der Physiker gemeinsam mit seiner Frau das große Interesse der New Yorker Bevölkerung. Als sie im Waldorf Astoria von Journalisten belagert wurden, stellte Einstein fest: „Die New Yorker Frauen wollen jedes Jahr einen neuen Stil. Dieses Jahr ist Relativität die Mode.“ (2005, S. 398) Einstein beschrieb damit Konjunkturen, die offenbar unabhängig von Raum und Zeit Gültigkeit besitzen. Das Außergewöhnliche kann nie ein Massenphänomen sein, es ist und bleibt das Privileg weniger, die darüber zu öffentlichen Persönlichkeiten werden. Die Nachahmung hingegen sorgt dafür, dass Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung gelenkt wird und einen Trend von begrenzter Dauer begründet. Jeder für sich mag das Gefühl einer eigenen, individuellen Beziehung zu Personen und/oder Objekten entfalten – in der Summe aber, wenn es viele Individuen zugleich empfinden, bringt es dennoch Hitparaden und Bestsellerlisten und andere Popularitätsrankings hervor. In diesem einleitenden Beispiel spiegelt sich bereits, was mit einer Kultur der Abwechslung gemeint ist. Unsere Gesellschaft entpuppt sich mehr und mehr als eine große Spielwiese für Konkurrenz, Abgrenzung und Nachahmung (Fröhlich 2014). Dadurch verstärkt sich der Eindruck eines unablässigen Wettbewerbs auf klassischen und neuen Märkten, deren Strukturen sich erst zu entwickeln beginnen. Der Beitrag will zeigen, wie sich diese Institutionalisierung des Wandels im Bereich des Konsums niederschlägt. Dabei wird nicht so sehr auf spezifische Phänomene oder Produkte bzw. Dienstleistungen eingegangen, sondern nach der Gemeinsamkeit in der dadurch vermittelten Vielfalt gesucht. Dabei stehen Klassiker der Konsumsoziologie Pate (ausführlicher hierzu Jäckel 2011). Eine kultursoziologische Einordnung dieser Entwicklung sollte nicht ahistorisch argumentieren. Gut 20 Jahre liegen die Kontroversen um die Erlebnisgesellschaft zurück, die die Expansion der Handlungsspielräume als Ausgangspunkt für soziale Gruppenbildungen trotz zunehmender Individualisierung hatte (Schulze 1992). Vor wenigen Jahren sprach Reckwitz (2012) von einem Kreativitätsimperativ, der sich über unsere Erwartungen an das moderne Individuum lege und paradoxerweise eine Anpassung im großen Stil nach sich ziehe. Die Entstehung einer „creative class“ (Florida 2004) ist so betrachtet nicht nur Ergebnis eines Wandels der Produktionsund Beschäftigungsformen, sondern eine Selbstverpflichtung mit unterschiedlicher Tragweite. Jeder Imperativ evoziert den Widerspruch gegen eine als allgemein gesetzte Aufforderung. So verhält es sich auch mit der Konsumgesellschaft, zu deren Merkmalen Brewer eine „tiefe Ambivalenz, manchmal sogar offene Feindschaft gegenüber dem Phänomen des Konsums“ (Brewer 1997, S. 52) an sich zählt. Als der Autor dieses Beitrags eine der größten Outlet-Malls der USA besuchte, stand er unter anderem vor einem Schuhladen, der die Fläche eines Fußballfeldes ausfüllte. Zu sehen waren viele bunte Schuhkartons, die aufgrund ihrer Anordnung fast einem Divina art project glichen. Moderne Kunst lässt sich durch diese zufälligen Ensembles gerne inspirieren. Aber zugleich vermittelte dieser Laden, auch in Verbindung mit dieser fast bedrohlich wirkenden Konsumwelt, ein Gefühl der

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Bedeutungslosigkeit der Produkte und der Personen, die sie nachfragen. Alles, was über das Unbehagen in der Moderne gesagt und geschrieben wurde, fand hier seine materielle Basis. Die Ursprünge der soziologischen Ambivalenz-Debatte führen zu Robert King Merton und zur Identifikation von sozialen Strukturen, die ein Konfliktpotenzial aufgrund unterschiedlicher Rollenerwartungen beinhalten. Mertons Analysen verdeutlichten, dass solche Konflikte eher der Normalfall als die Ausnahme sind. Der Einzelne ist immer in soziale Strukturen eingebunden und zwangsläufig mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert. Die soziologische Ambivalenz, wie sie von Merton aufgezeigt wird, meint die Doppelgerichtetheit, die entsteht, wenn unvereinbare normative Erwartungen an den Inhaber einer Position oder mehrerer Positionen gerichtet werden. Im Konkreten nannte er dabei unter anderem die Ambivalenz, die aus gegensätzlichen kulturellen Werten hervorgeht, und jene, die als Resultat eines Widerspruchs kulturell geprägter Sehnsüchte und vorhandener Gelegenheiten entsteht (Merton 1976, S. 10). Bereits die Anfänge der Konsumkritik lassen sich zur Illustration des Ambivalenz-Phänomens heranziehen: „Jetzt ist alles aus den Fugen. Die Übereinstimmung ist dahin, und mit ihr das richtige Maß, die Schönheit.“ (Diderot 1993/1772, S. 5) Denis Diderots (1713–1784) Klage über die Folgen einer Entscheidung, die eine einst zufriedenstellende Komposition von Gegenständen in Unordnung bringt, gilt als eine frühe Kritik des Konsums. Sein Essay „Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern, oder: Eine Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben“ erschien im Jahr 1772, also zu einer Zeit, die allenfalls partielle Erscheinungen des Überflusses kannte und nur gelegentlich eine „poverty of affluence“ (Wachtel 1983) beklagen musste. Der Essay beschreibt die Konsequenzen eines Verzichts auf Gewohnheiten, jenes Unbehagen, das heute noch den modernen Konsumenten ereilt, wenn er – von wem auch immer – dazu gedrängt wird, einen bequemen Pullover oder eine bequeme Hose einem zunächst weniger schmiegsamen Kleidungsstück zu opfern. Die Dringlichkeit eines Bedarfs hat somit nicht erst die Menschen in der aufkommenden Konsumgesellschaft beschäftigt. Diderot beschreibt aber auch eine psychologische Grundhaltung, die im Sinne einer Konsumkontrolle wirkt, und dies in einem doppelten Sinne: Die Internalisierung dieser Kontrolle begrenzt den Konsum, und die Entscheidung für neue Dinge bringt eine vorhandene Ordnung in Bewegung, deren Konsistenz wiederhergestellt werden muss. McCracken spricht sogar von einem „Diderot Effect“ und von „Diderot Unities“ (McCracken 1988, S. 118). Die Doppelbewegung, die sich bereits hier manifestiert, sieht in der Abkehr vom Verzicht den Einstieg in Abwechslung und in der dadurch ausgelösten Unruhe einen Motor des Wandels. Sucht man nach den Impulsgebern, die eine Gesellschaft in Unruhe versetzen können, wird häufig die Differenz zwischen persönlichen Zielen und allgemeinen Erwartungen artikuliert. Robert Lynd konnte am Beispiel des Wertesystems der amerikanischen Gesellschaft bereits in den 1930er-Jahren zeigen, dass an die Stelle eines Wertekonsenses häufig Widersprüche treten, z. B. Glorifizierung des persönlichen Erfolgs versus Vorrangstellung des Wertes der Gesamtpersönlichkeit (Lynd 1939). Als Vance Packard den modernen Konsumenten hinter die Kulissen der Werbewelt

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blicken ließ, zitierte er einen Werbeleiter aus Milwaukee mit der Bemerkung, dass „Amerika durch die systematische Schaffung von Unzufriedenheit groß geworden sei.“ (Packard 1958/zuerst 1957, S. 185) Galbraith (1959) war einer der Autoren, die Widersprüchlichkeit bzw. Ambivalenz durch eine Widerlegung der Nachfragebegründung aufzeigen wollten. Dringliche Bedürfnisse, so seine Behauptung, bedürfen keiner künstlichen Weckung. Auch Riesman et al. (1958) haben diese Konflikte z. B. mit der Unsicherheit des außengeleiteten Konsumenten verdeutlicht, der seinem persönlichen Kompass nicht mehr vertraut und zur Entscheidungsunsicherheit gelenkt/sozialisiert wird, die nunmehr das Feld der Beratung umso mehr erforderlich macht. Damit wird zentral das Verhältnis von Innovation und Nachahmung angesprochen. Unter anderem Theodor Geiger hat in seiner Analyse der Reklame auf das Geltungsbedürfnis des Verbrauchers hingewiesen, dem in wirkungsvoller Weise durch einen „suggestiven Springbrunnen und Feuerwerke“ entsprochen wird (Geiger 1987/zuerst 1943, S. 488). Beispiele sind: • Werbung für billige Schokolade wird von einem Kavalier im Frack präsentiert. • Eine Illustrierte, die ihre Zielgruppe in der Mittelschicht findet, wirbt für elegante Herrenanzüge, um damit dem Kunden den Status eines Gentleman zu verleihen. • Das Bild und die Unterschrift einer Society-Schönheit sorgen dafür, dass der durchschnittliche Konsument darin ein geborgtes Prestige erkennt (Geiger 1987, S. 489). Geiger sieht hier insbesondere die Faszination eines Snob-Appeals am Werk, der für imposante Trickle down-Effekte sorgen kann: „Gelingt es erst einmal, eine neue Ware bei den tonangebenden 10 % der Bevölkerung einzuführen, so kann man sie später mit Hilfe des Snob-Appeals an Millionen verkaufen.“ (Geiger 1987, S. 489) Bereits im Jahr 1887 brachte ein Werbeslogan des großen Kaufhauses Macy’s dieses Prinzip auf den Punkt: „Goods suitable for the millionaire, at prices in reach for the millions.“ (zit. nach König 2000, S. 104) Mit Trickle down wird ein zentraler Mechanismus der Weitergabe von Verhaltensmustern beschrieben. In Veblens Analyse der müßigen Klasse (1958/zuerst 1899) ist dieser Ausstrahlungseffekt sehr populär. Damit ist gemeint, dass der Lebensstil der oberen Klassen von den unteren Klassen nachgeahmt wird und insofern demonstrativer Konsum auf unterschiedlichen sozialen Ebenen stattfindet. In neueren Arbeiten (z. B. Trigg 2001) wird der Zusammenhang von „social class“ und „conspicuous consumption“ infrage gestellt. Es wird argumentiert, dass sich das Konsumverhalten von dem Diktum der Klassenzugehörigkeit löst. Moden und Trends bewegen sich nicht immer von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben. Field beschreibt in „The Status Float Phenomenon“ mehrere Beispiele, wie etwa die Jeans oder der Minirock als Mode aus den unteren Schichten, die Pizza als Übernahme der Essgewohnheiten von ethnischen Minderheiten, High Heels oder Lippenstift als Übernahme der Verhaltensmuster von Randgruppen (Field 1970). Jedenfalls manifestiert sich in der Art und Weise, wie eine Gesellschaft von Moden und Trends durchdrungen werden kann, immer auch die Frage, wie unabhängig

Konsum – eine Kultur der Abwechslung

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unsere Entscheidungen sind. Man gibt zwar ungern zu, nicht Herr des Verfahrens zu sein und glaubt sich stets des subjektiv gemeinten Sinns einer Entscheidung bewusst zu sein, aber die Dinge, mit denen man sich umgibt, scheinen eine Ordnung zu enthalten, deren Ursache nicht immer, aber durchaus auch in ähnlichen Erfahrungswelten zu suchen ist. In sehr deutlicher Form, aber zugleich auch sehr anschaulich, hat Bourdieu diesen Sachverhalt einmal wie folgt beschrieben: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Handeln mehr Sinn, als sie selber wissen.“ (1987, S. 127) Für Riesman dokumentiert sich hier eine tiefe Unsicherheit des modernen Konsumenten. Als Riesman der US-amerikanischen Bevölkerung ein wachsendes Orientierungsbedürfnis an den Verhaltensstandards der Mitmenschen attestierte, diente ihm ein Buch über die Freuden beim Kochen als Beispiel: Ratschläge rund um die Ernährung wurden kollektiv empfangen und geteilt, ein gelungenes Dinner wurde am Urteil der Gäste gemessen, die zuvor selbst entsprechende Erwartungen anderer verinnerlicht hatten. So ist es für Riesman beispielsweise geradezu ein Erkennungsmerkmal dieses außengeleiteten Menschen, nicht nur bei der Zubereitung seiner Speisen eine eigene Note zu entwickeln, „sondern auch in der Art, wie er sich mit seinen Gästen darüber unterhält“ (1958, S. 154). Zur „plaisir de manger“ gesellt sich das „plaisir de la table“, beides Formen des Genusses, die Brillat-Savarin bereits 1825 in seinem Traktat zur Feinschmeckerei unterschied (Hahn 2004, S. 166) Riesmans Analyse wurde auch in Europa intensiv diskutiert und ist – trotz einer eher essayistischen Ausrichtung – zu einem Standardwerk der Konsumforschung geworden (ausführlich hierzu Jäckel 2011, S. 49–55). Auch 60 Jahre später wird sehr viel über gesunde Ernährung, abwechslungsreiches und ausgewogenes Essen gesprochen – und das mittlerweile nicht nur im persönlichen Gespräch am Tisch, sondern zunehmend vermittelt durch Ratgeberliteratur, Fernsehsendungen oder schriftliche Kommunikation auf einer Vielzahl von Internetplattformen. Der Genuss geht sprichwörtlich nicht nur durch den Magen, sondern in Form von Gesprächen zunehmend auch durch den Mund. So tritt beispielsweise neben den professionellen Restaurantkritiker der Amateur, der mit Lob und Tadel seine Umwelt prämiert. Ebenso werden Diskussionen über die Qualität von Lebensmitteln intensiver geführt, was einen Anstieg der Sensibilität gegenüber den Dingen, die täglich auf den Tisch kommen, mit sich bringt. Selbst Verbraucher, die dies nur am Rande registrieren, verspüren in ihrer Umwelt ein Bedürfnis nach unkonventionellen Ernährungsstilen (Backhaus 2015).

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Unterschiedsreize

Das Beispiel der Ernährung vermag gut zu verdeutlichen, dass im Prozess der Nachahmung eben nicht nur ein Kopiermechanismus angelegt ist, sondern ein weites Feld für Individualisierung. Man denke beispielsweise an die Enttäuschung, die einem widerfährt, wenn man als stolzer Besitzer eines neuen Kleidungsstücks dieses plötzlich an einer anderen Person sieht. Zugegeben: Im Falle von Markenprodukten und im Kontext von Branding-Kampagnen ist das gewünscht, denn die

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Community, die sich über Produkte und deren Verwendung definiert, findet darin ihre verbindende Klammer. Zugleich wird sie aber auf subtile Weise weiterhin mit Möglichkeiten der Diversifizierung versorgt, im Falle von Mobilfunkgeräten z. B. durch zahlreiche Varianten von Zubehör. Es ist also nicht der Besitz allein, der den Konsumenten antreibt. Er will, indem er die Dinge nutzt und in seinen Alltag integriert, selbst Zeichen setzen und von anderen konsumiert werden. In dieses Bild passt die offensive Strategie von Anbietern selbst, die den Konsumentenkreis, für den die Produkte bestimmt sind, aktiv definiert, am Point of Sale sichtbar macht und damit bewusste Ausgrenzung, sozusagen ein offensives targeting, an den Tag legt. Die einen sagen: Das ist nicht für Dich! Die anderen sagen: Das mag ich ohnehin nicht! Der andere Konsum beginnt also bereits dort, wo der Unterschied subjektiv eine Bedeutung bekommt. Daher ist das Bild eines Konsumenten, der nur darauf aus ist, von anderen aufgrund seiner Präferenzen konsumiert zu werden, vor allem ein Bild, das die Werbung bespielt und fördert, weil sie selbst am meisten davon hat. Aber neben die Signale, die von der Werbung ausgehen, tritt, was andere über Produkte und Dienstleistungen preisgeben. Seit einer Zunahme der Vernetzung nehmen Ratschläge zu, von Experten und Laien, die Einflusskaskaden in Gang setzen (Schwarmphänomene), deren Erforschung erst am Anfang steht. Eine Einschätzung lautet: „Dem Schwarm fehlen die evidente Hierarchie und die feste Ordnung. Aber er zeigt koordinierte Bewegung und passt insofern vielleicht ja recht gut zur Mischung aus Individualismus und Konformität, die modernen Zusammenrottungen eignet“ (Güntner 2009). Für Gabriel Tarde waren Innovationen das Ergebnis singulärer Impulse (Tarde 2003/zuerst 1890, S. 27). Die Störung vorhandener Strukturen gelingt selten aus der Mitte dieser sozialen Systeme, sondern als Anstoß von außen. Steve Jobs antwortete einmal auf die Frage, warum er keine Marktforschung betreibe: „Die Kunden wissen gar nicht, was sie wollen, bis wir es ihnen zeigen.“ (zit. nach Isaacson 2011, S. 320–321) Auf eine vergleichbare Frage eines Journalisten des Magazins Popular Science antwortete er: „Hat Alexander Graham Bell etwa Marktforschung betrieben, bevor er das Telefon erfand?“ (Isaacson 2011, S. 203) Signale, die wir aus der Umwelt erhalten, werden von den wenigsten ignoriert. Die Diffusionsforschung hat zwischenzeitlich hinreichend belegt, dass im Falle der Übernahme von Innovationen sowohl sachliche als auch soziale Aspekte eine Rolle spielen. Ratschläge Dritter werden dann gesucht, wenn die Ungewissheit, die mit einer bestimmten Entscheidung verbunden ist, auf der Ebene formeller Informationsquellen nicht angemessen reduziert werden kann. Meinungsführerschaft wird also dann eintreten, wenn die Verhaltensunsicherheit groß ist und Individuen nach Orientierungshilfe suchen, um Risiken zu minimieren. Gerade dann aber spielen insbesondere die sogenannten Konsum-Pioniere, die man auch als „wagnishafte Neuerer“ bezeichnet, eine große Rolle. Sie übernehmen im Grunde genommen höhere Innovationskosten als jene, die eine Innovation später übernehmen. Auch hier wird ein individualistischer Mechanismus beschrieben, der weitergehende Prozesse in Gang setzt. Heute drängt sich das Andere regelrecht auf, bis hin zu einer App, die dazu auffordert, sich mit dem Rest der Welt zu vergleichen. Die öffentliche Meinung kann so zu einem ständigen Begleiter werden und Nachahmungskaskaden in Gang setzen.

Konsum – eine Kultur der Abwechslung

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Sie kann das Anderssein auch geradezu herausfordern, weil man aus diesen Schwärmen ausbrechen möchte. Führt man diesen Gedanken fort, so erweisen sich die neuen Kanäle als große Experimentier-Plattformen, auf denen Selbstdarstellung, insbesondere für junge Menschen, Teil einer Bewertungskultur wird. Auch hier darf nicht nur kopiert werden, Abwechslung zeigt sich in einem anderen Umgang mit Moden, Trends, mit Produkten, die für eine Generation stehen. Der Impuls, diesen Bewegungen zu folgen, ist dabei auch, aber nicht nur dem Bedürfnis zuzuschreiben, Teil einer Masse sein zu wollen. Und doch: Selbst in diesen gleichgerichteten Bewegungen bleibt das Verlangen nach einem Hauch von Besonderheit erhalten. Für den Soziologen Georg Simmel war gerade diese Parallele von Nachahmung und Distinktion das Faszinierende an der Mode an sich. Denn diese sei „eine besondere unter jenen Lebensformen, durch die man einen Kompromiß zwischen der Tendenz nach sozialer Egalisierung und der nach individuellen Unterschiedsreizen herzustellen suchte“, schrieb er bereits im Jahr 1895 (Simmel 1989/zuerst 1895, S. 132). Damit wird ein typisches Merkmal der modernen Kultur markiert, das bereits Simmel in seiner Unterscheidung von subjektiver und objektiver Kultur festgehalten hat: die Steigerung des Verhältnisses zwischen den Errungenschaften einer Gesellschaft und den „fragmentarischen Daseinsinhalten der Individuen.“ (Simmel 1900, S. 478)

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Konsumalltag

Die Vorstellung selbst strahlt ab in andere, ganz alltägliche Bereiche, wo es gar nicht um Extravaganz geht. Man denke nur an das tägliche Einkaufen – also nicht an Shopping, das wohl nicht nur semantisch einen Unterschied darstellt, sondern geradezu danach verlangt, einem anderen Kaufmodus zu entsprechen. Der US-amerikanischen Konsumforschung ist der frühe Hinweis zu verdanken, dass gerade die täglichen Dinge – Zahnpasta, Mineralwasser, Käsesorten – deshalb so intensiv beworben werden, weil sie nicht so wichtig erscheinen. Gleichgültigkeit gegenüber der Bedeutung eines Produkts erhöht quasi die Chance auf Werbewirkung. Warum also diese Vielfalt bei Dingen, die jeder braucht? Weil auch dort eine Mischung aus kleinen und großen Unterschieden Farbe in den Alltag bringt, der doch eigentlich – auch qua Bezeichnung – eher farblos wirkt. Treffend ist daher der Ausspruch eines Wirtschaftshistorikers: „Früher gab es ein Brot für jeden Geschmack. Heute gibt es für jeden Geschmack ein Brot.“ (Voth 2010, S. 44) Das Anderssein, der kleine Unterschied, gelingt hier beiläufig beim Einkaufen. Auf der Ebene des Einzelnen führen diese Wahlen trotzdem in vielen Fällen zu Gewohnheiten. Das sogenannte evoked set beschreibt das Spektrum der Optionen, die im Fokus bleiben. Vieles wird also ignoriert und hat es schwer, überhaupt eine Chance zu bekommen. Das ist die Freiheit des Verbrauchers, die er irgendwann gar nicht mehr wählt, sondern als Abwehr gegen die Tyrannei der kleinen Entscheidungen (Hirsch 1980, S. 58) einsetzt. Das Leben selbst in die Hand nehmen zu müssen, heißt nicht notwendigerweise Selbstverwirklichung auf breiter Front. Dennoch wird, wenn sich die Alternativen auf wenig Unterscheidbares reduzieren, mit der Metapher

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„Vielfalt“ gearbeitet. Das Brot-Beispiel kontrastiert eine Welt der Knappheit mit einer Welt der Optionen. Jedenfalls hätte sich der Mensch des 19. Jahrhunderts verwundert gezeigt, wäre ihm empfohlen worden: „Die Wahl, wann wir wählen wollen, ist möglicherweise die wichtigste Wahl, die wir treffen können.“ (Schwartz 2004, S. 117) Solange es ums Überleben ging, war für Selbstverwirklichungsansprüche wenig Platz. In Bezug auf die Ernährung hat Mennell hierzu zwei markante Aussagen formuliert: „Wenn die Nahrung knapp ist, wird der Mensch weniger wählerisch. [. . .] Wenn die Leute genug zu essen haben, wird der ‚Geschmack‘ wichtig.“ (1988, S. 40) Evolutionär ist an dieser Entwicklung der Wandel von Standards, etwa im Hinblick auf die Wertschätzung bestimmter Entwicklungsstufen. „Nein, ich gehöre nicht zu den Leuten, die lieber im 18. Jahrhundert gelebt hätten. Wenn man mich plötzlich dahin beförderte, würde mir zwar einiges bestimmt besser gefallen – die Architektur, das Mobiliar, die Literatur, Malerei und Musik [. . .] –, aber vieles würde mir doch fehlen: Wasserklos, Badewannen, Kopfschmerztabletten [. . .], Zentralheizung“, schrieb Sebastian Haffner 1985 (S. 312) und unterstrich damit nebenbei, dass es sich lohnt, zwischen Bedürfnissen und Ansprüchen zu unterscheiden. Die allgemeine Mehrung des Wohlstands befördert zugleich ein individuelles Aufstiegsstreben, das von immer neuen Öffnungsimpulsen (Habermas 1998, S. 126) begleitet wird. Diese gehen „von neuen Märkten, Kommunikationsmitteln, Verkehrswegen und kulturellen Vernetzungen aus [. . .].“ (Habermas 1998, S. 126) Die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten öffnet dabei den Menschen die Augen und die Märkte selbst sorgen durch eine gesteigerte Informationskonkurrenz zusätzlich für den Eindruck einer Vielfalt von Wahlmöglichkeiten. Der Einzelne kann sich also immer weniger darauf verlassen, dass andere für ihn Entscheidungen treffen, Selbstverpflichtungen nehmen zu und „das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können.“ (Habermas 1998, S. 126–127)

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Ansprüche

Der russische Historiker und Dichter Nikolai Karamzin (1765–1826) erzählt in seinen Reiseberichten von einem Zusammentreffen mit Immanuel Kant, in dem dieser ihm über die moralische Natur des Menschen Folgendes berichtet habe: „Unsere Bestimmung ist Tätigkeit. Der Mensch ist niemals ganz mit dem zufrieden, was er besitzt, und strebt immer nach etwas anderem. Der Tod trifft uns noch auf dem Weg nach dem Ziel unserer Wünsche. Man gebe dem Menschen alles, wonach er sich sehnt, und in demselben Augenblicke, da er es verlangt, wird er empfinden, daß dieses Alles nicht alles sei.“ (Karamzin 1922, S. 35) Auch der französische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) schrieb in seinen „Gedanken“: „[. . .] daß das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können. [. . .] [M]an sucht Unterhaltungen und Zerstreuung bei Spielen nur, weil man nicht vergnügt zu Hause bleibt.“ (Pascal 1992/zuerst 1670, S. 69)

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Spätestens seit Walt W. Rostow das „Zeitalter des Massenkonsums“ als eines von fünf Wachstumsstadien der wirtschaftlichen Lage einer jeden Gesellschaft charakterisierte, ist das Problem von Wunsch und Erfüllung evident. Rostow bemerkte im Amerika der 1950er-Jahre einen sinkenden Grenznutzen für dauerhafte Konsumgüter. In Anlehnung an Thomas Manns Familiensaga bezeichnete er seine Feststellung als „Buddenbrook-Dynamik“ und wollte damit auf die wechselnden Wünsche der Generationen hinweisen (Rostow 1960, S. 27). Dadurch, dass Dinge als selbstverständlich hingenommen werden, verändern sich die Bewertungsmaßstäbe. Bei Thomas Mann strebt die erste Generation nach Geld, die zweite nach sozialer und gesellschaftlicher Stellung und die dritte – die beides besitzt – sucht ihr Glück in der Musik. Darin wird eine besondere Eigenheit des Konsums deutlich, der den Bedarf nach etwas Neuem zu einer Konstante erhebt. Die Dynamik der Bedürfnisse wird hier in einem Zyklus von Zufriedenheit und Unzufriedenheit eingebettet, der offensichtlich nie zur Ruhe kommt. Albert O. Hirschman hat diesen Sachverhalt in seiner Analyse „Engagement und Enttäuschung“ sehr anschaulich beschrieben. Von ihm stammt der wichtige Hinweis, dass jede Form des Konsums den Keim der eigenen Zerstörung in sich trägt. Das Glück der Menschen, so Hirschman, sei daher immer enttäuschungsbedroht, weil die Erfüllung eines Wunsches gelegentlich auch zur Qual werden kann. Dies gelte in besonderer Weise für langlebige Konsumgüter. Sobald man ein Produkt gekauft habe und es sich eine gewisse Zeit im Besitz des Konsumenten befinde, gehe das Vergnügen an diesem neuen Gut verloren und es werde zunächst durch ein Wohlbefinden ersetzt. Insgesamt aber werden langlebige Güter mit der Zeit einfach langweilig. Besonders eindringlich verdeutlicht Hirschman diesen Zeitfaktor des Konsums mit einer sehr interessanten Aussage von George Bernard Shaw: „Es gibt im Leben zwei tragische Erfahrungen: Die eine ist, daß man nicht bekommt, was man sich sehnlichst wünscht, die andere ist, daß man es bekommt.“ (Hirschman 1984, S. 67–68) Hirschmans Beobachtungen werden nicht durch empirische Daten untermauert. Dennoch wird man angesichts der Beschleunigung der Innovationszyklen heute alleine deshalb gelegentlich enttäuscht, weil man sich irgendwann entscheiden muss. Der Bereich der modernen Unterhaltungselektronik ist dafür ein gutes Beispiel. Aber dieses Enttäuschungspotenzial ist nicht die einzige Quelle, die den Zyklus von Zufriedenheit und Unzufriedenheit in Gang halten kann. Paul Wachtel hat in seiner Analyse „The Poverty of Affluence“ gezeigt, dass die amerikanische Mittelklasse von einem Anspruchsniveau zum nächsten getrieben wird. Im Jahr 1958 war es beispielsweise Luxus, als Familie im Besitz von zwei Autos zu sein. Im Jahr 1983 waren zwei Autos fast schon eine Notwendigkeit und wurden nicht mehr als eine Erhöhung des Lebensstandards wahrgenommen. Die provokante These von Wachtel lautete damals: „[. . .] the way the growth economy has been constructed, it creates more needs than it satisfies and leaves us feeling more deprived than when we had less.“ (Wachtel 1983, S. 16) Selbst der Luxussektor bleibt hiervon nicht unberührt. Der Prestigewettlauf, der von Veblen kritisiert wurde, setzt sich auch im 21. Jahrhundert fort. Hier sei nur ein Beispiel erwähnt: „You look around,“ Mr. Barbagallo said, „and the pressures to spend more are everywhere. Children want the latest

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fashions their peers are wearing and the most popular highticket toys. Furniture does not seem up to snuff once you move into a multimillion-dollar home. Spouses talk, and now that resort in Mexico the family enjoyed so much last winter is not good enough when looking ahead to next year. Summer camp, a full-time housekeeper, vintage wines, country clubs: the cost of living bloats. To Mr. Milletti, it all looks like a marathon with no finish line.“ (Rivlin 2007; Frank 2009) Im Sinne Hirschmans werden hier die Leidenschaften für das Gemeinwohl instrumentalisiert (Hirschman 1987). Diese Leidenschaften sind es auch, die eine soziologische Wahlverwandtschaft zwischen Luxus und Mode begründen: Die Faszination der Produkte ist niemals von Dauer, Luxuszyklen sind Modezyklen, die immer wieder Neues hervorbringen oder bereits Vergessenes reaktualisieren. Damit produziert das Bedürfnis nach Einzigartigkeit (Mode und Luxus kann nie sein, was alle tun) zugleich eine immer differenziertere Waren- und Dienstleistungsvielfalt. Knappheit wird also durch Steigerung des Warenangebots nicht aus der Welt geschafft, obwohl beständig daran gearbeitet wird, einen anderen Eindruck zu vermitteln. Die sogenannten Grundbedürfnisse sind heute andere als vor 50 Jahren, zumindest werden sie mit anderen Ansprüchen umgeben. Güter des täglichen Bedarfs können den Verbraucher in minimalistischer Form, aber auch auf unterschiedlichen Kreativitätsstufen umwerben, bis hin zur Stilisierung einfachster Nahrungsmittel (man denke nur an Kartoffelsuppe und Currywurst im Gourmettempel). Die Welt des Discounts wiederum forciert seit vielen Jahren die Suche nach der Logik des Billigen. Dem Preis kommt eine betörende Signalwirkung zu: Selbst auf niedrigstem Niveau wird die Zuschreibung von Qualität auf der Seite des Konsumenten als doppelter Gewinn verbucht. Man hat beim Ausgeben gespart und trotzdem – so glaubt man jedenfalls – gut konsumiert. Ebenfalls legt man es gerne als eine kluge Anpassung aus, wenn für andere ein Arrangieren mit dieser Vielfalt an Gelegenheitsstrukturen Teil des Konsumalltags wird. Häufig liegen die Anbieter in räumlicher Nähe, sodass die Bequemlichkeit obsiegt.

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Verzicht

Am Anfang dieses Beitrags stand die Konsumkritik als Ausdruck eines Unbehagens im Umgang mit Bedürfnissen. Dies ist nicht mit der Idee eines romantischen Primitivismus gleichzusetzen, zeigt aber Parallelen zu einem vielfach beschriebenen Fortschrittsparadox. Zu den auffälligsten Gefühlsäußerungen der Moderne gehört die Bewunderung des einfachen Lebens (Sandall 2005, S. 1042). Aber eine tief greifende Revolte der „Gesättigten“ gegen den Wohlstand findet nicht statt. Mehr Zuspruch erfahren Strategien, die einem das Gefühl vermitteln, ein gutes und nachhaltiges Leben zu führen. Extreme Formen des Verzichts laufen eher Gefahr, dass nur ihre Besonderheit im Sinne eines Aufmerksamkeitsgaranten vermarktet wird. Die Chance, viele Nachahmer zu finden, ist eher gering. Die Werteverschiebung manifestiert sich stärker in der Gestalt eines moralischen Hedonismus, der in Verbindung mit einem überzeugenden Akronym Nachhaltigkeit und Konsum verbündete: LOHAS (Lifestyle

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of Health and Sustainability). Verzicht bekommt dadurch ein anderes Gesicht. Man zieht nicht den Pullover des älteren Bruders an, sondern erwirbt ausschließlich „fair trade“-Produkte, die „environmentally safe“ sind. Dinge, die einem hinterlassen werden, landen vermehrt auf Trödelmärkten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Karikatur, die zwei Nachbarn zeigt, die sich vor ihrem Grundstück über ihre Nachhaltigkeitsphilosophie unterhalten. Der eine sagt: „Wir schützen die Umwelt, indem wir weniger konsumieren“. Der zweite, umgeben von einem Müllberg: „Wir schützen die Umwelt, indem wir viele umweltfreundliche Produkte konsumieren.“ So unterschiedlich können die Antworten auf die Moralisierung der Märkte sein (Stehr 2007). Zu den Eigentümlichkeiten der Konsumgesellschaft gehört also nicht nur, dass sie seit ihren Anfängen mit Verzichtappellen konfrontiert wurde – beispielsweise Diderots frühe Klage über den neuen Hausrock, obwohl es der alte doch noch getan hätte. Sie hat vielmehr immer auch registrieren müssen, dass von Vielfalt und Unterschiedlichkeit ein nicht zu unterschätzender Reiz ausgeht. Darin bleibt ein Spannungsverhältnis angelegt zwischen dem, was Menschen tun, und dem, was sie theoretisch alles tun könnten. Anders zu konsumieren ist als zunehmender politischer und moralischer Appell daher ein weiteres Muster für einen Innovationszyklus. Es ist weniger der dauerhafte Verzicht, dem hier gefolgt wird, sondern der Vorstellung, beim Geldausgeben etwas Gutes zu tun. Deshalb halten die Märkte auch in diesem Feld viele Angebote bereit, die Verhaltenserwartungen mal aufwandsreich, mal in einer weniger anstrengenden Form einfordern. Siegel haben Konjunktur. Die Selbstverwirklichung auf breiter Front findet Vielfalt auch dort, wo es eigentlich um Verzicht geht. Darum stößt Konsumkritik selten an die Grenzen des Geschmacks, und noch weitaus seltener auf offene Ohren.

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M. Jäckel

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Konsum – eine Kultur der Abwechslung

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Kulturen und Praktiken des Körpers Michael Meuser und Nicole Kirchhoff

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Soziologische Perspektiven auf den Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Methodologische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Eine soziologische Thematisierung des Körpers ist anders als in kultursoziologischer Perspektive nicht möglich. Gegenstand der Körpersoziologie ist der kulturell geformte, in kulturellen Bezügen agierende und soziale Einbindungen wie individuelle Besonderheiten anzeigende Körper. In Rekurs auf kultursoziologisch relevante Thematisierungen des Körpers in unterschiedlichen soziologischen Theoriesträngen wird das thematische Spektrum einer (kultur-)soziologischen Befassung mit dem Körper dargelegt. Des Weiteren werden methodologische Fragen einer auf den Körper gerichteten empirischen Forschung diskutiert. Schlüsselwörter

Körper · Praxis · Diskurs · Materialität · Habitus

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Einleitung

Eine soziologische Thematisierung des Körpers ist anders als in kultursoziologischer Perspektive nicht möglich. Gegenstand der Körpersoziologie ist der kulturell geformte, in kulturellen Bezügen agierende und soziale Einbindungen wie individuelle M. Meuser (*) · N. Kirchhoff Institut für Soziologie, Technische Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_30

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M. Meuser und N. Kirchhoff

Besonderheiten anzeigende Körper, sind „somatische Kulturen“ (Boltanski 1976). Zwar liegt der Körper wegen seiner physischen Materialität gleichsam auf der Grenze von Natur und Kultur (Turner 1996, S. 74), doch ist er den handelnden Menschen nicht jenseits seiner kulturellen Geformtheit gegeben. Die Annahme der Philosophischen Anthropologie, dass der Mensch wegen seiner Instinktreduziertheit „von Natur aus ein Kulturwesen“ (Moebius 2010, S. 18) und Kultur gleichsam seine „zweite Natur“ ist (ebd.), trifft auf den menschlichen Körper nicht weniger zu als auf kulturelle Gebilde wie Institutionen oder Rituale. Nur in biologischer Perspektive lässt sich der menschliche Körper als ein Organismus aus Fleisch und Blut ohne Rekurs auf kulturelle Sinngebungen beschreiben. Die Soziologie hat es hingegen mit handelnden, in intersubjektiven Beziehungen stehenden Organismen zu tun (Mead 1987), mit dem Körper als Mittler zwischen Akteur und Außenwelt (Schütz 1981, S. 92) bzw. als „realer Akteur“ (Bourdieu 2001, S. 171), der von den sozialen Bezügen, in denen er steht, geprägt ist und in die er eingreift. Die für jede Variante von Kultursoziologie grundlegende Annahme „einer Wechselwirkung von Kultur und Gesellschaft“ (Stagl 2014, S. 306; Herv. i. O.) trifft auch und gerade zu, wenn man den Körper in kultursoziologischer Absicht betrachtet. Dies impliziert ein Verständnis von Kultursoziologie, das diese nicht als eine spezielle Soziologie fasst – als Soziologie eines spezifischen sozialen Systems oder einer „abgrenzbare[n] Sphäre“ (Hörning 2016, S. 301) Kultur –, sondern im Sinne einer grundlegenden Perspektive auf das Soziale, „die Kultur als wichtigstes Merkmal des Menschen und somit aller seiner Handlungen und Beziehungen auffasst“ (Rehberg 2010, S. 25) bzw. „als notwendige Bedingung aller sozialen Praxis“ (Hörning 2016, S. 302; Herv. i. O.). In diesem Verständnis ist auch der Körper – als kulturell geformter und in kulturell geprägten Kategorien wahrgenommener und erfahrener – in den Blick zu nehmen.1 Es folgt einem wissensorientierten Kulturbegriff, der Kultur als eine „Dimension kollektiver Sinnsysteme, die in Form von Wissensordnungen handlungsleitend wirken“ (Reckwitz 2000, S. 90), begreift. Wissensordnungen lassen sich in einem engen Verständnis des Wissensbegriffs als kognitive, vor allem sprachlich vermittelte Ordnungen fassen. Wie u. a. Foucault, Elias und Bourdieu gezeigt haben, sind diese Wissensordnungen auch – und nicht zuletzt – inkorporierte Ordnungen. Im Folgenden werden wir, in Rekurs auf kultursoziologisch relevante Thematisierungen des Körpers in unterschiedlichen soziologischen Theoriesträngen, verschiedene Aspekte einer (Kultur-)Soziologie des Körpers erläutern, sodass das thematische Spektrum einer soziologischen Befassung mit dem Körper sichtbar wird, um abschließend methodologische Fragen einer auf den Körper gerichteten empirischen Forschung anzusprechen.

Hingegen würde eine sich als „Bereichssoziologie“ (Hörning 2016, S. 301) verstehende Kultursoziologie auf den Stellenwert des Körpers in bestimmten Bereichen der populär- wie der hochkulturellen Sphäre fokussieren, z. B. im Tanz, im Theater, in der Musik. 1

Kulturen und Praktiken des Körpers

2

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Soziologische Perspektiven auf den Körper

Als Hans Joas vor 25 Jahren der soziologischen Handlungstheorie vorhielt, ihr Verhältnis zum Körper zeichne sich durch eine „Art theoretischer Prüderie“ (Joas 1992, S. 245) aus, war dies insofern eine zutreffende Diagnose, als der Körper trotz der von Dietmar Kamper und Christoph Wulf (1982) bereits ein Jahrzehnt zuvor beschriebenen „Wiederkehr des Körpers“ zumindest in der deutschsprachigen Soziologie kaum als ein relevanter Gegenstand soziologischer Forschung und Theoriebildung wahrgenommen wurde. Allerdings war der Körper in der Soziologie niemals abwesend. Er hatte, so Chris Shilling (1993, S. 3), lange Zeit den paradoxen Status einer „abwesenden Anwesenheit“ („absent presence“). Diese Formulierung weist auf die Geschichte einer verborgenen Existenz des Körpers in der Soziologie hin. In dem Maße, in dem sich seit den 1990er-Jahren eine Soziologie des Körpers herausbilden und in einer Weise etablieren konnte, dass – nach einigen anderen „turns“ („linguistic“, „cultural“, „iconic“, „pragmatic turn“) – auch von einem „body turn“ (Gugutzer 2006) die Rede ist, hat eine Re-Lektüre soziologischer Klassiker und Theorien eingesetzt (Gugutzer 2015; Gugutzer et al. 2017; Shilling 1993). Diese bringt nicht nur verborgene Körperspuren in der Weise ans Licht, dass sie darauf hinweist, dass sich ein bestimmter Klassiker auch und nebenbei mit dem Körper befasst hat, sie zeigt vielmehr, dass die körperliche Dimension des Sozialen in vielen Werken einen zentralen Stellenwert hat, der allerdings in den Rezeptionen von Klassikern und Theorien sowie den einschlägigen Überblickswerken lange Zeit vernachlässigt wurde. Die neue Aufmerksamkeit für den Körper ist freilich kein Spezifikum der Soziologie; in den Kulturwissenschaften (Netzwerk Körper 2012) und der Geschichtswissenschaft (Lorenz 2000) ist der Körper ebenfalls ein prominenter Untersuchungsgegenstand. Gemeinsam ist der disziplinübergreifenden Befassung mit dem Körper eine Kritik an der cartesianischen, das Kognitive priorisierenden Maxime des „cogito, ergo sum“ bzw. die Intention, den Körper-GeistDualismus zu überwinden, für den der Körper ein Epiphänomen in der Bestimmung des Menschen als soziales und kulturelles Wesen ist. Exemplarisch und für die Soziologie höchst folgenreich kommen dieser Dualismus und das Verständnis des Körpers als Epiphänomen in der Weber’schen Konzeption sozialen Handelns zum Ausdruck, derzufolge dieses, in Abgrenzung zum Verhalten, dann vorliegt, wenn der Handelnde es mit einem subjektiven Sinn verbindet. Zwar konzidiert Max Weber (1972, S. 10), dass das „reale Handeln [. . .] in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ‚gemeinten Sinn‘“ verläuft, dass der Handelnde den Sinn mehr fühle, als dass er ihn wüsste und überwiegend „triebhaft oder gewohnheitsmäßig“ handle. Indem er aber das zweckrationale Handeln zur analytischen Leitkategorie erhebt und die real dominierende Halb- bzw. Unbewusstheit für die idealtypische Betrachtung vernachlässigt, kann die körperliche Dimension des Handelns auf der konzeptionellen Ebene nicht in den Blick gelangen. Der Körper, von dem in der Weber’schen Handlungstheorie nicht die Rede ist, wäre vermutlich eines der „Daten [. . .], mit denen zu rechnen ist“ (ebd., S. 3), z. B. als Bedingung, Hemmung oder Förderung des verstehbaren Handelns (ebd., S. 6).

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M. Meuser und N. Kirchhoff

In körpersoziologischer Perspektive steht der Umstand, dass der Sinn des Handelns mehr gefühlt als explizit gewusst wird, im Zentrum der Betrachtung. Je nach theoretischer Ausrichtung kommen dabei unterschiedliche Aspekte in den Blick.

2.1

Der Körper als Display und Mittel der Handlungskoordination

Anders als Weber hat Georg Simmel, der wie jener für eine kultursoziologische Ausrichtung der Soziologie steht, die soziologische Bedeutung des Körperlichen erkannt. Simmel, der Gesellschaft als ein Gefüge von „Wechselwirkungen“ versteht und in dem Wechselwirkungscharakter sozialer Beziehungen den Gegenstand der Soziologie sieht (Simmel 1992, S. 19), hat in einer Abhandlung über die „Soziologie der Sinne“ (Simmel 1993) dafür plädiert, nicht nur die „großen und offensichtlichen sozialen Gebilde“ (ebd., S. 276) in den soziologischen Blick zu nehmen, sondern auch „all die tausend, von Person zu Person spielenden [. . .] Beziehungen“, denn sie „knüpfen uns unaufhörlich zusammen“ (ebd., S. 277). Für diese Beziehungen sei die gegenseitige sinnliche Wahrnehmung unabdingbare Voraussetzung, ohne sie gäbe es keine Wechselwirkungen. Simmel eröffnet damit eine Perspektive, die es ermöglicht, den Körper als einen soziologischen Gegenstand zu betrachten. Unter den von ihm behandelten Sinnen – Auge, Ohr und Geruchssinn – weist er dem Auge eine exponierte Bedeutung zu. Es sei auf „eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sichanblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht.“ (ebd., S. 279 f.; Herv. d. Verf.). Im Akt des Blickens versuche man nicht nur den Anderen zu erkennen, man offenbare sich zugleich selbst. Damit sei die „vollkommenste Gegenseitigkeit“ erreicht (ebd., S. 280). Diese Reziprozität eigne nur dem Auge, nicht aber den anderen Sinnen. Simmel reißt in der von ihm selbst als fragmentarisch bezeichnetet Abhandlung ein Thema an, das bei Erving Goffman im Zentrum seiner Analyse der Interaktionsordnung steht: die Bedeutung körperlicher Kopräsenz für das Gelingen sozialer Interaktion (Müller und Raab 2017). Die Funktion der Offenbarung, die Simmel dem Auge beimisst, lässt sich mit Goffman (1982, S. 32, 34) als „leibgebundene Kundgabe“ und „einfache Leibeskontrolle“ begreifen. Goffman versteht den Körper insgesamt, nicht nur die Augen, auch und vor allem seine Bewegungen, seine Haltungen, ferner die Art, wie er, z. B. durch Kleidung oder Make-up, gestaltet ist, als Display, als „Fläche, die permanent Auskunft gibt“ (Hirschauer 2008, S. 980). Über den Körper findet zwangsläufig Kommunikation statt, ob dies gewollt ist oder nicht. „Ein Mensch kann aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren“ (Goffman 1971, S. 43). Die Sichtbarkeit des Körpers macht ihn zwangsläufig zu einem Träger von Bedeutung, und diese muss nicht im Einklang mit den Intentionen des Handelnden stehen. Die soziale Situationen kennzeichnende „folgenschwere Offensichtlichkeit“ (Goffman 1994, S. 58) gründet in der Körperlichkeit. Goffman stellt in seiner Analyse der Interaktionsordnung heraus, dass diese auf körperlicher Kopräsenz beruht. Um an einer sozialen Situation teilzunehmen, müsse man „den Körper und seine dazuge-

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hörige Ausstattung“ (ebd., S. 60) einbringen. Eine soziale Situation ist eine Umwelt („environment“) von Möglichkeiten wechselseitiger Beobachtung, in der ein Individuum sich selbst den „nackten Sinnen“ aller anderen, die kopräsent sind, zugänglich sieht (Goffman 1972, S. 63). Der leibgebundenen Kundgabe korrespondiert eine „einfache Leibeskontrolle“ (Goffman 1982, S. 34) mittels wechselseitigem visuellen Abtasten. Beides erfolgt weitgehend präreflexiv. Die Geordnetheit der Interaktion basiert auf dem vorreflexiven Austausch körperlicher Informationen. In ethnomethodologischer Begrifflichkeit handelt es sich um accounting practices, wie Garfinkel (2002, S. 245 ff.) am Beispiel des Anstehens in einer Schlange zeigt. JeanClaude Kaufmann (1996) hat mit Rekurs auf Goffman in einer Studie über die Interaktionsordnung des Ent- und Verhüllens des weiblichen Busens am Strand nuancenreich beschrieben, in welcher Weise diese Ordnung, die nirgendwo schriftlich fixiert ist, gleichwohl rigide Normen u. a. hinsichtlich des Alters der Frauen, der Größe des Busens und der Straffheit der Haut kennt, nonverbal, allein über einen Austausch von Blicken hergestellt wird. Kaufmann zeigt des Weiteren, mit Rekurs auf Norbert Elias, dass das stillschweigende Spiel der Blicke eine Zivilisierung des Sehens zur Voraussetzung hat: eine „Kunst des Sehens ohne zu sehen“ (ebd., S. 163), bei dem die Augen „niemals auf einem nackten Busen zum Stillstand kommen“ dürfen (ebd., S. 164).

2.2

Zivilisierte und disziplinierte Körper

Norbert Elias (1976) hat in seinem Buch „Über den Prozeß der Zivilisation“, das man mit Robert Gugutzer (2015, S. 55) als „‚den‘ Klassiker der Körpersoziologie“ bezeichnen kann (vgl. auch Kautt und Willems 2017, S. 302), eine historisch angelegte Analyse des Verhältnisses von Sozio- und Psychogenese vorgelegt, in welcher dem Körper ein zentraler Stellenwert zukommt. Elias zufolge ist für die Ausbildung eines zivilisierten Habitus eine Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge erforderlich. Komplexe Verkettungen individueller Handlungen und langfristiges Verfolgen von Handlungszielen setzen, so Elias, einen Körper voraus, der es gelernt hat, Triebimpulsen und Affekten nicht unmittelbar nachzugeben. Selbstkontrollen schieben sich zwischen Triebimpulse und „Skelettmuskeln“ und „hindern die ersteren mit größerer Strenge daran, die letzteren, das Handeln, direkt, also ohne Zulassung durch die Kontrollapparatur, zu steuern“ (Elias 1976, Bd. 1, S. LXI). Neben einer bewussten Selbstkontrolle entsteht eine „blind arbeitende Selbstkontrollapparatur“ (Elias 1976, Bd. 2, S. 317), die, wie der Verweis auf die „Skelettmuskeln“ zeigt, als inkorporierte zu verstehen ist. Im Zuge des Zivilisationsprozesses tritt ein in diesem Sinne verstandenes Körper(selbst)management mehr und mehr an die Stelle körperlicher Stärke als Garant gesellschaftlichen Erfolges. Der Körper wandelt sich im historischen Prozess, er entwickelt neue Fähigkeiten und Empfindungen, wie Elias eindrucksvoll an der Soziogenese von Scham und Peinlichkeit zeigt. Vormals übliche Verhaltensweisen, z. B. das Bohren in der Nase oder das Spucken, werden zumindest in der Öffentlichkeit als anstößig und peinlich empfunden und erzeugen körperliche Empfindungen wie Ekel.

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M. Meuser und N. Kirchhoff

Eine historische Betrachtung kennzeichnet auch Michel Foucaults Analysen der kulturellen Formung des Körpers. Foucault entfaltet eine machtanalytische Perspektive auf den Körper im Sinne einer „politischen Technologie des Körpers“ (Foucault 1977, S. 34). Er interessiert sich dafür, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse in die Körper der Individuen eingeschrieben werden. In „Überwachen und Strafen“ (1977) zeigt er, wie im Übergang zur Moderne die Marter, die darauf abzielt, dem Körper des Schuldigen der Schwere der Tat entsprechende Schmerzen zuzufügen, abgelöst wird von einer Bestrafung, die den Körper physisch unversehrt lässt, ihn stattdessen zum Objekt der Kontrolle und der Disziplinierung macht. Am Beispiel des Strafsystems verdeutlicht Foucault, in welcher Weise der Körper in der modernen Gesellschaft zu einem zentralen Faktor bei der Durchsetzung von Macht wird. Nicht nur im Gefängnis, auch im Militär, in der Fabrik, im Sport und in der Schule werden die Körper Technologien der Disziplinierung unterworfen, die sie zu fügsamen und produktiven Körpern machen, zu Elementen, „die man plazieren, bewegen und an andere Elemente anschließen kann“ (ebd., S. 212). So entstehen „gelehrige“ Körper, die sich reibungslos in die Maschinerie der modernen Produktionsbedingungen einfügen. In „Der Wille zum Wissen“ zeigt Foucault „wie sich Machtdispositive direkt an den Körper schalten – an Körper, Funktionen, physiologische Prozesse, Empfindungen, Lüste“ (Foucault 1983, S. 180 f.). Er legt dar, wie sich Diskurse über Sexualität entwickelt haben, in denen die Macht den sexuellen Körper „ergreift und umschlingt“ (ebd., S. 60). Dies sei zunächst innerhalb der herrschenden Klassen erfolgt, die damit verbundene „Aufwertung des Körpers“ sei Teil der „Etablierung der bürgerlichen Vorherrschaft“ (ebd., S. 150). Im Diskurs über den Sex, den Foucault als Teil einer „Bio-Politik der Bevölkerung“ (ebd., S. 166) begreift, würden die Kontrolle des Körpers und die Reproduktion der Gattung miteinander verknüpft. Die herrschende Klasse habe sich einen Körper gegeben, den es zu kultivieren gilt, „damit er seinen eigenen Wert behalte“ (ebd., S. 148). In seiner Analyse des Verhältnisses von Körper und Macht betont Foucault die Produktivität von Macht. Wie die Rede vom gelehrigen Körper anzeigt, ist Macht nicht nur als etwas Repressives zu begreifen. Macht „produziert Gegenstandsbereiche und Wirklichkeitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion“ (Foucault 1977, S. 250). Im Zuge der Entwicklung der spätmodernen Gesellschaft, in der Selbstführung und Selbstoptimierung zu zentralen Anforderungen an die Individuen geworden sind, tritt an die Stelle der Repression zunehmend eine Stimulation des Körpers, wie gouvernementalitätstheoretische Analysen im Anschluss an Foucault zeigen (Shilling 1993, S. 78; Gugutzer und Duttweiler 2012). Die Individuen sind aufgerufen, selbst die Gestaltung ihrer Körper in die Hand zu nehmen, sie zu den produktiven Körpern zu formen, die dem „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) zum Erfolg verhelfen. Das unterscheidet den postfordistischen, von Projekt zu Projekt wechselnden „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß und Pongratz 1998) vom fordistischen Industriearbeiter, dessen Körper an die Geschwindigkeit und den Rhythmus des Fließbands angepasst werden musste.

Kulturen und Praktiken des Körpers

2.3

459

Inkorporierung sozialer Strukturen: der Habitus

Die kulturelle Formung des Körpers entwickelt und verändert sich nicht nur im historischen Prozess, wie Elias und Foucault gezeigt haben, sie unterliegt zudem sozialstrukturell bedingten Variationen. Darauf zielt das von Pierre Bourdieu prominent gemachte Konzept des Habitus. Vor Bourdieu haben bereits andere Soziologen diesen Begriff in einem körpersoziologischen Kontext aufgegriffen. Elias (1976, Bd. 1, S. LXXVIII) bemerkt im Vorwort zum „Prozess der Zivilisation“, ihm gehe es darum zu zeigen, wie sich im Zusammenspiel von Sozio- und Psychogenese der Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse in „Veränderungen des psychischen Habitus“ niederschlägt. Marcel Mauss (1989) hat in einer Vorlesung über die „Techniken des Körpers“ hervorgehoben, dass Körperbewegungen und -funktionen wie das Schlafen, das Ausruhen, die Körperpflege, das Essen und der Geschlechtsverkehr keine bloß individuellen Gewohnheiten sind, sondern einer kulturellen, von Gesellschaft zu Gesellschaft in Abhängigkeit von Erziehungsweisen und auch Moden variierenden Habitualisierung unterliegen. Er verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des „Habitus“ in einer ähnlichen Weise wie Bourdieu (ebd., S. 202). Im Bourdieu’schen Verständnis meint Habitus einen kollektiven, für Angehörige einer bestimmten Soziallage typischen Orientierungssinn. Akteure, die sich durch die Gemeinsamkeit einer Soziallage auszeichnen, tendieren dazu, soziale Situationen in ähnlicher Weise wahrzunehmen und ähnlich zu handeln. Bourdieu versteht den Habitus dezidiert als einen inkorporierten Orientierungssinn. Die Strukturen der mit anderen geteilten Soziallage schlagen sich in den inkorporierten Schemata des Habitus nieder. Indem der Körper in dieser Weise sozial geformt wird, findet ein Lernen durch den Körper statt. Mit dem Habituskonzept beschreibt Bourdieu menschliche Sozialität als zutiefst körperlich fundiert. Damit zieht er seinen ungleichheits- und machtsoziologischen Analysen ein körpersoziologisches Fundament ein, denn der Habitus ist nicht nur Orientierungssinn, sondern auch Medium der Distinktion. In „Die feinen Unterschiede“ (im Original „la distinction“) beschreibt Bourdieu (1987) u. a. nuancenreich, wie sich Klassenzugehörigkeiten in Körperpraktiken und Geschmackspräferenzen niederschlagen, an die soziale Distinktionen angeschlossen werden. In seiner Bestimmung des kulturellen Kapitals, dessen Besitz neben dem ökonomischen Kapital für die Position eines Individuums im sozialen Raum entscheidend ist, kommt dem inkorporierten kulturellen Kapital eine hohe Bedeutung zu (Bourdieu 1983). Die Wirkung gesellschaftlicher Machtverhältnisse fasst er mit dem Begriff der symbolischen Gewalt, die er als einen „Zwang durch den Körper“ beschreibt (Bourdieu 1997, S. 158). Bourdieu betont, dass auf Dauer gestellte Machtverhältnisse auf eine Zustimmung der Beherrschten angewiesen sind, welche „auf der unmittelbaren und vorreflexiven Unterwerfung der sozialisierten Körper“ beruht (ebd., S. 165). Er spricht von einer „praktische[n] Anerkennung“, welche „häufig die Form einer körperlichen Empfindung“ (Bourdieu 2001, S. 217) wie Scham oder Schuldgefühl annimmt. Auch die Anerkennung der Legitimität von Herrschaft sieht Bourdieu, im Unterschied zu Weber, auf diese Weise gegeben: „in der unmittelbaren Übereinstimmung zwischen den einverleibten Strukturen [. . .] und den objektiven

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M. Meuser und N. Kirchhoff

Strukturen“ (ebd., S. 226 f.). Diese Übereinstimmung vermag auch die oft erstaunliche Persistenz von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen, selbst wenn die Subjekte dies nicht intendieren, zu erklären. Die Geschlechter- und die Paarforschung haben hierzu vielfältige Befunde geliefert. Insbesondere Kaufmann (1999) hat gezeigt, wie die ständige Wiederholung körperlicher Routinen der Hausarbeit einen Körper formt, der mächtiger ist als der Verstand. Die Realisierung egalitärer Einstellungen in Paarbeziehungen scheitert mit großer Regelmäßigkeit an der Trägheit des Körpers bzw. an der Macht der inkorporierten Gewohnheiten.

2.4

Der Körper als realer Akteur und Träger von Praktiken

Der Körper ist Objekt kultureller Formungen, er ist aber nicht passiv. Dass er handelnd und gestaltend in die ihn umgebende soziale wie natürliche Umwelt eingreift, bleibt allerdings vielfach außerhalb der Betrachtung, z. B. bei Foucault (Gugutzer 2015, S. 84; Lash 1991, S. 257 ff.). Ein Verständnis, das den Körper als einen handelnden, sozial geformten Organismus versteht, kennzeichnet hingegen die Arbeiten Bourdieus. In seinem Konzept des Habitus erscheint der Körper als „realer Akteur“ (Bourdieu 2001, S. 171). Wissen, Sinn, Intentionalität sind für ihn nicht primär kognitive, sondern körperliche Phänomene. Bourdieus Verständnis des Habitus als inkorporierte Struktur ist nicht metaphorisch gemeint. Im Anschluss an Maurice Merleau-Pontys (1966) „Phänomenologie der Wahrnehmung“ entwirft er das Konzept einer „körperliche[n] Erkenntnis“ (Bourdieu 2001, S. 165 ff.), die dem „bewußten, theoretischen Begreifen“ ein „praktische[s] Erfassen“ gegenüberstellt (ebd., S. 167). Die in Gestalt des Habitus gegebene „sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, [ist] nicht die eines transzendentalen Subjekts, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers“ (ebd., S. 175). Den Habitus kennzeichnet eine präreflexive, leibliche Intentionalität, wie sie Merleau-Ponty als grundlegend für den Weltbezug des Menschen beschrieben hat. Ihm zufolge ist der Leib „unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben“ (Merleau-Ponty 1966, S. 176), der Leib begreift die Welt unmittelbar. Dies gilt auch für intersubjektives Verstehen. Im Konzept der „Interkorporalität“ ist der Körper als die Basis eines unmittelbaren wechselseitigen intuitiven Verstehens bestimmt (Crossley 1995, S. 142 ff.; Haller 2017). In Übereinstimmung mit Merleau-Ponty und im Unterschied zu einem kognitiven Verständnis von Intentionalität, das diese im Schütz’schen, an Weber anschließenden Sinne als vorentworfene Handlungsvollzüge begreift, vollzieht Bourdieu eine dezidierte Abkehr von einer individualistisch-teleologischen Deutung sozialen Handelns. Die Zielgerichtetheit des Handelns ist nach Bourdieu im Habitus verankert. Der Habitus ermöglicht ein „praktische[s], quasi körperliche[s] Antizipieren der dem Feld immanenten Tendenzen“ (Bourdieu 2001, S. 178; Herv. i. O.) und ein präreflexives „praktisches gegenseitiges Verstehen“ (ebd., S. 186). Der so konstituierte Sinn des Handelns ist ein „praktischer Sinn“ („sens pratique“) (Bourdieu 1993). Der Körper greift verstehend in die Welt ein und versteht sie im Eingreifen. Anders als bei Schütz (1981), der Sinn als eine Leistung der reflexiven Zuwendung auf die vorentworfene oder die vollzogene Handlung konzipiert, sind für Bourdieu Verstehen und Handeln nicht zwei voneinander getrennte Phasen des Bezugs des Handelnden auf seine Welt, sie ereignen sich uno actu.

Kulturen und Praktiken des Körpers

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Das darin eingelassene Verständnis eines agierenden Körpers kennzeichnet auch die Mehrzahl praxistheoretischer Ansätze, welche zum Teil an Bourdieu anschließen. Die Körperlichkeit des Sozialen bildet einen Schwerpunkt praxeologischer Zugänge (Schmidt 2017, S. 335; Hirschauer 2017). Neben Bourdieus „Theorie der Praxis“ gelten Garfinkels Analysen zu Routinehandlungen und „accounting practices“, Foucaults Gouvernementalitätskonzept und die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens als inhaltliche Vorläufer (Reckwitz 2003, S. 283; Bongaerts 2007, S. 254). Das die verschiedenen praxeologischen Ansätze Verbindende ist ein Verständnis von Handeln als praktische Wissensform, welche materiell verankert ist. Wie Schmidt (2017, S. 338) konstatiert, werden Handelnde „als körperlich befähigte und agierende Teilnehmer*innen konzipiert“. Unter einer Praktik ist laut Reckwitz (2008, S. 152) „ein Ensemble miteinander verknüpfter, regelmäßiger Aktivitäten der Körper (zu verstehen) [. . .], die durch implizite und geteilte Formen des Verstehens und Wissens zusammengehalten werden“. Der kulturelle Kontext bestimmt, wie Praktiken in Routinen überführt werden und das jeweilige „know how“ (Schatzki 2002, S. 77) sich ausgestaltet. Hierbei findet „ein Zusammenspiel von geübten Körpern, gegenständlichen Artefakten, natürlichen Dingen sowie soziomateriellen und technischen Infrastrukturen“ statt (Schmidt 2017, S. 338). Praxeologische Ansätze unterscheiden sich von anderen Sozialtheorien, indem sie von einer Verwobenheit des „Körper[s] als Träger von Praktiken“ (Hirschauer 2008, S. 977) und des Körpers als Produkt von „körpermodellierenden Praktiken“ (Schmidt 2017, S. 338) ausgehen. Dies impliziert eine Dezentrierung des Subjekts, das selbst erst in den Praktiken erzeugt wird (Alkemeyer 2015, S. 476; Hirschauer 2017, S. 93 f.). Als exemplarisch dafür kann u. a. eine Studie von Stefan Hirschauer (2004) angeführt werden, die im Rahmen einer Beobachtung chirurgischer Praktiken im Operationssaal eines Krankenhauses nicht nur den Körper als eigenständigen Teilnehmer am Sozialen begreift, sondern als Teil eines aus chirurgischem Handeln bestehenden Gruppenkörpers beschreibt (ebd., S. 87). Hände, Instrumente, Schläuche, Patienten- und Ärztekörper etc. werden als „Chirurgenkörper“ verstanden, dessen Kreislauf aus Befehlssignalen und Handreichungen besteht (ebd.). Die prominente Stellung des Körpers für praxeologische Theorieentwürfe macht sich unter anderem an der Bewegung als fundamentaler Dimension von Praktiken fest (Hirschauer 2017). Daran anschließend sind Gabriele Kleins (1994) Beobachtungen des Tanzes zu nennen, im Rahmen derer sie anschaulich die für Praktiken zentrale Bedeutung von Bewegungsroutinen erklärt. Diese überträgt sie schließlich auf die allgemeinen „Choreografien des Alltags“ (Klein 2013). Demzufolge haben Körper und körperliche Praktiken eine Eigenlogik jenseits von Kognition und Reflexion, welche in Rückgriff auf Überlegungen Merleau-Pontys ebenfalls eine Grundlage im Körperlichen haben. Hier wird empirisch expliziert, was des Weiteren als theoretisch zentral gilt für die unterschiedlichen Ansätze der Praxeologie: dass die Körperlichkeit der Praktiken den Aspekt der Inkorporiertheit ebenso umfasst wie jenen der Performativität: Wissen ist nicht primär als ein mental Gewusstes/Bewusstes, sondern als ein durch körperliche Übung Inkorporiertes zu verstehen (Reckwitz 2003).

462

2.5

M. Meuser und N. Kirchhoff

Theatrale Inszenierungen und Körperarbeit: Modernisierungstheoretische Perspektiven

Schon Elias’ Zivilisationstheorie, die sich als eine frühe modernisierungstheoretische Perspektive auf den Körper lesen lässt (Kautt und Willems 2017, S. 302 ff.), verdeutlicht, dass die Herausbildung des modernen Individuums eine Veränderung des Verhältnisses zum eigenen Körper impliziert. Kautt und Willems (ebd., S. 307) verstehen Elias’ Begriff des „homo clausus“ als „Begriff für das typische Selbstbewusstsein und Selbsterleben des modernen Individuums“. Das moderne, Fremdzwänge in Selbstzwänge transformierende Individuum fühle sich im Gefängnis des eigenen Körpers eingesperrt. Eine andere Perspektive eröffnet sich im Kontext der Theorie der reflexiven Modernisierung, welche die Steigerung von Optionen als zentrales Merkmal spätmoderner Gesellschaften herausstellt. Demnach erscheint der Körper, ebenso wie andere Dimensionen der Lebensführung, den Individuen zur Entscheidung überantwortet (Beck und Beck-Gernsheim 1994, S. 16 f.). Die körperliche Gestalt kann immer weniger als Schicksal hingenommen werden, der Körper wird vermehrt zum Gegenstand der bewussten Gestaltung. Dies hat eine Expansion von Körperarbeit zur Folge. Der Körper wird zur Projektionsfläche theatraler Inszenierungen. Diese erfolgen sowohl im Kontext posttraditionaler Vergemeinschaftung (Hitzler 2002, S. 79 f.) – hier spielen Szenen eine wichtige Rolle (vgl. exemplarisch Niekrenz 2013) – als auch zum Zweck der Inszenierung individueller Authentizität (Ferreira 2009). Auch darüber hinaus erlangt Körperarbeit eine wachsende Bedeutung (Meuser 2014). Die Individuen sind vermehrt angerufen, den eigenen Körpers sowohl in gesundheitlicher als auch in ästhetischer Hinsicht zu optimieren (Gugutzer und Duttweiler 2012). Im Imperativ des fitten Körpers ist beides vereint. In der „Inszenierungsgesellschaft“ (Willems und Jurga 1998) ist der Körper, so Gabriele Klein (2010, S. 459) „zur Visitenkarte des Subjekts geworden“. Zygmunt Baumann (1995, S. 16) zufolge muss der postmoderne Körper beständig in einem gezielt dosierten Spannungszustand gehalten werden. Mithin hat die Arbeit am eigenen Körper niemals ein Ende, nicht nur weil das Ideal kaum erreichbar und, selbst wenn dies gelingen sollte, immer gefährdet ist, sondern auch, weil ein spannungsloser Zustand als unbefriedigend erlebt wird. Die Arbeit am eigenen Körper wird zum – zwar niemals vollendeten, aber durchaus geschätzten – Projekt (Klein 2010, S. 460). Dieses Projekt ist nicht auf bestimmte (junge) Lebensalter begrenzt. Baumann (1995, S. 16) spricht von einer „lebenslänglichen Belagerung“ des Körpers. Altern und körperlicher Verfall sind kein Schicksal mehr, der gerontologische Imperativ des ‚successful aging‘ spart den Körper nicht aus. Er steht vielmehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der Bemühungen (Schroeter 2008).

2.6

Korporale Materialität oder diskursiver Effekt?

Unterhalb der mit dem Begriff der somatischen Kultur bezeichneten Gemeinsamkeit körpersoziologischer Konzepte gibt es Differenzen hinsichtlich der Frage, ob der Körper (auch) als ein vor- oder außersoziales Substrat existiert, das kulturell

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463

überformt wird, oder ob er nur in seinen kulturellen Praktiken existiert (Meuser 2005, S. 275 ff.). Die erste Position ist z. B. bei Barbara Duden (1993) zu finden, eine prominente Vertreterin der zweiten Position ist Judith Butler, die die körperliche Materialität selbst als Folge diskursiver Praktiken begreift (Bublitz 2017, S. 195). Die „Materie des Körpers“ sei „nicht zu trennen [. . .] von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen.“ (Butler 1997, S. 22) In diesem Sinne erzeugt beispielsweise der heteronormative Diskurs ein leiblich gespürtes Begehren, das im Einklang mit dem hegemonialen Geschlechterregime steht. Gesa Lindemann (1996, S. 150) hinterfragt, von welchem Körper die Rede ist, wenn theoretische Entwürfe eine außersoziale bzw. vordiskursive Materialität des Körpers ausschließen und eigenleibliche Erfahrungen nicht thematisierten. Aus phänomenologischer Perspektive kritisiert Gugutzer (2015, S. 84) diesen „Diskurs-Determinismus“ und hält dagegen, dass dieser nicht den Körper, sondern „Diskurse über Körper“ (Herv. i. O.) untersuche. Lindemann und Gugutzer greifen auf Helmuth Plessner und Hermann Schmitz zurück, indem sie – ebenso wie diese – zwischen Leibsein und Körperhaben unterscheiden. Während der Körper in diesem Verständnis durch seine kontinuierlich dreidimensionale Ausdehnung gekennzeichnet sei und „sich zu einer bestimmten Zeit an einer Stelle im Raum“ (Lindemann 2017, S. 58 f.) befindet, gilt diese Art der Positionierung nicht für den Leib als „absoluten Ort“ (Schmitz und Plessner, zit. nach Lindemann 2017, S. 59), an dem ein Akteur wahrnimmt, handelt und zu der Einsicht gelangt, hier und jetzt zu existieren. Dies ist insofern bedeutsam, als damit eine Sicht auf die Menschen einhergeht als „körperliche Wesen mit leiblichen Empfindungen, Gefühlen und Affekten [. . .], die sich nicht einfach in Diskursen auflösen lassen, sondern erlebt werden“ (Gugutzer 2015, S. 84). In ihrer Theorie einer „leiblich-affektiven Konstruktion von Geschlecht“ begreift Lindemann (1992) den Leib als eine Wirklichkeit sui generis, zu der es allerdings keinen unvermittelten Zugang gibt. Vielmehr strukturiert „in der Verschränkung von Leib und Körper letzterer die leibliche Erfahrung“ (Lindemann 1993, S. 33). Gleichwohl versteht Lindemann (ebd., S. 21), ähnlich wie Merleau-Ponty, „Leiblichkeit als Konstituens von Sozialität“. Willems und Kautt (1999, S. 299) sehen in der korporalen Materialität das Potenzial eines zu Widerständigkeit neigenden, „sich sozusagen autopoetisch und in gewisser Weise asozial“ entwickelnden Körpers. Paula Villa (2010, S. 253) verortet in der somatischen Dimension von Praxis einen „Eigensinn“, der, obschon er gesellschaftlich gerahmt ist, eine „Lebendigkeit des Tuns“ hervorbringt, welche die Ordnung der Diskurse herausfordert. Praxis ist diesem Verständnis nach „keine Verkörperung von kulturellen Diskursen“ und Menschen „keine wandelnden, zu Fleisch gewordenen Codes oder Semantiken“.

3

Methodologische Konsequenzen

Vor dem Hintergrund der skizzierten soziologischen Perspektiven auf den Körper stellt sich die Frage nach methodologischen Konsequenzen für die empirische Sozialforschung. Dies ist erst recht der Fall, wenn es darum geht, den Körper über die Dimension

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seiner kulturellen Formung hinaus als Zeichenträger und als Teilnehmer von Praktiken bzw. als agens in den Blick zu nehmen, welche wiederum kulturell gerahmt sind. Bereits Matthiesen (1989, S. 290) hat auf die Unzulänglichkeit eines in der qualitativen Sozialforschung vorherrschenden Verständnisses von der „Welt als Text“ hingewiesen. „Die soziale Sphäre des Leibes [läßt] sich mit den Mitteln von Mikrofon, Tonband und transkribierten Text nur ganz unvollkommen abbilden“ (ebd.). Ein zentrales Problem der Erforschung des Körpers stellt dessen „Sprachlosigkeit“ dar, wie dies u. a. Gugutzer (2015, S. 137 ff.) identifiziert und worauf in ähnlicher Weise Abraham (2002, S. 15 ff.) und Fischer (2003, S. 12 ff.) hinweisen. Sprachlos ist der Körper zumindest im Verständnis der herkömmlich sprachfixierten Forschung insofern, als er kein unmittelbar verwendbares empirisches Datum sein kann, sondern immer nur ein mittelbares (Kanter 2013, S. 108 ff.). Entsprechend problematisiert Gugutzer (2015, S. 137 ff.) Verfahren, welche im Zuge des „linguistic turn“ entstanden sind, am Beispiel der Gruppendiskussion: Deren Auswertungsgrundlage sei nicht der Körper „an sich“, sondern ein „immer schon interpretierter Körper“ und damit letztlich ein Text. Interpretationen von Sozialforscher/ innen setzten in diesem Sinne die entsprechende Übersetzungsarbeit der Diskussions- bzw. Gesprächsteilnehmer/innen voraus, „die für ihre Beschreibungen, Erzählungen und Argumentationen ebenfalls auf die ihnen zur Verfügung stehenden kulturellen Wissensbestände und Deutungsmuster“ zurückgriffen (ebd., S. 139 f.). Diese Voraussetzungen sowie daraus folgende Transformationsverluste sind kritisch zu reflektieren, da bereits die sprachliche Vermittlung zu erheblichen VerstehensHürden zwischen Forscher/innen und den Beforschten vor allem in Bezug auf deren Körper führen kann. Je nach Beschaffenheit des Feldes und der Erhebungssituationen ist zu berücksichtigen, dass die jeweilige kulturelle Standortgebundenheit der verschiedenen Forschungsteilnehmer/innen ein gegenseitiges Verstehen erschweren kann. Damit wird die Kulturalität des Körperlichen als Gegenstand u. U. gleichzeitig zur Grenze seiner Erforschung. Zudem stellt bereits die Transformation des leiblichen Erlebens in ein Beschreiben des Körpers ein Problem auch für die Beforschten selbst dar (Kirchhoff 2016). Sobald der Körper zum Gesprächsgegenstand wird, drohen – ohne weitere Arten der Kommunikation wie etwa die Visualisierung – Konstruktionen erster Ordnung (Schütz 1971) nicht mehr zu gelingen. Sie sind in der Konsequenz eines an sich sprachlosen Körpers schlicht nicht möglich. Das ausschließliche Reden über den Körper führt gewissermaßen zu einem Ausschluss seiner Teilnahme am Forschungsgeschehen. Daher erfahren in körpersoziologischen Forschungen beobachtende Verfahren eine Aufwertung, die den Körper als unmittelbaren Teilnehmer kulturell eingebetteter Handlungen in den Blick nehmen, ihn sowohl zum Forschungsgegenstand als auch zum Forschungsinstrument machen (Schindler 2017). In diesem Zusammenhang gilt unter anderem Wacquants (2003) autoethnografische Studie „Leben für den Ring“, in der er seine Sozialisation als Boxer in einem Chicagoer gym beschreibt, als wegweisend für eine empirische Einlösung dieser Position (Gugutzer 2017, S. 382). In diesem Verständnis erscheint es als plausibel, wenn etwa praxeologische Methodologien ein Bündel methodischer Verfahren enthalten, welche dem Körper auch hinsichtlich seiner Materialität gerecht werden.

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Von zunehmender Bedeutung sind im skizzierten Kontext wie auch im theoretischen Kanon rekonstruktiver Forschungslogiken die Methoden der visuellen Soziologie (vgl. u. a. Bohnsack 2007; Breckner 2003, 2010 und Raab 2008). Unter anderem legen Aspekte von Selbst- und Fremdwahrnehmung visuelle Herangehensweisen für eine sozialwissenschaftliche Betrachtung des Körpers nahe. Dies gilt in besonderem Maße für Untersuchungen von Praxen in virtuellen Räumen, etwa der sozialen Medien. Im Zuge des „iconic turn“ finden Videoanalyse (vgl. u. a. Knoblauch und Tuma 2017) sowie Bild- und Fotointerpretation (vgl. u. a. Bohnsack 2017; Burri 2008; Mietzner und Pilarczyk 2005) weite Verbreitung. Hier werden nicht nur „beforschte“ Körper zu darstellenden oder sich selbst abbildenden Bildproduzent/ innen, sondern auch jene der Forscher/innen selbst. Die wechselseitigen Prinzipien von Darstellung und Wahrnehmung, mimetischer Aneignung (Wulf 2013) und interpretativer, mithin sinnlich erfolgender Annäherung tragen zu einer gemeinsamen Hervorbringung von Bildern bei, in denen Körper die Hauptrolle übernehmen. Indem sich die Forscher/innen selber einen größeren Raum zugestehen bei der Analyse von Bildern, dürfen sie sich stärker auf ihr eigenes Erleben verlassen, da Bilder generell (zunächst) vor allem körperlich erfahren werden (Wulf und Zirfas 2005, S. 15). Der visuelle Zugang zum Körper ist ein Beispiel dafür, wie der Forscher/innenKörper als Erkenntnispotenzial anerkannt und genutzt werden kann (Gugutzer 2017). Wie Gugutzer zu Recht anmerkt, beruht die soziologische Beschäftigung mit dem Körper bei allen thematischen, theoretischen und methodischen Unterschieden auf einer Gemeinsamkeit: „Sie behandelt den oder die Körper als Gegenstand soziologischer Untersuchung, um etwas über Körper zu erfahren“ (ebd., S. 381; Hervor. i. O.). Wird der Körper als konstitutive Bedingung sozialen Handelns und sozialer Ordnung betrachtet, sei für eine sozialwissenschaftliche Betrachtung des Körpers zu erwarten, deren Programmatik selbstreflexiv auf das eigene Tun anzuwenden und zu zeigen, „wie mittels des forschenden Körpers soziologische Erkenntnisse hervorgebracht werden“ (ebd.; Herv. i. O.). In Anlehnung an bzw. Weiterentwicklung von Bourdieus Verständnis einer praktischen, körperlich fundierten Erkenntnis kann an dieser Stelle erneut auf Wacquants (2015) Vorstellung einer „Soziologie von Fleisch und Blut“ verwiesen werden, die den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist auch methodologisch zu überwinden versucht. Dem – wie Gugutzer konstatiert – auch in der Soziologie (noch) vorherrschenden traditionellen Wissenschaftsbild, in dem wissenschaftliche Erkenntnis das Ergebnis einer bloßen Verstandesleistung sei und nichts mit leiblichen Regungen, Gefühlen, Stimmungen, körperlichen Performanzen etc. zu tun habe, könne nur begegnet werden, indem die (leibliche) Subjektivität der Forscher/innen in den Erkenntnisprozess integriert wird.

Literatur Abraham, Anke. 2002. Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Alkemeyer, Thomas. 2015. Verkörperte Soziologie. Soziologie der Verkörperung. Ordnungsbildung als Körper-Praxis. Soziologische Revue 38(4): 470–502.

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M. Meuser und N. Kirchhoff

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Language in a Cultural Sociological Perspective Giolo Fele

Contents 1 Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Structural Linguistics and Social Context . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 The Context of Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Speech Community . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Social Situation and Communicative Events . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 The Context of the Conversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Conclusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . References . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abstract

In this chapter I intend briefly to reconstruct the ways in which we can consider language as a cultural resource that people use to share their social world, organize their social life, and attribute values and meanings to their experiences. In particular, I consider the familiar question of the context needed to understand the facts of language in use. In order to understand language in terms other than the internal logic of the system, I show the importance of considering language as it is concretely exercised and practiced by people in concrete situations of use. As regards what should be considered an appropriate context for the exercise of language, I present different solutions given to the issue according to different academic styles and theoretical approaches. These solutions range from considering the context as a structural array of social characteristics that affect individual behaviour in society, through seeing it as the actual situation of talking together, or as the community in which a language is spoken, or as the cognitiveinstitutional frame of activities, to the constraints in terms of turns and meanings

G. Fele (*) Dipartimento di Sociologia e Ricerca Sociale, Trento, Italien E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_45

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imposed by the sequential development of a joint activity like a conversation. I draw some conclusions on the importance of detailed practice for the study of language in a cultural sociological perspective. Keywords

Language · Context · Situation · Conversation · Speech acts · Talk-ininteraction · Communication · Sociolinguistics

1

Introduction

According to Duranti (2011), the study of language in a socio-cultural perspective can be approached in three main ways: as a symbolic instrument par excellence, where language encodes reality and attributes value to experience; as a form of social participation, that is, as a cultural practice through which we establish social links and human connections; and finally as an instrument of power and authority. In this chapter I intend briefly to reconstruct the ways in which we can consider language as a social resource which people use to share their social world, organize their social life, and attribute values and meanings to their experiences. In particular, I consider the familiar question of the context needed to understand the facts of language.1 One important contribution of the social sciences to the study of meaning and language is their focus on extra- or non-linguistic structures in order to appreciate the different functions of language, the issue of variability, and the practice of communicating. Broadly speaking, two main academic areas have contributed to the study of human communication through language. On the one hand, there are the disciplines, first linguistics and later semiotics, that study the structure of language and analyse the ways in which symbols and concepts are coded and expressed through language. On the other hand, there are disciplines that study the ways in which language is used in practice, beyond structural abstractions, in concrete communities and in certain social contexts. This latter area comprises disciplines such as sociology of language, sociolinguistics, linguistic anthropology, and conversation analysis (Gumperz and CookGumperz 2008). Although a complete reconstruction of the role of language in a cultural sociology perspective should take account of both types of approach, this chapter will focus mainly on the second area. There are practical reasons for this choice (specialized knowledge is necessary) but there are substantive reasons as well. Meaning does not inhere in isolated words or linguistic structures, but there are different solutions to the problem of identifying aspects, dimensions and characteristics of the extralinguistic foundations of meaning. In this chapter I try to delineate a trajectory of the studies on the extra-linguistic foundations of meaning, which is the field of the cultural sociological perspective on language. Here “culture” is not used to refer to colonized/ conquered populations or specific social groups, but rather as a generic term denoting

“Context” usually refers to the elements of the surrounding linguistic or nonlinguistic structures relevant to an expression uttered (Quasthoff 2001).

1

Language in a Cultural Sociological Perspective

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the resources that we have in order to identify, construct, interpret and exchange meanings in our everyday lives. The chapter is organized as follows. First, it provides reasons for this choice. Then it reviews the vicissitudes of the notion of context, which is at the centre of the study of language in its concrete cultural practice. I examine first the way in which the context is considered as a structural array of social characteristics that affect individual behaviour in society. Then I examine other ways in which the context has been conceptualized: as the community in which a language is spoken; as the actual situation of talking together; as the cognitive-institutional frame of activities; and finally as the constraints in terms of turns and meanings imposed by the sequential development of a joint activity like a conversation.

2

Structural Linguistics and Social Context

In the work of the recognized founder of linguistics as a science, Ferdinand de Saussure, we find full recognition that the social basis of language resides within the system of language itself. La langue is social in its essence, “outside the individual who can never create or modify it by himself,” says de Saussure (1966 [1916], p. 14), as opposed to le langage, which is the unique, individual expression resulting from the concrete exercise of a language. Saussure’s position has remarkable similarities to that of one of the founding fathers of sociology, Émile Durkheim (Doroszewski 1933). But sociology and linguistics have actually taken two different, almost mutually exclusive, roads.2 Although Durkheim devoted one of his major works to the symbolism (1995 [1912]) and the social foundations of cognition (see also Durkheim and Mauss 1963 [1901]), sociology has been essentially disengaged from the study of language and meaning. For its part, the study of language has been uninterested in social and contextual considerations. For Saussure, language is the study of the logic of the system, not the study of language as it is used in concrete situations of practice. There is a particularly effective example of the distinctive difference between the two approaches. Hymes (1974, p. 5) points out that, for Bloomfield (1926, p. 154), if a beggar says, “I’m hungry” to get some food and a child says “I’m hungry” to delay going to bed, this does not make any difference to the language, which deals only with what is identical in the two linguistic expressions. For Bloomfield, the second statement is a repetition of the first: the differences in the context are irrelevant. But for a linguist there are significant differences among “I’m hungry,” “hungry,” “we are hungry” etc. (relevance of the grammar); between “it’s hungry” and “it’s dungaree” (as to the characteristics of the sound); between “it’s hungry” and “I’m Hungary,” which is a homophony between two distinct forms. This divorce of language from contextual considerations has found its most complete formulation in Chomsky’s generative linguistics. Chomsky believes that 2

Notwithstanding the repeated appeals to the contrary, as in Firth (1937, p. 153), according to whom “speech is social ‘magic’. You learn your languages in stages as conditions of gradual incorporation into your social organization. The approach to speech must consequently be sociological”.

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communicative and social factors are not relevant to the study of language, and that the functioning of language should be distinguished from its individual performance (Chomsky 1965: 4). Chomsky’s approach is based on formal and abstract study of the inner, mentalist mechanisms of language. The grammar of a language is essentially understood as representing the mind processes, not as a tool used by people to communicate. Therefore, for Chomsky “linguistics theory is mentalistic, since it is concerned with discovering a mental reality underlying actual behaviour” (1965, p. 4), and it is not aimed to analyze the various forms in which it is practiced in actual behavior (not individual, but social). The fullest expression of this orientation is Chomsky’s distinction between competence and performance, where the first is the knowledge that a speaker has of his language and the second the concrete realization of that ability. Only the first is the domain of a science of language, which has to assume “an ideal speaker-listener, in a completely homogeneous speech community, who knows its language perfectly and is unaffected by such grammatically irrelevant conditions as memory limitations, distractions, shifts of attention and interest, and errors (random or characteristic) in applying his knowledge of the language in actual performance” (Chomsky 1965, p. 3). The divorce between the system and the environment, between what remains stable (the structure of the language) and what changes (its uses) could not be made more explicit. Another approach to the study of language divorced from contextual matters is the study of language stemming from analytic philosophy. The important contribution by Austin (1962; see also Searle 1969) was his reflection on the power of language to create – literally create – a new social reality. The performance of a speech act realizes, in the very act of proffering it, the kind of action of which it is an expression: to say “I now pronounce you man and wife” is literally to create a new social reality, i.e., in this case a married couple. Unfortunately, these philosophers attribute this ‘magical’ effects of words in creating a reality ex novo to the words themselves, or to the intentions of the participants (again, in an individualistic and mentalistic attitude), instead of considering the social and institutional conditions and constraints of any speech act (Bourdieu 1982; see Monnier 2005). The philosophers who developed these approaches were interested more in the abstract description of communicative meaning than in how those meanings are actually embedded in social practices. Chomsky’s position was strongly criticized within the – at the time nascent – group of scholars who had instead begun to concern themselves, not with this abstract and theoretical knowledge, but with the actual linguistic behaviour of certain communities of speakers (see the highly critical comments made by Labov [1972a, pp. 186–202]).

3

The Context of Situation

In order to start with the study of language in a cultural sociological perspective – i.e., as an integral part of the everyday life of a community or a social group – we should probably get rid of the idea of language as a vehicle for thought and philosophical reflection. One of the most important anthropologists of the twentieth century,

Language in a Cultural Sociological Perspective

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Bronisław Malinowski, should be credited for having stressed that language should not just be seen as a tool with which we communicate ideas and concepts, but rather as a concrete mode of action. On the one hand, Malinowski foresaw the idea of the performative speech act; on the other, he coined the expression “phatic communication” to convey the idea of language used to establish social bonds between people (Korta 2008). Malinowski (1923) was the author of an expression that has become commonplace in the social sciences: “the meaning of any single word is to a very high degree dependent on its context” (p. 306). The phrase, apparently worn-out, is still revolutionary when we consider what it implies. For Malinowski the origin of cultural belonging is a transparency, an obvious, immediate naturalness of meaning: the meanings of words are “already clear” when they are used in a social context. To penetrate this transparency and thus to study the processes of meaning attribution, Malinowski invites us to look, not at the apparatus of the language, but at the “general conditions under which a language is spoken,” i.e., at Culture with a capital letter, on the one hand, and in particular the “context of situation,” i.e., the conditions of the living speech production, on the other (Wolf 1989). Malinowski (1923) points out that the materials on which traditional linguistic studies are conducted take “the form of written documents, naturally isolated, torn out of any context of the situation. [. . .] written statements are set down with the purpose of being selfcontained and self-explanatory. A mortuary inscription, a fragment of primeval laws or precepts, a chapter or statement in a sacred book, or to take a more modern example, a passage from a Greek or Latin philosopher, historian, poet – one and all of these were composed with the purpose of bringing their message to posterity unaided, and they had to contain this message within their own bounds” (p. 306). And again: “To take the clearest case, that of a modern scientific book, the writer of it sets out to address every individual reader who will peruse the book and has the necessary scientific training. He tries to influence his reader’s mind in certain directions. With printed text before him, the reader, at the writer’s bidding, undergoes a series of processes – he reasons, reflects, remembers, imagines. The book by itself is sufficient to direct the reader’s mind to its meaning, and we might be tempted to say metaphorically that meaning is wholly contained in or carried by the book” (ibid. p. 306 f.).3 But if we move to a living language, every time it is used, says Malinowski, “there it should be clear at once that the conception of meaning as contained in an utterance is false and futile. A statement, spoken in real life, is never detached from the situation in which it has been uttered” (ibid. p. 307). Malinowski’s work is of fundamental importance in guiding the study of language as a social form which reveals the world of meanings of a culture. The notion of “context of situation” prefigures also some important philosophical insights in appreciation of the social life of language: for instance, Wittgenstein’s notion that

3

Malinowski’s position can be read also as contributing to criticisms over the later position of cultural anthropology embodied by Geertz (1973a, b) and his influential metaphors of culture as a “text” and fieldwork as “reading”. See Schneider 1987; Hoffman 2009.

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“the meaning of words lies in their use,” developed in Philosophical Investigations (Godart-Wendling 2014). It can be said that there have been two main outcomes in the empirical study of these social and cultural forms of language as it is used and practiced. One relates the facts of the language with an array of socio-structural characteristics that affect individual behaviour in society: the other analyses the actual situation of talking together, in particular within a community or a social group.

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Speech Community

In the literature, the notion of “linguistic community” has been considered in a very broad sense:4 any set of people sharing the same language that differs significantly from other human groups. The definition therefore covers national communities and ethnic and linguistic minorities, of course, but also heterogeneous groupings as youth gangs, professional guilds and deviant groups. The notion of “linguistic community” thus conceived is the first attempt to conceive two interconnected “social facts” (Gumperz 1968): on the one hand, a social group, with sociological connotations; on the other, a set of characteristics of language showing coherence and unity that has some kind of relationship with a social group. What is important is that “the concept of speech community does not simply focus on groups that speak the same language. Rather, the concept takes as fact that language represents, embodies, constructs, and constitutes meaningful participation in a society and culture. It also assumes that a mutually intelligible symbolic and ideological communicative system must be at play among those who share knowledge and practices about how one is meaningful across social contexts” (Morgan 2004: 3). According to Hymes (1974, pp. 47–51), a speech or language community shares the “knowledge of rules for the conduct and interpretation of speech.” We can identify two broad lines of inquiry deriving from this focus on communities in order to understand the uses of language. As regards the first, we can cite the sophisticated empirical analysis by Labov (1972a, b) of certain “linguistic communities” (the city of New York, or the island of Martha’s Vineyard in Massachusetts) defined in terms of groups sharing both certain linguistic (phonological) variables and a standard of judgement on the correctness, suitability, or stigmatization of certain alternative language production. As regards the second line of inquiry, we can mention the study of a language community in terms of social attitudes towards the language, i.e., a “linguistic ideology” (Kroskrity et al. 1992) through which it is possible to examine the attitudes of the speakers, the rules of common sense, linguistic prestige, hegemony and power. Labov’s work is particularly important for showing that the study of language necessarily involves studying a language in real contexts of use. Labov argues that it makes no sense to base linguistic study on the assumption of an abstract and 4

For a review, see Raith 2004; Patrick 2003; Rampton 2010.

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homogeneous speech community where everyone speaks in the same way: diversity of linguistic performance is not only common but depends on particular linguistic factors. It is not a “degeneration” of deep linguistic structures, as claimed by Chomsky (1965, p. 58). Similarly, besides opposing the study of language in isolation and in abstract terms, Labov advocated a strong methodological position opposed not only to a linguistic analysis based solely on the analyst’s introspection and his/her subjective insights, but also to conventional research methods, such as experimental laboratory studies or the use of questionnaires. What is required for the analysis, Labov argued, is a grasp of actual real situations of language use in concrete communities of speakers. Direct observation, recording, listening (the ear as a “superb instrument” of judgment) become the means with which to collect and analyse the data that a linguist needs. From these premises, to dispel the misconception that “structure” is equivalent to “uniformity” and that “performance” is “heterogeneity,” Labov presented what he calls a “socio-linguistic structure”: this structure accounts for the variability of performance as a systematic phenomenon of speech highly correlated with social variables. Labov showed that certain linguistic variables (for example, the pronunciation of “th” in the English spoken in New York) systematically correlates with certain contexts of use and extra-linguistic variables (like sex, age, social status, occupation, educational level, rural or urban residence, ethnicity, and other similar features): that is, the position of the speakers in a social stratification scale. Labov was concerned with the rules that enable speakers and listeners to produce and understand speech as a coherent whole, not as a chaotic mass of unrelated sentences. Labov’s attempt to examine the rules of intelligibility of speech ended in a fully extended work on therapeutic interaction (Labov and Fanshel 1977). However, his work remained committed to the effort to make a number of general rules for the understanding of the speech, similar to the maxims of conversation formulated by Grice (1975), or even to the work of philosophers of language when they define the conditions and criteria for the felicity of speech acts (Austin 1962; Searle 1969). Anthropological and ethnographic-oriented sociological approaches have pointed out the limitations of studies of language which merely couple the facts of language, on the one hand, and social facts on the other, and then correlate them (hence the label “correlational sociolinguistics”, Dittmar 2010). Ethnography, as Hymes (1974) maintained, argues instead that it is necessary “to have first-hand information” regarding how language is used in concrete communicative situations, and that “the specific structures of the verbal activity” cannot be traced back to the rules of grammar, on the one hand, and to social stratification (or personality, religion, etc.) on the other. Moreover, correlational sociolinguistics and ethnographic-oriented sociolinguistics often employ different research methods: the former uses questionnaires, elicited information (often single words or phrases produced in response to some input), statistical data, distributions of frequency and variables, regressions, etc.; the latter instead relies on contextual observation procedures, and often uses – as in conversation analysis – forms of speech recorded and transcribed as accurately as possible in order to proceed with the analysis.

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This difference in the methods used is not merely “technical” and related to the researcher’s personal choice; it often reflects an epistemology underlying the two cases, so that to the former we can attribute an individualistic, causalist and externalist perspective (“The social forces that control individual speech behavior,” Spolsky 1998, p. 9), and to the latter a wider, systemic, social, conception of description and explanation of behaviour and language use.

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Social Situation and Communicative Events

The spread of statistical methods of data analysis in studies of the social characteristics of language has increasingly placed in the background the notion of “the context of situation” as the paramount theoretical means to appreciate how speaker and listener concretely understand each other. The notion of “situation” assumed new prominence in the 1960s with the emergence of sociolinguistic studies, especially those of “interpretive” type. “Interpretive sociolinguistics” (Berruto 1995, p. 29–32) studies the linguistic achievements in the situation, taking account of the speech occasions and the concrete contexts of verbal production. Firstly, there has been growing recognition that speech varies according to the occasion on which it is proffered. On adopting this approach, we can consider social life not as an undifferentiated stream of activities, but as a regulated organization of different events, all of them with a purpose, specific meanings, definite roles, institutional recognition, etc. What is important in this approach is that the meaning of activities – what should be done and what should be said, what is prescribed and what is prohibited, what the norms and what the expectations are – is more or less well known to the members of those social groups or communities. Speakers and hearers know what to do and what to say, what is deemed to be required, appropriate and expected, according to a shared socio-cultural knowledge connected to specific situations (Hymes 1964; Saville-Troike 1982). In order to understand a conversation, its prosody, the paralinguistic cues, the code and style, the culturally formulaic expressions used by the speakers, we should know the situation in which that conversation has been developed. Hymes (1974, p. 52) offered the example of “a party (speech situation), a conversation during the party (speech event), a joke within the conversation (speech act)” to illustrate three cardinal terms. So the speech event (no more an isolated sentence) is the basic unit for analysing language in terms of talk and speech. The speech event is a single unit in so far as there is a shared unified scope of the talk (even in a rather vague form, as “just chatting”), a joint focus on shared topics to which both talkers and listeners contribute to keep them shared, same language variety, same tone or key, same setting. A speech event has its own organization in terms of beginnings, endings and procedures to be carried out in the middle. Usually between speech events there are ritual markers (formal verbal cues, change in body positions, etc.) defining separateness and discontinuity (in terms of what is deemed appropriate and meaningful to say).

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With the notion of speech events, depending on social occasions, the notion of context has changed meaning: the “social context” is not just a generic constraint on the verbal behaviour of individuals (who are mostly unaware of the existence of such a constraint), but a concrete resource permitting individuals sharing the same cultural attributes and belonging to the same social group to produce, identify and share meanings. According to this approach, members constantly interpret the ongoing stream of activity through an active process of belonging and participation. Listening is not a matter of merely hearing sounds, but rather of paying close attention to the situation. Shared contextualization conventions enable the speaker to address the listener in the same mode and style, with the same code and the same register. Gumperz (1992a, b) describes this process of mutual understanding in terms of contextualization cues, signposts with which speakers signal meaning, create coherence (that is, show the relationship among ideas), and guide interpretation for listeners. At the same time, by means of such contextualization cues, listeners are always able to anticipate and predict where speakers are heading in the speech. In the sociological field, it is Erving Goffman that has insisted most on the importance of studying language in its specific “social situation” and in the concrete conditions of its production (Goffman 1972). Goffman briefly described a research programme that he himself had carried forward from his doctoral dissertation until his last work, the presidential address to the American Sociological Association in 1982. Goffman (1972) expressed one of the clearest criticisms of “correlational sociolinguistics”. He did not claim that traditional (macro-)sociological attributes are not important for study of how people talk, but he noted that when we take into account the specific social environment in which a speech act occurs, we find that this environment is governed by specific “rules”, which are independent from the constraints of the broader social structure. This particular social environment, Goffman stressed, is “the context of situation”, an environment of social interaction between people; that is, a system of reciprocal relations of influence among all the participants (not only the speakers and the listeners but also bystanders or eavesdroppers). The purpose of Goffman’s sociology is to describe and analyse this “human environment” characterized by face-to-face interaction and by the mutual availability and accessibility of participants, where traditional social attributes, such as age, gender, ethnicity or social class, are subject to transformation rules that make them more or less relevant to the occasion. The work of Goffman has proved a prodigious starting point and an almost inexhaustible source of inspiration for those who have begun to take seriously the study of communicative situations and the forms of talk-in-interaction (Goffman 1976).

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The Context of the Conversation

So far we have seen that, in regard to the “context” of the speech, reference is made from time to time to very different dimensions: the situation; the scene; the physical environment or the architectural place in which the action takes place; the constraints of immediate mutual physical presence (in terms of space and time); the speaker’s

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intentions; the socio-structural variables; the cultural and interpretive assumptions that allow members of a society to make inferences or to grasp a register change or alteration of the communicative key (Goffman 1974) – in short, the entire cultural endowment of a society. With conversation analysis we arrive at a new focal point. For conversation analysts the context is first of all what the participants consider relevant to say each other in their contribution at a specific time: this is considered a constraint on the participant in the act of responding to a previous (verbal) act. What is said by a speaker A at some point in a verbal exchange is thus a relevant context for his/her interlocutor, speaker B, who should take consideration of what speaker A has just said in order to be able to offer a consistent reply, answer, response or comment (Sacks et al. 1974). That is to say, according to conversation analysts we do not have go too far to see the contextual constraints at work in real exchanges of talk between two participants in a conversation: it is enough to see what happened just next (before and after) a turn at talk to really appreciate the coherence work that the parties constantly do. It is in this “adjacency principle” that the parties can constantly show to each other, step by step, their understanding of the discourse produced so far and that is continuously woven in time. Note that the participants’ perspective is certainly different from that of an external observer (Schütz 1953): the former move in a practical perspective: that is, they have to “decide” what kind of immediate contribution could be relevant and pertinent at a specific time, each and every time, for their concrete interlocutor at that moment; the latter instead adopts a “theoretical” perspective in search of transsituational intelligibility conditions. Appealing to the context in order to understand a piece of discourse has often been a way to define those components of the communication that an outside observer does not understand; it is the reformulation in other words (in broader terms) of that to which the interacting parties refer without saying it, without any need to say it, and without any perception by the parties themselves of any alleged “absence” or “reticence” or “silence”. Conversation analysts seek to reconstruct the participants’ inner logic in this process: for a speaker, the context is first of all what is in front of him/her in the precise moment in which his/her contribution can be significant. In this way, the conversation analysis approach reformulates the dualism of “message” and “context” (the former being what is explained by the latter). For conversation analysis any singular contribution to the conversation is constrained by what precedes it (and then is “determined” by the context); but at the same time it concretely represents the “context” that the next contribution must take into account (and therefore the message “determines” the context). According to conversation analysis, the organization of turn-taking exhibits the characteristic of being at the same time independent of context (context free) and context-sensitive (context sensitive). Sacks et al. explain this feature thus: “major aspects of the organization of turn-taking are insensitive to such parameters of context [such as place, time and identity of the participants in the interaction, etc.], and are, in that sense, ‘context-free’; but it remains the case that the examination of any particular materials will display the context-free resources of the turn-taking system to be employed, disposed in ways fitted to the particulars of context” (Sacks et al. 1974, p. 699).

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An important consequence of this analytical perspective is that researchers seek the local cultural resources that the participants use at each specific point where they concretely are in an interactional sequence (Pomerantz 1998). Although researchers know everything about the development of a conversation (which they have recorded and transcribed), they cannot use as an explanation of a particular passage in the conversation an element that emerges only later in the interaction: although this element can be known, it is important to account for the temporality of the co-construction of the context in every sequentially significant point of their mutual relationship. Contrary to the idea of “frame of interaction” (or in any case of ways to decide what is culturally relevant for the parties to say in any speech event according to an institutional or conventional label of certain activity), Schegloff (1992, p. 215) calls for what he terms the “context’s demonstrable relevance to participants” and “procedural consequentiality.” Put briefly, Schegloff says that elements of a distal context, e.g., one’s profession or the institutional frame of interaction, can be brought to bear in an analysis of a proximate context only if it can be shown that the participants orient to them and if this orientation can be shown to be relevantly tied to particular actions. A further reason for reconsidering contextual, i.e., cultural, elements to understand language in use has been provided by recent studies (Dingemanse et al. 2013, 2015) on turn-taking mechanisms and the repair system: that is, how difficulties in hearing or understanding are commonly dealt with by the people involved in mutual interaction. Systematic comparison of conversation in a broad sample of the world’s languages has apparently revealed a universal system based on a basic structure contrary to assumptions of radical cultural variation. People seemingly prefer to use a repair system in which the hearer signals the trouble and the speaker can repair the message (other-initiated repair). There are reasons for this finding: the system of other-initiated repair minimizes the cost of interrupting the flow of the conversation, with a minimum effort made to keep repair of the trouble within a short sequence occupying only few exchanges. The findings seem to reveal a universal, not a context-dependent, hypothesis regarding language use: the variability seems to regard the organization of grammar and how meanings are expressed. But language use has a universal core constituted by the architecture of interaction, which reveals the fundamentally cooperative nature of human communication.

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Conclusion

In this chapter I have addressed the fundamental issue of the context, which is usually called forth in order to consider language in a cultural sociological perspective. In order to understand language in terms other than the internal logic of the system, I have shown the importance of considering language as it is concretely exercised and practised by people in concrete situations of use. In regard to what should be considered an appropriate context for the exercise of language, I have shown that there are different solutions according to different academic styles and theoretical approaches. These solutions range from considering the context as a

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structural array of social characteristics that affect individual behaviour in society, through seeing it as the actual situation of talking together, or as the community in which a language is spoken, or as the cognitive-institutional frame of activities, to the constraints in terms of turns and meanings imposed by the sequential development of a joint activity like a conversation. Apparently, the opposition between contextual considerations and systemic consideration is just one among several oppositions to be found in the social sciences: for instance, between micro and macro approaches, between agency and structure, between bottom-up and top down perspectives, or between emic and etic points of view. But there seems to be something more. By way of conclusion, what I consider to be important is the growing awareness that language in use is more a matter of being able to manage contingencies than a matter of knowing a language. This awareness has great significance for study of the cultural resources needed to practice language in real contexts of use. In a global situation of cultural contacts in which traditional ties are less important in social life (Knoblauch 2000), what is needed to communicate and to reduce the risks of miscommunicating and misunderstanding is less a substantive knowledge of the rules of grammar or of norms and values than the capacity of the actors of concretely orienting themselves in actual situations of action and interaction. If the essence of modern life lies in the details of practice (Rawls 2009) rather than on shared norms, values, concepts and beliefs, then the real challenge for a cultural sociological perspective on language is to get rid of general principles and general theorizing, and to be capable to explore those detailed, self-regulated, social practices maintained through talk-in-interaction. Reciprocity, solidarity, meaning, understanding, all social life and cultural orientations can take surprisingly a new twist under such novel perspective.

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Medien und Visualität aus kultursoziologischer Perspektive Eva Flicker

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Media Culture – Visual Culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Gender Media Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Diskurs – Viskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag thematisiert eine kultursoziologische Perspektive auf Media Culture und Visual Culture. Zentrale theoretische Konzeptionen sind Medienpraxis, Mediatisierung und Medienimmanenz. Anhand der Gender Media Studies werden gesellschaftliche Machtverhältnisse im Kontext von Media Culture und Visual Culture hinterfragt. Für die Analyse von visueller Kommunikation und darin eingeschriebenen Botschaften und Machtverhältnissen wird für eine analytische Unterscheidung von Diskurs und Viskurs argumentiert. Schlüsselwörter

Visuelle Soziologie · Media Culture · Visual Culture · Gender Media Studies · Viskurs

E. Flicker (*) Institut für Soziologie, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: eva.fl[email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_34

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Einleitung

„Die modernen Medien der Massenkommunikation [. . .] sind Bestandteile des kulturellen Systems der Gesellschaft, sie sind mitverantwortlich für das kulturelle Milieu in der Gesellschaft, sie vermitteln durch die massenkommunikativen Prozesse kulturelle Deutungen, Weltbilder, Lebensstile, Werte, Meinungen, etc.“ (Müller-Doohm 1990, S. 76). Auch wenn diese Befunde bereits rund ein Vierteljahrhundert zurückliegen, ist ihre kultursoziologische Perspektive auch auf aktuelle digitalisierte und globalisierte Medienkommunikation anzuwenden. Die mediale Herstellung und Darstellung symbolischer Ordnung ist ein sprachlicher, ein visueller, ein multimodaler Prozess an deren Konstruktionsprozessen sowohl Fiction- als auch Non-fiction-Formate quer über alle Medien und Kanäle beteiligt sind. Medien konstruieren, rekonstruieren und transformieren, was gesellschaftlich von Bedeutung ist (Thompson 1995; Hodkinson 2011), und sie beobachten und beschreiben für uns Weltgesellschaft (Luhmann 1996; Featherstone 1990; Krotz 2007); sie verleihen damit Ereignissen Aufmerksamkeit und Bedeutung, die jenseits unseres unmittelbaren Wahrnehmungshorizonts liegen. Neben sprachlicher Kommunikation konstruieren und transportieren Medien aber auch Bilder sozialer Ordnung und dienen der Gesellschaft als zentrale Institution visueller Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung. Medien sind in unterschiedliche Gesellschaftssysteme eingebettet und greifen in ihrer Praxis auf sehr unterschiedliche Traditionen, Mechanismen, Techniken, Regelungen und Organisationsformen zurück; gleichzeitig sind – insbesondere durch die Digitalisierung – rasante Veränderungen und Weiterentwicklungen zu verzeichnen. In diesen „gesellschaftlichen Mediamorphosen des Kulturschaffens“ (Smudits 2002) einen Überblick zu behalten, ist im Alltag schwierig genug bzw. unmöglich und zeigt lokal und global vielfältige Spuren von gesellschaftlichem digital divide. In ihrer Archivierbarkeit bieten Medien eine nachhaltige kulturelle Spurenlegung und werden so zu historisch wertvollen Artefakten und zu kollektivem Gedächtnis (Dayan und Katz 1992). Die langgediente Unterscheidung von Print, Radio, Film, Fernsehen, Internet wird für spezifische Fragestellungen noch aufrechterhalten. Mit Social Media und der weitreichenden Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien werden die klassischen Kanäle zunehmend miteinander überschnitten und visuelle Kommunikation überzieht alles Gesellschaftliche. Dass wir in einer (westlichen, industrialisierten) Gesellschaft leben, die permanent online und allzeit bereit ist, laufend Bilder herzustellen, zu verbreiten, anzusehen und weiterzuleiten, ist zwar in aller Munde, aber über soziale Funktionen und gesellschaftliche Effekte liegt kein Einverständnis vor. Divers sind wissenschaftliche Befunde über Bedeutungen der Medien- und Bilderpraxis im Alltag, über Beteiligungsmöglichkeiten an und Ausgrenzungen aus der Medien- und Bildergesellschaft, über Einfluss medialer Kommunikation auf Menschen und ihren Alltag und über media literacy/visual literacy, also jenen Kompetenzen, die erforderlich sind, um mediale Ereignisse kritisch und selektiv zu nützen und zu reflektieren. Medien wissenschaftlich zu erforschen, verlangt ein solides Theoriegerüst, eine systematische Fokussierung und forscherische Flexibilität, denn kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich entwickelt und wandelt sich so rasch wie Medien.

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Ein Handbuchtext wie der vorliegende ist ein spezielles wissenschaftliches Textformat, soll doch einerseits dem akademischen Themenfeld, seiner historischen Entwicklung und den zentralen theoretischen Konzeptionen Rechnung getragen werden und andererseits auch die Autorin als forschendes Subjekt Spuren legen. Für den vorliegenden Text traf die Autorin folgende Entscheidungen: 1. Media Culture und Visual Culture werden als zentrale Konzeptionen und Begriffe vorgestellt und auch voneinander differenziert betrachtet; 2. Gender Media Studies werden wegen ihrer spezifischen Forschungsperspektiven auf Machtverhältnisse, Geschlechter und Intersektionalität in Media Culture/Visual Culture skizziert und 3. wird kultursoziologische Medienforschung als Diskursforschung positioniert und für eine analytische Trennung von Diskurs und Viskurs argumentiert. Kultursoziologie bildet für eine kulturanalytische und dekonstruktivistische Medienforschung das Dach, unter dem sich die hier vorgestellten und miteinander verschränkten Zugänge der Cultural Studies, Visual Studies, Gender Media Studies und Discourse Studies ausdifferenzieren.1

2

Media Culture – Visual Culture

2.1

Media Culture

In „Medienforschung als Symbolanalyse“ formuliert Müller-Doohm seine Begründung dafür, warum Medienforschung zwingend in den Horizont kultursoziologischer Forschung rückt: Populärkultur nimmt in ihren vielfältigen und massenhaften Erscheinungsformen und Inhalten nicht nur Einfluss auf Identitäts- und Zugehörigkeitsprozesse, sondern sie verweist hierdurch auch konstitutiv auf Kultur. Und „umgekehrt ist Kultur, die abstrakt als ein vielschichtiges Gefüge symbolischer Bedeutungs- und Sinngehalte verstanden werden kann, nichts anderes als sedimentierte Kommunikation“ (MüllerDoohm 1990, S. 78, Kursivsetzungen im Original). Unter dem Paradigma der radikalen Kontextualität setzten sich in den 1980er-/ 1990er-Jahren Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies für die sozialwissenschaftliche Analyse von Populär- und Medienkultur als tonangebend durch, nach deren Argumentation eine Bedeutung und Interpretation von einem kulturellen Produkt und von kultureller Praxis nur unter Berücksichtigung des kontextuellen Zusammenhangs von Produktion und Rezeption analysierbar ist. Betont werden Zusammenhänge zwischen makrostrukturellen (kapitalistischen) Produktionsbedingungen medialer Texte2 und mikrostrukturellen Praktiken der Rezeption, Dispositionen und Wahrnehmungsweisen. Mit diesem Zugang werden Fragen der Medienrezeption bzw. Medienaneignung auch an die Distinktionstheorie von Pierre Bourdieu anschlussfähig, indem die 1

Zum Verhältnis von Kultursoziologie und diversen Teildisziplinen siehe: Moebius (2012). In den Cultural Studies werden sowohl sprachliche als auch bildliche und akustische Inhalte als Texte bezeichnet.

2

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soziale Situiertheit einer Wahrnehmung symbolischer Ordnung (Medienrezeption) theoretisch über das Bourdieuʼsche Habituskonzept fassbar wird (vgl. Mander 1987; Couldry 2000; Weiß 2009). Dieses betont die Abhängigkeit eines individuellen Selbst bzw. selbstständiger Praktiken im Alltag von deterministischen, gesellschaftlichen Strukturen. Zu diesen Strukturen zählt Bourdieu neben politischen Konstellationen im Wesentlichen zwei ökonomische Zensurinstanzen, die im Feld der Medien wirksam werden (Bourdieu 1998, S. 19 ff.): einerseits die Macht der nationalen und transnationalen Eigentümerkonzerne über die Berichterstattung, um mögliche Interessenskonflikte zu kaschieren, und andererseits die hohe Bewertung der Einschaltquote bzw. Marktanteile, die im Kampf um Aufmerksamkeit über die verkauften Werbezeiten die ökonomischen Interessen über die kulturelle Vielfalt stellt. Für die theoretische Erfassung von medienstrukturellen Zusammenhängen zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene greift Nick Couldry auf die Bourdieu’schen Konzeptionen von Feld und Kapital zurück. Medien als Feld zu fassen, greift für ihn allerdings zu kurz, er argumentiert für eine umfassendere Konzeption von Medien als Meta-Kapital. „Similarly, I want to suggest, we should understand media power as a form of ‚meta-capital‘ which enables the media to exercise power over other forms of power. [. . .] Every day the media sustain their status as the legitimate controller of access to public existence [. . .], not just for politicians but for many other types of social actor. By so doing, they maintain the value of their ‚metacapital‘ over the various fields where those actors operate. By so doing, they maintain the value of their ‚meta-capital‘ over the various fields where those actors operate. [. . .] This, I suggest, is one important way in which over time media institutions have come to benefit from a truly dominant concentration of symbolic power (symbolic power in the strong sense of a power over the construction of social reality) – not through fiat, but through the increasingly complex interconnections between a mass of specialist fields and a ‚central‘ media field.“ (Couldry 2003, S. 12 f.) Medien kommt damit eine umfassendere und empirisch schwerer zu erfassende Bedeutung zu, als in einer Konzeption von Medien als Feld (Bourdieu) und als in der systemtheoretischen Konzeption als Funktionssystem (Luhmann). Interessen von Medienakteuren werden in kulturellen Medienerzeugnissen spürbar, sichtbar und wirksam, und dies führt Stuart Hall, ein prominenter Vertreter der britischen Cultural Studies, in den späten 1970er-Jahren dazu, sein Encoding/Decoding Modell (codieren und Decodieren) zu entwickeln (Hall 1980; Krotz 2009). Aus marxistischer Perspektive auf Gesellschaft integriert Hall gesellschaftliche Klassenund Machtgegensätze in sein Modell, dem er einen Kulturbegriff zugrunde legt, der die größtmögliche Menge von Sinndeutungen durch RezipientInnen integrieren will. Im medialen Produktionsprozess erfolgt Encoding, indem Sinn, Werte, Bedeutungen und Botschaften von Institutionen und Akteuren in das Medienprodukt/in den Inhalt eingeschrieben werden. Beim medialen Rezeptionsprozess setzt ein Decoding ein, welches durch Sozialisationserfahrungen individuell, biografisch und kulturell überformt ist. Beim Decoding werden unterschiedliche soziale Lagen des Publikums (Milieu, Klasse etc.), aber auch wechselnde individuelle Verfasstheiten wirksam, denn niemand decodiert dasselbe Produkt, denselben Film immer gleich. Encoding und Decoding referieren sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption auf

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Wissenshorizonte, Produktionsbeziehungen und technische Infrastruktur – sie bilden die Grundlage für die codierten und für die decodierten Bedeutungsstrukturen, die dann kulturell in unterschiedlichsten Praktiken und gebrochenen Aneignungen wirksam werden. Die unterschiedlichen Decodierungen der Texte werden als Lesarten bezeichnet und von Hall in drei Sichtweisen auf kulturelle Produkte unterschieden: eine dominante, eine ausgehandelte und eine oppositionelle Lesart (dominant, negotiated, opositional reading). Der mediale Mainstream ist üblicherweise entlang dominanter Lesarten angelegt, indem im hegemonialen Kampf um Bedeutung und Diskurshoheit das Publikum den kommunizierten Werten, Bildern und Bedeutungen widerspruchslos folgt. In der oppositionellen Lesart wird die codierte Intention erkannt und verstanden, aber abgelehnt, und es wird bewusst eine Lesart entwickelt, die im Widerspruch zu den encodierten Annahmen, Ideologien und Wertemustern liegt. Diese Praxis ist beispielsweise häufig in queer readings von mainstream Popularkultur üblich. Die ausgehandelte Lesart (negotiated) findet eine Zwischenposition zwischen den beiden anderen Lesarten indem die Intention der Codierung als legitime Position akzeptiert wird und doch ergänzend eine eigene davon abweichende Lesart mit eigenen Bedeutungssinn konstruiert wird. Mit dem Modell der drei Lesarten durch RezipientInnen wird auch die wissenschaftliche Analyse von Medieninhalten herausgefordert, da auch Lesarten des forschenden Subjekts stets von gesellschaftlicher Situiertheit und Ideologie beeinflusst sind.3 Neben der Integration von Kontextualität, neben einem inter- und transdisziplinären Anspruch und neben einer expliziten Kapitalismuskritik ist die selbstkritische Reflexion eigenen wissenschaftlichen Handelns durch die Forscherin/den Forscher ein wesentliches Merkmal der Cultural Studies. Cultural Studies sind als eine spezifische Teildisziplin der Kultursoziologie zu verstehen; aus ihrem gesellschaftspolitischen Entstehungskontext heraus (Großbritannien, 1960er-Jahre) integrieren sie u. a. Klassentheorie, Kapitalismuskritik, Feminismus und Postcolonial Studies. Beide – Encoding und Decoding – bilden Prozesse sinnhafter Diskurse. Angesichts der mediendurchzogenen Gesellschaft ist erforderlich, Produktion, Produkt/ Inhalt und Rezeption nicht separiert, sondern unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Verschränktheit zu untersuchen. Gleichzeitig bleibt zweifelhaft, ob dies angesichts der Komplexität von Themen und Dimensionen auch empirisch ergiebige Befunde liefern kann. Entsprechend komplex sind nämlich die methodologischen Anforderungen an eine empirische, kultursoziologische Medienforschung, die sich mit der Etablierung qualitativer Forschungsmethoden vielfach einem deutend verstehenden und rekonstruktiv interpretativem Paradigma zurechnet (vgl. Soeffner 1979; Mikos und Wegener 2005). Nicht zuletzt aus forschungspragmatischen Gründen kann sich daher eine empirische Fokussierung auf eines der drei Felder

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Um dieses methodologische Problem angemessen zu berücksichtigen, entwickelte sich in der qualitativen Sozialforschung die Praxis, im Forschungsprozess gemischte Interpretationsgruppen zu installieren.

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(Produktion, Produkt/Inhalt, Rezeption) bewähren, wenn das Dreiecksverhältnis wenigstens theoretisch mitbedacht wird. Eine weitere kultursoziologische Perspektive basiert auf der theoretischen Konzeption, Medien insgesamt als Praxis zu verstehen. Medienpraxis kann über Produktionspraxis und Publikumspraxis hinausreichen und alles berücksichtigen, was als medien-orientierte Praxis mit anderen gesellschaftlichen Prozessen verwoben ist (Couldry 2004). Fragt man danach, welchen Beitrag die Existenz von Medien in Gesellschaften insgesamt leistet, und welchen sozialen Effekt Medienpraktiken haben, kann die theoretische Fassung von Medien als Praxis einen Mehrwert bieten, indem sie praxistheoretisch und wissenssoziologisch an umfassendere gesellschaftliche Praktiken anknüpft, ohne makrosoziologisch strukturelle Aspekte bzw. Fragen nach Inklusion/ Exklusion, nach sozialen Differenzen und Machtfragen aus den Augen zu verlieren.

2.2

Visual Culture

Der umfangreiche Einzug von Bildern in alle gesellschaftliche Bereiche sowie ihre Herstellung und Verbreitung kann man als Phänomen expandierender Bildwelten beschreiben. Dies lässt sich kurz anhand weniger Zahlen grob skizzieren: täglich werden rund 350 Millionen Fotos auf Facebook hochgeladen,4 seit dem Start von Instagram 2012, also in den vergangenen vier Jahren, wurden 5 Milliarden Fotos hochgeladen,5 jede Minute werden 347.222 Fotos auf WhatsApp hochgeladen6 und 60% des Internetvolumens wird auf Videos verwendet.7 Es stellt sich daher mehr denn je die Frage, inwiefern visuelle Ausdrucksformen gesellschaftliche – individuelle und kollektive – Wissenskonstitution und Wissenskonstruktion verändern. Eine visuelle Wissenssoziologie (Schnettler und Pötzsch 2007; Raab 2008) verfolgt dabei Hypothesen, wonach es in der westlichen Kultur schon immer eine Hegemonie des Auges gegeben habe (Knoblauch 2005, S. 331 nach Schnettler und Pötzsch 2007, S. 476), und dass der Kampf um Aufmerksamkeit in der modernen Gesellschaft zunehmend zu einer Disziplinierung des Sehens geführt habe, die uns Dinge nach strikten visuellen Ordnungsmustern wahrnehmen lässt (Crary 2002 nach Schnettler und Pötzsch 2007, S. 476).8 Praktiken visueller Kultur sind daher auch im Bereich der Körpersoziologie, der Raumsoziologie relevant, aber auch Forschungsgegenstand der Akteur-NetzwerkTheorie (ANT), da Artefakte der visuellen Kultur nicht nur als Instrumente wirksam 4

http://t3n.de/news/facebook-350-millionen-fotos-pro-tag-512934/. Zugegriffen am 02.04.2016. http://royal.pingdom.com/2013/01/16/internet-2012-in-numbers/. Zugegriffen am 02.04.2016. 6 http://www.blogdumoderateur.com/chiffres-internet/. Zugegriffen am 02.04.2016. 7 http://www.blogdumoderateur.com/chiffres-internet/. Zugegriffen am 02.04.2016. 8 Die Prämisse einer wechselseitigen sozialen Disziplinierung von Sehen und Geist sowie visueller Praktiken und Logiken führt konsequenterweise dazu, dass auch wissenschaftliche Beobachtung unter Berücksichtigung dieser visuellen Erkenntnisordnungen steht. So kreiert Knorr Cetina in ihrer Erforschung epistemischer Kulturen in den Naturwissenschaften den Begriff „Viskurs“ (Knorr Cetina 2001), auf den in dem vorliegenden Text an späterer Stelle nochmals eingegangen wird. 5

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werden, sondern auch daran beteiligt sind, (neues) gesellschaftliches Wissen hervorzubringen, das wiederrum in Praktiken eingebunden werden kann. Analog zur praxistheoretischen Einbettung von Medien in Gesellschaftsanalyse erweist sich daher auch bei der Analyse von Bildern, von Visualität und von Symbolsystemen eine theoretische Einbettung in Praxistheorien als hilfreich. Dies bedeutet auch, dass nicht nur an individuellem Sinnverstehen angesetzt wird, sondern darüber hinaus kollektiv geteilte Praktiken visueller Kultur als Prozess der Herausbildung von sozialer Ordnung verstanden werden.9 Mit dem vermehrten kultur- und sozialwissenschaftlichen Interesse an Bildern seit den 1990er-Jahren werden auch Bemühungen um disziplinenspezifische Deutungshoheit und Definitionsmacht sichtbar. Der „iconic turn“ verfolgt einen stärker kunstwissenschaftlichen Ansatz mit erkenntnistheoretischen und bildphilosophischen Fragen (Boehm 1994); der „pictorial turn“ folgt dem Ansatz, Bilder in ihren soziokulturellen Kontexten zu untersuchen (Mitchell 1997). Beiden folgte über die „visual culture studies“ der „visual turn“, der die visuelle Dimension von Kultur verstärkt in den Fokus von bild- und popularkulturinteressierten Sozial- und Kulturwissenschaften rückt (Mirzoeff 1998; Evans und Hall 1999; Mitchell 2005b). Diese sind stark, aber nicht ausschließlich, auf bildsemiotische, ikonografische und repräsentationsanalytische Fragen fokussiert. Mit seinem Befund „There Are No Visual Media!“ (Mitchell 2005a) verweist Mitchell auf die multiplen Herausforderungen bei der Analyse visueller Kommunikation, und betont, dass die Bezeichnung „visuelle Medien“ einerseits unpräzise und andererseits irreführend sei. „All media are mixed media“ (Mitchell 2005a, S. 260) und die Bezeichnung „visuelle Medien“ suggeriere eine Kohärenz, die nicht zutrifft – Schrift, Druck, Malerei, Gestik, Träume, Comic Strips u. a. – sie alle seien visuelle Medien und der Begriff „visuelle Medien“ würde angesichts ihrer Unterschiedlichkeit nichts über sie bzw. eine vermeintliche Gemeinsamkeit aussagen. Mitchell, wichtiger Vertreter der Visual Culture Studies, versucht mit diesem Text gewissermaßen zwei Fliegen auf einen Schlag zu treffen – er versucht einer Kritik an den Visual Studies von außen etwas Wind aus den Segeln zu nehmen, z. B. der Kritik an der These einer kommunikativen unmittelbaren Überlegenheit des Visuellen, und gleichzeitig nach innen für eine Schärfung eigener Forschungsperspektiven zu plädieren und so das Zusammenspiel von Sichtbarem und Sagbarem zu beleuchten. In der Debatte um den Begriff „Visuelle Medien“ geht Duncum noch einen Schritt weiter und plädiert dafür, auch visuelle Kultur nicht auf Visualität zu reduzieren, sondern für die Rezeption von „multimodality“ und „the making of meaning“ „multiliteracy“ als zentrales Konzept zu etablieren (Duncum 2004). Dies ermöglicht, weitere soziale Kontextualität von Kommunikation zu berücksichtigen, wie Körperlichkeit (Hören, Fühlen) und Raumbezogenheit.

9

Hier ist nicht der Ort, die historische Entwicklung unterschiedlicher theoretischer Strömungen der Visual Culture Studies aufzuarbeiten; einen guten Überblick bieten Jürgen Raab 2008 sowie Sophia Prinz in der Einleitung ihres Werks „Praxis des Sehens“ (2014), S. 7–40.

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In der visuellen Kommunikationsforschung wird analytisch zwischen multicodalen und multimodalen Botschaften unterschieden; unter multimodalen Botschaften werden jene verstanden, die in der Rezeption mehrere Sinnesmodalitäten ansprechen, beispielsweise Sehen und Hören – also klassischerweise Filme. Unter multicodalen Botschaften werden jene erfasst, die mehrere Symbolsysteme beanspruchen, also Bild und Text – beispielsweise Zeitschriftenartikel mit sprachlichem Text und Fotos (vgl. Lobinger 2012, S. 71). Lobinger greift in ihrem Text auf eine Vielzahl von Eyetracking- und Rezeptionsstudien zurück, die einen „Picture Superiority Effect“, sowie die besondere Eignung von Bildern für die Vermittlung von Emotionen belegen. Die Bildüberlegenheitswirkung eignet sich daher sehr für eine rasche Einstiegsreise und vorsprachlich vermittelte Kommunikation. Emotionen im Bild, dargestellte (menschliche) Emotionen und Emotionalisierung durch Bilder, also die emotional berührende Medienwirkung sind inklusive aller hierfür eingesetzter Verfahren und bildsprachlicher Codierungen wichtige Forschungsperspektiven in der Analyse von Visual Culture (van Leeuwen und Jewitt 2001; Smith et al. 2005). In der rasant wachsenden Bilderwelt der Medien wirkt die vielbetonte Macht der Bilder als visuelles Agenda Setting im Kampf um Aufmerksamkeiten, Deutungshoheiten und Argumentationsperspektiven. Bilder sind damit Teil jener Mediatisierung, die Friedrich Krotz analog zu Individualisierung und Globalisierung als „einen Metaprozess sozialen und kulturellen Wandels von heute“ bezeichnet (Krotz 2007, S. 11 ff., Kursivsetzung im Original).10 Die Verwobenheit von mehrfach überlagerten und miteinander verkreuzten Kommunikationsformen – von „alten“ und „neuen“ Medien, von in der klassischen Kommunikationswissenschaft noch als „Massenmedien“ bezeichneten Kommunikationsstrukturen mit Individualmedien, von interaktiver analoger mit interaktiver digitaler Kommunikation – diese strukturellen medialen Verwobenheiten auf mikro-, meso- und makrosozialer Ebene zeigen eine Mediatisierung des Alltags, von sozialen Beziehungen, von Kultur und Gesellschaft, in der Bilder und Bildkommunikation eine zunehmende Rolle spielen. Eine der visuellen Medienpraxis adäquaten Methode zur empirischen Analyse von Bildern und Bilderwelten gibt es nicht – vielmehr folgt die Wahl einer Methode der jeweiligen Forschungsfrage oder es ist eine Methodenvielfalt im Sinne der mixed methods erforderlich. Die Gleichzeitigkeit von diskursiven und präsentativen Symbolformen in Gestalt einer simultan gegebenen Ganzheit, die daraus resultierende Bedeutungsvielfalt visueller Materialien, die Vielschichtigkeit ihrer Bedeutungsinhalte und Sinndimensionen verlangt eine Methodenvielfalt (vgl. Müller-Doohm 1993, S. 454). Die hier nur skizzenhaft formulierten Phänomene und Prozesse sind von einer hohen Komplexität geprägt, sodass wir Media Culture kultursoziologisch nicht als Teilbereich von Gesellschaft verstehen können, sondern sich Gesellschaft per se als Medienpraxis formiert. Inwiefern macht dann eine Unterscheidung von Media Culture und Visual Culture Sinn?

10

Später fügt Krotz als vierten Metaprozess noch Kommerzialisierung hinzu (Krotz 2015).

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„Im Bereich der Visual Culture sollten wir dabei ebenso wie in jenem der Bildwissenschaften der Gefahr eines ‚Visual Essentialism‘ begegnen, einer willkürlichen neuen Grenzziehung ums Visuelle herum, die in den Bildern wie im Bereich des Visuellen mitunter eine neue, wesentliche Quelle des Sinns, der Bedeutungen und der Kultur erblickt und die Bezüge zum Nicht-Visuellen, insbesondere zu Texten, aus den Augen verliert. Die Anregung der Visual Culture besteht hingegen darin, Bilder und Visualität als komplexe kulturelle Konstruktionen anzusehen, d. h. eine Perspektivenveränderung vorzunehmen.“ (Rimmele und Stiegler 2012, S. 164) Und so bedarf es für die Analyse der sozialen Bedeutung des Visuellen und einer damit verwobenen Herstellung sozialer Ordnung einer kritischen Bildkulturwissenschaft – Visual Cultural Studies –, die unter dem Dach der Kultursoziologie wesentliche Impulse einer kritischen Gesellschafstheorie mit Medienkritik und kritischer Diskursanalyse verbindet.

3

Gender Media Studies

Visuelle Medien unterliegen (wie alle Medien) multipler Dynamiken der Herstellung sozialer Ordnung, und so wird visuelle Ordnung über Bildproduktion, über Bildinhalte, über symbolische Ordnungen des Blicks als Blickregime und über ein begehrendes Sehen hergestellt. Theorien zum visuellen Begehren und zu visuellen Affekten greifen dabei auf die Psychoanalyse zurück (vgl. Visualitätsmodell von Lacan in Prinz 2014); wir finden diese seit den 1970er-Jahren insbesondere in der Feministischen Filmwissenschaft (Mulvey 1975; Doane 1982; Kaplan 1983; De Lauretis 1984, 1985; Silverman 1992) und in intersektionalen Forschungsansätzen auch mit einer Kritik an hegemonialen Ausblendungen anderer sozialer Differenzen wie Ethnien, Sexualitäten, Klassen u. a. (Furnham und Mak 1999; Gamson 2001; Hipfl et al. 2004; Becker 2006; Ciasullo 2012). Feministische Medienwissenschaft ist in der Akademia etabliert, wenngleich auch als eine In-between-Disziplin – der Gender Studies, der Feministischen Kommunikations-, Film-, Medienwissenschaften, der Soziologie u. a. (Tuchman 1978; Klaus 1998; Gauntlett 2002; Seier 2007; Kearney 2012; Lünenborg und Maier 2013). Von Zoonen unterscheidet für die Gender Media Studies drei analytische Perspektiven, die traditionell seit den 1970er-Jahren verfolgt werden (Van Zoonen 2012): a) Gender in der Produktion – im Journalismus, im jeweiligen Organisationssystem, in der Filmherstellung, in den Verlagen und Redaktionen, etc. b) Gender als inhaltliches Element in den Medien – in Geschlechterrollen, in Stereotypen, in figurativer Re- oder Dekonstruktion von Gender etc. und c) Gender in Rezeption und Aneignung – in Formaten, die von bestimmten Geschlechtern bevorzugt oder abgelehnt werden. Analog zu anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen bzw. Feldern ist auch das Mediensystem stark vergeschlechtlicht strukturiert. Effekte einer vertikalen Geschlechterordnung quer durch alle Medien und Formate zeigen sich strukturell in niedrigen Frauenanteilen in Top-Führungspositionen und in der horizontalen Segmentierung in geschlechterstereotypen Arbeitsteilungen nach Ressorts – so sind die prestige-, status- und finanzträchtigeren Bereiche immer noch männlich domi-

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niert, wie beispielsweise Politik, Wirtschaft, Sport, Mainstream-Unterhaltung, Werbung. Folgt man der Distinktionstheorie von Bourdieu, so wird aufgrund männlicher Dominanz von den Akteuren im Medienfeld alles gleichzeitig akkumuliert: ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital. Feministische Kritik bezieht sich mittlerweile seit Jahrzehnten sowohl auf die Ungleichverteilung von Macht und Einfluss in der Medienpraxis, die das Feld bzw. Funktionssystem der Medien umspannt, als auch auf qualitative Aspekte von Themensetzung, blinden Flecken und Re-Konstruktionen von Geschlechterbildern. Unterrepräsentationen großer gesellschaftlicher Gruppen und Auslassungen von Minderheiten im medialen Agenda-Setting stellen eine neuerliche Diskriminierung dar, die angesichts der gesellschaftlichen Relevanz von Medien besonders bedeutsam und wirksam sind. Sie manifestieren systemimmanente Effekte einer hegemonialen white male Media Culture.

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Diskurs – Viskurs

Wenn also, wie oben formuliert, Visual Cultural Studies kritische Gesellschafstheorie mit Medienkritik und kritischer Diskursanalyse verbinden, erscheint es notwendig, hier die Verbindung von Medien und Diskursforschung zu skizzieren.11 Der Grundgedanke liegt in der Diskurstheorie von Michel Foucault und konstatiert eine Verwobenheit von Medien und Macht. Diskurstheoretisch können Medien als Dispositiv (Foucault 1987) verstanden werden; Dispositive bilden gewissermaßen die Voraussetzungen für Diskurse. „Das Mediendispositiv begrenzt und eröffnet aufgrund von Materialität, Funktionalität und sozialer Bedingungen die Produktion und Rezeption der Medienkommunikation und wirkt machtvoll strukturierend auf diese ein. Das Dispositiv ist häufig auch ein Weg, um die Frage der Macht zu integrieren. Medien werden dabei als gesellschaftliche Wahrnehmungsanordnung verstanden, die durch komplexe Maschinerien hervorgebracht werden.“ (Meier und Wedl 2014, S. 420) Medien, Medientexte (schriftlich, sprachlich, visuell, akkustisch etc.) und alle Formen von Medienpraxis werden als Elemente eines gesellschaftlichen Machtfelds gesehen, dessen diskursive Prozesse über medienvermittelte Selbstund Fremdführung (Gouvernementalität bei Foucault), Medientechnologien und -arrangements sowie medieninstitutionelle Konventionalisierungen als Zeichenprozesse (beispielsweise Stereotypisierungen) zu betrachten sind (vgl. Meier und Wedl 2014, S. 412). Diskurs umfasst also alle Inhalte, Repräsentationen, institutionelle bzw. organisationale Verhältnisse, alle wie auch immer positionierten AkteurInnen, wie auch die stilistische Gestaltetheit (Rose 2012). Gleichzeitig, so beschreibt Hagener, leben wir im Zeitalter der Medienimmanenz (Hagener 2011). Aus der Philosophie von Giles Deleuze übernimmt er, dass es darum geht, die binäre Logik zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Wahrnehmung 11

Historische, paradigmatische, begriffliche Entwicklungslinien zur Diskurstheorie bzw. Diskursforschung können hier nicht dargestellt werden. Empfohlen sei Angermuller et al. (2014a, b).

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und Wahrnehmendem, zwischen Innen und Außen zu überwinden. „In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass die Medien eine Immanenzebene bilden, insofern es keine Möglichkeit gibt, über sie hinaus oder von ihr unabhängig zu denken. Unsere Erfahrungen – unsere Erinnerungen und Identitäten, Perzepte und Affekte, Emotionen und Gedanken – sind immer schon medialisiert, sodass wir in gewisser Weise im Kino sind, selbst wenn dies (physisch) nicht der Fall ist. Wir sind ins Zeitalter des Kamerabewusstseins eingetreten, in dem unsere Vorstellungen vom Selbst und der Welt durch Rahmen bestimmt sind, die der Film und die Medien mit vorgeben.“ (Hagener 2011, S. 52) Medienimmanenz wird nicht nur, aber doch wesentlich von Bildern getragen – sie sind immer und überall, sie sind von uns und in uns, sie sind Platzhalter für Vergangenheit und Zukunft, sind vorsprachlich und nicht-sprachlich, emotional und affektuell. In diesem Sinne plädiere ich dafür, analog zur (umstrittenen) Konzeption von visuellen Medien und visueller Kultur aus heuristischem Interesse auch von Viskursen zu sprechen. Ich argumentiere dies damit, dass wir längst in einem Zeitalter der teilweisen/zeitweisen/kontextweisen Dominanz der Bilder über dem sprachlich kognitiven Bereich von Diskursen leben. So sind beispielsweise zahlreiche Gattungen von Social Media ausschließlich von Bildkommunikation geprägt. Dies verändert nicht nur Kommunikation auf radikale Weise, sondern verändert auch alle daran angeknüpften Prozesse von Sinneinschreibungen und Wahrnehmungen. So entstehen über eine zahllose, unüberschaubare permanente Präsenz von Bildern neue, ausschließlich über das Visuelle aufeinander bezogene Kommunikationsakte, die entlang der etablierten Diskurstheorien als Element des Diskurses zu fassen sind, die aber gleichzeitig auch von allem Sprachlichen kognitiv abgekoppelt sind oder sein können und so eine neue Konzeption zu „Viskurs“ schlüssig machen. Eine Unterscheidung von Diskurs und Viskurs ermöglicht, visuelle Texte in ihrer Besonderheit und Mächtigkeit zu erfassen (Flicker 2013, 2014), nicht zuletzt weil sie auf spezifische (vor- und nichtsprachliche) Wissensbestände rekurieren. Im Viskurs erhält Visuelles einen neuen sozialen Ort für kritische kultursoziologische Medienund Gesellschaftsanalyse. So öffnet sich für alle Medien – Information, popularkulturelle Kommunikation, narrativ-fiktionale Medien, Werbekommunikation, Selbstpräsentationen in Social Media u. a. – ein großes Forschungsfeld, um die Immanenz der Viskurse systematisch und kritisch zu reflektieren.

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Fazit

Der vorliegende Text versucht, eine kultursoziologische Schneise durch das große Feld der Media Studies und Visual Studies zu legen. Medienpraxis als theoretisches Konzept reicht über die traditionelle Dreiteilung von Produktion – Inhalt – Rezeption der Medien hinaus, und berücksichtigt alles, was als medien-orientierte Praxis mit anderen gesellschaftlichen Prozessen verwoben ist. Diese Perspektive verdichtet sich mit der Integration und Verknüpfung aller Arten von medialer Kommunikation und aller Kommunikationskanäle der alten und neuen Medien. Mediatisierung beschreibt den dichten globalen sozialen Wandel, der dieser Medienpraxis folgt

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und keinen Gesellschaftsbereich auslässt. Medienimmanenz und die Immanenz der Viskurse drückt aus, dass wir in einem Zeitalter der Digitalisierung angekommen sind, in dem eine unüberschaubare Vielfalt von Bildern (pictures) nicht nur alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen, sondern auch Gesellschaft sind und so Kultur grundlegend konstituieren. Gender Media Studies erweisen sich seit ihrem Beginn mit ihrer Feministischen Medienkritik in allen Debatten und Theoriebildungen als innovativ und verweisen u. a. auf hegemoniale heteronormative white male Dominanzen und auf symbolische Gewalt der Medienpraxis, die ihr eingeschrieben ist. Eine kultursoziologische Perspektive auf Medien integriert diese Reflexionen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und hierfür wird auf Diskurstheorie zurückgegriffen. Angesichts der nach jeweils eigenen Logiken funktionierenden Bildwelten und sich verselbstständigenden Bildkommunikationen wird hier für eine Unterscheidung von Diskurs und Viskurs argumentiert. In der kultursoziologisch orientierten Visuellen Soziologie werden die ausgeführten Perspektiven und Theorien und noch einige mehr, auf die hier nicht eingegangen werden konnte, in empirischen Studien auf ihre Anwendbarkeit heruntergebrochen, überprüft und weiterentwickelt.

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Mode aus kultursoziologischer Perspektive Lutz Hieber

Inhalt 1 Modesoziologische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kulturen des höfischen Adels und des städtischen Bürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Normale Phasen und revolutionäre Aufbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Mode als gesellschaftlicher Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Unterschiedliche soziologische Zugänge zu Moden (Georg Simmel, René König, Eduard Fuchs, Valerie Steele) werden behandelt, desgleichen die empirischen Bestandsaufnahmen des Sinus-Instituts, die sich als grundlegend für die Beschreibung gegenwärtiger Tendenzen erweisen. Da Kleidungsstile sowohl die äußere ästhetische Erscheinung als auch das Körpergefühl eines Menschen betreffen, ist ein sozialgeschichtlicher Zugang erforderlich, denn nur auf diesem Weg lassen sich gesellschaftliche Funktionen unterschiedlicher Tendenzen erschließen. Die Ausprägung der Moden des höfischen Adels sowie der frühbürgerlichen Stadtkulturen korrespondieren mit unterschiedlichen Lebenspraktiken. Seit dem 19. Jahrhundert, also in der bürgerlich-kapitalistischen Welt, erweisen sich Moden als Kommunikationsmedien, die – wie andere Medien – sowohl Phasen stabiler Herrschaftsverhältnisse als auch emanzipatorische Bewegungen begleiten und deren Ziele zum Ausdruck bringen können. Schlüsselwörter

Mode als Medium · Adel · Bürgertum · Soziale Distinktion · Modeindustrie

L. Hieber (*) Institut für Soziologie, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_36

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Ernst Moritz Arndt konstatierte im frühen 19. Jahrhundert einen Zusammenhang von Mode und Lebensführung. „Mode“, erkannte er, „spielt alles Innerliche in das Äußerliche hinaus“ (Arndt 1814, S. 42). Zwischen dem Stil der Kleidung eines Menschen und seinem kultivierten Habitus besteht, jeweils bedingt durch den gegebenen gesellschaftlichen Rahmen, eine starke Entsprechung. Modesoziologie ist daher ein thematischer Bereich der Kultursoziologie.

1

Modesoziologische Positionen

Ungeachtet der eminenten Bedeutung, die Mode im gesellschaftlichen Leben hat, widmete ihr die akademische Soziologie wenig Aufmerksamkeit. Zu den Ausnahmen zählen Georg Simmel und René König. Georg Simmel (1858–1918) warf zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Blick eher im Vorübergehen auf das Thema. Seine Sichtweise verrät die Existenz des regulierenden Obrigkeitsstaates des deutschen Kaiserreichs, der hegemoniale Normierung in allen Lebensbereichen durchsetzen wollte. Die Verschärfung des Strafrechts im Jahre 1900 („Lex Heinze“) beruhte auf der Überzeugung, „dass eine oft recht weitreichende und schwierige Beherrschung des Triebes notwendig ist, wenn Ordnung und Kultur bestehen sollen“; die Justiz bemühte sich zu verhindern, „dass Versuchungen allzu häufig an den Menschen herantreten“ und „dass seine Sinne zu oft und zu stark erregt werden“ (Lazarus 1909, S. 32 f.). Gerichte verfolgten Darstellungen unsittlicher Handlungen, Bademoden standen unter polizeilicher Aufsicht (Hieber und Urban 2008, S. 93). Solche Bedingungen zwingen dazu, nach außen eine Fassade der Anständigkeit zu wahren. Für Simmel liegt im Jahre 1905 die Bedeutung der Mode darin, dass Menschen diese „als eine Art Maske benutzen. Der blinde Gehorsam gegen die Normen der Allgemeinheit in allem Äußerlichen ist ihnen gerade das bewusste und gewollte Mittel, ihr persönliches Empfinden und ihren Geschmack zu reservieren“ (Simmel 1995, S. 25 f.). Zugleich erkennt er, dass Modeentwicklungen in Prozesse der sozialen Distinktion eingebunden sind. In der jeweils neuen Mode sieht er eine Angelegenheit, die „den oberen Ständen“ zukommt, und „sobald die unteren sich die Mode anzueignen beginnen und damit die von den oberen gesetzte Grenzmarkierung überschreiten [. . .], wenden sich die oberen Stände von dieser Mode ab und einer neuen zu“ (Simmel 1995, S. 13). René König (1906–1992) betrachtete im späten 20. Jahrhundert die modischen Phänomene als Empiriker, der sich einer Haltung der Wertfreiheit verpflichtet fühlt. Er sieht die Aufgabe des Soziologen darin, die Gesetzlichkeiten der Mode zu ermitteln; das gelinge „ihm aber nur, indem er auf Distanz geht. Der Analytiker der Mode ist nicht dazu verpflichtet, selber modisch zu sein“ (König 1988, S. 47). Damit unterschätzt er allerdings lebenspraktisch-körperliche Erfahrungen, die mit Kleidung einhergehen und in die Modesoziologie einfließen müssen. Zwar bezieht König „gegenüber dem weitverbreiteten Vorurteil Stellung [. . .], wonach die Mode einzig die äußere Hülle des Menschen in Kleidung, Schmuck und Ornament erfassen soll. Da sie eine allgemeine soziale Institution ist, erfasst und gestaltet sie den ganzen Menschen“ (König 1988, S. 49). Gleichwohl bleibt seine Sichtweise wesentlich auf das

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Spiel des Wechsels im zeitlichen Verlauf der Stilentwicklungen ausgerichtet. Ihre soziale Relevanz benennt er zwar, bleibt aber gewissermaßen an der Oberfläche der Erscheinungen, indem er sie formal „von ihrem Ursprung in der Bronzezeit über die alten Hochkulturen und im Kulturvergleich mit fremden Kulturen her betrachtet“ (Moebius 2015, S. 58). So spricht er beispielsweise von Anti-Mode der Existenzialisten und Beatniks als politischem Protest, beleuchtet aber weder ihre gesellschaftliche Situation noch ihr Lebensgefühl oder ihre Ziele, sondern ordnet sie lediglich in „die Entfaltung einer eigenen modischen Rhythmik“ ein (König 1988, S. 299). Diese Sichtweise blendet die ästhetischen und lebenspraktischen Dimensionen ihres Kleidungsstils aus, die ihre Wirksamkeit im Zusammenhang mit den literarischen und philosophischen Werken der Protagonisten entfalteten. Tatsächlich war die Garderobe der Beats wie der Existenzialisten mehr als die Markierung eines bloß äußerlichen Ich-will-mit-euch-nichts-zu-tun-Habens. Als zahlenmäßig noch kleine Gruppen attackierten sie das Denken, die Grundhaltungen, die Wertorientierungen der konservativen und selbstzufriedenen Bürgerlichkeit und legten damit den Grundstock für den Wandel, den schließlich die umfangreicheren sozialen Bewegungen der späten 1960er-Jahre umsetzen konnten. Soziologie zählt zu den diffizilsten Wissenschaften. Denn sie darf nicht aus den Augen verlieren, dass Forschende stets einen Bestandteil des untersuchten Gegenstandes bilden, eben der Gesellschaft, in der sie leben. Diese Tatsache betrifft die Modesoziologie in besonderer Weise. Wir alle kleiden uns gemäß Konventionen und folgen damit jeweils aktuellen Kleidungsstilen. Niemand kann sich Moden entziehen. Mode ist nicht etwas, das von außen, mit objektivierendem Blick beurteilt werden könnte. Auch der Modesoziologe folgt in einer Weise, die seinem Lebensstil entspricht, einer Modeströmung, und es erscheint sinnvoll, sich dessen bewusst zu sein, damit er weiß, von welcher Grundlage aus er andere Modeströmungen beurteilt. Während die akademische Soziologie das Mode-Thema eher aus einer Position der Wertneutralität behandelte, hatte Eduard Fuchs (1870–1940) einen kritischeren Blick. Er hatte vor dem Ersten Weltkrieg für Blätter der Sozialdemokratie gearbeitet, folgte allerdings deren revisionistischer Wende während des Ersten Weltkrieges nicht und wandte sich von ihr ab (Huonker 1985). Seine Illustrierte Sittengeschichte in drei Bänden, die in den Jahren 1909 bis 1912 erschien, analysierte die gesellschaftliche Bedeutung der Moden aus soziologischer Perspektive. Autor und Verleger sahen sich genötigt, Illustrationen und Textdokumente, die juristische Beanstandung nach sich ziehen hätten können, in drei als ‚Privatdrucke‘ gekennzeichneten Ergänzungsbänden unterzubringen. Obwohl Fuchs abseits der Universitäten arbeitete, erschienen seine Werke Max Horkheimer so wichtig, dass er Benjamin – der in den 1930er-Jahren im Pariser Exil als Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung tätig war – verpflichtete, diesem Privatgelehrten eine Abhandlung zu widmen (Benjamin 1937). Machtpositionen strukturieren die Sittengeschichte. Das Werk Fuchsʼ durchzieht die Kritik an bürgerlicher Welt und Repression. Doch er verzichtet darauf, eine Ideologie zu propagieren. Sein Hebel im Gravitationsfeld der alle Lebensbereiche durchwirkenden Macht liegt in einem Moralismus, dessen Ursprung „ein deutsches

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Jakobinertum“ ist (Benjamin 1980, S. 493). Diese Grundhaltung enthält Bestandteile, die mit seinen kulturgeschichtlichen Analysen kollidieren. Zugleich eröffnet seine Darstellung, da er den Gebrauchswert von Kleidung im Blick hat, grundlegende Einsicht in die sozialen Bedingungen modischer Entwicklungen. Er sieht, „dass die Interessen der Klassenscheidung [. . .] die eine Ursache des häufigen Modewechsels sind, und dass die zweite: der häufige Modewechsel als Konsequenz der privatkapitalistischen Produktionsweise, die im Interesse ihrer Gewinnrate ständig ihre Absatzmöglichkeiten steigern muss“ mindestens „eben so sehr ins Gewicht fällt“ (Fuchs 1912b, S. 53). Dazu kommen als dritte Ursache „die erotisch stimulierendenden Zwecke der Mode, die dadurch sich am besten erfüllen, wenn die erotischen Reize des Trägers oder der Trägerin immer wieder auf andere Weise auffallen“ (ebd.). Für Fuchs hängen Lebenspraxis und Mode zusammen. So stellt er für den bürgerlichen Mann seiner Epoche fest, sein Kostüm sei das des arbeitenden Menschen. Zur Verdeutlichung der Charakteristika stellt er ihn dem Mann des vorausgegangenen Ancien Régime gegenüber, wo der Nichtstuer triumphierte, dessen Kleidung der Repräsentation und dem Posieren diente. Der Bürgerliche dagegen „soll und muss ungehindert sich bewegen können, [. . .] sein Schritt muss fest und sicher sein, seine Geste energisch [. . .]. Die Kleidung ist auf ihre Hauptlinien vereinfacht“ (Fuchs 1912a, S. 172). Dass Lebenspraxis und Mode ineinander verflochten sind, zeigen auch die nachfolgenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts an den Veränderungen der weiblichen Garderobe. In dem Maße, wie dank der emanzipatorischen Bewegungen auch die Frauen in Berufen, die ihnen vormals verwehrt waren, arbeiten konnten, übernahmen sie auf ihre Weise die alltagspraktischen Elemente der Männerkleidung. So ist die Hose heute fester Bestandteil der femininen Garderobe geworden. An diesem Punkt treten Unterschiede der soziologischen Zugangsweisen deutlich zutage. René König, den die Verankerung einer Mode im jeweiligen Lebensstil kaum interessiert, verharrt auf einer formaleren Ebene. Er beobachtete zwar, dass bei Frauen die Hose zunehmend den Rock ersetzt. Doch diesbezüglich äußert er: Die Hose ist „ein Mittel der Frauen, um sich bewusst zu schmücken. Ob sie mit Emanzipationsbewegungen zusammenhängt, möchte ich dagegen stark bezweifeln“ (König 1988, S. 296). Dagegen hält der Fuchs’sche Ansatz stets daran fest, dass jedes Verständnis modischen Wandels voraussetzt, den Lebensstil zur Kenntnis zu nehmen, auf dem er basiert. Tatsächlich setzte sich dieses Kleidungselement mit der zunehmenden Berufstätigkeit durch, die sich Frauen gegen die bis dahin geltenden Geschlechtsrollenstereotype erstritten. In vergleichbarer Weise wie Fuchs trägt auch die sozialpsychologisch und modesoziologisch orientierte Arbeit Valerie Steeles, Direktorin des Museums des Fashion Institute of Technology in New York, der Tatsache Rechnung, dass sich niemand den Kraftfeldern sozialer Auseinandersetzungen entziehen kann. In ihrem Fall handelt es sich um die unterschiedlichen Einstellungen der Fraktionen des Feminismus. Der US-Feminismus erlebte in den 1980er-Jahren die ‚sex wars‘ (die es im deutschen Sprachraum nicht gab). In diesen ‚Sex-Kriegen‘ standen sich zwei Lager gegenüber, die sich grob bestimmen lassen als „die ‚radikalen‘ Feministinnen, die die deutlich

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sichtbare sexuelle Repräsentation von Frauen auszurotten versuchten, und die ‚pro-Sex‘ Feministinnen, die zwar nicht uneingeschränkt jede Art der Pornografie verherrlichten, aber explizites sexuelles Material vor staatlicher Zensur schützen wollten“ (Pendleton 1996, S. 373; Übers. L. H.). Steele, die Bezüge von Fetisch und Mode behandelt, weiß, dass modesoziologische Untersuchungen von solchen Auseinandersetzungen beeinflusst sind. Daher bezieht sie Position, indem sie rekapituliert, dass einige Feministinnen ihre Beurteilung der Pornografie revidierten, „nachdem sie beobachtet hatten, dass die Allianz zwischen den feministischen Pornographiegegnerinnen und der fundamentalistischen Rechten auf der Vorstellung beruht, es gebe nur eine Art von ‚natürlicher‘ Sexualität (oder sollte sie geben)“; der Aktivismus der „gegen jede Zensur eingestellten Feministinnen“, die sich „gegen die ‚Überwachung des Begehrens‘ ausgesprochen“ haben (Steele 1998, S. 190), bildet ihren Bezugspunkt. Auch ihre Analysen belegen, dass Modesoziologie sich nur unter Verlust der Fähigkeit, konkrete Triebkräfte zu erkennen, dem Postulat wertfreier Wissenschaft folgen kann. Für die Modesoziologie unserer Gegenwartsgesellschaft sind die empirischen Untersuchungen von Sinus Heidelberg, die Marketing-Zwecken dienen, unverzichtbare Quellen.1 Obwohl das kommerziell arbeitende „Sinus-Institut methodische Einzelheiten als Betriebsgeheimnis hütet“, haben seine „Studien einen großen Vorteil: sie werden ständig aktualisiert“ und sind dadurch für die Sozialstrukturforschung relevant (Geißler 2014, S. 114 f.). Die Basis modischer Äußerungen ist, wie mehrere Outfit-Studien ermittelten, durch die sozialen Milieus strukturiert. Die Sinus-Forschung definiert „soziale Milieus als subkulturelle Einheiten innerhalb einer Gesellschaft, die Menschen ähnlicher Lebensauffassung und Lebensweise zusammenfassen“ (Flaig et al. 1993, S. 55). Das Sinus-Modell spannt zwei Dimensionen auf. Die eine bildet die soziale Lage ab: je höher ein Milieu angesiedelt ist, desto gehobener sind Bildung, Einkommen und Berufsgruppe. Die andere gibt die Skala der Wertorientierungen: sie reichen vom konservativen Pol (festhalten an tradierten Werten, nicht auffallen) über Modernisierung und Individualisierung (Wunsch nach Selbstverwirklichung, Emanzipation, Streben nach Authentizität) bis hin zu Optionen der Neuorientierung (geografisch und mental mobile kreative Avantgarde). Die modischen Selbstpräsentationen von Individuen spielen im Wesentlichen in diesem Koordinatensystem. Die in den unterschiedlichen Milieus vorhandenen Einstellungen drücken sich in ästhetischen Präferenzen aus, die „in aller Regel nicht als konkrete Vorstellung ästhetischer Prinzipien“ existiert, „sondern als Bedürfnis“ (ebd., S. 88). Der konservative Herr beispielsweise trägt einen Anzug. Wie die typische Dame seines Milieus betrachte er eine dezent-gepflegte Erscheinung als Spiegel der Persönlichkeit. Ihr Gegenpart sind die hedonistisch Orientierten, die ‚angepasste‘ äußere Erscheinung verabscheuen und demonstrativ ‚traditionelles‘ Outfit ablehnen – und darüber Zugehörigkeit und Bestätigung in ihrer Bezugsgruppe finden (Spiegel/Sinus 1994, S. 42 ff.).

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Michael Vester (1989) entwarf ein Diagramm, das Bourdieus Raum der sozialen Positionen mit den Sinus-Milieus in Beziehung setzt.

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Kulturen des höfischen Adels und des städtischen Bürgertums

Kleidung hat mehrere Aufgaben, die sich überlagern. Sie ist erstens durch die biologisch gegebene Ausstattung des menschlichen Körpers bedingt. Der Mensch ist ein Lebewesen ohne Fell. Deshalb muss die biologisch bedingte Funktion der Kleidung darin bestehen, ihn vor Witterungseinflüssen zu schützen. Durch diese Funktion ist die notwendige Umhüllung des Körpers jedoch nicht zureichend bestimmt, vielmehr eröffnet sich damit ein breites Spektrum der Gestaltungsmöglichkeiten. Dazu zählt, dass Kleidung zweitens der sozialen Distinktion dient. Sie kann den gesellschaftlichen Rang einer Person definieren. „Die Kleidung eines Menschen gibt eine ganze Reihe von Signalen an andere; sie signalisiert vor allem, wie er sich selbst sieht und wie er von anderen gesehen werden möchte, im Rahmen dessen, was er sich leisten kann. Aber wie er sich sieht und gesehen werden möchte, hängt eben auch von der ganzen Machtstruktur einer Gesellschaft und von seiner Position innerhalb ihrer ab“ (Elias 2005, S. 131). Überlagert wird diese soziale Modedimension drittens durch den sinnlichen Aspekt. Kleidung, Accessoires und Frisur dienen der Selbstpräsentation eines Menschen; sie schaffen Anlässe, angeblickt zu werden. Zwar kann Kleidung auch, wie im Fall der Kutten von Mönchen und Nonnen, den Körper verhüllen und dadurch ein Entsagen von Körperlichem in Szene setzen. Doch abgesehen von derartigen Extremen gilt das „große permanente Gesetz“, nämlich „dass sich in der Kleidung ein erotisches Problem erfüllt, das des zwar passiven aber dafür stetigen sinnlichen Werbens“ (Fuchs 1912a, S. 180). Ein Blick in die Geschichte hilft, die Entwicklung der Kleidung in ihren sozialen Dimensionen zu verstehen. Die Bandbreite der Mode blieb bis ins Spätmittelalter beschränkt. Die grundlegende Bedingung für das Bedürfnis, sich selbst darzustellen, entstand in Europa zaghaft in der griechischen Antike. Es beruht auf dem Ich-Bewusstsein eines sich als autonom verstehenden Subjekts. Die homerischen Epen, deren schriftliche Fassung auf das 8. Jahrhundert v. u. Z. datiert werden (und in ihren älteren Schichten weiter zurückreichen), kennen allgemein noch „keine Autonomie eines Subjekts, kein entsprechendes Ich-Bewusstsein“; menschliche und göttliche Sphäre greifen ineinander, bilden „eine Totalität der gesellschaftlich-göttlich-kosmischen Ordnung“ (Müller 1977, S. 259). Erst um die Mitte des 7. Jahrhunderts v. u. Z. treten in der Lyrik des Archilochos erste Schritte einer „Emanzipation des Individuums“ zutage (Treu 1959, S. 165). Diese Dichtung zeigt einen Wandel an, der zwar aus der Sicht der heutigen individualisierten Lebensstile als minimal erscheint, aber für die damalige Kultur einen großen Schritt ausmachte. Bei Archilochos fällt nämlich „das bisher Unerhörte auf, dass er von sich selbst redet, ja dass er sich selbst als Einzelnen vorstellt“ (Müller 1977, S. 273). Damit bildete sich nach und nach ein Bewusstsein der Individualität. Aber eine durchgehende Uniformität der Kleidung blieb – kennzeichnend für die erst keimhafte Ausprägung des Ich-Bewusstseins – bestehen. Sie ließ lediglich geringe Variationsmöglichkeiten zu. Die Grundform der griechischen Gewänder bestand – über minimale modische Abwandlungen hinweg – für Männer und Frauen in einer Hemdkleidung, dem kürzeren oder längeren Chiton (Thiel 2010,

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S. 22 ff.). Er bestand aus Leinenstoff, der auf den Schultern von Fibeln zusammengehalten wurde. Beschränkte Webbreite der Stoffe hat das Zusammennähen von zwei Bahnen an den Seiten von oben bis unten erfordert, mit Aussparungen von Öffnungen für die Arme. Als eine Art Mantel konnte ein rechteckiges, um den Körper gewickeltes Stück festerer Wollstoff dienen, der Peplos, der seinen Halt ebenfalls durch Fibeln über der Schulter fand. Persönliche Vorlieben konnten sich im Faltenwurf und in der Anordnung der Gürtung ausdrücken. Das war die Kleidung der Freien, der politisch und kulturell tonangebenden Minderheit. Als Folge der zaghaften Herausbildung von Individualität kann sie als Beispiel für die damalige „ausgesprochene Langsamkeit der Mode“ gelten (König 1988, S. 17). Die Gewandung der Freien unterschied sich von jener der Sklaven, Handwerker und Bauern. Die arbeitenden Schichten trugen einfache und zweckmäßige Gewänder aus gröberen Stoffen oder sogar Fellgewänder. Den Schritten in Richtung einer Individualisierung, der Herausbildung des Selbstbewusstseins der sich als Ich verstehenden Menschen, setzte das Mittelalter ein Ende. Erst mit dessen Ausklang setzten sich in zwei europäischen Regionen, in Burgund und in Norditalien, tiefergreifende Umwälzungen durch. Vor allem in diesen städtisch geprägten Regionen eröffnen sich wieder Tendenzen der Individualisierung, in denen bereits ansatzweise Momente des weit umfassenderen Entwicklungsspektrums der Gegenwart aufscheinen. Sie beruhen auf den Möglichkeiten einer Herauslösung aus vorgegebenen Sozialbindungen, der entstehenden Pluralisierung der Glaubensrichtungen, Denkweisen und Normen. Die sich verändernden Lebensstile wirkten sich auf die Selbstwahrnehmung der Menschen aus, und das wiederum hat Folgen für die Kleidung. Gesellschaftlicher Wandel eröffnet neue Chancen. Für diese frühen Epochen bietet die Kunstgeschichte reichliches Anschauungsmaterial. In den flandrischen Städten, die den Reichtum des Herzogtums Burgund ausmachten, hatte sich, ebenso wie in den norditalienischen Städten, seit dem 14. Jahrhundert eine Tuchindustrie etabliert. Unternehmer hatten die Produktion in der Hand. Sie beschafften die Wolle und verkauften die fertigen Stoffe. Der Rohstoff ging zu Spinnerinnen, von dort zum Weber und weiter zum Walker, zum Tuchscherer und schließlich zum Färber. Diese Produktionsorganisation heißt Verlag. Dabei scheint jedes Teilfabrikat „von jedem Heimarbeiter, der daran Hand anlegte, zum Verleger wieder zurückgekehrt zu sein, ehe es an den, den nächstfolgenden Teilprozess ausführenden Meister weiter gelangte“ (Kulischer 1976, I, S. 216). Der Unternehmer konnte mithilfe der Waage die Kontrolle ausüben, damit die Teilarbeiter nichts unterschlagen konnten. „Ihre Arbeitslöhne wurden durch die von den Städten erlassenen Taxen festgesetzt“ (ebd.). In Städten wie Ypern, Gent und Brügge brachen immer wieder Aufstände der ausgebeuteten Arbeiter aus. „Gegen das Proletariat vereinigten sich die Kapitalisten des Großhandels, Makler und Exporteure mit den selbständigen Kleinhandwerkern“ (Pirenne 1971, S. 195). Diese Koalition triumphierte in oft blutigen Kämpfen. Der burgundische Hof, als soziales Zentrum, setzte Fortschritte des Geld- und Warenverkehrs, also die Kommerzialisierung des sozialen Feldes voraus. „Das Wachstum der höfischen Verbraucherschicht und mit ihm das Wachstum der

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frühkapitalistischen Stadt [. . .] sind Funktionen einer Verwandlung im Aufbau der Gesamtkonfiguration“ (Elias 2002, S. 276). Der Luxus von fürstlichen Höfen speiste sich aus der Expansion der Städte. Während Frankreich durch den Hundertjährigen Krieg gegen England geschwächt darniederlag, übernahm die Mittelmacht Burgund für viele Jahrzehnte eine führende Rolle in der Mode des höfischen Adels. Die Etikette nahm strenge Formen an, sie „bestimmte auch, wem Goldstoff, Samt oder Seide zustand, wer Hermelin und Zobel tragen durfte“ (Thiel 2010, S. 139). Reiche Stickereien, Edelsteine und Perlen zierten die Gewänder. Leuchtende Farbtöne galten als angemessen; doch breitere Bevölkerungsschichten ahmten sie nach, und deshalb wandte sich der burgundische Adel bald dem Schwarz zu. Dem höfischen Galanteriekult entspricht eine Betonung der Körperformen. Einen Einblick in den Stand der Schneiderkunst bietet die Figur der Maria Magdalena, die Rogier van der Weyden am rechten Rand der Kreuzabnahme (Abb. 1) platzierte (De Vos 1999, S. 185 f.). Nach der Überlieferung gilt sie als Sünderin, die zur Büßerin wurde. Rogier zeichnet im dekolletierten, eng anliegenden Kleid ihren Oberkörper nach. Da es noch nicht möglich war, „die Körperformen schnitttechnisch nachzuvollziehen, behalf man sich durch Schnürung von Schlitzen im Gewand“; die Längsschnürung der aus Vorder- und Rückenteil zusammengesetzten Gewandteile ermöglicht es, „die einzelnen SegAbb. 1 Rogier van der Weyden: Kreuzabnahme, 1430/35 – Detail. (Museo del Prado, Madrid). (Quelle: De Vos 1999)

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mente körpernah zu justieren“ (Geppert 2013, S. 50). Durch einen Schlitz blitzt das weiße Unterhemd. Das Kleid fällt unterhalb der Taille glockig. Kostbare rote Schmuckärmel zieren ihre Arme. Die höfische Herrenmode betonte die Beine. Das Obergewand, die Robe, wurde kürzer und bedeckte um die Mitte des 15. Jahrhunderts kaum noch die Hüften. Dadurch entwickelten sich die Beinlinge zur engen Strumpfhose, die einen Hosenlatz erforderte. Der höfische Habitus manifestierte sich in Kleidungsstücken, die graziles und gemessenes Auftreten erforderten. Der Vorliebe für das Gezierte entsprachen Schuhe, die lange Spitzen erhielten. Die Herren trugen oft ausladende, extravagante Kopfbedeckungen. Die Gewänder der Damen liefen in lange Schleppen aus. Dazu passte der Hennin, jene zuckerhutförmige Kopfbedeckung mit einem Schleier am spitzen Ende. Der höfische Adel inszenierte sich auch in der Folgezeit als Müßiggänger. Seine Mode blieb auf der Schiene, die Burgund vorgezeichnet hatte. Der – urkundlich nicht fassbare – Hausbuchmeister, der in der Region des Mittelrheins und des fränkischen Oberrheins wirkte (Filedt Kok 1985, S. 31), schilderte das Leben aristokratischer Kreise im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts. Eine seiner Zeichnungen stellt ein junges aristokratisches Paar dar (Abb. 2). Der Mann trägt ein gefälteltes Hemd unter einem kurzen Rock, dazu enge Hosen und lange Schnabel-

Abb. 2 Hausbuchmeister: Stehendes Liebespaar, um 1485. (Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Berlin). (Quelle: Filedt Kok 1985)

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schuhe. Das Kleid seiner Begleiterin mit hoher Taille und Schleppe ist tief ausgeschnitten, dazu gehören ebenfalls Schnabelschuhe; ein weites, mit Schmuckfäden durchwirktes Tuch hält das sorgfältig frisierte Haar zusammen. Er übereicht ihr eine Pelzmütze mit breitem Band, Schmuck und Reiherfeder. Später, im reifen Absolutismus Frankreichs, setzte sich bei den Damen die Betonung des Oberkörpers fort. Sie trugen Korsetts. Das Verhüllen des Busens überließen sie den bürgerlichen Frauen. Ihre Röcke gewannen, unterstützt durch den Reifrock oder andere Unterfütterung, beträchtlichen Umfang. Die adeligen Herren trugen die Allongeperücke. Ihre Kleidung blieb farbenfroh und mit reichem Dekor bestückt. Sie legten weiterhin Wert auf die Beine. Die Schuhe bekamen nun höhere Absätze, um dem Gehen eine grazile Note zu verleihen. Weder die Kleidung der Damen noch die der Herren taugte für alltagspraktische Tätigkeiten. Diese Mode signalisierte: zum Arbeiten sind wir uns zu fein, als höfischer Adel beschäftigen wir Personal. Während Burgund den Grundstock feudaler Modeentwicklung formulierte, entstand in den oberitalienischen Städten der Frührenaissance eine frühbürgerliche Kultur. Hier konnte die Bourgeoisie, indem sie sich der Unterstützung des kleinbürgerlichen Mittelstandes versicherte, gegenüber dem Adel die Vorherrschaft erringen. Dem „traditionalistischen Standpunkt des Mittelalters ist die Welt ein Werk göttlicher Schöpfertat, dem Bürger der Renaissancezeit ist sie Gegenstand menschlicher Arbeit, Voraussicht, Ordnung und Formung“ (Martin 1974, S. 47). Der bürgerliche Habitus fasst die produktive Formung der Welt ins Auge. Für die Renaissance, als italienische Lokalkultur, ist eine weitgehende Anpassung des Adels an die neuen Verhältnisse charakteristisch: er gliedert sich in die Stadt ein. Da Oberitalien nicht über ein mächtiges Zentrum verfügte, entwickelte sich ein vielfältiges Nebeneinander an Kleidungsstilen. Doch das Ideal des tätigen Menschen gab den Ton vor und gewann in Oberitalien deutlich Einfluss auf die Mode (Thiel 2010, S. 151 ff.). Der Kaufmann, der sich um seine Geschäfte kümmern musste, oder der Condottiere, der von den oberitalienischen Städten beschäftigte Führer von Söldnerheeren, trugen keine Gewänder, die ihre Tatkraft und Bewegungsfreiheit einschränken konnten. Das Wams erhielt bequeme Ärmel, und der Rock bekam eine Länge, die den Unterkörper schützte. Die Zimarra, ein vorn offener und meist mit einem Verschluss versehener Oberrock, blieb knöchellang. Die Schuhe passten sich dem Fuß an und erhielten vorn eine runde oder wenig angespitzte Form. In der Frauenkleidung trennten sich Rock und Mieder. Das Mieder erhielt eine vordere Schnürung, das Dekolleté blieb sittsam. Die Ärmel endeten bisweilen vor dem Handgelenk. Der rundgeschnittene Rock erlaubte ungehindertes Ausschreiten. Mantelartige Obergewänder wuchsen nicht – wie in der höfischen Mode – zur Schleppe aus. Kopfbedeckungen, oft kleine Hauben oder Netze, ließen die Frisuren der Damen zur Geltung kommen. Die Männer- wie die Frauenkleidung der Renaissance verzichtete auf Attribute des sichtbaren Müßigganges. Ungeachtet dessen wussten sich die Reichen von den unteren Schichten zu unterscheiden, indem sie die Brokat-, Seiden- und Samtstoffe, mit denen sie die kirchliche und weltliche Obrigkeit belieferte, auch für den eigenen Bedarf nutzten. Gediegenheit des Materials wurde zum Maßstab der Rangordnung.

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Grobes Tuch gab es für die Unteren, Gewebe und Stickereien von größter Feinheit für die Oberen. Zugleich kam dem Schmuck, der auch eine Kapitalanlage darstellte, Bedeutung zu. Ähnlich wie Burgund wesentliche Tendenzen der nachfolgenden höfischen Moden formulierte, legte die Renaissance ein Set modischer Orientierungslinien für bürgerlich geprägte Epochen vor. Im Holland des 17. Jahrhunderts blieb die Kleidung der Bürger auf alltagspraktische Bedürfnisse ausgerichtet. Zwar kam vorübergehend eine ausladende und steife Halskrause auf, aber sie wich bald wieder dem weniger bewegungshinderlichen, weich fallenden Spitzenkragen. Anders als in demokratischen Gesellschaften, reglementierten vor dem 19. Jahrhundert Kleiderordnungen die unteren Stände. Wo solche Gesetze das Verwenden kostbarer Stoffe, das Tragen bestimmter Kleidungsstücke oder Schmuck verboten, kann man davon ausgehen, dass ihr Gebrauch verbreitet war. Sonst hätte es der Verbote nicht bedurft. Zum einen ging es darum, die sichtbaren Unterschiede zwischen Hoch und Niedrig aufrechtzuerhalten. Zum anderen sollten diese Gesetze alle Ausgaben, die kostbare Stoffe und Accessoires verlangen, für die unteren Klassen einschränken, um deren Ehrbarkeit zu gewährleisten. Bis ins „19. Jahrhundert“ reichen „die Vorwürfe, der Kleiderluxus fördere die Unredlichkeit der Dienstboten. Man ging davon aus, dass ihr geringer Lohn solchen Aufwand nicht erlaubte, und warf besonders Köchinnen und Hausmädchen vor, dass sie durch ihre Putzsucht zu Veruntreuungen und kleinen Diebstählen gegenüber ihrer Herrschaft verleitet würden“ (Müller 1981, S. 120). Die Kleiderordnungen sollten deshalb für das Personal, und entsprechend auch für einfache Handwerker und andere Berufsfelder, unterbinden, dass sie ihre materielle Beschränktheit unzulässig überschreiten und den Lockungen pompöserer Selbstpräsentation erliegen. Das flache Land, das durchgehend hinter den Zentren hinterherhinkt, blieb im Absolutismus wie in frühbürgerlich geprägten Regionen von jedem Wandel weithin unberührt. Bauern trugen über alle Epochen hinweg kurze Hemdröcke aus Leinen, teils mit oder ohne Hosen, und die Bäuerinnen einfache Hemdkleider.

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Normale Phasen und revolutionäre Aufbrüche

Nicht nur Sprache in gesprochener oder geschriebener Form, sondern auch Bilder aller Art können Einverständnis oder Widerspruch artikulieren. Dasselbe kann Mode als Medium visuell-körperlicher Kommunikation. Durch die Art, wie sich eine Person kleidet und zurechtmacht, wirkt sie auf Menschen ihrer Umgebung, und diese reagieren darauf. Ein Kleidungsstil kann gewisse Bewegungen erleichtern und andere erschweren. Er kann Körperpartien betonen oder verstecken. „Am Körper und in seiner Ausweitung durch die Kleidung wird Disziplin ausgeübt und hingenommen“ (Fiske 2001, S. 215). Emanzipatorische Bewegungen haben sich in unterschiedlichen Epochen bemüht, die Bandbreite des Zulässigen zu erweitern. Dagegen setzten Machtapparate immer wieder alles daran, die bestehende Ordnung zu zementieren.

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Da für die Moden in der bürgerlich-kapitalistischen Ära eine Reglementierung durch obrigkeitliche Kleiderordnungen entfällt, sie also erhebliche Freiheiten besitzen, kommen ihnen Funktionen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu. Gesellschaftliche Umbrüche gehen auf ihre Weise mit Umbrüchen in der Mode einher. Um die Moden der Jahre rasanter gesellschaftlicher Umwälzungen von den ruhig dahinfließenden Zeiträumen zu unterscheiden, erscheint es sinnvoll, ruhige, ‚normale‘ Abschnitte der Modegeschichte von jenen zu unterscheiden, die ‚revolutionäre‘ Innovationen hervorbringen. ‚Normale‘ Modeentwicklungen, so möchte ich in Anlehnung an Thomas S. Kuhn (1967) sagen, folgen einem ästhetischen Paradigma, während ‚revolutionäre‘ Tendenzen das bestehende Paradigma verwerfen und zuvor Unvorstellbares realisieren. Ein modisches Paradigma bleibt im Rahmen bestehender Körperpolitik und -moral. Normalität bedeutet dabei nicht etwa das Einfrieren eines Zustandes, vielmehr gibt es Variationen, sie buchstabieren das Paradigma aus. Die Bandbreite ergibt sich aus den ständigen Aktivitäten der sozialen Distinktion: die oberen Milieus dokumentieren ihre Unterschiede gegenüber den unteren, die konservativen gegenüber den progressiveren. Den gegebenen Rahmen sprengen die ‚revolutionären‘ Moden. Die Stilgruppen zum einen der höfischen und zum anderen der frühbürgerlichen Moden bestanden über Jahrhunderte. Mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert änderten sich die Verhältnisse. Die bürgerliche Revolution in Frankreich mischte die Karten neu. Die ‚Revolutionsmode‘ der Jahre um 1800, vorwiegend eine Angelegenheit von Paris als kulturellem Zentrum, zog radikale Konsequenzen. Anschließend, nachdem die gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Reaktion, die Vorherrschaft der traditionellen Mächte wieder in die althergebrachten Bahnen gebracht worden waren, breitete sich eine lange Phase der Normalität aus. Aber als die wiederhergestellte alte Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg ihren Bankrott nicht mehr kaschieren konnte, ereignete sich ein erneuter Aufbruch. Die größeren Städte der 1920er-Jahre erlebten wieder eine Moderevolution, eine Abkehr vom bestehenden Modeparadigma in einer Radikalität, das jener um 1800 in nichts nachstand. Die sich in den nachfolgenden Jahren, als Reaktion auf das Ausbrechen aus der Starrheit, wieder festigende Dominanz konservativer Strömungen, die in mehreren europäischen Ländern in faschistische Diktaturen mündeten, setzte dem ein Ende und mündete wieder in einer Phase der Normalität. Schließlich entstand in den späten 1960er-Jahren eine internationale Protestbewegung, die – ausgehend von den USA – die unbeweglich gewordenen Strukturen der westlichen Gesellschaften aufwirbelte. Auch dieses Aufbegehren gegen die hegemoniale Ordnung nutzte das Medium der Mode zur Artikulation eines Neuanfangs. Die Moderevolution der Sixties hielt für mehrere Jahre die westlichen Gesellschaften in Atem. Anschließend kehrte die Modeentwicklung wieder zurück in eine lange Phase der Normalität. Im Folgenden möchte ich sowohl die revolutionären Eruptionen als auch den jeweils daran anschließenden Gang der Normalität charakterisieren, um die Gehalte unterschiedlicher Modetendenzen des bürgerlichen Zeitalters vorzustellen. Walter Benjamin, der Mode als Kommunikationsmedium betrachtet, gibt dazu das Stichwort. „Das brennende Interesse an der Mode liegt für den Philosophen in ihren

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außerordentlichen Antizipationen“ (Benjamin 1991, S. 112). Mode beleuchtet, ähnlich den Künsten, gesellschaftliche Gegebenheiten. Ich möchte mit den französischen Revolutionärinnen und Revolutionären beginnen, denen es in unterschiedlichen Schritten seit 1789 gelungen war, einige Säulen der Ordnung des Ancien Régime umzustürzen und andere anzusägen. Die ‚Revolutionsmode‘ setzte in Paris ein, nachdem das jakobinische Terrorregime und das Wüten der Guillotine ein Ende hatten. Als ästhetischer Ausdruck eines selbstbewusst bourgeoisen Habitus, der auch bürgerlich gewordene Adelige umfassen konnte, formulierte sie radikale Abkehr von Arten der Lebensführung des untergegangenen Spätabsolutismus. „Jede spezifische Kleidung verkörpert auf ihre Art ganz spezifische herrschende oder wirkende Ideen“, und das heißt, man trägt sie „nur dann freiwillig, wenn man auch geistig von den Ideengängen überwunden ist, die in ihr verkörpert sind“ (Fuchs 1912a, S. 170). Das Äußere drückt das Lebensgefühl aus. Und „deshalb opponiert man durch die Kleidung sehr oft“ (ebd.). Die Mode der Französischen Revolution brachte für modische Damen der Bourgeoisie die Chemisenkleider (la chemise = Hemd). Ihre Taillengürtung rückte unter den Busen. Das Dekolleté erreichte freizügige Ausmaße. Der bodenlange Rock lief oft in eine Schleppe aus. Zu den gerne verwendeten Stoffen zählte Musselin, ein weiches und durchscheinendes Gewebe. Da die Damen den Mantel aus festem Stoff verschmähten, weil er nicht in der Lage war, die Körperkonturen nachzuzeichnen, tauschten sie ihn gegen einen breiten Schal. Diese Mode verwarf alle Reglementierungen und alle Moral, die während des alten Regimes das Leben bestimmt hatten. Juliette Récamier, Gattin eines Bankiers, verband eine tiefe Freundschaft mit der Schriftstellerin Germaine de Staël. Beide pflegten Umgang mit Napoleon Bonaparte. Mme. de Staël ging nach dem Staatsstreich am 18. Brumaire des Jahres VIII des Revolutionskalenders (9. November 1799), die Napoleon zum Erstem Konsul gemacht hatte, auf Distanz zu seinem zunehmend autokratischen Regime. Ihre Freundin blieb ihr darin verbunden. Napoleon verbannte später beide aus Paris. Für Mme. Récamier war aber die Welt im Jahre 1800 noch im Lot. Sie beauftragte Jacques-Louis David mit einem Porträt (Musée du Louvre, Paris). Er stellte sie im weißen Chemisenkleid auf einem Ruhebett lagernd dar, aufgerichtet mit Kissen im Rücken. In der Kahlheit des Raumes lenkt nichts von ihr ab. Die Porträtierte scheint indes mit dem Gemälde nicht zufrieden gewesen zu sein, das Werk blieb unvollendet in Davids Atelier liegen. Mme. Récamier wandte sich an François Gérard, dem es nun besser gelang, sie in ihrem Liebreiz zu erfassen (Abb. 3). Nun saß sie in lockerer Pose aufgerichtet auf einer ‚Chaise étrusque‘ vor rotem Vorhang in einem Interieur, das einem Bad der Antike ähnelte. In ihrem durchscheinenden, weißen Chemisenkleid bringt sie, leicht nach vorn gebeugt, ihr tiefes Dekolleté zur Geltung. Den breiten Schal hat sie dekorativ um ihre Knie gelegt. Die Herrenmode stand der Damenmode nicht nach. Die ‚Pantalons‘ (Röhrenhosen) hatten die ‚culottes‘ (Kniebundhosen) des Ancien Régime abgelöst. Die Pantalons, deren Länge von dreiviertel bis ganzer Beinlänge variieren konnte, hielten Hosenträger. Aus Trikotgeweben oder Seide hergestellt, wurden sie „so eng, dass sie die

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Abb. 3 François Gérard: Madame Récamier, 1802. (Musée Carnavalet, Paris). (Quelle: Thiel 2010)

Gestalt in all ihren Umrissen zur Geltung kommen ließen“ (Thiel 2010, S. 291). Napoleon, der sich zum Kaiser erhoben hatte, trug eine solche weiße Hose in Dreiviertellänge für ein Porträt, das David im Auftrag eines britischen Bewunderers schuf; im Feldzug gegen Russland begriffen, lässt er sich dazu in weißer Weste und darüber einer vorn kurzen Uniformjacke darstellen (Abb. 4). Reines Weiß dient, ebenso wie das reine Schwarz (das ebenfalls bei Chemisenkleidern vorkam), dem Markieren einer Trennungslinie zwischen sozialen Klassen. Die niederen sozialen Schichten trugen gedeckte Farben. Die berufliche Tätigkeit etwa einer Marktfrau, eines Maurers oder eines Bauern würde auf rein weißer Kleidung, ebenso wie auf reinem Schwarz, zu sichtbaren Schmutzflecken führen. Die reichen Bürgerinnen und Bürger dokumentieren deshalb mit den Modefarben Weiß bzw. Schwarz, dass sie nicht zur praktisch arbeitenden Bevölkerung gehörten (Hieber 2008). Die Ziele des revolutionären Aufbruchs formulierten nicht nur Reden und Schriften, nicht nur die Künste, sondern auch die Mode. Als nach der endgültigen Niederlage Napoleons das Erste Kaiserreich zusammenbrach, arbeitete die wiederhergestellte Monarchie mit großem Eifer daran, die alte Ordnung zu restaurieren. Mit der Beendigung revolutionären Elans veränderte sich das Lebensgefühl, und die Mode schwenkte wieder ins Fahrwasser der Wohlanständigkeit.

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Abb. 4 Jacques-Louis David: Napolen in seinem Arbeitskabinett, 1812. (National Gallery of Art, Washington). (Quelle: Schnapper 1981)

Der normale Gang der Mode zeichnet sich dadurch aus, dass nichts grundlegend Neues verunsichert. Wandel kommt durch recyceln älterer Stile zustande. Ein Musterbeispiel bietet die Mode des französischen Zweiten Kaiserreichs. Deshalb möchte ich die biedermeierlich-langweilige erste Hälfte des 19. Jahrhunderts überspringen und die Regierung Napoleons III. ins Auge fassen. Seine Herrschaft etablierte 1851 ein Staatsstreich. Ein Bündnis „aus Staatsapparat, Armee, Katholischer Kirche, der Masse der nach Ruhe und Ordnung verlangenden Parzellenbauern sowie einer modernen, saint-simonistisch beeinflussten Finanz- und Industriebourgeoisie“ stützte die Bildung „eines autoritären Staates“ (Ziebura 1979, S. 158). Das Regime trieb den Bau der Eisenbahnen voran. Diese Linie der Industrialisierung trugen Banken, Kohlebergbau sowie Eisen- und Stahlindustrie. Der Kaiser stachelte den Präfekten Haussmann an, die Hauptstadt umzubauen. Paris erhielt Bahnhöfe, Banken und Versorgungszentren (Warenhäuser wie Bon Marché, Printemps, Samaritaine), Kasernen entstanden am Rande der neu durch die Stadt gelegten Boulevards. Die Privatvermögen der Bourgeoisie verdoppelten sich im Zeitraum von zwei Jahrzehnten, die Mittelklassen bekamen einen kleinen Anteil ab. Die Bourgeoisie stellte ihren Reichtum mit fürstlichem Lebensstil zur Schau. Obwohl es unter der Oberfläche gor, gelang es Napoleon III. und seinem Apparat, die gesellschaftlichen Verhältnisse ruhigzustellen. Den etablierten Machtstrukturen entsprach „ein mora-

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lisierender Konformismus, der borniert alle neuen Tendenzen der Literatur (Flaubert, Zola, Baudelaire) und Malerei (Manet und den beginnenden Impressionismus) verurteilte“ (ebd, S. 172). Die Damenmode der herrschenden Klassen tat nichts anderes als die bestehenden Tendenzen weiterzuführen, indem sie die Mode der ersten Jahrhunderthälfte durch Anleihen beim Rokoko variierte. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Korsett den Oberkörper modelliert. Der bürgerliche Anstand verbannte das Dekolleté aus dem Alltag und beschränkte es auf den Ballsaal. Die Zahl der Unterröcke, teilweise mit Rosshaar gesteift, hatte zugenommen, damit dem Rock kein noch so despektierlicher Windstoß etwas anhaben konnte. Die Krinoline als der aus dem Rokoko übernommene Unterbau (le crin = Rosshaar), die eine beträchtliche Weite der Röcke gewährleistete, geriet allerdings an ihre Grenzen. Nun ermöglichte jedoch der technisch-industrielle Fortschritt, die Krinoline aus Stahlreifen herzustellen und somit leichter zu machen. Reifröcke und Korsagen als Mittel zu beschreiben, die „die spezifischen Geschlechtsmerkmale – schlanke Taille, breite Hüften, Busen – durch technischkünstliche Elemente lockend übertrieben“ haben sollen (Vinken 2013, S. 80), führt auf eine falsche Fährte. Statt über die äußere Erscheinung zu spekulieren, muss es um den Gebrauchswert der Kleidung gehen. Wer jemals eine weibliche Hüftlinie gesehen hat, weiß, dass die darüber gesetzte und ausladende Krinoline deren Form nicht steigert, sondern überdeckt. Entsprechend verhält es sich mit der Korsage. Sie prägt dem weichen Busen eine starre Geometrie auf und eliminiert dadurch seinen sinnlichen Reiz. Die Modegeschichtsschreibung bezeichnet den Kleidungsstil des Zweiten Kaiserreichs gerne als „zweites Rokoko“ (Thiel 2010, S. 342), aber es ist kein Rokoko mehr. Damals, in der von Galanteriekult geprägten höfischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, trugen die Damen tiefe Dekolletés. Madame Roland, die sich als sittsame Kleinbürgerin darüber empört hatte, beschreibt eine höhere Dame, deren „Busen, immer bis über jene kleine Rose hinaus entblößt, deren Blüte gewöhnlich geheimen Mysterien vorbehalten bleibt [. . .], wogte“ (Roland 1987, S. 168). Die im Zweiten Kaiserreich tonangebend gewordene bürgerliche Kultur unterdrückte das Schwelgen in Sinnlichkeit, die das Rokoko des vorangegangenen Jahrhunderts bestimmt hatte. Gleichwohl hätte sich diese Mode nicht durchsetzen können, wenn sie nicht wenigstens ein wenig Profit eingebracht haben würde. Zum einen auf der Ebene des Flirts. Die extrem weite und starre ‚Krinoline‘ aus Stahlreifen ist „zu einem Teil auf die außerordentlichen Vorteile“ zurückzuführen, „die sie der weiblichen Koketterie bietet [. . .] Der weitabstehende Reifrock zwang nämlich bei jeder Gelegenheit zum Retroussé“ (Fuchs 1912a, S. 205). Beim Sitzen, beim Gehen, beim Treppensteigen schwang der Reifrock und konnte kurze Blicke auf Knöchel und Waden gewähren. Zum anderen lag der wesentliche Wert von Reifrock und Korsett in der Klassenscheidung. Ihre Trägerinnen demonstrierten, dass sie nicht arbeiten mussten. Eine Dame kann sich in dieser Kleidung nicht mit ihren Kindern beschäftigen, in der Küche arbeiten oder sonst eine praktische Tätigkeit ausüben. Sie zeigt, dass sie über Personal verfügt. René König konstatiert für das 19. und frühe 20. Jahrhundert eine Änderung des ‚Ausbreitungsstils‘ der Mode, der dem „sozialen Klassensystem“ entspricht, „wie es

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sich unter dem Einfluss des Industriekapitalismus entwickelt hat. Alles ist 1., 2. oder 3. Klasse: die Eisenbahn, die Hotels, die Restaurants, die Theaterplätze, die Saläre und das Stimmrecht. So erreicht zwar die Mode die Bourgeoisie und die obere Mittelklasse, aber sie lässt noch immer den größeren Teil des Kleinbürgertums und sicher die ganze Arbeiterklasse aus“ (König 1988, S. 27). Für Höherstehende dient die Mode der sozialen Distinktion. Bäuerinnen und Bauern, Arbeiterinnen und Arbeiter müssen sich weiterhin auf die traditionelle Volkskleidung beschränken, und das Dienstpersonal trägt, was es von der Herrschaft bekommt. Die Dame der oberen Klassen, die „Mode als wesentlichen Teil eines exklusivluxuriösen Lebensstils zu betrachten verstand“ (Loschek 1988, S. 238), bediente die nun entstehende Haute Couture. Deren Begründer, Charles Frederick Worth, eröffnete gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Otto Bobergh einen Modesalon 1858 in Paris. Der Modeschöpfer entwarf Kollektionen, aus denen die individuelle Kundin ein Modell wählte, das Näherinnen entsprechend ihrer Figur herstellten. Modezeitschriften verbreiteten die Modelle der Haute Couture. Diesen Journalen lagen Schnittmusterbogen bei, mit deren Hilfe kleine Schneiderwerkstätten oder Privathaushalte die aktuellen Modelle nachnähen konnten. Die Schnittmuster trugen wesentlich dazu bei, den neuesten Modestil mit einer gewissen Verzögerung von oben nach unten zu transportieren (Roy 2014). Diese Popularisierung forderte von den höheren Klassen fortwährende Innovationen, um Unterschiede gegenüber den Mittelklassen zu dokumentieren. Die erkennbaren Unterschiede garantierten die Distinktion der höheren Kreise von den mittleren, aber immerhin konnten sich auch die Frauen der Mittelklasse von Arbeiterinnen und Bäuerinnen abheben. Die kapitalistische Entwicklung brachte die Industrialisierung der Stoffherstellung. Um die Mitte des Jahrhunderts kam die Nähmaschine. Die regelmäßig präsentierten Kollektionen der Haute Couture setzten die Markierungen des ‚ästhetischen‘ Verschleißes, dem gegenüber der ‚physische‘ Verschleiß der Kleidung eine zunehmend geringere Bedeutung hatte.2 Das Rad des Modewechsels, dessen Drehgeschwindigkeit sich bis in unsere Gegenwart ständig weiter erhöhte, erschloss der Modeindustrie in den normalen Phasen der Entwicklung zunehmende Absatzmöglichkeiten und entsprechende Profitraten. Das Paar, das Auguste Renoir um 1868 malte, trägt die Garderobe der Mittelklasse (Abb. 5). Ein Mann, in heller Röhrenhose und dunklem Jackett, und eine Frau, in einem hochgeschlossenen Kleid mit einem Rock von beträchtlichem Umfang, stehen im Freien. Er bietet ihr den Arm, aber weil die Krinoline hinderlich ist, können sie nicht nebeneinander stehen. Sie müssen sich über den weiten Rock zueinanderbeugen. In der bürgerlichen Welt unterscheidet sich der Mann grundsätzlich von der Frau. Für den Mann setzte sich Einfachheit durch. Ins Geschäftsleben eingebunden, brauchte er nicht mehr viel Zeit auf seine Garderobe verwenden. Er musste auf das Korsett und andere Attribute des zur Schau gestellten Müßigganges verzichten. Der

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Bereits Karl Marx hat einen Typ des Verschleißes von Gütern, der aus kapitalistischen Bedingungen resultiert, vom physischen Verschleiß unterschieden (Marx 1962, S. 426).

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Abb. 5 Auguste Renoir: Ein Paar im Grünen, um 1868. Wallraf-Richartz-Museum, Köln. (Photo L. H.)

Schnitt der Röhrenhose behinderte die Bewegungsfreiheit nicht. Das sackartige Jackett verzichtete auf die Taille. Der Konkurrenzkampf hatte für Unternehmer und Bankiers das Motto „Zeit ist Geld“ verbindlich gemacht. Schließlich übernahm der Adel die bürgerliche Garderobe. Franz Xaver Winterhalter porträtierte Napoleon III. um 1857 in Röhrenhose, Weste und Jackett.3 Die bürgerliche Ideologie vom Wesen der Geschlechter, die Aktivität und Rationalität dem Mann und Passivität und Emotionalität der Frau zuschrieb, machte die Repräsentation des Wohlstandes zur weiblichen Aufgabe. Während Kaiser Napoleon III. im Anzug auftrat, sich also der Standardisierung der Männermode auf dem bürgerlichen Niveau anpasste, setzte sich in der Frauenmode ebenfalls eine Angleichung durch, jedoch unter entgegengesetztem Vorzeichen. Die Dame der reichen Bourgeoisie trat in Konkurrenz zum Hofstaat der Königs- und Kaiserhäuser, beide schwelgten in Verschwendungssucht. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Kaiserreich blieben dem bestehenden Paradigma verhaftet. Der bürgerliche Mann blieb beim Anzug. Die bürgerliche Dame trug weiterhin Korsetts; die Krinoline wandelte sich in den zwei Jahrzehnten nach

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Musée du Second Empire, Compiègne (Ormond 1988, S. 56).

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Abb. 6 Otto Baumberger: Seiden-Grieder. 1929. (Slg. L. H.)

Ende des Zweiten Kaiserreichs zur Tournüre, einem halbkreisförmigen Gestell, das den Rock nur noch über dem Gesäß aufbauscht („Cul de Paris“). Die Stabilität der Herrschaftsverhältnisse verhinderte während des 19. Jahrhunderts grundlegende soziale Veränderungen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, der die europäische Welt in ihren Strukturen erschüttert hatte, konnten sich wieder emanzipatorische Strömungen Geltung verschaffen. Damit gewannen revolutionäre Tendenzen Einfluss, die bestehende Konventionen über Bord warfen. Nun ging es in Richtung freierer Körperlichkeit: weg mit dem Korsett, weg mit steifen Unterröcken. Das hatte seine Entsprechung in der formalen Gleichberechtigung der Frau (Wahlrecht, Recht auf Bildung) und der wachsenden Beteiligung von Mittelklasse-Frauen am Berufsleben. Ein Werbeplakat von Otto Baumberger (Abb. 6) zeigt im Jahre 1929 im Vordergrund zwei Damen in einfarbigen Kleidern vor weißem Grund. Die Rocklänge reicht nur noch bis zum Knie. Die hemdartigen Schnitte verzichten auf Taillierung. (Um den Kontrast zur Vorkriegsepoche zu verdeutlichen, setzte Baumberger zwei graue Damen mit eng geschnürter Taille und gepolsterten bodenlangen Röcken in den Hintergrund). Doch dann kam der Rückschlag durch Restauration und Diktaturen. In Europa sollte es weitere Jahrzehnte dauern, bis die progressiven Tendenzen eine Fortsetzung fanden. Es bedurfte der Protestbewegung der 1960er-Jahre, die alle westlichen

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Demokratien durchdrang, um Erneuerung im Denken und in der Kultur in Gang zu setzen. Die weibliche Mode artikulierte das Aufbegehren – vorwiegend jüngerer Frauen – gegen die Konventionen, durch Minirock und weich anschmiegende Stoffe für die Oberteile. Damit stellten sie für die traditionell eingestellten Milieus eine moralische Provokation dar. Korsagen, die noch bis in die frühen 1960er-Jahre als unverzichtbar galten (Hieber und Villa 2007, S. 146), verschwanden aus der Alltagskleidung. Allerdings wurden die Korsagen nicht ersatzlos gestrichen. Der neue Lebensstil hatte freie Beweglichkeit gefordert, aber die schlanke Linie blieb das Ideal. Dadurch stellte sich die Aufgabe, der das Korsett gedient hatte, auf andere Art. Die Modellierung des weiblichen Körpers übernahm von nun an nicht mehr ein Kleidungsstück, das praktischen Tätigkeiten hinderlich war, sondern Selbstdisziplin. Diät und sportliche Aktivität gelten von nun an als Mittel, den eigenen Körper in Form zu bringen. Ein selbstauferlegtes inneres, psychisches Korsett ersetzte das frühere äußere, physische Korsett (Hieber und Urban 2008, S. 59). Die Perfektionierung des Konfektionsangebots machte Mode, bislang vorwiegend eine Angelegenheit der höheren Klassen, seit den Sixties zur Angelegenheit aller sozialen Lagen. Damit hatte die Innovationsfreudigkeit der Frauenmode freie Bahn. Die Männer dagegen hielten sich noch immer von modischen Veränderungen fern. Die Kontinuität ihres Kleidungsstils zeugt von einem habituell tiefverwurzeltem Konservatismus, der auf Disziplinierung und Zwänge zurückgeht. Die HippieKultur, die sich von San Francisco ausgehend in kulturelle Zentren verbreitete, blieb eine vorwiegend auf die USA beschränkte Sonderentwicklung. Jedenfalls blieben die kritischen Ideen für die jungen Männer in Europa, die den politischen Aktivismus der 1960er-Jahre beflügelten, offenbar auf den Kopf beschränkt. Immerhin wurden für sie Langhaarfrisuren möglich. Für die Frauen erfolgte, weniger spektakulär als die Mini-Mode, die eine demonstrative Herausforderung für traditionelle Wertorientierungen dargestellt hatte, etwas später eine stillere Revolution. Sie eigneten sich nahezu flächendeckend die Hose an. Dieses Kleidungsstück hatte sich in der Arbeitswelt der Männer bewährt, und in dieser Funktion signalisiert es Emanzipation vom weiblichen Geschlechtsrollenstereotyp, die nun mehr Selbstständigkeit und Berufstätigkeit erlaubte.

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Mode als gesellschaftlicher Faktor

Keinesfalls kann Kleidung nur als Hülle verstanden werden, die lediglich „das Äußerliche des Lebens ergreift“ (Simmel 1995, S. 28). Kleidung ist ein Medium der nicht-verbalen Kommunikation, die ihre Funktion im sozialen Leben wahrnimmt. Sie hat deutlichen Anteil am Körpergefühl derjenigen, die sie tragen. Zugleich sendet sie visuelle Signale an die Mitmenschen und verortet den Einzelnen im gesellschaftlichen Gefüge. Menschen einer historischen Epoche und eines sozialen Standes bzw. Milieus haben vergleichbare Sozialisationswege durchlaufen. Sie verfügen über Gemein-

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samkeiten im Habitus. „Der Habitus“ kann „als ein System verinnerlichter Muster“ betrachtet werden, „die es erlauben, alle typischen Gedanken einer Kultur zu erzeugen – und nur diese“ (Bourdieu 1974, S. 143). Die Lernprozesse, die Menschen zu dem machen, was sie sind, haben sich in sie eingeschrieben. Das in Kindheit und Jugend mühsam Erlernte und Eingeübte wird bald so selbstverständlich, dass sich schließlich der Erwachsene darin bewegt, als ob es ‚naturgegeben‘ sei. Er hat das Wesentliche habitualisiert, es geht ihm ‚in Fleisch und Blut‘ über. Ganz ähnlich wie ein erfahrener Autofahrer nicht mehr darüber nachdenken muss, den Fuß auf das Bremspedal zu setzen, wenn er ein Hindernis auf der Straße vor sich sieht, sondern diese Tätigkeit reflexartig vollzieht. Das Erworbene und in der alltäglichen Routine Verfestigte kann als „kulturell Unbewusstes“ bezeichnet werden. Der Betreffende steht dazu in einem Verhältnis, das sich „als das von ‚tragen‘ und ‚getragen werden‘ bezeichnen lässt“: Er ist sich nämlich nicht bewusst, dass er die Bildung, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist, nicht besitzt, sondern dass ihn umgekehrt seine Bildung besitzt (ebd., S. 120). Für alle Menschen bestimmt ihr jeweiliger Habitus (den auch ihr ‚kulturell Unbewusstes‘ bedingt) die Wahrnehmung von Moden sowohl früherer historischer Epochen als auch der Moden anderer sozialer Milieus ihrer Zeit. Modesoziologinnen und Modesoziologen bilden keine Ausnahme. Da sie zwangsläufig, ob sie es wollen oder nicht, historisch und sozial konstruierten Wahrnehmungskategorien unterliegen, denen sie sich nicht entziehen können, gilt für sie selbstverständlich der „Imperativ der Reflexivität“ (Bourdieu 2015, S. 37). Sofern Moden mit Körperund Lebensgefühl verbunden sind, stellen sie ästhetisch-körperliche Kommunikationsmedien dar. Daher kann sich Reflexivität in der Modesoziologie nicht auf das Kognitive beschränken, sie muss das Studium sowohl der Kultur- und Modegeschichte als auch aktueller Tendenzen durch ein Repertoire praktischer Erfahrungen mit unterschiedlichen Kleidungsformen ergänzen.

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Nationalismus und kulturelle Differenz aus kultursoziologischer Perspektive Dieter Reicher

Inhalt 1 Was heißt „Kultur“ und „Nation“ im Nationalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Was heißt „Kultur“ und „Nation“ in der Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Forschungsstrategie: Kultur und Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die soziologische Erforschung von Nation und Nationalismus greift in vielfältiger Weise auf das Konzept von „Kultur“ zurück. Dabei stehen sich objektivistische und subjektivistische Forschungstraditionen gegenüber. Außerdem lässt sich die Perspektive von Kultur im Nationalismus von der des Nationalismus als Kultur unterscheiden. Schlüsselwörter

Nationalismus · Nation · Kultur · Figurationssoziologie · Nationale Identität Der Kulturaspekt des Nationalismus ist schwierig zu erforschen. Zwei fiktive Beispiele sollen dies veranschaulichen. Beispiel 1 Bei einer politischen Kundgebung notiert ein anwesender Forscher den Inhalt des Flugblattes einer nationalistischen Organisation. Auf diesem steht: „Wir sind stolz auf unsere Kultur. Jedes Volk soll seine Kultur behalten!“ Um den Sinn dieser Botschaft zu verstehen, muss sich der Forscher die Sichtweise eines „Insiders“ aneignen; z. B. als verdeckter oder offen teilnehmender Beobachter. Nur so kann die D. Reicher (*) Institut für Soziologie, Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_37

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Bedeutung erschlossen werden, die Begriffe wie „Kultur“, „Volk“ und „Nation“ für Mitglieder einer solchen Organisation haben. Diese Sichtweise wird in der Kulturanthropologie als „emisch“ bezeichnet. Beispiel 2 Ein Forscher kontaktiert ausgewählte Personen mit einem Fragebogen. Er stellt unter anderem folgende Frage: „Wie stolz sind Sie auf die Kultur Ihres Landes?“ (Antwortmöglichkeiten auf einer Likert-Skala in fünf Schritten von „sehr stolz“ bis „überhaupt nicht stolz“). Der Forscher tritt hier mit seinen Konzepten von „Kultur“ und „Nation“ von „außen“ in das Feld. Vielleicht sind für den Forscher oder den Befragten „Kunst“ und „Kultur“ Synonyme oder sie verbinden bloß das Bedeutungsfeld „Hochkultur“ (z. B. klassische Musik) mit der Frage. Vielleicht verstehen die Befragten aber auch etwas anderes unter „Kultur“ als der Forscher. Jedenfalls bildet der Forscher dieses fiktiven Beispiels aus einer Reihe ähnlicher Fragen theoretische Konstrukte, die er „Nationalstolz“, „nationale Identität“ oder „Nationalkultur“ nennt. Den Befragten selbst mögen die Begriffe unbekannt oder unklar sein. Diese Sichtweise von „außen“ auf das Forschungsfeld wird „etisch“ genannt.1 Anders als Ethnologen des 19. Jahrhunderts treten die beiden fiktiven Forscher jedoch nicht von „außen“ in eine fremde „Kultur“. Die Forscher sind nämlich Teil derselben Welt, bestehend aus Nationalstaaten, wie die Beforschten. Hier sind also keine klaren Grenzen zwischen „emisch“ und „etisch“ gegeben. Dennoch lassen sich wertvolle Erkenntnisse gewinnen, wenn der Kulturbegriff im Rahmen des Nationalismus sowohl aus der Perspektive des Forschungsfeldes, wie auch aus der Perspektive der Forschung erschlossen wird. Werturteile der Forscher fließen zum Beispiel in Forschungsdesign, Forschungsfrage und in die Konstruktion wissenschaftlicher Begriffe ein. So ist etwa der Begriff „Nationalismus“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften für die Bezeichnung bestimmter Erscheinungen umstritten. „Nationalismus“ besitzt keine Aura der Neutralität. So wird manchmal ein „guter“ oder ein irgendwie für nützlich gehaltener Nationalismus als „Patriotismus“ oder als „nationale Identität“ bezeichnet. Manchmal ist auch unklar, ob die Forscher Unterschiedliches meinen, wenn sie diese unterschiedlichen Begriffe benutzen. Jedenfalls wird nicht selten dieser „gute“ einem „schlechten“ Nationalismus gegenübergestellt. Der „schlechte“ Nationalismus wird in solchen Fällen oft als soziales Problem ähnlich dem Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit oder dem Faschismus behandelt. Eine ähnliche Problematik ist auch mit dem Begriff der „Kultur“ verbunden. In der Forschung ist dieser manchmal stark normativ aufgeladen und keineswegs einheitlich in seiner Bedeutung. Das zweite Problem, das durch die unklaren Grenzen zwischen „emisch“ und „etisch“ entspringt, ist das der Reaktivität der Forschung. In Beziehung zur außer-

Ursprünglich leitete sich die Unterscheidung zwischen „emisch“ und „etisch“ aus der sprachwissenschaftlichen Gegenüberstellung von „phonemisch“ und „phonetisch“ ab.

1

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wissenschaftlichen Welt positionierte sich die Nationalismusforschung nicht wertneutral. Manchmal ist sie sogar mit dem expliziten Ziel verbunden, entweder zum nationalen „Erwachen“ eines „Volkes“ aktiv beizutragen oder – umgekehrt – den Nationalismus als bloße Ideologie zu entlarven. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden daher schnell zu neuen Realitäten, zu neuen emischen Sichtweisen. Als Wissenschaftler im 19. Jahrhundert zum Beispiel „Volkslieder“, „Volksmärchen“ oder „Nationalliteratur“ sammelten, beflügelten sie damit das nationale Wir-Gefühl vieler Menschen. Das Konzept von „Identität“ stellt ein weiteres anschauliches Beispiel für die Reaktivität einer solchen Forschung dar. Es war ursprünglich in der Mathematik entworfen worden und wurde anschließend von Psychologie, Soziologie und Kulturwissenschaften übernommen, zum Beispiel in Form der „nationalen Identität“; und unter einer „nationale Identität“ wird meist der kognitive Vorgang einer bewussten Übereinstimmung des eigenen Denkens und Fühlens mit dem einer vorgestellten und real existierenden nationalen Gemeinschaft bezeichnet. Schlussendlich geriet es zu einer Kategorie der politischen Auseinandersetzung. „Identitätspolitik“ soll helfen, Forderungen und Rechtsansprüche bestimmter Gruppen, wie etwa auch von Nationalisten oder von ethnischen Minderheiten, durchzusetzen. Dazu zählt auch das Dogma, dass Menschen mit derselben „nationalen Identität“ im selben Staat leben sollten. Was bedeuten also „Kultur“ und „Nation“ im Nationalismus?

1

Was heißt „Kultur“ und „Nation“ im Nationalismus?

In vielen Lehrbüchern wird zwischen zwei Arten der Definition von Nation unterschieden: nach „objektiven“ oder nach „subjektiven“ Merkmalen (vgl. z. B. Jansen und Borggräfe 2007, S. 10 ff.). Beide Herangehensweisen folgen einem anderen Verständnis von Kultur. Geht man davon aus, Nationen nach objektiven Kulturmerkmalen bestimmen zu können, bezieht sich „Kultur“ meist auf Sprache, Religion, Tradition oder Sitte. „Kultur“ bedeutet hier auch, dass bestimmte materielle Kulturzeugnisse wie Bauwerke, Kunstwerke oder objektivierbare Geisteserzeugnisse wie Literatur, Musik oder Philosophie Nationen zu charakterisieren vermögen. Außerdem wird hierbei die Annahme vertreten, „Kultur“ trete als Vielzahl in Erscheinung: als Kulturen, Sprachen etc. Eine alternative Herangehensweise meint, „Nationen“ wären bloß durch subjektive Abgrenzungsmerkmale zu klassifizieren. Diese wären vor allem kognitiver und emotionaler Natur, z. B. individuell bestehende Vorstellungen, der Glaube an eine Schicksalsgemeinschaft, der Wille zu einem gemeinsamen Projekt oder Zusammengehörigkeitsgefühle. Im Jahr 1882 beantwortete der französische Schriftsteller und Historiker Ernest Renan (1823–1892) die selbstgestellte Frage „Qu’est-ce qu’une nation?“ (Was ist eine Nation?) mit der Feststellung, die Nation sei ein „täglicher Plebiszit“, ein politisches Projekt, das die kontinuierliche Willensbekundung aller Bewohner in einem Land erfordere (Renan 1996). Aber aus Renans subjektivem Nationsverständnis entspringt auch die Konsequenz, dass man die Nationen als nichts ewig Gegebenes betrachten sollte. Hier tritt ein ganz anderes Kulturverständnis zutage

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als beim objektiven Nationsbegriff. Das Klassifikationschema des deutschen Historikers Friedrich Meinecke (1862–1954) baut auf dem Versuch auf, objektive und subjektive Kulturmerkmale von Nationen zu unterscheiden. Er unterscheidet zwischen sogenannten „Kultur“- und „Staatsnationen“ (Meinecke 1962). Meinecke meint, dass vor allem in Deutschland und in Italien schon lange vor deren staatlicher Einheit ein Nationalbewusstsein vorherrschte, das auf der Idee einer gemeinsamen „Kultur“ aller Deutschen oder Italiener beruhe. Diese Länder wären „Kulturnationen“, die sich von den sogenannten westeuropäischen „Staatsnationen“ Frankreich, England, Spanien oder Portugal abgrenzen ließen. Dort hätten sich nämlich schon lange relativ stabile Staatsstrukturen gebildet. Deren Bevölkerung wäre es gelungen, von innen her ein Nationalbewusstsein zu etablieren. Dadurch wäre es möglich gewesen, die alte feudale Ordnung abzuschütteln (z. B. durch Revolutionen). Dieses Ost-West-Klassifikationsschema, mit dem auf „Kultur“ beruhenden „Ethnonationalismus“ in Mittel- und Osteuropa und dem westlichen „Bürgernationalismus“ wurde zum Vorbild moderner Klassifikationsversuche des Nationalismus (vgl. Kohn 1962; Smith 1986; Guibernau i Berdún 1996 und Gellner 2006). Die Trennung zwischen einem objektiven und einem subjektiven Verständnis von Nation ist jedoch problematisch. Vor allem wird die Relevanz der Perspektive – „emisch“ oder „etisch“ – hierbei nicht konsequent berücksichtigt. Einerseits lässt sich ein objektiver Nationsbegriff aus der Sicht der zu erforschenden Menschen festhalten, die selbst an die Existenz solcher objektiven Merkmale glauben. Andererseits kann aber auch die Forschung mit einem Kultur- und einem Nationsbegriff operieren, der solche objektiven Merkmale unterstellt. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass bloß Personen aus dem Forschungsfeld einen objektiven Nationsbegriff vertreten, Forscher jedoch dem gegenteiligen, subjektivistischen Ansatz folgen. Dazu ein Beispiel: Clifford Geertz geht in seiner Untersuchung von Nationsbildungsprozessen im Zuge der Dekolonialisierung Afrikas und Asiens davon aus, dass vor allem der Glaube der Einheimischen an die Ursprünglichkeit ihrer „Nationen“ in Form von Blutsverwandtschaft den Kern des Nationalismus in diesen Ländern bildet (Geertz 1963). Selbst vertritt Geertz keinen Primordialismus (Ursprünglichkeitsglaube). Ein solcher wird von Geertz jedoch auf aufseiten der Erforschten unterstellt und als subjektive Wahrheit behandelt, die jedoch Konsequenzen für die Formung der Realität besitzt. Die Unterscheidung zwischen einem östlichen „Ethnonationalismus“ und einem westlichen „Bürgernationalismus“ weist noch dazu empirische Widersprüche auf. Erstens waren in den westeuropäischen Fällen ebenfalls ethnische Elemente und zweitens in den mittel- und osteuropäischen Ländern auch Demokratisierung und Bürgerrechte für Nationsbildungsprozesse wichtig. So bestand lange Zeit kein Zweifel daran, dass im Kern Britannien eine Art Erweiterung der englischen Nation sei. Im besten Fall seien die Schotten noch die zweite akzeptierte ethnonationale Gruppe, die den Kern des Britentums bilden würde. Die Deutschen wiederum – der Paradefall von Kulturnation – hatten 1848 wichtige konstitutionelle Rechte gefordert und damit bürgernationale Elemente in ihr nationales Wir-Bild aufgenommen, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stärker in den Vordergrund rückten. Aus emischer Sichtweise, aus der der Beobachteten, besitzt der Begriff „Kultur“ oft einen instrumentellen Charakter. „Kultur“ soll Legitimität erzeugen und territo-

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riale oder gruppenbezogene Rechtsansprüche zur Geltung bringen. Der Begriff der „Kultur“ stellt gleichzeitig den geistigen und emotionalen Kern der nationalistischen Ideologie einer einmaligen, unverwechselbaren und überlegenen Einheit dar. Oft wird etwa ein bestimmtes künstlerischen Schaffen in einem Land – z. B. die Art und Weise, wie dort ein Film gedreht, ein Bild gemalt, ein Musikstück komponiert wird, mit der Aura von Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit verbunden. Ein solches Kunstwerk reflektiert aus einer nationalistischen Sicht eine tiefer liegende „Nationalkultur“. Heute findet sich solche Vorstellungen meist in Verbindung mit dem Konzept von „Identität“. Hier kann nicht auf alle möglichen Bedeutungsebenen dieses Konzepts eingegangen werden. Wichtig ist jedenfalls festzuhalten, dass dieses aus emischer Perspektive vor allem mit einer Symbolik sowohl der Abgrenzung als auch der Zugehörigkeit verbunden ist. Derartige Symbole können künstlerische Objekte sein (etwa Musikstücke oder Flaggen), Naturerscheinungen (etwa Berge, Landschaften, Flüsse) oder ausgewählte Personen (etwa Sportler, Prominente, Politiker). Auch die Idee von „Nationalcharakter“ kann sich auf Individuen, Kollektive oder auch auf objektivierte Kulturprodukte geistiger und materieller Art beziehen. Der Gebrauch des Konzepts von „Identität“ geht in der Praxis oft mit der Rechtsforderung nach Pflege einer als eigen verstandenen „Kultur“ einher; z. B. dem Recht, die „eigene“ Sprache in Ämtern, Schulen und Massenmedien verwenden zu dürfen. Ausgehend von diesem Rechtsanspruch ist es manchmal nur noch ein weiterer Schritt zur Forderung staatlicher Eigenständigkeit für alle gedachten Mitglieder einer nationalen „Kultur“. Diese Überzeugung verfestigt sich etwa im gegenwärtig gültigen Rechtsprinzip des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ (siehe: Charta der Vereinten Nationen, Artikeln 1 und 55).

2

Was heißt „Kultur“ und „Nation“ in der Forschung?

Die Forschung kennt ganz verschiedenartige Ansichten und Theorien über Rolle und Funktion von dem, was sie „Kultur“ nennt. Hier soll die Rolle des Konzepts von „Kultur“ in den wichtigsten Nationalismustheorien besprochen werden. Dabei werden folgende Ansätze miteinander verglichen: der sogenannte Primordialismus, der Ethnosymbolismus, Gellners Funktionalismus, ausgewählte marxistische Autoren und Sozialkonstruktivismus/situative Ansätze. Anschließend werden die Grundzüge der figurationssoziologischen Sicht auf Nation und Kultur diskutiert.

2.1

„Kultur“ im Primordialismus

Zunächst soll hier ein wissenschaftlicher von einem politischen Primordialismus unterschieden werden. Letzterer versteht sich als Ideologie einer nationalistischen Bewegung, übernimmt jedoch von Ersterem die Idee der Ursprünglichkeit „nationaler Kulturen“ bzw. die Vorstellung davon, was nach Ansicht verschiedener Primordialisten jeweils als ursprüngliche „Kultur“ zu gelten habe. Allen Formen des Primoridialismus liegt ein substanzialistisches Verständnis von „Kultur“ zugrunde.

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Die Substanz einer solchen „Kultur“ wird meist als Sprache, Religion oder Sitte verstanden, die sich klar und deutlich und unabhängig von der Betrachtung Einzelner voneinander unterscheiden. Ein derartiger substanzialistischer Kulturbegriff bildet die Basis der objektiven Definition von Nation. Der wissenschaftliche Primordialismus hat seinen Ursprung im Denken der Aufklärung. Wichtige Vertreter waren Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) oder Johann Gottfried Herder (1744–1803) (vgl. Rousseau 1981; Herder 2006). Herder versteht unter „Kultur“ die distinktive Lebensform eines „Volkes“ oder einer „Nation“. Beide Begriffe werden von Herder als Synonyme verwendet. Ursprünglich beruht Herders Sichtweise auf der Idee, dass solche Völker oder Nationen seit jeher nebeneinander existierten, ohne dass eine Reihung von besser oder schlechter bezogen auf diese Gruppen vorgenommen werden könnte (siehe auch Berlin 1976). In Deutschland vermischte sich jedoch dieses Ideal der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Völker mit einer antifranzösischen Haltung, die eine für oberflächlich gehaltene „Civilisation“ in abwertender Weise der deutschen „Kultur“ gegenüberstellte (siehe auch Elias 1995, S. 1 ff.). Somit vermischten sich der wissenschaftliche und der politische Diskurs. Im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Reihe weiterer Kontakte beider Formen des Primordialismus. In jüngster Zeit vertreten die sogenannten Postcolonial Studies, die zwar das Herder’sche Programm zu überwinden trachten, ebenfalls eine Art Vermittlerstellung zwischen beiden Formen des Primordialismus. Zum Beispiel geht Bhabas Konzept von „Hybridität“ (Bhabha 1990) von einem substanziellen Grundverständnis von „Kultur“ aus. „Kultur“ könne eben auch als buntes Mischverhältnis Grundlage von kollektiver Identität werden. Hier findet der Kulturbegriff im Grunde immer noch in einer substanzialistischen Art Verwendung; zu einer detaillierten Kritik an Bhabhas Konzept siehe Wimmer (2008).

2.2

„Kultur“ im Ethnosymbolismus

Der Ethnosymbolismus von Armstrong (1982) und Smith (1986) umgeht zunächst das Problem eines objektiven Nationsbegriffs. Nationen werden zwar als modern und als von nationalen Bewegungen „gemacht“ angesehen. Der Konstruktivismus des Ethnosymbolismus ist jedoch beschränkt. Der Ethnosymbolismus behauptet nämlich, Nationen besäßen einen ethnisch definierten Kern und bauen auf einer älteren Ethnokultur auf. Innerhalb von Nationen würde kollektive Identität durch den Rückgriff auf ältere ethnische Symbole erzeugt. Dabei würde jedoch bloß auf die Form und nicht auf den Inhalt solcher Ethnosymbole referiert. Der vormoderne Inhalt derartiger Ethnosymbole würde nämlich sehr oft durch neue, moderne Inhalte ersetzt werden. Ein Beispiel: der Begriff „Deutschland“ ist sowohl viel älter als der deutsche Nationalstaat, wie auch als die Idee der deutschen Nation. Ursprünglich war der Begriff eine Landschaftsbezeichnung.2 Erst in moderner Zeit kommt es zu Im Mittelalter war meist von den „teutschen Landen“ in der Mehrzahl die Rede. Das Hauptwort „Deutschland“ wurde hingegen kaum verwendet.

2

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einer nationalistisch gefärbten Neuinterpretation des Deutschland-Begriffs. Der Ethnosymbolismus geht davon aus, dass sogenannte „gate keepers“ (Wächter) dafür sorgen würden, dass nur gewisse ethnisch besetze Symbole den Eingang in die nationale Ideologie finden würden. Gesteuert würde dieser Vorgang der Selektion durch einen sogenannten „Mythomoteur“. Darunter wird eine bildlich gedachte Mythen-Maschine verstanden, die den Gründungsmythos einer bestimmten ethnischen Gruppe erzeugt; vgl. D’Abadal i de Vinyals (1958). Im Gegensatz zu Primordialismus (a) und Ethnosymbolismus (b) hat sich der sogenannte „Modernismus“ positioniert, der von einem modernen Ursprung des Nationalismus ausgeht. Modernisten meinen, dass der Nationalismus ein Produkt industrieller Gesellschaften darstelle. Im Gegensatz zu den Primordialisten und den Ethnosymbolisten besitzen die Modernisten eine andere Sicht sowohl auf den Kulturbegriff, wie auch auf die Funktion des Kulturellen für die Entwicklung von Nationen. Hier werden vor allem zwei Typen von modernistischen Strömungen unterschieden: erstens solche, die „Kultur“ aus einer vornehmlich etischen Perspektive thematisieren, wie etwa der Funktionalismus von Ernest Gellner (c), und marxistische bzw. neo-marxistische Ansätze (d); zweitens werden hier modernistische Forschungstraditionen unterschieden, die die Bedeutung von „Kultur“ aus der Sicht der zu untersuchenden Personen zu erschließen trachten, d. h., die eine emische Sichtweise einnehmen. Hier werden vor allem der Symbolische Interaktionismus, situative und konstruktivistische Ansätze besprochen (e).

2.3

„Kultur“ bei Ernest Gellner

Ernest Gellners funktionalistischer Ansatz operiert sowohl mit einem substanziellen wie auch mit einem etischen Kulturbegriff. Gellner meint, dass in vormodernen Gesellschaften nur eine kleine Elite eine standardisierte „Hochkultur“ in Form einer Hoch- und Schriftsprache pflegte (vgl. Gellner 2006). Diese schriftkundige Elite stand einer breiten Masse von ungebildeten Menschen gegenüber, die in miteinander unverbundenen Lokal- und Kleinkulturen lebten. Diese Masse besaß also noch kein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Sozialisation in diesen segmentierten Unterschichten erfolgte entweder innerhalb des Haushaltes oder in streng segregierten Zünften und Gilden. Die im 18. und 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung erforderte jedoch eine Veränderung in der Struktur dieser vormodernen Form von Sozialisation. Nun wurde es notwendig, dass auch die breite Masse durch „ExoSozialisation“ in Schulen und anderen Ausbildungsstätten mit einer standardisierten Hochkultur in Form einer Nationalsprache konfrontiert wurde. Industriegesellschaften verlangen von ihren Arbeitskräften einen höheren Grad an Flexibilität als mittelalterliche Wirtschaftssysteme. Eine größere Austauschbarkeit von Positionen am Arbeitsmarkt ist nur auf der Basis eines gemeinsamen Kulturstandards möglich. Gellner meint abschließend, da nun auch die in einem gemeinsamen Arbeitsmarkt integrierten Massen eine gemeinsame Hochkultur pflegen, entsteht der Nationalismus. Aus Gellners Sicht stellt der Nationalismus also nicht bloß eine politische Doktrin dar. Er ist vielmehr die notwendige Alltagskultur, der

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niemand entrinnen kann. In gewisser Weise sind für Gellner alle Bewohner in Industriegesellschaften gewollt oder ungewollt Nationalisten (allerdings bloß aus einer etischen Perspektive).

2.4

„Kultur“ im Marxismus

In der marxistischen Tradition werden Nation und Nationalismus meist als eine Spielart des „falschen Bewusstseins“ behandelt. Nationalismus wäre demnach eine Ideologie, die in instrumenteller Weise der herrschenden Klasse als Legitimation ihrer Ordnung dienen würde. Der Nationalismus wäre demnach als Phänomen dem „Überbau“ einer Gesellschaft zuzuordnen. Freilich finden sich auch bei Bauer (1975), Lenin (1973) oder Stalin (1945) primordialistische Vorstellungen eines objektiven Nationsbegriffs. Der Nationalismus stellt dennoch in dieser Sichtweise eine Art von Gegenkraft zur Klassensolidarität dar. Hobsbawm (1983) meint, dass nationale Kulturen bloß „erfundene Traditionen“ wären. Ganz klar wird dabei die Idee von der Nation als „Fabrikation“ aufgefasst. Eine gewisse Ähnlichkeit zur marxistischen Auffassung der Eigenschaft der Fabrizierbarkeit von Nationen wird interessanterweise auch oft im modernen politischen Diskurs, abseits des Marxismus, vertreten. Hier ist etwa von „nation-building“ die Rede. Hinter solchen Floskeln verstecken sich manchmal Machbarkeitsvorstellungen oder Allmachtsfantasien politischer Akteure. Benedict Andersons konstruktivistischer Neomarxismus unterstellt keine derart instrumentalistische Funktion des Nationalismus.Nationalismus stelle vielmehr das Resultat eines langfristig und ungeplanten technischen und sozialen Prozesses dar. Nationen sind nach Anderson jedoch keine objektiv gegebenen Tatsachen und daher besitzen auch Kulturen keinen substanzialistischen Charakter. Für Anderson (2005) sind Nationen nämlich zunächst „Sprachgemeinschaft“ und „Lesegemeinschaften“, bestehend aus meist zueinander persönlich unbekannten Menschen, die über Raum und Zeit Vorstellungen und Gefühle teilen. Nationen sind daher „vorgestellte Gemeinschaften“ („imagined communities“). Darüber hinaus besäßen Nationen noch die weiteren Eigenschaften der Begrenztheit, der Souveränität und der Gemeinschaftlichkeit. Anderson argumentiert, dass die Einführung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert die auf dem Latein beruhende einheitliche Gemeinschaft des katholischen Mittelalters durch regional beschränkte, jedoch sozial tiefer durchdrungene nationale Gemeinschaften ersetzte. Vor allem Roman- und Zeitungsliteratur hätten – nach Anderson – seit dem 18. und dem 19. Jahrhundert die Entstehung nationaler Vorstellungs-Gemeinschaften gefördert. In einem Sprachgebiet wird nämlich tagtäglich eine sehr große Anzahl von Personen mit denselben massenmedialen Informationen und Debatten konfrontiert. Somit entstünde die Vorstellung von einer nationalen Gemeinschaft. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sowohl Gellner wie auch die Marxisten in der Entstehung des modernen Wirtschaftssystems den Ursprung von Nation und Nationalismus sehen. Für beide Ansätze wird durch den wirtschaftlichen Wandel ein kultureller Vereinheitlichungsprozess ausgelöst, der schließlich die notwendige

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Grundbedingung für den Nationalismus darstellt. Gellner, Anderson und die meisten marxistischen Forscher vertreten einen etisch-geprägten Kulturbegriff. „Kultur“ wird zumeist mit einer national standardisierten Hochsprache gleichgesetzt. Die Forscher dieser Tradition unterscheiden sich untereinander allerdings in der Frage, ob diese „Kultur“ und damit auch der Nationalismus bewusst, in der Form einer Ideologie, in die Welt gesetzt wurde oder ob der Nationalismus das ungeplante Resultat langfristig technischer und ökonomischer Prozesse sei.

2.5

„Kultur“ in konstruktivistischen und situativen Ansätzen

Andere konstruktivistische Ansätze fokussieren auf den emischen Aspekt von „Kultur“. Hier rückt die Sicht der Personen im Forschungsfeld und deren kognitive Konstruktion von nationaler Identität in den Vordergrund. Dem Ansatz des Symbolische Interaktionismus folgend, konnte der norwegische Ethnologen Fredrik Barth im Rahmen einer wegweisenden Feldforschung in Nordpakistan zeigen, dass die Grenzen von ethnischer Zugehörigkeit und „Kultur“ (z. B. Muttersprache) nicht notwendigerweise übereinstimmen (Barth 1969). „Grenzziehung“ („boundary drawing“) wäre vielmehr ein Prozess, der im Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener Sprachgruppen vonstattengehe. Ethnische Identität entstehe erst in einem Wechselspiel zwischen Fremdzuschreibung von Eigenschaften und anschließender Eigenzuschreibung. Situative Ansätze beschäftigen sich wiederum mit Vorgängen der Typisierung und der Kategorisierung nationaler Zugehörigkeit. Für Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1993) sind ethnische, rassische oder nationale Kategorien und Klassifizierungen Resultate von Typisierungsvorgängen. Typisierungen verlaufen nach Berger und Luckmann – nicht unähnlich dem Schema von Barth – reziprok. Durch ein Wechselspiel zwischen Typisierungen des Selbst und der anderen kommt es demnach zu einer „Objektivierung“ derartiger Kategorien. Es entsteht eine Realität, der man sich nur schwer entziehen kann, etwa in Form von wissenschaftlichen oder staatlichen Klassifikationen über den Menschen. Richard Jenkins (1996) zeigt, dass Kategorisierungen von Personen stark situativ gebunden sind. In einem regionalen Kontext wird zum Beispiel jemand als Obersteirer klassifiziert, auf nationaler Ebene als Steirer, auf europäischer Ebene als Österreicher und in einem globalen Zusammenhang als Europäer. Darüber hinaus bestünde kein notwendiger inhaltlicher Zusammenhang zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung von nationalen und ethnischen Kategorien. Sowohl Arbeiten in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus wie auch situative Ansätze teilen den modernistischen und den konstruktivistischen Zugang, dem bereits marxistisch inspirierte Studien folgten. Im Gegensatz zu den Letzteren bildet hier der Kulturbegriff allerdings keinen konstanten Zustand ab. Vielmehr bedeutet „Kultur“ hier ein Set von Bedeutungen, deren Inhalt sich durch den Vorgang der Interaktion verändern und verschieben kann. Kulturelle Inhalte und damit die Bedeutung von „Nation“ würden somit auch keine inhaltlich widerspruchsfreien und zeitlich konstanten Größen darstellen.

534

2.6

D. Reicher

„Kultur“ in der Figurations- und Prozesssoziologie

Als Alternative zu den oben genannten Ansätzen positioniert sich die Figurationsund Prozesssoziologie. Elias geht davon aus, dass sich Staaten als „Überlebenseinheiten“ im Rahmen einer geopolitischen Konkurrenz-Figuration bilden. Vor allem Nationalstaaten würden soziale Integrationsgebilde einer besonders hohen Ebene darstellen. Innerhalb dieser Staaten würden nationale Wir-Bilder und Wir-Ideale das Beziehungsgeflecht zwischen den Eliten und den aufstrebenden Schichten widerspiegeln. In unterschiedlichen Staaten würden durchaus andere nationale Wir-Bilder und Wir-Ideale bestehen. In den einzelnen Staaten bestünden nämlich jeweils historisch einmalig gewachsene Figurationen zwischen Eliten und unteren Schichten. Außerdem führt Elias das Konzept des „nationalen Habitus“ ein. Dieses unterscheidet sich von der primordialistischen Idee eines „Nationalcharakters“, indem eben keine ursprünglichen und unwandelbaren Kultur- und Persönlichkeitszüge unterstellt werden. Es unterscheidet sich aber auch von den situativen Ansätzen, weil es von einer längerfristigen, über die Situation hinausweisenden und in gewisser Weise „objektivierten“ Prägewirkung auf Denken und Fühlen von Menschen ausgeht. Vor allem Staatsbildungsprozesse hätten nach dieser Sichtweise eine derartige Prägekraft auf nationale Eigentümlichkeiten, die Elias etwa im nationalen Habitus von Franzosen, Engländern und Deutschen nachweisen wollte; zum Nationsbildungsprozess in England siehe Elias (2006), zu Frankreich siehe Elias (1995) und zu Deutschland siehe Elias (1992). Spätere Arbeiten in dieser Tradition fokussieren auf Formierungsprozesse des nationalen Habitus in Österreich (Kuzmics und Axtmann 2007) oder den USA (Mennell 2007).

3

Forschungsstrategie: Kultur und Nationalismus

Forschungen, die emische Sichtweisen von Nation und Nationalismus erschließen, zielen vor allem auf die Strategie ab, „Kultur“ als Funktion der Abgrenzung zu untersuchen. Forschungen, die auf einem etischen Gebrauch des Konzepts von „Kultur“ basieren, führen jedoch oft zu einer anderen Forschungsstrategie. Hier wird nämlich der Nationalismus selbst als eine Kulturerscheinung oder als das Produkt einer bestimmten Epoche aufgefasst. Im Folgenden werden diese beiden Forschungsstrategien gegenübergestellt.

3.1

„Kultur“ als Abgrenzung gegenüber anderen

Eine sowohl historisch wie auch soziologisch geleitete Forschung richtet ihr Augenmerk auf die Funktion von Literatur, Theater, Musik, Oper, Malerei, Architektur und anderer Formen der Kunst für die Entstehung bzw. für die Aufrechterhaltung nationaler Identität. Kunst, die zu einer bürgerlichen Hochkultur stilisiert wurde, spielte vor allem im romantischen Nationalismus des 19. und anfänglichen 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle für die Formierung nationaler Bewegungen.

Nationalismus und kulturelle Differenz aus kultursoziologischer Perspektive

535

Hroch (1968) identifiziert aufgrund historischer Untersuchungen von nationalen Bewegungen im Osteuropa des 19. Jahrhunderts mehrere Phasen von Nationsbildungsprozessen. In einer frühen Phase spielte nach Hroch bei diesen nationalen Bewegungen die Auseinandersetzung mit Kunst eine besonders wichtige Rolle für die Schaffung einer nationalen Identitätspolitik, indem künstlerische Ästhetik und Geschmack mit der Existenz einer essenzialistischen Nationalkultur gleichgesetzt wurde. Im Zuge der Agitation von Nationalbewegungen kommt es immer wieder zu einer Idealisierung von Kunst. Diese fungiert sowohl als Abgrenzungsmedium gegenüber anderen als auch als Symbol des Glaubens an die Idee der nationalen Einmaligkeit. Solche kollektiven Wir-Ideale verfestigten die Vorstellung einer distinktiven „Nationalliteratur“, „Nationalmusik“ oder anderer „nationalen“ Künste. Die gegenwärtige kultursoziologisch und kulturwissenschaftlich inspirierte Forschung legt ihr Augenmerk meist auf die Funktion und die Bedeutung der modernen Freizeit- und Massenkultur für Nation und Nationalismus. Vor allem mithilfe von Inhaltsanalysen versuchen Forscher je nach Forschungsansatz „Konstruktionen“ nationaler Identität oder Hinweise des „nationalen Habitus“ in Belletristik, Fernsehsendungen, der Sportberichterstattung, in Musiktexten, in Internetforen oder in Kinofilmen zu finden; vgl. dazu die Studien von Westermann (1990), Coyne (1997), Kuzmics (2008) und Reicher (2012). Andere Studien bedienen sich der Technik von Gruppengesprächen, Diskursanalysen und qualitativ geführten Tiefeninterviews, um vorherrschende nationale oder rassistische Stereotype und Vorurteile ausfindig zu machen; vgl. dazu: Wodak et al. (1999) und Reinprecht und Latcheva (2003).

3.2

Nationalismus als Kultur

Eine andere Forschungsstrategie zielt darauf ab, den Nationalismus selbst als Kulturprodukt und Erscheinung einer bestimmten Epoche darzustellen. Gellner und andere Modernisierungstheoretiker sehen den Nationalismus als ausschließliches Kulturelement des Industriezeitalters. Daher meinen Postmodernisten wie Beck (2004), dass Globalisierung und postindustrielle Produktionsverhältnisse zur Überwindung des Nationalismus führen würden. Eine Reihe anderer Arbeiten geht jedoch davon aus, dass der Nationalismus zwar ein Kulturprodukt darstellt, dass dieser jedoch keineswegs mit zunehmender Globalisierung verschwinden würde. Ganz im Gegenteil, Nationalismus sei ein integraler Teil der Globalisierung und einer „Weltkultur“. Billigs Konzept des „banalen Nationalismus“ verweist darauf, dass der moderne, westlich geprägte Nationalismus ein untrennbarer Teil moderner Medien- und Alltagskommunikation geworden ist (Billig 1995). Silk et al. (2005) verweisen in ihrem Konzept von „corporate nationalism“ auf die Omnipräsenz nationaler Wir-Bilder in der modernen Konsum- und Markengesellschaft. Diese Ansätze sehen also den Nationalismus als einen Teil der Globalisierung und nicht als dessen Negierung. In solchen Arbeiten wird auch versucht, das statische Konzept „des“ Nationalismus im Singular durch ein prozessorientiertes Verständnis zu ersetzen, das von dem gleichzeitigen Nebeneinander unterschiedlicher Nationalismen ausgeht.

536

D. Reicher

Ein Beispiel ist die Unterscheidung zwischen dem Typ des Nationalismus, der auf Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit abzielt, und dem, dessen Ideal darin liegt, nicht „anders“, sondern „besser“ als andere zu sein. Ein Beispiel für letztere Form des Nationalismus, der auf dem Gedanken des Wettbewerbs beruht, findet sich im modernen sportlichen Wettkampf zwischen Nationen; vgl. Reicher (2013). Nationales Prestige, dessen Steigerung auf Sieg und vorteilhafter Rangreihung beruht, bedingt jedoch die Akzeptanz einer übergreifenden „Weltkultur“ d. h., von Normen, Werten und Regeln, die von Menschen aus vielen Ländern verinnerlicht und habitualisiert wurden.

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Nationalismus und kulturelle Differenz aus kultursoziologischer Perspektive

537

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Objekte aus kultursoziologischer Perspektive Aida Bosch

Inhalt 1 Der „Material Turn“ und die Rolle der Dinge in der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die anthropologische Bedeutung der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Kultur und Natur, Welt und Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Quantität und Qualität der Objekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Konsumismus und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Anerkennung der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Im vorliegenden Aufsatz geht es um die Rolle der Dinge für menschliche Kultur sowie für Gesellschaften. Die Weltoffenheit des Menschen bedingt die Notwendigkeit der Ergänzung seines Körperleibes durch kulturell geschaffene Objekte. Die Dinge eröffnen, anthropologisch betrachtet, Weltzugänge und Handlungsmöglichkeiten. Sie sind von grundlegender soziologischer Bedeutung, da sie physische und psychische Kontingenzen aller Art reduzieren und kollektive wie auch individuelle Identitäten aufbauen und stabilisieren. Sie repräsentieren gesellschaftliche Ordnungen, Denk- und Wertstrukturen auf eine unspektakuläre, durch ihre erfahrbare Präsenz selbstverständliche Weise. Doch in der Moderne, in der sich die kulturellen Objekte quantitativ und qualitativ enorm weiterentwickelt haben, wird die grundlegende Rolle der Dinge in der Regel verkannt. Ihre Zahl wächst, und gleichzeitig schwindet die Wertschätzung des einzelnen Dinges. Die Dinge werden nun primär in den Dienst genommen für wirtschaftliche (Wachstum) und politische Zwecke (Integration), indem sie emotional aufgeladen werden für den hedonistischen Konsum, der jedoch weniger dem Objekt selbst als

A. Bosch (*) Institut für Soziologie, Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_38

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A. Bosch

vielmehr dem emotional und erlebnishaft stimulierten Kaufakt sowie der sozialen Positionierung des Käufers gilt, und deshalb in psychologischer, sozialer wie in ökologischer Hinsicht wenig nachhaltig ist. Schlüsselwörter

Materielle Kultur · Neo-Materialismus · Dinge · Konsum · Identität · Emotionen

1

Der „Material Turn“ und die Rolle der Dinge in der Soziologie

Dingliche Objekte haben auf den ersten Blick scheinbar wenig mit sozialen Prozessen zu tun und wurden in der Soziologie bislang auch eher selten thematisiert. In der Regel konzentrierte sich die Perspektive der Soziologie auf abstrakte Strukturen und Prozesse, gleichsam als ob Gesellschaften lediglich Begriffsgebilde, Kopfgeburten seien, oder aber auf Interaktionsprozesse, in denen nur menschliche Akteure berücksichtigt wurden, die in den meisten Fällen seltsam körperlos agierten. Materielle Strukturen und Prozesse wurden allenfalls noch bei den Gründervätern der Soziologie, danach aber eher selten zum Thema; das gilt mit wenigen Ausnahmen auch für die Kultursoziologie. Die Bedeutung dinglicher Objekte ist in der Soziologie für einige Jahrzehnte fast übersehen worden. Im Focus standen der Konstruktionscharakter und die Kontingenz sozialer Strukturen, man konzentrierte sich auf das Flüchtige und Kontingente, und die Soziologie übersah fast vollständig die materiellen und materialen Aspekte der Kultur. Doch ohne Artefakte sind menschliche Gemeinschaften und Gesellschaften gar nicht denkbar. Das beginnt mit den Bauwerken, Architekturen, Kulturlandschaften und Stadtstrukturen, innerhalb derer sich soziales Leben und Kultur abspielt, und hört auf mit dem Schreibstift, dem Essbesteck oder dem Mikrochip, ohne die sich der kulturelle und soziale Alltag der Lebenswelt kaum organisieren ließe. All diese Dinge sind nicht nur alltagspraktisch, aus der Perspektive der Gesellschaftsmitglieder, relevant für das soziale Leben, sondern auch soziologisch, indem die Dinge menschliche Handlungen und Interaktionen ermöglichen, beeinflussen, anleiten, formen und vorgeben. Indem die Dinge menschliche Handlungen immer wieder in einer zumeist erwartbaren Weise formen, tragen sie essenziell zur sozialen Strukturierung, zur Kontingenzreduktion und Ordnungsgenerierung – und damit zur Stabilität des Sozialen bei. Die Dinge sind verknüpft mit lebensweltlichem Wissen – Fertigkeiten, Materialwissen, Erfahrungswissen, Gebrauchswissen, Zugangs- und Interpretationswissen – und machen es leiblich, nicht nur über Texte, abrufbar. Die Stärke der Artefakte liegt gerade darin, implizites Wissen zu repräsentieren, im Unterschied zum Text, in dem nur das Wissen aufgezeichnet wird, das explizit verhandelt wurde und wird (vgl. Bosch 2012). Gerade in jüngster Zeit verstärkt sich eine neo-phänomenologische (Rück-)Wendung zu den Dingen, zum Materiellen und zum Körperleib, zum sinnlichen Erleben, zu den „Phänomenen selbst“. Diese Wende drückt sich unter anderem in den transdisziplinären Thematisierungsschüben der sogenannten „turns“ aus,

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z. B. im material turn, oder in der Entstehung des iconic oder des body turn. Diese „turns“ schließen die Lücken, die der Sozialkonstruktivismus bei all seinen Stärken (Reflexivität!) in der Perspektive der Sozialwissenschaften hinterließ, indem sie das disziplinär Vergessene nun massiv in den Focus rücken; aus diesem Grund stellen sie mehr dar als nur eine modische Volte im Diskurs der Kulturwissenschaften. Vor dem Hintergrund dieser Umbrüche nimmt der vorliegende Beitrag eine „postkonstruktivistische“, neo-phänomenologische und neo-materialistische Perspektive ein: Ein soziologischer Blickwinkel, der die kulturelle Formbarkeit menschlicher Wahrnehmung von Denken und Handeln keineswegs übersieht, doch auch leibliche und materielle Phänomene, darunter die Dinge und Artefakte, verstärkt in den Blick nimmt. Ein Blickwinkel, der die Relevanz materieller und körperliche Strukturen und Phänomene für die soziologische Theorie und Forschung nicht ausklammert, sondern dieser im Gegenteil wieder näherzukommen sucht. In der hier verfolgten theoretischen Perspektive werden dingliche Objekte in zweierlei Hinsicht betrachtet: Zum einen ist ihr symbolischer Gehalt von Bedeutung, der die Dinge als Träger von gesellschaftlichen Rollen, von Status und Prestige, von Ritual und Religion betrachtet. Zum anderen sind aber auch ihre Materialität, ihre strukturelle Beschaffenheit und damit ihre sinnlichen Qualitäten theoretisch verstärkt in die Analyse einzubeziehen, denn die Objekte sind in dem hier dargelegten Verständnis dem Menschen Handlungspartner und reales Gegenüber für eine leibliche Interaktion. Der menschliche Akteur handelt, bei fast allem, was er tut, gemeinsam mit den Dingen und gleichzeitig gegen ihren materiellen Widerstand. Die Handlungen mit den Dingen werden logisch und chronologisch aus der Erfahrung des Widerstands der Dinge heraus entwickelt. In seinen Handlungen geht der Akteur, sobald es zu erfolgreichen Handlungen kommt (und die Verbindung von Mensch und Objekt nicht aufgrund von Unwissen oder Ungeschicklichkeit scheitert), vorübergehende leibliche Verbindungen mit den Dingen ein. Diese Verbindungen zwischen dem handelndem Menschen und dem kulturellen Objekt prägen sowohl den Menschen und seine Biografie als auch das Ding, und nicht zuletzt natürlich die Handlung selbst (vgl. auch Bosch 2010, 2012). Je länger Mensch und Ding zusammenwirken und -arbeiten, desto enger wird die Verbindung von Leib und Objekt. Dies wird besonders deutlich beim Spiel von Musikinstrumenten: Erfahrene und leidenschaftliche Musiker beschreiben ihr Instrument nicht selten als Körperverlängerung; ihr Körperbewusstsein dehnt sich mit der Zeit auf das Instrument aus, und nach Jahren des intensiven Spiels wird das Instrument annähernd so intuitiv, so differenziert und so sensitiv genutzt wie die eigenen Gliedmaßen. Auch geübte Auto- oder Motorradfahrer beschreiben das Phänomen einer Ausdehnung des Körper-Empfindens auf das Objekt: ein Gefühl der taktilen Verbundenheit, der Zugänglichkeit des Objekts für das Bewusstsein, ein Empfinden, das schnelle Reaktionen auf Eigenschaften des Straßenbelags, der Wetterverhältnisse und des Fahrzeugs erlaubt, und mit Glück und Erfahrung virtuose Handlungen und Manöver ermöglicht. Die Verbundenheit zwischen Leib und Ding zeigt sich auch an anderen Beispielen: Im geübten und anspruchsvollen Gebrauch von Werkzeug. Im Tragen von Kleidung, die im äußeren Erscheinungsbild (und auch in der Selbstwahrnehmung) mit dem

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Leib des Trägers verschmilzt. Im Handeln mit modernen Kommunikationsgeräten, die so sinnlich-intuitiv bedient werden, dass sie wie Körperverlängerungen wirken. Objekte aller Art materialisieren und binden Kultur; sie machen Kultur sichtbar und vergegenwärtigen sie. Die Dinge geben der Kultur und den sozialen Strukturen Dauer und Sichtbarkeit, indem sie gesellschaftlichen Werten und sozialstrukturellen Differenzen zu einem impliziten, sicht- und fühlbaren, oftmals nicht hintergehbaren Ausdruck verhelfen. Damit tragen die Artefakte elementar zur sozialen Strukturierung bei, um nicht zu sagen: Dinge schaffen soziale Strukturen durch ihre Materialität, Beschaffenheit und ihre innere Gliederung. Man denke nur an städtische Baustrukturen, die nicht nur als Bühne für soziales Geschehen zu betrachten sind, sondern ihrerseits selbst bestimmte Wege, Blicke und Handlungen auf oftmals zwingende Weise vorgeben, soziale Strukturen räumlich gliedern und segregieren sowie Interaktionen und soziales Zusammentreffen ermöglichen oder auch verhindern (vgl. Fischer und Delitz 2009). Kultur als Phänomen wird in seiner Gesamtheit zunächst als ein immaterielles Phänomen verstanden, das sich aus den impliziten Wissensbeständen einer Gesellschaft zusammensetzt, aus den nicht sichtbaren Verhaltensnormen, leitenden Werten und selbstverständlichen Prämissen und Annahmen einer Gemeinschaft. In diesem Sinne ist Kultur eine unsichtbare, flüssige und flüchtige Sache. Dauer verliehen wird der Kultur durch zweierlei verschiedene Phänomene: Zum einen durch geschriebene und ungeschriebene Regeln und Institutionen, die weit über den Augenblick hinaus Geltung beanspruchen. Zum anderen wird der Kultur, inklusive ihrer verschiedenartigen Aktivitäten und Verbindungen, durch materialisierte Objekte eine Art „Anker“ und damit Geltung über den Moment hinaus verliehen. Diesen Gedanken gab es schon seit Beginn der Soziologie, jedoch führte er für einige Jahrzehnte ein eher randständiges Dasein. Schon Émile Durkheim ging davon aus, dass der Gegenstand der Soziologie, soziale Tatsachen, sich ähnlich wie Dinge verhielten; ihnen käme eine objektive Realität zu und sie wirkten auf menschliche Handlungen ein, jenseits aller subjektiven oder psychologischen Motive. Umgekehrt wären auch Dinge als soziologischer Gegenstand zu behandeln, da sie Handlungen und soziale Prozesse mitformten. Soziale Tatsachen seien ebenso wie Dinge dem Einzelnen äußerlich und durch bloßes Wollen nicht zu verändern; sie leisteten Widerstand gegen Wollen und Handeln. Beide Phänomene übten Zwang auf Handlungen aus und wirkten in vielen Fällen wie „Gussformen“, in die die Gesellschaftsmitglieder ihre Handlungen gießen müssten (Durkheim 1965/1895, S. 126). Der Zwang, den die Dinge auf die Handlungen ausübten, sei einerseits materieller Natur, indem sie bestimmte Handlungen vorgeben und präformieren würden. Andererseits habe dieser Einfluss ebenso einen normativ-moralischen und damit auch einen sozial integrativen Charakter: „Es steht uns ebenso wenig frei, die Form unserer Häuser zu wählen wie die der Kleidung; die eine ist mindestens im gleichen Maße verbindlich wie die andere“ (ebd., S. 113). Ebenso wie soziale Institutionen sind Artefakte innere Phänomene des Gesellschaftlichen, und sie wirkten auf das Handeln der Akteure, indem sie an „moralische Gebote“ gebunden sind. Der Begriff der soziologischen Tatbestände dehnte sich bei Durkheim auf die dinglich-sachliche Welt im weitesten Sinne aus, und diese gehörte daher zum Grundbestand soziologischen Interesses,

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wie René König im Anschluss an Durkheim in der Einleitung zu den „Regeln der soziologischen Methode“ feststellte (König 1965, S. 51). Artefakte sind „kristallisierte Kultur“ (Miklautz 1996) im wörtlichen Sinne, ihr Da-Sein verweist in seiner Präsenz sowie auch im habituellen, körperleiblichen Umgang mit den Dingen auf kulturelle Muster, Vorstellungen, Praktiken und Wissen, und zwar ohne dass dies in der Wahrnehmung und Handlung explizit zum Thema wird. Die Selbstverständlichkeit der Präsenz der Objekte bildet einen Grund des unhinterfragten kulturellen Selbstverständnisses; die Objekte sind ein wichtiger Anker der kollektiven Identität. Die Dinge des Alltags vermitteln fraglos die Präsenz der kulturellen „Welt“, des kollektiven Wissens, der kollektiven Relevanzen und Wertvorstellungen. Nicht nur die einzelnen Dinge sind von Bedeutung in ihrer jeweiligen Alltags-Funktion, jedes Ding steht in einem Verweisungszusammenhang mit der Gesamtheit der Alltagsdinge, die wiederum Kultur repräsentieren, ja, lebensweltliche Kultur sind. Mit den Dingen verbunden sind weitere soziologisch relevante Phänomene: Es stecken in den Objekten kulturelle und technische Erfahrungs- und Wissensbestände, Fertigkeiten und skills, sie rufen Emotionen und Imaginationen hervor, sowohl kollektiver wie auch individueller Art. Bestimmte Dinge repräsentieren Geschichte und kollektives Gedächtnis. In ihnen stecken selbstverständlich auch Arbeit und Wert, als ökonomische und als lebensweltliche Kategorien. Die Dinge repräsentieren die Strukturen des ökonomischen Produktionssystems, indem sie unter einer scheinbar geschlossenen Oberfläche die Signaturen und Spuren ihrer Herstellung tragen. Die Dinge der Lebenswelt repräsentieren auch die Strukturen der Konsumtion, die durch Handelsbezüge, aber auch durch Sozialstruktur und soziale Ungleichheit geformt werden. Dingliche Objekte ermöglichen durch ihre Beschaffenheit und ihren Wert soziale Distinktion; sie repräsentieren damit Status, Prestige und die Positionierung im sozialstrukturellen System. Es sei hier die Schlussfolgerung erlaubt, dass bei genauer Betrachtung die dinglichen Objekte einen Schnitt- und Kreuzungspunkt vieler relevanter soziologischer Fragestellungen und Perspektiven darstellen. Objekte, in diesem Sinne verstanden, sind performative Aktanten, indem sie sozialen Strukturen Ausdruck verleihen, und gleichzeitig nicht nur als solche sichtbar sind, sondern weiteres kulturelles Geschehen, weitere Handlungen beeinflussen und strukturieren. Sie verleihen vielen Handlungen einen routinehaften, reproduzierbaren Charakter und stellen auf diese Weise die Verlässlichkeit sozialer Systeme her.

2

Die anthropologische Bedeutung der Dinge

Artefakte sind Bestandteil jeder menschlichen Kultur, der Gebrauch von Dingen wie Werkzeugen, rituellen und alltäglichen Gebrauchsobjekten ist an sich eine anthropologische Konstante. Dieses Merkmal des Menschen als dinggebrauchendes Wesen dient der grundlegenden Definition und Abgrenzung der menschlichen Spezies „homo sapiens sapiens“. Der Mensch ist im Verständnis der philosophischen Anthropologie ein „Mängelwesen“ (Gehlen 1940/2009) im biologischen Sinne, das aufgrund seiner mangelhaften Umweltanpassung und Ausstattung auf die

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Ergänzung durch Artefakte angewiesen ist, um mithilfe dieser „künstlich“ hergestellten Dinge innerhalb einer natürlichen Umwelt überleben zu können (Plessner 1982). Die Spezies Mensch verfügt nicht über spezifische Schutz- oder Angriffsorgane, ist nicht spezialisiert auf eine besondere Art des Nahrungserwerbs und eine bestimmte Art des Überlebens, sondern ist im grundlegenden Sinne formbar und weltoffen. Um die Kontingenz des physischen und psychischen Überlebens bewältigen zu können, bedarf es der Ergänzung des menschlichen Körpers durch Dinge wie Werkzeuge und Gebrauchsobjekte. Neben diesen nützlichen Dingen helfen auch rituelle Objekte bei der Bewältigung von Kontingenz, indem sie innerhalb der Unwägbarkeiten der natürlichen Umwelt eine kulturelle Welt formen, Transzendenz in eine sinnhafte Ordnung überführen und damit kognitiven, psychischen und spirituellen Halt geben. Die Dinge des Menschen reduzieren Unsicherheiten existenzieller und kultureller Art und erweisen sich in Krisensituationen als besonders bedeutend (vgl. hierzu Bosch 2015). Menschliche Kultur beginnt also mit dem Werkzeuggebrauch, sie beginnt auch mit religiösen Praktiken und Vorstellungen, die mithilfe heiliger Objekte ausgeführt und performativ in Szene gesetzt werden. Ein menschliches Dasein, menschliche Kultur an sich ist ohne nützliche Dinge wie Kleidung, ohne Hammer oder Essgeschirr, auch ohne rituelle, religiöse oder andere kunstvoll ausgestaltete Objekte kaum vorstellbar. Schon vor mehr als 30.000 Jahren schuf der Mensch erstaunlich ausgestaltete, hochästhetische Kunstobjekte in der sogenannten „Eiszeitkunst“, und Werkzeuge wie die Nadel oder die Speerspitze sind noch sehr viel älter. Der Mensch als weltoffenes und formbares Mängelwesen bedarf der Ergänzung durch Artefakte. Zum Beispiel benötigt unsere Spezies zum Schutz des eigenen Körpers der Ergänzung durch Bekleidung, da wir über kein Fell mehr verfügen. Helmuth Plessner bezeichnete die Bekleidung als „zweite Haut“ des Menschen, da sie die Körpergrenzen verstärke und den Leib vor Umwelteinflüssen wie Klima oder Dornen schütze, ebenso wie sie die Expressivität der Hautoberfläche, die beim Menschen wie bei vielen anderen Arten auch als expressives Kommunikationsorgan fungiere, verstärke. Bauwerke bezeichnete er als „dritte Haut“, da sie ebenfalls menschliche Lebensvollzüge und -lebensweisen umhüllen, diesen Schutz gewähren und in ihrer Spezifik und in ihren kulturellen Formen überhaupt erst ermöglichen. Ebenso wie die Bekleidung verstärken auch Bauwerke die Expressivität der Grenze, indem sie den sozialen Lebensvollzügen ein „Gesicht“ verleihen, das mit den Werten und ästhetischen Idealen der jeweiligen Zeit übereinstimmt oder diese weiterzuentwickeln sucht (vgl. Plessner 1928/1975; Fischer 2012). Die Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen durch dingliche Objekte besteht und bewegt sich sowohl auf einer funktionalen wie auch auf einer symbolischen Ebene, der menschliche Leib ist geradezu darauf ausgerichtet, durch Objekte in funktionaler wie auch in symbolischer Hinsicht (siehe z. B. Bekleidung und Schmuck) ergänzt, und durch diese erst zu einem gesellschaftlichen Wesen geformt zu werden. Dies gilt umso mehr, je weiter wir in der Geschichte des Menschen voranschreiten und uns der späten Moderne nähern: Der Wunsch, den eigenen Körper nach dem sozialen Milieu oder nach eigenen Lebens- und Geschmacksvorstellungen zu formen, dehnt sich mehr und mehr von der Körperoberfläche auf die gesamte Beschaffenheit des

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Körpers aus. Der Körper wird nun nicht mehr nur an der Oberfläche (Haut) bekleidet, bemalt und maskiert, sondern auch vielen differenzierten, erprobten und entwickelten Techniken der (inneren) Körperveränderung unterworfen: ausgefeilte Diäten, wissenschaftlich angeleitetes sportliches Training, kosmetische Operationen und vieles mehr. Die Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen wird zunehmend zum normativen Zwang im Kampf um soziale und ästhetische Anerkennung in der Gesellschaft. Die Dinge sind der „Weltanker“ des Menschen, deshalb sind sie nicht nur in funktionaler Hinsicht von Bedeutung, sondern auch in sozialer, kultureller und psychologischer Hinsicht. Der Mensch ist verletzlich und seine Existenz ist endlich – beides Bedingungen der Existenz, die den Traum von der Unverletzlichkeit und Perfektion des menschlichen Leibes betreffen. Die Ergänzung des menschlichen Körpers durch das Ding und durch die scheinbar perfekte Maschine unterstützt die Fiktion, der menschlichen Vulnerabilität und Endlichkeit entkommen zu können; auch deshalb kann ein immer neues, nie erlahmendes Begehren nach den Dingen, nach den neuesten technischen und „modischen“ Objekten auch in eigentlich gesättigten Märkten und Gesellschaften geweckt werden. Die Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit des Menschen als Wesen sind im Grunde der Ansatzpunkt für die Vermarktung von immer neuen Dingen in der Moderne. Das Streben nach der Perfektionierung des Selbst und des Leibes hat seinen Ursprung in der Vulnerabilität des menschlichen Daseins. Der Mensch bedarf der Ergänzung – in diese systematische Lücke können auch die in Werbebotschaften suggerierten Emotionen und Wunschträume von Momenten eines erfolgreichen, glücklichen, gemeinschaftlichen oder naturverbundenen Lebens vorstoßen und dort strukturell immer wieder neues Begehren nach Objekten, die diese Wunschträume repräsentieren, hervorrufen.

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Kultur und Natur, Welt und Erde

Die Alltags- und Gebrauchsdinge vermitteln in ihrer Präsenz die Strukturen der alltäglichen Lebenswelt. Die Selbstverständlichkeit ihrer Anwesenheit vermittelt fraglos Kultur. Durch die schlichte Anwesenheit des Tisches und des Tellers, der Lampe, des Schreibtischs und des Computers vermittelt sich dem Handelnden ganz nebenbei und in jedem Augenblick die Präsenz der Sozialität, der er angehört. Es vermittelt sich ihm im Gebrauch der Dinge, gewissermaßen hinter seinem Rücken, in welcher Lebenswelt und Zeit er sich befindet und welche Handlungsweisen, Werte und sozialen Regeln darin angemessen sind und erwartet werden. Darin spielt nicht nur das einzelne Ding seine Rolle, sondern die Gesamtheit der Dinge der Lebenswelt, ihr Verweisungszusammenhang ist relevant, da dieser Zusammenhang Kultur abbildet und erfahrbar macht. Einzelne Dinge, aus diesem kulturellen Zusammenhang gerissen, werden zu „heimatlosen Dingen“ und erfahren einen Bedeutungswechsel, wie der Pullover, der verlassen auf der Straße liegt, der Stuhl, der aussortiert wird und auf dem Sperrmüll steht – oder mit etwas Glück ausnahmsweise als Design-Objekt umcodiert und im Museum ausgestellt wird. Dies sind Beispiele für Dinge, die aus dem üblichen Gebrauch, aus dem üblichen kulturellen Verwei-

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sungssystem gerissen wurden und anschließend kulturell neu gerahmt und codiert werden können. Die Dinge repräsentieren Welt und Erde, um mit Begriffen von Heidegger (1935/ 2012) zu sprechen. Gemeint ist damit: Die dinglichen Objekte repräsentieren sowohl die kulturelle Welt und ihre symbolischen Bezüge als auch die natürliche Umwelt, da alle Gebrauchsdinge und technischen Objekte aus den Ressourcen der Natur durch Umformung hergestellt wurden (auch wenn ihnen das nicht in jedem Falle mehr anzusehen ist). Die Herstellung, der Gebrauch und das Ausgliedern und Wegwerfen von Dingen markieren die unscharfe Grenze von Kultur und Natur; diese Praxis stellt ein grundlegendes Element der Beziehung und des Austauschs des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt dar. Der Mensch lebt generell, so Helmuth Plessner, in einer künstlichen, selbstgeschaffenen Welt (der Objekte) innerhalb einer natürlichen Umwelt und hat damit zwei (Um-)Welten: eine artifizielle und eine natürliche, die mit seiner besonderen Existenzweise der exzentrischen Positionalität korrespondieren (vgl. Plessner 1982). Der Mensch ist Leib (der an die natürliche Umwelt mit ihren Rhythmen und Kreisläufen gebunden ist) und hat einen Körper (der gesellschaftlich geformt ist und als Instrument durch soziale Techniken und Praktiken gestaltet wird). Die dinglichen Objekte repräsentieren Kultur und Natur gleichzeitig: Es gehört zur menschlichen Existenzweise, über Dinge zu verfügen, die die kulturelle Umwelt darstellen. Gleichzeitig repräsentieren die Dinge, die der Mensch nutzt und konsumiert, auch umgeformte Natur und markieren die Art und Weise des Verbrauchs von natürlichen Ressourcen und des Austauschs mit der Umwelt. Die Dinge des Menschen wurden als Rohstoffe der Natur entnommen, durch Kulturtechniken umgeformt und sie wandern nach dem Gebrauch wieder in die Natur zurück. Dort sind sie in vielen Fällen nicht mehr absorbtionsfähig und belasten und vergiften die natürlichen Systeme, an denen der menschliche Leib Anteil hat und mit denen er verbunden ist. Somit stellt sich die Frage der Vermittlung von natürlicher Umwelt und künstlicher Welt des Menschen, der Vermittlung von Leib und Körper (vgl. auch Bosch 2014). Leib und Körper, Natur und Kultur des Menschen sind spätestens mit dem Industrialismus auseinander- und in Widerspruch zueinander getreten und lassen sich in der Existenzweise des Menschen kaum mehr vermitteln oder gar versöhnen. Die Dinge repräsentieren Kultur und Natur und bilden auf beiden Ebenen eine Ergänzung für den Menschen: eine Ergänzung des Körpers und eine des Leibes. Doch treten diese beiden Dimensionen gegenwärtig weit auseinander. Die in der Moderne produzierten und gebrauchten Objekte bilden immer perfektere Ergänzungen des menschlichen Körpers in vielerlei Hinsicht, ihr funktionaler und instrumenteller Charakter erweitert und verbessert sich. Doch die Kultur dominiert in der Regel die Natur, der Körper den Leib, die Dinge sind der Natur nicht mehr nur abgerungen, ihre Produktion richtet sich vielfach gegen die natürlichen Grundlagen der biologischen Existenz auf der Erde. Die Widersprüche zwischen Körper und Leib, zwischen Welt und Erde, zwischen diesen Sphären gehen immer weiter auf. Zwar gibt es neue Produkte, die eine Versöhnung zwischen Mensch und Umwelt, zwischen Körper und Leib, versprechen, ökologisch hergestellte Gebrauchsdinge zum Beispiel. Die Ästhetik dieser Dinge ist geprägt von den Prinzipien des Puren, Schlichten, von der Varianz der Strukturen natürlicher Materialien wie zum Beispiel

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der Texturen und Oberflächen von Hölzern. Doch da sich auch die wenig ökologisch hergestellte Massenware mittlerweile in die Ästhetik des Rohen, Schlichten, Natürlichen kleidet, die allerdings an der Oberfläche verbleibt, kann noch lange nicht von einer Tendenz der (Wieder-)Versöhnung zwischen den beiden Sphären gesprochen werden.

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Quantität und Qualität der Objekte

Zum menschlichen Sein gehört die kulturelle Koexistenz mit den Dingen; diese repräsentieren Kultur in einem symbolischen wie auch in einem ganz praktischen Sinne. Das gilt nicht nur für archaische oder traditionelle Gesellschaften, sondern selbstverständlich auch für die Moderne, ja, viel mehr noch für die Moderne. Der spätmoderne Mensch kann sich ein würdiges menschliches Leben kaum mehr ohne eine Vielzahl, ohne Hunderte oder Tausende von Low-tech- und High-tech-Dingen denken; dazu gehören auch scheinbar unverzichtbare Dinge wie Fernseher, Automobile, Computer und Mobiltelefone. Die Abhängigkeit von Dingen ist mit der Entwicklung der menschlichen Kulturtechniken und mit zunehmendem Wohlstand gewachsen. Die Quantität der Objekte, die besessen und benutzt werden, hat enorm zugenommen, die Qualität und Dauer der Beziehungen zwischen Mensch und Objekt hingegen hat mit wachsendem Wohlstand eher abgenommen – was schon in der frühen Kultursoziologie beispielsweise von Georg Simmel oder Werner Sombart festgestellt wurde (Simmel 1903, 1900; Sombart 1902). Die Bindungen an Dinge hätten mit der Geldwirtschaft abgenommen, so Simmel, da das Geld alle Dinge quantitativ vergleichbar mache und auf diese Weise qualitativ entwerte. Dieser Mechanismus der Moderne gebe dem einzelnen Menschen zwar mehr Freiheit, jedoch werden seine Bindungen und damit auch seine Erfahrungsmöglichkeiten in der Tendenz qualitativ entwertet, das Geld mache diese farblos und stumpfe somit das Gefühlsleben ab, das fortan immer stärkere Reize benötige, um überhaupt noch reagieren zu können (vgl. Simmel 1903/1995). Differenzen in der Quantität, Qualität und der Bindung an die Dinge sind heute sehr deutlich sichtbar im Vergleich der westlichen Industrieländer mit den armen Ländern des Globus. Die Anzahl der Dinge, die ein Haushalt besitzt, ist in den Industrieländern um ein Vielfaches höher als in ärmeren Ländern (vgl. Hahn 2005). Die Lebensdauer der Dinge ist dort allerdings sehr viel höher, da die wenigen Dinge, die man besitzt, sehr viel länger genutzt und auch entsprechend wertgeschätzt werden. Die Dinge werden erworben und dann genutzt, repariert, umgewidmet, wieder genutzt, wieder repariert usw. – während die Nutzungssowie die Lebensdauer der Dinge in den wohlhabenden Ländern im Schnitt sehr kurz ist. Die Biografien der Dinge dauern in den ärmeren Ländern und Schichten sehr viel länger an als in den wohlhabenden Ländern, mit weniger eindeutig voneinander abgetrennten Phasen der Produktion und Konsumption. Phasen des Gebrauchs wechseln sich ab mit Phasen der Reparatur oder der Neuverwertung. Selbst unscheinbare Objekte wie Plastikflaschen oder -tüten werden in vielen Fällen zu allen möglichen Gegenständen „recycelt“ und weiterverwendet. Die

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Dinge dieser Gesellschaften haben multiple Funktionen und Gebrauchswerte. Da man nur wenige Dinge besitzt, wird mit diesen improvisiert. Der multiple Gebrauchswert der Dinge spiegelt multiple Fähigkeiten der menschlichen Akteure. In reichen Ländern wachsen die Anzahl der Dinge und damit auch der Ressourcenverbrauch enorm an, doch die Wertschätzung der Dinge schwindet. Auch die „skills“ im Umgang mit den Dingen sowie zu deren Reparatur nehmen ab. Die finanziellen Ressourcen zum Kauf neuer Dinge sind vorhanden, doch es fehlt aufgrund der hohen Konkurrenz an „Zeitfressern“ die notwendige Zeit und Aufmerksamkeit für die Nutzung und Pflege der Objekte. Der Konsumismus verführt systematisch zum ständigen Kauf von neuen Dingen; aufgrund der Vielzahl der Dinge und des begrenzten Vorrats an menschlicher Aufmerksamkeit und Zeit kann das einzelne Objekt kaum mehr genutzt oder gewürdigt werden, und so stehen viele Dinge nach dem Kauf fast unbenutzt an ihrem Platz und stellen als stille Gesellschafter ihre Möglichkeiten des Erlebens und Handelns zur Schau; im ungünstigsten Fall warten sie einfach auf den Zeitpunkt ihrer „Entsorgung“. Die Dinge haben in den reichen Ländern keine polyvalenten Funktionen mehr, sondern sind vielfach hoch spezialisiert und werden entsprechend selten eingesetzt oder gebraucht. Eine Ausnahme bilden hier die modernen Kommunikationsgeräte, die vielerlei Funktionen haben – in der Regel mehr als der menschliche Akteur nutzen kann. Doch verlangen diese Geräte ihrem Nutzer kaum mehr „skills“ und Kreativität ab, im Gegenteil, sie machen viele Handlungen und Funktionen (räumliche Orientierung, Information, Kommunikation, Unterhaltung etc.) für den menschlichen Akteur sehr einfach und setzen damit eine eher konsumierende Haltung voraus. Der normale „User“ versteht die Funktionsweise dieser Geräte längst nicht mehr; deshalb kann das Gerät dem Nutzer auch nicht mehr multiple Fähigkeiten und Wissen spiegeln. Das Wissen ist im Gerät objektiviert und das Gerät ist dem menschlichen Nutzer in seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten überlegen: Die objektive Kultur dominiert und triumphiert über die subjektive. Angesichts der schieren Zahl der Dinge, die Menschen in den wohlhabenden Ländern in ihren Besitz nehmen, kann dem einzelnen Ding nicht mehr allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Frage der Verhältnismäßigkeit des wachsenden Konsums zum Verbrauch ökologischer Ressourcen stellt sich schon längst in drängender Weise. Besitzt der Mensch nur wenige Objekte, die er immer wieder repariert, so sind auch seine Fertigkeiten und seine Kreativität wesentlich mehr gefordert, er sieht sich genötigt, Wissen, Ideen und Geschick im Umgang mit den Dingen und deren Fehlern und Nöten zu entwickeln. Auch die Liebe zum Objekt, die Wertschätzung kann sich besser entfalten, wenn es keine überbordende Promiskuität im Umgang mit den Dingen gibt, sondern die Zahl der Dinge, denen man sich widmet, überschaubar bleibt. Der Mensch formt sich selbst im Umgang mit den Dingen und lernt dabei, Kopf und Hand für kreative und ausgefeilte Reparatur- und Recycling-Lösungen zu gebrauchen und weiterzuentwickeln. Oder er lernt im Gegenteil, von den Dingen alles zu erwarten, sich ganz auf sie zu verlassen und sie bei kleinen Macken auf den Müll der Geschichte zu befördern? Es steht wohl kaum infrage, welche dieser lebensweltlichen Praxen Züge von Resilienz aufweist, und welche in hohem Maße vulnerabel ist.

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Doch der rasche Wechsel der Dinge, die geringe Bindung an die Objekte des Begehrens befeuern das wirtschaftliche Wachstum und halten deshalb Wirtschaft und Gesellschaft stabil, zumindest für den Augenblick, um den Preis der Verlagerung existenzieller Risiken und Gefahren in die Zukunft. Um den Preis der Überdehnung der Interessen und Ansprüche des Menschen in Bezug auf die Inbesitznahme der natürlichen Umwelt, die nicht nur eine Umwelt des Menschen, sondern auch vieler anderer Arten ist, deren Rechte ebenfalls zu berücksichtigen wären. Die moderne Wirtschaftswissenschaft ruht immer noch auf falschen Voraussetzungen, wenn sie die natürlichen Ressourcen sowie Kosten und Schäden an den wertvollsten Gütern unserer natürlichen Umgebung (saubere Luft, sauberes Wasser, saubere Lebensmittel, Schönheit und Artenvielfalt) nicht in ihr Modell und nicht in ihre Berechnungen einbezieht (vgl. hierzu auch Weber 2010). Das System Wirtschaft ist kein geschlossenes, sondern muss immer als ein System innerhalb eines anderen hochkomplexen und vulnerablen ökologischen Systems gedacht werden – ein Umstand, der eigentlich auf der Hand liegt, und doch bislang in die Grundlagen der Modelle der Wirtschaftswissenschaften keinen Eingang fand. Da die Theorie und die Modelle der Wirtschaftswissenschaften auf falschen Voraussetzungen ruhen, ist auch die Praxis des Wirtschaftens in der Moderne falsch – mit recht konkreten und fatalen praktischen Folgen für die Umwelt und die Lebenswelt des Menschen und anderer Arten. Die Halbwertszeit der Dinge wurde mit der Ausbreitung des Industrialismus immer kürzer – das stellte Werner Sombart zu Beginn des letzten Jahrhunderts fest. Während man früher Möbel und andere Gebrauchsgegenstände häufig über Generationen genutzt habe, würden diese nun durch die Mode viel schneller entwertet. Die Dinge seien einem raschen kulturellen Wandel unterworfen und gleichzeitig werden sie durch die Produktionsweise uniformiert: „Überall rascher Wechsel der Gebrauchsgegenstände, der Möbel, der Kleider, der Schmucksacken“ (Sombart 1902, S. 9). Die Mode sei „des Kapitalismus liebstes Kind“ (ebd., S. 24), da sie durch Vereinheitlichung des Konsums und raschen kulturellen Verschleiß der Produkte immer neue Absatzmärkte sichere. Die neuen, modischen Dinge zu besitzen und zu tragen, ermöglicht gleichzeitig Zugehörigkeit und Distinktion – man kann sich als einer bestimmten sozialen Gruppe zugehörig zeigen und ebenso zugehörig fühlen, und sich gleichzeitig gegen andere soziale Gruppen abgrenzen. Georg Simmel zeigte, dass die Mode wie kein anderes Phänomen in der Lage ist, soziale Paradoxien und Widersprüche zusammenzubringen und zu vereinbaren: Sie ermöglicht gleichermaßen soziale Einschließung und Ausschließung, Nachahmung und Besonderung, Demokratisierung und Individualisierung. Die Mode ist von eminentem wirtschaftlichen und politischen Interesse, denn sie ermöglicht rasches wirtschaftliches Wachstum und eine kulturelle Demokratisierung in Form einer zunehmenden Erreichbarkeit modischer Güter auch für die breiten Massen, – genau genommen auf Kosten der Lebensbedingungen der schlecht entlohnten Fabrikarbeiter/innen armer Länder. So gesehen, werden die Dinge spätestens seit der Industrialisierung in großem Ausmaß in den Dienst genommen für wirtschaftliche und politische Zwecke – Konsum befördert die Wirtschaft und ist in der Lage, kulturell sehr verschiedene Schichten zu integrieren. Dies gilt auch heute, da einerseits Wachstum

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als unantastbarer Fetisch der Wirtschaft gilt, und andererseits die emotional und erotisch aufgeladene Warenwelt eine enorme kulturelle und soziale Bindungskraft entwickelt. Trotz der Konkurrenz- und Distinktionsorientierung, die dem Konsum ebenfalls eingebaut ist, wirkt er in Summe kulturell und politisch integrierend, auch da, wo ein einheitliches gesellschaftliches Wertemuster nicht mehr unbedingt vorhanden ist. Der englische Anthropologe Daniel Miller wirft die Frage auf, ob nicht eigentlich die kulturelle Zuordnung über die Dinge und Ding-Universen ausreiche – eine Integration über politische Werte und Grundeinstellungen sei nicht nötig, solange sich jeder innerhalb einer globalisierten Massengesellschaft mithilfe der Dinge sein eigenes kulturelles Umfeld schaffen könne (Miller 2008). Es ist wohl in Zweifel zu stellen, dass sich dieses Rezept der politischen Integration durch Konsum auf Dauer, auch in historisch unruhigeren Zeiten, bewähren könnte – zumal der Konsum der reicheren Schichten in den wohlhabenden Ländern auf Kosten der globalen Armen sowie in geradezu räuberischer Weise auf Kosten der natürlichen Ressourcen geht. Doch entwickelt das Modell des beständigen, emotional und symbolisch hoch aufgeladenen Über-Konsums einstweilen noch eine enorme Dynamik und Attraktivität. „Aufgrund seines mobilen erotischen Appeals ist der Warenfetischismus ein Integrationsmodus in einer Gesellschaft, deren politische Institutionen nicht mehr hinlängliche Überzeugungskraft aufweisen, um Massenloyalität und Affektbindungen stabil zu halten.“ (Böhme 2014, S. 268) Der Warenfetischismus ist ins Zentrum der Kultur gerückt, das vereinzelte Individuum kreist um das Universum seiner Dinge oder werde von diesem System der Dinge gar konstitutiert (Baudrillard 1991) und das könnte man „als ein Symptom einer Gesellschaft lesen, die sich des Fetischismus zur Illusionierung des Massenbewusstseins bedient“ – die Wirtschaft floriert und das Massenpublikum deliriert in den Launen des Begehrens und der Lüste, in der rauschhaften Betäubung des Konsums: „Die Gesellschaft wird in einen Monolithen des Massenbetrugs verwandelt“ (Böhme 2014, S. 267). Die hochdifferenzierte Warenwelt mit ihren vielschichtigen Konsumund Erlebnismöglichkeiten und dem Zukunftsversprechen auf Genuss weist offenbar eine große kulturelle Anziehungskraft auf; ob das auf Dauer genügt, um Gesellschaften zu integrieren und politisch stabil zu halten, ist höchst zweifelhaft. Das mag in friedlichen Zeiten mit beständigem Wachstum eine Weile gut gehen, doch treten größere gesellschaftliche Spannungen, Verschiebungen und Verwerfungen auf, so reicht der emotional aufgeladene Konsum allein wohl nicht, um Anomie zu begrenzen und soziale Spannungen und Konflikte auf einem erträglichen Niveau zu halten.

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Konsumismus und Emotionen

Konsum erfüllt in der modernen Gesellschaft vielerlei Funktionen. Es geht nicht mehr nur um die Befriedigung eines Bedarfs, sondern Konsum hat sich mehr und mehr von der primär materiellen auf die symbolische Dimension des Verbrauchs von Gütern ausgedehnt. Konsum ermöglicht Demokratisierung und soziale Distinktion gleichzeitig. Konsum zeigt soziale Zugehörigkeiten zu bestimmten Milieus an. Konsum soll Erlebnisse vermitteln, soll Individualität herstellen und ausdrücken,

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soll Lebensqualität, Genuss und Hedonismus vermitteln – und neben der Erzeugung von erwünschten Emotionen aus diesem Prozess auch distinktiven sozialen Gewinn ermöglichen. Nach Jean Baudrillard ist Konsum zu einer primär symbolischen Praxis geworden und die spätmodernen Individuen konstituieren sich vor allem über Konsum (vgl. Baudrillard 1991, 1992). Die Subjekte werden in dieser Sichtweise zu den Produkten der Produkte, zu den manipulierbaren Anhängseln der elaborierten und raffinierten Simulakren, geformt von den zirkulierenden Dingen und Bildern der symbolischen Kommunikation. Diese Sichtweise beschreibt eine durchaus sichtbare Tendenz der Spätmoderne, doch wird hier wohl übersehen, dass diese Veränderungen keineswegs eindeutig sind, sondern zwei widersprüchliche, paradoxe Entwicklungen stattfinden. Zum einen findet Konsum mehr und mehr auf der symbolischen, emotionalen und virtuellen Ebene statt, ermöglicht durch neue Möglichkeiten der Kommunikation sowie durch raffiniertes Produktdesign und Marketing. Zum anderen wächst aber in der Gesellschaft auch das Gegenteil: Die Sehnsucht nach der authentischen, materiellen, körperleiblichen Erfahrung, die Präsenz, Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit erfordert und verspricht. Dies wird sichtbar an der gewachsenen Bedeutung von Live Events und Veranstaltungen sowie an der Bedeutung des Körpers insgesamt. Der Konsumismus füllt emotionale Lücken des spätmodernen individualisierten Lebens, er bietet Emotionen und Erlebnisse an, die über Bilder und Werbebotschaften mit dem begehrten oder zu begehrenden Objekt verbunden werden. Der Erlebnishunger wächst scheinbar unendlich mit den Erlebnismöglichkeiten; sind die basalen Lebensbedürfnisse befriedigt, so spielen Genuss, Verfeinerung und Vervielfältigung des Erlebnisses eine Hauptrolle für den gesättigten, doch nie befriedigten Konsumenten und damit für das Wachsen des Marktes. Mithilfe des Konsums werden heute verschiedene soziale und sozialpsychologische Funktionen verfolgt und bestimmte Symboliken zur Schau gestellt, die verschiedene begehrte Eigenschaften und Attribute demonstrieren: Soziale Position und Status; Kompetenzen und Wissen; Expressivität und Selbstausdruck des Individuums; Hedonismus, Selbst- und Lebensgenuss (vgl. hierzu auch Reisch 2002). Die Funktionen des Konsums sind teilweise nach außen, auf die soziale Umgebung, und teilweise nach innen, auf die Stabilisierung und Konstruktion von Identität gerichtet. Mit diesen vielen Möglichkeiten kommt dem Konsum in vielen Fällen über die schon beschriebenen hinaus auch eine psychologische Kompensationsfunktion zu („So ein Rückschlag; jetzt muss ich erst mal shoppen gehen“). Die nach außen gerichteten Funktionen des Konsums haben einen Signalcharakter für die soziale Umwelt und bedienen sich deshalb eines allgemein verständlichen Zeichensystems. Die nach innen gerichteten Funktionen beruhen auf einer „Internalisierung (sub)kollektiver Symbole, allerdings brauchen sie nicht augenfällig zu sein“ (ebd.). Innere und äußere Aspekte dieses Prozesses stehen in enger Wechselwirkung. Weil der Konsum mit Emotion verknüpft wird und dem hedonistischen Individuum Erlebnis, Traumerfüllung und Glücksgefühle verspricht, kann er so verführerisch wirken: Shopping victims sind keine Seltenheit, Überschuldung als Lebensproblem oder ShoppingSucht zur Überdeckung von Persönlichkeitsproblemen sind durchaus relevante soziale Probleme. „Kompensatorischer Konsum zielt damit nicht auf Bedarfsde-

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ckung, sondern auf den Ausgleich und Stabilisierung psychischer Defizite“ (ebd., S. 239). Nach dieser Definition sind die meisten Bewohner der spätindustriellen Staaten zumindest von Zeit zu Zeit von kompensatorischem Konsum getrieben. Empirische Untersuchungen zeigen, dass dabei dem Kauferlebnis selbst die zentrale Bedeutung zukommt, die gekauften Dinge an sich jedoch in ihrer Eigenart kaum eine Rolle spielen und schon kurz nach dem Kauf das Interesse nicht mehr binden können. Kaufsüchtige stapeln zu Hause nicht selten unausgepackte Tüten mit den erworbenen Objekten der Begierde, deren emotionale Wirkung sofort nach dem Kauf erlischt: „Kaufsüchtige träumen sich beim Kaufen reich, schön, selbstsicher und beliebt, und werden von den positiven Gefühlen, die diese Illusionen verschaffen, abhängig“ (vgl. Scherhorn et al. 1990, S. 240). Das Kaufverhalten gerät außer Kontrolle und wird zwanghaft. Von Kaufsucht spricht man dann, wenn die Diskrepanz zwischen erträumten Eigenschaften des Selbst und der Realität zu groß wird und in der Folge auf das zwanghafte Kaufverhalten nicht mehr verzichtet werden kann. Die Dinge stützen personale Identität, und Objekte können als Identitätsprothesen wirken (vgl. dazu auch Czikszentmihalyi und Rochberg-Halton 1989). Das gilt in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße für uns alle, sodass man sich genötigt sieht festzustellen, dass die Grenze zwischen einem gut sozialisierten und angepassten spätmodernen Individuum und einem Kaufsüchtigem kaum scharf zu ziehen ist.

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Anerkennung der Dinge

Objekte vermitteln Handlungsmöglichkeiten, einen Zugang zur Welt. Das gilt für alle Dinge, doch ganz besonders für die modernen Kommunikationsgeräte, die einen sehr großen Weltausschnitt, eine Vielzahl von Zugängen und Funktionen vermitteln können. Durch das Objekt wird das Subjekt zum Subjekt, durch das Gerät wird die Welt für das Subjekt zugänglich und handhabbar. Kontingenz wird reduziert, der Weltausschnitt, den das Ding vermittelt, erscheint geordnet und beherrschbar. Das Subjekt kann sich im Erwerb, im Gebrauch und auch im Wegwerfen von Dingen als Subjekt konstituieren, da ihm die Dinge untertan sind und in der Regel treu gehorchen – wehe wenn nicht, wenn der Computer spinnt oder das Auto unterwegs eine Panne hat, dann werden unsere Pläne, unsere alltägliche Lebenswelt, oft genug erschüttert. Die Freiheit des Subjekts, zu handeln, sich etwas anzueignen oder einzuverleiben (konsumieren), etwas für nützlich und wertvoll zu erklären, oder es im Akt des Wegwerfens als nutzlos zu definieren, verleiht dem Subjekt die Macht zu handeln, Subjekt zu sein und sich als solches zu präsentieren. Das Ding schafft zudem eine Verbindung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Das Ding fungiert als Brücke zwischen Subjekt und Kultur und es spielt eine zentrale Rolle im Prozess der Subjektivierung und der Objektivierung: Es erlaubt dem Einzelnen die Aneignung von Kultur durch die Benutzung des Objektes (Besteck, Kleidung, Musikinstrumente etc.) und ermöglicht damit Subjektivierung kultureller Muster. Schon Georg Simmel erkannte, dass der Weg zu sich selbst meistens über Umwege führt, erst durch die Beschäftigung mit anderen Dingen

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(und Menschen) entwickelt sich der einzelne Mensch, um anschließend zu sich selbst zurückzufinden. Auch umgekehrt wird durch das Ding Objektivierung in Gang gesetzt, indem das Schaffen einzelner Handwerker, Künstler oder Ingenieure sich in Dingen objektiviert, die in die allgemeine Praxis und in das allgemeine Wissen eingehen. Das Subjekt ist also von den Dingen abhängig, um Subjekt sein zu können, benötigt es die dinglichen Objekte. Diese Abhängigkeit ist jedoch weithin verkannt. Schon Simmel beklagte die „Geringschätzung“ der Dinge und sah es als die zentrale „Tragödie der modernen Kultur“ an, dass die verkannten Dinge sich in der Moderne schneller entwickelten als der einzelne Mensch. Gerade in den Großstädten komme es zu einer Zusammenballung von Wissen und Infrastruktur, die weitere Entwicklung und Differenzierung durch die Überschreitung kritischer Massen exponentiell beschleunigten. Der einzelne Mensch sehe sich einer schnell wachsenden „objektiven Kultur“ gegenüber, die er zur Gänze gar nicht mehr überblicken und verstehen könne. In der Folge wachse ein subkutanes Minderwertigkeitsgefühl des modernen Menschen gegenüber den sich rasch entwickelnden Dingen: Waren, Bilder, Bücher, Geräte. Diese strukturell angelegte „Tragödie der Moderne“ werde jedoch selten erkannt, meist gar vehement geleugnet. Das verdrängte Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der „objektiven Kultur“ befördere dann umso mehr ein Aufbäumen eines expressiven Individualismus, eines oftmals leeren Pochens des Individuums auf seine Einzigartigkeit. Dies äußere sich zum Beispiel in der Notwendigkeit, Individualität schon optisch auf den ersten Blick auf exaltierte, etablierte oder irgendwie erkennbare Weise deutlich zu machen (Simmel 1903/1995). Auch der Mensch der Moderne täte gut daran, sich bewusst zu werden, dass seine Identität auch auf den dinglichen Objekten beruht – und die Dinge entsprechend wertzuschätzen, anstatt ihnen nur geringe Achtung entgegenzubringen. Anzeichen für eine solcherart gestaltete neue Kultur gibt es in der Kunst schon länger, und jüngst auch im zeitgenössischen Design. Das Verhältnis zu den „ausgemusterten“ und weggeworfenen Dingen wurde als Erstes in der Kunst zum Thema, die seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts den „Müll“ zu anspruchsvollen und komplexen Kunstwerken „recycelt“ – und ihm damit zu einem Quantensprung an Wertschätzung verhilft. Ein klassisches Beispiel dafür sind die Kunstwerke von Jean Tinguely, doch gibt es seitdem viele andere Künstler, die in ihren Werken ähnliche ästhetische Ideen umsetzten. Im zeitgenössischen Design gibt es gerade in den letzten Jahren neue Ansätze, die auf die Biografie der Dinge setzen, auf die Einmaligkeit der Objekte, auf Gebrauchsspuren, die veredelt werden, auf die emotionale Aufladung des Objekts, die tatsächlich in einer Objektbiografie erworben wurde – und nicht lediglich in der Inszenierung hinzugefügt (vgl. z. B. Brandes und Stich 2008). Im Internet sind beredte Zeugnisse dieser Entwicklung zu finden: Designer, die Blogs unterhalten, in denen besondere Dinge mit Geschichte und Eigensinn vorgestellt werden. Studenten und Studentinnen, die Konsumverzicht üben und ihre wenigen Dinge sowie ihren Lebensstil auf youtube wertschätzend inszenieren. Eine „Repair“-Bewegung, die bei einer Gruppe von Designern in Amsterdam ihren Ausgangspunkt nahm und mittlerweile überall in der Welt Dependancen gefunden hat.

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Eine Anerkennung der Dinge – der Besonderheit und Individualität des Objekts, seiner ganz eigenen Geschichte, die jeweils Gebrauchsspuren, Verletzungen und „Reparaturen“ mit einschließt – zeichnet sich somit in Umrissen ab. In der Kunst schon seit Langem, im Design erst seit kurzer Zeit, ist eine solche Wende sichtbar (vgl. Institut of Design Research 2014; Welzer 2014). Auch neuere soziale Bewegungen wie die Repair- und Tausch-Bewegung in verschiedenen Ländern, die sich online und offline verständigen und organisieren, weisen auf einen Wandel hin, der sowohl ästhetische wie auch ökologische, politische und lebensweltliche Aspekte aufweist. In der Kultursoziologie steht eine solche neue Betrachtung der Dinge erst am Anfang: Die Anerkennung ihrer Besonderheit und Biografie, ihrer Interaktionsgeschichte im Austausch mit Menschen und anderen Dingen; die soziale Rolle der Dinge, der Einfluss, den sie auf menschliche Handlungen nehmen, verdienen es, stärker in den Fokus der Kultursoziologie gestellt zu werden, und damit theoretische, empirische und methodische Fragen des Faches in eine neue Perspektive zu rücken. Zu gewinnen sind dabei neue Erkenntnisse über Kultur als die Art und Weise der Verflechtung sozialer Prozesse mit materiellen Strukturen.

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Objekte aus kultursoziologischer Perspektive

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Ökonomie als Kultur Ute Tellmann

Inhalt 1 Klassische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kultur und Ökonomie – neuere Ansätze und die Auflösung einer Unterscheidung . . . . . . . 3 Cultural Economy – Fallstricke einer Erfolgsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Dieser Aufsatz analysiert zwei historische Momente der kultursoziologischen Betrachtung von Ökonomie: die von den Klassikern der Soziologie entfaltete Perspektive von Ökonomie als Kultur auf der einen Seite und die gegenwärtigen Debatten, die unter dem Stichwort der Cultural Economy zusammengefasst werden, auf der anderen Seite. In beiden Fällen wird eine für die Moderne konstitutive Gegenüberstellung von Kultur und Ökonomie unterminiert. In dieser Gegenüberstellung wird Ökonomie oftmals mit Materialität, Natürlichkeit und Gesetzmäßigkeit assoziiert, während Kultur als „bloßes“ Epiphänomen behandelt wird. Der Aufsatz zeigt auf, dass die erfolgreiche Aushöhlung der Binarität von Kultur und Ökonomie in den gegenwärtigen Debatten einen begrifflichen und wissensgeschichtlichen Reflexionshorizont braucht, damit die innovative und erhellende Perspektive der Kultursoziologie auf Ökonomie weiter entwickelt werden kann. Schlüsselwörter

Geld · Performativität · Subjektivierung · Wissensgeschichte · Rationalität

U. Tellmann (*) Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_31

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Vor mehr als einer Dekade hat der Sozialwissenschaftler und Anthropologe Timothy Mitchell seiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, dass die kulturtheoretische Perspektive vor einem Objekt lange Halt gemacht habe: vor der Ökonomie. Während die Nation als etwas Imaginiertes begriffen und Klassen, Ethnizität sowie Geschlecht als instabile Konstruktionen verstanden würden, erscheine die Ökonomie als etwas, was dieser Sichtweise widerstehe. Er spekuliert über die Gründe: „Vielleicht erscheint uns der Begriff der Ökonomie fundamentaler weil er auf ein materielles Substrat zu verweisen scheint, ein Bereich, dessen Existenz unabhängig von und vorgängig zur Repräsentation ist“ (Mitchell 1998, S. 84).1 In ganz ähnlicher Weise hatte der Anthropologe Arturo Escobar in seiner Kritik an den entwicklungsökonomischen Diskursen bereits drei Jahre zuvor programmatisch formuliert: „Die Ökonomie ist nicht nur und vielleicht nicht einmal prinzipiell eine materielle Entität. Sie ist vor allem eine kulturelle Produktion von Individuen und sozialer Ordnung einer bestimmten Art“ (Escobar 2011, S. 59). Mit diesem Aufruf, die Ökonomie als kulturelle Ordnung zu begreifen, wird eine für die Moderne konstitutive Gegenüberstellung von Kultur und Ökonomie angegriffen. Ökonomie wird in der westlichen Moderne oftmals mit Materialität und Gesetzmäßigkeit assoziiert, während Kultur als Sinnstruktur und symbolische Ordnung beschrieben wird. Die Ökonomie zeichnet sich demgemäß durch Faktizität und Universalität aus, Kultur durch Kontingenz und Historizität. Wir glauben in der Ökonomie eine „zweite Natur“ zu erblicken, die die Grenze des Gestaltungsvermögens und das Fundament von menschlicher Ordnung signifiziert (Latour 2014, S. 519). Aufgrund dieser Gegenüberstellung erscheint Kultur als „bloß kulturell“ und als weniger fundamental oder materiell (Butler 1997). Demgegenüber wird die Ökonomie zum Stellvertreter für die „wirklichere Wirklichkeit“ wie der Literaturwissenschaftlicher Joseph Vogl einmal treffend beschrieben hat (Vogl 2002, S. 347). Diese Auseinandersetzung mit einer für die Moderne konstitutiven Begriffsopposition zeichnet die kulturtheoretische Betrachtung von Ökonomie aus (Benn et al. 2008, S. 1; du Gay und Pryke 2002; Best und Patterson 2010). Aus diesem Grunde hat die kultursoziologische Betrachtung einen anderen Anspruch und eine andere Stoßrichtung als die gängigen Ansätze der Wirtschaftssoziologie. Die sogenannte „Neue Wirtschaftssoziologie“ hatte sich zur Aufgabe gesetzt, Markthandlungen und Markttausch in soziale Netzwerke „einzubetten“ (Smelser und Swedberg 2005; Granovetter 1985; Barber 1995). Die kulturtheoretische Betrachtung von Ökonomie zielt demgegenüber nicht darauf, einen wie immer gearteten ökonomischen Kern in einen sozialen oder kulturellen Kontext zu stellen, sondern auf die Re-Artikulation dieses „Kerns“ selbst. Ökonomie wird als Kultur verstanden (Pryke und du Gay 2007). Dadurch wird die Ökonomie in ein völlig neues Licht getaucht: Sie wird beschrieben als eine Praxis des Aushandelns und Hierarchisierens von Werten, als Prozess der Subjektivierung, als Regime der Klassifikation, als Diskurs oder als Regierungsform. Kultur ist dann nicht mehr Epiphänomen einer als grundlegend erachteten ökonomischen Basis, sondern ein Teil dieser Basis selbst.

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Alle Übersetzungen aus dem Englischen wurden von der Autorin vorgenommen.

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Die neue Aufmerksamkeit, die der kulturtheoretischen Betrachtung von Ökonomie zuteilwird, ist mit historischen-diskursiven Gemengelagen verbunden. Sie gehört zum einen zum cultural turn, der seit drei Dekaden die unterschiedlichsten Felder der sozialwissenschaftlichen Analyse eingeholt hat (Moebius 2009; Reckwitz 2006, 16 ff.). Dieses Aufleben einer kulturtheoretischen Perspektive in der Soziologie ging mit einer Wiederentdeckung der Klassiker einher, für die der Kulturbegriff zentraler Bestandteil der Gesellschaftstheorie war. Das ist gerade für die Frage nach dem Zusammenhang von Kultur und Ökonomie relevant. Denn wir finden bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts die Versuche, den Kulturbegriff zu benutzen, um ökonomische Phänomene jenseits einer ökonomistischen und utilitaristischen Perspektive zu begreifen (Moebius 2009; Lichtblau 1996). Die gegenwärtigen Debatten verdanken diesen klassischen kultursoziologischen Texten grundlegende Einsichten und fruchtbare analytische Perspektiven, die immer noch forschungsleitend sind. Der cultural turn, der nun die Ökonomie erreicht, ist in diesem Sinne neu und alt zugleich: Er muss in der Disziplin als eine Wiederholung mit Differenz betrachtet werden. Die Konjunktur, „Ökonomie als Kultur“ zu behandeln, hat aber nicht nur einen innerwissenschaftlichen und disziplingeschichtlichen Kontext. Sie gehört vor allem auch zu einer Auseinandersetzung mit ubiquitären Prozessen der Ökonomisierung, die seit den 1980er-Jahren unter dem Stichwort der Neoliberalisierung, Finanzialisierung, des Postfordismus und der Globalisierung verhandelt werden (Mirowski und Plehwe 2009; Krippner 2011; Hardt und Negri 2003; Sassen 2006; Harvey 2005). In diesen Prozessen sind neue Arbeitsformen, Konsumwelten, Finanzinstrumente, Subjektivierungsweisen und Expertenkonfigurationen entstanden. Zeitgleich haben sich die moralisch-politischen Ressourcen der Kritik gewandelt. Sowohl orthodox marxistische Diskurse als auch staatszentrierte Formen der „Sozialkritik“ haben ihre prominente Stellung als etablierte Formen der Beschreibung und Kritik von Ökonomie verloren – und dadurch eine Leerstelle hinterlassen (Boltanski und Chiapello 2006). In diesem historischen Kontext ist die kulturtheoretische Reflexion des Ökonomischen Teil einer Neuvermessung von Sichtweisen und Kritikformen in Zeiten des Umbruchs. Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, welche Analyse und Kritikmöglichkeiten sich ergeben, wenn man „Ökonomie als Kultur“ begreift. Diese Zielsetzung führt dazu, dass insbesondere solche Ansätze Berücksichtigung finden, die das Verständnis von „Ökonomie als Kultur“ in konzeptueller Hinsicht geprägt haben. Daraus erklären sich ebenfalls spezifische Auslassungen: Arbeiten, welche die Ökonomisierung der Kultur beschreiben, oder solche, die sich beispielsweise mit der Entwicklung der sogenannten Kreativwirtschaft beschäftigen, stehen nicht im Zentrum der Diskussion. Ebenso wenig können die etablierten Felder der Konsumund Arbeitssoziologie angemessen berücksichtigt werden. Im Folgenden geht es um zwei historische Momente in der Entfaltung und Erprobung einer kultursoziologischen Betrachtung von Ökonomie. Auf der einen Seite stehen die soziologischen Klassiker und auf der anderen Seite die neuesten Debatten unter dem Stichwort „Cultural Economy“. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich eine sehr interdisziplinäre Forschungslandschaft, die aus den Perspek-

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tiven der Literaturwissenschaft, der Anthropologie, der Wissensgeschichte, Politikwissenschaft und Soziologie gespeist wird. Dabei sind die Theorieansätze aus der Gouvernmentalitätsforschung, der Wissenssoziologie, der Diskursanalyse und der Akteur-Netzwerk-Theorie dominant (Benn et al. 2008, S. 2–3; Best und Patterson 2010). Meine Ausführungen habe eine analytische und diagnostische Stoßrichtung. In analytischer Hinsicht werde ich die jeweiligen Ansätze daraufhin befragen, wie sie mit der begrifflichen Opposition von Ökonomie und Kultur umgehen: Wie wird die Entgegensetzung bestimmt, aufgehoben oder hybridisiert? Welches Verständnis von Ökonomie als Kultur resultiert daraus? Mein Ausgangspunkt ist somit kein spezifischer Kulturbegriff, sondern eine historische Begriffsdifferenz zwischen Kultur und Ökonomie. Diese Grenzziehung produziert Ausschlüsse, Hierarchisierungen und blinde Flecke. Eine Sensibilität gegenüber der konstitutiven Natur dieser Grenzziehung erscheint unabdingbar, wenn man mit den gleichermaßen abstrakten und vieldeutigen Begriffen wie Ökonomie und Kultur angemessen umgehen möchte (Butler 2010). In diagnostischer Hinsicht werde ich herausarbeiten, dass wir es im Falle der Cultural Economy mit einer zunehmenden Radikalisierung der Betrachtung von „Ökonomie als Kultur“ zu tun haben. Gegenüber den soziologischen Klassikern und ihren Aktualisierungen besteht die Tendenz, die begriffliche Differenz zwischen Ökonomie und Kultur einzuebnen. Die Unterscheidung wird in Richtung Kultur aufgelöst: Jegliche Annahme darüber, was Ökonomie sei, wie ihre Dynamik zu verstehen sei und was sie als Totalität ausmache, wird nunmehr eingeklammert und als spezifischer Diskurs oder als Modell von Ökonomie in seinen Wirkungen untersucht. Die Performativität des ökonomischen Wissens ist zum zentralen Ansatzpunkt der Forschung geworden. Es steht die Frage im Vordergrund, wie das, was als ökonomisch gilt, hergestellt wird. Mit dieser Einebnung der Gegenüberstellung ändert sich auch der Kulturbegriff: Kultur wird nicht mehr als System von Bedeutungen gefasst, sondern als praxeologisch-materielle und diskursive Herstellung von kontingenter Ordnung verstanden (Gertenbach 2014). In diesem Sinne wird Cultural Economy in folgender Weise definiert: „[It is an] emergent form of inquiry concerned with the practical material-cultural way in which economic objects and persons are put together from disparate parts“ (du Gay und Pryke 2002, S. 8). Diese Auflösung der Unterscheidung hat eine de-naturalisierende und innovative Beschreibung ökonomischer Praktiken erlaubt. Zugleich ergeben sich eine Reihe von drängenden Fragen: Kann man auf eine eigene begriffliche Bestimmung des Ökonomischen verzichten, ohne die blinden Flecke des jeweils hegemonialen Ökonomieverständnisses zu wiederholen? Beinhaltet der zu beobachtende Fokus auf Wissenspraktiken eine unbeabsichtigte Verkürzung der analytischen Perspektive? Wird der Kulturbegriff zu einer entleerten Kontingenzformel jeglicher Ordnung? Was ist schließlich mit der Anrufung von „Materialität“ in der Analyse des Ökonomischen gemeint? Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist eine explizite Auseinandersetzung mit diesen Fragen für die kultursoziologische Behandlung der Ökonomie von zentraler Bedeutung, wenn sie den innovativen Gehalt ihrer Agenda fortschreiben will.

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Klassische Positionen

Bei den soziologischen Klassikern kann man zwei unterschiedliche Weisen beobachten, Kultur und Ökonomie zu unterscheiden und zu hybridisieren. Auf der einen Seite stehen die Arbeiten von Max Weber und Georg Simmel, die das Verhältnis von Ökonomie und Kultur im Spannungsfeld von Rationalität, Wertsetzung und Bedeutung verorten. Dieses Themenfeld wird heute durch die Konventionen-Schule, die Soziologie der Bewertungen und die Ethnografien aus der Social Studies of Finance aktualisiert. Auf der anderen Seite stehen die Arbeiten von Marcel Mauss und Pierre Bourdieu, die Zirkulation, Verpflichtung und Anerkennung zu den zentralen Begriffen machen, um die Hybridität von Ökonomie und Kultur zu denken. Die Aktualisierungen dieser Analyseachsen findet man im weitesten Sinne in der ökonomischen Anthropologie und der Soziologie der Dinge.2

1.1

Rationalität, Bedeutung, Bewertung – Max Weber, Georg Simmel und ihre Aktualisierungen

1.1.1

Max Weber: Kultur und die Konstitution der formalen Rationalität Max Weber definiert Kultur als „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (Weber 1988a, S. 180). Man kann diese Bestimmung des Kulturbegriffes als Vorläufer einer gegenwärtigen Kultursoziologie begreifen, die symbolische Strukturen und Bedeutungsschemata als „Aspekt“ jeglicher sozialen Ordnung begreift (Albrecht und Moebius 2014, S. 11). Allerdings darf man nicht übersehen, dass für Weber diese Definition von Kultur eine spezifische Konnotation hatte, die sich auch aus der Gegenüberstellung von Kultur und Ökonomie ergibt. Denn für Weber ist die Organisation von „Sinn und Bedeutung“ in einer sinnlosen Welt auch eine heroische Wertsetzung, die sich im Kontext der Vorherrschaft einer auf formale Steigerung ausgelegten Zweck-Mittel-Rationalität durchsetzen muss. In einer solchen Welt ist Sinnschaffung auch eine Gestaltungsaufgabe des „Kulturmenschen“. Im Gegensatz zu anderen historische Formen des Wirtschaftens – zum Beispiel der Haushaltsökonomie oder des Abenteurer-Kapitalismus – ist für Weber die moderne, kapitalistische Ökonomie vor allem durch das Kennzeichen der formalen Rationalität bestimmt (Weber 1988b, S. 4–9). Die zentrale Rolle des Rationalitätsbe2

Dieser Vorschlag, die unterschiedliche Fokussierung von Kultur und Ökonomie, zu fassen, ist nicht als gegenseitiges Ausschlusskriterium zu verstehen: Simmel hat auch über Zirkulation gesprochen, während Mauss Ökonomie über den Wertbegriff definiert. Die unterschiedliche Fokussierung resultiert aus der analytischen Frage, welche Begriffe die Verschmelzung von ökonomischen und kulturellen Ordnungen denkbar machen. Ebenso ist das Ziehen von Linien der Aktualisierung der Klassiker in der Gegenwart nicht mit scharfen Trennungslinien verbunden. Auch hier gibt es Überkreuzungen und gegenseitige Inspirationen. Dennoch erscheint es hilfreich, solche analytischen Unterscheidungen einzuführen, um das Feld zu ordnen.

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griffs für das Verständnis der modernen Ökonomie bei Weber lässt sich an der herausgestellten Rolle der „formalen Kapitalrechnung“ ablesen. Jene verkörpere das „Höchstmaß von Rationalität als rechnerisches Orientierungsmittel des Wirtschaftens“ (Weber 1980, S. 58). Sie gilt als „allgemeinste Voraussetzung für das Bestehen dieses modernen Kapitalismus“ (Weber 2011, S. 251). Die Kapitalrechnung hat für Weber keine „symbolische oder rhetorische“ Funktion, sondern kristallisiert die Dominanz der formalen Rentabilitätsrechnung (Carruthers und Espeland 1991, S. 61). Jene kenne bloß die Steigerung des Gewinns als formales Erfolgskriterium und besitze keine andere qualitative innere Grenze. Die Kapitalrechnung ist als reine Technik und formales Instrument der konzeptuelle Gegenspieler der Kultur. Kultur generiert für Weber Bedeutung durch Orientierung an und Setzung von substanziellen Werten: Sie liefert keine rein formale, sondern immer auch eine materiale oder wertrationale Bindung. Der Akt der Wertsetzung sowie die Verfolgung dieser Werte werden zum Ausweis eines „Kulturmenschen“, welcher den „Dämon finden muss, der die Fäden seines Lebens“ zusammenhält (Weber 1988a, S. 180; Hennis 1987, S. 167; Lichtblau 1996). Allein der „Kulturmensch“ kann in dieser Welt der formalen Rationalität noch substanzielle Orientierung und Verantwortung generieren. Weber vermutet einen „Sinnverlust“ in der Moderne, weil „die kulturellen und wertrationalen Stützen der Lebensführung“ unterspült werden (Jaeger 1992, S. 378). Ökonomie und Kultur sind in diesem Sinne einander diametral gegenübergestellt. Webers Pointe besteht darin, dass er die Grenzziehung zwischen Ökonomie und Kultur selbst als ein kulturelles Produkt beschreibt. Die Entstehung und Durchsetzung einer bloß formalen Rationalität ist für ihn ein hochgradig unwahrscheinliches und sogar widersinniges Ereignis (Tyrell 1998). Es handle sich um eine „schlechthin sinnlose Umkehrung“ von Mitteln und Zwecken, denn die moderne ökonomische Rationalität fordere, dass das „Erwerben als Zweck des Lebens“ gelten solle und nicht dem Leben als Mittel untergeordnet sei (Weber 1988b, S. 44). Diese „sinnlose Umkehrung“ ist laut Weber nur zu begreifen, wenn man die ursprüngliche kulturelle Bedeutung einer solchen Handlungsmaxime freilegt und sie als Lebensform versteht. So argumentiert Weber in der Protestantischen Ethik, dass jene ökonomische Rationalität einer wertrationalen Aufladung bedurfte und an Heilserwartung geknüpft werden musste, um historisch Fuß zu fassen. Weber erkennt in der formalen Rationalität die Spuren der asketischen Lebensführung, welche durch eine Hingabe an Arbeit und Beruf gekennzeichnet ist. In diesem Sinne ist die formale, ökonomische Rationalität als Kultur zu verstehen, weil sie ursprünglich Teil eines Bedeutungshorizonts und einer substanziellen Wertsetzung war. Allerdings ist diese konstitutive Rolle der Kultur für die Ökonomie bei Weber hauptsächlich auf die historische Genese des modernen Kapitalismus bezogen. Denn die einmal etablierte und institutionalisierte Rationalitätsform des modernen Kapitalismus ist nicht mehr in gleichem Maße auf diese kulturelle Validierung angewiesen. Für Weber verdankt sich die Fortdauer dieses modernen Wirtschaftens einem „überwältigenden Zwange“, der vom Kosmos der modernen Wirtschaftsordnung ausgeht (Weber 1988b, S. 188). Weniger die kulturelle Aufwertung, als vielmehr die bürokratische Herrschaft des wirtschaftlichen Betriebes sowie der friedliche Kampf

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in Tausch- und Wettbewerbsbeziehungen bestimmen die Durchsetzung der formalen Rationalität im 20. Jahrhundert: „Die Kapitalrechnung in ihrer formal rationalsten Gestalt setzt [. . .] den Kampf des Menschen mit dem Menschen voraus“ (Weber 1980, S. 49). Geld ist dann auch für Weber keine „harmlose Anweisung auf unbestimmte Nutzleistungen, sondern ‚Kampfmittel‘“ (Weber 1980, S. 58). Macht, Herrschaft, Verfügungsgewalt sind folglich die Begriffe, die Weber zur Analyse der modernen ökonomischen Rationalität verwendet. Sie lösen die Kultur als bestimmenden und konstitutiven Faktor ab. Für die heutigen kultursoziologischen Debatten ist vor allem das historische Argument Webers über die kulturelle Genese ökonomischer Rationalität relevant geworden. Insbesondere die französische Konventionen-Schule hat sich diese Einsicht in die kulturellen Wurzeln ökonomischer Rationalität für die Analyse eines „neuen Geist des Kapitalismus“ zunutze gemacht (Boltanski und Chiapello 2006; Diaz-Bone 2011). Anders als Weber gehen sie nicht mehr davon aus, dass der Kapitalismus sich je der Notwendigkeit einer kulturellen Wertschätzung und Rechtfertigung entledigen könnte. Jede Wirtschaftsordnung sei insbesondere auf die Motivation derjenigen, die ihre Arbeitskraft einsetzen, angewiesen. Das Wirtschaftsleben ist dementsprechend auf die Wertigkeiten und Klassifikationssysteme hin beobachtbar, die Anerkennung strukturieren, Leistungsmessungen erlauben und Profite generieren (Diaz-Bone 2011; Stark 2011). In dieser Forschungsrichtung sind eine ganze Reihe von Arbeiten entstanden, die von der Analyse statistischer Kategorien der Arbeitslosigkeit und Qualifikation (Salais 2007) bis hin zu den Bewertungen auf dem Kunstmarkt (Velthuis 2003) oder der Festlegung von Wiedergutmachungszahlung nach Naturkatastrophen reichen (Fourcade 2011). Im Zentrum stehen jeweils die Akte der Wertsetzung, der Prüfung, Rechtfertigung und Messung, die in die formale Kalkulation der ökonomischen Rationalität eingehen (Knoll 2013). Diese Aktualisierungen von Weber scheinen die moderne Trennung von Ökonomie und Kultur auszuhebeln – aber sie tun dies nicht vollständig. Gerade Boltanksi und Chiapello beharren wie Weber in ihrem Werk Der neue Geist des Kapitalismus trotz aller Hybridisierung auch auf einer Gegenüberstellung von Ökonomie und Kultur. Sie unterscheiden zwischen kapitalistischer Ökonomie als formaler Profitlogik auf der einen Seite und Kultur als legitimierendem und motivierendem System von Wertordnungen auf der anderen. Der Kapitalismus selbst verfüge über keinerlei Mittel der Rechtfertigung, weil er von der „Moralsphäre völlig losgelöst“ sei (Boltanski und Chiapello 2006, S. 58). Die Logik des Kapitals wird dabei als dynamisch und entgrenzend verstanden, während Kultur für die qualitative Ausgestaltung und Beschränkung einer per se unlimitierten ökonomischen Logik des Profits sorgt. Boltanski und Chiapello gewinnen aus dieser Gegenüberstellung ihr Verständnis des Zusammenhangs von Kritik, Institutionalisierung und historischem Wandel. Aber die Gegenüberstellung von Ökonomie und Kultur sorgt auch dafür, dass ein ökonomischer Kern vor der kulturtheoretischen Beschreibung bewahrt wird. So gerät aus dem Blick, inwiefern die Entgrenzung, die dem Kapital zugeschrieben wird, eine Eigenschaft ist, die selbst produziert werden muss und nicht als Annahme gesetzt werden kann.

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1.1.2 Georg Simmel: Die kulturellen Formierungen des Geldes Anders als Weber lokalisiert Simmel die konstitutive Verbindung von Ökonomie und Kultur nicht in der kulturellen Genese ökonomischer Rechnungs- und Kalkulationsformen, sondern in ihren kulturellen Effekten. Geld ist für Simmel zum einen der reinste Ausdruck einer als Wechselwirkung verstandenen Sozialität (Simmel 1989, S. 59). Zum anderen ist Geld eine Objektivierung dieser Wechselwirkung: Es ist eine „substanzgewordene“ und „kristallisierte“ Sozialfunktion (Simmel 1989, S. 209). Als eine solche objektivierte Form hat Geld eine unmittelbare Kulturbedeutung. Man könnte auch sagen, Geld ist Kultur, insofern es die objektivierte Form für die Beziehung zu Dingen, zu anderen Individuen sowie zu Raum und Zeit bereitstellt (Simmel 1997; Lichtblau 2011, S. 132). Das zentrale Scharnier, welches Simmel erlaubt, Geld als objektivierte Kulturform zu verstehen, ist der Wertbegriff (Rammstedt 1993, S. 15). Wert ist für Simmel ein Relationsbegriff und niemals unabhängig von dem Begehren und den Anstrengungen des Subjekts. Gleichzeitig ist aber ein Wert an eine „überindividuelle Objektivität und Intersubjektivität von Werten gebunden“ (Lichtblau 2011, S. 132). Geld stellt diese überindividuelle Objektivität der Werte bereit. Spezifisch für das Geld ist die Tatsache, dass diese Objektivität selbst keine Qualitäten mehr kennt. Geld ist für Simmel das „absolute Abstraktum“ (Simmel 1989, S. 232), welches alle Qualitäten in Quantitäten auflöst und auf diese Weise die Vermittlung aller Qualitäten erlaubt. Er zeigt auf, wie die Vermittlung und Zugänglichkeit aller Dinge durch das Geld eine Unruhe, räumliche Ausdehnung und Beschleunigung des modernen Lebens hervorbringen. Er beschreibt die Indifferenz und Sachlichkeit, die persönliche und unmittelbare Beziehungen ablösen. Und er verweist darauf, dass sich durch die „Kultur des Geldes“ unser Verhältnis zu Werten überhaupt ändert. Im Zynismus und der Blasiertheit erblickt Simmel die Effekte der monetären Indifferenz und monetäre Umwertung aller Werte (Simmel 1992). In seinen Ausführungen zur Kulturbedeutung des Geldes scheint Simmel die Gegenüberstellung von Kultur und Ökonomie gänzlich aufgehoben zu haben und in radikalster Weise einen Entwurf von „Ökonomie als Kultur“ vorzulegen. Aber das ist eine unvollständige Sichtweise. Denn der Kulturbegriff bei Simmel meint nicht nur die Objektivierung von menschlichen Schöpfungsprozessen, sondern beinhaltet auch die Wiederaneignung dieser objektivierten Kulturformen durch das Subjekt. Kultur ist für Simmel definiert als ein zirkulärer Prozess der Objektivierung und Wiederaneignung, dessen letztes Ziel die Vervollkommnung des Menschen ist. Jene Wiederaneignung und Vervollkommnung ist allerdings durch Objektivierungen auch gefährdet, weil diese ein Auseinandertreten von Objekt und Subjekt beinhaltet und damit die Gefahr des Verharrens in der Spaltung hervorruft. Das ist die „Tragödie der Kultur“ nach Simmel. Insofern Geld für Simmel ein Agens der Objektivierung schlechthin ist, befördert das Geld die Spaltung von Subjekt und Objekt (Lichtblau 1996, S. 216). Nicht nur das, es legt zwischen diese Pole ein Medium, das die Indifferenz und Nivellierung aller Werte befördert und damit der Wiederaneignung der objektivierten Kulturleistungen und Vollendung des Zirkels zur „Vervollkommnung des Menschen“ entgegensteht. In diesem Sinne steht Ökonomie, hier als die ökonomische Objektivität des Geldes verstanden, der Kultur auch gegenüber.

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Die Aktualisierung der von Simmel entwickelten Perspektive auf die Kultur des Geldes entledigt sich der Beschwörung der „Tragödie der Kultur.“ Viele der heutigen Anthropologien der Moderne distanzieren sich zudem von Simmels Beschreibungen des Geldes als einem Medium der Ortlosigkeit, Beschleunigung, Versachlichung und Quantifizierung. Diese Beschreibung wird als die „modern folk theory“ des Geldes kritisiert (Maurer 2006; Zelizer 1997). Damit ist gemeint, dass wir Geld unwillkürlich mit diesen eigenschaftslosen Eigenschaften verbinden, ohne genau zu untersuchen, ob diese Eigenschaften wirklich den Umgang mit Geld bestimmen oder wie diese Eigenschaften des Geldes produziert werden. Deshalb kann Simmels Arbeit nicht unrevidiert als Blaupause für eine kultursoziologische Perspektive auf die Welt des Kapitals und des Geldes dienen. Heutige Arbeiten schreiben Simmels Perspektive fort, indem sie sich seine Fragestellung in kreativer Weise aneignen. Man interessiert sich weiterhin für das spezifische Verhältnis zu Dingen, Menschen, Zeit und Raum, das durch die „Kultur des Geldes“ entsteht und zur Zirkulation des Geldes gehört, ohne sich der „modern folk theory“ des Geldes zu verschreiben (Ho 2009, S. 187). In den letzten Jahren sind im Feld der Social Studies of Finance und der ökonomischen Anthropologie eine Reihe von „dichten Beschreibungen“ von Finanzmärkten, Handelsplätzen und Banken entstanden (Karin und Bruegger 2000, 2002; Ho 2009; Lepinay 2011; Zaloom 2006; Riles 2011). Von diesen Ethnografien lässt sich lernen, dass die Welt des Geldes nur unzureichend mit Indifferenz, Quantifizierung und Rationalität erfasst werden kann, denn körperliche Präsenz, lokale Interaktion, affektive Intensität sind nötig, um die Unmenge von quantitativen Daten und ihre Schnelligkeit zu handhaben. Geld- und Datenströme brauchen enge soziale Kreise, „skopische Medien“ und affektive Involviertheit, um als ökonomische „Werte“ verstanden und interpretiert zu werden (Karin und Bruegger 2002; Zaloom 2006). Diese Ethnografien können im weitesten Sinne als Teil einer Tradition verstanden werden, die bei Simmel ihren Ausgang nimmt, insofern sie die Welt- und Subjektverhältnisse studieren, die durch die Strukturen und Medien der monetären Zirkulation entstehen und diese hervorbringen.

1.2

Zirkulation, Verpflichtung, Anerkennung – Marcel Mauss, Pierre Bourdieu und ihre Aktualisierungen

Die französische Tradition der Soziologie und Anthropologie hat eine von Simmel und Weber deutlich unterschiedene Perspektive auf den Zusammenhang von Ökonomie und Kultur entwickelt. Die Arbeiten von Marcel Mauss sind für diese Tradition paradigmatisch. Anders als Émile Durkheim, der sich jenseits der Frage der Arbeitsteilung kaum mit ökonomischen Phänomenen beschäftigt hat, ist Mauss in seinen wissenschaftlichen wie politischen Texten Fragen von Kredit, Geld und Zirkulation nachgegangen. Mauss schlägt allerdings einen sehr eigenen Weg ein, um diese ökonomischen Phänomene als kulturelle Phänomene zu verstehen: Er betrachtet weder die kulturelle Entstehung noch die Effekte einer purifizierten ökonomischen Rationalität und Objektivität. Stattdessen sucht er nach den elementaren und universalen Formen der Verbindung von Kultur und Ökonomie, die in der Moderne

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– wenn auch in rudimentärer Form – weiter wirksam sind. Seine Analyse des Gabentausches in den sogenannten „archaischen“ Gesellschaften beschreibt eine solche Verbindung von Kultur und Ökonomie (Mauss 1990). Mauss zeigt auf, dass Tausch in archaischen Gesellschaften kein isolierter Akt ist, der dem ökonomischen Nutzenkalkül von ebenso isolierten Individuen folgt. Er ist Teil einer Zirkulation, die durch die Pflicht zu geben, zu nehmen und wiederzugeben strukturiert wird. Dieses weder „freiwillige noch rein wirtschaftliche“ Geben und Nehmen ist für Mauss ein „System der totalen Leistung,“ welches Recht, Ökonomie, Moral und Religion miteinander verbindet (Mauss 2013, S. 181–182). Telos dieser Art von Zirkulation ist die Herstellung und Aufrechterhaltung einer sozialen Beziehung. Insbesondere die „internationalen Beziehungen“ zwischen Kollektiven haben Mauss dabei interessiert (Mauss 1990, S. 21). Der Gabentausch geht damit über die Verteilung von Gütern im engeren ökonomischen Sinne hinaus: es ist ein Medium der (internationalen) Vergesellschaftung und des Sozialen. Für Mauss ist der „engere“ ökonomische Sinn einer Zirkulation nur dann gegeben, wenn Währungen, Marktpreise und Verträge die Verpflichtungen koordinieren und begrenzen (Mauss 2013, S. 178 und 182). In seinen Ausführungen beschreibt Mauss den engeren „ökonomischen“ Sinn der Gabe durch einen Vergleich mit dem Kredit (Mauss 1990, S. 84). Wie der Kredit zeichnet sich die Gabe durch eine zeitliche Frist aus, die Fälligkeiten markiert. Die Gabe muss mit Zinsen zurückerstattet werden. Das Versprechen in die Zukunft, das Pfand, die Frist und die Rückzahlungsnorm bestimmen sowohl Kredit als auch die Gabe. Aber anders als im ökonomischen Kredit sind diese Fälligkeiten für die Gabe nicht genau festgelegt und die Logik der „Rückzahlung“ dient der Aufrechterhaltung einer sozialen Beziehung. Der Kredit im Sinne des Gabentauschs ist immer schon Kultur, weil er Strukturen der Verbindlichkeit manifestiert, die Teil einer moralisch-symbolischen Ordnung sind. Mauss versteht seine Ausführungen zum Gabentauch als Beitrag zu einer „allgemeinen Theorie der Verpflichtung“ (Mauss 1990, S. 35). Das Besondere des Gabentauschs ist laut Mauss die Art der Verpflichtung, die Freiwilligkeit und Zwang beinhaltet und durch horizontale Strukturen der Zirkulation – und nicht durch hierarchische Formen von Autorität – abgesichert wird. Auffällig ist, dass Mauss Kultur und Ökonomie nicht grundsätzlich als Pole gegenüberstellt; gleichwohl unterscheidet er eine vormoderne, hybride Ökonomie von einer modernen, kalten Ökonomie. Im Gabentausch gibt es Ökonomie nur als Kultur und Kultur nur als Ökonomie. Ob man hier überhaupt noch sinnvollerweise von Ökonomie sprechen kann, ist Teil der Auseinandersetzung um sein Werk (Schüttpelz 2005, S. 194). Mauss selbst betont ausdrücklich, dass Verschwenden und Ausgeben „kein anti-ökonomisches Phänomen“ sei, „es ist ganz einfach das Gegenteil von Hauswirtschaft“ (Mauss’ 2013, S. 184). Teile der Philosophie und Sozialtheorie suchen in Mauss’ Text zum Gabentausch ein Modell des Sozialen, was gleichzeitig gegen Kollektivismus und Individualismus gerichtet ist und die Kategorien der Reziprozität und Anerkennung in das Zentrum rückt (Caillé 2006; Moebius 2006; Hénaff 2009). In dieser Lesart ist die Gabe einer ökonomischen Kalkulation grundsätzlich fremd. Diese Interpretation stützt sich auf die Tatsache, dass Mauss eine „archaische“ hybride und soziale Gaben(-ökonomie) einer „kalten“

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und „reinen“ Ökonomie in der Moderne gegenübergestellt hat (Mauss 1990, S. 172). Mauss ist mit dieser Gegenüberstellung zum Mitbegründer einer ökonomischen Anthropologie geworden, die die moralische und soziale Ökonomie vornehmlich in den vormodernen Gesellschaften verortet hat. Neben Konsumption und Produktion stehen vor allem die sozialen Modi der Distribution von Gütern im Vordergrund (Polanyi 1957a, b). Die gegenwärtigen Aktualisierungen von Mauss versuchen die Gegenüberstellung von modernem Utilitarismus und einer vormodernen, sozialeren Ökonomie hinter sich zu lassen. Wie Arjun Appadurai in seinem einflussreichen Aufsatz über The Social Life of Things gefordert hat, sei das Ziel „to restore the cultural dimension to societies that are too often represented simply as economies writ large, and to restore the calculative dimension to societies that are too often simply portrayed as solidarity writ large“ (Appadurai 1986, S. 12). Bei der Suche nach der Präsenz des Gabentausches in modernen Gesellschaften wendet man sich Phänomen wie dem Ehrenamt, der Philanthropie oder des Organspendens zu (Healy 2006; Adloff und Mau 2005). Umgekehrt schenkt man den unterschiedlichen Formen des Geldes und der Bewertung in „archaischen“ Gesellschaften mehr Aufmerksamkeit (Gudeman 2001; Guyer 2004). Insgesamt liegt der Fokus auf den Prozessen der Vergesellschaftung durch Zirkulation. Es geht um das „soziale Leben“ der Dinge oder die „materielle Kultur“ der Dinge (Appadurai 1986). Es ist nicht einfach, im Erbe von Mauss die Gegenüberstellung von Moderne und Vormoderne in der Analyse von „Ökonomie als Kultur“ aufzugeben. Oft bezeugen noch die Strategien der Überwindung die Mächtigkeit der traditionellen Binarisierung. Wenn man in der Moderne nach hybriden Formen der Ökonomie nicht im Zentrum der „kalten“ Ökonomie sucht, sondern in den expliziten und bewussten Experimenten der alternativen Ökonomie, dann bestätigt man gleichzeitig die Trennung, die man überwinden möchte. Denn die „harte“ oder „kalte“ Ökonomie wird dann von der Perspektive „Ökonomie als Kultur“ ausgenommen. Die Arbeiten von Pierre Bourdieu liefern ein sehr prominentes Beispiel für die unvollständige Überwindung der Grenzen von vormoderner, hybrider und moderner, reiner Ökonomie. Bourdieu benutzt Marcel Mauss als Inspirationsquelle, um in der Moderne die Vermischung von Kultur und Ökonomie zu beschreiben. Aber er sucht die Vermischung nur aufseiten der Kultur. Bourdieu zeigt auf, wie Bildung, Kunst oder soziale Beziehungen von einer „allgemeinen Ökonomie der Praxis“ beherrscht werden. Diese „allgemeine Ökonomie der Praxis“ ist für Bourdieu, genau wie die Gabenökonomie, ökonomisch und an-ökonomisch zugleich. Zwar geht es um Werte, Steigerung, Investition und Gewinn, aber kulturelle Güter und soziale Beziehungen müssen diesen ökonomischen Charakter zugleich verneinen und unterminieren: die Kalkulation muss unterbrochen werden, Zeit muss verstreichen und Gewinne müssen unsicher werden. Erst dann können sie als kulturelles oder soziales Kapital fungieren. Damit sind sie einer ökonomischen Logik unterworfen, die gleichzeitig nicht-ökonomisch ist (Bourdieu 2005, S. 143). Gegenüber dieser hybriden kulturellen Ökonomie ist die „monetäre“ und „ökonomische“ Ökonomie bei Bourdieu von den Unwägbarkeiten, den Zeitstrukturen und Obligationen der „allgemeinen Ökonomie“ ausgenommen. Sie ist „bloß“

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Ökonomie (Bourdieu 2005, S. 143). In den Momenten, wo Bourdieu eine soziologische Analyse der monetären Ökonomie anstrebt, greift er nicht auf ein Verständnis von „Ökonomie als Kultur“ zurück, sondern orientiert sich eher an dem wirtschaftssoziologischen Modell der Einbettung von ökonomischen Transaktionen in soziale Felder. Ihn interessiert beispielsweise, wie soziales und kulturelles Kapital die Art des Umgangs mit ökonomischen Investitionen bestimmt und finanztechnische Entscheidungen beeinflusst (Bourdieu 2002). Aktualität haben diese Arbeiten seit der Finanz- und Schuldenkrise von 2008 gewonnen, denn Bourdieus Hauptaugenmerk liegt auf dem Immobilienmarkt. Er zeigt auf, wie Kleinbürger in Immobilienkäufe verstrickt werden, die sie nicht überblicken und infolgedessen sie durch die Lasten des Kredits ihr Lebensglück verlieren. Wenn man die Welt des Kredits und der Zinsen ausgehend von Mauss’ Verständnis von „Ökonomie als Kultur“ beschreiben möchte, müsste man auf dieses Modell der Einbettung verzichten. Anders als Bourdieu müsste man dann nicht nur das soziale Versprechen der Mobilität und die sozialen Klassifikationen, die beim Kauf eines Hauses und der Gewährung des Kredits eine Rolle spielen, betrachten. Es müsste auch um die Strukturen der Obligation, die politischen Garantien und Rückzahlungsnormen gehen, die die Innovationen der finanztechnischen Bearbeitung von Schulden stützen. Man müsste die Obligationen im Zentrum der kalten Ökonomie aufzeigen. Wie die heutigen Debatten um Schulden zeigen – seien es individuelle Schulden oder Staatsschulden, ist die Frage, wer wann welche Schulden zahlen muss, auch in der „kalten“ Ökonomie von Uneindeutigkeit und moralischer Kommunikation bestimmt. Mauss’ Arbeiten in diesem Sinne zu lesen, als seien „wir nie modern gewesen“, ist ein noch ausstehendes Projekt (Tellmann 2014).

2

Kultur und Ökonomie – neuere Ansätze und die Auflösung einer Unterscheidung

Der am Anfang zitierte Aufruf aus den 1990er-Jahren, man möge endlich auch die „Ökonomie als Kultur“ analysieren, ist nicht bloß einer Geschichtsvergessenheit geschuldet, die die Arbeiten der Klassiker ignoriert. Wir haben es mit einer neuen Formierung eines Feldes, anderen Einsatzpunkten und neuen theoretischen Ressourcen zu tun. Im Gegensatz zu den Klassikern findet man keine modernisierungstheoretischen Annahmen über die Entwicklung des Kapitalismus, keine „folk theory“ des Geldes oder eine Festlegung des ökonomischen Gegenstandes auf die Frage der Zirkulation. Derartige begriffliche Setzungen werden eingeklammert, um eine radikale Denaturalisierung der ökonomischen Diskurse zu erreichen. Es ist schwierig in diesem interdisziplinären und sich überlappenden Forschungsfeld klare Unterscheidungen zu treffen. Dennoch möchte ich aus Darstellungsgründen drei Stränge der Debatte voneinander trennen: 1) Ökonomie als Diskurs, Narrativ und Fiktion 2) Ökonomie als Subjektivierung 3) Ökonomie als performativer Effekt. Obwohl jene Stränge sich durchaus überkreuzen und ineinander übergehen, zeigen sie unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und theoretische Hintergründe an. In der Skizzierung der unterschiedlichen Arbeiten und Theorieansätze

Ökonomie als Kultur

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werde ich immer wieder auf die analytische Ausgangsfrage zurückkommen: Wie wird hier das Ökonomische gefasst? Was bedeutet Kultur und welches Verständnis von „Ökonomie als Kultur“ resultiert daraus?

2.1

Ökonomie als Diskurs

Diejenigen, die in den 1990er-Jahren zunächst ansetzten, Ökonomie als Kultur zu begreifen, gehören in den Kontext einer politischen Anthropologie der Entwicklungspolitik (Escobar 2011; Mitchell 2002; Ferguson 1990). Das westliche Verständnis von „der Ökonomie“ wurde als kulturelles Konstrukt in den Blick genommen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die Verquickung von Macht und Wissen in der ökonomischen Expertise, die in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds, oder der Weltbank politische Interventionen angeleitet haben und das Verständnis des globalen Südens als „Entwicklungsländer“ produziert haben, aufzuzeigen. Die standardisierten politischen Interventionen auf Basis von „universalen“ ökonomischen Modellen und die Autorität der ökonomischen Expertise wurden auf diese Weise problematisiert. Ansatzpunkt der Analyse war in erster Linie die Frage nach der Repräsentation und Figuration von Ökonomie durch makroökonomische Modelle, Rechnungslegung und Kennzahlen, wie zum Beispiel durch die statistische Größe des Bruttosozialprodukts (Mitchell 1998; Speich 2013). Gleichzeitig sind die damit einhergehenden Ausschlüsse von bestimmten Praktiken als „nicht-ökonomisch“ – wie zum Beispiel die Hausarbeit aber auch andere informelle Subsistenzformen – hervorgehoben worden (Gibson-Graham 1996). Parallel dazu hat sich eine neue Geschichtsschreibung von ökonomischen Wissensformen etabliert, die sowohl in der Literaturwissenschaft, in der Wissensgeschichte und der intellektuellen Ideengeschichte zu finden ist. Hier ist die Frage forschungsleitend, wie die Wirtschaftswissenschaften ihren Gegenstand sichtbar machen: Wie wird die Ökonomie zu einem begrenzten, von der Politik unterschiedenen Bereich, der eigenen Gesetzen unterliegt? Wie entstehen die Annahmen über das Gleichgewicht und die Effizienz des Marktes (Ruccio und Amariglio 2003)? Welche narratologischen und rhetorischen Strategien werden verwendet (McCloskey 1998)? Welche Modellierungen, Visualisierung, Metaphern und Kalkulationsformen treten in den Vordergrund? Der Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Philip Mirowski hat beispielsweise die selektive Adaptionen von physikalischen Metaphern der Energie und der Feldtheorie seitens der neoklassischen Theorie aufgezeigt, welche erlauben, Gleichgewichtsmodelle auf die Ökonomie anzuwenden (Mirowski 1989). In den Bereich dieser neuen Wissensgeschichte der Ökonomie gehören auch die Vielzahl der historischen Arbeiten zur Quantifizierung und Rechnungslegung, die das ökonomische Denken im 20. Jahrhundert sehr stark bestimmt haben (Morgan 1990, 2001; Porter 2004; Schabas 1990; Désroisieres 2003). In dieser Geschichtsschreibung geht es darum, die Naturalisierungen des ökonomischen Gegenstandes aufzudecken, die Verankerung in der politischen Kultur aufzuzeigen und die historischen Auseinandersetzungen um die „Seele“ dieser Wissenschaft hervorzuheben (Fourcade 2009; Poovey 1998; Yonay 1998; Walker und Cooper 2011).

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Innerhalb dieser neuen Form der Wissensgeschichte hat die literaturwissenschaftliche Perspektive einen besonderen Anknüpfungspunkt zwischen Ökonomie und Diskurs freigelegt: Sprache und Geld gelten beide als Zeichensystem, die Bedeutung generieren und Gültigkeit festlegen. Beide entfachen Auseinandersetzungen über den Grund oder das Fundament ihrer Bedeutung und Gültigkeit (Michaels 1987; Shell 1999; Thompson 1996). Ausganspunkt für eine Reihe von Arbeiten ist die Beobachtung, dass das literarische Genre des Romans zusammen mit dem Papiergeld entstanden ist (Poovey 2008; Vogl 2002; Brantlinger 1996; Crosthwaite 2012). Es wird gezeigt, wie die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion in beiden Medien, dem Geld und der Literatur, gleichermaßen entfaltet und benutzt wird: So impliziere Kredit Narrative über die Zukunft und der Wert des Papiergeldes müsse als funktionierende und realitätsmächtige Fiktion verstanden werden (Boy 2014). Auch jenseits der literaturwissenschaftlich informierten Wissensgeschichte wird die Einsicht in die Besonderheit des Geldes als ökonomischer Gegenstand zum Vehikel, um „Ökonomie als Kultur“ zu studieren. Insofern Geld selbst in den Begriffen der Erwartung, Fiktion und Bedeutung gefasst wird, entstehen unmittelbare Verbindungsstellen zwischen kultureller und ökonomischer Praxis (Langenohl 2007). Die forschungsleitende These ist, dass Geldhandel und Geldpolitik in ihrer Funktionsweise und Rationalität an diskursive Ordnungen und Kulturtechniken gebunden sind. Marieke de Goede hat in ihrer Genealogy of Finance dabei die Objektivierungsstrategien und Ausschlusspraktiken aufgezeigt, die die Effizienz- und Rationalitätsannahmen des Geldhandels erst hervorbringen (2005). Der Anthropologe Bill Maurer stellt heraus, wie Geld Teil von pragmatischen Aushandlungen über die Bedeutung von Quantität und Qualität ist. Dabei werden die technischen Infrastrukturen der Bezahlung und die pragmatische Semiotik des Geldes in den Vordergrund gerückt (2006, 2008, 2012). Douglas Holmes hat erforscht, wie Geldpolitik von Zentralbanken explizit auf die kommunikative Modulierung von Erwartungen setzt, die die Geldpolitik erst funktionieren lassen. Geld und Kommunikation bilden zusammen die Erwartungen, die Geldwert und Geldumlauf stabilisieren (Holmes 2014). Insgesamt zeichnen sich die hier vorgestellten Ansätze durch zwei Formulierung von „Ökonomie als Kultur“ aus: Zum einen geht es sehr explizit um die Geschichte von ökonomischer Expertise. (Wirtschaftswissenschaftliches) Wissen wird als Teil der kulturellen Ordnung verstanden. Zum anderen wird Geld zum Vehikel, Ökonomie und Kultur zusammenzudenken. Weil und insofern Geld in Begriffen von Fiktion, Bedeutung und Diskurs verstanden wird, lässt sich „Ökonomie als Kultur“ begreifen.

2.2

Ökonomie als Subjektivierung: Regierungsrationalitäten und Affekte

Einer der prominentesten Ansatzpunkte der neueren Forschung zu „Ökonomie als Kultur“ ist die Analyse von Subjektivierungsprozessen. In der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie ist der ökonomische Mensch ein isolierter Akteur, der seinen eigenen Interessen und Präferenzen gemäß Nützlichkeiten kalkuliert. Die klassische Soziologie und die Politikwissenschaft haben oftmals die Irrealität dieser Annahmen

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über den ökonomischen Menschen kritisiert. Demgegenüber betont die kultursoziologische Betrachtung die historische, affektive, und politische Herstellung dieser Rationalität (du Gay 2005). Die Analyse von Subjektivierungsprozessen ist sehr stark von Foucaults Arbeiten zur liberalen Gouvernementalität inspiriert. Foucault argumentiert, dass der ökonomische Mensch als ein Instrument und Effekt von liberalen Regierungstechniken verstanden werden sollte. Die liberale Regierungstechnik stützt sich auf ein Subjekt, das auf unterschiedliche Anreize und Umweltbedingungen mit einer Wahl und einer Entscheidung antwortet (Foucault 2006a, b). Ein solches Subjekt ist durch indirekte Formen der Steuerung regierbar. Ökonomisierung meint in diesem Zusammenhang die Ausweitung von Wettbewerb, Responsibilisierung und Anreizstrukturen, die ein ökonomisches Subjekt gleichzeitig hervorbringen und regieren. Ökonomisierung ist damit Subjektivierung (Miller 1992; Rose 1993; Miller und Rose 1990; Dean 2013). Diese Forschungsperspektive hat eine aufschlussreiche Analyse von wohlfahrtsstaatlichen Regimen und betrieblichen Managementtechniken erlaubt, die seit den 1980er-Jahren unter dem Stichwort Postfordismus und Neoliberalismus eingeführt wurden (Opitz 2004). Diese Reformen und Techniken kulminieren in der Anrufung und Herstellung eines „unternehmerischen Selbst“, welches Risiken eingehen, Entscheidungen wagen, und Optimierungen anstreben soll (Bröckling 2007). Die permanente Überprüfung aller Aktivierungsmöglichkeiten, die Flexibilisierung von Arbeitswelten und die leistungsbezogene Modulierung von sozialen Sicherungssystemen gehören zu dieser Regierungslogik. Im Postfordismus besteht die Rationalität des ökonomischen Subjekts nicht mehr nur im Sparen, sondern im Prüfen, Entscheiden, Wählen, und Wagen (O’Malley 2012). Ein besonders prominentes Feld für die gegenwärtige Analyse von Subjektivierungsprozessen in der Ökonomie ist die Finanzialisierung. Finanzialisierung meint in diesem Kontext nicht einfach eine Dominanz des finanziellen Sektors, sondern die Präsenz von Investitionslogiken in vielen Lebensbereichen (Martin 2002; Langley 2007, 2008; Aitken 2006). Dabei ist die finanztechnische Bearbeitung von Zukunft ein hervorstechendes Merkmal (Esposito 2010). Finanztechnische Zukünfte beinhalten Ausgesetzt-Sein gegenüber einer volatilen und unsicheren Zukunft. Das „unternehmerische Selbst“ wird in der Finanzialisierung in einem gesteigerten Sinne zum ökonomischen Subjekt: es muss nicht nur in der Gegenwart wählen und flexibel sein, sondern sich und seine Umgebung im Hinblick auf eine finanzielle und zukunftsorientierte Wertbestimmung betrachten (Langley 2007). Finanztechnische Bearbeitung der Zukunft verlangt und erlaubt die permanente Reorganisation bereits gefällter Entscheidungen und die Neubewertung aller Optionen im Lichte zukünftiger Risiken und Verluste. Wie Maurizio Lazzarato in seinen Analysen zum „verschuldeten Subjekt“ argumentiert, tritt in der Verschuldung die Kehrseite dieser Subjektform auf. Sie zeigt die monetäre Responsibilisierung des Individuums für fehlgeschlagene Investitionen im Kontext von unkontrollierbaren Risiken (Lazzarato 2012). In den letzten Jahren hat man der Rolle des Affekts eine größere Beachtung in der Analyse von ökonomischer Subjektivierung geschenkt (Miyazaki und Swedberg 2016; Konings 2016). In der Ökonomie wurden bisher insbesondere Hoffnung und

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Furcht als zentrale affektive Stützen ökonomischen Handelns beschrieben. Statt Ökonomie als eine „kalte“ Logik zu verstehen, die den Affekten gegenübergestellt ist, wird betont, dass ökonomische Handlungen Affekte mobilisieren müssen. Nicht Distanzierung, sondern Involvierung und Verbindung zeichnen demnach das ökonomische Geschehen aus: der Thrill, die Hoffnung auf Gewinn, die Furcht vor Verlust und das Begehren nach Objekten gilt als konstitutiver Teil der ökonomischen Dynamik (Stäheli 2007; Thrift 2001). „Alles ist hier heiß, gewaltsam, aktiv, rhythmisiert, widersprüchlich, schnell, unterbrochen, dröhnend“ – so verweist Bruno Latour auf das Imbroglio der wirtschaftlichen Verbindungen, die mit der Logik der Interessen und Kalkulationen nur unzureichend erfasst würden (Latour 2014, S. 523). In dieser Theoretisierung des Affekts wird die Verklammerung von Subjektivierung und Regierungsrationalität gelockert: eher stehen die Dynamiken der Imitation und des Begehrens im Vordergrund, die als nicht-repräsentationale Operationsweisen verstanden werden. Das Ergebnis dieser Subjektivierungsweisen ist nicht mehr in In-dividuum, also eine Einheit, sondern ein Di-Viduum, d. h. ein durch Affektströme modulierte und durch Datenströme darstellbare, jederzeit zerlegbare und neu figurierbare Entität (Massumi 2014). In diesen sehr unterschiedlichen Ansätzen erlaubt der Fokus auf Subjektivierung ein präzises, aber auch begrenztes Verständnis von „Ökonomie als Kultur“ zu formulieren. Ökonomie wird in der Form des ökonomischen Menschen zum Gegenstand der Kultursoziologie. Insofern gezeigt werden kann, dass der „ökonomische Mensch,“ seine [sic] Rationalität und seine Begehren nicht natürlich besitzt, sondern erst historisch und kulturell aneignen muss, entsteht ein nicht ökonomistisches Verständnis von Ökonomie. In der Analyse von Subjektivierungsprozessen gibt es starke Überschneidungen mit anderen Theoriesträngen. Sowohl die Weber’schen Tradition als auch die im nächsten Abschnitt dargestellte „Performativitätsthese“ sowie die Aktualisierungen einer Simmel’schen Perspektive tragen zu dieser Geschichte des ökonomischen Subjekts bei. Größtenteils aber bestimmt der Foucault’sche Fokus auf die Verbindung von Regierungsrationalität, Liberalismus und Subjektivierung die Spezifik des hier vorgestellten Strangs der Debatte. Kultur ist dann ein begrifflicher Platzhalter für die Macht-Wissen-Komplexe, in denen Subjektvierungsprozesse stattfinden. Genau genommen müsste man hier von politischer Kultur sprechen, da es zumindest in der Foucault’schen Perspektive sehr spezifisch um Regierungsformen geht. Auffällig ist, dass in dieser Perspektive Ökonomie jenseits von Subjektivierungsprozessen nur schwer in den Blick genommen werden kann.

2.3

Ökonomie als Performativität der Modelle und Formeln

Die Performativitätsthese ist in der letzten Dekade zum prominentesten Ansatz in der Cultural Economy geworden und scheint alle anderen Forschungsstränge in sich aufzunehmen (Callon und Muniesa 2005; Mackenzie 2004). Mittlerweile lässt sich konstatieren, dass „in the recent growth of social and cultural approaches to economic life, the notion of the performative has been front and centre“ (Cooper und Konings 2016, S. 1). In der kürzesten Form kann man dieses Forschungsprogramm

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mit dem Slogan zusammenfassen, „economics performs the economy“. Michel Callon hat ursprünglich diese These entwickelt, als er die Akteur-Netzwerk-Theorie einem „Markttest“ unterworfen hat: Es ging darum zu prüfen, inwieweit der aus der Wissenschaftsforschung stammende Ansatz für die Erforschung der Ökonomie nutzbar gemacht werden kann (Callon 1998). Die Grundintention dieses Ansatzes ist, dass ökonomische Transaktionen und Kalkulationen höchst voraussetzungsreiche Praktiken sind. Bevor eine ökonomische Transaktion, Kalkulation, Entscheidung oder Wahl stattfinden kann, müssen eine Reihe von Apparaten, Rahmungen und Distanzierungen zum Einsatz kommen. Ökonomisches Handeln hat demnach eine Vielzahl von Möglichkeitsbedingungen, die die Kultursoziologie herausarbeiten soll. Das Hauptaugenmerk liegt dabei insbesondere auf den Prozeduren des Messens, Rechnens und Bewertens, aber es werden auch beispielsweise die Aufteilung von Räumen oder die Anordnung von technischer Infrastruktur in den Blick genommen. Dennoch haben Wissenspraktiken einen herausgestellten Status für diese Forschungsperspektive (Callon 2007). Wissenspraktiken werden hier im Unterschied zu den oben vorgestellten Ansätzen nicht im Hinblick auf Regierungsinstitutionen und -rationalitäten betrachtet, nicht an eine Theoretisierung des Geldes gebunden und nicht in eine Genealogie des liberalen, ökonomischen Subjektes eingebettet. Vielmehr geht es um die Herstellung ökonomischer Welten im Allgemeinen. Insofern ist die Generalität des Slogans „Economics performs the Economy“ programmatisch. Die Aussage „Economics performs the Economy“ kann leicht missverstanden werden. Er scheint eine quasi-souveräne Schöpfungsmacht wirtschaftswissenschaftlichen Wissens anzunehmen und einen kausalen Effekt von Wissen auf Realität zu behaupten. Wie aber Callon deutlich herausstellt, geht es vielmehr um den gesamten Apparat, oder die Assemblage, in der ökonomisches Wissen Teil der Herstellung einer bestimmten ökonomischen Welt wird (2007; Preda 2009). Gerade in den späteren Texten verweist Callon auf die Gesamtheit des „social technical agencement“, „that makes it possible to locate sources of action, establish origins, assign responsibilities, and account for profits and losses associated with a particular action“ (2005, S. 4). Wissenspraktiken sind immer Teil eines solchen „agencement“ und werden dadurch wirklichkeitsmächtig. „The economy is a world that includes economics as one of its components in its own right“ (Callon 2005, S. 8). Dabei wird der Begriff Performativität in den divergierenden empirischen Arbeiten, die sich auf die Performativitätsthese berufen, durchaus sehr offen und unterschiedlich verwendet: Das Verständnis von Performativität reicht von einer allgemeinen Annahme des Einflusses von Wissen in der Herstellung von ökonomischer Realität zu der spezifischen These, der Gebrauch einer Formel sei dann performativ, wenn die reale Preisentwicklungen sich an die Annahmen der Formel durch deren Anwendung angleichen (Mackenzie et al. 2007). In allen Fällen werden die wissenstechnischen Apparate nicht als Repräsentationen der Realität, sondern als Motoren des ökonomischen Geschehens erfasst (MacKenzie 2006). Die Performativitätsthese läuft also nicht auf eine Kritik von ökonomischen Modellen hinaus, deren Lückenhaftigkeit oder deren problematische Annahmen über Ökonomie herausgestellt

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werden. Stattdessen geht es um die Realitätsproduktion durch ökonomische Modelle oder dessen Scheitern. Der Moment des Zusammenbruchs oder der Krise von ökonomischen Modellen wird als Medium der Kritik und Erkenntnis behandelt. Callon geht davon aus, dass jeder Akt der Ökonomisierung immer ein Akt des Herausschneidens und Isolierens von Objekten, Subjekten, und Transaktionsmöglichkeiten ist. Dieses Herauslösen macht die Welt erst messbar, kalkulierbar und damit ökonomisierbar (1998). Aber insofern Verbindungen und Verflechtungen, Hybridität und Überschneidung ontologisch von der Akteur-Netzwerk-Theorie als vorgängig gesetzt werden, muss diese Rahmung und Herauslösung immer unvollständig sein. Sie wird beständig von den nicht aufgenommenen Verbindungen durchkreuzt: es gibt ein Überfließen und eine Destabilisierung durch die Verbindungen, die „externalisiert“ wurden und im Modell oder in der Berechnung nicht vorkamen. Der Zusammenbruch der ökonomisierenden Rahmung ist deshalb auch immer ein Ausweis der Partikularität und Kontingenz von ökonomischen Modellen. Insgesamt fördert die Performativitätsthese eine empirische Erforschung gegenwärtiger ökonomischer Praktiken. Dabei verzichtet sie auf eine umständliche und beschwerte theoretische Auseinandersetzung mit der Geschichte ökonomischen Denkens, den Vorannahmen oder blinden Flecken bestimmter Theoreme. Sie distanziert sich von der Aufgabe, eine eigene Einschätzung ökonomischer Theorien zu geben oder einen Begriff des Ökonomischen zu entwickeln. Die Definition des ökonomischen Gegenstandes ist Teil der Praxis, die sie untersuchen möchte. Ökonomie als Kultur meint hier die praxeologische Herstellung von bestehenden und historisch-kontingenten Definitionen von Ökonomie.

3

Cultural Economy – Fallstricke einer Erfolgsgeschichte

Man kann an dieser Performativitätsthese exemplarisch die Erfolgsgeschichte und die Fallstricke der kultursoziologischen Betrachtung von Ökonomie studieren. Die Performativitätsthese radikalisiert und verallgemeinert die Aussage „Ökonomie als Kultur.“ „Die Ökonomie“ wird in Herstellungspraxen und „Agencements“ aufgelöst. Kultur ist nicht (mehr) der Aspekt der Bedeutung und symbolischen Ordnung in ökonomischen Praktiken, sondern die Praxeologie des Herstellens selbst. Auffällig ist dabei, dass die Analyse von Wissenspraktiken der einzige Zugang zum ökonomischen Gegenstand ist. Die Performativitätsstudien verzichten auf eigene theoretische Bestimmungen von Ökonomie, legen kein machtanalytisches Raster auf ökonomische Praktiken und formulieren auch keinen eigenen Begriff des Geldes. Stattdessen verweisen sie immer wieder auf die Art, wie existierende Definitionen von Ökonomie eine bestimmte Form von Ökonomie herstellen. Aber lassen sich in der Tat die Herstellung ökonomischer Welten und Objektivität aus der Anwendung wirtschaftswissenschaftlichen Wissens rekonstruieren? Ist es ratsam, auf eine eigene Gegenstandsbestimmung zu verzichten? Inwieweit kann der theoretische Agnostizismus gegenüber dem Ökonomiebegriff durchgehalten werden?

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Anhand der Performativitätsthese lassen sich diese Fragen, die die Cultural Economy insgesamt betreffen, zum Abschluss diskutieren. Der Fokus auf Wissenspraktiken in den neueren Arbeiten der Cultural Economy kann eine empirische Relevanz für sich beanspruchen. Unzweifelhaft spielen Wissenspraktiken, Risikoberechnungen, Visualisierungen, Informationsverarbeitung für die gegenwärtigen Formen der Ökonomisierung und Finanzialisierung eine enorm wichtige Rolle (Kalthoff 2004; Knorr-Cetina und Preda 2001). Gerade die Ausweitung von Märkten und die zunehmend finanztechnische Bearbeitung von ökonomischer Zukunft hängen an diesen Praktiken. Unzweifelhaft gibt es also sehr viele gute Gründe, die Rolle von Wissen, Diskursen und Metrologien in den Vordergrund zu rücken sowie deren Materialität, Technizität und Weltmächtigkeit zu studieren. Dass die ausschließliche und vornehmliche Fokussierung auf Wissenspraktiken der Performativitätsthese auch problematische Seiten hat, ist bereits von unterschiedlichsten Seiten thematisiert worden. So verweist die Anthropologin Annelise Riles darauf, dass „from the perspective of [SSF] the most interesting question are epistemological; for example, How do facts get constructed in markets? [We should ask] whether SSF is too [committed] to its roots in the sociology of science to serve as an overarching framework for understanding markets in the first place. The notion of the financial market as an offshoot of science is an ideological claim that market makers themselves are fond of making“ (Riles 2010, S. 796). Die Soziologin Greta Krippner hat kritisch angemerkt, dass man auf diese Weise eine „intellektualisierte“ Geschichte der Finanzialisierung schreibe (Krippner 2011). Dabei können die Phänomene des „NichtWissens“ und der „Ignoranz“, die dennoch das „Ernten des Profits“ ermöglichen, nur schwer in den Blick genommen werden (Thrift und Leyshon 2007). Es drohe die Gefahr einer technisierten und aseptischen Behandlung der Finanzwelt. Judith Butler hat zu bedenken gegeben, dass eine Analyse der Performativität von ökonomischen Modellen ohne eine theoretische Reflexion auf die blinden Flecken, konstitutiven Ausschlüsse und historischen Grenzziehungen eine unkritische Haltung gegenüber der Wirtschaftswissenschaft fördere und das eigene kritische Urteil unmöglich mache (Butler 2010). In diesen kritischen Anmerkungen werden zwei Gefahren des Performativitätsansatzes angesprochen: zum einen die Gefahr, den ökonomischen Gegenstand auf eine Wissenspraxis zu reduzieren; zum anderen die Gefahr, die hegemonialen Selbstbeschreibungen von Ökonomie zu nähren und ihre analytischen und theoretischen Voreinstellungen zu übernehmen. Meiner Ansicht nach entstehen diese problematischen Konsequenzen des Performativitätsansatzes nur weil und insofern dieser Ansatz an einen expliziten theoretischen Agnostizismus gekoppelt wird. Während der empirische Nachvollzug der technisch-materiellen Assemblagen des Rechnens zum Königsweg der Analyse erklärt wird, vermisst man die tiefere Auseinandersetzung mit der theoretischen Gegenstandsbestimmung und Begriffsgeschichte von Ökonomie und dem Ökonomischen. Dieses Auseinanderfallen von empirischer und ethnografischer Arbeit auf der einen Seite und historischtheoretischer Reflexion auf der anderen Seite machen die Gefahren des Reduktionismus und der Distanzlosigkeit virulent.

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Ohne eine Verbindung zwischen Empirie und historisch-theoretischer Reflexion auf den Begriff des Ökonomischen fällt es zunehmend schwer, die Rolle von Wissenspraktiken für die Prozesse des Ökonomisierens zu spezifizieren – aus dem simplen Grund, dass man die einen nicht mehr vom anderen unterscheiden kann. Interessanterweise hat gerade Bruno Latour in seinem neuesten Werk Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne dieses Gleichsetzen von Epistemologisieren und Ökonomisieren beklagt und gefordert, man müsse besser benennen können, wie sich die Akte des Messens und Zählens in der Ökonomie von jenen Praktiken in der Wissenschaft unterscheiden. Denn in beiden Fällen sei man mit Inskriptionen, Instrumenten, Signalen und Modellen konfrontiert, aber ihre Bedeutung sei radikal unterschiedlich (2014, S. 623). Ohne die begriffliche Spezifikation dieses Unterschiedes besteht immer die Gefahr, dass der Fokus auf Wissenspraktiken zu einer Reduktion auf Wissenspraktiken führt. Wir müssten unseren Kopf „ent-epistemologisieren“ (ebd., S. 601). Die Trennung zwischen empirisch-ethnografischer Forschung und theoretischhistorischer Reflexion führt ebenso zu einem Mangel an Mitteln und Wegen, eine analytische Distanz zu der hegemonialen Modellierung von Ökonomie herzstellen. Bisher setzen Michel Callon und seine Mitstreiter auf das empirische Phänomen der Krise, der Kontroverse oder des Zusammenbruchs, um eine solche Distanz zu den hegemonialen Modellen des Ökonomisierens herzustellen. Krisen zeigten die Partikularität und Kontingenz, die Unvollständigkeit und Unabschließbarkeit der dominanten Formen des Ökonomisierens an. Aber was gilt für wen als Krise? Von welchem Beobachterstandpunkt werden bestimmte Ereignisse als Krise bedeutsam gemacht, während einer Vielzahl von Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten nicht diese Signifikanz zugesprochen werden (Roitman 2013)? Anders als im Fall der öffentlichen Kontroversen über genmanipulierte Sojabohnen, Atomkraft oder Rinderwahnsinn sind die öffentlichen Kontroversen über die Finanzwirtschaft weniger fokussiert. Finanztechnische Innovationen wie Derivate werden zumindest gegenwärtig nicht in der gleichen Weise oder im gleichen Umfang zum Objekt eines öffentlichen Streites wie die Gentechnik. Die Form des Streites über die Finanzwirtschaft ist zudem viel stärker an theoretische Vorstellungen über Geld, Fiktionalität, Materialität und Kollektivität gebunden. Es scheint aus diesem Grund angezeigt, die theoretische und historische Sensibilität für die konstitutiven Ausschlüsse, blinden Flecke und Kontingenzen in der Bestimmung des Ökonomischen zu kultivieren, anstatt diese vom Programm der Cultural Economy auszuschließen. Ohne eine solche theoretische Arbeit an der Konzeptualisierung des Ökonomischen fehlen nicht nur die Mittel, den Gefahren des Reduktionismus und der Distanzlosigkeit zu entgehen – es bleibt auch unerkannt, welche impliziten konzeptuellen Entscheidungen bereits getroffen wurden. Auch hier gilt die Vermutung, dass jene, die glauben, keine Theorie zu haben, meistens, wie John Maynard Keynes formulierte, „slaves of a defunct economist“ sind. Im Falle der Performativitätsthese handelt es sich nicht um einen dysfunktionalen Ökonomen, dem man anhängt, sondern um eine sehr lang bestehende und ehrwürdige Tradition in den Sozialwissenschaften. Entgegen der vorgegebenen Radikalität und Ablehnung eines eigenen theoretischen Modells von Ökonomie versteht die Performativitätsthese Ökonomi-

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sierung – ganz wie die Klassiker – in erster Linie als Distanzierung, Kalkulation und Quantifizierung. „To construct a market transaction, that is to say, to transform something into a commodity [. . .] it is necessary to cut the ties between the thing and the other objects or human beings [. . .] It must be decontextualized, dissociated and detached“ (Callon 1998, S. 19). Bereits Marx, Weber und Simmel haben Ökonomie als Prozess der Isolierung, Quantifizierung und Rationalisierung beschrieben – aber diese Beschreibung war eingebunden in eine umfassende theoretische Architektur, einen Kapitalismusbegriff und in eine Diagnose der Entfremdung und des Kulturverlustes. Die Aktualisierungen dieser klassischen Arbeiten stehen vor der Aufgabe, diese Annahmen und Diagnosen neu zu prüfen. Die Notwendigkeit, diese Annahmen über das Ökonomisieren und seine quasiontologische Beschreibung als Isolierung und Herauslösung zu überprüfen, ist gerade heute angezeigt. Denn die finanztechnischen Innovationen der letzten Jahre, die den Prozess der Finanzialisierung ausmachen, bestehen nur zum Teil aus Prozessen der Kommodifizierung im Sinne der Herauslösung und Isolation. Es handelt sich vielmehr gleichzeitig um das Schaffen von Verbindungen. Die finanztechnische Innovation der „Verbriefung“ multipliziert die Schuldenbeziehungen. Sie verketten unzählige Schuldner, Gläubiger, Hypotheken und Versicherungen miteinander. Die Verkettung von Zahlungsversprechen, Zahlungsfähigkeiten und Zahlungsversicherungen bilden ein Netz von Verbindlichkeiten. Davon ausgehend kann man sich fragen, ob insbesondere Finanzmärkte überhaupt angemessen in den Begriffen des Tausches beschreibbar sind (Knorr 2012, S. 122; Tellmann 2014). Diese Fragen verweisen auf die Notwendigkeit, die konzeptuelle Weiterentwicklung und Erprobung des Verständnisses von Ökonomie, des Ökonomischen und des Ökonomisierens zum Bestandteil der Cultural Economy zu machen. Es ist ein Plädoyer dafür, die empirische Erforschung des Wirksam-Werdens von „economists in the wild“ (Callon 2007) nicht von eine theoretisch-historischen Reflexion über die Begriffe des Ökonomischen zu trennen. Gerade weil und insofern das Begriffspaar von Kultur und Ökonomie so tief mit den für die Moderne konstitutiven Grenzziehungen verbunden ist, ist eine kultursoziologische Betrachtung von Ökonomie so aufschlussreich wie schwierig. Den Schwierigkeiten entkommt man nicht, indem man die Augen davor verschließt und den Ökonomen und Ökonominnen folgt.

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Politik aus kultursoziologischer Perspektive Sebastian M. Büttner

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Klassische kultursoziologische Zugänge zur Politik und zum Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aufschwung der Differenzierungstheorien und der politischen Kulturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Aktuelle kultursoziologische Perspektiven auf „das Politische“ und „die Politik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden unterschiedliche Ansätze und Perspektiven der kultursoziologischen Politikforschung vorgestellt und diskutiert. Ausgangspunkt ist eine Unterscheidung von klassischen Perspektiven, die Kultur stärker als Einflussfaktor auf Politik auffassen und neueren kultursoziologischen Ansätzen, die die vielfältige kulturelle Prägung von Politik stärker in den Mittelpunkt rücken. Der Beitrag ist insgesamt in drei Teile gegliedert und stellt die Entwicklung der kultursoziologischen Politikforschung im Wesentlichen chronologisch dar. Den Abschluss bildet die Darstellung aktueller Entwicklungen und Forschungsthemen in der kultursoziologischen Politikforschung. Schlüsselwörter

Politik · Politikforschung · Politische Kultur · Politische Soziologie · Herrschaftssoziologie · Poststrukturalismus

S. M. Büttner (*) Institut für Soziologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_39

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Einleitung

Die unterschiedlichen kultursoziologischen Perspektiven auf Politik sind ebenso vielfältig wie die Kultursoziologie selbst. Jeder Überblick über die relevanten Schriften und das Forschungsfeld muss daher unweigerlich unvollständig bleiben, da Schwerpunktsetzungen vorzunehmen sind und es zu selektieren gilt. Gleichwohl ist an dieser Stelle auch hervorzuheben, dass die Politik traditionell nicht als ein zentraler Forschungsgegenstand der Kultursoziologie angesehen wurde. Auch gibt es im weiten Feld der Politikforschung eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Forschungsansätzen, die keine explizite Verbindung zur Soziologie aufweisen, geschweige denn zur Kultursoziologie. Dies ist zum einen der vorherrschenden Arbeitsteilung innerhalb der Sozialwissenschaften geschuldet, nach der Politik der zentrale Forschungsgegenstand der Politikwissenschaften ist und nicht der Soziologie. Zum anderen spielen hier auch etablierte differenzierungstheoretische Deutungsmuster in der Soziologie eine gewisse Rolle, wonach Politik nur als ein Teilbereich von Gesellschaft aufgefasst wird und deshalb nicht immer zwingend im Mittelpunkt des soziologischen Interesses steht (Parsons 2005/1951; Münch 1992; Luhmann 2000). Der zentrale Ort der soziologischen Auseinandersetzung mit Politik ist hauptsächlich die „Politische Soziologie“ (Bendix und Lipset 1957; Lipset 1960; Eisenstadt 1971; Janoski et al. 2005; Kaina und Römmele 2009). Kultursoziologische Perspektiven sind hier zwar durchaus verbreitet und etabliert – etwa in der Forschung zu politischen Kulturen oder in der politischen Einstellungsund Werteforschung. Allerdings ist die Politische Soziologie aufgrund ihrer Zwischenstellung zwischen Soziologie und Politikwissenschaften weder exklusiv soziologisch ausgerichtet, noch speziell kulturtheoretisch fundiert. Dies ist nicht zuletzt auch darin begründet, dass Politik häufig überhaupt nicht als ein ‚kultureller‘ Gegenstand aufgefasst wird. In der klassischen ‚realistischen‘ Begriffstradition etwa wird Politik gemeinhin als eine Sphäre der Machtkämpfe und des Wettkampfs manifester (materieller) Interessen und Interessengegensätze verstanden (vgl. Weber 1988b/1919, S. 506; Morgenthau 1948). ‚Kultur‘ taucht in dieser Perspektive allenfalls als Nebendarstellerin oder als ein Nebeneffekt auf, der möglicherweise gewisse strukturelle Unterschiede zwischen Ländern zu erklären vermag, aber keinesfalls die Logik, die soziale Dynamik und die Struktur von Politik selbst (vgl. Skocpol 1979; Rokkan 2000).1 Diese betont realistisch-reduktionistische Konzeption von Politik wird in den neueren Kulturtheorien und in der heutigen Kultursoziologie jedoch vollends abgelehnt und verworfen (vgl. Nash 1999; Reckwitz 2004). Aus der Perspektive der Kultursoziologie gibt es in der sozialen Welt keine kulturlosen und kulturunabhängigen Objekte und Gegenstandsbereiche. Folglich kann es auch keine kulturunabhängige Sphäre politischer Machtkämpfe und 1

Diese Sichtweise lässt sich bis in die Gründungsphase der Sozialwissenschaften zurückverfolgen. Allen voran bis zum Historischen Materialismus von Marx und Engels, aber auch in der Gegenüberstellung von „Ideen“ und „Interessen“ in der Methodologie Max Webers (1988a/1920, S. 17–206) oder in der Unterscheidung von Real- und Idealfaktoren in Max Schelers Kultursoziologie (Scheler 1960/1926, S. 17–51).

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auch keine kulturunabhängige Betrachtung von Politik geben. Politik wird in der Kultursoziologie demnach als ein durch und durch kultureller Gegenstand verstanden, der nur mit den Mitteln der Kultursoziologie adäquat erfasst und erforscht werden kann. Zwischen diesen beiden Polen changieren die unterschiedlichen Zugänge zur Politik in den Sozialwissenschaften. In der folgenden Darstellung, die im Wesentlichen chronologisch angelegt ist, werden vor allem jene Schriften und Konzeptionen vorgestellt und diskutiert, die einflussreich waren und immer noch einflussreich sind für kultursoziologische Zugänge zur Politik und zum Politischen. Dies verweist auf eine weitere fundamentale Unterscheidung, die in einer einführenden Darstellung für das Forschungsfeld kultursoziologischer Politikforschung nicht fehlen darf. Dies ist die Unterscheidung zwischen „der Politik“ (politics bzw. la politique) und „dem Politischen“ (the political bzw. le politique), die in den gegenwärtigen kultursoziologischen Debatten – insbesondere in den politiktheoretischen Debatten im Umkreis des französischen Poststrukturalismus – stark in den Mittelpunkt gerückt ist (Bedorf und Röttgers 2010; Marchart 2010). Denn „politisch“ sind nicht nur jene Angelegenheiten und Konstellationen, die in einer weitgehend spezialisierten Sphäre der institutionellen Politik ausgehandelt werden. Das „Politische“ weist vielmehr weit über die Sphäre der institutionellen Politik hinaus und schließt Diskussionen über Grundfragen des Zusammenlebens in der Alltagswelt und grundlegende gesellschaftliche Konfliktkonstellationen in einem umfassenderen Sinne mit ein. Diese Unterscheidung zwischen einem engeren und einem weiteren Verständnis von Politik taucht auch in der folgenden Darstellung unterschiedlicher Konzepte der kultursoziologischen Politikforschung immer wieder auf, auch wenn in den einzelnen Ansätzen nicht immer trennscharf zwischen „der Politik“ und „dem Politischen“ unterschieden wird.

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Klassische kultursoziologische Zugänge zur Politik und zum Politischen

Ein eindeutiger Anfangs- und Ausgangspunkt der kultursoziologischen Politikforschung lässt sich kaum benennen. Vorläufer der (kultur-)soziologischen Auseinandersetzung mit dem Politischen und der Politik reichen mindestens bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts oder sogar bis ins 18. Jahrhundert zurück. In den politischen und sozialphilosophischen Schriften der europäischen Aufklärung finden sich Bezüge und Denkfiguren, die die (kultur-)soziologische Diskussion und Reflexion von Politik im weitesten Sinne mitbeeinflusst haben. Man denke etwa an die Schriften der französischen Aufklärung und der schottischen Moralphilosophie, an die idealistischen Staatstheorien von Kant und Hegel oder an Kants Ausführungen zum „Kosmopolitismus“ und zum „demokratischen Frieden“ in seiner berühmten Friedensschrift (Kant 2011/1795). Als eine der frühesten Quellen einer soziologischen Analyse der kulturellen Grundlagen von Politik kann Alexis de Tocquevilles (2011/1834) berühmte Schrift Über Demokratie in Amerika aus dem Jahr 1834 angesehen werden. Tocqueville

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legte mit dieser als Reisebericht angelegten Studie eine luzide soziologische Analyse des damaligen politischen Systems der Vereinigten Staaten vor. Seine detail- und materialreiche Studie galt Generationen von Intellektuellen in Europa und auch weit darüber hinaus als eine zentrale Referenz für die Beschreibung der spezifischen sozio-kulturellen Determinanten von Demokratie (Bellah et al. 1985). Eine weitere wichtige Referenz aus der Frühphase der Kultursoziologie stellt auch Karl Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte aus dem Jahr 1852 dar (Marx 2007/ 1852). Diese Schrift, die die Ereignisse rund um die Zweite Französische Revolution im Februar 1848 bis zur Konterrevolution durch Louis Bonaparte am 2. Dezember 1851 zum Thema hat, gilt bis heute als einer der wichtigsten Texte zur Theorie und zur Gesellschaftsgeschichte moderner Revolutionen (Brunkhorst 2007). Marx greift dabei ganz bewusst auf Begriffe und Interpretationsschemata aus der Poesie und Dramaturgie zurück. Er liefert auf diese Weise eine originelle Interpretation der gescheiterten Revolution von 1848. Darüber hinaus formuliert Marx en passant eine soziologische Deutung von geschichtlichen Prozessen und Ereignissen, die auch heute noch lesenswert ist. Ein wichtiger Ausgangspunkt, wenn nicht der zentrale klassische Bezugspunkt der Analyse von Politik aus der Perspektive der Kultursoziologie, ist zweifelsohne das Werk von Max Weber, vor allem durch seine Beiträge zu einer Soziologie der Herrschaft (Weber 1980/1921, S. 122–76). Die Grundlage bildet hier ganz wesentlich die Frage nach der Legitimität von Herrschaftsverhältnissen und politischen Ordnungen. Diese können sich nach Weber nur dann etablieren und stabilisieren, wenn sie zu einer gewissen Zeit von einer gewissen Anzahl an Gesellschaftsmitgliedern anerkannt und damit als „legitim“ erachtet werden. Davon ausgehend unterscheidet Weber drei verschiedene Typen „legitimer Herrschaft“: die traditionale, die charismatische und schließlich die rational-legale Herrschaft, die sich mit zunehmender Rationalisierung von Kultur, so Webers These, zur dominanten Form der Herrschaftsausübung entwickelt hat. In seinen religionssoziologischen Schriften gibt Weber zudem viele Anknüpfungspunkte für eine fundierte (kultur-)soziologische Analyse des Zusammenhangs von Religion und Herrschaft beziehungsweise für ein grundlegendes Verständnis der Rolle von (religiösen) Ideen und Weltbildern für die Etablierung und Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen (Weber 1988a/1920).2 In einem seiner letzten Beiträge, dem Vortrag Politik als Beruf (Weber 1988b/1919), den Weber kurz vor seinem Tod im Jahr 1919 in München hielt und zu einem längeren Essay ausbaute, legte Weber darüber hinaus auch eine Analyse der Veränderung von Politik im Zuge von Modernisierungsprozessen vor. Er verweist auf einen fundamentalen Wandel vom traditionellen System der „Honoratiorenpolitik“ hin zur modernen Partei- und Berufspolitik. Webers Aufsatz ist zusammen mit Robert Michels (1911) Studie zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen

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Dabei betont Weber nicht nur die besondere Stabilität religiös und ideologisch fundierter Herrschaftsverhältnisse, sondern auch die besondere politische Spannung und Dynamik, die sich aus den Konflikten rund um die adäquate Auslegung und Deutung von religiösen Lehren im Kampf zwischen „Orthodoxie“ und „Heterodoxie“ ergeben (Weber 1988a/1920).

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Demokratie der klassische Bezugspunkt der Diskussionen zur „Professionalisierung von Politik“ in der Politischen Soziologie (Bourdieu 2001; Borchert 2003; Büttner et al. 2016). Von Georg Simmel und anderen Gründungsfiguren der Soziologie wie etwa von Ferdinand Tönnies, Émile Durkheim oder Gabriel Tarde sind keine oder nur wenige Studien und Schriften zur Politik überliefert. Ferdinand Tönnies hat sich zwar auch ausführlich mit Fragen der politischen Philosophie (Tönnies 1901), mit staatswissenschaftlichen Fragen (Tönnies 1917) und als einer der ersten Soziologen überhaupt mit der Rolle der öffentlichen Meinung in modernen politischen Gemeinwesen auseinandergesetzt (Tönnies 2002/1922). Seine politischen Schriften sind in der gegenwärtigen Diskussion jedoch kaum mehr präsent. Dies ist anders bei Émile Durkheim, obwohl seine Schriften nur in einem weiteren Sinne als Beiträge zur Politischen Soziologie oder zur kultursoziologischen Politikforschung angesehen werden können. Durkheims Analyse zur Veränderung des Kollektivbewusstseins in seinem Hauptwerk Über soziale Arbeitsteilung (Durkheim 1993/1893) kann jedoch auch heute noch als Grundlage für die Analyse der Transformation von etablierten Gemeinschaftsorientierungen durch wachsende grenzüberschreitende Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen herangezogen werden (Münch und Büttner 2006). In seinen religionssoziologischen Studien setzte sich Durkheim darüber hinaus intensiv mit den kulturellen Grundlagen und sozialen Mechanismen von Gemeinschaftsbildung auseinander (Durkheim 2007/1912). Diese Studien bilden den Hintergrund für aktuelle kultursoziologische Forschungen zur gemeinschaftsstiftenden Rolle von Ritualen in der Politik und für die Auseinandersetzung mit den sakralen Sinngehalten gegenwärtiger politischer Praxis (Bellah 2005; Alexander et al. 2006; Joas 2011). Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Sozialwissenschaften in unterschiedliche Fachrichtungen begann sich allmählich auch eine gewisse Arbeitsteilung zwischen der Soziologie und den Politikwissenschaften zu etablieren. Dieser Prozess war in den 1920er-Jahren in der Zeit nach Max Webers Schaffen jedoch noch längst nicht abgeschlossen. So stellt etwa Karl Mannheim noch im Jahr 1929 im Zweiten Teil seines berühmten Werkes Ideologie und Utopie die Frage „Ist Politik als Wissenschaft möglich?“ (Mannheim 1929, S. 67 ff.). Ausgangspunkt seiner wissenssoziologischen Überlegungen ist die Annahme einer fundamentalen sozialen „Seinsgebundenheit“ (Mannheim 1929, S. 32) des Wissens (auch des wissenschaftlichen Wissens), die sich in der Wissenschaftstheorie und in der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend durchgesetzt hatte. Dies führt Mannheim schließlich zur Feststellung eines „allgemeinen“ und „totalen Ideologiebegriffs“ im politischen Denken und in der politischen Praxis, wonach jede Art von politischer Idee als ein bestimmter Denkstil aufgefasst werden kann, der aus der Perspektive anderer Denkstile notwendigerweise als partikular beziehungsweise als „ideologisch“ erscheint. Auf Basis dieser wissenssoziologischen Grundannahmen widmet sich Mannheim im Zweiten Teil von Ideologie und Utopie ausführlich der Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten von Politik als Wissenschaft. Er weist dabei auf die Gefahren einer zu starken wissenschaftlichen Einhegung des „irrationalen Spielraums“ von Politik hin, die insbesondere dann problematisch ist, wenn politi-

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sche Fragen in rein technische und verwaltungsmäßig gestaltbare Fragen verwandelt würden (Mannheim 1929, S. 72 f.). Mannheim zeigt demnach bereits gegen Ende der 1920er-Jahre eine Problematik moderner Politik auf, die in den heutigen Debatten über „Post-Demokratie“ (Crouch 2008) und „Post-Politik“ (Rancière 2002; Mouffe 2007) eine neue Aktualität erfahren hat. Neben Karl Mannheim kann auch Norbert Elias, in den Jahren von 1930 bis 1933 einst auch Assistent von Mannheim an der Universität Frankfurt, zu den Klassikern der kultursoziologischen Politikforschung gezählt werden. Elias schließt jedoch mehr an die Herrschaftssoziologie Max Webers an als an Karl Mannheims wissenssoziologische Analysen von politischen Ideologien und Denkstilen. In seinen Studien zur Höfischen Gesellschaft (Elias 1983) und zum Prozess der Zivilisation (Elias 1976/1939) ergänzt Elias Max Webers Studien zur Staatsbildung und zur zunehmenden Bürokratisierung von Herrschaft um genauere Prozess- und Figurationsanalysen der Veränderung der Praxis von Politik im Übergang von Mittelalter und Neuzeit in Europa. Er zeichnet dabei einen fundamentalen Wandel der Verhaltensdispositionen in der höfischen Gesellschaft nach, der sich in einer Veränderung von Scham- und Peinlichkeitsschwellen äußert und in einer zunehmenden Verfeinerung höfischer Sitten und Umgangsformen. Dies führt Elias zur These einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz zur Umstellung von äußeren Zwängen auf zunehmende Selbstkontrolle im Übergang vom Mittelalter zu Neuzeit (Elias 1976/1939, Band II). Eine These, die – in veränderter Form zwar und unter anderen theoretischen Prämissen – Jahrzehnte später auch von Michel Foucault in seinen Studien zur Veränderung von Strafpraktiken und zur Entstehung einer modernen „Gouvernementalität“ aufgegriffen und weiterentwickelt wurde (Foucault 1993/1975, 2006). Schließlich kann auch das Werk des politisch nicht unumstrittenen Staatsrechtlers, Philosophen und Soziologen Carl Schmitt in die Reihe der klassischen Grundlagen einer Kultursoziologie der Politik eingeordnet werden. Denn Schmitt hat sich zur selben Zeit wie Mannheim und Elias wie kaum ein anderer mit Fragen der Politik, der Staatslehre und der politischen Theorie auseinandergesetzt. Besonders einschlägig für die Kultursoziologie sind Schmitts Ausführungen zum Begriff der staatlichen Souveränität, zum Ausnahmezustand und zur politikwissenschaftlichen Begriffsgeschichte in seinem 1922 erschienenen Werk Politische Theologie (Schmitt 2004/1922).3 Darüber hinaus hat Schmitt in seinem Essay Der Begriff des Politischen aus dem Jahr 1927 (beziehungsweise in erweiterter Fassung 1932) eine Definition des Politischen eingeführt (Schmitt 1991/1932), die in heutigen politik-

So schreibt Schmitt in Kap. III von Politische Theologie: „Alle Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipräsenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur [. . .].“ (Schmitt 2004/1922, S. 43). Schmitt weist hier ähnlich wie die Klassiker der Kultursoziologie auf Parallelen und Kontinuitäten zwischen der modernen Sozialordnung und früheren religiös geprägten Sozialordnungen hin. Das Konzept des Ausnahmezustands, das Schmitt in selbigem Buch entfaltet, dient auch heute noch als Ausgangspunkt für Reflexionen zum Ausnahmezustand in der aktuellen politischen Philosophie (Agamben 2004). 3

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und kulturtheoretischen Debatten wieder verstärkt aufgegriffen wird (Laclau und Mouffe 1991; Mouffe 2007; Marchart 2010). Konstitutiv für Schmitts Definition des Politischen ist die Unterscheidung von Freund und Feind, die Schmitt in seinem Essay ausführlich erläutert.

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Aufschwung der Differenzierungstheorien und der politischen Kulturforschung

Die Zeit ab Mitte des 20. Jahrhunderts gilt gemeinhin als eine Zeit der Konsolidierung und Professionalisierung der Sozialwissenschaften und damit auch als jene Phase, in der sich die Differenzierung unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Einzeldisziplinen vollends durchsetzte. Diese Tendenz zur disziplinären Arbeitsteilung wurde auch befördert durch den Aufschwung der Differenzierungstheorien in den Sozialwissenschaften, allen voran in Gestalt der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie von Talcott Parsons (Parsons 1969, 2005/1951). Das Werk von Talcott Parsons war in vielerlei Hinsicht grundlegend für die Entwicklung der Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit und damit auch prägend für die Weiterentwicklung der Politischen Soziologie. Parsons unterteilt die Gesellschaft beziehungsweise das „soziale System“ in die vier Subsysteme Wirtschaft, Politik, Gemeinschaft und Normerhaltung, die gemäß seiner strukturfunktionalistischen Grundannahme jeweils unterschiedliche Funktionen für die Aufrechterhaltung des sozialen Systems erbringen und in sich wiederum in vier Subsysteme unterteilt sind. ‚Kultur‘ ist in der Konzeption von Parsons somit streng genommen nicht Teil des Politiksystems, sondern eine – wenn auch nicht unbedeutende, da fundamentale – externe Grundlage der Systembildung. Das politische System ist jenes gesellschaftliche Subsystem, das für die „Zielerreichung“ („goal attainment“) des Sozialsystems zuständig ist. Hier wird demnach um die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen gerungen. Entsprechend ist Macht das vorherrschende symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium im Politiksystem – analog zu „Geld“ im Wirtschaftssystem, „Einfluss“ im Gemeinschaftssystem und „Wertbindung“ im System der Normerhaltung (Parsons 1969). Das Politiksystem ist schließlich selbst wiederum in vier funktionale Teilsysteme untergliedert, zu denen neben dem System des politischen Austausches auch die Verwaltung, das Rechtssystem und die Verfassung gehören (Münch 1992, S. 305 ff.). Parsons betont jedoch nicht nur die Differenz und die Abgrenzung der einzelnen Teilbereiche, sondern auch die wechselseitigen Abhängigkeiten und die besonderen Verbindungen der einzelnen Teilbereiche zueinander. Dies hat Parsons insbesondere in seinen Analysen zur Herausbildung des gesellschaftlichen Gemeinschaftssystems in den USA und in seinem Erklärungsversuch zur Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland verdeutlicht (Parsons 1993). Diese Analysen sind exemplarisch für die integrative Forschungsperspektive der Systemtheorie von Talcott Parsons und für den besonderen modernisierungstheoretischen Impetus, der die Theorie von Parsons und die Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit insgesamt kennzeichnete. Denn Parsons erklärt die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland

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im Wesentlichen aus einem spezifischen Ungleichgewicht und einer Inkongruenz in der Entwicklung der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme. Er weist hier speziell auf eine extreme Dis-Balance zwischen überkommenen Gemeinschaftsnormen und entsprechenden traditionellen kulturellen Orientierungen im Gegensatz zu einer rasanten Entwicklung von Politik und Wirtschaft in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik hin. Diese dezidiert modernisierungstheoretische Forschungsperspektive bildet auch die Grundlage für die eingehendere Erforschung der „politischen Kultur“ in der Politischen Soziologie ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Als klassischer Ausgangspunkt dieses Forschungszweigs gilt das Werk The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations von Gabriel A. Almond und Sidney Verba (1963), die sich explizit auf das Modell gesellschaftlicher Entwicklung und auf den Kulturbegriff von Parsons stützten (Gabriel 2009, S. 18 f.). Diese für die politikwissenschaftliche Kulturforschung und insbesondere auch für die Erforschung der kulturellen Grundlagen von Demokratie sehr einflussreiche Publikation bildet auch die Grundlage für den Aufstieg der politischen Einstellungsforschung (Klingemann und Fuchs 1995; Kaase und Newton 1995) sowie der globalen ländervergleichenden Wertewandel-Forschung (Inglehart 1977; Inglehart und Welzel 2005). Bedeutende Beiträge zur kultursoziologischen Politik- und Demokratieforschung in der Tradition von Parsons stellen darüber hinaus auch die beiden neueren Klassiker Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life von Robert N. Bellah und Kollegen (2007/1985) sowie Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy von Robert Putnam und Kollegen (1993) dar. Auch die Schriften des Kommunitaristen Amitai Etzioni können in diese Forschungstradition eingeordnet werden, wenngleich seine konflikttheoretische Konzeption einer „aktiven Gesellschaft“ bereits Ende der 1960er-Jahre stark von Parsons’ Strukturfunktionalismus abwich (Etzioni 1995, 2009/1968).4 Während ‚Kultur‘ in der klassischen Theorietradition von Parsons in erster Linie als Einflussfaktor auf Politik gesehen wird – etwa in Form von Einstellungen (attitudes), Werten (values) sowie grundlegenden kulturellen Orientierungen (cultural orientations) – rücken andere differenztheoretische Gesellschaftstheorien die Politik stärker als kulturelles Phänomen in den Mittelpunkt. Dies gilt vor allem für Niklas Luhmanns systemtheoretische Konzeption von Politik (Luhmann 2000, 2010). Luhmann übernimmt von Parsons die Idee der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Er radikalisiert dessen interaktions- und austauschtheoretische Medientheorie jedoch durch eine fundamentale kommunikationstheoretische Konzeption, die stärker die selbstreferenzielle systemspezifische Selektion und

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Eine wichtige Erneuerung und Weiterentwicklung stellt zudem das Werk von Shmuel N. Eisenstadt dar. Er erweitert die klassische Modernisierungstheorie von Parsons ebenso um eine konflikttheoretische Komponente. Auch weist er der Rolle von kulturellen Codes und kollektiven Identitätssymbolen eine zentrale Stellung bei der Analyse von sozialen Ordnungen und von sozialem Wandel zu (Eisenstadt 1979). Insofern geht Eisenstadt weit über Parsons hinaus und markiert bereits den Übergang hin zu neueren, stärker kulturalistisch fundierten Konzeptionen von Politik und politischen Prozessen in der Soziologie.

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autopoietische Verarbeitung von Sinn in den Mittelpunkt rückt. Auf diese Weise holt Luhmann die Kultur gewissermaßen „ins System“ (Nassehi 2010, S. 380). Die Selektion von gesellschaftlicher Kommunikation auf Basis des Mediums Macht markiert die Grenze des Politiksystems nach außen und strukturiert alle internen Programme und Operationen. Dies prägt in der Konzeption der Luhmann’schen Systemtheorie weltweit die Logik von Politik und grenzt das Politiksystem eindeutig von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen ab (etwa dem System des Rechts oder der Wirtschaft) – ungeachtet aller bestehenden regionalen und ideologischen Unterschiede. Eine weitere wichtige Variante einer differenzierungstheoretisch und zugleich kultursoziologisch angelegten Perspektive auf Politik ist Pierre Bourdieus praxisund feldtheoretische Konzeption des politischen Feldes (Bourdieu 2001). Das politische Feld ist laut Bourdieu ein besonderer sozialer Raum, in dem politische Macht konzentriert ist und in dem um politisches Kapital gerungen wird. Zugang zum Feld haben nur Akteure, die über eine bestimmte materielle und kulturelle Grundausstattung verfügen (insbesondere Zeit, Geld und Bildung) und die Spielregeln des Feldes beherrschen. Das politische Feld ist nach Bourdieu demnach weitgehend abgekoppelt von der „normalen“ Bevölkerung, wenngleich die Akteure des politischen Feldes ähnlich wie bei Weber stets auch abhängig bleiben vom Vertrauen und der „Duldung“ durch die Bürger. Bourdieu hebt somit vor allem auf systematische sozialstrukturelle Ungleichheiten in den politischen Beteiligungschancen ab. Seine feldtheoretische Konzeption von Politik ermöglicht eine fruchtbare Verknüpfung von Ungleichheitsforschung, Politischer Soziologie und Kultursoziologie.5

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Aktuelle kultursoziologische Perspektiven auf „das Politische“ und „die Politik“

Mit dem Aufstieg der „neuen Kulturtheorien“ (Reckwitz 2000) sind auch die kulturellen Aspekte der Politik und des Politischen wieder stärker in den Fokus der Politischen Soziologie gerückt (Nash 1999; Reckwitz 2004). Dominierend sind hier vor allem Konzepte und Forschungsansätze, die im weitesten Sinne dem Kontext des französischen Poststrukturalismus entspringen. Daneben gibt es in der Nachfolge von Parsons und im Anschluss an die französischen Ansätze auch in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Autorinnen und Autoren, die in aktuellen kultursoziologischen Forschungen prominent vertreten sind. Es ist jedoch hervorzuheben, dass die aktuelle Forschungslandschaft im Bereich der kulturalistisch orientierten Politikforschung insgesamt durch eine große Transdiziplinarität gekennzeichnet ist. Das heißt, eine klare Abgrenzung von (kultur-)soziologischen Perspektiven 5

Neben Bourdieus Schriften zur Politik sind in jüngerer Vergangenheit auch die Vorlesungen Bourdieus Über den Staat am Collège de France aus den Jahren 1989 bis 1992 erschienen (Bourdieu 2014). Bourdieu entwickelt in diesen Vorlesungen vor allem auch seinen Begriff der „symbolischen Gewalt“ als Grundlage der besonderen Staatsmacht und der Stabilität von staatlichen Ordnungen in Ergänzung zur üblichen Betonung des physischen Gewaltmonopols.

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auf Politik etwa gegenüber politikwissenschaftlichen oder anthropologischen Perspektiven ist somit kaum mehr möglich. Denn auch in den Politikwissenschaften und angrenzenden Disziplinen gibt es heute eine Fülle von kulturalistischen Ansätzen und viele Überschneidungen zu aktuellen soziologischen, anthropologischen und kulturwissenschaftlichen Theoriediskussionen (Schwelling 2004; Jörke 2005). Von den heute einflussreichen Ansätzen und Debatten aus dem französischen Kontext sind zuvorderst die bereits erwähnten neueren „Klassiker“ Pierre Bourdieu und Michel Foucault hervorzuheben. Bourdieus Praxis- und Feldtheorie ist gegenwärtig sehr prominent in der politischen Soziologie vertreten (Bernhard und Schmidt-Wellenburg 2012; Adam und Vonderau 2014). Dies gilt nicht zuletzt auch für die aktuelle soziologische Europaforschung, in der die Europapolitik und ihre konflikthaften Tendenzen und Spannungen zu etablierten nationalen Feldern in den vergangenen Jahren verstärkt mit den Mitteln der Feldtheorie analysiert werden (Bigo 2007; Bernhard 2010; Georgakakis und Rowell 2013; Büttner und Mau 2014). Michel Foucaults Vorlesungen zur „Geschichte der Gouvernementalität“ (Foucault 2006) gaben den Anstoß für die Entstehung der sogenannten „Gouvernementalitätsstudien“, die ein interdisziplinär und international weit verzweigtes Forschungsfeld darstellen (Burchell et al. 1991; Bröckling et al. 2000; Miller und Rose 2008). Im Mittelpunkt der Gouvernementalitätsstudien steht die Analyse der vielfältigen Formen des Regierens weit über die staatliche Herrschaft im engeren Sinne hinaus. Gemäß Foucaults Verständnis von „Gouvernementalität“ (Foucault 2006, S. 162 f.) arbeiten die Gouvernementalitätsstudien die besonderen Institutionen, Techniken, Strategien sowie die spezifischen Macht-Wissen-Formationen heraus, die heutige Formen des Regierens im Zeitalter fortschreitender Liberalisierung und Technisierung prägen. Ein ähnliches Anliegen verfolgen auch jene Forschungsarbeiten, die sich gegenwärtig verstärkt aus der Perspektive der sogenannten Science-and-Technology-Studies (STS) der Analyse von Techniken, Akteuren, Strukturen und Inhalten politischer Steuerung widmen. Die STS sind mittlerweile ähnlich prominent und international verbreitet wie die Gouvernementalitätsstudien. Den theoretischen Hintergrund bilden hier neben Foucault jedoch vor allem die sozialphilosophischen Schriften von Bruno Latour sowie die besondere praxistheoretische Forschungsmethodologie, die Latour zusammen mit Kollegen im Laufe der 1970er- und 1980erJahre im Kontext der ethnografischen Wissenschaftsforschung entwickelt hat (Latour und Woolgar 1979). Die STS zielen auf die Erforschung des Zusammenhangs von technologischer Entwicklung, Expertensystemen und politischer Steuerung in der Gegenwartsgesellschaft ab (Jasanoff 2005; Freeman und Voß 2016). Ziel ist es, ein neues Verständnis von „Kultur“ und „Gesellschaft“ in den Sozialwissenschaften zu etablieren, das technische Objekte und hybride Mensch-TechnikFormationen explizit miteinschließt. Entsprechend geht es den STS auch um eine Neujustierung bestehender Konzeptionen des Politischen und von politischer Praxis (Latour 2009). Ein weiterer wichtiger Beitrag der neueren französischen Theoriediskussion zur gegenwärtigen kultursoziologischen Analyse von politischen Akteuren und Prozessen stammt aus dem Umfeld der sogenannten „Soziologie der Konventionen“

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(Diaz-Bone und Thévenot 2010). Die Soziologie der Konventionen interessiert sich in der Tradition der Ethnomethodologie und pragmatistischer Ansätze in der Soziologie vor allem für mikrosoziologische und mikropolitische Prozesse der Artikulation von Kritik und der Aushandlung von sozialer Ordnung in konkreten lokalen Handlungssituationen. Neben der Analyse von ökonomischen Institutionen und konkreten wirtschaftlichen Produktionsarrangements beschäftigt sich die Soziologie der Konventionen auch mit der Analyse von grundlegenden Klassifikationsprinzipien in staatlichen Institutionen (z. B. in Statistikbehörden und Arbeitsämtern), von Praktiken der politischen Regulierung und Beratung und der politischen Praxis von Vereinen, Verbänden und sozialen Bewegungen. Darüber hinaus haben Luc Boltanski und Laurent Thévenot, zwei prominente Vertreter dieses Forschungsansatzes, bereits Anfang der 1990er-Jahre eine soziologische Theorie der Rechtfertigungsordnungen formuliert, die klassische Fragen der politischen Philosophie mit aktuellen gesellschaftstheoretischen Bezügen auf eine neue und fruchtbare Weise verbindet (Boltanski und Thévenot 2007/1991). Diese neueren Entwicklungen in der französischen Kultursoziologie werden begleitet von einem Diskurs über die Veränderung des Politischen beziehungsweise über die eingangs bereits erwähnte Differenz von „dem Politischen“ (le politique) und „der Politik“ (la politique). Dieser Diskurs, der an sich nicht neu ist und ganz unterschiedliche historische Vorläufer und Bezugspunkte aufweist,6 hat in den theoretischen Debatten rund um den sogenannten „Poststrukturalismus“ in der politischen Philosophie in Frankreich eine besondere Dynamik entfaltet. Es geht in diesem Diskurs vor allem um die demokratietheoretisch brisante Frage nach den Spielräumen und nach der Zukunft demokratischer Politik angesichts wachsender Krisenerscheinungen, einer Verschärfung der Sicherheitspolitik und einer wachsenden Entkopplung der institutionalisierten „Politik“ in westlichen Demokratien (Laclau und Mouffe 1991; Rancière 2002; Mouffe 2007).7 Neben dieser Vielzahl und Vielfalt an Bezügen zum französischen Poststrukturalismus finden sich in der aktuellen Kultursoziologie noch weitere Ansätze, die ähnlich einflussreich sind und zum Teil auch ähnliche Themen bearbeiten, jedoch nicht unmittelbar an den Poststrukturalismus anschließen. Dies sind zum einen die sogenannten World-Polity-Studies in der Theorietradition des soziologischen Neo-Institutionalismus (Meyer 2005; Lechner und Boli 2005). Im Zentrum steht hier ähnlich wie bei den STS und den Gouvernementalitätsstudien die Analyse der Verwissenschaftlichung von Politik und Gesellschaft und die globale Diffusion einer Kultur des Expertentums (die sog. „Weltkultur“), die Diskurse über soziale,

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Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang vor allem die politischen Schriften von Carl Schmitt, Hannah Arendt, Claude Lefort und Cornelius Castoriadis. Siehe dazu: Bröckling und Feustel (2009); Marchart (2010) sowie Bedorf und Röttgers (2010). 7 An diese Diskussion schließt nicht zuletzt auch die Debatte um eine Neubestimmung des Zusammenlebens rund um den Begriff des „Konvivialismus“ an (Adloff und Heins 2015), die maßgeblich von französischen Intellektuellen angestoßen wurde.

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kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung und entsprechende politische Programme heute weltweit in erheblichem Maße prägen. Die World-Polity-Studies verweisen hierbei jedoch nicht nur auf die immense „Rationalisierung“ und weltweite „Standardisierung“ von politischen Strukturen, Themen und Fragestellungen, sondern vor allem auch auf die starke „Entkopplung“ („decoupling“) von offizieller Rhetorik („talk“) und der konkreten lokalen Praxis („action“) (Meyer et al. 1997, S. 154 ff.; Büttner 2012, S. 17 ff.). Ein weiterer wichtiger Forschungszweig in der aktuellen Kultursoziologie, der einerseits große Überschneidungen zum französischen Poststrukturalismus aufweist, andererseits auch stark an die klassische Kultursoziologie und an die lange pragmatistische Tradition in der amerikanischen Soziologie anschließt, befasst sich mit der performativen Dimension von Politik (Alexander et al. 2006). Am Beispiel von aktuellen politischen Großereignissen und Skandalen wird hier vor allem auf die große Bedeutung von Symboliken, von Ritualen, Zeremonien und von dramaturgischen Inszenierungen im heutigen, umfassend durchrationalisierten und massenmedial hochgradig vermittelten Politikbetrieb verwiesen. In diesen breiten Forschungsstrang lassen sich auch aktuelle Forschungsansätze aus dem deutschsprachigen Raum einordnen, die mithilfe von ethnografischen Methoden und Methodologien eine „Mikrofundierung des Politischen“ anstreben (Scheffer 2014). Ähnliches gilt für den Forschungsansatz einer „figurativen Politik“, der Anfang der 2000er-Jahre von Hans-Georg Soeffner und Dirk Tänzler (2002) als Entwurf einer „Kultursoziologie politischen Handelns“ in die aktuelle kultursoziologische Politikforschung eingebracht wurde. Die neuere Performativitätsdebatte in der Kultursoziologie schlägt auch die Brücke zu aktuelleren Diskussionen aktueller Forschungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften zur „Politik der Gefühle“ und zur konstitutiven Rolle von Gefühlen, Emotionen und Emotionalisierungsstrategien in der politischen Praxis (Joas 2011; Frevert 2012; Heidenreich und Schaal 2012). Hervorzuheben sind darüber hinaus auch aktuelle Diskussionen über die Veränderungen von Politik und die fundamentalen Transformationen des Politischen, die mit der Digitalisierung von Kommunikationstechnologien und den rasanten Veränderungen der Massenmedien in den vergangenen 20 bis 30 Jahren einhergehen. Diese Debatte befeuert nicht nur die klassische soziologische Diskussion über einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas 1990/1962) auf eine neue Weise. Sie führt auch zu neuen Verknüpfungen und Kooperationen zwischen der Kultursoziologie und den angrenzenden Kultur- und Medienwissenschaften (Meyer 2001; Reichert 2014). Ein weiteres neues Forschungsfeld in der heutigen kultursoziologisch fundierten Politikforschung ist schließlich auch die Diskussion über die Rolle von Gewalt in der politischen Praxis und bei der Herstellung und Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen (Knöbl und Schmidt 2000; Tilly 2003). Damit rückt ein Thema wieder verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses, das für die Politische Soziologie zwar alles andere als neu ist (Weber 1980/1921; Bauman 1992; Trotha 1997; Neckel und Schwab-Trapp 1999). In der kultursoziologischen Politikforschung und in der allgemeinen soziologischen Theoriediskussion wurde Gewalt bisher jedoch stark vernachlässigt oder schlichtweg nicht thematisiert.

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Raum aus kultursoziologischer Perspektive Markus Schroer

Inhalt 1 Bauen, Wohnen und Gestalten – von der Kultur des gebauten Raumes zu den Räumen der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Urbane Räume und städtische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Globalisierung, Raum und Kultur: Von De- und Reterritorialisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Der Wiedereintritt der Natur in die Kultur und die neuen Geografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag zeigt die enge Beziehung zwischen Kultur und Raum, kulturellen und räumlichen Praktiken in mehreren Schritten auf. Der gebaute Raum als primäre Kulturleistung wird ebenso thematisiert wie die städtische Kultur im urbanen Raum und die De- und Reterritorialisierungsprozesse im Zuge der Globalisierung. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Entstehung neuer Geografien und vielfältiger Geopraktiken, die mithilfe einer kultursoziologisch ausgerichteten Geosoziologie systematisch zu untersuchen wären. Schlüsselwörter

Kultur · Räume · Praxis · Wohnen · Städtische Kultur · Urbane Räume · Territorialisierung · De- und Reterritorialisierung · Natur · Neue Geografien · Geopraktiken · Geosoziologie

M. Schroer (*) Institut für Soziologie, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_40

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M. Schroer

Raum Nicht nur um Raum aus kultursoziologischer Perspektive, sondern um den Zusammenhang zwischen Kultur und Raum aus kultursoziologischer Perspektive soll es im Folgenden gehen.1 In welch engem Verhältnis sie stehen, lässt sich schon der Begriffsgeschichte entnehmen, die darüber informiert, dass sowohl Raum als auch Kultur auf menschliche Tätigkeiten zurückzuführen sind. Damit eröffnet sich ein weites Feld kultur- und raumsoziologischer Forschung, die im Zuge des spatial turn (vgl. Schlögl 2003; Bachmann-Medick 2006; Schroer 2012) einen neuen Schub erhalten hat. Die Sondierung des Theoriefeldes fördert ein reichhaltiges Angebot an Ansätzen hervor, die aus kultursoziologischer und kulturphilosophischer Sicht Raum thematisieren. Das Angebot reicht von Émile Durkheim, Georg Simmel und Norbert Elias über Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu und Michel Foucault bis zu Michel de Certeau, Gilles Deleuze und Felix Guattari und Bruno Latour (vgl. Schroer 2006, 2008a, b; Kajetzke und Schroer 2010, 2012, 2015). Aber nicht die Vorstellung dieser einschlägigen theoretischen Bezüge, sondern die thematischen bzw. gegenstandsbezogenen Berührungspunkte zwischen Kultur und Raum, kultureller und räumlicher Praxis, stehen im Folgenden auf dem Programm. Dabei wird deutlich werden, dass Kultur und Raum einander nicht unvermittelt gegenüberstehen, sondern unmittelbar aufeinander verweisen und sich gegenseitig durchdringen.

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Bauen, Wohnen und Gestalten – von der Kultur des gebauten Raumes zu den Räumen der Kultur

Schon die wörtliche Bedeutung von Kultur verweist von vornherein unmissverständlich auf Raum. Der Ursprung des modernen Begriffs Kultur ist das lateinische Wort Cultura = Ackerbau, Pflege und das dazugehörige Verb lautet colere = bebauen, bestellen, bewohnen, pflegen. Kultur meint also die Bestellung von Land, beginnt mit der Bearbeitung des Bodens. Wer sät, pflanzt und erntet, gewinnt der unbearbeitet vorhandenen Natur folglich etwas ab, was vorher nicht existierte. Aus dem Gegebenen = Natur wird so etwas Gemachtes = Kultur. 1

Entgegen der am naturwissenschaftlich-mathematischen Modell ausgerichteten Richtung der Soziologie, der es um die objektive Erfassung gesellschaftlicher Wirklichkeit und um die funktionalen Erklärungen individuellen Verhaltens geht, orientiert sich eine kultursoziologische Perspektive im Anschluss an Max Weber, Georg Simmel, Friedrich H. Tenbruck, Karl Siegbert Rehberg, Wolfgang Lipp, Alois Hahn, Wolfgang Eßbach u. v. a. an den Begriffen Sinn, Bedeutung und Interpretation. Dabei gehen die kulturwissenschaftlichen Sozialtheorien bei allen Differenzen im Einzelnen von einer symbolischen Ordnung der sozialen Welt aus, die durch Praktiken und Kommunikationen überhaupt erst hervorgebracht wird. Kultursoziologie abstrahiert insofern nicht von den Auslegungs-, Deutungs- und Interpretationsleistungen der Subjekte wie die Struktursoziologie, sondern nimmt diese gerade zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Analysen (vgl. Schroer 2010). Der vorliegende Beitrag versteht sich als Beitrag zu einer Form von Kultursoziologie, die um eine „‚Rehabilitierung des Materiellen‘“ bemüht ist: „Symbolische Ordnungen, Diskurse oder Wissensstrukturen können aus dieser Perspektive nur existieren und ihre Wirkung entfalten, wenn sie in sozialen Praktiken ‚verkörpert‘ und materialisiert werden.“ (Moebius 2009, S. 10).

Raum aus kultursoziologischer Perspektive

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Für die wörtliche Bedeutung von „Raum“ und „räumen“ finden sich im Grimm’schen Wörterbuch (Online-Version) folgende Einträge: „[. . .] so weist alles dieses auf raum als einen uralten ausdruck der ansiedler hin, der zunächst die handlung des rodens und frei machens einer wildnis für einen siedelplatz bezeichnete [. . .], dann den so gewonnenen siedelplatz selbst“; „räumen“: „die ursprüngliche bedeutung des verbums, einen raum, d. h. eine lichtung im walde schaffen, behufs urbarmachung oder ansiedelung“. Aus dieser Bedeutungsherkunft von Raum leiten Martin Heidegger (1954a) und Otto Friedrich Bollnow (1989) ihr Raumverständnis ab: „Raum in diesem ursprünglichen Sinn ist also nicht an sich schon vorhanden, sondern wird erst durch eine menschliche Tätigkeit gewonnen, indem man ihn durch Rodung der Wildnis (die also nicht Raum ist) abgewinnt.“ (Bollnow 1989, S. 33) Damit ist nicht gesagt, dass die Natur ohne die Einwirkung des Menschen immer dieselbe bleiben würde. Sie verändert sich selbstverständlich auch ohne dessen Zutun. Aber die menschliche Evolution beginnt damit, dass sich die menschliche Spezies in der Welt einrichtet und sich ihren eigenen Lebensraum gestaltet. Die Etymologie beider Wörter weist darauf hin, dass Kultur und Raum das Ergebnis menschlicher Tätigkeiten sind. Demnach schafft das Räumen die Grundlage für Kultur, da es gewissermaßen erst den Platz für das Kultivieren bereitstellt, während durch das Kultivieren neue Räume entstehen: Von Ackerflächen, Siedlungen und Städten bis hin zu den modernen Aufführungs- und Ausstellungsräumen für kulturelle Artefakte, Erzeugnisse und Praktiken. Früh lässt sich dabei die Aufteilung von Räumen beobachten, denen bestimmte Tätigkeiten zugewiesen werden. Dabei ist es zunächst die Aufteilung des Lebensraumes in den „Jagdraum“ einerseits und den „Verdauungs- und Fortpflanzungsraum (die Hütte)“ (Flusser 2006, S. 279) andererseits. Am Beginn der Menschheitsgeschichte steht also die Grenzziehung zwischen Innen- und Außenraum, die zugleich als Geburtsstunde der Architektur gelten kann, die als „Raum-Macht“ und „Territorialisierungsstrategie“ (Böhme 2009, S. 202) zu verstehen ist. Während dem Außenraum die Grundlagen für die Ernährung abgerungen werden, handelt es sich beim Innenraum insbesondere um Schutzräume. Dieser Schutz wird benötigt, „weil der Mensch zunächst einmal den Bedürfnissen seines Organismus genüge tun“ (Malinowski 2005, S. 76) muss: „Zur Ernährung und Behausung, zur Kleidung und zum Schutz vor Kälte, Wind und Wetter muß er Einrichtungen treffen und Tätigkeit entfalten. Er muß sich selber schützen und diesen Schutz gegen äußere physische, menschliche und tierische Feinde und Gefahren organisieren.“ (Malinowski 2005, S. 76) Das Errichten einer Wohnstätte und die Erfindung von Kleidung stehen deshalb am Anfang der kulturellen Entwicklung: „Vielleicht war die Erfindung des Wohnens (sowie der Kleidung) die erste Raumnahme überhaupt; und zuletzt geht es um die Einbettung des Menschen in die Erde, auf der er, anders als das Tier, ein peregrinus, ein Unbehauster ist.“ (Böhme 2009, S. 202) Über die Funktion des Schutzes hinaus spielen die ersten Behausungen auch eine elementare Rolle für die Stabilisierung von Mitgliedschaft zu einem sozialen Verband: „Eine Lagerstatt hat bereits einen urigen Aufforderungscharakter [. . .] Eine Feuerstätte verweist auf ihre Funktion; ein von mehreren Lebewesen, hier Menschen, offenbar bewohnter Raum verweist auf eben diesen Zusammenhang. Und dieser Zusammenhang als ein Ganzes, ein differenziertes

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Ganzes, aber doch ein Totales wird sich in der Psyche der Beteiligten einnisten. Das ständige Erleben der Gesamteindrücke, die durch die Beteiligten selbst produziert werden, wird sich in ihnen repräsentieren. Diese Repräsentation wird nicht nur beinhalten, daß der vertraute Raum mit seinem ganzen Anmutungscharakter als Hort der Geborgenheit, des Schutzes, der Sicherheit und der Wärme empfunden wird, sondern auch in seinem imperativischen Charakter: das in diesen Raum eintretende Gruppenmitglied erfährt durch den Raum, daß es Mitglied ist; es wird in diesem bestätigt und weiter geprägt, und gleichzeitig resultieren aus dieser Aufforderung auch alle jene Anweisungen, die sich aus dem Gruppenleben entwickelt haben und sozusagen im Raum sich sicht- und fühlbar eingenistet haben“ (Claessens 1980, S. 71). Zu den ursprünglichen Grenzziehungen und Raumaufteilungen kommen im Laufe der kulturellen Evolution weitere hinzu. Die moderne Kultur ist von der Aufteilung in Arbeits-, Freizeit- und Wohnräume geprägt. Dabei ist es ist kein Zufall, dass parallel dazu von Arbeits-, Freizeit- und Wohnkultur die Rede ist, denn: „Kultur ist ein verräumlichender Akt, gleichgültig ob es sich um Verstetigung durch Sesshaftigkeit, Eigentumsbildung, Wohnen oder um Nomadisierung, Migration und Obdachlosigkeit handelt.“ (Böhme 2009, S. 202) Im Zuge des Modernisierungsprozesses vollzieht sich aber nicht nur eine Ausdifferenzierung von Wertsphären (Weber) oder Sinnwelten (Schütz), sondern auch von Räumen und Räumlichkeiten, die den Individuen dabei helfen, sich zu orientieren und situationsadäquat verhalten zu können. Die soziale Ordnung geht deshalb stets mit einer räumlichen Ordnung einher. Erst diese Kombination vermag den Bedarf an Verhaltenssicherheit zu erzeugen, den Goffman (1983, 2009) immer wieder thematisiert. Auch die Konstitution und Reproduktion der Familie wird nicht zuletzt durch die räumliche Zentrierung im Haus sichergestellt, die der Religion durch Kirche und Kloster, die der Politik durch Agora oder Parlament, die der Wirtschaft durch Markt und Börse, die des Rechts durch die Gerichte. Erst der Bau spezifischer Gebäude ermöglicht die Konzentration bestimmter sozialer und kultureller Praktiken an einem Ort: „Nur innerhalb der Mauern eines Klosters läßt sich gewöhnlicher Lebenssinn zur Unwahrscheinlichkeit asketischer Transzendental-Virtuosität steigern. Nur innerhalb der Wände eines Klassenzimmers läßt sich die Unwahrscheinlichkeit disziplinierter und spezialisierter instruktiver Interaktionen stabilisieren.“ (Willke 1996, S. 60) Und diese Beispiele ließen sich beliebig erweitern, wenn man an Büros, Klubs, Universitäten, Kliniken, Gefängnisse, Fabriken, Flughäfen, Kasernen usw. denkt. Die zunehmende Aufteilung sozialer und kultureller Praktiken in eigens dafür errichtete Räume ist ein wesentliches Kennzeichen der Ordnung der Moderne, die in der Postmoderne zwar auch unterlaufen (vgl. Schroer 2014a, S. 18 ff.), nicht aber außer Kraft gesetzt wird. Vielmehr bringen die offiziellen Räume immer auch ihre subversiven Ableger hervor, wird den vorgeordneten Ordnungen immer auch widersprochen und zuwidergehandelt, was Michel Foucault (2006) mit dem Terminus der „Heterotopologie“ zu fassen versucht hat (vgl. Schroer 2008a). Die Ordnung von exklusiven Räumen findet sich gerade auch in der Kultur im engeren Sinne. Die bildende Kunst, Musik, Literatur, Tanz, Theater und Film weisen

Raum aus kultursoziologischer Perspektive

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vielfältige Beziehungen zum Raum auf (vgl. Ott 2010). In der bildenden Kunst schafft der Künstler einen Bildraum, Musik erzeugt einen Ton- und Klangraum, die Literatur lebt von der grafisch-räumlichen Textgestaltung, produziert poetische Räume und Schrifträume (vgl. Bachelard 1960), jeder Tanz „formt den Raum zur Gestalt“ (Bense 2013), das Theaterspiel lässt einen spezifischen Raum zwischen Agierenden, Zuschauern und Artefakten entstehen und der Film lässt sich als „Kunst der Raumorganisation“ (Rohmer 2006) begreifen. Offenbar bringen alle kulturellen Praktiken bestimmte Räume hervor. Insofern gilt: Doing culture bedeutet immer auch doing space! Über diesen Zusammenhang hinaus werden für die jeweilige Kunstform adäquate Aufführungs-, Vorführungs- und Ausstellungsräume geschaffen, in denen das Publikum das Kunstwerk, das Konzert, den Film oder das Stück rezipieren können soll: Galerien, Museen, Konzertsäle, Kinos und Bühnen. Jede Form von Kulturinszenierung ist insofern angewiesen auf bestimmte Räume, die jedoch nicht nur als (neutraler) Rahmen des Dargebotenen fungieren, sondern selbst Bestandteil der Aufführungspraxis sind, von denen bestimmte Effekte ausgehen (durch das Bühnenbild, die Choreografie usw.). Außerdem wird Raum in allen Kunstformen auch selbst zum Thema gemacht: Von „Rauminstallationen“ über den „Raumfilm“ (Eisenstein 1988) bis zu den „Raumkompositionen“ eines Karlheinz Stockhausen (vgl. Ott 2010, S. 73) reichen hier die Beispiele. Auch in diesem Feld gibt es das Unterlaufen der offiziellen und etablierten Räume für die Darstellung und Aufführung kultureller Erzeugnisse durch „Street-Art“, Opernaufführungen auf subkulturellen Hinterhofbühnen usw. Wie in den anderen Fällen auch wird damit die etablierte kulturelle Raumordnung jedoch nicht radikal aufgehoben, sondern eher ergänzt und überlagert.

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Urbane Räume und städtische Kultur

Kulturen bringen Städte hervor und Städte Kultur. Gelten die ersten Städte als Wiege der Kultur, so scheint sich in modernen und postmodernen Gesellschaften Kultur vor allem in Städten abzuspielen. Alle Metropolen auf dieser Erde zeichnen sich dabei dadurch aus, dass in ihnen sowohl die Hochkultur als auch die Alltagskultur ihren Ort haben (vgl. Zukin 1998). Spätestens seit der Globalisierung, die für einen weltweiten Austausch und Kontakt zwischen Kulturen über Grenzen hinweg steht, befinden sich Städte in einem internationalen Konkurrenzkampf, einem globalen Kampf um Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit (vgl. Schroer 2013). Ein bevorzugtes Mittel, um die Aufmerksamkeit von Investoren, Touristen und Kreativen auf sich zu lenken, besteht in der Errichtung spektakulärer Gebäude von Stararchitekten, die als Prestigeobjekte und Imagelieferanten weltweit Publikum anlocken sollen. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um Bauten für kulturelle Zwecke, Events und Aufführungen; das Guggenheim-Museum in Bilbao von Frank Gehry und die Elbphilharmonie in Hamburg von Jacques Herzog und Pierre de Meuron beispielsweise. Neben diesen der Hochkultur gewidmeten Räumen bietet die Stadt als „Asphaltkultur“ (Bette 1997) jedoch auch zahlreiche Möglichkeiten für die Aus-

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übung alltagskultureller, politischer und sportlicher Aktivitäten im öffentlichen Raum. Parkour steht etwa für eine neue Trendsportart, bei der sich ein Parkourläufer bzw. Traceur entgegen der architektonischen Vorgaben durch den urbanen Raum bewegt und dabei Hindernisse auf mitunter spektakuläre Weise überwindet. Bei Flashmobs handelt es sich um blitzartig zustande kommende und sich wieder auflösende Zusammenkünfte. Hinter der nur scheinbar spontanen Aktion verbirgt sich eine mit Hilfe von Mobiltelefonen oder Weblogs koordinierte Verabredung einer schwankenden Anzahl von Menschen für eine nur wenige Minuten dauernde Aktion an einem bestimmten Ort zu einer exakt festgelegten Zeit. Gemeinsam ist beiden Aktionsformen, dass sie gängigen Verhaltensstandards widersprechen und durch ihre eigenwillige Benutzung und Aneignung des urbanen Raums Aufmerksamkeit (vgl. Schroer 2014b) auf sich ziehen. Darüber hinaus waren Städte immer auch Stätten des Konsums. Von den Märkten über die Warenhäuser bis zu Shopping Malls ist das Anbieten und Erwerben von Waren eine der für urbanes Leben grundlegenden Praktiken (vgl. Sombart 1928; Lipp 1994; Wehrheim 2007). Neben Rathaus, Parlament, Kirchen und Kathedralen prägen Marktplätze, Geschäfte und Shoppingcenter das sichtbare Antlitz der Städte in erheblichem Maße. Obwohl sich Stadtsoziologie (vgl. Löw 2008; Schäfers 2010; Eckardt 2012) auch ohne Berücksichtigung ihrer physisch-materiellen Basis betreiben lässt, indem man sich etwa allein auf die sozialstrukturelle Zusammensetzung ihrer Bevölkerung konzentriert, hat aus kultursoziologischer Sicht immer auch die räumliche Komponente, die physisch-materielle Umgebung, eine Rolle gespielt – etwa bei Siegfried Kracauer (1987), Robert Ezra Park und der Chicagoer Schule (Park und Burgess 1984); Heinrich Popitz (1995); Richard Sennett (1995) und Latour und Hermant (1998). Insbesondere bei Popitz findet sich eine starke Berücksichtigung der materiellen Infrastruktur der Stadt. Eine Stadt ist für ihn (vgl. Popitz 1995, S. 26 ff.) 1. „ein Ort zentrierter Herrschaft“, der sich durch eine spezifische „Herrschaftsarchitektur“ auszeichnet, die sich in monumentalen Bauten wie Burg, Palast, Rathaus, Tempel und der Ummauerung der Stadt ausdrückt; 2. „ein großer Speicher“ von Lebensmitteln, Produkten des Handwerks und Handelswaren, was sich baulich in Kornhäusern, Kaufhäusern und Marktplätzen niederschlägt; 3. „eine räumliche Konzentration von arbeitsteiligen Aktivitäten“, die ihre bauliche Entsprechung in Werkstätten, Handwerksquartieren, Manufakturen und Fabriken finden; 4. „ein Ort verdichteten Zusammenlebens großer Menschenmengen“, der sich oberirdisch durch enge Bebauung und Hochhausbauten auszeichnet und unterirdisch durch Kanäle für die Versorgung mit Wasser und der Entsorgung des Abwassers. Für Popitz entsteht mit der Stadt „eine neue Art von Raum, eine neue Komplexität erfundener räumlicher Bezüge“ (Popitz 1995, S. 26 ff.). Bruno Latoursʼ und Emilie Hermantsʼ gemeinsame Studie „Paris. Ville invisible“ (1998) bietet ebenfalls eine Stadtanalyse, die „Hoch- und Tiefbauarchitektur“ (Popitz 1995, S. 27) gleichermaßen berücksichtigt. Darin geht es darum, Stadt nicht mehr länger als neutrale Bühne menschlicher Begegnungen vorzustellen, sondern als eine Assoziation aus menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. Städte sind in dieser Perspektive eine je einmalige Verdichtung von Beton, Metall, Wasserleitungen, Drähten, Leitungen

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und Dingen, mit denen menschliche Akteure tagtäglich interagieren (vgl. auch Heidenreich 2004; Schroer und Wilde 2014).

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Globalisierung, Raum und Kultur: Von De- und Reterritorialisierungen

Wenn man unter Globalisierung das Phänomen versteht, dass ehemals streng voneinander geschiedene und weit voneinander entfernt liegende Regionen der Welt zunehmend miteinander in Kontakt geraten, dann hat sie eine lange Geschichte, die schon bei Carl Ritter (vgl. Schlögl 2003, S. 43), einem Pionier der Geografie, Thema ist. Bei ihm wie auch bei zahlreichen Nachfolgern wird in bis ins Detail ähnlichen Formulierungen immer wieder der eine entscheidende Faktor angeführt, der zum „Beseitigen aller Entfernungen“ (Heidegger 1954b, S. 157), zur „Erdschrumpfung“ (Arendt 2002, S. 321; Weber 1953, S. 19) und „Niederlage der Welt als Boden, Entfernung und Materie“ (Virilio 1980, S. 177) geführt habe: die technische Entwicklung der Verkehrs-, Transport- und Kommunikationsmittel! Schiffe, Kutschen, Eisenbahnen, Automobile und Flugzeuge sorgen ebenso wie die Erfindung des Telegrafen, des Telefons, des Fernsehens und des Internets für eine zunehmende Verflechtung und Intensivierung kultureller Kontakte über regionale und nationale Grenzziehungen hinweg. Für Edgar Morin befinden wir uns damit im „planetarischen Zeitalter“ (1988, S. 195), was für ihn vor allem heißt, dass Ereignisse „an irgendeinem sensiblen Ort auf dem Globus [. . .] beinahe unmittelbare Auswirkungen auf den Rest der Erde“ (1988, S. 195) haben, wodurch sich die Erdbewohner in einer „gegenseitigen Abhängigkeit“ befänden. Doch während etwa Alfred Weber noch wusste, dass es sich bei der Erdschrumpfung eigentlich um eine „kommunikative Erdverkleinerung“ (Weber 1953, S. 16) handelt, scheint dieses Wissen im Laufe der Zeit verloren gegangen zu sein. In Teilen des Globalisierungsdiskurses werden die gestiegenen Möglichkeiten der immer schnelleren und müheloseren Raumüberwindung mit dem „Ende der Geografie“ (O’Brian 1992) und dem Entstehen einer „grenzenlosen Welt“ (Ohmae 1994) kurzerhand gleichgesetzt. Nach dieser Lesart steht Globalisierung für einen radikalen Enträumlichungs- und Entgrenzungsprozess, der zur Ausbreitung des westlichen Lebensstils in alle Regionen der Welt führe, was – auf einen Nenner gebracht – als „McDonaldisierung der Gesellschaft“ (Ritzer 1995) diskutiert wird. Während demzufolge das Lokale vollständig vom Globalen dominiert wird und zu einer globalen Kultur führt, transportiert der Begriff der „Glokalisierung“ (Robertson 1995) die Vorstellung einer spannungsgeladenen Verschränkung von Lokalem und Globalem, die Kulturen so stark miteinander vermengt, dass vom lange Zeit gehegten Bild streng voneinander geschiedener und an ihren Raum gebundenen Kulturen keine Rede mehr sein kann, vielmehr von einer „kulturellen Hybridität“ (Bhabha 2000, S. 5) und „Kulturmelange“ (Breidenbach und Zukrigl 1998, S. 81 ff.) gesprochen werden muss. Kulturelle Mischformen gehen dabei mit räumlichen Mischformen einher. Diese räumlich-kulturellen Hybriden negieren endgültig die Vorstellung von durch fremde und ferne Einflüsse nicht kontaminierte Kulturen und Räume.

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Im Taumel der Begeisterung für eine Welt ohne Grenzen mit einem nie gekannten Ausmaß an Austauschbeziehungen, globaler Kommunikation und vermehrtem Kulturkontakt wird eine gegenläufige Entwicklung dabei jedoch übersehen: „Der Umschlag in Reterritorialisierung hat nirgends auf sich warten lassen, die Fähigkeit zur Grenzbildung wird erneuert, die transnationalen Kommunikationsgemeinschaften unterscheiden sich erheblich nach ihrem Ort, die lokalen Kontextbedingungen der indischen Diaspora in Chicago sind kaum mit der indischen Diaspora in Kuwait identisch – und transnationale Unternehmen, street gangs, soziale Bewegungen, ethnische neighbourhoods und Staaten als kollektive Akteure verbindet der Kampf um territoriale Kontrolle.“ (Schwengel 1999, S. 93) Aus einer raum- und kultursoziologischen Perspektive ist entscheidend hervorzuheben, dass Globalisierung in ihren Enträumlichungs-, Entgrenzungs- und Deterritorialisierungstendenzen nicht aufgeht, sondern die Suche nach Möglichkeiten der Abstandsvergrößerung und Abschottung nach sich zieht, die durch den Bau neuer Grenzanlagen, Mauern und Zäune erreicht werden soll, die die anhaltende Bedeutung der Verfügungsgewalt über ein Territorium mit Nachdruck unterstreichen (vgl. Schroer 2016b). Der Versuch, sich dem Kontakt mit fremden Waren, Sprachen, Migranten, Flüchtlingen und Investoren zu entziehen und sich in sein eigenes Territorium zurückzuziehen, um die „Fantasien der Reinheit, der Authentizität, der Grenzen und der Sicherheit auszuleben“ (Appadurai 2009, S. 37), ist unübersehbar, ein „neues Bestreben nach kultureller Reinigung“ (Appadurai 2009, S. 19) weltweit zu beobachten. Auf die Deterritorialisierung folgt insofern unweigerlich die Reterritorialisierung. Zu Recht werden beide Prozesse von Deleuze und Guattari (1992) als zwei grundsätzlich nicht voneinander zu trennende, einander ablösende Bewegungen konzipiert. Denn in der Tat: Jeder Staat, jede Stadt, jede Organisation und jedes Individuum steckt Räume ab, die von den einen betreten werden dürfen und von den anderen nicht. Keineswegs darf sich jeder frei überallhin bewegen. Die zugestandene räumliche Bewegungsfreiheit und die Verfügungsgewalt über Räume sind nach Status (Goffman 2009; Girtler 1989, S. 40 ff.; Bourdieu 1991), Geschlecht (vgl. Henley 1988, S. 49 ff.) oder Hautfarbe (Fanon 1981, S. 31 ff.) in den verschiedenen Regionen des Erdballs höchst unterschiedlich verteilt. Deshalb gibt es Phänomene wie no-go areas, gated communities, Lager, Türsteher, Grenzpolizisten, Schlagbäume, VIPLounges usw., die die grundsätzlichen, aus kultursoziologischer Sicht nie zu vernachlässigenden Fragen aufwerfen: Wer darf (welchen) Raum einnehmen und wer nicht? Wer wird in (welche) Räume eingelassen und wer nicht? Wer hat die Möglichkeit, Räume zu gestalten und zu verändern und wer nicht? Bei der Beantwortung dieser Fragen geht es nach wie vor um die Frage der Aneignung und Besetzung von Territorien – von den „Territorien des Selbst“ (Goffman 1974) über städtische Territorien bis zu indigenen und staatlichen Territorien. Wer geglaubt hatte, Kämpfe um Territorien gehörten der Vergangenheit an, sieht sich gründlich getäuscht. Hätten Räume und die Verfügung über sie keine Relevanz mehr, würden sie wohl kaum in so großem Ausmaß zerstört werden. Doch genau dies geschieht. Wer wollte mit Blick auf die aktuellen Krisenherde dieser Welt behaupten, dass der Satz „Städte zu erobern, bedeutet offenkundig einen eigentümlichen pathetischen Triumph“ (Popitz 1995, S. 119) keine Gültigkeit mehr hätte? Spätestens seit 9/11 wissen wir, wie sehr

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die Einschätzung zutrifft, dass „die Emotionalisierbarkeit ihrer Gefährdetheit [. . .] Teil der neuen städtischen Realität“ (Popitz 1995, S. 120) ist. Der Krieg hat sich keineswegs komplett in den virtuellen Raum verlagert. Vielmehr werden wir immer wieder Zeugen der Zerstörung von Kulturen, die sich vor allem auch gegen räumliche Artefakte, Gebäude und Plätze richtet.

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Der Wiedereintritt der Natur in die Kultur und die neuen Geografien

Die gesellschaftliche Evolution hat man sich gerne als einen sukzessiven Emanzipationsprozess aus der Umklammerung der Natur vorgestellt. Kultur sollte zunehmend die Oberhand über Natur gewinnen, um diese am Ende vollständig beherrschen zu können. Entgegen dieses der Moderne tief eingeschriebenen Programms gilt es heute mit Michel Serres festzustellen: „In unserer Kultur [. . .] bricht sie ein: die Natur.“ (Serres 1994, S. 12) Sichtbar wird diese Rückkehr der Natur gerade auch dort, wo man sich vom Naturzustand am weitesten entfernt zu haben schien: In den Großstädten! Gerade hier erleben wir eine Rückkehr der Natur durch Praktiken wie das Urban bzw. Guerilla Gardening oder durch die zunehmende Anzahl von Wildtieren in der Stadt, die die bei Popitz noch betonte strenge Trennlinie zwischen Natur und Stadt fragwürdig erscheinen lassen. Obwohl gerade die Stadt sich radikal von der Natur abgrenzt und unabhängig zu machen scheint (vgl. Popitz 1995, S. 28), täuscht dieser Eindruck letztlich: „Es hat sich hier nur die Art der menschlichen Abhängigkeiten grundlegend gewandelt. [. . .] Statt wie Generationen zuvor den Naturgewalten ganz direkt ausgesetzt zu sein, sind die Menschen im modernen Wohnen nun stärker von denjenigen großer Wirtschaftsunternehmen abhängig geworden, die sie mit Wasser, Energie oder Nachrichten versorgen oder die ihre Exkremente und ihren Müll beseitigen.“ (Gleichmann 2000, S. 273) Die Abhängigkeit von Natur war also immer gegeben, ist im Laufe des Modernisierungsprozesses aber zunehmend invisibilisiert worden und hat damit dem Irrtum Vorschub geleistet, sich in der Stadt in einem von Natur unabhängigen Raum zu befinden. Übersehen wurde dabei die Tatsache des Metabolismus. Eine jede Kultur ist angewiesen auf einen geregelten Stoffwechsel mit der Natur. So artifiziell die Kultur hochtechnologisierter Gesellschaften auch erscheinen mag: Auch sie entbehrt nicht einer materialen Basis, bleibt abhängig von Energien und Stoffen, die nach wie vor der Natur entnommen werden. Die strikte Entgegensetzung von Kultur auf der einen und Natur auf der anderen Seite lässt sich deshalb nicht mehr länger aufrechterhalten (vgl. Descola 2013). Die Eingriffe in die Natur sind längst so groß, dass von einer reinen, durch menschliche Aktivitäten verschont gebliebenen, unberührten Natur keine Rede mehr sein kann. Natur wird zum Gegenstand kultursoziologischer Forschung, weil sie nicht zeitlos und beständig ist, wie traditionell angenommen, sondern permanent bearbeitet und umgewandelt, gestaltet und interpretiert wird. Mit Gabriel Tarde verfügt die Soziologie über einen Klassiker, für den die Betonung der Verschränkung von Natur und Kultur noch eine Selbstverständlichkeit war: „Die Untersuchung der Auswirkungen jener am Anfang einer kulturellen Entwicklung stehenden,

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natürlichen Gaben des Bodens auf den gesamten weiteren Verlauf dieser Kultur ist beispielsweise von größtem Interesse. Je nachdem ob die Kultur in einem fruchtbaren Tal oder einer mehr oder weniger an Weideland reichen Steppe entstand, sind die Arbeitsbedingungen verschieden und folglich auch die Bedingungen der Hausgemeinschaft und der politischen Institutionen. [. . .] Die Untersuchungen der Modifikationen einer Lebensform, welche durch die Auswirkungen des Klimas oder ganz allgemein des Milieus entstehen, sind der Soziologie ebenso nützlich wie der Biologie.“ (Tarde 2003, S. 163) Obwohl sie über Tarde hinaus mit Werner Sombart (vgl. Grundmann und Stehr 1997) oder der Humanökologie (vgl. Park und Burgess 1984; Lindner 1990) über vielversprechende Ansätze verfügt, die natürliche Umgebung und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Kultur zu thematisieren, hat die Soziologie einen anderen Weg eingeschlagen, den es aktuell, angesichts der offensichtlich misslungenen Absetzbewegung von Natur, zu korrigieren gilt. Heute stehen wir vor dem Phänomen eines vielfach miteinander verschränkten Gewebes aus Natur und Kultur, das die Beschränkung des raumsoziologischen Diskurses auf den sozialen Raum nicht länger plausibel erscheinen lässt. Diese neue Gemengelage bringt für die aktuelle Raumsoziologie die Notwendigkeit mit, die strikte Trennung zwischen physisch-geografischem Raum hier und sozialem Raum dort ad acta zu legen. Statt eines „Endes des Geografie“ (O’Brian 1992) kommt es zu Erfindung ständig neuer Geografien – den „Internetgeographien“ (Budke et al. 2004), der „Geografie des Zorns“ (Appadurai 2009), der „Sakrale(n) Geografie“ (Heidenreich 2010) und vielem mehr. Im Zuge der Diskussion um das „Anthropozän“ ist eine neue Hinwendung zur Erde festzustellen (vgl. Braidotti 2014, S. 5 ff.; Latour 2012), die bis gestern noch ein wenig antiquiert wirkenden Texte (vgl. Klages 1920) in neuem Licht erscheinen lassen. Die Zeit scheint deshalb reif für die Etablierung einer Geosoziologie (vgl. Schroer 2015, 2016a), die unter anderem die zahlreichen „Geopraktiken“ zu thematisieren hätte – von den industriell-maschinellen Umwälzungen des Bodens, den Erdbohrungen, dem Düngen von Ackerland und dem Fracking über das Errichten von Zäunen, Mauern und sonstigen Grenzbefestigungen, den verschiedenen Gartentätigkeiten, dem Umgraben des Bodens, dem Säen und Pflanzen bis hin zum Errichten, Gestalten und Bewohnen von Nestern, Höhlen und Häusern, der Vermessung der Welt durch Google Earth, der Suche nach Orten mithilfe von Navigationsgeräten und das Geocaching. Es ist für das Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen von grundsätzlicher Bedeutung, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften tief eingesenkte Substitutionslogik aufzugeben, die davon ausgeht, dass Stufen der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung einander ablösen, dass die Orientierung am Raum durch eine Orientierung an der Zeit ersetzt, dass die Kultur die Natur besiegt, dass physische Räume virtuellen Räumen weichen, dass Mobilität an die Stelle von Sesshaftigkeit tritt, dass das Globale über das Lokale triumphiert und das Alte vollständig durch das Neue verdrängt wird. Vielmehr gilt es die vielfältigen und widersprüchlichen Wechselwirkungen, Überlagerungen und Verknüpfungen zwischen all diesen Kräften, Elementen und Ebenen zu begreifen. Mit dieser Aufgabe stehen wir erst ganz am Anfang.

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Religion aus kultursoziologischer Perspektive Regine Herbrik und Meike Haken

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kultur als Religionsersatz oder ist jetzt alles Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Das Verschwinden der Religion und die Säkularisierungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Populäre Religion als Synthese von Säkularisierung und Resakralisierung . . . . . . . . . . . . . . . 5 Gefühlte Religion und Emotionskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Der Beitrag zeigt am Beispiel ausgewählter Ansätze und Autor_innen auf, welche Perspektiven durch eine kultursoziologische Herangehensweise für das soziologische Forschen und Nachdenken über Religion eröffnet werden. Nach einer Einleitung, die aufzeigt, wie stark bei vielen der soziologischen Klassiker religions- und kulturanalytische Zugänge miteinander verwoben sind, wird die Bedeutung der Definition von Religion und Kultur im Hinblick auf deren mehr oder weniger trennscharfe Abgrenzung voneinander thematisiert. Dies bereitet die Diskussion der Frage vor, wie sich die Positionen kultursoziologisch arbeitender Religionssoziolog_innen vor dem Hintergrund der Säkularisierungs- bzw. Resakralisierungsthese gestalten. Als beide Tendenzen aufgreifende Synthese wird das Konzept der „Populären Religion“ vorgestellt. Im Sinne eines Ausblicks auf neue Themenfelder der Religionssoziologie wird abschließend ein kultursoziologisch angeleiteter Blick auf religiöse Emotionen präsentiert. R. Herbrik (*) Qualitative und kulturwissenschaftliche Methoden, Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Haken Institut für Soziologie, Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_42

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Schlüsselwörter

Kultur · Religion · Säkularisierung · Resakralisierung · Unsichtbare Religion · Populäre Religion · Emotion

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Einleitung

Wenn es darum geht zu zeigen, was kultursoziologische Forschung leisten kann, ist ein Beitrag unter der Überschrift „Religion“ unverzichtbar. Eine ganze Reihe der Klassiker, auf die sich heutige Kultursoziolog_innen berufen, haben sich auf unterschiedliche Art und Weise mit Religion beschäftigt – und das über alle Schulen- und Traditionsgrenzen hinweg. All ihren Betrachtungsweisen ist gemeinsam, dass sie Religion nicht als ein kleines und mehr oder weniger unbedeutendes Teilsegment der Kultur behandelt haben. Vielmehr nimmt Religion in ihren Gesellschafts- und Kulturtheorien jeweils einen sehr prominenten, prägenden Stellenwert ein. So erklärt Max Weber (1979 [1929]) den „Geist des Kapitalismus“ unter Zuhilfenahme der Grundlagen der protestantischen Ethik. Für Durkheim liegt der Anfangsgrund des Kulturellen im gemeinschaftlichen, rituellen Handeln, wodurch Religion und Kultur gemeinsam am Beginn von Gesellschaft stehen und eine gemeinsame Wurzel zugesprochen erhalten; namentlich eine spezifische Form des Kollektivgefühls, das Durkheim „Efferveszenz“ nennt.1 In Abgrenzung zu Durkheim ist für viele Mitglieder des für die Geschichte der Kultursoziologie nicht unwichtigen Collège de Sociologie, wie Caillois oder Benjamin das Spannungsverhältnis zwischen Profanem und Sakralem ein Ansatzpunkt für ihre kultursoziologischen Überlegungen (vgl. z. B. Caillois 1988). Und Autoren wie Turner, die sich aus kultursoziologischer und ethnologisch inspirierter Perspektive insbesondere mit Ritualen, Liminalität sowie den entsprechenden Erfahrungsdimensionen beschäftigen, betonen den sakralen Charakter der „communitas“ (vgl. Turner 1998). Doch nicht nur die kultursoziologischen Klassiker, sondern auch aktuelle religionssoziologische Veröffentlichungen zeigen, dass und wie sich Religions- und Kulturgeschichte wechselseitig erhellen (vgl. Eßbach 2014), dass kultursoziologische Zeitdiagnosen immer wieder auf die religionssoziologische Perspektive verwiesen werden (vgl. Honer et al. 1999) und dass die „Hybridität“ von Religion und Kultur sogar zur Charakterisierung aktueller Entwicklungen dienen kann (vgl. Berger et al. 2013). Mit am deutlichsten zeigt sich jedoch die starke Verwobenheit von Religions- und Kultursoziologie im wissenssoziologischen Strang der Kultursoziologie, der sich in der Schütz’schen Tradition auf kleine, mittlere und große Transzendenzen bezieht, um die Strukturierung der Lebenswelt zu klären. Er wird mit Berger und Luckmann von Vertretern repräsentiert, deren kultursoziologische Positionen entsprechend eng mit der Untersuchung und Beschreibung der Religion verbunden sind. „In der kollektiven Ekstase entstehen die wesentlichen Vorstellungen und Rituale, die Entstehung des Symbolischen und Kulturellen ist ihre unmittelbare Folge“ (Durkheim 1998 [1912]).

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Religion aus kultursoziologischer Perspektive

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Kultur als Religionsersatz oder ist jetzt alles Religion?

Den Herausgebern des Bandes „Religionshybride“ ist also zunächst recht zu geben, wenn sie schreiben: „Religion ist ein Kulturphänomen. Wenn sich das individuelle und kollektive Verhalten zum Unverfügbaren artikuliert, geschieht dies immer in den Formen der umgebenden Kultur.“ (Berger et al. 2013, S. 11) Es stellt sich an dieser Stelle jedoch die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kultur. Luckmann (1991 [1967]) hatte den Ausweg aus der auch innerhalb der Religionssoziologie damals üblichen, jedoch bereits anachronistischen, Ineinssetzung von Religion und Kirche mithilfe einer neuen, genuin soziologischen, funktionalistischen Definition von ‚Religion‘ zu finden gesucht. Er kam dabei zu einer breiten Definition von Religion, die sich auf alle ‚großen Transzendenzen‘ erstreckte und somit weite Teile der überhaupt vorstellbaren Instanzen der Sinngebung in sich aufnahm. Einerseits wurde damit vieles als eigentlich zur Religion gehörig erkennbar, was bisher übersehen worden war, weil es sich nicht öffentlich sichtbar und in institutionalisierter Form präsentierte. Andererseits eröffnete diese Neudefinition kulturvergleichende Forschung im Bereich der Religion auf einer ganz neuen Basis (vgl. Hahn et al. 1993, S. 7). Laut Knoblauch lässt sich in Fortsetzung dieser Gedanken Kultur als „gesellschaftliche Bewältigung von Transzendenz“ (Knoblauch 2007, S. 30) bestimmen, wobei hier kleine, mittlere wie auch große Transzendenzen im Sinne von Schütz und Luckmann gemeint sind (vgl. Schütz und Luckmann 2003, S. 598 ff.). Gleichzeitig werden im Anschluss an Luckmann auch zeit- und regionalspezifische Phänomene, wie der Kulturprotestantismus neu diskutiert, die für die Geschichte des Kulturbegriffes im deutschsprachigen Raum von erheblicher Bedeutung sind. Schließlich stand im politisch und religiös heterogenen Deutschen Reich im Gegensatz zu den westlichen Nachbarn kein einheitliches Bindeglied zur Verhaltensorientierung zur Verfügung. Laut Homann wurden die „offenen Möglichkeiten der modernen Gesellschaft [. . .] daher in Deutschland kulturell ausgefüllt und überformt und sozial stabilisiert in spontan entstehenden freien Gruppen, Zirkeln, Freundschaften und Vereinen, nach dem Prinzip der später sogenannten ‚freien Assoziationen‘.“ (Homann 1993, S. 178) Von besonderer Bedeutung sind dabei auch die Universitäten. Doch es ist nicht irgendeine Kultur, die hier als Lückenfüllerin auftritt, sondern eben jene, die ihre Prägung als zur bürgerlichen Gesellschaft zählende in besonderer Weise durch den Protestantismus erhalten hat. Zu ihr zählt daher die Vorstellung eines freigesetzten Individuums, das sich mit den neu erworbenen Freiheiten individuelle Verantwortung einhandelt und das damit auch vor der Aufgabe steht, „sein inneres Selbst und die äußere Welt selbständig zu gestalten und zu interpretieren.“ (Homann 1993, S. 197) Nicht überraschend findet sich daher an der Nahtstelle von Religion und Kultur zur Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert der Auslegungsspezialist Schleiermacher, der einerseits die Religion aus der einseitigen Einbindung in die aufklärerische Festlegung auf die Ratio entlässt (vgl. Schleiermacher 2001 [1799]) und andererseits den schöpferischen, selbst nach eigenen Regeln Kultur schaffenden

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Menschen gemeinsam mit anderen Denkern seiner Zeit legitimiert und emanzipiert. Parallel zur Innovation der Charakterisierung und theoretischen Konstituierung der Produktionsseite von Kultur wird entsprechend eine neue Methode, eine an die neuen Anforderungen durch ein geniales Schöpfersubjekt angepasste Hermeneutik, zu ihrer Deutung benötigt, die Schleiermacher (1995 [1838]) direkt mitliefert und deren Geltung er als universal betrachtet. Die enge Verschränkung von Religion und Kultur im Kulturprotestantismus wird letztlich für die Religion zu einer ebenso großen Herausforderung wie für den Kulturbegriff, sodass aktive Wiederbelebungs- und Legitimierungsanstrengungen für eine Unterscheidung einsetzen müssen.2 Dennoch lassen sich die Verschränkungen beider Bereiche bis in die späte Moderne nachvollziehen, wie Soeffner anhand seiner empirischen Untersuchungen, z. B. zum Deutschen Evangelischen Kirchentag, gezeigt hat (vgl. Soeffner 1993). Tatsächlich steht für Luckmann „das Transzendieren der biologischen Natur durch den menschlichen Organismus“ (Luckmann 1991, S. 86) im Zentrum seines Verständnisses von Religion. Sie rückt damit deutlich in die Nähe der von Soeffner als „täglich praktizierbare Menschenreligion“ (Soeffner 2000, S. 179) verstandenen Kultur, gefasst als „die unentwegte Anstrengung, unsere Zufälligkeit und Endlichkeit in der Zeit zu transzendieren.“ (ebd.) Die Kultur ist es hier, die das menschliche Tun und Lassen und die dazugehörenden Bedeutungen durch die Zugabe eines „Wertakzent[s]“ (Soeffner 2000, S. 179) im Sinne einer „Diesseitsreligion“ (Soeffner 2000, S. 111) seines besonderen Werts versichert. Obwohl Soeffner nicht der Meinung ist, dass Religion durch irgendwelche anderen kulturellen Errungenschaften in ihrer Funktion tatsächlich ersetzt werden könnte, billigt er der Kultur doch zu, als Haltung des Menschen gegenüber allem, was ihm in seiner Welt begegnet, einen das unmittelbar Zugängliche, anscheinend Evidente überschreitenden Blick einnehmen zu lassen. Bereits die Unterstellung eines alternativen Sinnes – zusätzlich zum offensichtlichen –, nach dem es zu fahnden lohnen könnte, und die sich daraus ergebende Anwendung deutender Verfahren sind erste Ansatzpunkte der Neuqualifizierung und ‚Überhöhung‘ der auf diese Weise betrachteten Dinge und Menschen. Im Folgenden wollen wir anhand einiger ausgewählte Autor_innen exemplarisch illustrieren, wie umfangreich und komplex die Beiträge sind, die aus religionssoziologischer Perspektive derzeit zur Kultursoziologie geleistet werden und wie im Umkehrschluss eine kultursoziologische Perspektive die religionssoziologische Perspektive schärft.

„Die im Protestantismus angelegte und dort schon immer anzutreffende Vermengung von Kultur (‚Hoch‘- oder ‚Populärkultur‘) und Religion, die sich immer wieder zeigende Verwischung der Grenzen zwischen Kultur und Religion, die Undeutlichkeit, Unentschiedenheit und Verwaschenheit, in der beides nebeneinander verhandelt wird, ohne daß die unterschiedlichen Ebenen und Funktionen beider Bereiche erkennbar wären, erklären nicht zuletzt auch Karl Barths entschiedene Gegnerschaft gegen den Kulturprotestantismus“ (Soeffner 1993, S. 199).

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Religion aus kultursoziologischer Perspektive

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Das Verschwinden der Religion und die Säkularisierungsthese

Bereits seit Jahrzehnten gibt es in der Religionssoziologie zwei Lager, deren Ansätze auf den ersten Blick diametral zueinander angeordnet zu sein scheinen: „a confrontation between (often American) critics and (mostly European) defenders of secularization theories“ (Wohlrab-Sahr und Burchardt 2012, S. 875). Im Hinblick auf den religionssoziologischen Beitrag zu kultursoziologischen Fragestellungen haben beide Perspektiven jedoch einen gewichtigen Punkt gemeinsam: Sie denken Geschichte und Gegenwart der Kultur und Gesellschaft von der Religion her und halten das Maß und die Ausgestaltung ihres Vorkommens hinsichtlich deren Beschreibung für relevant. In der Beschäftigung mit der „Säkularisierung“ bleibt Religion also von Bedeutung; auch dann, vielleicht sogar gerade dann, wenn sie als (zunehmend) Abwesende thematisiert wird. Als prominente Vertreterin der Säkularisierungsthese arbeitet Wohlrab-Sahr (gemeinsam mit Burchardt 2012) mit einem eindeutig kultursoziologischen Ansatz, der sich insbesondere von Eisenstadts (2000) „Multiple Modernities“ inspirieren lässt und sie zur Differenzierung vierer Idealtypen der Säkularität führt. Diese unterscheiden sich danach, auf welche kulturelle Fragestellung Säkularität im je spezifischen Kontext antwortet, welches kulturelle Problem sie jeweils löst. So, wie wir oben gesehen haben, dass die funktionale Definition von Religion von vielen Religionssoziolog_innen der substantialen vorgezogen wird, so zeigt sich hier eine funktionale Kategorisierung von Säkularitätstypen. Aufbauend auf die funktionale Zuordnung werden darüber hinaus auch die ihr zugrunde liegenden Leitideen angegeben. Wohlrab-Sahr und Burchardt unterscheiden dabei: 1. Säkularität im Dienste individueller Freiheiten; zugehörige Leitideen: Freiheit und Individualität, 2. Säkularität im Dienste der Balance, Befriedigung religiöser Diversität; zugehörige Leitideen: Toleranz, Respekt, Nicht-Einmischung, 3. Säkularität im Dienste der sozialen Integration und Entwicklung; zugehörige Leitideen: Fortschritt, Aufklärung und Modernität sowie 4. Säkularität im Dienste der unabhängigen Entwicklung der gesellschaftlichen Sphären; zugehörige Leitideen: Rationalität, Effizienz, Autonomie (vgl. Wohlrab-Sahr und Burchardt 2012, S. 890).3 Dabei wird insbesondere angesichts der Leitideen deutlich, dass die kulturellen Rahmenbedingungen, von denen Befürworter_innen und Gegner_innen der Säkularisierungsthese ausgehen, weitgehend übereinstimmen. Die hier sehr starke kultursoziologische Perspektive zeigt sich bereits in dem 1998 erschienenen Band „Religiöse Konversion“ (Knoblauch et al. 1998), für dessen Herausgeberschaft Wohlrab-Sahr mit Krech und Knoblauch kooperierte. Besonderes Augenmerk legt sie selbst jedoch auch innerhalb ihrer religionssoziologischen Überlegungen auf die Biografie- und Identitätsforschung. Gemeinsam mit Kaden (2013) geht sie davon aus, dass sich das Nicht-Religiöse über sein Verhältnis

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Die Übersetzung der Termini aus dem Englischen orientiert sich an einer deutschsprachigen Version des Aufsatzes in Wohlrab-Sahr und Burchardt (2011).

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zum Religiösen bestimmen lässt, was anhand zweier kontrastiver empirischer Fälle – den USA mit einer starken Norm des Religiösen und der DDR mit einer starken Form des Nicht-Religiösen – gezeigt wird. Die Identitätskonstruktion verlaufe bei Nicht-Religiösen über den positiven Bezug zur Wissenschaft als Gegenpol der Religion. Einen weiteren thematischen Kernaspekt ihrer Identitätsforschung bilden Untersuchungen zum Verhältnis von Religion und Geschlecht. In Kooperation mit Rosenstock wird in „Religion – soziale Ordnung – Geschlechterordnung“ (1999) deutlich, dass Religion und Moral als zwei voneinander getrennte kulturelle Sphären auftreten, die mithilfe der binären Kodierung von Reinheit/Unreinheit synthetisiert werden (vgl. Wohlrab-Sahr und Rosenstock 1999). Mit der an Luhmann orientierten binären Kodierung geht ebenfalls die Unterscheidung zwischen Immanenz/Transzendenz und Sakralität/Profanität einher. Die von Wohlrab-Sahr mitgeplante und ausgewertete 4. EKD Studie (2003) stellt ein gutes Beispiel für die im Hinblick auf die Argumentation der ‚Unsichtbaren Religion‘ so relevante, klassische Ineinssetzung von Kirche und Religion dar, da im Rahmen dieser Studien Religiosität und Kirchlichkeit nicht differenziert betrachtet werden. Gleichzeitig wird hier Wohlrab-Sahrs Säkularitätsverständnis deutlich. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die implizite Gleichsetzung von säkular und nicht-religiös. Dadurch erscheinen Säkularität und Religiosität als zwei unterschiedliche kulturelle Phänomene. Im angelsächsischen Raum kommt Casanova ebenfalls zu der Erkenntnis, dass es sich bei Säkularität um einen „contingent historical process“ (Casanova 2011, S. 72) handle, der in seinen gesellschaftsspezifischen kulturellen Erscheinungsformen zu analysieren sei. Doch anders als Wohlrab-Sahr versucht er, zusätzlich den empirisch beobachtbaren Bedeutungszuwachs der Religion zu klären. Sein Ansatzpunkt hierfür liegt in der Revision westlicher Kategorien und Definitionen von Säkularisierung. Nur dann sei es möglich, die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Säkularität (auch nicht-westlicher) Gesellschaften zu erkennen und in ihrer Verflochtenheit mit Religion zu verstehen. Beinhaltet der Begriff the secular bei Casanova bereits den genuin religiösen Ursprung, erfolgt die Einbettung und Regulation von gegenwärtigen Religionen über eine graduelle Typologie der Regulierung, die bezüglich des Verhältnisses von Staat und Religion zwischen hostile/friendly einerseits und free/unfree andererseits unterscheidet. Die Leitidee der Regulationsfunktion ist somit auch bei Casanova Kernelement der Annahmen. Pollack und Rosta (2015) ist das Verdienst zuzuerkennen, die Frage nach dem empirischen Grad der Säkularisierung oder Resakralisierung von Gesellschaften sehr differenziert zu untersuchen. Er stützt sich dabei auf diverse quantifizierende Einzelfallstudien, die er in Form von Ländervergleichen miteinander in Relation setzt. Gerade für Osteuropa zeigt sich dabei ein sehr heterogenes Bild, das sowohl Säkularisierungs- (für z. B. Ungarn, Slowenien) als auch Resakralisierungstendenzen (für z. B. Lettland, Russland, Rumänien, Bulgarien, Ukraine und Weißrussland) erkennen lässt (vgl. Pollack und Rosta 2015, S. 313). Doch selbst die von ihm empirisch vorgefundenen und in seinem Bericht vorgestellten Resakralisierungstendenzen möchte Pollack nur ungern als Bedeutungsgewinn der Religion interpretieren. Vielmehr weist er hinsichtlich ihrer Deutung auf die „Vermischung von

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religiösen mit anderen, mit politischen, nationalen oder moralischen Funktionen“ (Pollack 2015, S. 314) hin. Dieses Argumentationsmuster wiederholt sich in seiner religionssoziologischen Zeitdiagnose für Westeuropa, in der er zu dem Schluss kommt, dass „Religion auf der Individualebene von einem umfassenden Bedeutungsrückgang erfasst [ist]. Weder was die Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften angeht, noch was die religiöse Praxis oder die Überzeugungsdimension betrifft, können wir von nennenswerten Gegenbewegungen berichten.“ (Pollack und Rosta 2015, S. 223) Selbstredend sei ein starkes Interesse an esoterischem und ganzheitlich-religiösem Gedankengut zu erkennen, das er jedoch dem Einfluss gesamtgesellschaftlicher kultureller Strömungen zuschreibt (vgl. Pollack und Rosta 2015, S. 224). Religion verliert vor diesem Hintergrund seiner Ansicht nach weiterhin an Bedeutung und gibt diese an den zunehmenden Einfluss kultureller Entwicklungen ab. Hinsichtlich dieser Argumentation stellt sich erneut die Frage nach dem Mischungs- und Spannungsverhältnis von Religion und Kultur.

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Populäre Religion als Synthese von Säkularisierung und Resakralisierung

Für Knoblauch, der in der Tradition der phänomenologischen Wissenssoziologie steht, jedoch auch maßgeblich an deren Weiterentwicklung in Richtung des kommunikativen Konstruktivismus mitwirkt, äußert sich Kultur, wie oben erwähnt, über ihre spezifische Bewältigungsfunktion. Im Mittelpunkt seines Beitrages zur Weiterentwicklung der Religionssoziologie steht die 2009 erschienene „Populäre Religion“, in der er den vermeintlichen Widerspruch der oben verhandelten Lager durch die Darstellung einer zweiseitigen kulturellen Entgrenzung zu überwinden versucht (vgl. Knoblauch 2009, S. 2014). Wird der Fokus in der populären Religion bereits auf grundlegende Veränderungen der religiösen Kommunikation (bzw. Verschiebungen der Kommunikationskultur) sowie ein neues Verständnis von Transzendenz gelegt, so ergänzen anschließende empirische Arbeiten die Perspektive um die Beschreibung und Analyse (neuer) Formen der Mediatisierung von Religion. In den jüngsten Beiträgen kommt schließlich die kommunikative Konstruktion von Transzendenz selbst in den Blick, und was in der populären Religion an gesellschaftlicher Transformation durch Medien, Markt und Spiritualität charakterisiert wird, wird auf eine zunehmende Entfernung von der funktionalen Differenzierung der Moderne zugespitzt, die in der Grenzüberschreitung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit durch religiöse Kommunikation deutlich werde (Knoblauch 2014). Bereits in seiner Dissertation, in der er Wünschelrutengänger und Pendler als modernisierte Form der Magie untersuchte (Knoblauch 1991, 2013a), widerlegte Knoblauch die Weber’sche These von der „Entzauberung“ der modernen Welt. Knoblauch nutzt die durch Luckmanns Religionsbegriff bereitete Basis für eine kulturvergleichende Perspektive und postuliert, „unsichtbar“ sei Religion lediglich insofern religiöse Inhalte zunehmend kommunikative Formen annähmen, die Spuren einer kulturellen Entgrenzung aufwiesen und somit nicht mehr eindeutig (oder gar

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nicht) als religiös erkannt würden. Die Sichtbarkeit der Religion oder genauer gesagt die Entwicklung der Kommunikation religiöser Inhalte wird von ihm entsprechend mithilfe des analytischen Konzepts der „populären Religion“ erfasst. Um einen Transformationsprozess nachzuzeichnen, stützt sich Knoblauch zunächst auf die Erforschung der als „diffus“ (Knoblauch 1999, S. 170), d. h. schwach organisiert, bezeichneten religiösen Bewegungen wie speziell der erfahrungsorientierten christlichen Bewegungen und solcher aus dem Bereich des New Age4 (1993), dessen Glaubenssätze und Theorien in den 1960er-Jahren in die populäre Kultur eindrangen und seitdem einen festen Bestandteil ihres Deutungsangebots bilden (vgl. u. a. Knoblauch 2009 und 2010). An der Etablierung des Forschungsfeldes der ‚Neuen religiösen Bewegungen‘ bzw. new religious movements war Ende der 1980er und Anfang der 1990er Eileen Barker maßgeblich beteiligt (vgl. Gabriel 2004, S. 333). Ähnlich wie Knoblauch verortet sie die Revitalisierung ‚der‘ Religion innerhalb der gesellschaftlichen Umbrüche der 1970er-Jahre und arbeitet deren Bedeutung für die Kultur westlicher Gesellschaften heraus (vgl. Barker 1993). In ihrer Betonung der Bedeutung der new religious movements für den kulturellen Wandel der westlichen Gesellschaften findet sich eine der Grundlagen für die von Knoblauch beschriebene wechselseitige Entgrenzung beider Sphären. Knoblauch geht wie Luckmann davon aus, dass ein substanzielles Verständnis von Religion für Formen gegenwärtiger Religiosität unzureichend ist. Die Theorie der populären Religion führt dies selbst performativ vor, indem sie Grenzsetzungen überschreitet und sich gegen die Dichotomien von Sakralem versus Profanem und bezogen auf die Erfahrungsdimension von Immanenz versus Transzendenz (vgl. Knoblauch 2009, S. 12) wendet. Stattdessen kommt Knoblauch – aufbauend auf die wissenssoziologische Tradition – zu einem Verständnis von Transzendenz als anthropologischem Merkmal, das jeder intentionalen Erfahrung des Menschen inhärent ist (vgl. Knoblauch 2009, 2004; dazu auch Luckmann 1996, S. 77),5 wobei das Transzendieren selbst auf sozialen Prozessen beruhe, sodass „Religion im Kern gesellschaftlich“ sei (Knoblauch 1999, S. 124). Die Transzendenz-Erfahrung erhält somit ubiquitären Charakter und wird laut Knoblauch erst mittels Kommunikation als spezifisch ‚religiös‘ konstruiert. Auch das bereits angesprochene Paradox der „Unsichtbaren Religion“ lasse sich so erörtern. Denn einerseits werde Religiosität tatsächlich privater, mittels neuer kommunikativer Formen jedoch auch zunehmend veröffentlicht (vgl. Knoblauch 2009, S. 40) und damit Teil der public culture. Dies ermögliche gleichzeitig ein Nebenund Ineinander konventioneller religiöser Organisationen und neuer religiöser Bewegungen sowie die Loslösung religiöser Kommunikation und religiösen Wissens von organisierten und institutionalisierten Formen von Religion (vgl. Knoblauch 2014). Innerhalb der heutigen populären Religion werden somit sowohl kulturell

Knoblauch selbst weist darauf hin, dass diese Bezeichnung für „eine Reihe höchst unterschiedlicher Bewegungen“ (2010, S. 102) verwendet wird. 5 Zu seinem anthropologisch funktionalen Religionsbegriff auch Knoblauch (1999, S. 116 f.). 4

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geprägte Formen als auch Inhalte nicht ausschließlich von religiösen Institutionen vermittelt, sondern können ebenso von der populären Kultur ausgehen (vgl. Knoblauch 2009, S. 41). Diese entsteht als neue Form der Kultur dadurch, dass durch Massenmedien und Mediatisierung der Zugang zu (auch spezifisch gekennzeichneten) Kommunikationsformen und deren Überschreitung ermöglicht wird (vgl. Knoblauch 2009, 2013b) und die dadurch als eine Art „kulturelle Klammer, die moderne Gesellschaften umspannt und gemeinsame Kommunikation möglich macht“ (Knoblauch 2009, S. 199). Doch geht es bei der oben beschriebenen Transformation nicht um eine einseitige Entgrenzung. Bislang der populären Kultur eigene kommunikative Formen fließen auch in die organisierte Religion ein, was Knoblauch anhand der gegenwärtigen Gestaltung von Weltjugendtag, Kirchentagen und Papstbesuchen bestätigt sieht (Knoblauch 2009). Der hier zutage tretende Prozess der Entgrenzung von Privatheit und Öffentlichkeit erfährt dabei seinen Ausdruck in der Hinwendung zur in die Alltagskultur eingelassenen Spiritualität, unter der die subjektive Erfahrung von Transzendenz, die holistische Ausrichtung und die Ablehnung formaler kirchlicher Organisation subsumiert werden (vgl. Knoblauch 2014, S. 41). Durch die Sichtbarmachung religiöser Kommunikation entstünden eigene Formen populärer Religion, die sich als Eventisierung/Festivalisierung einerseits und in der durch Mediatisierung veränderten Form von Ritualen andererseits zeigten (vgl. Knoblauch 2014, S. 42 f.). Empirisch fundiert fokussiert Knoblauch dementsprechend zunehmend die Bedeutung der Medien für diese kulturellen Entgrenzungen. Indem Mediatisierung kommunikatives Handeln verändere, so Knoblauch, transformiere sie auch „the role of the actor“ (Knoblauch 2014, S. 43). Empirisch sichtbar werde dies beispielsweise in neuen Formen der päpstlichen Interaktion mit dem Publikum über die Verwendung neuer digitaler Kommunikationstechnologien. Seitens des Publikums treten dabei anstelle körperlicher Frömmigkeitsgesten nun technisch mediatisierte Rituale, durch die u. a. die liturgische Struktur des Events selbst einem Wandel unterliegt bzw. die Grundfeste des katholischen Glaubens verändere, dessen Kernbestandteil das Ritual sei (vgl. Knoblauch 2016).6 Mediatisierungsformen verändern demnach sowohl kommunikatives Handeln als auch Institutionen und Strukturen. Entgegen gängiger Annahmen führe diese Kommunikationsverdichtung nicht zur Auflösung des Sozialen, sondern zu dessen Intensivierung (vgl. ebd.). Genau in dieser Annahme liegt der Kern der theoretischen Erweiterung der populären Religion, die Knoblauch als kommunikative Konstruktion von Transzendenz verhandelt. Hier setzt er bei der graduellen Unterscheidung der zwei von Luckmann verwendeten Transzendenzkonzepte an und identifiziert eine „sociological notion of transcendence“ (Knoblauch 2014, S. 33), die darauf hinweist, dass erst in der Interaktion die für Transzendenzerfahrungen grundlegende Distanz zur eigenen Erfahrung hergestellt werden kann. Wenn Transzendenz allerdings durch die

Diese Beobachtung lässt sich, wie erste Ergebnisse des Projekts „Publikumsemotionen in Sport und Religion“ (Knoblauch, Haken, Wetzels) an der TU Berlin zeigen, auf freikirchliche Gemeinden übertragen. Untersuchungen zu nicht-christlichen Religionen stehen noch aus.

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Relation zu anderen gekennzeichnet ist, wird sie Teil des Kommunikativen Handelns, wodurch Knoblauch seine populäre Religion schlussendlich einer kommunikativen Wende unterzieht.

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Gefühlte Religion und Emotionskultur

Dass eine kultursoziologische Perspektive auch eine religionssoziologische Auseinandersetzung mit der (religiösen) Emotion anleiten kann, demonstrieren Riis und Woodhead (2010). Emotionen erscheinen – gerade innerhalb der deutschsprachigen Soziologietraditionen – häufig als ausschließlich psychologisch beschreibbare, sehr individuelle Phänomene. Riis und Woodhead gelingt es jedoch, durch ihre Fokussierung religiöser Symbole als – auch im Hinblick auf die religiöse Emotionen – vermittelnde Instanzen zwischen Individuum und Gesellschaft, die kulturelle Dimension religiöser Emotionen stark zu machen. Sie gehen davon aus, dass innerhalb eines „emotional regimes“ die Gefühle der Akteure von internalisierten Normen, die von der Gesellschaft inszeniert werden, und von „subjectifying emotions“, die mit heiligen Symbolen verbunden sind, geformt werden (vgl. Riis und Woodhead 2010, S. 118). Diese religionssoziologische Beschäftigung mit Emotionen kommt erst durch eine kultursoziologische Perspektive zustande, die gesamtgesellschaftliche Entwicklungen der Emotionskultur betrachtet und diese mithilfe der Terminologien von Reddy (2001) und Illouz (2007) als Auswirkungen neuer „emotionaler Regime“ und „emotionaler Stile“ interpretiert. Dabei liegt diese Perspektive eigentlich nahe, betrachtet man Durkheims Ausführungen hinsichtlich der zweifachen Verwurzelung der Religion, einerseits in sich kollektiv verstärkenden Emotionen – der Efferveszenz –, sowie andererseits in der ebenfalls sozial strukturierten Auseinandersetzung mit einem sich aus dem Imaginären speisenden gesellschaftlichen Alternativentwurf – einer Basisform von Kultur bzw. Religion (vgl. Durkheim 1998, S. 559 ff.). Im Rahmen des deutschsprachigen religions- und emotionssoziologischen Diskurses haben wir an anderer Stelle gezeigt, wie eine kultursoziologische Perspektive die Rekonstruktion und Beschreibung emotionaler Regime und Stile anleiten kann (vgl. Herbrik 2012; Knoblauch und Herbrik 2014; Herbrik 2014). So zeigt sich, dass sich Gefühlsregeln (Hochschild 1979) als Bestandteile emotionaler Regime im christlichen Bereich in sehr expliziter Form („Du sollst deinen Nächsten lieben“), in der Ansprache durch Zelebranten, in Lied- und Gebetstexten und in Form von Bewertungsmaßstäben für bestimmte Emotionen (wie z. B. Wut) finden. Darüber hinaus sind jedoch auch die ritualisiert wiederkehrenden Abläufe (Kirchenjahr, Liturgie) Bestandteile emotionaler Regime, da sie emotionale Dramaturgien bieten, deren Teilabschnitte mit spezifischen Emotionen wie Freude, Trauer oder Buße verbunden sind. Durch die regelmäßige Wiederholung der emotionalen Dramaturgien und den kontinuierlichen Umgang mit den Gefühlsregeln sozialisieren sich Gläubige in dem emotionalen Regime ihres jeweiligen religiösen Umfeldes. Beim Vergleich der vorfindlichen emotionalen Regime zeigt sich insbesondere hinsichtlich der Regulierung der emotionalen Performanz eine deutliche Varianz. So finden sich konkrete Aufforderungen zu deutlicheren Formen des Ausdrucks von

Religion aus kultursoziologischer Perspektive

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Gefühlen, z. B. in freikirchlichen Gemeinden, neben expliziten Limitierungen des erwünschten Ausdrucksspektrums, z. B. im katholischen Gottesdienst anlässlich des Papstbesuchs in Berlin. Beide sich in ihrem expliziten Aufforderungscharakter ähnelnden Regime rechnen wir dem Pol der stark regulativen, emotionalen Regime zu. Dem entgegengesetzt ist der Pol der schwach regulativen emotionalen Regime, an dem viele Veranstaltungen protestantischer und römisch-katholischer Gemeinden zu finden sind. Zwischen beiden Polen spannt sich ein Kontinuum, auf dem sich weitere emotionale Regime verorten lassen. Für die stark regulativen Regime spielen insbesondere organisatorische und räumliche Einflussfaktoren eine wichtige Rolle, wie die Gestaltung von Liturgie, Kirchenraum und musikalischer Begleitung. Diese eröffnen bzw. verschließen Ausdrucksoptionen, indem sie bestimmte Körperhaltungen anleiten, z. B. durch vorhandenes oder fehlendes Gestühl, sowie Atmosphären und emotionale Klimata schaffen, z. B. durch mehr oder weniger formelle Ausgestaltung der Liturgie oder besonders ergreifende Kirchenmusik. Die Vermittlung von Gefühls- und Ausdrucksregeln geschieht im Zuge der Mediatisierung jedoch nicht nur lautsprachlich und textlich, sondern vor allem anhand audiovisueller Vorlagen. Neben Institutionen (Gemeinden, Kirchen, Medienanstalten) sind an der Mediatisierung der Religion zunehmend die Gläubigen selbst beteiligt. Insbesondere bei Großveranstaltungen wird deutlich, dass emotional herausragende Ereignisse von ihnen durch die Kamera wahrgenommen, aber auch mittels der sichtbaren Aufnahmehandlung (Blitzlichtgewitter, hochgereckte Mobiltelefone) für sich und andere als solche markiert werden. Gleichzeitig werden sie selbst zu Akteur_innen vor der Kamera, da sie als Publikum zunehmend gefilmt, massenmedial verbreitet und sich selbst auf Großleinwänden vorgespielt werden. Zu emotionalen Regimen gehören daher auch jeweils mehr oder weniger strikte Regelungen, die den individuellen Einsatz von Aufnahmemedien reglementieren, z. B. das Fotoverbot bei einem Taizé-Treffen oder einzelnen kirchlichen Trauungen. Für die Seite der schwach regulativen emotionalen Regime zeigen sich neben einer Betonung der emotionalen Dimension von Religiosität auch besondere Ausdrucksregeln, die stark expressive Formen zulassen, jedoch nicht aktiv einfordern. Hierzu gehört häufig auch eine liturgische Gestaltung, die mit alten und neuen Formen – hinsichtlich der Musik, der Platzierung der Körper zueinander und im Raum, des Körperkontakts, haptischer Erlebnisse – experimentiert, um möglichst alle Sinne der Gläubigen (vgl. Meyer 2006) anzusprechen. Das emotionale Erleben dient hier als Grundlage für Entscheidungen, wie beispielsweise die Wahl einer Kirchengemeinde.7 Dieser emotionale Zugang wird innerhalb spezifischer Veranstaltungsformate, wie der Thomas-Messe, dem Bibel-Teilen, Bibliolog und Bibliodrama aufgegriffen. Das auch körperliche (Nach- bzw. Mit-)Erleben biblischer Geschehnisse und der dazu gehörenden Emotionen wird dabei genutzt, um

Von Wegner auch als „sich so spontan in der dadurch erzeugten Atmosphäre zuhause [fühlen]“ (Wegner 2002, S. 34) beschrieben.

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bestimmte religiöse Inhalte und Themen zu vermitteln und zugänglich zu machen.8 Im Hinblick auf die dort verhandelten religiösen Imaginationen bedienen sich die Gläubigen aus einem tradierten, sich jedoch kontinuierlich wandelnden Pool an Bildern und Metaphern, der charakteristisch für die christliche Tradition ist und weite Teile ihrer Sprache und Bildsprache ausschlaggebend mitgeprägt hat und weiterhin auch von ihr geprägt wird. Die für das Sprechen über Emotionen und außergewöhnliche Erfahrungen charakteristische Unbeschreiblichkeitsbeteuerung entpuppt sich als Deutungshinweis, der durch die Versicherung der Unbeschreibbarkeit gerade das Sprechen über das Unbeschreibliche ermöglicht, indem er das Scheitern der Beschreibung vorwegnimmt und sie damit vom Perfektionsanspruch entlastet. Obwohl die christliche Tradition über eine eigene Terminologie zur Beschreibung außeralltäglicher Erfahrungen und Emotionen verfügt, werden insbesondere dort, wo Emotionsausdruck gefordert bzw. Emotionen thematisiert werden, neue Vergleiche, Metaphern und Bilder, z. B. der Gottesdienst als „Wellnesstempel“, konstruiert und neu kombiniert. Auch Ersetzungen finden dabei statt. So wird beispielsweise die im Zuge ihrer psychoanalytischen Aufarbeitung suspekt gewordene Seele durch das – als Grafik global positiv konnotierte – Herz ersetzt und erhält damit einen neuen Bezug zum Körper.

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Fazit

Für religionssoziologische Studien ist eine kultursoziologische Perspektive gerade deshalb so fruchtbar, weil sie immer wieder die Verwobenheit und die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen Religion, Kultur und Gesellschaft problematisiert, damit Religion kontextualisiert und ihre Definition zur Diskussion stellt. Dadurch ist die religionssoziologische Perspektive angehalten, Religion nicht als überzeitlich stabiles, gesellschaftliches Teilsystem zu betrachten, sondern es sich im historischen Verlauf immer wieder neu vor dem Hintergrund kultureller und gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zu erschließen. Umgekehrt sollte jedoch auch verdeutlicht werden, wie aussagekräftig auch noch in heutiger Zeit religionssoziologische Erkenntnisse für eine kultursoziologische Zeitdiagnose sind. So zeugt selbst die Säkularisierungsthese von einer Betrachtungsweise der Gesellschaft, die Umfang und Art und Weise der gefühlten und gelebten, auch institutionalisierten Religiosität ihrer Untersuchungsobjekte für eine zeitdiagnostisch relevante Variable hält. Ob nun jedoch den Säkularisierungs- oder den Resakralisierungstendenzen mehr Gewicht zugemessen wird, bleibt letztlich stark von definitorischen Entscheidungen abhängig. Je umfassender der Religionsbegriff, desto schwächer die Säkularisierung. Gerade deswegen erschien es uns lohnenswert, auch einen Ansatz zu referieren, der die binäre Polarität zwischen Resakralisierungsthese und Säkularisierungstheo8

Häufig wird auf die körperliche Dimension dieser Formate hingewiesen (vgl. Keßler 1998).

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rie in einem synthetisierenden Konzept aufzuheben sucht, das beide Entwicklungen als zwei Seiten einer Medaille versteht. Mittels des Konzepts der „Populären Religion“ gelingt die Synopse beider gerade dadurch, dass die definitorischen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Kultur und Religion als empirisches Ergebnis gelesen werden und damit sowohl den kultur- als auch den religionssoziologischen Diskurs einen gewichtigen Schritt voranbringen.

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Religion aus kultursoziologischer Perspektive

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Technik aus kultursoziologischer Perspektive Matthias Wieser

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Technik, ein Thema bei den Klassikern der Soziologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die technische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Industrialisierung der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Technokratisierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Von der Technik als Symbol zum Umgang mit Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Kultur der Technikentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Kulturtechniken: Kultur als Assemblage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Kultursoziologische Technikforschung analysiert die relationale Verflechtung von Technik, Kultur und Gesellschaft. Der Beitrag begibt sich diesbezüglich auf Spurensuche zunächst bei den Klassikern der Soziologie, dann bei klassischen Arbeiten der Techniksoziologie und folgt schließlich zwei Diskussionssträngen, die einerseits Technik als Teil der Alltagskultur und andererseits Technik in ihrer wissenschaftlichen Entwicklung thematisieren. Die kulturelle Perspektive auf Technikentwicklung und Technikgebrauch stellt die Materialität der Kultur in ihrer Verbindung mit menschlichem Eigensinn und sozialen Machtverhältnissen heraus. Schlüsselwörter

Technikkultur · Technische Gesellschaft · Kulturindustrie · Technikgebrauch · Technikentwicklung · Kulturtechnik M. Wieser (*) Universität Klagenfurt, Klagenfurt am Wörthersee, Österreich E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_47

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Einleitung

Jede Technik ist Kultur. Eigentlich eine Binsenweisheit die manche Wissenschaften vergessen, wenn sie die Begriffe als Gegensätze aufbauen. Doch bereits die namensgebende cultura meinte die Bearbeitung des Feldes, derer es Technik bedarf. Sowohl körperliche, soziale als auch materielle Technik sind im Spiel, wenn es darum geht, Natur(en) zu kultivieren. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Technik im ursprünglichen Sinn als techné auf Kunstfertigkeit verweist.1 Somit kann Technik aus kultursoziologischer Perspektive in vielerlei Hinsicht Thema werden: Wenn es darum geht, bestimmte Körpertechniken für soziale Zwecke zu kultivieren, sei es beispielsweise im Operationssaal oder beim Fahrstuhlfahren.2 Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man von Sozialtechnologie gesprochen, wenn Personen bewusst und zweckmäßig organisiert wurden (Henderson 1901), ein Begriff, der durch soziale Software und Netzwerke zu neuer und positiv konnotierter Bedeutung gekommen ist. Und schließlich kann Technik als Artefakt und materielle Kultur soziologisch zum Thema gemacht werden, denn das Soziale formt Technik und wird durch diese selbst wieder geprägt. Auch Technik und Gesellschaft stellen keinen Gegensatz dar. Kultursoziologische Perspektiven, wie sie in diesem Beitrag vornehmlich vorgestellt werden, verstehen Kultur nicht bloß als ein gesellschaftliches Subsystem. In dieser letztgemeinten Hinsicht könnte beispielsweise die Rolle und Bedeutung von Technik für Literatur, Musik und Kunst herausgearbeitet werden, was man gewissermaßen als eine techniksoziologische Perspektive auf Kultur verstehen könnte. Jedoch geht es vielmehr darum, eine kulturelle Perspektive auf Technik einzunehmen, die den kulturellen Charakter von Technik in seinen gesellschaftlichen Bezügen sichtbar macht. Denn soziologisch wird eine solche kulturelle Perspektive, wenn sie den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang mit im Blick hat (Rehberg 1986).3 Dementsprechend stellt sich der in diesem Beitrag zu erkundende Raum als ein relationales Dreieck von Technik, Kultur und Gesellschaft dar. Alle drei Begriffe beziehen sich wechselseitig aufeinander, sind aber durchaus problematisch. Denn Technik ist gerade heutzutage einerseits eng mit den (Natur-)Wissenschaften verknüpft (technoscience), und andererseits in Form von Medien tief im Alltag sozialer Akteure verankert, ob als Smartphone oder Internet der Dinge (technoculture). Die Vieldeutigkeit von Kultur ist legendär, ob als Moralität (Kant), geistiger Überbau (Marx), Vollendung der Seele (Simmel), authentische Kultur (Adorno) oder gesamte Lebensweise (Williams). Im hier verwendeten Zusammenhang verweist sie auf

1

Klassische Verweise zur begriffshistorisch informierten Problematisierung des Kultur- und Technikbegriff sind Williams (1958/1972) und Heidegger (1954). 2 Vgl. zu den Beispielen Hirschauer (2004). Der klassische Ausgangspunkt für Technologien des Körpers ist Mauss (1934/1989), siehe hierzu auch den Beitrag zu ”Körper aus kultursoziologischer Perspektive“ in diesem Band. 3 Diese Argumentation hat auch Stephan Moebius (2009) zur Profilierung der Kultursoziologie gegenüber den Kulturwissenschaften aufgegriffen.

Technik aus kultursoziologischer Perspektive

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bedeutungs- und handlungsgenerierende Prozesse.4 Und schließlich ist Gesellschaft als soziologischer Schlüsselbegriff fragwürdig geworden und fungiert in diesem Dreieck als ein Platzhalter für soziologische Fragestellungen bezüglich sozialer Ordnung, sozialem Wandel und sozialen Praktiken (Joas und Knöbl 2004; Marchart 2013). Im Folgenden wird verschiedenen und ausgewählten Formen kultursoziologischer Technikforschung gefolgt, die sich der Trias aus Technik, Kultur und Gesellschaft angenommen haben. Fokussiert wird dabei auf Technik als Artefakt, ohne dabei aber die anderen Dimensionen von Technik ganz zu vergessen. Nach einem kurzen Blick auf die Thematisierung von Technik und materieller Kultur bei den Klassikern der Soziologie werden für die Techniksoziologie klassische Arbeiten zum Verhältnis Technik, Kultur und Gesellschaft präsentiert. Im Anschluss daran werden zwei Ansätze dargestellt, die meines Erachtens für die zeitgenössische Diskussion von besonderer Relevanz sind: Zum einen wie technischen Artefakten in der Produktion und im alltäglichen Gebrauch Bedeutung ein- und zugeschrieben wird und zum anderen die Thematisierung der Entstehung von Technik und ihren Kontroversen. Abschließend wird eine aktuelle Position zu kulturellen Institutionen, die beide Ansätze miteinander verbindet, präsentiert.

2

Technik, ein Thema bei den Klassikern der Soziologie?

Als Kind der Industrialisierung und seiner sozialen Frage ist die Soziologie eigentlich von Anfang an mit der Frage der Technik und ihren Auswirkungen auf die Kultur der Gesellschaft verbunden. Allerdings tritt sie meist eher als Randerscheinung auf bzw. wird sie nicht direkt zum Thema der Untersuchung gemacht (Rammert 1998). Eine Ausnahme bildet Karl Marx, der sich sehr für die Geschichte der Technik interessierte. Technik nimmt für ihn eine besondere Stellung in der Gesellschaftsentwicklung ein, wie sein bekannter Satz zeigt, dass „die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten“ ergebe (Marx 1847/1972, S. 130). Denn technische Innovationen sind zentral für die kapitalistische Warenzirkulation und mit Blick auf die Arbeiterschaft tritt die Maschine in Konkurrenz (Marx 1867/ 1962, S. 454). Technik in der arbeitsteiligen Fabrik ist „tote Arbeit“ (Marx 1867/ 1962, S. 446), die den menschlichen Arbeiter verdrängt und entfremdet. So hat Marx zwar bereits früh auf die Rolle von Technik in der Gesellschaft aufmerksam gemacht, doch so wie Kultur für ihn lediglich Überbau der materiellen Basis ist, ist Technik für ihn zwar Produktionsmittel, aber primär eine Gefahr, wenn sie in die Hände der Falschen gelangt, und sie scheint generell eher determinierenden Einfluss auf Kultur und Gesellschaft zu haben. 4

Vgl. hierzu beispielsweise auch die gängige Fassung in englischsprachigen Einführungen, Handbüchern und Darstellungen der Kultursoziologie wie z. B. Spillman (2002); Alexander et al. (2012) und Hall et al. (2010) in denen im Übrigen ein Beitrag zur Technik im engeren Sinne fehlt, dafür aber in allgemeineren Darstellungen von Kulturtheorie zu finden ist wie z. B. Sedgwick (2008); McQuire (2006); Lury (2008) und Pickering (2008).

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M. Wieser

Die eigentliche Gründergeneration der Soziologie wie Max Weber, Émile Durkheim und Georg Simmel interessiert sich eher für Religion, Kultur und Wirtschaft anstatt für Technik. Jedoch tritt sie in Erscheinung, ob als „gefestigte Art[] des Handelns“ und „kristallisiertes Leben“ (Durkheim 1895/1965, S. 114), als „Sachgehalt [. . .] der die Entwicklung der sozialen Kräfte trägt“ (Simmel 1917/1999, S. 76–77) oder sie wird erst verstehbar in der „Bezogenheit menschlichen Handelns darauf, entweder als ‚Mittel‘ oder als ‚Zweck‘“ (Weber 1922/1956, S. 3). So sind für Durkheim ganz selbstverständlich Wasserwege und Wohnstätten soziale Tatsachen, wie für Simmel Geld, Mode und auch technische Artefakte externe Objektivierungen, deren Form und Inhalt in Wechselwirkung zur subjektiven Kultur analysiert werden müssten. Weber betont die Rolle von Kommunikations- und Transporttechnologien für die Demokratisierung und Rationalisierung der Kultur in der Moderne. Sie alle verbindet im Hinblick auf Technik allerdings die Angst um die Dominanz technischer Rationalität als Kehrseite der arbeitsteiligen Gesellschaft der Industriemoderne, ob als „Anomie“ (Durkheim), „eiserner Käfig der Bürokratie“ (Weber) oder als „Krisis der Kultur“ (Simmel) thematisiert. Dieser Topos ist auch ein bekannter, wiederkehrender in der deutschsprachigen (Kultur-)Soziologie – er geistert derridaesk durch sie wie auch die gegenteilige, eher anglofone Begeisterung für neue Technologien und ihre Möglichkeiten.5

3

Die technische Gesellschaft

Etwa zur gleichen Zeit wie die deutschen Soziologen entwickelte William F. Ogburn (1922/1969) in der nordamerikanischen Metropole New York eine Theorie sozialen Wandels, in der, bezogen auf die moderne Gesellschaft, technische Innovationen die entscheidende Rolle spielen. In Anbetracht des enormen Tempos der wissenschaftlich-technischen Entwicklung seiner Zeit sah er andere Bereiche der Kultur moderner Gesellschaften dieser hinterherhinken (cultural lag).6 Der sich beschleunigende technische Wandel ruft vielfältige miteinander verbundene Adaptierungen in der Kultur hervor, worunter er gesellschaftliche Teilbereiche wie Bildung, Wirtschaft und Politik verstanden hat. Um den immer größer und vielzähliger werdenden Lücken zwischen Kultur und Technik entgegenzuwirken, aus denen sich gesellschaftliche Spannungen ergeben (könnten), implementierte er in den USA institutionell erfolgreich die Technikfolgenabschätzung, die bereits bei der Technikentwicklung durch

5

McQuire (2006) verweist zu Recht auf die nordamerikanische Tradition des Technikoptimismus etwa in den Arbeiten von Marshall McLuhan, Ithiel Sola Pool und Nicholas Negroponte, aber auch auf den anfänglich sowjetischen Enthusiasmus im Hinblick auf das seinerzeit neue Medium Film bei Dziga Vertov. 6 In diesem Zusammenhang ist allerdings zu betonen, dass Ogburn dies dezidiert auf die westliche Moderne bezieht. Zu anderen Zeiten und in anderen gesellschaftlichen Konstellationen können auch andere Kulturbereiche als die Technik wie z. B. die Religion der Motor sozialen Wandels (gewesen) sein.

Technik aus kultursoziologischer Perspektive

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Hinzuziehen sozialwissenschaftlicher Expertise mögliche Anpassungsanforderungen an Kultur und Gesellschaft miteinbezieht. Sein Zeitgenosse Lewis Mumford (1934) entwickelt wenig später eine tausendjährige Kulturgeschichte der Technik, die vor allem die kulturellen Veränderungen hervorhebt, die zur Dominanz der technischen Maschine, wie er das nennt, geführt haben. Dabei hat er u. a. bekanntlich nicht die Dampfmaschine, sondern die Uhr zur Schlüsselmaschine der Industrialisierung erhoben (Mumford 1934, S. 14). Während Ogburn eher technikdeterministisch argumentiert, macht Mumford eine kulturalistische Perspektive stark, die von einer Wechselwirkung von kultureller Verfasstheit und Verinnerlichung der Technik ausgeht. Neben seiner Einteilung der Zivilisationsgeschichte in drei verschiedene Phasen, ist seine Unterscheidung von Polytechnik und Monotechnik besonders einflussreich geworden. Diese beschreibt einerseits die autoritäre und andererseits demokratische kulturelle Verfasstheit von Technik. Langdon Winner (1980) wird diese Unterscheidung Jahre später im Hinblick auf Energietechnologien und der Fragestellung, ob Artefakte eine Politik beinhalten können, wieder aufgreifen. Sowohl Ogburn als auch Mumford unterstreichen die soziale Gestaltbarkeit der Technik, wobei Letzterer später diesbezüglich – wie seine europäischen Zeitgenossen – durchaus skeptischer wurde (Mumford 1974).

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Die Industrialisierung der Kultur

In den 1930er-Jahren machte Walter Benjamin (1936/1970) auf die gesellschaftlichen Konsequenzen der Technisierung von Kultur, insbesondere der Fotografie und des Films, aufmerksam. Er sah in der Möglichkeit der technischen Reproduzierbarkeit von Kultur eine Revolution von Kunst und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Im von ihm konstatierten Verlust der Aura, der Einmaligkeit eines Kunstwerkes durch die technische Reproduzierbarkeit, sah er im Gegensatz zu Theodor W. Adorno eine Chance. Das Kunstwerk würde dadurch seine elitäre Exklusivität verlieren und politisiert. So konstatiert er zwar den Missbrauch des Mediums Film durch die Nationalsozialisten, stellt aber das widerständige Potenzial anhand der (sowjetischen) Montagetechnik heraus. Während bei Benjamin eine gewisse Ambivalenz gegenüber den Massenmedien zum Ausdruck kommt, kritisieren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1944/1969) etwas später scharf die Industrialisierung von Kultur. Im US-amerikanischen Exil werden sie unmittelbar Zeuge der globalen, maschinellen und seriellen Produktion von Kultur. Darin sehen sie eine Verdrängung der authentischen Kultur der Kunst, die nun Warencharakter annimmt. Ihre Kulturindustrie-These bildet einen Baustein in ihrer Verfallsgeschichte der modernen Rationalität und der Aufklärung. Dabei verorten sie in der Kulturindustrie einen Massenbetrug. Dieser rührt weniger von einer Manipulation durch Ideologie, sondern entsteht durch die Einwilligung in die Manipulation und Kontrolle durch die Verführung mittels Unterhaltung und Vergnügen. Massenmedial vermittelte Kulturprodukte wie Sitcoms und Hollywood-Filme regen keine Reflexion oder Kritik an, sondern führen zu einer vergnüglichen Verdummung, Vereinheitlichung und wecken Bedürfnisse,

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die man zuvor nicht hatte. Dadurch entsteht ein falsches Bewusstsein bei der Rezipientin, die zur bloßen passiven Konsumentin oberflächlicher Nichtigkeiten wird. Ein zentraler Schlüssel zur Analyse der modernen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA wie in Europa ist die Technik. Technik wird im Verlauf der Industriemoderne zum dominanten Kulturprodukt, das die Kultur dieser Gesellschaften maßgeblich prägt. In der Nachkriegszeit ist es dann wieder stärker die technische Kultur anstatt die Sachtechnik selbst, die problematisiert wird.

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Technokratisierung der Gesellschaft

Insbesondere die Technokratie-These steht in der Nachkriegszeit im Fokus der Diskussion. Jacques Ellul (1954) kritisiert scharf die „technische Gesellschaft“, in der sich die Menschen und ihre Menschlichkeit dem naturwüchsigen technischen Wandel und seiner technischen Leitbilder von Effizienz, Funktionalität und Produktivität unterworfen haben. Dies aufgreifend sieht Arnold Gehlen (1957) „die Seele im technischen Zeitalter“ einer „Komplizierung“ und „Werteverwirrtheit“ ausgesetzt. Sein Freund und Schüler Helmuth Schelsky (1961) hat dies pointiert aufgegriffen: Der Mensch habe durch Wissenschaft und Technik eine zweite Natur geschaffen, die einen Sachzwang ausübe und die Gesellschaft ihrer Gestaltungsmöglichkeiten beraube. Die technisch-wissenschaftliche Zivilisation erzwingt eine neue Form der Herrschaft, diese wird nicht von PolitikerInnen ausgeübt, sondern von Sachgesetzlichkeiten, „die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder Weltanschauungsnormen nicht verstehbar sind. Damit verliert auch die Idee der Demokratie sozusagen ihre klassische Substanz“ (Schelsky 1961, S. 22). Nicht mehr die Natur, sondern die selbstgeschaffene wissenschaftlich-technische Umwelt zwingt den Menschen zur Anpassung. In allen Lebensbereichen schränken technische Kriterien seine Handlungsfähigkeit ein und heben gewissermaßen die Gesellschaft auf – „Posthistoire“ wie auch Gehlen diese Stimmung der Zeit nannte, allerdings ohne den kulturellen Nullpunkt der industriellen Menschenvernichtung des Nationalsozialismus, in den er selbst verstrickt gewesen ist, explizit miteinzubeziehen. Allerdings betonte und begrüßte dieser die „Entmoralisierung“ der Moderne, die mit der Eigengesetzlichkeit der Technik einherging. Diese Technikkritik von konservativer Seite, die bereits in den 1930er-Jahren in noch dramatischerer Form wirkmächtig etwa von Oswald Spengler vertreten wurde, hat natürlich von marxistisch informierter Seite seinen Widerspruch gefunden, wobei jedoch der eher negative Einfluss von Technik auf Kultur und Gesellschaft geteilt wurde. Allerdings nicht als ein (inzwischen) außer-sozialer wie bei Gehlen und Schelsky, sondern als ein durch und durch soziopolitischer: und zwar ideologischer. Jürgen Habermas (1968) sprach in kritischer Auseinandersetzung mit Herbert Marcuse von „Technik als Ideologie“. Anstatt sich der scheinbar unhintergehbaren Logik der technischen Entwicklung zu beugen, versuchte er bereits die „kommunikative Rationalität“ ins Feld zu führen.

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In allen Fällen ist es letztlich nicht so sehr die Sachtechnik, sondern die Dominanz der technischen Rationalität, welche die Sphäre des Sinnlichen, der gesellschaftlichen Normen und des Politischen dominieren würde. Wenn Kultur sich technisiert und bürokratisiert, dann wird die Gesellschaft totalitärer und es besteht Angst vor einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas) oder der Macht der Dinge, die außer Kontrolle geraten. In einem gewissen Sinne kehrt dieses Gespenst Ende der 1970er in den Diskussionen zur Postmoderne und postindustriellen Gesellschaft wieder, wenn es um die Informatisierung der Kultur durch neue Bio-, Informations- und Kommunikationstechnologien geht. Allerdings betonen Autoren wie Jean-François Lyotard vergleichbar mit Benjamin stärker die Ambivalenz von Technik zwischen Gefahr und Chance.

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Von der Technik als Symbol zum Umgang mit Technik

In der sich konstituierenden deutschsprachigen Techniksoziologie der 1980er-Jahre hat Karl H. Hörning früh eine kultursoziologische Position eingenommen (Lengersdorf und Hörning 2014). In Anlehnung an Clifford Geertz’ „Symbolische Anthropologie“ hat er eine Position stark gemacht, die Technik als Symbol, Zeichen und Text versteht. Technik als Zeichen bringt soziale Bedeutungen und Unterschiede zum Ausdruck. Anhand der sozialen Bedeutung diverser Automarken und ihrer Aneignungsformen als Symbol eines je bestimmten Lebensstils und Status lässt sich dies gut verdeutlichen – etwa vom getunten GTI über den Surfer-Bulli bis hin zum protzigen Ferrari. Allerdings birgt die Semiotisierung von Technik die Gefahr ihrer Entmaterialisierung in sich, sodass Technik zum bloßen Spielball von Bedeutungen und unterschiedlicher Interpretationen werden kann. Deswegen ist Hörning (2001) von einer explizit symboltheoretischen Position abgerückt und hat verstärkt die alltägliche Gebrauchspraxis von Technik in den Fokus gerückt hat. Seine Studien stellen den kulturellen Nutzungs- und Bedeutungskontext von Technik im Alltag in den Mittelpunkt. Dabei nimmt er eine kultursoziologische Perspektive ein, die Technik als Ausdruck und Träger sozialer Sinnbezüge als auch Mittel und Mittler von Kultur ansieht. Theoretischer Ausgangspunkt ist eine zweifache Abgrenzung: einerseits gegenüber materialistisch-deterministischen und andererseits gegenüber textualistischen Perspektiven. Technische Artefakte sollen weder als das Soziale beherrschende Entitäten verstanden werden, noch – völlig ihrer Materialität beraubt – lediglich als Zeichen fungieren, sondern vom Umgang mit ihnen gedacht werden. Artefakte produzieren Bedeutungen, aber sie provozieren sie auch (Hörning 2001, S. 67–113). Dadurch kommen zwei Seiten des Umgangs mit ihnen in den Blick: „technikbedingte Handlungszwänge und Eigensinn im alltäglichen Umgang mit Technik“ (Hörning 2001, S. 35). Materielle Kultur ist dann keine Substanz, sondern ein höchst dynamischer Prozess. Erst im Umgang werden Teile der technischen, semiotischen und auch sozialen Einschreibungen relevant, aber auch subvertiert. Eine praxistheoretische Techniksoziologie weiß, dass viel Gesellschaft in Artefakten steckt, interessiert sich jedoch mehr für die Verwendung in der Gesellschaft. Es geht

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um den „Umgang mit Technik“ (Beck 1997): Wie sich Akteure Technik aneignen, in ihre Alltagskontexte einbetten, sie zum Teil ihrer Praktiken und Lebensstile machen (vgl. auch Hillebrandt 2002; Rammert 2007). Als ein Beispiel einer solchen Kultursoziologie der Technik lässt sich die Fallstudie von Paul du Gay et al. (1997) zum Sony Walkman heranziehen. Dieses technische Artefakt, das einen wichtigen Teil der Vorgeschichte heutiger mobiler Medien und ihrer Kultur darstellt, artikuliert verschiedene soziokulturelle Prozesse. In Anlehnung an das von Stuart Hall und Richard Johnson entwickelte Modell des Kulturkreislaufs von Produktion, Konsum, Regulation, Repräsentation und Identität untersuchen die AutorInnen, wie der Walkman produziert, designt, vermarktet, genutzt und massenmedial thematisiert wird. Welche Bedeutungen werden über den Walkman in Umlauf gebracht und welche werden im Umgang mit ihm produziert. Dabei wird der Walkman als Kulturobjekt aufgefasst, weil es durch kollektive Bedeutungen und Praktiken produziert worden ist und zentrale Themen postmoderner Kultur geradezu verkörpert wie etwa die Individualisierung und Ästhetisierung des Alltags, Globalisierung und Hybridisierung, Mobilität und Flexibilität. Dadurch wird das technische Artefakt zu einem Medium, das bestimmte Bedeutungen verbreitet.7 Mit jedem neuen technischen Medium sind neue soziale Techniken (Praktiken) verbunden. Darüber hinaus hängt der Walkman eng mit der Frage nach kultureller Identität zusammen. Der Walkman repräsentiert als Objekt – durch Design, Werbung und Marketing verstärkt – eine bestimmte Identität, wodurch Identifizierungsprozesse in Gang gesetzt werden und ein ganzer Lebensstil (jung, aktiv und mobil) mit dem Produkt verknüpft wird (du Gay et al. 1997, S. 24–40; 65–69, 99–102). Somit ist der Walkman Ausdruck sozialer Differenzierung, aber auch Medium verschiedener kultureller Aneignungsformen wie mit Verweis auf seinen potenziell subversiven Charakter in China gezeigt wird (du Gay et al. 1997, S. 95). So sehr die AutorInnen den produktiven Konsumenten betonen, stellen sie auch heraus, dass selbstverständlich nicht jeder Gebrauch eigensinnig ist (du Gay et al. 1997, S. 102–109). Ein zentrales Anliegen des Buches ist es, die wechselseitige Verschränkung von Produktions- und Nutzungsprozessen herauszustellen – und das, bevor es im Zuge von digitalen Medien, Konvergenzkultur und ‚Produsage‘ offensichtlich und großes Thema werden sollte.8 Im Nachzeichnen des Produktions- und Designprozesses des Walkmans wird deutlich, wie und welche kulturellen Vorstellungen gewissermaßen in das technische Artefakt eingeschrieben werden. Japanische Produktionskultur, amerikanisiertes Design, globale Produktionsstandorte sind Teil dieser Einschreibungsgeschichte, so wie die ‚Erfindung‘ des Walkmans auch Zufallsprodukt organisatorischen Wandels

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Vgl. den Beitrag zu Medien aus kultursoziologischer Perspektive in diesem Band. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es die Firma Apple, die die Erfolgsgeschichte von Sony nun für die konvergente Digitalkultur fort- bzw. neuschreibt. Anhand ihrer Produkte und deren Gebrauch lässt sich die Verdichtung eines kulturellen Moments der Gegenwart aufzeigen (Bull 2007; Hjorth et al. 2012).

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und veränderter Wettbewerbsbedingungen ist (du Gay et al. 1997, S. 41–59). Bestimmte Vorstellungen von einer Konsumentengruppe gehen nicht nur in das Marketing, sondern auch bereits in das Design eines technischen Produkts mit ein (du Gay et al. 1997, S. 61–69). Des Weiteren wirkt der Nutzungskontext zurück auf die Produktion, indem neue Nutzungsweisen neue Produkte ‚produzieren‘, wie den wasserdichten, den Kinder- oder den Pärchen-Walkman. Diese NischenWalkmans dienen dann natürlich der Werbung, um wiederum das Produkt mit einem bestimmten Lebensstil zu verbinden und eine Markenidentität zu produzieren. Genauso zeigen sie anhand des Designs auf, dass es sich beim Walkman um ein transkulturelles bzw. hybrides Artefakt handelt (du Gay et al. 1997, S. 69–74). Beim Design des Walkmans wurde sowohl auf japanische als auch auf ‚westliche‘, insbesondere amerikanische und deutsche ‚Traditionen‘ Bezug genommen, um entsprechend eine globale Kundenschaft anzusprechen, worauf auch der Firmen- und Produktname (Sony Walkman) verweist. Doch auch die Organisation und Produktion wurde globalisiert durch eine internationale Standardisierung des Garantiesystems und der Elektronik sowie durch ‚Outsourcing‘ der Produktion. Diese senkte nicht nur die Arbeitskosten, sondern bot auch die Möglichkeit, auf lokale technische und politische Gegebenheiten zu reagieren, seien es unterschiedliche technische Standards in Frankreich und Großbritannien, billige Arbeitskräfte in Malaysia und Taiwan oder Strukturwandelsubventionen wiederum in Großbritannien. Prozesse der Glokalisierung lassen sich also nicht nur beim Gebrauch des Artefakts, sondern auch beim Design und der Produktion feststellen. Schließlich zeigt die Studie, wie in den Diskursen über den Walkman und seine Nutzung insbesondere in den Massenmedien die Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit neu sozial ausgehandelt werden. In der öffentlichen Kommunikation dominierte ein Diskurs über Gefahren der Individualisierung und Zerstörung der Öffentlichkeit (du Gay et al. 1997, S. 112–120). In diesem Zusammenhang war es nicht der Rückzug aus der Öffentlichkeit in die Privatsphäre, wie zuvor beim Fernsehen oder später beim Computer(-spiel), sondern die Präsenz des Privaten im öffentlichen Raum, die für Anstoß sorgte. Diskussionen, die Jahre später im Zuge steigender Mobilkommunikation wieder neu artikuliert werden (Burkart 2007). Auch solche Diskurse auf Repräsentations- und Regulationsebene haben sich natürlich wiederum auf Produktion und Nutzung ausgewirkt, sei es durch andere Kopfhörer oder Ruhezonen in Zügen. Diese Fallstudie, die eigentlich als Lehrbuch angelegt ist, aber weit darüber hinaus gewirkt hat, steht stark unter der Perspektive des Enactments und der menschlichen Handlungsfähigkeit.9 Im Zentrum stehen die Rekonfigurationen des Technischen durch kulturelle und soziale Praktiken. Technischen Artefakten sind bestimmte Bedeutungen eingeschrieben, aber im Nutzungs- und Aneignungsprozess entstehen weitere Bedeutungen, die Teil des Artefakts werden (du Gay et al. 1997, S. 95). Ein technisches Objekt wie der Walkman wird erst durch bedeutungsgebende

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Zur Gegenüberstellung von Enactment- und Vergegenständlichungs-Perspektive in der Techniksoziologie vgl. Schulz-Schaeffer (2000).

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Praktiken in sozialen Beziehungen hergestellt – „made in usage“ (du Gay et al. 1997, S. 85). In diesem Sinne steht die Studie stellvertretend für Ansätze des „Social Shaping of Technology“ (MacKenzie und Wajcman 1999). Dabei bleibt jedoch der praxisgenerierende Anteil des technischen Artefakts unterbelichtet. Denn Technik formt und erzwingt auch bestimmte Formen des Handelns (Latour 1996b). Solche Formen der (Eigen-)Aktivität der Dinge sind zunächst weniger bei der Erforschung einer Alltagstechnologie wie dem Walkman, sondern bei der Erforschung hochkomplexer Expertensysteme der Natur- und technischen Wissenschaften herausgestellt worden, denen wir uns im Folgenden widmen.

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Die Kultur der Technikentwicklung

Angeregt von der kulturellen Wende der 1970er-Jahre hat sich in der Wissenschaftsund Technikforschung eine kulturelle Perspektive gegenüber institutionalistischen und rationalistischen Ansätzen etabliert (Knorr Cetina 1995; Rouse 1993).10 Die wegweisenden Laborstudien von u. a. Karin Knorr Cetina, Michael Lynch, Bruno Latour und Steve Woolgar haben den Weg bereitet, Wissenschaft und Technik als Kultur und Praxis zu erforschen (Pickering 1992). Mit den interpretativen Methoden einer Ethnologin ausgerüstet, haben sie eine fremd-exotische Spezialkultur in der eigenen Kultur erforscht: Die Arbeit von Naturwissenschaftlern und Ingenieurinnen. Entgegen der bis dahin in der Wissenschaftsphilosophie und -soziologie vorherrschenden Vorstellung, dass das Soziale Wissenschaft kontaminiere und klar davon zu trennen sei, legen diese „Laborstudien“ nahe, dass „[d]ie Wissenschaften [. . .] sich sozialer Praktiken als Instrumente der Erkenntnisfabrikation“ bemächtigen würden (Knorr Cetina 1988, S. 87). So hat beispielsweise Harry Collins (1985) die zentrale Bedeutung von implizitem und inkorporiertem Wissen für die Replikation einer komplexen technischen Experimentalanordnung herausgestellt oder Trevor Pinch und Wiebe Bijker (1984) in ihrer historischen Rekonstruktion der Entwicklung des Fahrrades aufgezeigt, dass die Kontroversen und Interpretationen verschiedener sozialer Gruppen konstitutiv für die Entwicklung vom Hochrad zum kettenbetriebenen Niederrad gewesen sind. Gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Ansätze der Science and Technology Studies (STS) ist es Wissenschaft und Technik als „society in the making“ nachzuvollziehen (Callon 1987). Anhand von Fallstudien wird die Genese technischer Innovationen und wissenschaftlicher Entdeckungen erforscht, um Einsichten in technische Innovations- und wissenschaftliche Erkenntnisprozesse zu produzieren. Dies soll zu einem besseren Verständnis der Kultur gegenwärtiger technologischer Gesellschaften beitragen (Barry 2001). Ähnlich der Walkman-Studie liegt der Akzent des als SCOT (Social Construction of Technology) bekannt gewordenen Ansatzes von Pinch/Bijker auf den Bedeutungszuschreibungen sozialer Gruppen. Die ANT (Akteur-Netzwerk-Theorie) Vgl. hierzu den Beitrag „Wissenschaft aus kultursoziologischer Perspektive“ in diesem Band.

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hingegen hat stärker die Materialität der Technik akzentuiert. Bereits in der Darstellung des „Laboratory Life“ erhielten technische Apparate als faktenproduzierende Ein- und Aufschreibegeräte (inscription devices) besondere Aufmerksamkeit (Latour und Woolgar 1986). Bei der Analyse natur- und technikwissenschaftlicher Kontroversen und Praxis schenken Michel Callon, Bruno Latour und andere den technischen Geräten, ihren Daten und Transformationen besondere Aufmerksamkeit. Sie nehmen – der Tradition französischer Techniktheorien folgend (Nitsch 2008) – Technik als Methode und Maschine zugleich in den Blick. Die beiden klassischen Fallstudien im Bereich Technikforschung sind dabei Callons (1983, 1987, 2006) Untersuchung der Kontroverse um die Entwicklung des Elektroautos in den 1970er-Jahren und Latours (1996a) Studie über das Scheitern des Innovationsprojekts „Aramis“ in den 1980erJahren in Frankreich. Beiden Studien geht es darum, anhand eines konkreten Falls aufzuzeigen, dass bei der Untersuchung eines Innovationsprojekts technische und soziale Aspekte nicht klar voneinander zu trennen sind. Nicht nur eine Reihe an heterogenen Gruppen mit eigenen Interessen und Bedeutungszuschreibungen sind an einem technischen Projekt beteiligt, sondern zusätzlich eine Vielzahl an Artefakten, die sich anders entwickeln als gedacht, und die wie die beteiligten menschlichen Akteure unterschiedlichen Skripten folgen. In „Der Berliner Schlüssel“ führt Latour (1996b) diesen Gedanken auch anhand von alltäglicheren Technologien aus. Der Punkt ist technische Objekte als Medien zu verstehen, die nicht ‚einfach‘ Bedeutung transportieren, sondern ganze Handlungssituationen transformieren. In ihnen wimmelt es an Menschen, ist Moral eingeschrieben, an sie delegiert; Aussagen bekommen durch sie im wahrsten Sinne des Wortes Gewicht, so Latours pointierte Formulierungen in diesem Zusammenhang. Damit möchte er betonen, dass Technik nicht einfach eine zusätzliche Bedeutungsdimension hat, die zu lesen ist, sondern dass sie harte Anforderungen stellt, indem sie wie die Beispiele im Buch vom Sicherheitsgurt, Bodenschwelle, Berliner Schlüssel sowie Türschließer und -anhänger menschliches Handeln diszipliniert – nicht einfach als Bedeutung, sondern es direkt ‚tut‘ (Performanz). Trotz der These von der Härtung des Sozialen durch Technik betont Latour (1994/2006) aber auch ihre Fragilität und Vorläufigkeit. Technische Objekte nehmen wie Menschen nur provisorisch Form an und wandeln sich durch ihre Beziehungen. Die ANT wie die STS insgesamt haben die Bedeutung von Technik für Wissen, Kultur und Gesellschaft herausgestellt und wesentlich zu einer ‚Rehabilitierung des Materiellen‘ sowohl in der Sozial- als auch in der Kulturtheorie beigetragen. Im Verlauf der 1990er-Jahre geraten in den STS allgemein auch stärker Fragen sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz etwa im Hinblick auf Klasse, Ethnie und Geschlecht, aber auch umweltpolitische und postkoloniale Problematiken in Wissenschaft und Technik in den Blick (Hess 2001). Dadurch wird die Einbettung von Wissenschaft und Technik in Machtbeziehungen, die Politik wissenschaftlichen Handelns und seiner Repräsentationen problematisiert oder auch die eigene Intervention ins Feld als Forscherin und Aktivist. Damit einhergehend hat sich die Wissenschafts- und Technikforschung auch für Forschungsfelder jenseits des Labors und der technowissenschaftlichen Kontroversen geöffnet wie z. B. für Medien und soziale Bewegungen, und somit auch für andere Sichtweisen als jene der Expertinnen, wie die der Marginalisierten oder ‚Betroffenen‘.

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Durch die jüngsten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik lassen sich die beiden aufgezeigten Varianten einer kultursoziologischen Technikforschung noch weniger voneinander trennen. Durch die Miniaturisierung und Digitalisierung von Technik ist der Alltag (fast) durchgängig mediatisiert und wir bilden eigentlich technologische Lebensformen (Lash 2002). Distinkte Technologien und damit verbundene Branchen konvergieren und lassen eine digitale Konvergenzkultur entstehen (Jenkins 2006).

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Kulturtechniken: Kultur als Assemblage

Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf das Wirken der beiden zuletzt referierten Diskurse auf die Kultursoziologie im engeren – Bindestrichsoziologie – Sinne aufgezeigt werden. In Auseinandersetzung mit cultural studies, science studies und governmentality studies, aber auch der Kultursoziologie Bourdieus untersucht Tony Bennett (2013) völkerkundliche Museen in Frankreich und Australien. Dabei versteht er diese als „zivile Laboratorien“, weil sie ein Set an Technologien bereitstellen, die in das Soziale intervenieren und es regieren (Bennett 2013, S. 49–69). Er beschreibt Museen als Assemblagen aus Objekten, Texten, Bildern, Praktiken usw., die in dieser Konstellation heterogener Elemente eine bestimmte ‚Vorstellung‘ von Gesellschaft mobilisieren und nicht einfach repräsentieren. Dabei werden in Museen wissenschaftliche und ästhetische Formen der Klassifizierung und Ordnung miteinander verbunden. Museen stellen für Bennett (2013, S. 23–48), wie kulturelle Institutionen insgesamt, Oberflächen dar, die sich in das Soziale in einer bestimmten Weise einschreiben und dadurch den menschlichen Charakter bilden. Kultur stellt dann keinen bestimmten Gegenstand dar, der bislang meist als das Symbolische verstanden wurde. Kultur sollte besser als ein Effekt materiell heterogener Praktiken des Ordnens analysiert werden. Kultur als Assemblage differenter Entitäten unterscheidet sich dann von anderen Assemblagen durch ihre Form, d. h. in ihrer öffentlichen Organisation. Analysen der Produktion kultureller Assemblagen könnten dann zeigen, wie Kultur als ein öffentlich differenzierter Bereich von Gesellschaft gemacht wird. Vor diesem Hintergrund untersucht Bennett (2013, S. 88–108) beispielsweise die Geschichte des Pariser Musée de l’Homme der 1920er- und 1930er-Jahre. Er zeigt auf, wie die akademische und ästhetische Arbeit an und mit Kultur(-objekten) das Soziale ‚formatiert‘ und somit Teil gesellschaftlichen Wandels ist. Das Museum hat eine wesentliche Rolle für das sich wandelnde Verständnis vom Menschen, Kolonialisierten und der französischen Nation gespielt. Es verbindet Ausstellung, Feldforschung und Kolonialpolitik in besonderer Weise und verknüpft dies mit einer bestimmten Pädagogik, die die Kolonien integriert, aber subordiniert.

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Fazit

Der kursorische Überblick zeigt, dass der Wandel des Technikverständnisses stark mit dem Wandel der technischen Verfasstheit der Gesellschaft einhergeht: Von den großen dampfenden Maschinen der Industriegesellschaft zu den ubiquitären und

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‚virtuellen‘ Maschinen der Netzwerkgesellschaft, die ihre Materialität geschickt verbergen (McQuire 2006). Kultursoziologische Technikforschung analysiert die relationale Verflechtung von Technik, Kultur und Gesellschaft. Sie geht der Frage nach der Verknüpfung von Sachtechnik, menschlichen Praktiken und sozialen Strukturen nach. Technik, Kultur und Gesellschaft lassen sich nicht klar voneinander trennen, wie die Studien zur technoscience und zur technoculture zeigen. Die kulturelle Perspektive auf Technikentwicklung und Technikgebrauch stellt die Materialität der Kultur in ihrer Verbindung mit menschlichem Eigensinn und sozialen Machtverhältnissen heraus.

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Wissenschaft aus kultursoziologischer Perspektive Werner Reichmann

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Kultur als Handlungsvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Wissenschaft als Kultur – Laborstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Kulturen der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Epistemologische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die hier vorgestellte kultursoziologische Perspektive innerhalb der soziologischen Wissenschaftsforschung versteht Kultur als kulturelle Praxis, das heißt als über einen geteilten Wissensvorrat gesteuerten Handlungsvollzug. Im Beitrag werden zunächst die sogenannten Laborstudien diskutiert, in denen über die empirische Rekonstruktion wissenschaftlicher Praktiken eine kritische Alternative zu traditionellen wissenschaftstheoretischen Positionen erarbeitet wurde. Darauf aufbauend wird anhand von exemplarischen Studien gezeigt, wie wissenschaftliche Praktiken mit gesamtgesellschaftlichen Phänomenen zusammenhängen. Der Artikel schließt mit der Beschreibung wissenschaftstheoretischer Konsequenzen der kultursoziologischen Perspektive auf Wissenschaft, die, bei aller Heterogenität des Feldes, den gemeinsamen Kern der kultursoziologischen Wissenschaftsforschung darstellen.

W. Reichmann (*) Fachbereich Soziologie, Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0_49

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Schlüsselwörter

Wissenschaftssoziologie · Wissenschaftsforschung · Science Studies · STS · Laborstudien

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Einleitung

Wird Wissenschaft aus einer kultursoziologischen Perspektive erforscht, so wird von der Annahme ausgegangen, dass Wissenschaft, wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Handlungen kulturelle Erscheinungen sind, die mit anderen kulturellen Erscheinungen und Phänomenen einer Gesellschaft vergleichbar und wie diese erforschbar sind und mit ihnen zusammenhängen. Der kultursoziologische Ansatz in der Wissenschaftsforschung erarbeitet Interpretationen wissenschaftlicher Praktiken und nimmt dabei einen Standpunkt ein, der traditionellen, vor allem positivistischen, wissenschaftstheoretischen Positionen kritisch gegenübersteht. Der kultursoziologische Ansatz erweitert diese Positionen, indem er auf beobachtbare wissenschaftliche Handlungen und das dafür notwendige, geteilte Wissen darüber, wie diese vollzogen werden müssen, abzielt. Der kultursoziologische Ansatz betrachtet Wissenschaft zudem nicht als eine ausschließlich kognitive oder rationale Erscheinungsform, sondern entwickelt eine Perspektive auf Wissenschaft, die diese als Nexus vieler einzelner kulturell geformter Handlungen versteht. Eine solche Perspektive zieht eine Reihe methodischer, vor allem aber auch wissenschaftstheoretischer Konsequenzen nach sich, die das Selbstverständnis und die Grundlagen moderner Wissenschaft infrage stellen. Ein kultursoziologischer Blick auf die Wissenschaft situiert Rationalität, Objektivität und Repräsentation von fortgeschrittenen Wissensfeldern in jeweils spezifischen zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen: Er historisiert und lokalisiert Wissenschaft und nimmt ihr damit gleichzeitig ihren Anspruch auf Universalität. Der kultursoziologische Ansatz in der Wissenschaftssoziologie wird von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Ansätzen getragen und speist sich aus deren Erkenntnissen und Methoden, allen voran der Anthropologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Linguistik und natürlich den in den 1990erJahren entstandenen Cultural Studies. Damit ist er ein äußerst heterogenes Feld, in dem unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden und das unter entsprechenden Überschriften und Abkürzungen verhandelt wird, darunter Neue Wissenschaftssoziologie, Science Studies, (Social) Studies of Scientific Knowledge (SSK) und in den letzten Jahren besonders häufig Science and Technology Studies (STS). Eine einheitliche Darstellung dieses Feldes gestaltet sich dementsprechend schwierig und setzt sich immer der Gefahr des Eklektizismus und der Lückenhaftigkeit aus. In Kenntnis dieser Bedingungen wird im vorliegenden Beitrag die kultursoziologische Perspektive auf Wissenschaft vorgestellt. Zunächst werden einige wegbereitende Ideen für eine kultursoziologisch informierte Erforschung von Wissenschaft dargestellt. Anschließend wird der in der kultursoziologischen Wissenschaftsforschung dominante Kulturbegriff erläutert und die darauf aufbauende Idee der Laborstudien

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beschrieben. Dann wird von diesem mikrosoziologischen Ansatz auf die Makroebene gewechselt, um Beispiele für das Wechselspiel zwischen Wissenschaft einerseits und anderen kulturellen Formen in der Gesellschaft andererseits vorzustellen. Abschließend werden fünf epistemologische Konsequenzen und wissenschaftstheoretische Implikationen der kultursoziologischen Perspektive referiert, die – trotz aller Heterogenität des Feldes – als gemeinsamer Kern neuer Wissenschaftssoziologie betrachtet werden können.

2

Wegbereiter

Die Idee, wissenschaftliches Wissen und die Wissenschaft als Ganzes einer soziologischen Untersuchung zugänglich zu machen, basiert auf einer Reihe von wegbereitenden Arbeiten, die unterschiedliche Aspekte einer kultursoziologisch inspirierten Wissenschaftsforschung vorweggenommen haben. In der frühen deutschsprachigen Kultursoziologie finden wir mit Karl Mannheim einen der Wegbereiter, der eine kultursoziologische Perspektive auf Wissen im Allgemeinen und auf wissenschaftliches Wissen im Speziellen möglich gemacht hat. Mannheims Wissenssoziologie basiert auf der grundlegenden Einsicht, dass „in Aussagestrukturen historischsoziale Strukturen hineinragen“, und er fragt danach, „in welchem Sinne die letzteren die ersteren in concreto bestimmen können.“ (Mannheim 1990, S. 229) Mannheim prägte den Begriff der „Seinsverbundenheit des Wissens“ (Mannheim 1990, S. 227), welcher aussagt, dass soziale und historische Positionen Erkenntnis- und Wissensprozesse steuern. Wie später Paul Feyerabend (1984) vergleicht auch Mannheim Wissensprozesse mit künstlerischen Gestaltungsprozessen: Die Tatsache, dass Kunstwerke in der Regel relativ genau datierbar sind, weist auf ihre Wurzeln in sozial-historisch fixierten Kontexten hin. Gleiches ist für die Entstehung von Wissen anzunehmen, wenn nämlich „der geschichtliche Sozialprozeß für die meisten Gebiete des Wissens von konstitutiver Bedeutung“ (Mannheim 1990, S. 233; Herv. i. O.) ist. Während Mannheim sich weniger mit Wissenschaftlichem als mit Wissen im Allgemeinen beschäftigte, schließt Ludwik Fleck wissenschaftliches Wissen explizit in seine Analyse ein und argumentiert, ähnlich wie Mannheim, dass Erkenntnis stärker vom sozial eingebetteten Erlernen denn vom Erkannten selbst (Fleck 1929, S. 425) sowie vom „Denkkollektiv“ (Fleck 1995), in dem die Erkennenden sozialisiert wurden, abhänge. Wissenschaftliche Erkenntnis und Wahrheit ist bei Fleck weniger fixiertes Wissen denn permanent Entstehendes und sich Veränderndes. Er wendet sich damit von einem Begriff der „idealen ‚absoluten‘ Wirklichkeit“ ab und plädiert im Gegenzug dafür, „daß es überhaupt keine gewordene Wissenschaft gibt, sondern nur eine werdende“ (Fleck 1929, S. 429; Herv. i. O.). Ein weiterer Wegbereiter für die kultursoziologische Untersuchung von Wissenschaft ist Thomas Kuhn und seine in der Wissenschaftstheorie weit rezipierte, aber auch heftig kritisierte Studie zum Fortschritt der Wissenschaft (Kuhn 1973). Kuhn versteht diesen Fortschritt als Sequenz von miteinander unvereinbaren „Paradigmen“, die er als innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen sozial akzeptierte Erkennt-

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nisse, Problemlösungen und Wissensformen versteht. Wissenschaftlicher Fortschritt wird von Kuhn – im Gegensatz zur positivistischen Konzeption – nicht als linearer, kumulativer Prozess verstanden, sondern als sozial verhandelte Reaktion auf empirisch beobachtete Anomalien, die innerhalb des herrschenden Paradigmas nicht mehr erklärt werden können. Auch wenn Kuhn an keiner Stelle von Kultur spricht, so hat seine Paradigmen-These doch einen maßgeblichen Beitrag dazu geleistet, Wissenschaft auch einer praxis-orientierten soziologischen Untersuchung zuzuführen. Wissenschaftliches Wissen wurde von ihm gleichsam „aufgebrochen“ und auf ein neues, sozial und kulturell bedingtes Fundament gestellt. Die bislang genannten wegbereitenden Arbeiten beschäftigten sich mit unterschiedlichen Aspekten des (wissenschaftlichen) Wissens, ohne dabei explizit einen Kulturbegriff zu entwickeln bzw. ohne Kultur dezidiert zu berücksichtigen. In ihrem Verständnis von Kultur orientiert sich die moderne Wissenschaftssoziologie an einem Kulturbegriff, dessen philosophische Wurzeln vor allem im amerikanischen Pragmatismus zu finden sind. John Dewey nahm in den 1920er-Jahren theoretisch vorweg, was sich rund 55 Jahre später in den sogenannten Laborstudien als eigener und sehr fruchtbarer Forschungszweig etablieren sollte: Dewey attestierte moderner Wissenschaft einen Wandel von „kontemplative[r]“ zu „operativer Erkenntnis“ (Dewey 1989, S. 167). Wissen, so Dewey (1989, S. 168), sollte weniger „nach dem Modell eines Zuschauers [aufgefasst werden,] der ein fertiges Bild betrachtet“, sondern als jenes „eines Künstlers, der das Gemälde hervorbringt.“ (siehe auch Dewey 1998) Wissenschaftliche Erkenntnis wird bei Dewey also als Nexus von Sinn-vollen Ideen einerseits und vollzogenen Handlungen andererseits konzeptualisiert (Dewey 1998, z. B., S. 111 ff.). Damit ebnet er den theoretischen Weg für eine Verschiebung in der Betrachtung von Wissenschaft von Ideen und Erkenntnis hin zum wissenschaftlichen Handlungsvollzug und zur wissenschaftlichen Praxis. Darüber hinaus waren auch die Arbeiten Robert K. Mertons von Bedeutung, der insbesondere die amerikanische Wissenschaftssoziologie lange Zeit maßgeblich beeinflusste (zum Beispiel Merton 1968, 1973). Seine Arbeiten und die seiner Schülerinnen und Schüler (z. B. Harriet Zuckermann oder Bernard Barber) konzipierten Wissenschaft als soziale Institution, die nach eigenen Normen, Werten und Regeln geordnet und koordiniert ist. Diese Perspektive diente dem in den 1970erJahren entwickelten kultursoziologischen Ansatz in der Wissenschaftsforschung vor allem als Abgrenzung. Insbesondere die Unterscheidung zwischen „internen“ und „externen“ Faktoren der Wissenschaft, also der Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Logiken, die für die Herstellung von wissenschaftlichem Wissen verantwortlich sind, und sozialen, kulturellen und politischen Logiken, die wissenschaftliches Wissen gleichsam „von außen“ beeinflussen und es legitimieren, sollte, so die kultursoziologische Forderung, aufgelöst werden.1

1

Es existiert eine umfangreiche Debatte darüber, ob und wie Mertons Wissenschaftssoziologie die Dichotomie zwischen einer internalistischen und einer externalistischen Perspektive bedient und ob diese Unterscheidung ausreichend präzise formuliert wurde (Shapin 1992).

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Spätestens seit den Arbeiten von David Bloor (1976) und der Formulierung des so genannten „Strong Programme“, in dem die „symmetrische“ Behandlung von „wahren“ und „falschen“ wissenschaftlichen Aussagen gefordert wurde, hat die Unterscheidung zwischen einer „internen“ und einer „externen“ Wissenschaftswelt deutlich an Bedeutung verloren. Wissenschaft sollte, aus Bloors Sicht, gegenüber anderen gesellschaftlichen Erscheinungsformen als gleichwertiges Phänomen behandelt werden, dem keinerlei Sonderposition zukommt. Diese Haltung setzte sich schließlich auch innerhalb der jüngeren Wissenschaftssoziologie in weiten Teilen durch.

3

Kultur als Handlungsvollzug

Die oben genannten Wegbereiter kultursoziologischer Wissenschaftsforschung haben auf unterschiedliche Weise soziale und kulturelle Phänomene zur Erklärung von Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen zusammengeführt, dabei aber nur selten explizit auf einen Kulturbegriff zurückgegriffen. Die Arbeiten der Neuen Wissenschaftssoziologie hingegen beziehen sich vielfach explizit auf Kultur und postulieren einen dezidiert kultursoziologischen Ansatz in der Wissenschaftsforschung. Dabei wurde weniger auf eine präzise oder allumfassende Definition des Kulturbegriffs gesetzt als auf ein gemeinsames implizites Verständnis von Kultur als kultureller Praxis (Knorr Cetina 1995, S. 128). Diese Herangehensweise basiert auf einer spezifisch „modernen“ Interpretation von Kultur als geteilter Ordnung an Bedeutungen, Symbolen und Wissen, welche das Handeln anleitet, ermöglicht und beschränkt (Reckwitz 2006, S. 84–85); dieses Konzept von Kultur wird auch als „bedeutungsund wissensorientierte[r] Kulturbegriff“ (Moebius 2009, S. 19; Herv. i. O.) auf den Punkt gebracht. Ein solcher Kulturbegriff setzt bei Akteuren einen spezifischen, geteilten Wissensvorrat voraus, der entsprechend einer geteilten Ordnung kompetentes Handeln ermöglicht. Der Bezug zur oben kurz skizzierten pragmatistischen Handlungskonzeption von Dewey wird hier besonders deutlich: Erkenntnis ist „nicht so sehr kontemplative Anschauung“, sondern ist Erkennen durch Handeln. Das kulturelle Wissen ist in diesem Verständnis insofern praktisches Wissen, als dass es in seiner Intentionalität beschränkt ist und sich als implizites Wissen in Handlungen ausdrückt. Darüber hinaus ist dieses Wissen verkörpert und an Objekte gebunden. Kultur schließt also immer auch das Materielle in die Analyse mit ein, da sich der Umgang und die Bedeutungszuschreibungen in der Bedienung und Be-Handlung von Objekten ein- und fortschreiben. Sprachliche Traditionen, die Identitäten der handelnden Menschen, Vergemeinschaftungen oder Solidarität werden dabei nicht ausgeblendet – sie werden allerdings in spezifischer Weise als Handlungswissen, also als Wissen darüber, wie beispielsweise Solidarität oder Gemeinschaft in Handlungen ausgedrückt und „getan“ werden, konzipiert.

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Wissenschaft als Kultur – Laborstudien

Kultur als von kulturell bedingten, geteilten Wissensbeständen koordinierte Praxis zu verstehen, führt im Zusammenspiel mit den Thesen Kuhns und Bloors schließlich zu einer Forschungsrichtung, die den wissenschaftssoziologischen Blick von fertigen wissenschaftlichen Ideen, Erkenntnissen und Theorien hin zum „technischen Kern“ der Wissenschaft verschiebt – also vom „Begründungszusammenhang“ (context of justification) zum „Entstehungszusammenhang“ (context of discovery). Statt Ideengeschichte sollte Wissenschaft in-the-making (Latour 1987) erforscht werden. Basierend auf einem solchen Ansatz haben in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre Wissenschaftsforscherinnen und -forscher – die einflussreichsten sind Harry Collins (1985); Karin Knorr Cetina (1981); Bruno Latour und Steve Woolgar (1986); Michael Lynch (1985); Sharon Traweek (1988) sowie Michael J. Zenzen und Sal Restivo (1982) – die sogenannten „Laborstudien“ entwickelt. Anstatt ausschließlich die wissenschaftlichen Schriften und damit die fertigen Produkte von Wissenschaft zu analysieren, gingen sie in naturwissenschaftliche Labore hinein und beobachteten die wissenschaftliche Arbeit vor Ort: das Sammeln und Auswerten von Daten, die Entwicklung von experimentellen Aufbauten, das mündliche „Fixieren“ von Aussagen und Erkenntnissen, die Diskussionen unter den naturwissenschaftlich Forschenden und das Schreiben von Papieren. Diese ethnografische Erforschung naturwissenschaftlicher Labore fokussierte insbesondere das geteilte Wissen und die wissenschaftlichen Praktiken, die Handlungen und Interaktionen und die dadurch hergestellten Ordnungen in den Laboren. Große Bedeutung kam dabei der detailreichen Rekonstruktion der wissenschaftlichen Arbeit zu, welche auch eine ethnomethodologische Perspektive auf Wissenschaft, wie sie Michael Lynch (1985, 1993) vorantrieb, erlaubte und die an praktisches Wissen gebundene Ordnungen im Labor zum Gegenstand empirischer Erhebungen machte. Dabei spielte auch eine aus der anthropologischen Forschung importierte methodische Innovation eine große Rolle: die Integration von teilnehmender Beobachtung, ethnografischen Interviews sowie der „Dichten Beschreibung“ (vgl. Geertz 1999) von Handlungsfeldern in die soziologische Analyse. Diese drei Methoden setzten zum einen eine geringe Distanz zum Erkenntnisgegenstand und ein direktes dem Handlungsfeld Ausgesetzt-Sein der Forscherin bzw. des Forschers voraus (Knorr Cetina 1981, S. 17–20). Zum anderen deutet die Übernahme anthropologischer Methoden zur Erforschung von Wissenschaft darauf hin, dass ein kultursoziologischer Ansatz in der Wissenschaftsforschung wissenschaftliche Handlungen mit sozialem Handeln in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen gleichsetzt. Damit wurde man Bloors Idee, Wissenschaft mit anderen gesellschaftlichen Feldern, zum Beispiel dem Alltag, dem Berufsleben etc. gleichzusetzen, in der empirischen Analyse gerecht (Collins und Yearly 1992, S. 308). Aus all dem wird ersichtlich, dass die „Laborstudien“ zu einem neuen Blick auf Wissenschaft führten, der manche wissenschaftstheoretische Gewissheiten erschütterte. Zur Wissenschaft gehörte nun plötzlich auch wissenschaftliche Arbeit, die nicht ausschließlich aus rationalen, mentalen und kognitiven Prozessen besteht – sondern aus vermeintlich Banalem, Routinisiertem, Alltäglichem, wie beispiels-

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weise Equipment für die Laboratorien besorgen, Experimente zum Laufen bringen, eigene und die Ergebnisse anderer replizieren, gemeinsam Kaffee trinken, um die Aufmerksamkeit anderer buhlen, auf eigene Ergebnisse und Erfolge hinweisen, über Daten diskutieren, Macht ausüben, Papiere schreiben und revidieren u. v. m. Diese kultursoziologische Perspektive auf die wissenschaftlichen Praktiken hat sich in der Folge auch auf die Wissenschaftsgeschichte ausgeweitet, indem nun Instrumente und Labortagebücher als historische Quellen herangezogen wurden und die Arbeitsabläufe und die Materialität wissenschaftlicher Praxis in den historischen Blick genommen wurde (zum Beispiel Bödecker et al. 1999). Bei all dem spielt Kultur, oder präziser: spielen Kulturen, eine wichtige Rolle: Kulturen werden durch wissenschaftliche Praktiken ausgedrückt und reproduziert. Über sie wird festgelegt, was gute wissenschaftliche Arbeit ist und welche Arbeiten zu akzeptierten wissenschaftlichen Ergebnissen führen. In diesem Lichte wird die Herstellung von wissenschaftlichen Ergebnissen in starkem Maße selbst zu einer Kultur, welche spezifische kulturelle Fähigkeiten und Wissen hervorbringt. Eine der wichtigsten Konsequenzen der kultursoziologischen Perspektive auf Wissenschaft ist, dass sie einer radikalen räumlichen und zeitlichen Kontingenz ausgesetzt ist. Wenn Wissenschaft als Kultur gedeutet wird, dann bedeutet dies auch, dass Wissenschaft konventionell ist und grundsätzlich auch ganz andere Formen und Inhalte annehmen könnte. In letzter Konsequenz führt dies auch dazu, dass wissenschaftliche „Wahrheit“, wie sie zu einem spezifischen Zeitpunkt als selbstverständlich an- und hingenommen wird, grundsätzlich immer auch anders sein könnte (Shapin 1994). Die moderne Wissenschaft, ihre Praktiken und Organisationsformen sind dann das Ergebnis nur eines von mehreren Wegen, die zu einem früheren Zeitpunkt hätten eingeschlagen werden können (Fuller 1994, S. 147). „Modern science“, wie Hagendijk (1990, S. 57) es ausdrückt, „would not exist as we now know it if these people in the seventeenth and early eighteenth centuries had not established this particular way of handling these distinctions“ (vgl. dazu Thorpe 2007). Wie der Begriff der „Laborstudien“ bereits andeutet, konzentriert sich der kulturwissenschaftliche Ansatz in der Wissenschaftssoziologie vor allem auf die Erforschung naturwissenschaftlicher Disziplinen und damit vor allem auf die Chemie, Physik und (Mikro-)Biologie. Eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes erfolgte allerdings schon in den 1980er-Jahren, beispielsweise als Harry Collins (1985) die Parapsychologie als Vergleichsfall heranzog. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich zudem erste Versuche finden, auch nichtnaturwissenschaftliche Wissenschaftsfelder aus kultursoziologischer Perspektive zu untersuchen (z. B. Reichmann 2013).

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Kulturen der Wissenschaft

Die Konzeption von Wissenschaft als kulturelle Praxis und als auf einem geteilten Wissensbestand fußender Handlungsvollzug bleibt nicht auf die Mikroebene beschränkt, sondern hat auch Analysen jenseits mikrosoziologischer Handlungszusammenhänge hervorgebracht. Dabei wird auf der Makroebene die

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Wissenschaft als Kultur und damit als auf kulturellen Praktiken basierend interpretiert. Wissenschaftliche Praktiken werden als Grundelemente einer auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene beobachtbaren Kultur interpretiert, als Einzelteile, die sich zu großen kulturellen Phänomenen verdichten. Im Folgenden werden drei Studien vorgestellt, die unterschiedliche wissenschaftliche Felder aus kultursoziologischer Perspektive in den Blick nehmen und dabei makrosoziologische Erkenntnisse liefern. Dabei geht es immer um die Verflechtung und „Ko-Produktion“ wissenschaftlicher Praktiken mit makrosoziologisch relevanten Phänomenen.

5.1

Jasanoff: „Civic Epistemologies“

In ihrer vergleichenden Studie zum Umgang mit Biotechnologie in den USA, Großbritannien und Deutschland zeigt beispielsweise Sheila Jasanoff (2005) unterschiedliche nationale techno-wissenschaftliche Kulturen auf. Die drei genannten Staaten entwickelten unterschiedliche Strategien, um biotechnologische Forschung und Industrie zu fördern, was, wie Jasanoff ausführt, auf unterschiedliche Kontroversen und Aushandlungsprozesse in der Herstellung wissenschaftlichen Wissens zurückzuführen ist. Obwohl jeder der genannten Staaten biotechnologische Forschung unter demokratische Beobachtung und Regulation stellt, formt sich diese jeweils erstaunlich unterschiedlich aus: Die Industrien sind unterschiedlich strukturiert, ihre Verbindungen zu akademischer Forschung unterscheiden sich und der staatliche Umgang mit den Produkten biotechnologischer Forschung ist ebenso verschieden. Diese Analyse zeigt, wie wissenschaftspolitische Entscheidungen zu einem Teil nationaler Selbstverständnisse und Kulturen werden. Jasanoff prägt für diese Unterschiede den Begriff der „civic epistemologies“, der den bürgerschaftlichen und demokratischen Umgang mit Wissenschaft und Technik einerseits und epistemischen Praktiken andererseits in einen Zusammenhang bringt (Jasanoff 2005, S. 255). „Civic epistemologies“ weisen unterschiedliche Dimensionen auf, wie beispielsweise Formen der Wissensherstellung in der Öffentlichkeit, Zugang und Ausmaß von Verantwortlichkeit und Vertrauen, Formen der Präsentation von Wissen, Formen der Objektivität sowie Annahmen über die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit des Expertenkörpers (Jasanoff 2005, S. 259). So ist etwa das Vertrauen in Experten in den USA vergleichsweise gering ausgeprägt. Ihre Verantwortung wird in formalisierten gesetzlichen und regulierten Prozessen verankert, womit einhergeht, dass Objektivität als formaler Prozess interpretiert wird. Im Gegensatz dazu ist das Vertrauen in Experten in Deutschland vergleichsweise hoch – insbesondere dann, wenn sie öffentlich legitimierte Rollen besetzen. Objektivität wird hier allerdings als das Ergebnis von auf Vernunft basierten Verhandlungen zwischen Repräsentanten von Interessengruppen verstanden.2 2

Zu nahezu identischen Ergebnissen kommen Campbell und Pedersen (2014) in ihrer international vergleichenden Studie zur kulturellen Ko-Produktion von wirtschaftswissenschaftlichem Wissen/ Expertentum und Politik.

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Neben dem spezifischen Verständnis der Ko-Produktion, also der engen Verflechtung von Politik und der Herstellung und Legitimität von wissenschaftlichem Wissen, finden wir hier einerseits die Verwurzeltheit von Wissenschaft in lokalem Wissen und in lokalen Praktiken des Umgangs mit diesem. Dieses Wissen wiederum bildet sich, andererseits, in kulturellen Mustern heraus, welche ihrerseits in nationalen Kontexten entstanden sind.

5.2

Fourcade: Ökonomie & Gesellschaft

Ähnlich argumentiert Marion Fourcade (2009), die ebenso international vergleichend die Wirtschaftswissenschaft, ihre professionellen Arbeitsweisen und Wissensformen sowie ihre Verflechtungen mit den jeweiligen wirtschaftspolitischen Systemen in den USA, Großbritannien und Frankreich untersucht. Unterschiedliche kulturelle Praktiken in der Herstellung von wirtschaftswissenschaftlichem Wissen führen zu einem unterschiedlich ausgeprägten professionellen Selbstverständnis unter Ökonomen und hängen eng mit nationalen Unterschieden in der Wirtschaftspolitik und in den wirtschaftspolitischen Systemen zusammen. Fourcade führt einerseits politische und institutionelle Gründe für die verschiedenen wissenschaftlichen Professionskulturen an; so findet sich beispielsweise eine eher marktorientierte Politik in den USA, eine stark an der Öffentlichkeit orientierte Elite in Großbritannien und ein ausgeprägter staatlicher Dirigismus in Frankreich. Andererseits geht sie auch auf das „intellectual framework“ ein, das kulturell geprägte wirtschaftswissenschaftliche Praktiken und Wissensformen entstehen lässt. Kulturelle Praktiken der ökonomischen Profession verändern staatliche und politische Strukturen – diese wiederum transformieren die Bedingungen für die Produktion ökonomischen Wissens. Diese Interdependenz wird von Fourcade (2009, S. 242) als „codependence of ideas and institutions“ bezeichnet.

5.3

Knorr Cetina: Epistemic Cultures

Während bei Jasanoff und Fourcade wissenschaftliche Praktiken die Eigenschaften nationalstaatlicher Einheiten spiegeln – eine Erkenntnis, die sich nicht nur gegen den Anspruch wissenschaftlicher Universalität richtet, sondern auch simplifizierende Globalisierungstheorien widerlegt –, trifft der Begriff der Wissenskulturen (Epistemic Cultures) von Karin Knorr Cetina (2002) den Kern wissenschaftlichen Arbeitens. Dieser Begriff entstand auf der Grundlage einer vergleichenden Laborstudie von zwei einflussreichen naturwissenschaftlichen Disziplinen, der Hochenergiephysik und der Molekularbiologie. Der vergleichende Ansatz sollte der Frage nachgehen, inwieweit die Ergebnisse früherer Laborstudien über disziplinäre Grenzen hinweg generalisiert werden können. Der Begriff der Wissenskulturen zielt dabei darauf ab, die im Positivismus propagierte methodologische Einheit der Wissenschaften zu hinterfragen. Empirisch zeigt Knorr Cetina, dass die Naturwissenschaften in unterschiedliche Wissenskulturen

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ausdifferenziert sind. Jede dieser Wissenskulturen beinhaltet unterschiedliche Praktiken, Handlungsstrategien und -politiken, die konzeptionell unter dem Begriff der Wissenschaft zusammengefasst werden können. Wissenskulturen werden dementsprechend definiert als „diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die, gebunden durch Verwandtschaft, Notwendigkeit und historische Koinzidenz, in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen was wir wissen.“ (Knorr Cetina 2002, S. 11; Herv. i. O.) Wie Knorr Cetina in weiteren Studien gezeigt hat, sind Wissenskulturen nicht auf akademische Handlungsfelder beschränkt; vielmehr kommt es in Wissensgesellschaften zu einem „Überlaufen“ (spill over) in andere Handlungsfelder. Dabei werden die Wissenskulturen insbesondere in wissensintensiven beruflichen Kontexten (Jensen et al. 2012), in Organisationen, aber auch in ganz alltäglichen Tätigkeiten, beispielsweise Musik hören, wirksam (zum Beispiel Knorr Cetina und Reichmann 2015).

6

Epistemologische Konsequenzen

Der Einbezug des Begriffs der Kultur in die Erforschung von Wissenschaft hat zahlreiche wissenschaftstheoretische Konsequenzen, die mit herkömmlichen Perspektiven auf wissenschaftliches Wissen und auf die Wissenschaft kollidieren. Ein kultursoziologischer Blick auf die Wissenschaft hat auch maßgebliche Folgen für die Wissenschaftstheorie: Er fordert die traditionelle Behandlung wissenschaftlichen Wissens als eine Sonderform der Realität heraus, da er es auf gleicher Stufe mit anderen Wissensformen behandelt. Auch wenn die kultursoziologische Perspektive auf Wissenschaft eine Vielzahl an Richtungen und Ansätzen hervorgebracht hat, ist es möglich, einen Kern an Erkenntnissen darüber zu identifizieren, wie Wissenschaft als kulturelles Phänomen interpretierbar ist und welche wissenschaftstheoretischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Im Folgenden werden fünf Merkmale herausgearbeitet, die diesen Kern charakterisieren: die Betonung von Heterogenität gegenüber Universalismus; die Herstellung von Verständnis statt Erklärungen; die Berücksichtigung von Körperlichkeit und Materialität; die grundsätzliche Offenheit wissenschaftlicher Felder sowie die Neigung zur Kritik. Aus den bislang gezeigten Beispielen sollte bereits deutlich geworden sein, dass, erstens, Wissenschaft aus einer kultursoziologischen Perspektive als heterogenes soziales Phänomen begriffen werden muss. Wissenschaft unterscheidet sich zunächst auf der Makroebene, auf der sich nationale Wissenschaftsstrukturen etablieren, welche sich wiederum durch wissenschaftliches Wissen gemeinsam verändern. Vor allem aber unterscheiden sich (natur-)wissenschaftliche Praktiken zwischen und innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen. Wissenschaft beruht also auf lokalem und historisch gebundenem Wissen – ihre Ergebnisse, Normen und Produkte sind damit zeitlich und räumlich variabel. Diese anti-essenzialistische Sichtweise impliziert, dass Wissenschaft nicht auf einheitliche, universell gültige Ziele, Praktiken oder Sprachen reduziert werden kann.

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Zweitens wehrt sich der kultursoziologische Ansatz in der Wissenschaftsforschung gegen eine epistemische Reduktion auf das Erklären wissenschaftlichen Wissens durch soziale oder kulturelle Faktoren. Vielmehr konzentriert sich der Ansatz auf das Verstehen wissens- und bedeutungsvoller wissenschaftlicher Praktiken und auf die dadurch entstehenden kulturellen Phänomene im Feld der Wissenschaft. Der erklärende Ansatz würde versuchen, ein möglichst breites Phänomen durch eine möglichst geringe Anzahl von Faktoren zu erklären und nimmt damit im Namen einer in sich schlüssigen Theorie Vereinfachungen und den Verlust von Unterschieden in Kauf. Dem gegenüber fokussiert eine kultursoziologische Wissenschaftssoziologie die Herstellung von Sinn, die materiellen Bedeutungen und das know how des Handlungsvollzugs in seiner ganzen Breite. Hier wird besonders deutlich, dass ein sozialkonstruktivistischer Ansatz nicht deckungsgleich mit einer Kultursoziologie der Wissenschaft ist: Ersterer sucht wissenschaftliche Phänomene, seien es ihre Organisationsformen oder auch das produzierte Wissen, durch soziale Faktoren zu erklären. Letzterer konzentriert sich auf die Untersuchung der Herstellung von Bedeutungen, Handlungswissen und Praktiken. Wenn Wissenschaft, drittens, als eigenständiges kulturelles Phänomen gedeutet wird, dann wird nicht vergessen, dass es sich dabei um ein grundsätzlich offenes, mit anderen sozialen Bereichen kommunizierendes Feld handelt. Wissenschaft ist aus einer kultursoziologischen Perspektive schlecht als Scientific Community denkbar, da Wissenschaft dann als geschlossenes System behandelt würde. Die Dichotomie des Innen und Außen, etwa von Wissenschaft und Gesellschaft, wird aus kultursoziologischer Sicht abgelehnt. Damit kann der Wissenschaft kein von anderen kulturellen Phänomenen bzw. der Gesellschaft gleichsam abgekoppelter normativer Rahmen unterstellt werden, wie es beispielsweise noch bei Merton zu finden ist. Auch sind Wissenschaftler nicht in autonome und eindeutig abgrenzbare Gruppen einteilbar, wie dies die Netzwerkmetapher des „invisible college“ (Crane 1972) suggeriert oder wie es das umkämpfte „wissenschaftliche Feld“ (Bourdieu 1999) vermuten ließe. Viertens versteht der kultursoziologische Ansatz Wissenschaft nicht als eine körper- und materialitätslose – also rein mentale oder kognitive – Tätigkeit. Traditionelle wissenschaftstheoretische Arbeiten behandeln wissenschaftliches Wissen als frei kommunizierbare Ideen, die von wissenschaftlichen Objekten sowie vom Wissenschaftlerkörper abgelöst sind. Dagegen analysiert die kultursoziologisch orientierte Wissenschaftsforschung die Bedeutung von (auch und vor allem körperlichem) Können und Kompetenzen einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und rückt die Existenz und die Verwendung wissenschaftlicher Objekte – also Instrumente, Experimentalanordnungen, Laborgeräte, in neuerer Zeit auch Serverlandschaften etc. – in den Mittelpunkt. Dabei rücken „postsoziale“ (Knorr Cetina 1997) Subjekt-Objekt-Beziehungen ebenso in den Blick der Analyse wie die Verschränkung kultivierter, menschlicher Praktiken mit materieller, nicht-menschlicher Handlungsträgerschaft (vgl. zum Beispiel Latour 1988). Dass dies sinnvoll ist, zeigt ein Beispiel aus der Botanik: So beruht die

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neue, auf rein technischen Innovationen in der Biotechnologie basierende Pflanzen-Taxonomie weder auf empirischen „Anomalien“ (Kuhn 1973) noch auf neuen Fragestellungen oder innovativen Theorien, sondern wurde durch die Erfindung und kompetente Bedienung neuer Geräte möglich (vgl. Dean 1979). Objekte können auf diese Weise quasi selbstständig neue Erkenntnisse produzieren. Die Berücksichtigung des Körpers macht zudem den Bezug der kultursoziologischen Wissenschaftsforschung zu neueren praxistheoretischen Ansätzen (Reckwitz 2003) deutlich: Wissenschaftliches Wissen wird auch verkörpert, also in den Körper eingeschrieben, von und durch ihn (re-)produziert und dargestellt. Solches Wissen wird häufig als implizites Wissen (tacit knowledge) bezeichnet; dabei handelt es sich um Wissen, dessen sich deren Träger wenig bewusst sind und das unintentional und prä-reflexiv abgerufen wird (Collins 2010). Der Körper wird so als Wissensträger und als wesentliches Moment in der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens konzipiert (bspw. Myers 2008). Der fünfte und letzte Punkt trifft nur für einen Teil der Autorinnen und Autoren und ihre Arbeiten, die Wissenschaft aus einer kultursoziologischen Perspektive erforschen, zu. Er ist aber aus epistemologischen wie gesellschaftlichen Gründen wichtig genug, um hier Erwähnung zu finden. Die bereits im „Strong Programme“ geforderte Reflexivität im Denken und Interpretieren wissenschaftlicher Arbeit und wissenschaftlichen Wissens führt häufig dazu, die erforschte Welt nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch zu kritisieren, normative Theorien zu entwickeln und diese in ein politisches Programm zu integrieren. Diese grundsätzlich kritische Haltung, also Wissenschaftskritik als Gesellschaftskritik, sei, so einige Autorinnen und Autoren, in die interpretativen Vorgehensweisen der Science Studies gleichsam „eingebaut“ (Fuller 1992). Auch eine solche bewusst normative Haltung stellt eine Abkehr von der traditionellen Wissenschaftstheorie dar, die behauptet, dem Erkenntnisgegenstand werturteilsfrei und neutral gegenüberzutreten. Normative Theorien lösen innerhalb der Wissenschaftssoziologie immer wieder kontroverse, im Kern gesellschaftspolitische Diskussionen aus. Beispielsweise provozierten Collins und Evans (2002) mit ihrer tendenziell dem Realismus zugeneigten Interpretation der Expertise und des Expertentums heftige Reaktionen, unter anderem von Jasanoff (2003) oder Wynne (2003). Hinter dieser Diskussion stehen unterschiedliche politische Positionen, die die gesellschaftliche Rolle von (natur-) wissenschaftlichem Wissen, wie es in der westlich-industrialisierten Welt verstanden wird, auf der einen Seite und anderen, lokal situierten Wissensformen und demokratischen Entscheidungsprozessen auf der anderen Seite unterschiedlich bewerten.

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Fazit

Aus einer kultursoziologischen Perspektive ist Wissenschaft ein Feld von kulturellen Praktiken, das, vergleichbar mit anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern, in seinem Handlungsvollzug, seinen Routinen, seinen Körper- und Objektgebräuchen und seinen sozialen und politischen Strategien empirisch untersucht werden kann.

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Der kultursoziologische Ansatz hat sich in der Erforschung von Wissenschaft in zweierlei Hinsicht als sehr fruchtbar erwiesen: Einerseits hat er neue, soziologisch inspirierte Akzente in der Wissenschaftstheorie gesetzt, die sowohl das Verständnis von wissenschaftlicher Forschung als einer der wesentlichen Triebfedern moderner Gesellschaften vertieft haben als auch als Kritik an wissenschaftlichen Praktiken und wissenschaftlicher Ethik verstanden werden können. Andererseits wurden, aufbauend auf den Laborstudien und den dort vorgefundenen Verschränkungen zwischen natürlichen und sozialen Ordnungen, viele Handlungsfelder außerhalb der Naturwissenschaften erschlossen und neu interpretiert, beispielsweise die Ökonomie (zum Beispiel Böhme 2015; Reichmann 2013, 2015), aber auch außerakademische, aber wissensintensive Berufe wie jene des Börsenhändlers (zum Beispiel Wansleben 2013) oder des „Kreativen“ (zum Beispiel Krämer 2014).

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Personenregister Im Personenregister werden alle Personen aufgeführt, die im Fließ- oder Fußnotentext genannt werden – unabhängig davon, ob sie in der Soziologie oder der Wissenschaft im Allgemeinen tätig sind/waren oder nicht. Nicht aufgenommen wurden hingegen Namensnennungen in Zitaten oder sonstigen Literaturverweisen.

A Abraham, Anke 464 Adloff, Frank 338 Adorno, Theodor W. 156f., 159, 162f., 170, 290, 293f., 630, 633 Alford, Robert R. 42f. Almond, Gabriel A. 590 Althusser, Louis 98, 214 Amann, Klaus 225, 230 Anderson, Benedict 532f. Appadurai, Arjun 298, 567 Archilochos 506 Arendt, Hannah 593 Armstrong, John 530 Arndt, Ernst Moritz 502 Assmann, Aleida 337, 339, 341f., 347f. Assmann, Jan 337, 339–342, 348 Augé, Marc 411 Austin, John L. 115, 474 B Baberowski, Jörg 375 Bachmann-Medick, Doris 363 Bachofen, Johann Jakob 354 Back, Les 196 Bacon, Francis 177 Baecker, Dirk 284, 338 Bäumer, Gertrud 357 Banfield, Edward 408 Barad, Karen 54, 57, 64, 66–69 Barbalet, Jack 308f. Barber, Bernard 648 Bar-Hillel, Yehoshua 17 Barker, Eileen 620 Barlösius, Eva 322, 324, 330 Barth, Fredrik 533 Barth, Karl 616

Barthes, Roland 294f., 297 Bataille, Georges 78, 81 Baudelaire, Charles 516 Baudrillard, Jean 151f., 155, 157, 159–162, 165, 167, 170f., 295, 551 Bauer, Otto 532 Bauer, Susanne 326 Baum, Markus 384 Bauman, Zygmunt 151, 162–164, 167, 383–385, 388f., 462 Baumberger, Otto 519 Beauvoir, Simone de 358, 360f. Bebel, August 355 Beck, Ulrich 94f., 158f., 268, 395, 535 Becker, Howard S. 208 Bell, Alexander Graham 444 Bellah, Robert N. 590 Benedict, Ruth 232 Benjamin, Walter 78, 280, 293, 503, 512, 614, 633, 635 Bennett, Tony 640 Berg, Eberhard 226 Berger, Peter L. 30–36, 42, 46f., 182, 207, 212, 216, 283, 328, 533, 614 Bergmann, Jörg 3, 12, 17f., 20f. Bergson, Henri 61, 339 Berli, Oliver 249, 251 Bertaux, Daniel 196f. Best, Steven 156 Bhabha, Homi K. 97–99, 530 Bijker, Wiebe 638 Billig, Michael 535 Bloch, Ernst 167, 280 Bloomfield, Leonard 473 Bloor, David 649f. Boas, Franz 232, 234 Bobergh, Otto 517 Boehm, Gottfried 62

# Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Moebius et al. (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-07645-0

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662 Boghossian, Paul 68 Bohr, Niels 69 Boisvert, Yves 167 Boli, John 36 Bollnow, Otto Friedrich 601 Boltanski, Luc 209, 563 593 Bonacker, Thorsten 381 Bonz, Jochen 97 Bourdieu, Pierre 44, 87, 103, 110–113, 116, 118, 124, 215, 250, 254, 261, 267–270, 295, 299, 311, 324, 330, 345, 443, 454, 459–461, 487f., 494, 561, 565, 567f., 591f., 600 Brand, Karl-Werner 212 Brecht, Bertolt 167 Breidenstein, Georg 226 Breuer, Franz 254 Brewer, John 440 Brillat-Savarin, Jean Anthèlme 443 Bröckling, Ulrich 93, 593 Browning, Christopher 382 Bühler, Karl 432 Burchardt, Marian 617 Burchell, Graham 93 Burckhardt, Lucius 298 Burkart, Roland 427 Burke, Kenneth 212 Burke, Peter 342 Butler, Judith 77, 79, 83f., 87–92, 95f., 98f., 101f., 109f., 112, 115f., 119, 361f., 463, 575 C Caillois, Roger 614 Callon, Michel 573f., 576, 639 Campbell, John L. 652 Casanova, José 618 Cassirer, Ernst 70 Castoriadis, Cornelius 284, 593 Castro Varela, Maria do Mar 97 Certeau, Michel de 101, 116, 279, 600 Chaney, David 195 Charmaz, Kathy 246–248, 254 Chiapello, Eve 209, 559, 563 Chomsky, Noam 473f., 477 Clarke, Adele 217, 248 Clifford, James 233 Collins, Harry 188, 638, 650f., 656 Collins, Randall 308f., 375f., 391f. Comte, Auguste 150–152, 154, 158f., 163, 167, 170, 178, 380 Condorcet, Marquis de 380

Personenregister Corbin, Juliet 246–248 Coser, Lewis A. 339, 386 Couldry, Nick 488 Counihan, Carole 320 Coyne, Michael 535 Crapanzano, Vincent 233 Creveld, Martin van 394 Critchley, Simon 80 Cushing, Frank Hamilton 230 D D’Abadal i de Vinyals, Ramon 531 Dabag, Mihran 344 David, Jacques-Louis 513 Deleuze, Gilles 62, 119, 280, 282, 296, 494, 600, 606 Denzin, Norman 197 Derrida, Jacques 59, 77–80, 85–87, 92, 98–101, 115, 119, 347 Descola, Philippe 69, 282 Detel, Wolfgang 186 Dewey, John 102, 210, 294, 648f. Dhawan, Nikita 97 Diaz-Bone, Rainer 206, 215, 248–250, 253f. Diderot, Denis 441, 449 Dietrich, Marc 249, 253f. Dilthey, Wilhelm 178, 196 DiMaggio, Paul 34f. Dimbath, Oliver 339, 345f. Dittmar, Jakob 431 Dohm, Hedwig 356–358 Driori, Gili S. 36 Drummond, Edward 198 Duden, Barbara 463 Duncum, Paul 491 Duranti, Alessandro 472 Durkheim, Émile 9, 33, 42, 79, 150f., 153–155, 157, 174, 178, 182, 207, 231f., 244, 263, 279, 284, 291, 295, 307, 339, 347, 354–356, 473, 542f., 565, 587, 600, 614, 622, 632 Dwelling, Michael 226 Dwyer, Kevin 233 E Eagleton, Terry 159 Echterhoff, Gerald 340 Eder, Klaus 212 Edwards, Tim 194 Einstein, Albert 440 Eisenmann, Clemens 3

Personenregister Eisenstadt, Shmuel N. 590, 617 Eisner, Manuel 391 Elias, Norbert 280, 285, 311, 323, 326, 373, 376, 379, 382f., 390–392, 454, 457, 459, 462, 534, 588, 600 Ellul, Jacques 634 Engels, Friedrich 177, 355, 584 Ernst, Christoph 65 Escobar, Arturo 558 Espinas, Alfred 11 Esposito, Elena 345 Eßbach, Wolfgang 600 Esser, Hartmut 135f. Esterik, Penny van 320 Etzioni, Amitai 590 F Fairclough, Norman 209 Ferraris, Maurizio 53, 56–61, 65–68 Feuerbach, Ludwig 177 Feyerabend, Paul 647 Field, George A. 442 Firth, John Rupert 473 Fischler, Claude 325 Fiske, John 100f. Flaubert, Gustave 516 Fleck, Ludwik 187, 647 Flick, Sabine 327 Flusser, Vilém 63 Foucault, Michel 63, 77–79, 81–84, 86–90, 92–94, 96–98, 100, 103, 109f., 112, 114–116, 171, 206, 208–211, 214–217, 249, 254, 279f., 282, 299, 347, 454, 458–461, 494, 571f., 588, 592, 600, 602 Fourcade, Marion 653 Fourier, Charles 293 Frank, David J. 36 Franks, Manfred 79 Frazer, James 231 Frerichs, Petra 324, 327 Freud, Sigmund 89, 98, 165 Friedland, Roger 42f. Fuchs, Eduard 501, 503f. Fuchs, Martin 226 G Galbraith, John Kenneth 442 Galtung, Johan 378 Gamson, William 212 Garfinkel, Harold 3–20, 22–25, 226f., 236, 461 Garib, Jeffer 200

663 Gay, Paul du 636 Geertz, Clifford 26, 111, 133, 206f., 228, 232, 475, 528, 635 Gehlen, Arnold 280, 634 Gehry, Frank 603 Geiger, Theodor 442 Gellner, Ernest 529, 531–533, 535 Gérard, François 513 Gerhards, Jürgen 212, 263 Giddens, Anthony 110–114, 158f., 402, 461 Glaser, Barney 244–248, 252f., 255 Goede, Marieke de 570 Goethe, Johann Wolfgang von 163, 409 Goffman, Erving 236, 295, 383, 456f., 479, 602 Goldhagen, Daniel 382 Goodenough, Ward 9 Gothe, Miriam 226, 228 Gouldner, Alwin W. 44 Gramsci, Antonio 90, 101, 195, 214 Greenberg, Clement 294 Grice, Paul 477 Groys, Boris 299 Guattari, Félix 296, 600, 606 Gudehus, Christian 343 Gugutzer, Robert 61, 457, 463–465 Gutiérrez Rodríguez, Encarnación 93 Gumperz, John J. 479 Gumplowicz, Ludwig 380f. Gusfield, Joseph 212 H Haaken, Janice/Jan 198f. Habermas, Jürgen 156f., 159f., 162, 387, 430, 634f. Hacking, Ian 53 Haffner, Sebastian, 56–61, 65–69 Hagendijk, Rob 651 Hagener, Malte 494 Hahn, Alois 345, 600 Haken, Meike 621 Halbwachs, Maurice 279, 337, 339–341, 345, 347 Hall, Stuart 100–102, 195, 208, 213, 216, 488f., 631, 636 Haraway, Donna 362 Harrison, Lawrence E. 408, 411 Haussmann 515 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 85, 163, 169, 585 Heidegger, Martin 111, 151, 546, 601, 630 Heinlein, Michael 339, 345f.

664 Hempel, Carl Gustav 134f., 142 Herberg-Rothe, Andreas 389 Herder, Johann Gottfried 25, 409, 530 Hermant, Emilie 604 Hertz, Robert 231 Herzog, Jacques 603 Hirschauer, Stefan 223, 225–227, 230f., 233, 235f., 329, 461, 630 Hirschfeld, Magnus 358 Hirschman, Albert O. 447f. Hitler, Adolf 385 Hitzler, Ronald 226, 228 Hobbes, Thomas 4, 387 Hobsbawm, Eric 532 Hochschild, Arlie R. 45, 305, 311, 314 Hoebig, Wolfgang 162 Hörning, Karl H. 635 Hofsteede, Geert 266 Hoggart, Richard 195 Holmes, Douglas 570 Homann, Harald 615 Honer, Anne 225, 228. Horkheimer, Max 156f., 163, 170, 293f., 503, 633 Howarth, David 214 Hroch, Miroslav 535 Hubert, Henri 231 Huntington, Samuel P. 411, 415 Husserl, Edmund 17–19, 21, 31, 157, 339 Hymes, 473, 476–478 I Illouz, Eva 311f., 622 Imbusch, Peter 369, 370, 372f., 376–379, 383 Inglehart, Ronald 265, 411 Isenböck, Peter 65 J Jäger, Siegfried 207, 391 Jasanoff, Sheila 652f., 656 Jenkins, Richard 533 Jepperson, Ronald 36 Joas, Hans 102f., 255, 387, 392–394, 455 Jobs, Steve 444 Johnson, Richard 636 K Kalthoff, Herbert 226, 233 Kamper, Dietmar 455 Kandinskij, Vasilij 292

Personenregister Kant, Immanuel 58f., 65, 446, 585, 630 Karamzin, Nikolai 446 Katz, Jack 311 Kaufmann, Jean-Claude 325, 457, 460, 510 Kautt, York 462f. Keller, Reiner 255 Kellner, Douglas 156 Kemper, Theodor 309 Keynes, John Maynard 576 Klein, Gabriele 461f. Knoblauch, Hubert 212, 615, 617, 619–622 Knöbl, Wolfgang 374, 387 Knorr-Cetina, Karin / Knorr Cetina, Karin 111, 186, 226, 376, 490, 638, 650, 653–655 König, Alexandra 249, 252–254 König, René 320, 501f., 504, 516, 543 Kohli, Martin 196f. Koloma Beck, Teresa 394 Kotarbinski, Tadeusz 11 Kracauer, Siegfried 293, 604 Krasmann, Susanne 93 Krech, Volkhard 617 Krippner, Greta 575 Kron, Thomas 384 Krotz, Friedrich 428f., 492 Krücken, Georg 36, 40 Krumeich, Gerd 386 Kruse, Volker 385f. Kuhn, Thomas S. 512, 647f., 650 Kumoll, Kerstin 228 Kuzmics, Helmut 376, 383, 385, 390–392, 535 L Labov, William 476f. Lacan, Jacques 87, 89f., 98, 115, 214, 493 Laclau, Ernesto 77–79, 83, 90–92, 98–101, 213f. Lange, Helene 357 Langenohl, Andreas 341 Lasch, Christopher 166–168 Lash, Scott 164 Latcheva, Rossaline 535 Latour, Bruno 54f., 57, 64, 66–69, 109f., 116f., 282, 295f., 572, 576, 592, 600, 604, 638f., 650, 655 Lazzarato, Maurizio 571 Le Breton, David 167f. Lederer, Emil 386 Lefebvre, Henri 279, 600 Lefort, Claude 593 Lemke, Thomas 93f. Lenin, Vladimir I. 532

Personenregister Lévinas, Emmanuel 86, 98 Lévi-Strauss, Claude 79f., 111, 279f., 284, 294, 325 Levy, Daniel 346 Lindemann, Gesa 463 Lindner, Rolf 234 Lipovetsky, Gilles 167f. Lipp, Wolfgang 600 Lobinger, Katharina 492 Loos, Adolf 290, 292 Louis Bonaparte 586 Lowie, Robert H. 234. Luckmann, Thomas 30–36, 42, 46f., 182, 207, 212, 216, 283, 328, 533, 614–616, 619–621 Lüders, Christian 227f. Luhmann, Niklas 54, 149, 169–171, 183, 185f., 277f., 283f., 345, 382, 416, 428, 431, 488, 590f., 618 Lukács, Georg 167 Lynch, Michael 638, 650 Lynd, Robert 441 Lyotard, Jean-François 150, 154, 160, 162–165, 170f., 635 M Madame Roland 516 Maffesoli, Michel 151, 162, 164–168, 170 Maletzke, Gerhard 431, 433f. Malevič, Kazimir 292 Malinowski, Bronisław 25, 231–233, 475. Manet, 516 Mann, Thomas 390, 447 Mannheim, Karl 12, 58, 160, 180f., 183–187, 587f., 647 Marchart, Oliver 102, 593 Marcuse, Herbert 634 Marx, Karl 11, 111, 150–152, 154f., 158–160, 163, 165, 167, 170, 177–180, 195, 213, 291, 355, 517, 577, 584, 586, 630f. Matthiesen, Ulf 187, 464 Maurer, Bill 570 Mauss, Marcel 93, 174, 231, 279, 459, 561, 565–568, 630 Mayntz, Renate 32 Mayreder, Rosa 357 McCracken, Grant 441 McLuhan, Marshall 161, 632 McNaughton, Daniel 198 McQuire, Scott 631f. Mead, George Herbert 4, 103, 207, 429 Mead, Margaret 323

665 Meckel, Miriam 435 Meillassoux, Quentin 69 Meinecke, Friedrich 528 Mennell, Stephen 446 Menzel, Ulrich 407, 409 Merleau-Ponty, Maurice 62, 123, 310, 460f., 463 Merten, Klaus 425, 427, 431, 433 Merton, Robert King 154, 255, 441, 640, 648, 655 Messinger, Sheldon 230 Meuron, Pierre de 603 Mey, Günter 246, 249 Meyer, Christian 22, 225 Meyer, John W. 32, 34–41 Michels, Robert 586 Miller, Daniel 196f., 550 Mills, Charles Wright 194 Mirowski, Philip 569 Mises, Ludwig von 11 Mitchell, Timothy 558 Mitchell, W. J. T. 62f., 491 Moebius, Stephan 78–80, 87, 90, 99, 206, 290, 378, 487, 630 Mol, Annemarie 327 Morgan, Lewis Henry 232, 354 Morgenstern, Oskar 137, 140f. Morin, Edgar 605 Mouffe, Chantal 77f., 90–92, 98–101, 213f. Mozart, Wolfgang Amadeus 411 Müller-Doohm, Stefan 487 Münkler, Herfried 388, 394 Mumford, Lewis 633 Myers, Misha 200 N Nandi, Miriam 97 Napoleon Bonaparte 513f. Napoleon III. 515, 518 Neckel, Sighard 311 Nedelmann, Birgitta 373 Neffe, Jürgen 440 Negroponte, Nicholas 632 Neidhardt, Friedhelm 212 Neumann, John von 137, 140f. Neumann-Braun, Klaus 249 Nieswand, Boris 226 Nietzsche, Friedrich 151 Nonhoff, Martin 91, 214 Norman, Donald A. 296 Nungesser, Frithjof 379 Nunner-Winkler, Gertrud 377, 379

666 O Ocasio, William 42 Ogburn, William F. 632f. Olick, Jeffrey K. 346 O’Neill, Maggie 198–200 Oppenheim, Paul 134f., 142 Ortner, Sherry B. 111 Otte, Gunnar 270 Otto, Rudolf 98 P Packard, Vance 441 Park, Robert Ezra 234f., 604 Parsons, Talcott 3–8, 10, 14, 31, 255, 262, 589, 590f. Pascal, Blaise 446 Paul, Axel T. 376 Pedersen, K. 652 Peel, Robert 198 Perivolaris, John 200 Perkins Gilman, Charlotte 354, 357 Peterson, Richard A. 251 Pethes, Nicolas 343 Pieper, Marianne 93 Pilawa, Jörg 327f. Pinch, Trevor 638 Pinker, Steven 391 Platt, Kristin 344 Plessner, Helmuth 62, 70, 280, 322, 463, 544, 546 Plummer, Ken 197 Poferl, Angelika 212 Pollack, Detlef 618 Pool, Ithiel Sola 632 Popitz, Heinrich 369–371, 373, 393, 604, 607 Powell, Walter 34f. Prinz, Sophia 279, 290, 491 Prus, Wolfgang 226 Pürer, Heinz 431 Putnam, Robert 408, 590 Q Quadflieg, Dirk 206 R Raab, Jürgen 491 Radcliff-Brown, Alfred 232 Ramirez, Francisco O. 36 Reagan, Ronald 198

Personenregister Récamier, Juliette 513f Reckwitz, Andreas 26, 70f., 78f., 103f., 111f., 206, 291, 381, 440, 461 Reddy, William M. 622 Reemtsma, Jan Philipp 373f., 382 Rehberg, Karl-Siegbert 338, 600 Reicher, Dieter 535 Reinprecht, Christoph 535 Renan, Ernest 527 Renn, Joachim 61, 65 Renoir, Auguste 517f. Restivo, Sal 650 Rheinberger, Hans-Jörg 299 Riemann, Gerhard 246 Riesman, David 442f. Rifkin, Jeremy 298 Riis, Ole 622 Riles, Annelise 575 Ritter, Carl 605 Ritzer, George 409 Roberts, Brian 197 Rose, Lotte 327 Rosenstock, Julika 618 Rosenthal, Gabriele 344 Rostow, Walt W. 447 Rousseau, Jean-Jacques 380, 530 Rowan, Brian 34f. Ruchatz, Jens 343 Rüsen, Jörn 344 S Saar, Martin 340 Sacks, Harvey 3, 10–13, 22–24, 480 Saïd, Edward 97f., 209 Saint-Simon, Claude Henri de 151, 158, 170, 380 Sapir, Edward 432 Sarasin, Philipp 61 Saussure, Ferdinand de 79, 80, 86, 473 Savigny, Eike v. 111, 226 Schäfer, Hilmar 112, 116, 346 Schatzki, Theodore 26, 109–112, 114, 123, 226 Scheff, Thomas 308, 311 Scheffer, Thomas 225 Schegloff, Emanuel A. 481 Scheler, Max 178–181, 390, 584 Schelsky, Helmuth 634 Schiek, Daniela 328f. Schiffauer, Werner 206 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich 409 Schleiermacher, Friedrich 615

Personenregister Schmidt, Axel 249 Schmidt, Robert 461 Schmincke, Imke 352 Schmitt, Carl 588f., 593 Schmitz, Hermann 463 Schroer, Markus 373 Schüttpelz, Erhard 3 Schütz, Alfred 3, 6–8, 13, 15, 18, 25, 31, 121, 157, 181f., 207f., 216, 224, 228, 236, 283, 337, 339, 343, 460, 602, 615 Schütze, Fritz 246 Schützeichel, Rainer 187, 307 Schultheis, Franz 249f. Schulz von Thun, Friedemann 432 Schulze, Gerhard 261, 263, 268–270 Schwalb, Benjamin 376 Schwartz, Barry 183 Schwartz, Shalom 266 Scott, W. Richard 44 Scotus, Duns 25 Seal, Lizzie 198f. Sebald, Gerd 348 Sennett, Richard 166–168, 604 Serres, Michel 62, 607 Setzwein, Monika 324, 328 Shannon, Claude E. 426 Sharrock, Wes W. 9 Shaw, George Bernard 447 Shilling, Chris 455 Silk, Michael L. 535 Simmel, Georg 70, 93, 151, 153–157, 162, 174, 207, 280, 292f., 299, 307, 320, 323, 341, 355–357, 362, 372f., 386, 388, 390, 394, 435, 445, 456, 501f., 547, 549, 552f., 561, 564f., 572, 577, 587, 600, 630, 632 Smith, Anthony 530 Smith, Brett 197 Smith, Dorothy 362 Snyder, Timothy 375 Soeffner, Hans-Georg 246, 424, 594, 616 Sofsky, Wolfgang 373f. Sombart, Werner 547, 549, 608 Sparkes, Andrew 197 Speck, Sarah 352 Spencer, Herbert 151f., 158f., 167, 380, 386 Spengler, Oswald 634 Spivak, Gayatri Chakravorty 97f. Spreen, Dierk 387, 393, 395 Srubar, Ilja 11 Staël, Germaine de 513 Stalin, Josef 385, 532 Steele, Valerie 501, 504f.

667 Stegbauer, Christian 435 Steinrücke, Margareta 324, 327 Stockhausen, Karlheinz 603 Strauss, Anselm 244–248, 250, 252f., 255f. Strawinsky, Igor 145 Struve, Karen 97 Susen, Simon 154 Swaan, Abram de 382 T Tänzler, Dirk 594 Tarde, Gabriel 444, 587, 607f. Tavory, Iddo 244 Tenbruck, Friedrich H. 162f., 244, 262, 424, 600 Thévenot, Laurent 593 Thomas, George M. 36 Thomas, William I. 196, 386 Thornton, Patricia 42 Timmermans, Stefan 244 Tinguely, Jean 553 Tocqueville, Alexis de 585 Tönnies, Ferdinand 164, 354f., 587 Tomasello, Michael 134 Touraine, Alain 150, 157–159, 162, 171 Traweek, Sharon 650 Trompenars, Fons 266 Trotha, Trutz von 373f., 381, 393 Turner, Jonathan H. 307 Turner, Victor W. 614 Tyler, Stephen 233 Tylor, E. B. 25 U Ulrichs, Karl Heinrich 358 V Vaerting, Mathilde 357 Vattimo, Gianni 151f., 154 Veblen, Thorstein 442, 447 Verba, Sidney 590 Vertov, Dziga 632 Vester, Michael 269, 505 Villa, Paula 463 Vince, Russ 44 Vinitzky-Seroussi, Vered 346 Viveiros de Castro, Eduardo 69 Vogl, Joseph 558 Volkmer, Michael 93 Voronov, Maxim 44

668 W Wachtel, Paul 447 Wacquant, Loïc 230, 464f. Wagener, Sybil 388 Wallerstein, Immanuel Maurice 406f. Warburg, Aby 340 Warburg, Jens 393 Ward, Lester F. 357 Warnke, Martin 280 Watzlawick, Paul 424f., 432f. Weaver, Warren 426 Weber, Alfred 150–152, 154f., 157, 165, 180 Weber, Marianne 357 Weber, Max 16, 32f., 70f., 122, 133, 150–157, 174, 195, 206–208, 228, 244, 267, 280, 291, 307, 347, 355, 372, 382, 386, 407, 427, 455f., 459f., 507, 561–565, 572, 577, 584, 586–588, 591, 600, 602, 605, 614, 619, 632 Wegner, Gerhard 623 Wehling, Peter 345 Weiler, Bernd 381 Welsch, Wolfgang 150, 154, 164 Welzer, Harald 337, 339, 342f., 382f. Westermann, Bärbel 535 Wetzel, Dietmar 78 Weyand, Jan 348 Weyden, Rogier van der 508 Whorf, Benjamin 432 Whyte, William Foote 230 Wieder, Lawrence 24 Wilk, Nicole 327

Personenregister Willems, Herbert 462f. Williams, Raymond 116, 201, 630 Willis, Paul 195f. Wimmer, Andreas 530 Winner, Langdon 633 Winterhalter, Franz Xaver 518 Wittgenstein, Ludwig 5, 11, 111, 114, 475 Wodak, Ruth 535 Wohlrab-Sahr, Monika 245, 617f. Wolff, Janet 194f. Woodhead, Linda 622 Woolgar, Steve 638, 650 Worth, Charles Frederick 517 Wulf, Christoph 455 Wynne, Brian 656 Y Yaneva, Albena 282 Yates-Doerr, Emily 327 Z Zenzen, Michael J. 650 Zetkin, Clara 357 Znaniecki, Florian 196 Zola, Émile 516 Zoonen, Liesbet van 493 Zucker, Lynne 34 Zuckermann, Harriet 648 Zweig, Stefan 389