Handbuch Kritische Theorie [1. Aufl. 2019] 978-3-658-12694-0, 978-3-658-12695-7

Das Handbuch Kritische Theorie beleuchtet aus ganz unterschiedlicher Perspektive, was Kritische Theorie heute bedeuten k

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German Pages XVII, 1373 [1356] Year 2019

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Handbuch Kritische Theorie [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-12694-0, 978-3-658-12695-7

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVII
Front Matter ....Pages 1-1
Einleitung (Uwe H. Bittlingmayer, Tatjana Freytag)....Pages 3-38
Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie (Peter Bulthaup)....Pages 39-44
Grundbegriff: Kritik (Jürgen Ritsert)....Pages 45-87
Kritische Theorie als reflektierter Marxismus (Alex Demirović)....Pages 89-162
Aufklärung und Religion in der kritischen Theorie (Christoph Türcke)....Pages 163-175
Der Marxist Adorno und die Erziehung zur Aufklärung (Zvi Tauber)....Pages 177-186
Vernunft und Emanzipation (Alex Demirović)....Pages 187-209
Wie die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ die Dialektik der Aufklärung erhellen (Gunzelin Schmid Noerr)....Pages 211-234
Kritische Theorie und Psychoanalyse (Helmut Dahmer)....Pages 235-275
Front Matter ....Pages 277-277
Die theoretische Form der kritischen Theorie (Michael Städtler)....Pages 279-328
Die Perspektive des Denkens: Horkheimers Begriff der Vernunft (Hans-Ernst Schiller)....Pages 329-354
Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“: Vorzeitiger Geheimnisverrat (Ulrich Brieler)....Pages 355-379
Die widersprüchliche Einheit von Bewusstsein und Revolte (Zvi Tauber)....Pages 381-409
Kritische Intellektualität (Susanne Martin)....Pages 411-430
Austromarxismus und Kritische Theorie (Michael R. Krätke)....Pages 431-467
Adornos Utopik (Gunzelin Schmid Noerr)....Pages 469-478
Kritische Psychologie und ihr Verhältnis zur kritischen Theorie (Morus Markard)....Pages 479-505
Bruderschaft der Kritik: Adorno und Foucault (Ulrich Brieler)....Pages 507-537
Die relative Eigengesetzlichkeit der Kultur (Jens Kastner)....Pages 539-558
Systemtheoretische Differenzierungstheorie als kritische Gesellschaftstheorie (Albert Scherr)....Pages 559-581
„Erwünschte Vorzüge im Existenzkampf des Individuums“: Die sozialpsychologischen Elemente der Kritischen Theorie des Antisemitismus (Marc Grimm)....Pages 583-612
Front Matter ....Pages 613-613
Zur Legitimität der Dogmatik (Peter Bulthaup)....Pages 615-621
Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der Gesellschaft (Hauke Brunkhorst)....Pages 623-661
Ideologiekritik (Jan Rehmann)....Pages 663-700
Negative Kritik (Oliver Flügel-Martinsen)....Pages 701-716
Kritisches Denken mit negativer Dialektik (Daniela Holzer)....Pages 717-739
Totalität und subjektiver Faktor als Methode (Tatjana Freytag)....Pages 741-754
Das Denken des Möglichen (Sabine Hark, Hanna Meißner)....Pages 755-778
Front Matter ....Pages 779-779
„Der Staat in der frühen Kritischen Theorie bezeichnet so etwas wie eine Leerstelle.“ (Joachim Hirsch, Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer)....Pages 781-796
Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie (Christian Ludwig)....Pages 797-817
Der Gesellschaftsbegriff der klassischen Kritischen Theorie (Moshe Zuckermann)....Pages 819-845
Verrechtlichung und Politik (Daniel Loick)....Pages 847-871
Kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats (Stephan Lessenich)....Pages 873-891
Primacy of the Economy, Primacy of the Political: Critical Theory of Neoliberalism (Bob Jessop)....Pages 893-905
Front Matter ....Pages 907-907
Der Wert in der Warengesellschaft: Gedankending oder Realabstraktion (Reinhart Kößler, Hanns Wienold)....Pages 909-951
Kritische Theorie und Krise: Landnahme an den Grenzen kapitalistischer Dynamik (Klaus Dörre)....Pages 953-980
Die neuen Vagabunden. Prekarität in reichen Gesellschaften (Klaus Dörre)....Pages 981-1003
Kritische Theorie in feministischer Lesart: Perspektiven auf den Gegenwartskapitalismus (Brigitte Aulenbacher)....Pages 1005-1021
Ansätze einer kritischen Theorie der Wissensgesellschaft (Eva Kreisky, Marion Löffler)....Pages 1023-1042
„Soziologen brauchen wir nicht“: Kritische Theorie, Arbeiterbewegung, Gewerkschaften (Joachim Beerhorst)....Pages 1043-1075
Front Matter ....Pages 1077-1077
Kulturindustrie (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 1079-1104
Die Macht der Kulturindustrie im Spätkapitalismus (Rainer Winter)....Pages 1105-1124
The Culture Industry and its Critics: The English Way (Oded Heilbronner)....Pages 1125-1132
Vereinnahmung und Widerständigkeit: Anmerkungen zu den Kritischen Theorien von Kultur(industrie) (Christine Resch)....Pages 1133-1156
Der individuelle Ausdruck der Kulturindustrie (Steffen Hendel, Monique Lathan, Doreen Trümpler)....Pages 1157-1170
Medien im Spannungsfeld zwischen Kulturindustrie, Neoliberalismus und Medienhandeln (Ricarda Drüeke, Elisabeth Klaus)....Pages 1171-1196
Front Matter ....Pages 1197-1197
Erinnerungskultur und Kulturindustrie (Moshe Zuckermann)....Pages 1199-1211
Neue Medien und Ideologie: Zur Dialektik der digitalisierten Aufklärung (Wolfgang Bock)....Pages 1213-1246
Critical Theory and the Digital Culture-Industry (Moshe Elhanati)....Pages 1247-1284
The Counterculture Industry (Gilad Padva)....Pages 1285-1300
Pornography as Culture Industry (Gilad Padva)....Pages 1301-1315
Kulturindustrie der Pornografie (Thorsten Benkel)....Pages 1317-1330
Hinter der Leinwand der Gesellschaft: Die Kritische Analyse des Filmes (Martin Gloger)....Pages 1331-1349
Analyse, Diagnose, Therapie? Versuch einer kritischen Neubestimmung der spätmodernen Sozialformation (Hartmut Rosa)....Pages 1351-1373

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Uwe H. Bittlingmayer Alex Demirović Tatjana Freytag  Hrsg.

Handbuch Kritische Theorie

Handbuch Kritische Theorie

Uwe H. Bittlingmayer • Alex Demirović Tatjana Freytag Hrsg.

Handbuch Kritische Theorie

Hrsg. Uwe H. Bittlingmayer Institut für Soziologie Pädagogische Hochschule Freiburg Freiburg im Breisgau, Deutschland

Alex Demirović FB Gesellschaftswissenschaften Goethe-Universität Frankfurt Frankfurt am Main, Deutschland

Tatjana Freytag Institut Erziehungswissenschaft Stiftung Universität Hildesheim Hildesheim, Deutschland

ISBN 978-3-658-12694-0 ISBN 978-3-658-12695-7 (eBook) ISBN 978-3-658-12696-4 (Bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Ein Handbuch Kritische Theorie? Eigentlich eine Unmöglichkeit, bedenkt man die Vielzahl an Ansätzen, theoretischen Richtungen, Institutionen und Wissenschaftler_ innen (und politische Aktivist_innen), die sich in der einen oder anderen Weise in dieser Tradition verorten. Es gibt kaum einen gemeinsamen Kern, der im Laufe der Zeit stabil bleibt, selbst über den Startpunkt besteht keine Einigkeit – das Verhältnis von Theorie und Empirie, die Verhältnisbestimmung zwischen Ökonomie und Politik, die Rolle kultureller Praktiken, die Bedeutung der Psychoanalyse und schließlich das Verhältnis von Theorie und Praxis sind immer wieder unterschiedlich bestimmt und theoretisch und empirisch in konkreten Analysen ausbuchstabiert worden. Aus unserer Sicht kann es deshalb bei einem Handbuch Kritischer Theorie kaum darum gehen, einen identitären Kern herauszudestillieren, sondern eher um den Versuch, der jeweils neu zu leistenden Aneignung und Etablierung herrschaftskritischer Perspektiven Raum zu geben, um die in eine Sackgasse geratene gesellschaftliche Entwicklung in eine herrschaftsfreiere Richtung zu treiben. Das vorliegende Handbuch blickt auf eine über zehn Jahre währende, wechselvolle Entstehungsgeschichte zurück. Sie war zunächst davon geprägt, dass die beiden vom VS-Verlag (seinerzeit von Frank Engelhardt, der inzwischen den Verlag gewechselt hat) ursprünglich angesprochenen Herausgeber Ullrich Bauer (der sich mittlerweile wegen Arbeitsüberlastung aus dem Herausgeber_innenkreis zurückgezogen hat, dem dieses Buch aber sehr viel verdankt) und Uwe Bittlingmayer das Projekt als eine Art Hobby betreiben mussten, weil sie noch nicht über entfristete Stellen im Universitätsbetrieb verfügten. Nach und nach wurde deutlich, dass sie sich mit diesem Band ordentlich verschätzt hatten; sie konnten zunächst Alex Demirović und dann Tatjana Freytag davon überzeugen, sich dem Herausgeber_ innenkreis anzuschließen. Es folgte neben den für Handbücher üblichen persönlichen Ansprachen ein breit gestreuter Call for Paper, um auch noch nicht einschlägig bekannten Nachwuchswissenschaftler_innen die Möglichkeit zu geben, mit einem Beitrag am Handbuch teilzunehmen. Dass die Umsetzung des Handbuchs Kritische Theorie sich dann als besonders zäh erwies, verweist zu einem guten Teil auf die Produktionsbedingungen der Herausgeber_in und der Autor_innen im wissenschaftlichen Feld selbst. Sie sind nicht sonderlich günstig für Beiträge, die sich in der Kritischen Theorie verorten. Kritische Theorie, Herrschafts- und Gesellschaftskritik müssen sich behaupten V

VI

Vorwort

gegenüber dem alles andere als stummen Zwang zur Drittmittelakquise an den Hochschulen, werden begleitet von der deutlichen Reduktion der institutionalisierten akademischen Philosophie (statt dessen wird in Baden-Württemberg gerade diskutiert, das Fach Ökonomie in die Schulen zu tragen, um economic literacy zu stärken), und sie sind berufsbiografisch kaum als sonderlich karrierefördernd einzustufen – im Unterschied zur fabrikmäßigen Produktion von englischsprachigen double blind peer-reviewten empirischen Beiträgen. Die Produktion des Handbuchs fällt in eine Zeit, in der der klassische Maßstab Kritischer Theorie, Geschichte mit ihren Möglichkeiten zu konfrontieren um eine möglichst herrschaftsarme Gesellschaft zu befördern, flankiert wird von einer massiven sozialen Polarisierung, militärischen Planspielen über (zumindest bislang noch) verfassungswidrige Einsätze deutscher Truppen im Ausland (Syrien), absehbarem globalen Wettrüsten oder der Verweigerung einmal erreichter bürger- und menschenrechtlicher Standards gegenüber vulnerablen Minderheiten (Hartz-IVEmpfänger_innen, Flüchtlinge, Asylbewerber_innen). Trotzdem soll dieses Handbuch mehr sein als ein (weiterer) Kassandraruf, sondern auch der über Jahrzehnte stetig wacker fortgeführten Diskussion über wissenschaftliche Herrschaftskritik im Kontext Kritischer Theorie neue Impulse geben, falls dieser Anspruch im aktuellen Wissenschaftsbetrieb nicht bereits zu hoch ist. Wir hoffen ihn aber ein Stück weit dadurch einlösen zu können, dass erstens dieses Handbuch Beiträge mehrerer Generationen von Autor_innen enthält, wir zweitens kein deterministisches oder kanonisiertes Verständnis Kritischer Theorie zu Grunde gelegt haben – so finden sich neben Beiträgen über Horkheimers Vernunftbegriff, die „Dialektik der Aufklärung“ und „Der eindimensionale Mensch“ auch solche zum kritischen Gehalt der Theorie Judith Butlers oder Niklas Luhmanns oder der Komplementarität von Adorno und Foucault oder Gramsci. Der gemeinsame Nenner aller Beiträge ist die Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen und der Versuch, herrschaftskritische Perspektiven offensiv zu vertreten. Wir hoffen, auf diese Weise den aus unserer Sicht falschen Alternativen zwischen der Tilgung des Labels Kritischer Theorie einerseits, der Gefahr einer beliebigen Verwendung sowie der überhistorischen Kanonisierung von Positionen und Zugängen andererseits hindurch zu steuern. Inwieweit uns das gelungen ist, muss dem Urteil Dritter überlassen bleiben. Das hier vorgelegte Buch soll einen ersten Band in der umfassenden Auseinandersetzung mit Kritischer Theorie repräsentieren, dem mindestens ein weiterer folgen wird, der deutlich stärker gegenwarts- und gegenstandsbezogen auf zeitgemäße Anwendungsfelder kritischer Theorie der Gesellschaft ausgerichtet sein wird. Die Hoffnung wäre, dass der zweite Band dann in weniger als zehn Jahren erscheint. Die Herausgeberin und die Herausgeber bedanken sich ausdrücklich bei Alla Dinges für die gewissenhafte Unterstützung bei der Manuskripterstellung. Ferner gilt unser Dank Jennifer Ott vom VS-Verlag für die unschätzbare Hilfe bei der Produktion der online-first-Variante des Handbuchs. Wir bedanken uns bei Frank Engelhardt für die Initiierung des Handbuchprojekts und sehr herzlich bei unserer Lektorin Cori Mackrodt, ohne deren Geduld und Ermunterung das Handbuch-

Vorwort

VII

Projekt auf der Strecke geblieben wäre. Unser abschließender Dank gilt aber allen in diesem Handbuch versammelten Autorinnen und Autoren, ohne deren Unterstützung und – zum Teil arg strapazierte – Geduld dieses Buch nicht hätte entstehen können. Freiburg, Basel und Hannover Februar 2019

Uwe H. Bittlingmayer Alex Demirović Tatjana Freytag

Inhaltsverzeichnis

Band 1 Teil I Was ist Kritische Theorie? Überblick und Traditionslinien . . .

1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe H. Bittlingmayer und Tatjana Freytag

3

Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie . . . . . . . . . Peter Bulthaup

39

.......................................

45

Kritische Theorie als reflektierter Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alex Demirović

89

Aufklärung und Religion in der kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Türcke

163

...........

177

Vernunft und Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alex Demirović

187

Grundbegriff: Kritik Jürgen Ritsert

Der Marxist Adorno und die Erziehung zur Aufklärung Zvi Tauber

Wie die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ die Dialektik der Aufklärung erhellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunzelin Schmid Noerr

211

Kritische Theorie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Dahmer

235

Teil II

277

Bestimmungen und Dimensionen Kritischer Theorie . . . . .

Die theoretische Form der kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Städtler

279

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Die Perspektive des Denkens: Horkheimers Begriff der Vernunft . . . . . Hans-Ernst Schiller Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“: Vorzeitiger Geheimnisverrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Brieler

329

355

Die widersprüchliche Einheit von Bewusstsein und Revolte . . . . . . . . . Zvi Tauber

381

Kritische Intellektualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Susanne Martin

411

Austromarxismus und Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael R. Krätke

431

Adornos Utopik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunzelin Schmid Noerr

469

.....

479

Bruderschaft der Kritik: Adorno und Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Brieler

507

Die relative Eigengesetzlichkeit der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Kastner

539

Kritische Psychologie und ihr Verhältnis zur kritischen Theorie Morus Markard

Systemtheoretische Differenzierungstheorie als kritische Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Scherr „Erwünschte Vorzüge im Existenzkampf des Individuums“: Die sozialpsychologischen Elemente der Kritischen Theorie des Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marc Grimm Teil III

Methodologien und Methoden Kritischer Theorie . . . . . . .

Zur Legitimität der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Bulthaup Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauke Brunkhorst

559

583

613 615

623

Ideologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Rehmann

663

Negative Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Flügel-Martinsen

701

Inhaltsverzeichnis

XI

Kritisches Denken mit negativer Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Holzer

717

Totalität und subjektiver Faktor als Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tatjana Freytag

741

Das Denken des Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Hark und Hanna Meißner

755

Band 2 Teil IV

Gesellschaft und Staat

.............................

„Der Staat in der frühen Kritischen Theorie bezeichnet so etwas wie eine Leerstelle.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Hirsch, Ullrich Bauer und Uwe H. Bittlingmayer

779

781

Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Ludwig

797

Der Gesellschaftsbegriff der klassischen Kritischen Theorie . . . . . . . . . Moshe Zuckermann

819

Verrechtlichung und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Loick

847

Kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Lessenich

873

Primacy of the Economy, Primacy of the Political: Critical Theory of Neoliberalism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bob Jessop Teil V Grundlagen und Anwendungsformen einer aktuellen Kritik der politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

893

907

Der Wert in der Warengesellschaft: Gedankending oder Realabstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhart Kößler und Hanns Wienold

909

Kritische Theorie und Krise: Landnahme an den Grenzen kapitalistischer Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Dörre

953

Die neuen Vagabunden. Prekarität in reichen Gesellschaften . . . . . . . . Klaus Dörre

981

Kritische Theorie in feministischer Lesart: Perspektiven auf den Gegenwartskapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005 Brigitte Aulenbacher

XII

Inhaltsverzeichnis

Ansätze einer kritischen Theorie der Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . 1023 Eva Kreisky und Marion Löffler „Soziologen brauchen wir nicht“: Kritische Theorie, Arbeiterbewegung, Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1043 Joachim Beerhorst Teil VI Kulturindustrie: Dimensionen und Aspekte eines Zentralbegriffs Kritischer Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1077

Kulturindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 Gerhard Schweppenhäuser Die Macht der Kulturindustrie im Spätkapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . 1105 Rainer Winter The Culture Industry and its Critics: The English Way . . . . . . . . . . . . 1125 Oded Heilbronner Vereinnahmung und Widerständigkeit: Anmerkungen zu den Kritischen Theorien von Kultur(industrie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1133 Christine Resch Der individuelle Ausdruck der Kulturindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157 Steffen Hendel, Monique Lathan und Doreen Trümpler Medien im Spannungsfeld zwischen Kulturindustrie, Neoliberalismus und Medienhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171 Ricarda Drüeke und Elisabeth Klaus Teil VII

Zur Aktualität der Kulturindustrie

Erinnerungskultur und Kulturindustrie Moshe Zuckermann

...................

1197

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1199

Neue Medien und Ideologie: Zur Dialektik der digitalisierten Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1213 Wolfgang Bock Critical Theory and the Digital Culture-Industry . . . . . . . . . . . . . . . . . 1247 Moshe Elhanati The Counterculture Industry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285 Gilad Padva Pornography as Culture Industry Gilad Padva

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1301

Inhaltsverzeichnis

XIII

Kulturindustrie der Pornografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1317 Thorsten Benkel Hinter der Leinwand der Gesellschaft: Die Kritische Analyse des Filmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1331 Martin Gloger Analyse, Diagnose, Therapie? Versuch einer kritischen Neubestimmung der spätmodernen Sozialformation . . . . . . . . . . . . . . . 1351 Hartmut Rosa

Autorenverzeichnis

Brigitte Aulenbacher Institut für Soziologie, Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich Ullrich Bauer Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Joachim Beerhorst Frankfurt a. M., Deutschland Thorsten Benkel Philosophische Fakultät, Universität Passau, Passau, Deutschland Uwe H. Bittlingmayer Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland Wolfgang Bock Programa de Pós-Graduação em Filosofia - PPGF, Universidade Federal do Rio de Janeiro, Rio de Janeiro, Brasilien Ulrich Brieler Institut für Philosophie, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Hauke Brunkhorst Seminar für Soziologie, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland Peter Bulthaup Peter Bulthaup Archiv, Hannover, Deutschland Helmut Dahmer Technische Universität Darmstadt, Wien, Österreich Alex Demirović Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Deutschland Klaus Dörre Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Ricarda Drüeke Fachbereich Kommunikationswissenschaft, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich Moshe Elhanati Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel Oliver Flügel-Martinsen Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland XV

XVI

Autorenverzeichnis

Tatjana Freytag Abteilung Allgemeine Erziehungswiss, Stiftung Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland Martin Gloger Hannover, Deutschland Marc Grimm Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Sabine Hark Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG), Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Oded Heilbronner Shenkar College, Ramat Gan, Israel Steffen Hendel Germanistisches Institut, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland Joachim Hirsch Institut für Politikwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt a. M., Deutschland Daniela Holzer Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft, KarlFranzens-Universität Graz, Graz, Österreich Bob Jessop Department of Sociology, Lancaster University, Lancaster, Großbritannien Jens Kastner Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften, Akademie der Bildenden Künste Wien, Wien, Österreich Elisabeth Klaus Fachbereich Kommunikationswissenschaft, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich Reinhart Kößler Arnold Bergstraesser Institut, Freiburg, Deutschland Institute for Reconciliation and Social Justice, The University of the Free State, Bloemfontein, Südafrika Michael R. Krätke Department of Sociology, Lancaster University, Lancaster, Großbritannien Eva Kreisky Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich Monique Lathan Hochschule Magdeburg-Stendal, Stendal, Deutschland Stephan Lessenich Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland Marion Löffler Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich Daniel Loick Institut für Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt a. M., Deutschland Christian Ludwig Institut für Soziologie, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland

Autorenverzeichnis

XVII

Morus Markard Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Susanne Martin Institut für Politikwissenschaft, Universität Gießen, Gießen, Deutschland Hanna Meißner Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG), Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Gilad Padva Faculty of Social and Cultural Sciences, Beit Berl College, Beit Berl, Israel Jan Rehmann Union Theological Seminary New York, New York, USA Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Christine Resch Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Frankfurt a. M., Deutschland Jürgen Ritsert Soziologie am Fachbereich Gesellschaftwissenschaften, GoetheUniversität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Hartmut Rosa Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Albert Scherr Institut für Soziologie, Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland Hans-Ernst Schiller Fachbereich Sozial-und Kulturwissenschaften, vorm. Hochschule Düsseldorf, Frankfurt am Main, Deutschland Gunzelin Schmid Noerr Fachbereich Sozialwesen, ehem. Hochschule Niederrhein Mönchengladbach, Frankfurt am Main, Deutschland Gerhard Schweppenhäuser Fakultät Gestaltung, Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, Würzburg, Deutschland Michael Städtler Philosophisches Seminar, Universität Münster, Münster, Deutschland Zvi Tauber Philosophy Department, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel Doreen Trümpler Hochschule Magdeburg-Stendal, Stendal, Deutschland Christoph Türcke Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Leipzig, Deutschland Hanns Wienold Institut für Soziologie, Universität Münster, Münster, Deutschland Rainer Winter Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich Moshe Zuckermann Faculty of Humanities, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel

Teil I Was ist Kritische Theorie? Überblick und Traditionslinien

Einleitung Uwe H. Bittlingmayer und Tatjana Freytag

Zusammenfassung

Die vorliegende Einleitung ins Handbuch Kritische Theorie thematisiert zunächst die Schwierigkeiten eines solchen Publikationsprojekts. Eine Systematisierung Kritischer Theorie ist nicht ohne Verallgemeinerungen und Verkürzungen zu haben, weil diejenigen, die sich positiv auf die Tradition einer kritischen Theorie der Gesellschaft beziehen, kaum als einheitliche Gruppe zu verstehen sind. Im Gegenteil ist das, was sich Kritische Theorie nennen darf, stets Bestandteil symbolischer Auseinandersetzungen und Abgrenzungskämpfen im akademischen Feld. Im Anschluss an diese Problematisierungen wird ferner darauf hingewiesen, dass sich auf der Grundlage der hier versammelten Beiträge auch keine Arbeitsdefinition Kritischer Theorie ableiten lässt. Zu disparat sind die Traditionslinien und Theoriesegmente, auf die in den Beiträgen insgesamt zurückgegriffen wird. Wir gehen allerdings davon aus, dass eine aktuelle Kritische Theorie mit einer gewissen Heterogenität der zu Grunde liegenden Ansätze leben muss, solange sie sich auf die (radikale) Kritik an der Herrschaft von Menschen über Menschen und Natur beziehen und nur für die Erklärung und Analyse dieser Phänomene unterschiedliche Wege einschlagen. Das heißt, dass das Label Kritische Theorie der Gesellschaft weder einer festen und festgelegten Definition folgt, noch dass es willkürlich zu verwenden ist. Im weiteren Verlauf werden dann die Themen- und Gegenstandsbereiche Gesellschaft, Staat und die Kritik der politischen Ökonomie sowie die Kulturindustriethese von Horkheimer und Adorno ausführlicher aufgegriffen. Dabei U. H. Bittlingmayer (*) Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Freytag Abteilung Allgemeine Erziehungswiss, Stiftung Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_1

3

4

U. H. Bittlingmayer und T. Freytag

verstehen sich die Ausführungen in den Abschnitten vorrangig als Problemaufriss, der die im Handbuch versammelten Beiträge rahmen soll. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Gesellschaftsbegriff, Staatstheorie · Kritik der politischen Ökonomie · Kulturindustrie · Herrschaftskritik · Aktualität Kritischer Theorie

„Die Zukunft der Kritischen Theorie kann nur als Forschungsprogramm dargestellt werden, sie lässt sich nicht voraus-konstruieren, sie muss eine Chance haben, sich entwickeln zu können, sie muss entstehen.“ Heinz Steinert

Vieles von dem, was wir in dieser Einleitung präsentieren, bleibt fragmentarisch. Die Geschichte einer kritischen Theorie der Gesellschaft, mitsamt ihren vielfältigen Verzweigungen und Schwerpunktsetzungen, Ansprüchen und Anerkennungskämpfen lässt sich in keiner noch so umfassenden Einleitung vollständig, bruchlos oder frei von Spannungsverhältnissen und Unwuchten rekapitulieren. An beinahe allen Stellen der Einleitung ließen sich erhebliche Vertiefungen und Differenzierungen einfügen oder auf eine enorme Menge an weiterer Literatur verweisen. Die grundlegenden Motive, um die es hier gehen soll: Traditionslinien, Grundbegriffe, Dimensionen Kritischer Theorie, das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Ökonomie sowie die Analyse der Kulturindustrie, bleiben in der Einleitung in gewisser Hinsicht an der Oberfläche, zugunsten einer etwas allgemeineren Rahmung; die notwendigen thematischen Vertiefungen und Differenzierungen erfolgen in den Beiträgen des Handbuchs. Davon ausgehend, dass der vorliegende Text zumindest optional von Studierenden, die sich ein (erstes) Bild über Kritische Theorie machen möchten, ebenso gelesen wird wie von Personen, die selbst ein solches Handbuch hätten herausgeben können, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er niemanden ernsthaft zufrieden stellt. Das verweist allerdings auf ein generelleres Motiv, dass sich ein Handbuch Kritische Theorie, deren erster Band nun auch in der Print-Version vorliegt, mit einer Reihe von sehr systematischen Problemen konfrontiert sieht.

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Konstitutive Schwierigkeiten eines Handbuchs Kritische Theorie

Das Projekt, ein Handbuch Kritische Theorie herauszugeben, sieht sich von Beginn an mit zwei Widersprüchen konfrontiert. Erstens existiert ein inhaltlich-formaler Widerspruch, der einem Handbuch Kritischer Theorie anhaftet und zweitens ein inhaltlich-gegenstandsorientierter Widerspruch, der auf ein massives Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstverständnis und praktischem Selbstverhältnis, der unmittelbaren Praxis Kritischer Theorie und der Beschäftigung mit Kritischer Theorie verweist.

Einleitung

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Der erste inhaltlich-formale Widerspruch bezieht sich auf den übergreifenden Anspruch, der in der Regel an Handbücher gestellt wird: Handbücher sollen eine besondere Systematik liefern und das verfügbare aktuelle wissenschaftliche Wissen in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand systematisieren. Dieser Gegenstand kann sich auf wissenschaftliche Disziplinen (zum Beispiel Gesundheitswissenschaften; Hurrelmann et al. 2012 oder Soziale Arbeit; Otto und Thiersch 2014), auf Teilbereiche innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin (zum Beispiel Soziologische Theorien; Kneer und Schroer 2012 oder Ethik; Düwell et al. 2011) oder auf einzelne, besonders exponierte Vertreter etwa der Soziologie oder Philosophie beziehen (zum Beispiel das Adorno-Handbuch; Klein et al. 2011 oder das Bourdieu-Handbuch; Fröhlich und Rehbein 2009). Der Anspruch auf eine zwingende und stringente Systematik ist aber mit den meisten Lesarten einer Kritischen Theorie nicht zu vereinbaren. Da ist zum einen die Kritische Theorie insgesamt, der abgeschlossene philosophische Systeme höchst verdächtig waren (Jay 1981, S. 63), oder Adorno mit seiner Grundanlage einer antisystematischen Philosophie, der sich angesichts der Furcht, mit einer systematischen Philosophie noch zur weiteren Ideologieproduktion beizutragen, gegen den Versuch einer Systematisierung selbst zur Wehr setzen dürfte (vgl. Thyen 1989; Rademacher 1997; vgl. als produktive Wendung dieses Spannungsfeldes den Beitrag von Holzer im Band 1). Da ist andererseits vor allem die von Marx ausgehende Theorieentwicklung und Praxisgenerierung einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die aus den gesellschaftlichen Prozessen, also den Praktiken, selbst hervorgeht und die sich deshalb nicht auf einen systematischen Nenner bringen lässt (vgl. hierzu den Beitrag von Demirović im Handbuch). Das Spektrum umfasst hier revolutionäre und reformistische Marx-Lesarten, orthodoxe Marx-Perspektiven und Erweiterungen der Marx’schen Theorie durch die Psychoanalyse, durch den Strukturalismus oder aktuell durch den Poststrukturalismus (vgl. etwa Kastner im Handbuch). Eine starke Systematisierung scheitert aber auch bereits dann, wenn nur die Frankfurter Schule im engeren Sinne Gegenstand dieses Handbuchs wäre. Denn zum einen ist bereits der Ausdruck der Frankfurter Schule ebenso missverständlich wie das Label Kritische Theorie zur Bezeichnung eines einheitlichen Theorieprogramms selbst (vgl. Behrens 2007),1 und zum anderen lässt sich das Theorieprogramm des Personenkreises, der mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule 1

Wiggershaus (1988, S. 9) zufolge ist das Etikett Frankfurter Schule in den 1960er-Jahren von außen angeheftet worden, Demirović (1999b, S. 507) weist auf eine 1959 erschienene Rezension von Friedrich Bülow hin, in der der Ausdruck Verwendung findet. Adorno hat sich dann immer einmal wieder und mit Vorbehalt auf ihn bezogen. Nach Rainer Winter (2007, S. 24) ist der Begriff der Frankfurter Schule selbst maßgeblich vom US-amerikanischen Wissenschaftshistoriker Martin Jay popularisiert worden, durch seine zum modernen Klassiker avancierte Studie Dialektische Phantasie (Jay 1973, dt. 1981). Im Untertitel der Studie von Jay findet sich die Bezeichnung „Die Geschichte der Frankfurter Schule“, die dann als Obertitel „Die Frankfurter Schule“ der bis heute wohl wichtigsten Gesamtstudie von Rolf Wiggershaus (1988) weiter Karriere gemacht hat; detailliert hat Demirović (1999a) die Herausbildung der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule als Formierungsprozess einer Gruppe von kritischen Intellektuellen nachgezeichnet.

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zwischen 1930 und 1968 assoziiert wird – neben Horkheimer, Pollock, Marcuse, Adorno, Löwenthal eben auch Fromm, Benjamin, Sternheim (Anders), Neumann, Kirchheimer und viele andere – auch inhaltlich nicht ohne große Ausklammerungen und Brüche vereinheitlichen. Unumstritten ist die Verschiebung eines mutmaßlich vergleichsweise orthodoxen (Austro-)Marxismus, der von Carl Grünberg, KarlAugust Wittfogel oder Henryk Grossmann vertreten wurde, hin zu einem unorthodoxeren Marxismus, der stärker auf die Analyse von Subjektivität (Freud) und die systematische Untersuchung von kulturellen Bereichen (Musik, Literatur) ausgerichtet ist und für den die Namen Max Horkheimer, Friedrich Pollock, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno, bis 1940 Walter Benjamin und zu Beginn noch Erich Fromm stehen. Umstritten ist aber bereits die Einschätzung, wie disparat das Frankfurter Institut für Sozialforschung in den 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahren inhaltlich ausgerichtet war, wie radikal die inhaltliche Wende seit Horkheimers Regentschaft ab 1931 ausfiel und welche Rolle etwa der Austromarxismus Grünbergs für Horkheimer, Adorno, Marcuse und Fromm gespielt hat. Löwenthal (1980, S. 66) etwa charakterisiert retrospektiv das Verhältnis zu Henryk Grossmann, neben ihm selbst einer der beiden Hauptassistenten am Institut für Sozialforschung und Schüler von Grünberg, nach Horkheimers Direktoratsübernahme freundlich, aber inhaltlich distanziert: „theoretisch hatten wir nicht allzu viel mit ihm gemeinsam.“ Rolf Wiggershaus (1988, S. 52, 53) bestimmt die Direktoratsübernahme Horkheimers zwar einerseits als Einführung eines neuen Tons, „der sich deutlich unterschied von Grünbergs einstiger Bekundung, ‚in einer Zeit sich überstürzender Entwicklung‘ zu leben“, gelangt andererseits aber zu der Einschätzung, dass die „entscheidenden Veränderungen [. . .] keinen Bruch mit dem von Grünberg Geleisteten und den im Geiste Grünbergs tätigen Mitarbeitern [bedeuteten]“. Michael Krätke schließlich arbeitet die auffälligen personellen und programmatischen Parallelen zwischen dem Horkheimerschen und dem Grünbergschen Programm heraus und schlussfolgert, dass der Austromarxismus eine für die Frankfurter Schule unterschätzte Traditionslinie bezeichnet (vgl. Krätke im Handbuch). Während die einen darauf verweisen, dass die Zeitschrift für Sozialforschung, dem zentralen Organ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, eines der bis zum heutigen Zeitpunkt besten Beispiele für einen interdisziplinären Materialismus darstellt, an dem alle in der Zeitschrift publizierenden Autorinnen und Autoren ihren Anteil hatten (etwa Schmidt 1980; Bonß und Honneth 1982; Behrens 2007), halten andere das breite Spektrum der Beiträge in der Zeitschrift für eine bloße „Zuliefererfunktion“ (Gmünder 1985, S. 4), auf deren Grundlage die späteren Werke von Horkheimer, Marcuse und Adorno entwickelt werden konnten. Bereits vor über 35 Jahren beurteilten Helmut Dubiel und Leo Löwenthal den Versuch sehr skeptisch, Kritische Theorie positiv bestimmen zu wollen. Löwenthal (1980, S. 77) zufolge ist die Kritische Theorie vor allem „eine Perspektive, eine gemeinsame kritische Grundgesinnung in bezug auf alle kulturellen Phänomene, ohne jemals den Anspruch auf ein System zu erheben“. Helmut Dubiel (Löwenthal 1980, S. 77) sekundiert: „Es ist wohl unmöglich, einige allgemeine Merkmale vor die Klammer zu ziehen und zu sagen, dies sei kritische Theorie.“ Aus all diesen Gründen ist ein Handbuch Kritische Theorie nicht in der

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Lage, den üblichen Anspruch auf Systematik und Stringenz, ganz zu schweigen von Vollständigkeit, zu erfüllen. Wenn damit ein aus begrifflichen Grundkategorien konstruierter theoretischer Bau gemeint ist, genügt es schon, auf die Zentralkategorien der fürs Interdisziplinäre rezipierten Theorien und Denkgebäude (etwa die des Marxismus, der Freudismus, aber auch die Kants, Hegels, Schopenhauers, Webers, Nietzsches und anderer, eher seitlich sich auswirkender Traditionslinien) zu verweisen, um ein Paradigma zu zeichnen, welches nicht geschlossen ist, gleichwohl eine Kohärenz in Absichten, Problemen, Themen, Begriffen und Argumentationen aufweist. Das hat nicht nur mit einem „Defizit“ im Hinblick aufs Systematische zu tun, sondern mit der Tatsache, dass seit Marx oder Nietzsche das Ziel, ein System auszuarbeiten, abgelehnt wurde. Wenn es solche Ansprüche einer Grand Theory in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dennoch gab (etwa bei Talcott Parsons), dann scheiterten ihre (teils imposanten) Verwirklichungen nicht nur aufgrund von Ideologemen, sondern auch immanent an der fachdisziplinären Unfähigkeit, „das Ganze“ (der Gesellschaft, der Kultur etc.; vgl. hierzu auch den Beitrag von Ludwig im Band) zu erfassen. Dieser kritischen Tradition ist das Handbuch verpflichtet, es verfolgt nicht den Anspruch, die vielfachen Bemühungen um kritische Theorie der Gesellschaft nachträglich zum System zu fügen. Wir zielen hier eher darauf ab, Plurales und Heterogenes, auch Panoramisches in einen nicht hermetisch abgeriegelten Zusammenhang zu bringen und darzustellen. Der zweite noch deutlich problematischere Widerspruch an einem Handbuch Kritischer Theorie ist die inhaltliche Frage, was Kritische Theorie genau bezeichnen soll. Ein Handbuch Kritische Theorie erweckt die selbstverständliche Erwartung, hier zumindest eine Arbeitsdefinition dessen zu finden, was Kritische Theorie ist. Dieser Anspruch ist noch weniger einzulösen, obwohl es an Publikationen mit dieser Fragestellung (und entsprechenden Verweisen, dass auch dort solche Erwartungen nicht erfüllt werden können) nicht mangelt (vgl. z. B. Demirović 2003a; Beerhorst et al. 2004; Winter und Zima 2007 oder jüngst Martin et al. 2015). Da ist zuallererst die Frage, ob Kritische Theorie ortsbezogen definiert, also auf Frankfurt am Main bezogen werden kann und sollte. Zu Beginn seiner Vorlesungen zur Kritischen Theorie verweist etwa Oskar Negt darauf, dass die liberale Stadt und die in dieser liberalen Tradition stehende Universität Frankfurt am Main besonders gute Ausgangsbedingungen für die Etablierung eines Instituts für Sozialforschung zur Verfügung gestellt hat (Negt o. J.). Allerdings gilt das nur für die Zeit der unmittelbaren Konstitution des Instituts für Sozialforschung bis zur Naziherrschaft. Nach seiner Eliminierung durch die Nazis 1933 musste das Institut, das sich bereits vorher auf mehrere Standorte mit kleinen ausländischen Dependenzen verteilt hatte (Genf, Paris, London), dann in die USA emigrieren und wurde Bestandteil der Columbia University in New York. 1949 remigrierte Adorno (als Vertreter Horkheimers), 1950 Horkheimer nach Frankfurt, während Marcuse weiterhin in den USA blieb, hier entscheidende Arbeiten verfasste (Eros and Civilization, 1955 und One Dimensional Man, 1964), ein wichtiger Fürsprecher und Akteur der US-amerikanischen Bürgerrechts- und Studentenbewegung wurde und institutionell nicht nach Frankfurt am Main zurückkehrte (statt dessen erhielt Marcuse an der FU Berlin 1965 eine Gastprofessur). Der institutionelle Kern einer auf Frankfurt am Main

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bezogenen Verortung der Kritischen Theorie ist sicher das Institut für Sozialforschung, das bis heute existiert und das sich nach wie vor als „Ort kritischer Gesellschaftstheorie“ (Demirović 1999b; IfS 2019) begreift. Unter den auf der Homepage des Instituts für Sozialforschung angeführten Intellektuellen werden auch Franz Neumann und Otto Kirchheimer genannt, die zwar für das Institut für Sozialforschung, aber nicht in Frankfurt selbst tätig waren und die inhaltlich gegenüber Horkheimer, Adorno und Marcuse deutlich abweichende marxistische Positionen vertraten. Die Frage der Ortsbezogenheit ist letztlich ein Scheinproblem. Denn seit Jahrzehnten wird in allen Erdteilen und in den unterschiedlichen Disziplinen an die Forschungen der kritischen Theorie angeknüpft. Nicht nur erweist sich an der historisch aufgezwungenen Verlagerung des Instituts, dass es nicht auf den Ort, sondern auf die Denkaffinität der beteiligten Personen ankam, sondern es ist, im avancierten Zeitalter der Digitalkommunikation, nahezu realitätsfern, noch von einer territorial bestimmten Gebundenheit und einem territorialen Fundament ausgehen zu wollen. Nicht nur die allgemeine Arbeitswelt hat sich in dieser Hinsicht radikal verändert, sondern auch die der wissenschaftlichen Forschungspraxis. Die Frankfurter Schule war nie nur eine „Schule aus Frankfurt“, schon gar nicht eine exklusive „Schule in Frankfurt“. Noch wesentlich komplizierter wird die Lage, wenn es um Linien inhaltlicher Kontinuität geht. So waren Horkheimer und stärker noch Adorno nach ihrer Remigration in Frankfurt sehr erfolgreich dabei, eine Schülerschaft zu bilden, die zentrale Fragestellungen der Kritischen Theorie weiter verfolgten und an neuen Wirkungsstätten eigene Zusammenhänge und Traditionslinien geschaffen haben. Zu denken ist hier zum Beispiel an Oskar Negt und Regina Becker-Schmidt, die beide Jahrzehnte an der Universität Hannover gelehrt haben. An der Universität Marburg hat es immer wieder Wissenschaftler gegeben, die der kritischen Theorie verpflichtet waren. An der Universität Oldenburg hat sich um Stefan Müller-Doohm eine kontinuierliche, vorwiegend sekundäranalytische Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie entwickelt und in der Gründung einer Adorno-Forschungsstelle materiell niedergeschlagen (Müller-Doohm 1996; Auer et al. 1998; Klein et al. 2011; Kohler und Müller-Doohm 2015). Seit etwa dreißig Jahren wird im Umfeld der Universität Lüneburg die Zeitschrift für kritische Theorie herausgegeben, die mit den Namen Gerhard Schweppenhäuser, Claudia Rademacher und Sven Kramer verbunden ist (um nur einige zu nennen). Jüngstes Beispiel für einen neuen Ort Kritischer Theorie, der sich explizit in der Tradition der Kritischen Theorie verortet, ist die Universität Jena, die mit einer Kooperation von Hartmut Rosa, Stephan Lessenich, der mittlerweile allerdings seine Wirkungsstätte nach München verlagert hat; und Klaus Dörre die frühe Tradition eines interdisziplinären Materialismus aufleben lässt, auch wenn alle Autoren in der Soziologie verankert sind (Dörre et al. 2009). Viele weitere in Osnabrück, Wuppertal, Hildesheim, Kassel oder Darmstadt wären zu nennen. Ohne auch nur im Entferntesten hier eine Landkarte der Zentren Kritischer Theorie anvisieren zu wollen, sollen diese wenigen Beispiele signalisieren, dass die Kritische Theorie der „Frankfurter Schule“ von Beginn an mit einer Pluralität von Orten verbunden ist und mittlerweile die Vorstellung eines einzigen Gravitationszentrums aufgegeben werden sollte. Dies gilt erst recht, wenn

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auch in anderen Staaten Kontinuitäten der Kritischen Theorie nachgezeichnet werden, wie etwa in Israel, Japan, Brasilien oder in den USA. Neben der personellen Heterogenität und der Multiplikation der Orte ist eine letzte große Schwierigkeit, die Kritische Theorie bzw. die Frankfurter Schule definitorisch zu bestimmen, ein seit den 1980er-Jahren mehr oder weniger strikter konstitutiver Dualismus, der die Kritische Theorie durchzieht (etwa bei Bonß 2003, S. 373–382; vgl. den Wiederabdruck von Brunkhorst im Handbuch). Seitdem Jürgen Habermas die interaktionistische Wende der Kritischen Theorie und die Überwindung der subjekttheoretischen Verengung proklamiert hat (vgl. Habermas 1981; Habermas 1985; analog Honneth 1985), wird eine frühe von einer späten (oder mittlerweile zusätzlich einer mittleren; vgl. hierzu Ludwig im Handbuch) Kritischen Theorie unterschieden (vgl. hierzu den Wiederabdruck von Brunkhorst im Handbuch). Richtig ist an dieser Charakterisierung, dass die Perspektive von Max Horkheimer, der die Kritische Theorie als ein Existenzialurteil über die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse begriffen hat, in dieser Form nach der intersubjektivistischen Wende nicht ohne Weiteres aufrecht zu erhalten ist. Auch in der jüngsten Forschungsprogrammatik des Frankfurter Instituts für Sozialforschung ist eine radikale Ablehnung im Sinne einer Totalkritik der Gegenwartsgesellschaften zugunsten einer empirischen Erforschung verschiedener Typen von Paradoxien moderner Gesellschaften gewichen (Honneth und Sutterlüty 2011). Schwierig an einer solchen Charakterisierung ist die Konstruktion des Dualismus selbst, weil nicht alle – vielleicht nicht einmal die meisten –, die sich positiv auf die Kritische Theorie beziehen, dieses Existenzurteil aufgegeben haben (vgl. u. v. a. H. Schweppenhäuser 1974 – siehe hierzu auch Behrens 2015 –; Schmidt 1981; G. Schweppenhäuser 1993; die Beiträge in G. Schweppenhäuser 1995; Demirović 2003b; Resch 2005; Steinert 2007; Ritsert 2014; Martin et al. 2015). Und wissenschaftshistorisch besonders missverständlich ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung der Heterogenität der Kritischen Theorie in Gestalt von Generationenverhältnissen – oder in der Terminologie von Heinz Steinert: in Form eines Familienromans (Steinert 2007: S. 152–178; Demirović 2012). Das heißt nun natürlich nicht, dass es keine Varianten, Theorieentwicklungen oder Pfade der Arbeiten gegeben hat, die sich gestern und heute positiv auf das Label Kritische Theorie beziehen. Allerdings wirft das ein Licht darauf, dass sich mit dem Etikett ‚Kritische Theorie‘ verschiedene gesellschaftspolitische Positionen, akademische Richtungen und damit verbundene Abgrenzungs- und Flügelkämpfe, Orthodoxien und Heterodoxien und natürlich auch Kämpfe um Ressourcen, Anerkennung und Akzeptanz verbinden (vgl. auch Bauer und Bittlingmayer 2014). In dieser Hinsicht versucht sich das vorliegende Handbuch nicht an der Arbeit an einer neuen Orthodoxie, sondern zunächst an einer breiten Präsentation von Ansätzen, die sich positiv auf Kritische Theorie beziehen (vgl. hierzu auch Demirović 2003a; Winter und Zima 2007; Martin et al. 2015). Dass dann Beiträge gemeinsam in einem Handbuch Kritische Theorie veröffentlicht werden, deren Ausgangspunkte und Argumentationslinien sich nicht einfach harmonisieren lassen, sondern deren Zugänge und Erkenntnisse zumindest ein Stück weit nebeneinander stehen, sollte als Teil aktueller wissenschaftlicher Wissensproduktion ausgehalten werden.

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Programmatiken kritischer Theorie(n)

Der letzte Gedanke, dass eine aktuelle Kritische Theorie (hier synonym verstanden als kritische Theorie der Gesellschaft) mit einer gewissen Heterogenität der zu Grunde liegenden Ansätze leben muss, solange sie sich auf die (radikale) Kritik an der Herrschaft von Menschen über Menschen und Natur beziehen und nur für die Erklärung und Analyse dieser Phänomene unterschiedliche Wege einschlagen, ist nicht erst Ergebnis jahrzehntelangen Ringes um die „richtige“ Kritische Theorie, sondern bereits seit Beginn offensichtlich. Der Übergang von Grünberg zu Horkheimer, die Parallelität vergleichsweise orthodox marxistischer Analysen (Wittfogel, Grossmann, Gurland), kulturphilosophisch und empirisch-sozialwissenschaftlich inspirierte Arbeiten (Fromm, Löwenthal, Adorno) am Institut für Sozialforschung Ende der 1920er- bis Mitte der 1930er-Jahre oder die Faschismuskontroverse zwischen Neumann und Kirchheimer auf der einen und Pollock und Horkheimer auf der anderen Seite (Dubiel und Söllner 1981) verweisen bereits auf eine konstitutive Heterogenität. Es geht in der Kritischen Theorie eben mehr um das Ringen um die zutreffende Herrschaftsanalyse als um die Fixierung einzelner Kategorien oder Anschauungen – denn wenn es, wie eine der Grundpositionen Kritischer Theorie immer wieder hervorhebt, zutrifft, dass der technische und technologische Fortschritt von einem Fortschritt der Herrschafts- und Unterdrückungsmittel im Gleichschritt begleitet wird, dann ändert sich notwendig der empirische Bezug Kritischer Theorie. Ganz unterschiedlich eingeschätzt wird in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie genau die (zum großen Teil bereits im Exil entstandenen) Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus den 1930er-Jahren, die sich in der Zeitschrift für Sozialforschung konzentrieren, mit der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno [1947]/1987) und der Kritik der instrumentellen Vernunft (Horkheimer [1947]/1991) in Verbindung zu bringen sind. Die beiden Pole dieser Verhältnisbestimmung werden vermutlich durch Heinz Steinert und Jürgen Habermas markiert, während etwa Wolfgang Bonß (1982) mit seiner klassischen Studie zur „Einübung des Tatsachenblicks“, Alfred Schmidt (1980) in seiner Einleitung zum Reprint der Zeitschrift für Sozialforschung oder Moshe Zuckermann (2013) in seiner Studie „Wider den Zeitgeist“ mittlere bzw. vermittelnde Positionen vertreten. Habermas vertritt die These, dass das Forschungsprogramm des interdisziplinären Materialismus, das Horkheimer in seiner Antrittsrede als Grünberg-Nachfolger und neuer Direktor des Instituts für Sozialforschung 1931 skizziert hatte, aufgrund seiner geschichtsphilosophischen Grundierung mit Notwendigkeit scheitern und nur noch in Form spekulativer Betrachtungen, so Habermas‘ Charakterisierung der „Dialektik der Aufklärung“, (ohnmächtig) fortgeführt werden konnte (Habermas 1981, Bd. 2, S. 561). Demnach wäre das Programm des interdisziplinären Materialismus von Beginn an, weil philosophisch durch geschichtsphilosophische Anleihen bestimmt, zum Scheitern verurteilt oder falsch begründet. Die aporetische Sackgasse, so die von Habermas und Honneth bis heute relevante, aber nicht mehr

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dominante Rezeption und Lesart der „Dialektik der Aufklärung“, war damit vorprogrammiert (vgl. hierzu ausführlicher Demirović im Handbuch).2 Demgegenüber finden sich einerseits Positionen, die die beeindruckenden Leistungen rund um die Zeitschrift für Sozialforschung und die empirischen Forschungsprojekte des Instituts für Sozialforschung herausstreichen und gerade die frühe Phase als gelungene und bis heute nur sehr selten eingeholte Phase interdisziplinären kritischen wissenschaftlichen Arbeitens beschreiben (Dubiel 1978; Jay 1981; kritisch hierzu etwa Bonß und Schindler 1982). Andererseits wird gegen die Idee der – in gewisser Hinsicht ahistorischen – „tief gelegten“ (Steinert 2007, S. 38) Begründung der Fundamente Kritischer Theorie auf das prinzipiell Unabschließbare, das Projektförmige, das auf Emanzipation Ausgerichtete (Freytag 2014) und das Befreiungstheoretische einer Kritischen Theorie der Gesellschaft verwiesen (Demirović 2003c; Steinert 2007). Gleichzeitig wird in dieser Perspektive ein mehr oder weniger notwendiges Oszillieren vertreten zwischen der konkreten Auslotung real existierender Freiheiten und der Auffassung, Kritische Theorie sei im Wesentlichen negativ zu betreiben, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganze nicht versöhnt und befriedet sind. Das ist keine naive oder romantische Vorstellung, denn, so Alfred Schmidt (1981, S. 46): „Adorno, dem die Leichenberge dieses Jahrhunderts vor Augen stehen, vermag der naiv gesetzten, romantisch getönten Identität von Humanismus und Materialismus nicht mehr ohne weiteres beizupflichten.“ Der Impuls, Leiden beredt werden zu lassen und gleichzeitig – mittels Denken – Emanzipation voranzutreiben, deutet immer schon über ein bloß universitär-akademisches Unternehmen hinaus (Geuss 2005), auch wenn die (in der Regel kaum zur Kenntnis genommenen) konkreten Kooperationen zwischen dem Institut für Sozialforschung und kollektiven Akteuren wie Gewerkschaften mit wenig übergreifenden Hoffnungen verknüpft wurden (vgl. Steinrücke 2014; Beerhorst im Handbuch). Aus all diesen Gründen und Kontroversen sind Programmatiken Kritischer Theorie in den letzten 85 Jahren weder unschuldig noch konstant geblieben, lässt sich Kritische Theorie weder gestern noch heute auf die Interpretation eines Kanons von Texten festlegen (Demirović 2003b; Behrens 2007). Weil Kritische Theorie aber immer auch auf eine Praxis (innerhalb des akademischen Betriebs) verweist und diese Praxis selbst in den Reflexionsbereich der Theorieentwicklung hineingeholt wird, sind theorieprogrammatische Fragen besonders sensibel. Ihre Proklamationen können und müssen selbst als wichtiger Kristallisationspunkt des Kampfes um die Definition und Definitionsmacht universitär institutionalisierter oder öffentlichpublizistischer Kritischer Theorie verstanden werden (Demirović 1999a; MüllerDoohm 2005; Behrens 2009; Bauer und Bittlingmayer 2014; vgl. auch S. Martin im Handbuch).

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Dafür ist in den letzten Jahren verstärkt eine konservative Vereinnahmung vor allem von Adorno beobachtbar, die ihm (und der Kritischen Theorie) wahlweise Naivität (Jäger 2005, S. 85) oder den Minima Moralia die Übernahme des Duktus des NS-Propagandaministeriums (Meyer 2015, S. 128) vorwirft.

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Seit Jahrzehnten wird dabei die Proklamation neuer Programmatiken innerhalb der Kritischen Theorie in der Regel damit gerechtfertigt, dass die Arbeiten vor allem von Horkheimer und Adorno mit der „Dialektik der Aufklärung“ oder mit Marcuses „Eindimensionalen Menschen“ in einer pessimistischen theoretischen Sackgasse gelandet sind. Die schwer ertragbare Aussichtslosigkeit der „Dialektik der Aufklärung“ sei nicht zielführend, weil sich die empirische Welt seit den 1940er-Jahren weiter und zum Teil zum Guten entwickelt hat. Deshalb sei der Gestus einer totalen Gesellschafts- und Vernunftkritik weder angemessen noch theoretisch (bzw. normativ) zu begründen (so klassisch Habermas 1981, Bd. 2, S. 555 ff.; Habermas 1985; Honneth 1985; vgl. hierzu auch Bittlingmayer et al. 2011). Diese Lesart hat insbesondere in den 1980er- und 1990er-Jahren eine gewisse Dominanz ausgeübt und auch die Horkheimersche Programmatik des Interdisziplinären Materialismus aus den 1930er-Jahren gleich mit desavouiert, weil die „Dialektik der Aufklärung“ – immer verstanden als Sackgasse – hier als eine Art folgerichtige Konsequenz des Scheiterns bereits der früheren theoretischen Programmatik aus den 1930er-Jahren aufgefasst wird. In diese Richtung argumentiert etwa Wolfgang Bonß, wenn er ausführt, dass Adorno von Beginn gegen eine solche Programmatik des interdisziplinären Materialismus war und sich mit seinem (von Benjamin entliehenen) konstellativen und anti-systematischen Denken später mehr und mehr durchgesetzt hat (vgl. Bonß und Schindler 1982; Bonß 2003; vgl. auch Demirović in diesem Band). Diese lange Zeit emotional stark aufgeheizte Kontroverse (vgl. die Proklamationen eines Paradigmenwechsels kritischer Theorie von Habermas 1981; Honneth 1985; Habermas 1985; Brunkhorst – Wiederabdruck hier im Handbuch – einerseits und als scharfe Reaktionen u. a. Oevermann 1983; die Beiträge in Bolte 1989; Rademacher 1993 andererseits) hat sich mittlerweile abgekühlt. Das liegt aus unserer Sicht zum einen daran, dass die sozialen Verwerfungen, die mit dem wieder erstarkten Kapitalismus verbunden sind und sich in der massenhaften Wiederkehr von Armut und Prekarität niederschlagen (Pelizarri 2009; Dörre 2009; Dörre in diesem Handbuch) sowie die Betonung von Kapitalismus- und Herrschaftskritik wieder deutlich an Plausibilität gewonnen haben gegenüber der Betonung wohlfahrtsstaatlicher Errungenschaften (vgl. Lessenich 2009a; Streeck 2013; Lessenich in diesem Band) und Positionen, die auf die Errungenschaften moderner Gesellschaften hinweisen. Zum anderen aber auch daran, dass sich eine jüngere Generation von Philosoph_innen, Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen vor allem die Arbeiten von Horkheimer, Adorno und Marcuse wieder angeeignet haben, ohne noch direkter Teil der institutionellen Auseinandersetzungen rund um die universitäre Etablierung der Kritischen Theorie zu sein. Die Arbeiten von Jürgen Habermas (und zum großen Teil auch die von Axel Honneth) werden auch deshalb heute eher der Demokratietheorie und Politischen Philosophie bzw. der Moralphilosophie zugeschlagen als einer kritischen Theorie der Gesellschaft im Sinne radikaler Herrschaftskritik. Deutlich ist jedenfalls, dass die „Dialektik der Aufklärung“ (oder auch der „Eindimensionale Mensch“; vgl. Freytag 2008; vgl. auch den Beitrag von Tauber im Handbuch) seit zwanzig Jahren wieder offener und weniger als Sackgasse gelesen wird, aus der dringend ein Ausgang gefunden werden muss (vgl. z. B. Steinert 2007; Winter 2007; Behrens 2009).

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Stattdessen sind unter der expliziten Bezugnahme auf die (frühe) Kritische Theorie in den letzten Jahren immer mehr Arbeiten entstanden, die sich weder auf einen gemeinsamen Theoriekern noch auf ein gemeinsames methodologisches Verständnis oder einen Methodenkanon abziehen lassen. Die Arbeiten von Horkheimer und Adorno werden beispielsweise mit Foucault (Demirović 1999a; Allen 2017; vgl. auch Winter 2007; für eine Verbindung von Foucault und Offes Spätkapitalismuskritik vgl. Lessenich 2009a, b) oder Bourdieu (Bauer und Bittlingmayer 2014; Bittlingmayer und Sahrai 2014) in Verbindung gebracht oder als Dialogische Kritische Theorie auf der Grundlage von Habermas‘ und Honneths Ansätzen fortgeschrieben (Zima 2000, 2004, 2014). Gleichwohl sind Kritische Theorie und die Bezugnahmen auf sie nicht beliebig, sondern, so die Überzeugung der Herausgeber_in, bei allen Auseinandersetzungen um die richtige Interpretation und institutionelle Praxis, mehr als eine „bloße Metapher“ (Rasmussen 1996, S. 11). Im Zentrum steht nach wie vor die Diskrepanz zwischen dem Ausmaß an real vorhandenen und in gesellschaftliche Institutionen gegossenen Herrschaftsverhältnissen einerseits und den Möglichkeiten der (radikalen) Reduktion von Herrschaft – immer verstanden als herrschaftlicher Dreiklang über andere Menschen, über die Natur und über sich selbst – andererseits. Dass eine Kritische Theorie, um diesem allgemeinen Anspruch nach wie vor genügen zu können, auch dringend Impulse aus der postkolonialen Theoriebildung berücksichtigen müsste, ist von Christian Sigrist (1986), Edward Said (1978) und in jüngster Zeit von Amy Allen (2017) und Charles W. Mills (2017) zu Recht festgehalten worden: „Critical theory needs to start talking to critical race theory.“ (Mills 2017, S. 235; vgl. Demirović 1992; Inowlocki 2003; Bojadžijew 2015) Ähnliches dürfte für die Auseinandersetzung oder Inkorporation feministischer und gendertheoretischer Ansätze gelten, auch wenn eine fruchtbare Diskussion hier bereits stärker erfolgt ist (z. B. Benhabib et al. 1993; Butler 2003; vgl. Klinger et al. 2007; Aulenbacher et al. 2012; Demirović 2018). Diese anders gelagerten Herrschaftsanalysen von Foucault, Bourdieu, Butler, Said oder Hall – um nur einige zu nennen – sind dann allerdings nicht einfach wie ein Legostein anzudocken, sondern in strengem Sinne mit den Theoriebeständen der Kritischen Theorie zu vermitteln. Aus Sicht der Herausgeber_in versteht es sich, dass eine kritische Theorie der Gesellschaft ihrem Gegenstandsbereich nicht mehr allein durch Versicherung der richtigen Interpretation kanonisierter Texte oder Archivarbeit gerecht wird – nicht zuletzt, weil die kapitalistische Gesellschaft sich erneut gewandelt hat. Das Ergebnis einer solchen Vermittlungsarbeit wird vermutlich eine veränderte Gestalt von kritischer Theorie sein, zu deren Initiierung dieses Handbuch beitragen soll.

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Gesellschaft, Staat, Ökonomie

Im Kontext des vorliegenden Handbuchs haben wir – um überhaupt auch mit materialen Analysen einzusteigen und nicht nur bei der Dokumentation unterschiedlicher Varianten des Verständnisses einer kritischen Theorie der Gesellschaft, so wichtig das auch sein mag, stehen zu bleiben – zunächst den Gesellschaftsbegriff, die Analyse von Staatlichkeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie die Kritik der

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politischen Ökonomie adressiert. Hier folgen wir explizit (aus oben bereits genannten Gründen) keinem Vollständigkeitsanspruch, sondern verstehen die Beiträge, die hier versammelt sind, als Auseinandersetzung mit zentralen und übergreifenden, aber auch speziellen Aspekten einer zeitgemäßen Kritischen Theorie. Der Begriff der Gesellschaft nimmt insofern einen etwas hervorgehobenen Stellenwert ein, weil er, vor allem immer explizit nach Ansicht Adornos, gewissermaßen das Rückgrat einer Kritischen Theorie selbst bildet (vgl. hierzu die einschlägigen Arbeiten von Jürgen Ritsert 1988, 2000, 2017). Dabei geht es zunächst um die – für Ethnolog_innen etwa eher triviale – Einsicht, dass die empirisch messbaren einzelnen Fakten und Daten nur durch den gesellschaftlichen und damit historischen Gesamtzusammenhang vermittelt sind. Der Gesellschaftsbegriff ist Adorno zufolge „weder bloß die Summe oder die Agglomeration [. . .] zwischen den Individuen, noch ist er ein den Individuen gegenüber absolut Selbständiges, sondern er hat in sich selbst immer gleichzeitig diese beiden Momente; er verwirklicht sich nur durch die Individuen hindurch, ist aber auf sie, eben als ihre Relation, nicht zu reduzieren und ist auf der anderen Seite auch nicht als ein an sich selbst seiender Oberbegriff zu fassen. [. . .] Es gibt also genausowenig im gesellschaftlichen Sinn Individuen, nämlich Menschen, die als Personen mit eigenem Anspruch und vor allem als Arbeit verrichtende existieren können und existieren, es sei denn, mit Rücksicht auf die Gesellschaft, in der sie leben und die sie bis ins Innerste hinein formt, wie es auf der anderen Seite auch nicht Gesellschaft gibt, ohne daß ihr eigener Begriff vermittelt wäre durch die Individuen; denn der Prozeß, durch den sie sich erhält, ist ja schließlich der Lebensprozeß, der Arbeits- und Reproduktionsprozeß, der durch die einzelnen, in der Gesellschaft vergesellschafteten Individuen in Gang gehalten wird.“ (Adorno 1968/2003, S. 69–70)

Dieses Zitat und zahllose andere ähnlich lautende Textstellen verdeutlichen, dass der Begriff der Gesellschaft konstitutiv dynamisch gefasst ist (vgl. hierzu auch Adorno 1961/1979). Das Beharren auf einem solchen dialektischen Gesellschaftsbegriff dient dabei vor allem dazu, die real existierenden Herrschaftsverhältnisse als historische Varianten eines prinzipiell offenen gesellschaftlichen Möglichkeitsraums zu bestimmen. Ein solches Gesellschaftsverständnis ist, bei aller Betonung des Negativen, hoffnungsgeleitet – es geht davon aus, dass die Völkermorde, die institutionalisierten Folterkammern von Konzentrationslagern über Guantanamo bis Abu Ghreib, die Totalitarismen, Diktaturen und schlecht kaschierten Demokratiefiktionen nur das eine Ende des empirisch selbst noch auszulotenden anderen, gesellschaftlich freiheitlichen und versöhnten Endes des Möglichkeitsspektrums abbilden, an dem die einzelnen ebenso wie die etablierten akademischen Wissenschaften bis heute überraschend wenig Interesse zeigen. Dabei ist der Gegenpol gegen ein dialektisches Verständnis gerade nicht ein empirischer Zugang als solcher, sondern ein empirischer Zugang, der die auf welche methodische Weise auch immer erfasste oder rekonstruierte Welt für unvermittelt hält. Eine Wissenschaft, die ein solches Verständnis ad acta legt und sich damit begnügt, möglichst präzise das zu bestimmen, was da ist, ohne die Möglichkeiten differenter gesellschaftlicher Totalitäten (mit entsprechenden unterschiedlichen neuen „Datensätzen“) in Betracht zu ziehen, hieße, sich ohne Not und

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ohne gute wissenschaftliche Argumente im Bestehenden als vollständigen Denkhorizont einzurichten (vgl. IfS 1956, S. 36).3 Doch beziehen sich nicht alle Ansätze, die sich der Kritischen Theorie verbunden fühlen und sie in der einen oder anderen Art fortführen woll(t)en, auf einen solchen dialektischen Begriff von Gesellschaft. Gegenentwürfe wären etwa Ansätze, die sich vielleicht als Prima Sociologica im Sinne erster Setzungen bestimmen lassen, aus denen dann Herrschaftskritik spezifisch entfaltet wird. Ein prominentes Beispiel wäre die theoretische Vorabbestimmung von Gesellschaft als Gesamtheit von System und Lebenswelt, bei der dann das Verhältnis der beiden Dimensionen in der einen oder anderen Weise festgelegt wird. Gesellschafts- und Herrschaftskritik richtet sich dann mehr oder weniger mit Notwendigkeit in Richtung der Kolonialisierung der Lebenswelt durch systemische Imperative (vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag von Ludwig im Band). Ein anderes prominentes Beispiel ist das Luhmannsche Theorem der funktionalen Differenzierung (mal theoriearchitektonisch, mal historisch und mal ontologisch konzeptionalisiert), das wir Axel Honneth (2015, S. 83) zufolge als Faktum angemessen zur Kenntnis nehmen sollten von dem aus dann auch kritisch im Sinne kritischer Soziologie operiert werden kann (vgl. zur Kritik die Beiträge in Demirović 2001; s. a. Scherr 2015 sowie den Beitrag von Scherr im Band). Allerdings sind trotz aller Betonung von Kontingenz die gesellschaftlichen Möglichkeitsräume bereits im Vorfeld relativ deutlich bestimmt und kritische Perspektiven – ähnlich wie bei Habermas – auf sozialdemokratische Vorstellungswelten (die weder Adorno noch Marcuse prinzipiell gering geschätzt haben)4 verpflichtet. Die in aller Regel intellektualistische Grenze zwischen Reformismus und Revolution, die bis heute große Teile der Linken lähmt, ist dabei aus Sicht der Herausgeber_in kaum ein brauchbarer Maßstab, um Kritischer Theorie ein Echtheitszertifikat zu bescheinigen. Allerdings wäre darauf zu beharren, dass sich Horkheimer, Adorno, Marcuse, Löwenthal, Großmann, Wittfogel, Benjamin oder Sternheim eine im emphatischen Sinne befreite Gesellschaft vorstellen konnten und diese Vorstellung, trotz denkbar ungünstigster Umsetzungschancen, nicht aufgegeben haben. Insofern würden sie tatsächlich in Opposition stehen gegenüber der unhistorischen und nicht so entfernt von der liberalen Konflikttheorie Cosers und Dahrendorfs stehenden Position, wie sie etwa Chantal Mouffe (2007) mit der Untilgbarkeit des Konflikthaften im gesellschaftlichen Leben vertritt oder Didier Eribon gewissermaßen als

Oliver Marchart (2013) hat aus poststrukturalistischer Richtung jüngst eine lesenswerte „postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft“ mit dem klugen Titel „Das unmögliche Objekt“ vorgelegt, die die Rückkehr des Gesellschaftsbegriffs aus seiner neoliberalen Verbannung anhand einer Reihe von ganz unterschiedlichen Gesellschaftstheorien genauer untersucht. 4 Um nur ein Beispiel zu nennen: „Es wäre eine schlechte und eine idealistische Abstraktheit, wenn man um der Struktur des Ganzen willen die Möglichkeit von Verbesserungen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse bagatellisieren oder gar – und auch daran hat es früher nicht gefehlt – negativ akzentuieren würde. Es läge darin nämlich ein Begriff von Totalität, der sich über die Interessen der jetzt und hier lebenden einzelnen Menschen hinwegsetzt, und es gehört dazu eine Art von abstraktem Vertrauen auf den Gang der Weltgeschichte, das ich jedenfalls in dieser Gestalt schlechterdings nicht aufzubringen vermag.“ (Adorno 1968/2003, S. 52) 3

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immanente Abgrenzung gegen das Existenzialurteil und die Sehnsucht nach dem ganz anderen der Kritischen Theorie formuliert: „Es ist sinnlos, von einem unmöglichen affranchissement, von einer großen Befreiung zu träumen. Sehr wohl aber kann man manche Grenzen übertreten, die die Geschichte hervorgebracht hat und die unsere Existenzen einengen.“ (Eribon 2016, S. 219) Der dialektische Gesellschaftsbegriff, wie er vor allem von Adorno, Horkheimer und Marcuse entfaltet worden ist (vgl. die Beiträge von Zuckermann und Tauber im Band), steht hierzu in Opposition, trägt damit allerdings auch eine erhebliche Begründungslast, deren empirischer Nachweis vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Tendenzen wie Völkermord, Militarismus, Rassismus und die mittlerweile seit Jahrzehnten andauernde Wiederkehr von Arbeitslosigkeit und Massenarmut auch in den sehr reichen kapitalistischen Staaten bislang eher kontrafaktisch anzutreten ist. Das Zentralmotiv und der unbeirrbare Maßstab bleibt dabei aber immer die Vorstellung vollständig anderer Möglichkeitsräume. So hält Horkheimer selbst noch angesichts des schlimmen Dreiklangs von amerikanischem Kriegs- und Monopolkapitalismus, sowjetischem Stalinismus und europäischem Faschismus an der Möglichkeit einer befreiten und herrschaftsminimierten Gesellschaft fest: „Damit die Menschen einmal solidarisch ihre Angelegenheiten regeln, müssen sie sich weit weniger verändern, als sie vom Faschismus geändert wurden. Es wird sich zeigen, daß die bornierten und verschlagenen Wesen, die heute auf menschliche Namen hören, bloße Fratzen sind, bösartige Charaktermasken, hinter denen eine bessere Möglichkeit verkommt.“ (Horkheimer [1942]/1981, S. 33) Es geht um das Beharren auf anderen Möglichkeiten als denen, die in der empirischen Welt existieren und die sich, schlicht weil sie noch nicht da sind, nicht selbst oder nur sehr vermittelt empirisch bestimmen lassen. Gleichzeitig kann es auch nicht um ein Massenerziehungsprogramm gehen, das die Menschen zu anderen Wesen erzieht – die jüngere Geschichte ist voll von Massenmorden im Namen einer besseren Zukunft. Die Frage danach, wie sich Gesellschaften – dialektisch verstanden – zum Besseren wenden, ohne die Macht und Herrschaft auf andere Weise fortzusetzen oder Eliten auszutauschen, wie also Benjamins berühmter Tigersprung aus der bisherigen Geschichte heraus erfolgen soll, ist die wohl drängendste und offene Fragestellung einer Kritischen Theorie (vgl. hierzu Holloway 2010; Demirović 2016). Auf der Grundlage der hier betonten überragenden Bedeutung des Gesellschaftsbegriffs finden sich überraschend wenige staatstheoretische oder staatssoziologische Arbeiten in der frühen Kritischen Theorie. Die frühen Kontroversen im Institut für Sozialforschung kristallisieren sich um die Frage des Staatskapitalismus (Dubiel und Söllner 1981), die von Pollock systematischer entfaltet wird. Er vertritt die These, dass der Staat keineswegs nur die Rolle des Nachtwächters wahrnimmt. Vielmehr greift er aktiv in das Marktgeschehen ein und ist damit in der Lage, die Anarchie des Marktes, die ja zu systemkrisenhaften Momenten und vorrevolutionären Anlässen notwendig führen soll, zu reduzieren und die inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zumindest ein Stück weit still zu stellen (Pollock [1941a]/ 1980, [1941b]/1980; Horkheimer [1942]/1981). Die These, dass sich durch die Verschränkung von staatlicher und ökonomischer Herrschaft eine neue gesellschaftliche Ordnung etabliert, wurde in Hinblick auf die Analyse des Faschismus kritisch

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diskutiert und darauf verwiesen, dass in der Ausformulierung eines Staatskapitalismus ein monolithischer Herrschaftsblock konstruiert wird, der empirisch so kaum zu halten ist (Neumann [1942]/2018; vgl. die Aufsatzsammlungen Kirchheimer 1964, 1972; an die rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Positionen von Kirchheimer schließt der Beitrag von Loick im Band an). Allerdings wurde die Analyse des Staates in der frühen Kritischen Theorie – im Unterschied etwa zum Austromarxismus (vgl. hierzu ausführlicher Krätke im Handbuch) – wenig systematisch vorangetrieben. Der Fokus lag einerseits auf der Analyse kultureller Gegenstände (Musik, Literatur). Andererseits stand die empirische Analyse der Inkorporierung von Herrschaft auch bei den Beherrschten im Kontext der Integration Freuds in den Marxismus im Zentrum. Die Analyse des Staates und die staatstheoretischen Ansätze, die im weiteren Verständnis einer kritischen Theorie der Gesellschaft liegen, haben im Anschluss ganz unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Die Differenzlinie lässt sich bestimmen durch die Relevanz und Bedeutung, die der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in Hinblick auf die Analyse des Staats zugesprochen wird. Beispielsweise rücken Claus Offe und Jürgen Habermas in ihrer Staatsanalyse von einer Marxschen Fundierung weitgehend ab und bestimmen Ökonomie und Politik als Handlungsfelder, die durch und durch widersprüchlichen Imperativen folgen. Die von Offe und Habermas in den späten 1960er- und 1970er-Jahren entwickelte Spätkapitalismusthese bleibt zunächst eine Krisentheorie kapitalistischer Vergesellschaftung, die von unauflösbaren Widersprüchen innerhalb der zwanghaften Kapitalakkumulation ausgeht und argumentiert, dass die Regulationsformen und -mechanismen zur Bearbeitung der immanenten Widersprüche „kategorial erschöpft“ seien (Offe 1972, S. 24; Herv. i. O.). Die Grundthese lautet mit anderen Worten, dass „die fortgeschrittenen kapitalistischen Systeme das Potenzial kategorial erschöpft haben, das ihnen zur Verfügung steht, um die Folgen ihrer Selbstwidersprüchlichkeiten zu kompensieren“ (Offe 1972, S. 24). In Verbindung mit dieser Grundthese ist als besonders pointierte Variante der Spätkapitalismusthese die Diagnose von politischen Legitimationsproblemen zu nennen, die durch die beiden unterschiedenen Handlungslogiken der Erzeugung von Profit im ökonomischen Handlungsfeld und der Erzeugung prinzipiell auf Zeit gestellter demokratischer Mehrheiten im politischen Handlungsfeld notwendig verursacht werden. Am Ende dieses Widerspruchs drohen zum einen der kapitalistischen Ökonomie erhebliche Akkumulationsprobleme und zum anderen dem Parteiensystem der Verlust der Massenloyalität der Bürger_innen, die die Zwangsehe zwischen Kapitalismus und Demokratie in der Nachkriegszeit nicht länger mittragen.5

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Stark ist in diesem Zusammenhang bereits der frühe Verweis Otto Kirchheimers, der darauf hinweist, dass die Übernahme demokratischer Regularien kapitalistisch verfasster Staaten nicht zwingend einen Fortschritt darstellt, sondern im Gegenteil zu einer Unterminierung dessen beiträgt, was mit Demokratie verbunden werden kann. Demokratie gerät dann Kirchheimer zufolge „in Gefahr, jeder wirklichen Bedeutung entkleidet zu werden und zu einer Form herabzusinken, unter der sich die entgegengesetztesten politischen Grundsätze verbergen.“ (Kirchheimer [1930]/1964, S. 14)

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Absolut strukturanalog argumentieren neuere Studien, die explizit an die Spätkapitalismusthese der 1960er- und 1970er-Jahre anschließen. In den Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2012 zeigt etwa Wolfgang Streeck materialreich, dass die politischen Regulationsmechanismen, die vorzugsweise auf die Erzeugung staatlicher Kreditaufnahme basierten, mit der Finanzkrise an ihr Ende gekommen sind. Damit richtet sich Streeck zum einen gegen die wohlfahrtsanalytisch ausgerichtete Position, die die unterschiedlichen Pfade wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung im Anschluss an Gøsta Esping-Anderson (1990) in den Mittelpunkt stellt und betont die Parallelen und gleichförmigen Schwierigkeiten staatlichen Handelns über alle anderen Differenzen hinweg. Streeck zufolge haben es Nationalstaaten des demokratischen Kapitalismus über vier Jahrzehnte erfolgreich vermocht, durch eine Strategie des kreditfinanzierten Kaufens von weiterer Zeit, das System weiter am Laufen zu halten. Das eingesetzte Geld diente dabei „zur Entschärfung potenziell destabilisierender sozialer Konflikte, zunächst mittels Inflation, dann durch Staatsverschuldung, dann durch Expansion der privaten Kreditmärkte und schließlich – heute – durch Ankauf von Staats- und Bankschulden durch die Zentralbanken.“ (Streeck 2013, S. 15) Allerdings, so Streeck, produzierten die durch zukünftig zu erwirtschaftendes Geld finanzierten Lösungen Probleme auf immer höherem Niveau, so dass die Vorstellung Offes von der kategorialen Erschöpfung der regulativen Hilfsmittel, die Offe selbst anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld noch einmal gebündelt präsentiert hat (Offe 2009), auf die heutige Zeit einmal mehr zutrifft. Auch die jüngste Einschätzung Offes (2016, S. 109) zur europäischen Finanzmarktkrise trägt diesen Stempel: „die Krise selbst lässt die Überzeugungen, Einstellungen und Motive erodieren, die für ihre Bewältigung erforderlich sind.“ Während Streeck sich gesellschafts- und staatstheoretisch weitgehend in demselben Rahmen wie Offe und Habermas, nur empirisch erheblich fundierter bewegt, schlägt Stephan Lessenich, der gemeinsam mit Jens Borchert durch die erneute Herausgabe eines für die Spätkapitalismusthese zentralen Buchs von Offe (1972 bzw. 2006) ihre Reanimation selbst maßgeblich mit eingeleitet hat, gesellschaftsund staatstheoretisch einen anderen Weg ein. Er versucht die Strukturprobleme des demokratischen Kapitalismus mit der Machtanalytik Michel Foucaults zu verbinden, um ein erweitertes theoretisches Repertoire verfügbar zu haben. Dieses Repertoire soll die durch die Agenda 2010 und die Etablierung des aktivierenden Sozialstaats beobachtbare Zunahme der Herrschaftstiefe durch das Foucaultsche Theorem der Selbstregierungstechniken vernünftig abbilden (vgl. allgemeiner zum Ansatz Foucaults den Beitrag von Brieler im Band; für eine kritische Theorie des Sozialstaats Lessenich im Band). Einer der zentralen Punkte des Lessenichschen Ansatzes ist die Kritik des Catch-All-Begriffs Neoliberalismus, weil, so sein zentrales Argument, die Neuauflage des Liberalismus mindestens eine Perpetuierung liberaler Rechte suggeriert. Mit der sozialstaatlichen Aktivierungspolitik des Forderns und Förderns werden aber gerade liberale Abwehrrechte gegen den Staat für spezifische Bevölkerungsgruppen ganz massiv eingeschränkt und menschenrechtlich mithin ein empfindlicher Rückschritt etabliert, der mit dem Begriff des Neoliberalismus eher verschleiert als zu Tage gefördert wird (Lessenich 2009a, b; vgl. auch Gerdes und

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Bittlingmayer 2012). Lessenichs Gegenbegriff des Neosozialen, der die veränderten Formen im Verhältnis von Individualität und Kollektivität, von Subjektivierungsformen und -prozessen sichtbar machen soll (Lessenich 2009a, S. 130), ist seiner eigenen Einschätzung nach terminologisch noch nicht das letzte Wort. Eine andere Richtung hat Joachim Hirsch zum Teil bereits seit den 1970er-Jahren eingeschlagen, die sich als materialistische Staatstheorie bestimmen lässt und die eher an den Rändern der Frankfurter Schule angesiedelt war (vgl. hierzu das Interview mit Joachim Hirsch im Handbuch). Die differentia specifica zu den Ansätzen von Offe und Habermas war die Einschätzung und Rolle der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und die Einbeziehung anderer Referenzautoren wie Antonio Gramsci, Louis Althusser und Nicos Poulantzas (vgl. Hirsch et al. 2001; Hirsch 2005, Kap. 1; Demirović 2007; vgl. auch den Beitrag von Jessop im Handbuch). Auch wenn es ganz unterschiedliche Ansätze gibt, lässt sich vielleicht als eine Grundbestimmung materialistischer Staatstheorie festhalten, dass der Staat mit Notwendigkeit eine spezifische Gestalt ausbildet, „die das politische Gemeinwesen unter den im Kapitalismus herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen annimmt. [. . .] Der Staat der bestehenden Gesellschaft ist [. . .] aus strukturellen Gründen ‚kapitalistisch‘, und nicht allein deshalb, weil er direkten Einflüssen des Kapitalismus unterworfen ist. [. . .] Der Staat ist kein neutrales Instrument, das außerhalb der ‚Wirtschaft‘ steht, sondern als Bestandteil des kapitalistischen Produktionsprozesses unmittelbar mit diesem verbunden. Es ist daher unmöglich, dieses Produktionsverhältnis mittels des Staates im Kern zu verändern.“ (Hirsch 2005, S. 26) Dieses marxistische Verständnis vom Staat als einem gesamtgesellschaftlichen Verhältnis (oder auch als soziale Relation bestimmt), das durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung als allgemeine Rahmung (etwa mit Blick auf das staatliche Gewaltmonopol) determiniert wird, richtet sich (zumindest in den allermeisten Varianten; eine Ausnahme bilden die jüngeren Schriften von Bob Jessop, der mittlerweile zunehmend stärker differenzierungstheoretisch argumentiert) gegen die Vorstellung einer systemischen oder funktionalen Differenzierung. Damit bleibt er unmittelbar anschlussfähig an den weiter oben skizzierten dialektischen Gesellschaftsbegriff der frühen Kritischen Theorie. Diese Perspektive hat auch unmittelbare Konsequenzen für die Konzeptionalisierung gesellschaftlichen Wandels in Richtung der Minimierung von Herrschaft und individueller Emanzipation. Hirsch zufolge können „emanzipative gesellschaftliche Bewegungen [. . .] nicht vom Staat ausgehen oder mit ihm durchgesetzt werden, aber die in ihm oder über ihn ablaufenden Prozesse sind wichtig dafür, wie sie sich entwickeln können.“ (Hirsch 2012, S. 125) Auch in Hinblick auf die Anschlussfähigkeit von Perspektiven einer kritischen Theorie der Gesellschaft an andere Theorietraditionen wie die Geschlechterforschung oder Cultural Studies liefert eine materialistische Staatstheorie unmittelbare und fruchtbare Anknüpfungspunkte, denn das „Verhältnis von ‚Gesellschaft‘ und ‚Staat‘ [wird] nicht nur durch den kapitalistischen Verwertungsprozess, sondern auch durch die mit ihm eng verbundenen geschlechtlichen, ethnischen, nationalistischen und rassistischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse bestimmt. [. . .] Diese werden jedoch zugleich durch die politische Form des Kapitalismus in ihrer Erscheinungs- und Wirkungsweise geprägt.“ (Hirsch 2005, S. 33)

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Auch wenn die Einschätzung der Relevanz und des Stellenwerts der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und die Aktualität von Marx (vgl. hierzu jüngst Krätke 2017) gegenüber den weiter oben skizzierten Positionen an entscheidender Stelle abweicht, gibt es zwischen beiden theoretischen Großsträngen Gemeinsamkeiten. Zum einen, weil es durchaus bereits früh Kommunikation und Austausch über eine der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft angemessene Staatstheorie – etwa zwischen Offe und Hirsch – in Frankfurt gegeben hat. Zum anderen, weil die systematische Bezugnahme auf und Berücksichtigung etwa von Foucault sowohl maßgeblich in den Schriften Demirović‘, Hirschs als auch Lessenichs (als Vertreter des „Legitimationsproblemsansatzes“), aber auch die Auseinandersetzung mit Gegenpositionen wie systemtheoretischen Zugängen etwa von Luhmann hier kritisch, aber vergleichsweise konstruktiv verlief und verläuft (Lessenich 2009a, S. 156, b, S. 67–71; Demirović 2001; Hirsch 2012, S. 107; Schimank und Volkmann 2017; vgl. auch Scherr in diesem Band). Neben der Frage nach dem Gesellschaftsbegriff und der Frage der Konzeptionalisierung einer angemessenen Staatstheorie spielen noch eine Reihe weiterer ökonomisch-theoretischer und empirischer Fragen für eine aktuelle Kritische Theorie sehr bedeutsame Rollen. Da wäre in Anlehnung an Adornos berühmtem Vortrag „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, deren Verhältnis sich Adorno zufolge bekanntlich weder durch ein sowohl-als-auch noch durch ein entweder-oder sinnvoll bestimmen lässt (Adorno 1968/1979), die Frage einer treffsicheren herrschaftskritischen Zeitdiagnose, die sich offensichtlich nicht erübrigt hat. Seit Jahrzehnten eine der prominentesten ist sicherlich die Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft (siehe hierzu den Beitrag von Kreisky/Löffler im Band), die auf – selten bewiesene, sondern monoton postulierte – Verschiebungen von Wertschöpfungsketten hin zum Wissen, aber auch auf die Beschleunigung der Halbwertzeit von Wissen, auf ökonomische Globalisierung und auf die Digitalisierung in allen Lebensbereichen abzielt. Aus der Perspektive Kritischer Theorie ist dabei sicherlich höchst problematisch, dass hier technische Entwicklungen, die selten vom Himmel fallen, sondern in aller Regel das Resultat vorgelagerter staatlicher und/oder privatwirtschaftlicher Planungen sind, gesellschaftliche Entwicklungen unmittelbar determinieren sollen (vgl. hierzu Hack 1998; Hack und Hack 2005; Bittlingmayer 2005). Wie bereits Habermas 1965 zu Recht festhält, entbinden die Technologien und alltagsrelevanten technischen Anwendungen die Menschen nicht vom Handeln (Habermas [1965]/ 1968, S. 113). Claus Offe weist bereits 1972 darauf hin, dass Technik bzw. die Institutionalisierung und die Richtung des technischen Fortschritts nicht vorgesellschaftlich hereinbrechen, sondern „nicht ohne vorgegebene staatliche Katalysatorenfunktionen [. . .] vollzogen“ werden (Offe 1972, S. 23). Gerade die Verhältnisbestimmung zwischen Staat und Wirtschaft in Hinblick auf technologische Entwicklung und die Vorstellung von Wissenschaft und Technologie als unmittelbarer (und mittlerweile primärer) Produktivkraft verlangt nach wie vor nach einer grundlegenden theoretischen, aber auch intelligenten empirischen Bearbeitung (wenig hilfreich ist etwa die bloße Anzahl veröffentlichter wissenschaftlicher Arbeiten als Indikator für Wissens- oder Produktivitätszuwachs). Diese Fragen

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sind seit dem Ende der 1960er- und insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren auf einem theoretischen Niveau etwa im Kontext der Wissenschaftsforschung und Arbeitssoziologie bearbeitet worden, das es überhaupt erst wieder einzuholen gilt (vgl. Habermas 1968; Hirsch 1974; Weingart 1972, 1974; Hack und Hack 1985; Hack 1988). Die zeitdiagnostisch fokussierte Frage nach dem konkreten Zustand kapitalistischer Gesellschaften hat eine große Anzahl von weiteren Implikationen, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Nur zwei Dimensionen sollen kurz angesprochen werden: Erstens lässt sich grundlagentheoretisch fragen, inwieweit die Marxsche Werttheorie im Kontext von Wissensgesellschaften, einmal unterstellt, dass die Wissensgesellschaft eine sinnvolle Beschreibung von Gegenwartsgesellschaften ist (kritisch hierzu etwa Becker 2001; Bittlingmayer 2005; Resch 2005; Bittlingmayer 2010 sowie der Beitrag von Kreisky/Löffler im Band), nach wie vor Gültigkeit beanspruchen kann, ob sie modifiziert oder ersetzt werden müsste (vgl. hierzu die Debatte um die monetäre Werttheorie im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, vor allem Heinrich 2001, 2003; Haug 2003, 2007; vgl. auch Bittlingmayer 2014 sowie den Beitrag von Kößler/ Wienold im Handbuch). Zweitens stellt sich die Frage nach dem Gesellschaftsbegriff und der Staatsund Kapitalismustheorie auch empirisch. Hier sind zunächst Arbeiten zu nennen, die dem konkreten Gehalt der Arbeitssoziologie für eine zeitgemäße Kapitalismustheorie nachspüren (vgl. die Beiträge in Dörre et al. 2012) und die auch die Zentralität der Kategorie Arbeit als gesamtgesellschaftliches Rückgrat diskutieren. Aus der Perspektive Kritischer Theorie scheint allerdings klar zu sein, dass die üblichen Schlagworte von gesamtgesellschaftlicher Individualisierung, Pluralisierung von Lebensformen oder Rückgangs der Bedeutung von sozialer Herkunft und Berufsbiografien nicht akzeptiert werden können. Sie nehmen die Utopie vorweg und tun so als wäre sie schon da. Gegen solche Lebensstil-orientierten Perspektiven auf gesellschaftlichen Wandel sind eine ganze Reihe von empirischen Gegenkräften in Anschlag zu bringen: Zu nennen wäre eine zunehmende Prekarisierung am unteren Rand der Gesellschaft (Pelizarri 2009; Dörre 2009 sowie Dörre hier im Band), eine mittlerweile sehr gut dokumentierte soziale Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse (vgl. die Armuts- und Reichtumsberichte des Bundes seit 2005, aber auch die Diskussion um die Studie von Piketty 2015). Wichtige Perspektiven liefert die feministische Forschung zum Zusammenhang der Reproduktion von Geschlechterherrschaft und kapitalistischer Arbeits- und Familienorganisation. Flexibilisierung führt hier jedenfalls nicht eben dazu, dass Frauen in der nach wie vor unbezahlten Care-Arbeit insgesamt entlastet würden (vgl. u. v. a. Maihofer 2004, 2017; Aulenbacher et al. 2012; den Beitrag von Aulenbacher hier im Band). Die Veränderungen, die sich mit dem Ende bzw. der Transformation der fordistischen Regulationsweise (mit allen nach wie vor sichtbaren Gegentendenzen) ergeben haben, sind aus der Perspektive einer kritischen Theorie der Gesellschaft empirisch im Rahmen von Arbeitssoziologie und Ungleichheitsforschung also sorg-

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fältig einzufangen und theoretisch daraufhin zu befragen, ob durch sie Veränderungsmöglichkeiten, die aufs Ganze sich beziehen, stärker in den Blick rücken oder ob sie eher zu einer Verlängerung des Bestehenden beitragen, indem etwa die prinzipiell positive Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen unter die Regie bestehender sozialer Herrschaftsverhältnisse genommen wird (Negt 2001). Die Verklärung von intensivierter sozialer Herrschaft als Freiheitsgewinn, die mit der Veränderung der kapitalistischen Verhältnisse auch mit Blick auf Kultur einhergeht, berührt dabei einen eigenständigen Bereich, den Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung als Kulturindustrie bezeichnet haben und dessen Bedeutung für die Reproduktion des demokratischen Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg sicherlich noch zugenommen hat. Im folgenden abschließenden Abschnitt beleuchten wir mit der Kulturindustrie neben der Kritik der politischen Ökonomie einen weiteren im Handbuch genauer abgebildeten inhaltlichen Gegenstandsbereich kritischer Theorie der Gesellschaft.

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Kulturindustrie

Der Stellenwert der Kulturindustrie-These im Gesamtwerk der Kritischen Theorie bemisst sich nicht zuletzt an der Konstellation ihrer ersten Publikation im ikonischen Werk der Frankfurt Schule par excellence, die von Max Horkheimer und Theodor Adorno Mitte der 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlichte „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987). Es handelt sich um ein merkwürdiges Werk, dessen Aufbau (zusätzlich zu seinem essayistisch ausgerichteten Schreibduktus) die/der konventionellen Leser_innen systematischer philosophischer Texte irritieren mag. Nach einer Vorrede wird man im ersten, mit „Begriff der Aufklärung“ betitelten Kapitel, eine transhistorisch gefassten Zivilisationstheorie entworfen. Dieses Kapitel erfährt dann breit angelegte Explikationen in zwei „Exkursen“ unterschiedlicher Art: zum einen eine eigenwillige Exegese von Homers „Odyssee“ („Odysseus oder Mythos und Aufklärung“), zum anderen einen nicht minder eigenwilligen Vergleich von de Sades und Nietzsches Denken mit dem Kants („Juliette oder Aufklärung und Moral“). Im fünften, „Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung“ betitelten Kapitel bieten Horkheimer und Adorno die wohl erste denkerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust, ohne diesen als solchen noch direkt anzusprechen. Es folgen im letzten Teil der Schrift („Aufzeichnungen und Entwürfe“) eine Reihe von Fragmenten aphoristischen Charakters in der Art wie sie späterhin in Adornos „Minima Moralia“ versammelt werden sollten, Fragmente, die sich großteils von den Grundthesen des Bandes ableiten. Und genau in der Mitte dieses heterogenen Kompendiums, als viertes Kapitel des Buches, ist nun die Kulturindustrie-These unter dem vielsagenden Titel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ postiert. Was sich wie eine Analyse populärer Massenkultur im 20. Jahrhundert ausnimmt, findet seinen Platz zwischen einer Diagnose der sich entfaltenden Gesamttendenz der Zivilisation zu einem Umschlag der in der Aufklärung sich kundtuenden Emanzipation in ihr repressives Gegenteil und einer

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aufgrund nämlicher Matrix zivilisatorischen Fortschritts sich ergebenden Entwicklung, die in der Menschheitskatastrophe Auschwitz kulminiert. Diese zentrale Platzierung kommt nicht von ungefähr. Denn bei aller nietzscheanisch anmutenden Systemabstinenz der Schrift verfolgt sie doch in allen ihren Einzelteilen die Logik der Erörterung unterschiedlicher Aspekte ihrer Grundaussage. Es geht dabei um die zivilisatorischen Manifestationen eines sich aus Naturzwang notgedrungen ergebenden Herrschaftsparadigmas, bei dem die Notwendigkeit der Selbsterhaltung mit einer Beherrschung der äußeren Natur einhergeht, welche zwangsläufig die als Triebverzicht sich realisierende Beherrschung der inneren Natur und – damit eng zusammenhängend – die Herrschaft des Menschen über den Menschen zur Folge hat. Bei der Konstruktion dieser Zivilisationstheorie bedienen sich Horkheimer und Adorno einiger zentraler, in sich aber mehrdeutiger Kategorien. Denn Aufklärung meint zum einen die historische Phase der spezifisch europäischen Aufklärung, zum anderen aber auch den transhistorischen Prozess der Unterwerfung der „Welt“ (bzw. der Natur) unter die Ordnungskategorien der menschlichen Vernunft und deren daraus folgende physische Beherrschung. Auch die Kategorie des Mythos bezieht sich zum einen auf die klassische Mythologie historischer Kulturen (allen voran der altgriechischen), zum anderen aber auf den pejorativ-metaphorischen Gebrauch von Mythos im Sinne von Chimäre bzw. falschem Bewusstsein. Vernunft selbst wird zwar als Substrat menschlicher Emanzipation begriffen, welches aber qua instrumenteller Vernunft zum Mittel kulturbestimmender repressiver Verdinglichung gerinnt. Als prekär erweist sich zudem die Kategorie des Individuums. Denn das autonome Individuum ist einerseits das Ziel aller modern aufgeklärter Emanzipation, andererseits aber in der modernen Massengesellschaft das Objekt einer strukturell präformierten Tendenz zur entindividualisierenden Integration ins Gefüge der kapitalistischen Produktionsweise, die den Einzelnen als solchen letztendlich „vollends annulliert“ und somit das blanke Gegenteil von Autonomie. So besehen, ist Kulturindustrie die moderne Auswirkung einer transzivilisatorischen Verkoppelung von Herrschaft, Emanzipation, Arbeit, Gewalt und scheiternder Individualität. Denn wenn das Ziel der Freiheit von Kant bis Marx und Nietzsche die Erfüllung individueller Bedürfnisse und Verwirklichung subjektiver Potenziale in einer Gesellschaft meint, die das Heterogene aller Individualität zur Voraussetzung und zum setzenden Selbstverständnis hat, so ist die schiere Austauschbarkeit des Individuums, seine Ersetzbarkeit, Quintessenz einer gegenläufigen Entwicklung, wobei dies Gegenläufige sich nicht etwa „von außen“, gleichsam als Opposition heranbildet, sondern aus der inneren Logik der rigorosen emanzipatorischen Ambition erwächst. Dialektik der Aufklärung meint nicht den Kampf der Aufklärung gegen die sie attackierenden antiaufklärerischen Kräfte. Das Bestürzende an der Dialektik der Aufklärung ist, dass aus ihr und in ihr selbst Strukturen und Apparaturen entstehen, die sie ins Gegenteil dessen, was sie ursprünglich intendiert, umschlagen lassen. Nur im Kontext dieser eigentümlichen Einsicht lässt sich der prominente Stellenwert der Kulturindustrie-These in der Kritischen Theorie verstehen. Denn wenn Kulturindustrie „Aufklärung als Massenbetrug“ gleichgesetzt wird, dann ist sie zum

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einen der Raison d’être der Aufklärung anverwandt, zum anderen ist sie das aber eben als irreführende Lüge, was wiederum der schieren Bestrebung aller Aufklärung essenziell zuwiderläuft. Hier trifft sich die Aufklärungskritik von Horkheimer und Adorno mit den Analysen des Postkolonialismus, wie sie vor allem von Stuart Hall (1994a, b), Edward Said (1978), Gayartri Spivak (1988) oder Homi Bhabha (2000) vorgelegt wurden. Das Besondere an Horkheimers und Adornos Form der Aufklärungskritik, die Aufklärung nicht als (teleologische) Befreiungs- und Emanzipationsgeschichte konzeptionalisiert, sondern als unmittelbar verstrickt in die bisherige Herrschaftsgeschichte, ist gegenüber postkolonialen Theorieansätzen das analytische Zusammenspiel zwischen Kapitalismuskritik und Kulturkritik, das allerdings die Analyse des Rassismus außerhalb des Antisemitismus und die Analyse des Kolonialismus dafür weitgehend ausblendet (vgl. hierzu etwa Sigrist 1986). Zentral ist allerdings, dass sich weder bei Horkheimer und Adorno noch in der postkolonialen Theorie programmatisch eine simple Rückkehr zur Aufklärung fordern lässt. Theoriearchitektonisch ist die These der gesamtgesellschaftlichen Integration durch die Bereitstellung von Massenkulturgütern fest in den Ansätzen von Max Weber oder Talcott Parsons verankert, und insofern nicht einmal eine neue Gewichtung. Allerdings wird bei Horkheimer und Adorno, anders als in der Gegenaufklärung, anders als in der zynischen Perspektive Webers und anders als in der affirmativen Perspektive Parsons’ daran festgehalten, dass die Kulturindustrie etwas systematisch verhindert, was besser und mehr sein könnte als das Bestehende. Was ist es nun an der Kulturindustrie, das sie in den Augen Horkheimers und Adornos zu solch einer Gefahr geraten lässt, dass sie sie als einen zentralen Mechanismus des Umschlags von emanzipativer Aufklärung in repressive Verdummung deuten? Zunächst und vor allem: Kulturindustrie meint nicht eine „spontan von den Massen“ aufsteigende Kultur, sondern die Herstellung von Produkten, die in geplanter Abstimmung verschiedener Produktionssparten gleichsam „von oben“ auf den Konsum von Massen zugeschnitten sind. Sie ist, so besehen, auf die möglichst breite Integration ihrer Abnehmer_innen aus, spekuliert mithin auf das durch Manipulation in seinem Reflexionsvermögen geschwächte Bewusstsein der Massen; ihre Mentalität soll verdoppelt und alles, was diese Mentalität verändern könnte, ausgespart werden. „Die Massen“, heißt es bei Adorno, „sind nicht das Maß sondern die Ideologie der Kulturindustrie, so wenig diese auch existieren könnte, wofern sie nicht den Massen sich anpaßte“ (Adorno 1970, S. 60 f.). Die Begriffe der Massenkultur und Kulturindustrie überschneiden sich zwar, weisen aber auch zumindest einen konzeptuellen Unterschied auf. Denn während der Massenkultur-Begriff sich primär auf die Massen als Rezipient_innen bzw. Klientel des ihnen gemachten Kulturangebots bezieht, geht es im Begriff der Kulturindustrie in erster Linie um die Struktur der Produktion besagten Kulturangebots, nämlich die industrialisierte Herstellungsform, die – „von oben“ initiiert, also nicht als eine spontan „von unten“ sich generierende Praxis – die Grundlage für die Verwertung durch die Massen erst eigentlich schafft. Während sich Massenkultur also im Wesen auf das Konsumsubjekt bezieht, befasst sich Kulturindustrie, nicht nur, aber vor allem mit der Produktionsweise und der ihr zugrunde liegenden Ideologie.

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Was dabei den primären Ausschlag gibt, ist das Profitmotiv, ein Umstand, der damit korrespondiert, dass kulturindustrielle Produkte in erster Linie als Waren fungieren. Damit sie Waren sein können, müssen sie konsumierbar sein, und damit sie konsumierbar sind, muss ihre Wirkung aufs Publikum, und zwar als Wirkung ohne Grund, genau durchgerechnet werden. Zu unterscheiden ist in diesem Zusammenhang zwischen dem Gebrauchswert durch die Konsument_innen und dem intendierten Tauschwert durch den Produzent_innen. Schund kann ja auch einen Gebrauchswert haben (für die Konsument_innen), wiewohl er mit einer profitgetriebenen Intention der Produzent_innen einhergeht. Abgesehen davon, dass dabei ein möglichst niedriger gemeinsamer Nenner der Rezeption beim potenziellen Publikum anvisiert wird, muss die Kunstautonomie – Zweckfreiheit von Kunst als widerständischer Gegenentwurf zur repressiv zweckgebundenen Realität – Opfer einer solchen auf Tauschwert ausgerichteten Produktionspraxis werden. Dies liegt Adornos Erkenntnis zugrunde, dass „die Autonomie der Kunstwerke, die kaum je ganz rein herrschte und stets von Wirkungszusammenhängen durchsetzt war, [. . .] von der Kulturindustrie tendenziell beseitigt“ (Adorno 1970, S. 61) werde. Fasst man also Funktion und Eigenschaft von Kulturindustrie zusammen, so handelt es sich, Horkheimer und Adorno zufolge, um das kapitalistische Feld der kommerziellen Massenkultur, in dem normierte und standardisierte Kulturwaren produziert werden, die Immergleiches, Altbekanntes, leicht Konsumier- und Verdaubares in einer Weise perpetuieren, in der das Bewusstsein (bzw. die Mentalität) der rezipierenden Klientel sich immerfort reproduziert, ohne durch das neue Andere, das kritisch Reflektierte je wirklich herausgefordert, geschweige denn subvertiert zu werden. Darin unterläuft Kulturindustrie das, was am Begriff der autonomen Kunst und Kultur das je Fortschrittliche, avanciert Emanzipative, immer ausmachte. Kulturindustrie erfüllt somit eine ideologische Funktion: Sie bedient das kapitalistische Streben nach Integration (der Konsument_innen), das vom Profitmotiv angeleitete Bemühen um „well-adjusted people“, vor allem aber fördert sie durch systematische Lähmung des kritischen Bewusstseins die tendenzielle Entindividualisierung des Einzelnen, seine Verwandlung in das anonymisierte Glied einer „lonely crowd“ (Riesman et al. [1950]/2001) der Waren- und Konsumwelt. Es reicht hin, an die immense Rolle der Unterhaltungsindustrie im Alltag heutiger Gesellschaften zu denken, um die sozialpsychologische und eben auch ideologische Tragweite von Kulturindustrie zu ermessen. Dies umso mehr, als das Medium von Radio und hollywoodschem Kinofilm, die Horkheimer und Adorno Mitte der 1940er noch im Blick hatten, längst durch Fernsehen, Internet und andere Digitaltechnologien übersteigert und im Hinblick auf die Auswirkungen der Kolonisierung, Formung und Prägung von Massenbewusstseinsstrukturen weit hinter sich gelassen haben – das bringt ein aktueller Satz auf den Punkt der davon ausgeht, dass die heutige Kompetenz und Herausforderung darin besteht, die bildungsbezogenen und beruflichen Ambitionen und Karrieren mit Netflix, Amazon Prime, Sky usw., also dem jederzeit auf dem Tablett, dem Smartphone, dem Laptop oder dem Fernseher verfügbaren Angebot von tausenden von Filmen, Dokumentationen, Serien oder Sportereignissen, in Einklang zu bringen.

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Horkheimers und Adornos Analysen aus den 1940er-Jahren sind eng verknüpft mit einer fordistischen Gesellschaftsregulation, die die Analogie zwischen industrieller Fließbandarbeit und kulturindustrieller Massenproduktion trägt. Diese Form der Massenproduktion ist selbstverständlich tief greifend zu aktualisieren, um das unverbindliche Nebeneinander von kritischer Medienproduktion und radikaler Kritik einerseits und nach wie vor existierender kultureller Fließbandproduktion – mittlerweile in ausgelagerten Produktionsbetrieben, in denen in der Regel besonders prekäre Arbeitsbedingungen herrschen – andererseits aufzunehmen (fruchtbare Ansätze liefern G. Schweppenhäuser 2013 und Prokop 2018; vgl. auch die Beiträge in Niederauer und Schweppenhäuser 2018; vgl. auch den Beitrag von Schweppenhäuser im Handbuch). Die Kulturindustriethese lässt sich auch deshalb nicht mechanisch fortsetzen, etwa weil die Widersprüchlichkeiten der kulturindustriellen Produktion von Reflexionen aus ihrer Mitte begleitet werden. So wird eine besonders sichtbare Fortsetzung kultureller Fließband- und Massenproduktion durch die so genannten Bollywood-Filme repräsentiert, deren Stars weltweit die meisten Fans auf sich versammeln können. Diese Filme und Produktionsbedingungen dürften besonders eng am von Horkheimer und Adorno ausgesprochenen Ideologieverdacht innerhalb der Kulturproduktion liegen. Allerdings werden in diesen Filmen für die indische Gesellschaft besonders wichtige Motive wie verabredete Heiraten, die historischen und aktuellen Auseinandersetzungen zwischen der muslimischen Minderheit und der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit oder die Erosion des Kastenwesens verhandelt. In ähnlicher Weise wurden bereits in den 1980er- und 1990erJahren aktuelle gesellschaftliche Probleme in populäre lateinamerikanische oder türkische Telenovas oder in die Serie „Die Lindenstraße“ eingebaut und bereits früh als ideologiebehaftet kritisiert (Moritz 1994). Auf der anderen Seite formuliert Shah Rukh Khan, der weltweit wohl berühmteste aktuelle Bollywood-Schauspieler in einem Interview, dass es ihm darum geht, dass die Menschen in Indien (und überall auf der Welt) ihren Alltag und ihre Sorgen wenigstens für drei Stunden vergessen, wenn sie einen seiner Filme anschauen. Insofern ist das Motiv der falschen Versöhnung durch Kulturindustrie im Sinne einer Verlängerung sinnloser Herrschaft dadurch komplexer geworden, dass das Motiv der Zerstreuung und bloßen Unterhaltung offensiv auch innerhalb der Kulturindustrie aufgegriffen und verteidigt wird, weil die Herstellung einer anderen, gerechten Welt nicht mehr im gesellschaftlichen Denkhorizont vorhanden ist. Eine aktuelle Auseinandersetzung mit den Effekten der Kulturindustrie muss also entsprechend von ganz anderen Vorrausetzungen ausgehen, als sie die Klassiker der Kritischen Theorie vor Augen hatten, wenn auch die damalige Grunderkenntnis ihre fundamentale Gültigkeit bewahrt. Denn die Diagnose der Auswirkungen von Kulturindustrie heutigen Zuschnitts belangt nicht mehr nur Verführung zum Seichten, Verdummung und geistig-kulturelle Verarmung; sie betrifft nicht mehr nur Fragen von Form, Inhalt und Gehalt der von ihr angebotenen Kulturprodukte. Die heutige Kulturindustrie hat ihre Wirkbereiche so sehr verbreitet, dass man sich fragen kann, ob es überhaupt noch eine Sphäre modernen Lebens gibt, die nicht von ihr affiziert ist: die Art, wie Politik debattiert und Politiker_innen gewählt werden (vgl. van Rossum 2004) nicht minder als die Big-Brother-Sensationen und die Gestaltung von

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Katastrophenberichterstattung, Beziehungsprobleme-Beratung und Wettervorhersagen im Fernsehen; die Vermittlung von Körperidealen, Lifestyle-Vorgaben und Gesundheitstipps nicht weniger als Wissenschafts-, Philosophie- und Kunst-Talks; Sport-, Talent- und Quizshows. Kulturindustrie ist mittlerweile zur Wahrnehmungsmatrix des Alltags, zur populären Deutungsinstanz von Lebensweltproblemen, ja zum weitverbreiteten, gleichsam „natürlichen“ Medium der Lebens- und Existenzorientierung geronnen. Komplexe Mechanismen der Projektion und autoritärer Identifikation mit Stars und Celebs der Populärkultur sind durch sie vermittelt, verblendete Ideologisierung und hermetische Rationalisierung der eigenen defizitären Lebensumstände werden von ihr bewirkt und nachhaltig verfestigt. Auf der anderen Seite lassen sich aber auch in denselben Medien, vor allem Fernsehen und Internet, breite Gegentendenzen und gute zeitdiagnostische Analysen finden. Das politische Kabarett in Deutschland hat in den letzten fünfzehn Jahren außerordentlich kritische und präzise Analysen hervorgebracht und aktuelle politische Tendenzen wortreich begleitet. Kabarettisten wie Volker Pispers, Georg Schramm, Max Uthoff oder Hagen Rether, Fernsehformate wie „Mann Sieber!“ oder „Die Anstalt“, die das Brechtsche Theater aktualisieren oder Ladys Night von Gerbur Jahnke, die der männerdominierten Welt des Kabaretts aktiv entgegenwirkt – um nur einige zu nennen – liefern Radikalkritik, Formate wie die heute show, bringen zumindest teilweise erkennbare kapitalismuskritische Argumente und erreichen ein sehr großes Publikum, das weit über den akademischen Bereich hinaus reicht. Des Weiteren lässt sich in den letzten Jahren eine Zunahme des investigativen Journalismus in Deutschland beobachten – zum Teil spektakuläre Angriffe auf Presse- und Meinungsfreiheit etwa in Polen, Ungarn, den USA oder der Türkei – mit großen medialen Effekten wie etwa im Fall des Nachweises, dass Kanzlerin Merkel vor der vorletzten Bundestagswahl 2013 die Öffentlichkeit über das No Spy-Abkommen mit den U.S.A. falsch informiert hat, dem Abgasskandal bei Dieselfahrzeugen oder den problematischen Waffendeals der Bundeswehr mit deutschen Rüstungsfirmen – und sehr geringen Konsequenzen. Schließlich gibt es eine große Anzahl kritischer Dokumentationen und Kinofilme, die mittlerweile auch auf großen kommerziellen Filmfestspielen einem Massenpublikum präsentiert werden. Signum des augenblicklichen Medienangebots ist also ein Nebeneinander von Affirmativem und Kritischem, wobei auch die Kritischen Medien gezwungen sind, sich den Gesetzen der Warenförmigkeit zu unterwerfen. Angemerkt sei gleichwohl, dass es in früheren Phasen der Kulturindustrie stets auch das, was aus ihr herausscherte, gab – auch kritische und reflektierte Erzeugnisse der Mainstream-Kultur. Das ändert aber nichts an der verheerenden Wirkmächtigkeit der Hard-core-Kulturindustrie. Neben dieser nimmt sich zuweilen der kritische Diskurs wie das ohnmächtige Feigenblatt ihrer Affirmation aus – die Kritik bestätigt gleichsam ihre hegemoniale Wirkmächtigkeit. Hervorzuheben gilt es entsprechend, dass die aufklärerischen Errungenschaften der ehemals misstrauisch bis radikal-kritisch beäugten Medien – etwa die guter Politsatire – sich nicht dem strukturellen Kontext zu entziehen vermögen, in welchem sie brillieren. Wenn etwa in der heute show Oliver Welkes Kritisches ironisch (!) in Form des deutschen Schlagers vermittelt werden soll, das Studiopublikum

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aber, von ebendiesem Schlager befeuert, in rhythmisches Klatschen bei der Musik verfällt, während im Text Unsägliches erklingt, dann scheint durch den Aufklärungsakt hindurch die verinnerlichte Matrix der Kulturindustrie hindurch. Was bei Adorno an den Protestsongs der 1960er-Jahren das große Unbehagen bewirkte – die ästhetische Konsumierbarkeit des Grauens –, ist in den Auswirkungen der gegenwärtigen kulturindustriellen Veranstaltungen verschlüsselter, dafür aber – weil emanzipativ kaschiert – noch viel tief greifender zu beobachten. In der Warenform dieser Auswirkungen schlägt sich die Logik des kapitalistischen Lebensgefühls nieder. Von größter Bedeutung ist dabei, dass das Lebensgefühl selbst zur Ware verkommen ist. Nicht zuletzt darum soll es in den unter dem Abschnitt Kulturindustrie versammelten Handbuchbeiträgen gehen.

4.1

Kulturindustrie, Öffentlichkeit, Digitalisierung

Eine zentrale Kategorie der Kritischen Theorie, die es im Hinblick auf den Zusammenhang von avancierter Technik und Kulturindustrie zu reflektieren gilt, ist die Öffentlichkeit bzw. ihr struktureller Wandel in der Moderne. Denn neben der Emanzipation des Individuums und der Heranbildung seines autonomen Bewusstseins war es vor allem die Befreiung des öffentlichen Raums zwecks Heranbildung eines freien öffentlichen Diskurses, der der politischen wie gesellschaftlichen Aufklärung als vordringliches Anliegen galt. Nicht von ungefähr zeichnete sich bereits die Französische Revolution nicht nur durch die Revolutionierung der offiziellen politischen Institutionen (Nationalversammlung und Konvent) aus, sondern auch durch die Verankerung öffentlicher Debatten außerhalb des Parlaments, etwa im Palais Royal oder in der Ausweitung des Zeitungswesens und der Plakatkultur. Öffentlichkeit meinte dabei die Einbeziehung möglichst vieler Teile und Stimmen der Gesellschaft, um dem liberalen Ideal des Anrechts auf Partizipation und der Demokratisierung ihrer Zulassung Genüge zu tun. Es sollte sich aber bald genug herausstellen, dass nicht nur die Gewichtung der am Diskurs beteiligten Stimmen sich von den herrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen ableiteten (auch da, wo es formal demokratisch zuging), sondern dass die Öffnung der publiken Sphäre selbst den Strukturen kulturindustrieller Vereinnahmung unterworfen ist. Nicht zuletzt darum ging es bereits der klassischen Kritischen Theorie, diese Scheindemokratisierung der Öffentlichkeit unter den Bedingungen der sich ausbreitenden Kulturindustrie als Betrug zu entlarven. Die Kategorie der Technik spielte bei dieser kritischen Diagnose eine dominante Rolle, so etwa in Marcuses These von der Eindimensionalisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft (Marcuse 1964). Was aber spätestens seit der Veröffentlichung von Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und seiner einflussreichen Kommunikationstheorie den Anlass zur kritischen Hinterfragung öffentlicher Bewusstseinslagen und der ihr verwandten Ideologiekritik gab, mag bereits anachronistisch klingen. Man muss heute schon von einem weiteren tief greifenden Strukturwandel öffentlicher, von neuen Errungenschaften und Standards der Technik geprägter Kommunikationspraktiken ausgehen, die auch eine neue Sicht der Kolonisierung der Lebenswelten (Habermas) erfordern.

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Denn hatte sich in den 1930er-Jahren einem Bertolt Brecht noch die Frage gestellt, ob sich das Radio zu einem autoritären oder einem demokratischen Kommunikationsorgan entwickeln werde, und hatten sich noch die späteren Analysen der Radiound Fernsehkultur der Frankfurter Schule an „von oben“ bewerkstelligten Manipulationspraktiken orientiert, hat der Siegeszug der heutigen Digitaltechnik, wie er sich in der Vorstellung des persönlichen Smartphones als Instanz einer verlängerten Subjektidentität und dem um sich greifenden Impact der sozialen Medien manifestiert, die Menschen einem direkten Zugriff der staatsoffiziellen Massenmedien, mithin der zwangsläufigen Unterwerfung unter das Diktat des „von oben“ entschlagen und bietet nicht nur im Individuellen, sondern auch im Gruppenkollektiven alternative, nicht im konventionellen Sinne beherrschbare Kommunikationsalternativen. Als Steve Jobs seinerzeit unter frenetischem, nahezu religiös anmutenden Jubel seiner anwesenden Anhänger_innen verkündete, er wollte den Heimcomputer in die Hemdtasche eines/r jeden Einzelnen verlegen, mag er emanzipative Vorstellungen damit verbunden haben. Man wird ja autonomer, wenn man die direkte, von offiziellen Organen gleichsam unabhängige Möglichkeit des Zugriffs auf Information in jeglichem Bereich hat. Die Option einer neuen, quasi selbstbestimmten Souveränität bietet sich hierfür objektiv an. Aber wie bei jeglicher Technik gilt es auch bei der neuen, dass sie als solche neutral sei, sosehr sich in ihr ein Potenzial und eine damit einhergehende Tendenz ankündigt. Es kommt letztlich auf die Anwendung der Technik an, auf den Umgang mit ihr, auf deren Beherrschung statt auf die Unterwerfung unter ihre strukturellen Vorgaben und Potenziale. Und es ist nun dies, was die neue Qualität der Ambivalenz im Hinblick auf die sozialen und psychischen Auswirkungen der Digitaltechnologie ausmacht. Denn ohne Zweifel lassen sich mit ihr alternative Diskurs- und Debattenrahmen, Selbsthilfegruppen, Beratungsinstanzen und andere Strukturen paralleler Öffentlichkeit schaffen. Und zweifellos hat eine Erosion in der Bevormundung des/r Einzelnen hinsichtlich der Befriedigung von individuellen Bedürfnissen im Bereich der Information, des Wissens, der Bildung und der Alltagskommunikation stattgefunden. Zugleich lässt sich aber nicht bestreiten, dass diese neue „Autonomie“ mit einer zuvor nicht gekannten neuen Abhängigkeit einhergeht. Radio- und Fernsehkonsum konnten über Jahrzehnte durchaus ein Suchtverhalten zeitigen; der Fernseher war gleichsam ein weiteres „Familienmitglied“, das man gleich beim Aufstehen – so in der amerikanischen Alltagskultur – mit in den Tag nahm; nicht zuletzt dafür waren die seichten Morgenshows entstanden, als ein „sanfter Begleiter“ in den Tag. Aber gemessen daran, was das Smartphone in den letzten Jahren den Menschen geworden ist, nehmen sich jene „alten“ Formen der Abhängigkeit als nahezu harmlos aus. Das Smartphone ist zum verlängerten Arm der Identität und der Selbstsetzung im Alltag geronnen. Es hat – allgegenwärtig und griffbereit, wie es seinem Gebrauchsdesign nach intendiert ist – das Maß der Alltagskommunikation ins Sintflutartige ansteigen lassen. Nicht nur können Menschen offenbar nicht mehr ohne Dauergebrauch des Smartphones auskommen, sie scheinen auch das Bei-sich-Sein zunehmend zu verlernen. Im Straßenbild ist es fast schon eine Seltenheit geworden, einen Menschen ohne Smartphone in der Hand oder am

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Ohr zu sehen. Dabei wird der physische Raum der öffentliche Sphäre entgrenzt – es wird sozusagen nicht mehr im physischen, sondern im virtuellen öffentlichen Raum kommuniziert. Insofern das mit einer Zweckabsicht verbunden ist, wird man sich der neuen effizienten Möglichkeit der Erfüllung des Zwecks freuen dürfen. Bedenklich wird es aber, wenn sich die Verwendung des Apparats verselbstständigt, sie keinem anderen Zweck mehr dient als dem, sich überflüssigerweise zu artikulieren, der Langeweile zu entgehen (wobei sich die Frage stellen mag, wieso sich diese Langeweile so massenhaft einstellt) oder die Einsamkeit zu überwinden, die das Paradoxon in sich birgt, dass der Dauergebrauch des Instruments zur Überwindung der Einsamkeit diese erst recht manifest werden lässt, der Effekt der Kommunikation nutzt sich zwangsläufig ab, sie verkommt zum Effekt ohne Grund. Das Internet bietet heutzutage Möglichkeiten, die sich für frühere Generationen der Beobachtung sozialen Verhaltens als nachgerade unvorstellbar hätte ausnehmen müssen. Bei der erwähnten Kolonisierung der Lebenswelten (die in der Tat jede Nische des sozialen und psychischen Seins durchdringt und besetzt) können zwei vermeintlich gegenläufige Praktiken hervorgehoben werden, die das Subjekt und seine Selbstsetzung belangen. Zum einen fällt ein zuvor in diesem Maß nicht gekannter exhibitionistischer Zug der Selbstsetzung und Selbstdarstellung im digitalen öffentlichen Raum auf. Menschen liefern sich, teils im Bereich des Intimsten, einem anonymen Publikum bzw. „Freunden“ im Facebook aus, wobei die konventionellen Schamgrenzen deutlich verschoben, wenn nicht gar völlig aufgegeben worden sind. Das Private gerinnt zum Gegenstand kommunikativer Vermittlung und seine Sphäre wird mutatis mutandis aufgehoben. Das entblößte Subjekt (vgl. hierzu die Beiträge von Padva und Benkel im Handbuch) feiert sich als solches gegenüber einer anonymen oder zumindest nicht wirklich nahen Publikumsmasse. Zum anderen ermöglicht aber die Internetkultur etwas in seinen strukturellen Optionen in der Tat Neues: die durch die Anonymisierung der eigenen Person geschützte Annahme von immer neuen virtuellen Identitäten. Die Selbstdarstellung zielt dabei auf eine Entindividualisierung, mithin Entgrenzung der eigenen Identität, so wie man sich sie im realen Leben nie würde erlauben können. Im Hinblick auf die kritische Beobachtung beider Muster wäre die Frage zu stellen, was es damit auf sich hat, dass es offenbar ein zunehmendes Bedürfnis nach massenöffentlicher Exhibitionierung der eigenen Person, zugleich aber auch das des permanenten anonymisierten Maskenwechsels gibt. Diese Frage stellt sich nicht als eine moralisch wertende ein, sondern mit Bezug auf die Analyse neuer Formen der Entfremdung, der Einsamkeit, des strukturell bedingten Ungenügen an sich selbst.

4.2

Rezeption und Kritik der Kulturindustriethese

Der Grundansatz der Kulturindustriethese war und ist aus unserer Sicht noch immer ein beeindruckendes Fundament für die Kritik moderner, in die Logik des Kapitalismus eingebetteter Massenkultur. Bezeichnenswert war für sie, dass sie dabei das

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bürgerliche Ressentiment gegen die „niedere Kultur“ hinter sich ließ, und ihre Emphase aus der Kritik des Gesamtsystems, aus dem die neue Form der Populärkultur hervorgegangen war, bezog. Dabei wurde die Kulturindustrie-These nicht unangefochten rezipiert, vielmehr recht kontrovers diskutiert. Vor allem die Hermetik der (primär von Adorno) vertretenen Gegenüberstellung von Kulturindustrie und autonomer Kunst, bei der autonome Kunst tendenziell kulturindustriell verkommen mochte, während Kulturindustrie ihrem Wesen nach sich nie zur autonomen Kunst hinaufzuschwingen vermag, irritierte die Gemüter. Dies umso mehr, als Kulturindustrie einen fulminanten Siegeszug im 20. Jahrhundert zu verzeichnen hatte, ein Siegeszug, der an unhinterfragbarer Faktizität gewann, je mehr sich die Künste, bedingt durch ihre avantgardistischen Umbrüche zu Beginn des Jahrhunderts, vom Publikum zu entfernen, mithin an Breitenwirksamkeit zu verlieren begannen. Dagegen ließe sich einwenden, dass historisch die Künste in der Regel für die Herrschenden und nicht für ein Massenpublikum da waren. Der Einwand ist triftig. Bedeutsam aber ist, dass der Anspruch in der bürgerlichen Gesellschaft, in den Postulaten der westlichen Aufklärung zumal, ein anderer war. In jedem Fall lässt sich behaupten, dass das wie immer kleine Rezipient_innenpublikum in der bürgerlichen Ära das kulturelle Kapital besaß, um Neues rezipieren zu können. Das ist im 20. Jahrhundert bei großen Teilen des Publikums erodiert, den potenziellen Rezipienten mithin abhandengekommen. Kritik an der Kulturindustrie-These kam von verschiedenen Seiten. Zum einen meldeten sich alternative Schulen zu Wort, die der Massenkultur einen anderen immanenten Stellenwert beimaßen, mithin gerade aus der marxistischen Position einer Solidarität mit den Massen die adornitische Pejorifizierung der Massenkultur kritisieren – so etwa Eric Hobsbawm (2001) sozialgeschichtliche Erörterung des von Adorno (zu früher Zeit) geschmähten Jazz (eine starke Analyse der Hintergründe und Irrtümer von Adornos Jazz-Kritik liefert Steinert (2007, S. 142–150). Ob beide vom Gleichen sprachen, mag dahingestellt bleiben, und doch zeigt sich an diesem Beispiel, dass es sich um ein Gegenparadigma zur Kulturindustrie-These handelt (vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Heilbronner im Handbuch). Ähnliches lässt sich von Bourdieu sagen, der – obgleich in einigem der Kritischen Theorie anverwandt (vgl. hierzu Bauer et al. 2014) – von einer differenzierenden sozialen Schichtung und der aus dieser resultierenden kulturellen Heterogenität ausgeht, mithin einen deutlich anderen soziologischen Ansatz vertritt (vgl. Bourdieu 1983). Eine andere Herausforderung an die Kulturindustrie-These Frankfurter Provenienz ergab sich aus dem theoretischen Ansatz des im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zur hohen akademischen Prominenz gelangten poststrukturalistischen Denkens (vgl. Frank 1984). Dabei spielten im hier erörterten Zusammenhang zwei metatheoretische Faktoren eine gravierende Rolle. Zum einen die kategoriale Infragestellung allen hierarchischen Denkens, die bestimmte Strömungen des Postmodernismus zum Grundsatz erhoben, womit etwa die Rangordnung von „hoch“ und „niedrig“ außer Kraft gesetzt wurde, mithin auch Kulturindustrie als Gegenstand der Kritik (vgl. Lyotard 2009). Zum anderen – ebenfalls aus dem Poststrukturalismus hervorgehend – der systematisch generierte Verlust des Gesellschaftsbegriffs zugunsten eines umfassenden Kulturbegriffs, wie er sich vor allem in den US-amerikanischen

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Cultural Studies niederschlagen sollte (Plädoyers für die Aufrechterhaltung eines Gesellschaftsbegriffs liefern die Beiträge von Ludwig und Zuckermann im Handbuch sowie zahlreiche Werke von Jürgen Ritsert, z. B. 1988, Kap. 1 und 2; Ritsert 2000, 2017; eine Darstellung dieses Prozesses findet sich im Handbuch im Beitrag von Rainer Winter). Erwähnt sei vorab, dass sich mit diesem Paradigmenwechsel die Auffassung von Gesellschafts- und Kulturkritik von Grund auf wandelt. Dem Poststrukturalismus ist es nicht mehr um Systemwechsel zu tun, auch nicht um utopische Emphase eines ganz Anderen, sondern wohl primär um die sich genügende Subversion eines im Kern unüberwindbaren Macht-, Gewalt- und Herrschaftszusammenhangs. Dass sich dabei Affinitäten zur klassischen Kritischen Theorie (insbesondere „nach Auschwitz“) ergeben mögen, liegt auf der Hand. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass mit dem poststrukturalistischen Ansatz die freudomarxistische Emphase zunehmend verblasst ist. Ging es dem freudomarxistischen Ansatz zumindest im theoretischen Ansatz noch um die Möglichkeit einer emanzipativen Veränderung der Gesellschaft, so wurde dieser Anspruch im Poststrukturalismus weitgehend aufgegeben, und zwar nicht nur, weil die historischen Entwicklungen dagegen zu sprechen schienen, dass eine grundlegende Veränderung überhaupt noch möglich war, sondern auch weil es sich erkenntnistheoretisch scheinbar nicht mehr rechtfertigen ließ. Die neue Frage lautete: Aus welcher Position und von welchem partikularen Standpunkt lässt sich noch eine Forderung fürs Allgemeine formulieren? Dass die Kulturindustrie-These aktuell noch fruchtbar eingesetzt werden kann, wenn man gewillt ist, sie einzusetzen (die ideologischen Gründe, warum man es nicht mehr so wie früher will, sollten gesondert erörtert werden), zeigen die in diesem Handbuch versammelten Aufsätze. Sie zeigen zum Teil, wo sich die These auch noch heutzutage – gar in katalysierter Form – bestätigt, auf welch heterogene Bereiche sie noch anwendbar ist, nicht zuletzt aber auch, wo sich im vermeintlich hermetisch Determinierten doch noch auch einiges gestalten lässt.

Literatur Adorno, T. W. ([1961]/1979). Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien. In Soziologische Schriften I (Schriften, 8, S. 217–237). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. ([1968]/1979). Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? In Soziologische Schriften I (Schriften, 8, S. 354–370). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. ([1968]/2003). Einleitung in die Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1970). Resümee über Kulturindustrie. In O. Leitbild (Hrsg.), Parva Aesthetica. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Allen, A. (2017). Adorno, foucault, and the end of progress: Critical theory in postcolonial times. In P. Deutscher & C. Lafont (Hrsg.), Critical theory in critical times. Transforming the global political/economic order (S. 183–206). New York: Columbia University Press. Auer, D., Bonacker, T., & Müller-Doohm, S. (Hrsg.). (1998). Die Gesellschaftstheorie Adornos. Themen und Grundbegriffe. Darmstadt: Primus. Aulenbacher, B., Riegraf, B., & Völker, S. (2012). Feministische Kapitalismuskritik. Münster: Westfälisches Dampfboot. Bauer, U., & Bittlingmayer, U. H. (2014). Pierre Bourdieu und die Frankfurter Schule. Eine Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln? In U. Bauer, U. H. Bittlingmayer,

Einleitung

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Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie Peter Bulthaup

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Wissenschaft und Realität

Die bürgerliche Theorie ist wesentlich affirmativ, sei die adaequatio rei et intellectus nur kontemplativ oder auch praktisch, als Veränderung der res gefaßt. Das Resultat des Erkenntnisprozesses ist die Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand. Die Erkenntnis ist positive Theorie positiver Gegenstände, und das

Der vorliegende Text ist eine Erstveröffentlichung aus dem Peter-Bulthaup-Archiv (www.peterbulthaup-archiv.de). Die zu Grunde gelegten Materialien können in den Digitalen Sammlungen der digitalen Bibliothek der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek unter der Signatur „Noviss. 455, MAP-009“ online aufgerufen werden. Das Konvolut enthält fünf Stücke: UNT-010 ist ein Entwurf der Schlusspassagen der Abschn. 2 und 5. UNT-011 ist das Manuskript erster Fassung, in dem der Abschn. 5 noch fehlt bzw. nur in wenigen bruchstückartigen Entwürfen vorliegt. Vor allem die Passage zum Stalinismus fehlt ganz. UNT-012 ist das Reinschriftmanuskript. Hier sind in den Abschn. 4 und 5 größere Abweichungen, in den vorderen Abschnitten vor allem Umstellungen und Auflösungen längerer Sätze zu verzeichnen. Auf der Reinschrift beruhen UNT-013 und UNT-014, identische Typoskripte mit wenigen formalen Korrekturen. Die vorliegende Fassung folgt dem Typoskript mit wenigen formalen Korrekturen auf der Grundlage der früheren Fassungen. Inhaltlich signifikante Varianten der Manuskripte werden in Fußnoten angegeben, da UNT-013 und UNT-014 zwar als Fassungen letzter Hand zu betrachten sind, aber keine publizierte Fassung existiert. Die Fußnoten sind sämtlich Herausgeberanmerkungen. Die angegebenen Varianten sind nicht auf philologische Vollständigkeit angelegt, sondern sollen lediglich Hilfsmittel sein, philosophische Hintergründe zu erkennen, die in der extrem komprimierten Darstellung des Typoskripts implizit geworden sind. Zudem stammt das Typoskript nicht von Bulthaup selbst, wurde lediglich durchgesehen, wobei offensichtlich Fehler unbemerkt blieben. – Eine Datierung war bislang nicht möglich, die Entstehungszeit liegt vermutlich zwischen 1975 und 1985. Editorische Bearbeitung: Michael Städtler P. Bulthaup (*) Peter Bulthaup Archiv, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_10

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P. Bulthaup

Subjekt des Erkenntnisprozesses befindet sich in dessen Resultat in Übereinstimmung mit sich und mit den Gegenständen. Von daher erscheint die Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft unbegründet, denn diese setzt voraus, daß der autonom und vernünftig bestimmte Wille von den Gegenständen unabhängig sei, sich von ihnen unterscheide, was nur möglich ist, wenn diese Gegenstände heteronom sind. Heteronome Gegenstände unterstehen nicht der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Wenn diese als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung ist, so ist kein heteronomer Gegenstand denkbar.1 Die Möglichkeit der Kritik der Heteronomie, die erst durch die Preisgabe der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, von Wissenschaft und Moral eröffnet wird, impliziert die Unmöglichkeit, den vernünftig bestimmten Willen affirmativ auf die Gegenstände der von ihm zu bestimmenden Handlungen zu beziehen. Die Entgegensetzung von Autonomie des vernünftig bestimmten Willens und Heteronomie der Gegenstände, auf die sich das vom Willen bestimmte Handeln richtet, ist aufgehoben in der affirmativen Theorie der Geschichte, in der Autonomie und Heteronomie als Momente des fortschreitenden historischen Prozesses erscheinen. Dieser Theorie zufolge ist die Tendenz des historischen Prozesses nicht durch die Vermittlung beider Momente bestimmt, sondern durch die fortschreitende Dominanz der Autonomie. So ist aus der Tendenz des historischen Prozesses der Widerspruch eliminiert, das moralische Bewußtsein kann sich affirmativ zwar nicht auf die nach wie vor heteronome Realität, wohl aber auf die Tendenz der historischen Entwicklung dieser Realität beziehen. Erkenntnisprozeß und historischer Prozeß stehen unter der Bedingung ihres Resultats, der sich durch sie herstellenden Identität, in der beide konvergieren. Diese vorauszusetzende Identität, die der bürgerlichen Theorie zufolge in der Tendenz des historischen Prozesses sich manifestiert, ist die Bedingung der Möglichkeit einer wenn auch nur mittelbar affirmativen Beziehung mit sich übereinstimmender Subjekte auf die Realität. Daß diese heteronom sei, gehört ebenso zu den Voraussetzungen des Geschichtsoptimismus wie die Affirmation der historischen Tendenz. Der Optimismus selbst ist erzwungen, denn er allein garantiert dem mit sich selbst übereinstimmenden subjektiven Selbstbewußtsein eine mittelbare Übereinstimmung mit der Realität, die begründet ist durch die Identifikation mit der Geschichte, einem objektiven Prozeß, als deren Subjekt die Bourgeoisie sich sah.

1

Das Argument bezieht sich auf Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 197. Bulthaup betonte stets, dass dort hinsichtlich der „Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände“ der bestimmte Artikel fehlt: „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“. Hier wird die Konsequenz des Ignorierens dieses Unterschieds hervorgehoben.

Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie

2

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Die Antinomie von bürgerlichem Selbstbewußtsein und kapitalistischer Produktionsweise

Autonom sind die Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft, wenn sie frei über die Gegenstände verfügen können, die ihr Eigentum sind. Ist dies Eigentum eines an Gegenständen, die die Reproduktion dieser Subjekte garantieren, so sind sie durch ihr Eigentum unabhängig, freie Bürger, deren Wille durch die Vernunft bestimmt werden könnte. In der arbeitsteilig sich reproduzierenden Gesellschaft jedoch steht deren Reproduktion und damit die jedes Einzelnen unter der Bedingung der funktionalen Einheit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Keines der Subjekte gebietet über den gesamten Prozeß, der, weil die gegenständlichen Bedingungen der Reproduktion eines jeden Einzelnen aus ihm resultieren, allen Subjekten vorgeordnet ist, diese nur als dessen Funktionselemente sich reproduzieren können. Die Eigentümer der gegenständlichen Bedingungen des Reproduktionsprozesses werden so zu Funktionen ihres Eigentums, denn folgten sie den immanenten Gesetzen des Verwertungsprozesses nicht, verlören sie ihre bürgerliche Existenz. Die einzige Freiheit der Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft ist die Affirmation der vorgegebenen Objektivität, der Bedingung ihrer Existenz, die ihrer Kontrolle sich entzieht. Die historische Tendenz des unter der Bedingung der funktionalen Einheit stehenden Reproduktionsprozesses, fortschreitende Akkumulation und der durch sie verursachte Fall der Profitrate, sprengen die historische Kontinuität und mit ihr die funktionale Einheit des Reproduktionsprozesses. Krisen und Katastrophen sind Bedingungen der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise. Wenn die Tendenz der historischen Entwicklung der Realität Krisen und Katastrophen zum Resultat hat, ist keine, und sei‘s nur mittelbare Übereinstimmung des Selbstbewußtseins mit der Realität möglich. Autonomie regrediert dann auf die Freiheit des subjektiven Geistes, dessen Willkür undurchschauten Erkenntnisinteressen pariert, oder die Kritik der Heteronomie wird radikal und richtet sich gegen die Totalität der Bedingungen der Reproduktion der Menschen.

3

Das Subjekt radikaler Kritik

Die Wissenschaft, die notwendig unter der Bedingung der Einheit der Subjektivität steht, kann eben darum nicht affirmativ auf die heteronome Realität sich beziehen. Sie muß, um Wissenschaft bleiben zu können, dies negative Verhältnis zur Realität affirmieren, und wird dann zur bloßen Bestätigung ihrer selbst, zum unverbindlichen Sprachspiel, es sei denn, ihr negatives Verhältnis zur Realität habe ein Fundament in dieser selbst. Die Negation des autonomen Subjekts sind in der bürgerlichen Gesellschaft die Proletarier, denn die Garantie ihrer Autonomie, ihr Eigentum, beschränkt sich auf das an ihrer Arbeitskraft, durch deren Verkauf sie erst die Möglichkeit der Reproduktion erwerben. Da ihr Eigentum nicht von ihnen zu trennen ist, können sie es nur verkaufen, wenn sie sich selbst verkaufen, die Garantie ihrer Autonomie impliziert die Preisgabe ihrer Autonomie, oder ihre Autonomie ist Schein, die

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virtuelle Negation der Negativität ihrer Existenz als Proletarier. Die Einheit des Selbstbewußtseins der Proletarier kann sich nur negativ auf die Realität beziehen, das Proletariat als Subjekt ist in der bürgerlichen Gesellschaft so virtuell wie das Subjekt radikaler Kritik. Das subjektive Bewußtsein pariert der heteronomen Realität, der materiellen Bedingung ihrer Existenz, und die Wissenschaft hat dem subjektiven Bewußtsein der Proletarier nichts entgegenzusetzen als die Einsicht in die Negativität ihrer Existenz. Die radikale Kritik steht unvermittelt zu dem Bedürfnis der Proletarier, unmittelbar als selbstbewußte Subjekte anerkannt zu sein. Daß die Arbeiterbewegung mit der historischen Tendenz sich identifizierte, das Prinzip des bürgerlichen Selbstbewußtseins übernahm, vermittelte ihnen den Schein unmittelbarer Anerkennung, für den sie auf den Schlachtfeldern sich selbst zu Opfern der Negativität ihrer Existenz machten. Auf dem Weg in den kollektiven Selbstmord duldeten sie Miesmacher ebensowenig wie Wilhelm II. oder Goebbels.

4

Der Idealismus der radikalen Kritik

Der radikalen Kritik immanent ist ihr Anspruch auf Autonomie, die, der großen bürgerlichen Philosophie zufolge, mit der Realität zu vermitteln war durch die Identifikation mit der historischen Tendenz. Die Geschichte, die die Realisierung des Anspruchs auf Autonomie dementierte, ließ das Subjekt der Kritik zu einem zeitlos vergangenen Sein, zu einem Wesen ohne Dasein werden. Die illusionäre Identifikation mit der historischen Tendenz, die denkbar war, als das Bürgertum noch für die Menschheit sprach, ist die Voraussetzung der radikalen Kritik, die von ihr selbst negiert wird, denn sie selbst ist wesentlich Negation der Affirmation der Heteronomie.2 Das Subjekt der radikalen Kritik ist zum Wesen ohne Dasein erst im Prozeß der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise geworden, in einem Prozeß, dem dieselben Prinzipien zu Grunde liegen, die den Subjekten die Erfüllung ihres Anspruchs auf Autonomie versprachen: die heteronome Natur wurde immer mehr der Verfügung der Menschen unterworfen, doch sie wurde durch die Arbeit der Menschen unterworfen, die, als gegenständliche Wesen selbst auch Natur, dem Prinzip der Verwertung des Werts unterstellt waren. Derselbe Prozeß, der die Realisierung des Anspruchs auf Autonomie zu befördern versprach, verfestigte durch die Entwicklung der Arbeitsteilung die ökonomische Herrschaft, bis eine Existenz außerhalb des Verwertungsprozesses undenkbar wurde. Daß in diesem Prozeß das Subjekt radikaler Kritik zu einem Wesen ohne Dasein wurde, machte Die Anfangspassage dieses Abschnitts lautet in UNT-011: „Die radikale Kritik hat eine falsche Voraussetzung, die als falsche in ihr aufgehoben ist: den Anspruch auf Autonomie. Dieser Anspruch war auf die Objektivität bezogen durch die Identifikation mit der historischen Tendenz, die selbst die Realisierung des Anspruchs dementierte. [am Rande: „er wurde von dieser selbst dementiert“] Diese Einsicht macht den Anspruch auf Autonomie zu einem zeitlos vergangenen Sein, einem Wesen, das kein Dasein hat, oder, die radikale Kritik ist begründet durch die Negation der Affirmation der Heteronomie, die die ideologische Affirmation der historischen Tendenz voraussetzt und als falsch erkennt.“

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Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie

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die empirischen Subjekte radikaler Kritik zu Angehörigen der freischwebenden Intelligenz, zu heimatlosen Intellektuellen. Doch deren Freiheit und Internationalismus ist Schein, denn sie können die empirischen Bedingungen ihrer Existenz nicht negieren, ohne sich selbst zu negieren. Die radikale Kritik, die durch die Negation der Affirmation der Heteronomie sich selbst begründet, behauptet damit eine Freiheit, die, da sie ihrer eigenen Einsicht nach nicht real ist, nur die des Geistes sein kann, der von den empirischen Bedingungen der Existenz derer, deren Geist er ist, unabhängig sein soll. Seine Unabhängigkeit von den heteronomen Bedingungen der Existenz der Subjekte suggeriert diesen, sie partizipierten an der Freiheit des absoluten Geistes, und schlägt sie mit dem selbstgerechten Wahn, ihnen sei durch die Negation des Negativen ein Positives, der sich selbst affirmierende Geist zuteil geworden.3 Doch die Selbstaffirmation durch die Negation der Negation nähme der radikalen Kritik durch ihre Selbstbehauptung jeden Gegenstand, sie wäre als Feier der Absolutheit ihrer selbst Apotheose des eigenen Untergangs; ihre politische Perspektive wäre die creatio ex nihilo einer neuen Welt, ihre Taktik die Zerstörung der bestehenden, die Affirmation der realen historischen Tendenz. Der Nihilismus, die letzte Gestalt des absoluten Geistes, ist mit dem katastrophalen Verlauf der Geschichte verträglich, er ist dessen subjektiver Ausdruck.

5

Kritik und Selbstkritik des absoluten Geistes: der Materialismus der radikalen Kritik

Der absolute Geist hat endliche Voraussetzungen, die materiellen Bedingungen der Existenz jener, deren Geist er ist. Ihre Negation wäre die Negation des Geistes selber. Seinem eigenen Begriff nach muß der absolute Geist auch seine Voraussetzungen zum Gegenstand haben, er wird dann zur Reflexion der Voraussetzungen, die, da sie von ihm nicht gesetzt sind, in ihm auch nicht aufzuheben sind. Seinem eigenen Anspruch nach geht der Geist so über in die materialistische Reflexion, ist nicht länger affirmiertes Resultat der Negation eines Negativen, sondern Negation der Affirmation der Heteronomie, die ihrerseits als materielle Voraussetzung der Reflexion erkannt ist. Deren Autonomie ist nicht die des absoluten Geistes, sondern Moment der Beziehung der Wissenschaft auf den bestimmten Gegenstand, oder die Autonomie ist die negative Beziehung der Wissenschaft auf die Negativität des Gegenstandes. Die Wissenschaft, die notwendig die objektive Einheit des Selbstbewußtseins voraussetzt, wird durch die Erkenntnis der Negativität des Gegenstandes zu deren Kritik, wenn dieser Gegenstand zu ihren eigenen Voraussetzungen zählt, dessen Negativität aber jene objektive Einheit des Selbstbewußtseins negiert. Sie ist Kritik der Negativität ihres Gegenstandes, in der diese zu Bewußtsein Die Passage „Seine Unabhängigkeit . . . geworden.“ lautet in UNT-011: „Die Unabhängigkeit von den heteronomen Bedingungen der Existenz der Subjekte unterstellt diesen, sie partizipierten an der Freiheit des absoluten Geistes der Wissenschaft, und schlägt sie mit dem selbstgerechten Wahn, sie hätten durch die Negation eines Negativen, des falschen Bewußtseins, die Selbstaffirmation des richtigen Bewußtseins gewonnen.“

3

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kommt.4 Das Klassenbewußtsein, die Einsicht des Proletariats in die Negativität, i.e. Nichtigkeit seiner eigenen Existenz, wäre Moment der Agitation der Proletarier, sich selbst als Zweck zu setzen, und statt die Negativität der eigenen Existenz durch die Mitarbeit am kollektiven Selbstmord zu vollstrecken, sich durch die Veränderung der Produktionsverhältnisse aus ihr zu retten. Ohne das Klassenbewußtsein ist die radikale Kritik Einsicht in die Negativität ihres Gegenstandes, die Bewußtsein von diesem Gegenstand bleibt, ohne Bewußtsein des Gegenstandes zu werden, ein Wesen ohne Dasein. Die empirische Manifestation der Kritik durch einzelne Subjekte gibt diesem Wesen kein Dasein, denn sonst müßte entweder das Wesen idealistisch sein Dasein selbst hervorbringen, oder es müßte über das Dasein als über seine verfügbare Bedingung gebieten. Im Zweiten liegt der Irrtum stalinistischer Organisationen, die durch die gewaltsame Unterwerfung des Daseins unter die objektive Vernunft des ZK’s glaubten, dessen Wesen ein Dasein geben zu können. Der Verfolgungswahn, der die Vernunft des ZK’s paralysiert, hat buchstäblich ein fundamentum in re, ein Dasein, durch das die Vernunft, die nicht Einsicht in die Negativität ihres Gegenstandes, sondern positive Realität zu sein behauptet, tatsächlich bedroht wird und mit ihrer Pervertierung in einen gegen die Realität abgedichteten Wahn reagiert. Nur insofern das Dasein an sich Wesen ist, aber unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise, in der es nichtig ist, nicht zu seinem Wesen kommen kann, ist die empirische Manifestation des Wesens ohne Dasein eine Provokation für das Dasein, das daran erinnert wird, daß es an sich Wesen ist. Die Reaktion auf diese Provokation, Wut und militante Abwehr, ist Symbol des an sich seienden Wesens des Daseins,5 das nicht für sich werden kann, ohne die radikale Veränderung der Verfassung der Totalität der Bedingungen seiner Reproduktion. Die Affinität zur Forderung nach Liquidierung der empirischen Manifestation des Wesens ohne Dasein, die mit der realen historischen Tendenz harmoniert, ist zugleich Ausdruck davon, daß das Dasein an sich Wesen ist, das nicht von sich wissen, nicht für sich werden darf. Im Widerstand gegen die Tendenz zu seiner Liquidation erst wird die empirische Manifestation des Wesens ohne Dasein, die Selbstbehauptung radikaler Kritik, zu einem objektiven Moment der Agitation für die essentia singularis, die noch nicht ist.

Die Passage „Seinem eigenen Anspruch nach . . . zu Bewußtsein kommt.“ lautet in UNT-011: „Doch die radikale Kritik ist wesentlich materialistische Reflexion, nicht Negation eines Negativen sondern Negation der Affirmation der Heteronomie, die zugleich als materielle Voraussetzung der Kritik selbst erkannt ist. Ihre Autonomie ist nicht die des absoluten Geistes der Wissenschaft, sondern selbst Moment in [gestrichen: der] Beziehung [gestrichen: der] Wissenschaft auf den bestimmten Gegenstand und damit negative Beziehung auf die Negativität des Gegenstandes, die, weil sie als Wissenschaft die objektive Einheit des Selbstbewußtseins voraussetzt, nicht nur Erkenntnis sondern Kritik der Negativität des Gegenstandes ist, in der dessen Negativität zu Bewußtsein kommt und zum Moment seiner Selbstbehauptung wird. [Gestrichen: Als Moment des Klassenkampfes ist die autonome Kritik Agitation zur Selbstbefreiung des Proletariats.]“ 5 Der Text folgt hier UNT-012. In den Typoskripten heißt es, vermutlich irrtümlich transkribiert: „Wesens ohne Daseins“. 4

Grundbegriff: Kritik Jürgen Ritsert

Zusammenfassung

Der in diesem Handbuch wiederabgedruckte Text „Grundbegriff: Kritik“ ist Teil einer umfassenderen Anzahl von Vorlesungsskripten und Veröffentlichungen, die im Rahmen der an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. durchgeführten Vorlesungsreihe „Informationen zur Kritischen Theorie der Gesellschaft“ entstanden sind. Die Materialien zur Kritischen Theorie der Gesellschaft sind neu überarbeitet und mit Blick auf zentrale Kategorien von mir umstrukturiert worden. Der vorliegende Beitrag sowie die weiteren in der Reihe „Kategorien. Deutungsvorschläge für einige Grundkategorien der Kritischen Theorie“ versucht, den Zugang zu einigen zentralen Begriffen der kritischen Theorie der Gesellschaft etwas zu erleichtern. Zuletzt ist ein kurzes Kapitel zum Kritikbegriff in meinen „Themen und Thesen kritischer Gesellschaftstheorie. Ein Kompendium“, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2014 erschienen. Die verbindliche Interpretation von semantisch in den meisten Fällen sehr vielschichtigen Begriffen sozialwissenschaftlicher Theorien gibt es nicht. Das gilt auch für den Begriff der „Kritik“, den die Kritische Theorie in ihrem Namen führt. Im vorliegenden Text wird zunächst der Kritikbegriff definitorisch und analytisch bestimmt. Im Anschluss daran werden die Kritikverständnisse und theoretischen Grundlegungen des Kritikbegriffs von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas und Michel Foucault rekonstruiert. Die kritische Theorie der Gesellschaft kann weder auf ein Heilsgesetz der Geschichte vertrauen, noch vermag sie ihre Zusammenhangsaussagen auf irgendwelche Naturgesetze der Gesellschaft zu stützen. Sie muss sich mit der Einsicht in historische Regelmäßigkeiten (historische Prozesse) bescheiden. Dabei gehe ich J. Ritsert (*) Soziologie am Fachbereich Gesellschaftwissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_76

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davon aus, dass, wie immer die Spielarten einer zeitgemäßen Kritischen Theorie aussehen, Variationen des Autonomieprinzips eine theorieentscheidende Rolle spielen, um mit dem Maßstabsproblem, mit dem eine Kritische Theorie konstitutiv konfrontiert bleibt, produktiv umzugehen. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Kritikbegriff · Horkheimer · Adorno · Marcuse · Habermas · Foucault · Autonomie · Maßstab Kritischer Theorie

1

Zum Begriff der Kritik

1.1

Dimensionen des Kritikbegriffs

Das Wort „Kritik“ stammt aus dem Griechischen. Seine Wurzeln sind in dem Verbum krinein zu suchen und zu finden. Dieses besagt so viel wie „trennen, scheiden, unterteilen, gliedern“. Insofern stehen kritisches Denken und Sprechen von Vornherein im engen Zusammenhang mit analysis. Das ist schon wieder ein griechisches Wort, was so viel wie „Auflösung, Aufteilung“, nicht zuletzt auch „Zerlegung in Teile“ bedeutet, bis man etwa bei Elementarteilchen angelangt ist. Nicht zuletzt die völlig exakte Gliederung und Einteilung von Merkmalsangaben in einem Urteil über Sachverhalte wird angestrebt. Unter „Kritik“ verstehen wir heute allerdings auch – normativ – so etwas wie Lob und Tadel. Etwas genügt bestimmten Maßstäben nicht oder nicht in einem ausreichenden Maße. Es gibt auch die Nachdenklichkeit über sich selbst als einsame Selbstkritik. Oftmals geht es um eine Kritik, die im Interesse möglicher Verbesserungen irgendwelcher Gegebenheiten in irgendeiner Form in irgendeiner Öffentlichkeit kundgetan wird. Das kann z. B. die „wissenschaftliche Öffentlichkeit“ eines akademischen Fachgebiets sein. Diese Art der Kritik ist von anderer Form als die Polemik oder der haltlose Skeptizismus, die diffuse Missbilligung, die bösartige Beschimpfung oder ein Tadel, wobei den Betroffenen nicht so recht klar wird, warum sie überhaupt getadelt werden. Beckmesser aus Wagners „Meistersingern von Nürnberg“ ist inzwischen zum Paradebeispiel für jemanden geworden, der auf engstirnige und klein karierte Weise Kritik nicht nur am Chorgesang übt. (Beckmesser hat es tatsächlich als Sixt Beckmesser im 17. Jh. in Nürnberg gegeben.) Zum Gegenstand einer Kritik können die verschiedensten Sachverhalte werden: • Die Einstellung, Gesinnung und Vorgehensweise einer einzelnen Person. • Die Meinungen, Einstellungen und Aktionen von Gruppen. • Soziale Institutionen und Organisationen können ebenfalls sehr kritisch betrachtet werden. • Schließlich wird auch die Gesamtheit der Lebensbedingungen, der gesamte Lebenszusammenhang einer Gesellschaft – etwa seiner Ungerechtigkeit wegen – des Öfteren zum Gegenstand von Kritik erhoben.

Grundbegriff: Kritik

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Zustände und Entwicklungen können äußerst „kritisch“ werden. Dann offenbart sich der Zusammenhang zwischen Kritik und Krise. Denn auch die Vokabel crisis wurzelt im Stammverb krinein. Es gibt in diesem Falle nicht bloß als problematisch bewertete Zustände und Entwicklungen, sondern darüber hinaus solche, die ein bedrohliches Potenzial zum völligen Zusammenbruch der Zustände beinhalten. Die Frage ist dann, ob die „Gegenmaßnahmen“ ausreichen, um diese Gefahren abzuwehren. Die Gefahrenabwehr dient jedoch nicht selten dazu, z. B. ungerechte Zustände im Interesse von Nutznießern abzusichern, weil ihre Privilegien „in die Kritik geraten“ sind und die Lage wirklich kritisch für sie werden könnte. Zusammenfassende Typologien sind immer auch anders möglich als die jeweils vorgeschlagene. Ich schlage hier zum Überblick die folgende vor

1.1.1 Textkritik Zusammenhängende Äußerungen in Wort und Schrift – auch sprachlich geformte Gedanken, die einem so im Kopf herumgehen – werden oftmals als Texte bezeichnet. Aber auch künstlerische Produktionen können einbezogen werden. So gesehen bedeutet z. B. eine Tonfolge ebenfalls einen „Text“. Dieser wird dann vielleicht zu einem Gegenstand der Musikkritik. Eine für sämtliche Wissenschaften besonders wichtige Form der Kritik stellt die Sprachkritik dar. Im Feuilleton großer Tageszeitungen finden sich ständig Beispiele für die Kritik linguistischer Texte in der Form von Beiträgen zur Literaturkritik. Statt von Texten könnte man auch von Themen reden, um sprachliches oder künstlerische Gebilde wie ein Gemälde von Objekten im Sinne der nicht (primär) in unseren kognitiven, linguistischen, ideellen Operationen aufgehenden Gegenstände bzw. von der Materie überhaupt zu unterscheiden. (So viel Stoffliches z. B. ein Künstler immer auch bearbeiten muss). Im engeren Bereich der Sprachkritik als Aussagenuntersuchung hat die Analysis ihren Ort. (Von Analysen im medizinischen, technischen oder physikalischen Labor also abgesehen). Es geht nun um die Klärung des Denkens sowie der verschiedenen Sprachen – auch und gerade von Wissenschaftssprachen. Der Weg (methodos) der Kritik soll dabei in klaren Unterscheidungen, exakten Einteilungen, präzisen Definitionen und klar bestimmten Untersuchungsregeln für die wissenschaftliche Arbeit ausmünden. Dabei wird nicht zuletzt auf die Widerspruchsfreiheit von Aussagensystemen sowie auf die Folgerichtigkeit von Ableitungen aus Voraussetzungen analytisch-kritisch geachtet. Empirische Stichhaltigkeit, logische Konsistenz, Intersubjektivität der Urteile, Klarheit und Genauigkeit – Descartes’ clara et distincta ratio – gehören mithin zu den entscheidenden Kriterien der analytischen Sprachkritik. Mit den Mitteln der Analyse sowohl von alltagsweltlichen als auch von wissenschaftlichen Sprachspielen möchte z. B. Ludwig Wittgenstein Diskurse von Scheinproblemen bereinigen, die sich der „Verhexung“ durch unsere Sprache(n) verdanken. Die Verschwendung metaphysischer Gedankenkraft lohnt sich z. B. dann nicht, wenn „die Seele“ wie ein Ding, wie eine Substanz behandelt wird. Adorno zielt in einem anderen Sinn kritisch auf das verdinglichte Bewusstsein: Von Menschen Gemachtes wird wie eine übernatürliche Macht erfahren und beschrieben. Dann müssen etwa „die Märkte“ heutzutage wie ein Subjekt mit verschiedenen Tranquilizern „beruhigt“ werden – oder so.

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1.1.2 Ereigniskritik und Prozesskritik Ganz bestimmte Ereignisse und Aktionen, aber auch mehr oder minder komplexe Abläufe können ebenfalls zum Gegenstand der Kritik werden. „Mein Gott, was hast du jetzt wieder angerichtet?“ Eine unbedachte Aktion führt vielleicht in die Krise. Komplexe Abläufe können ebenfalls sehr kritisch beobachtet werden. „Sollte diese Tendenz anhalten, dann ist hier demnächst die Hölle los.“ Grundlage aller derartigen Urteile sind wie immer „Maßstäbe“, die jedoch selten das Rationalskalenniveau einer Messlatte wie zum Beispiel das Metermaß aufweisen. Solche Maßstäbe sind nicht zuletzt als Normen, Regeln und Kriterien im Umlauf. Normen legen fest, was geboten oder verboten ist, definieren aber auch Verpflichtungen und Erlaubnisse (Rechte). Es gilt auf dem europäischen Kontinent das Rechtsfahrgebot der StVO. In den Wissenschaften stellt „Objektivität“ der Aussagen und Aussagenzusammenhänge eine sehr hoch gehaltene Norm dar, die jedoch entschieden komplexer ist, als es die damit gern verbundene Idee des sachlichen, nüchternen, ernsten und strengen Vorgehens mit der Zielrichtung auf intersubjektiv verbindliche Urteile mitunter erscheinen lässt. Nietzsches „fröhliche Wissenschaft“ muss keinen tadelnswerten Verstoß gegen Ernst und Strenge zum Ergebnis haben. Regeln stellen Verfahrensvorschriften dar, bei deren Anwendung man Fehler machen kann. Es gibt die Vorfahrtsregeln in der StVO, aber auch jede Menge Fahrfehler, die als Verletzung einer Norm geahndet werden. Bei Regeln geht es in erster Linie also um Verfahren und Vorgehensweisen. Sie zeichnen die verlangten, gebotenen oder erfolgversprechenden Schritte auf Wegen (methodos = der Weg) vor. Normen legen gleichsam das Ziel fest, das auf eingespielten oder neuen Wegen erreicht werden soll oder kann. Kriterien werden auch „Standards“ genannt und gelegentlich – wie bei den DIN-Normen – begrifflich nicht von den Normen unterschieden. Es handelt sich jedoch um Standards, denen bestimmte Leistungen oder Abläufe genügen sollen. Dann gibt es einen Mindeststandard, den eine Sportlerin oder Sportler erfüllen muss, um zu deutschen oder internationalen Wettbewerben zugelassen zu werden. Das unerwartete Verfehlen des „normalen“ Standards provoziert Kritik. 1.1.3 Problematisierungen Der Kern aufrichtig „konstruktiv“ gemeinter Problematisierungen besteht darin, Selbstverständlichkeiten im Alltag und/oder in der Wissenschaftspraxis zu irritieren und womöglich zu erschüttern. „Die Auflösung von Normalismen, logisch erscheinenden Artikulationen, Ordnungen, Identitäten ist ein wichtiger Beitrag der Kritik“ (Demirović 2008, S. 26). Diese Spielart der Kritik soll also zum Nachdenken und womöglich zur Revision von Einstellungen, scheinbaren Gewissheiten und unbedachten Handlungen verhelfen. Überlegung und Bedacht sollen im idealen Fall zu positiv veränderten Haltungen und Handlungen beitragen. So gesehen ist allemal ein guter Schuss Skepsis mit im Spiel. Begründeter Zweifel kann in der Tat erschütternd wirken. Problematisierungen gibt es jedoch auch in den Formen selbstgerechter Kritteleien, Nörgeleien sowie als Verkündung der einen heilsgewissen Wahrheit, über die zufälligerweise diese Person oder die Gruppe ihrem Selbstverständnis nach verfügt, die sie gerade verkündet. Problematisierung als

Grundbegriff: Kritik

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universelle Skepsis, die sich auf nichts auch nur halbwegs fest Stehendes zu stützen glaubt, irrt sich nicht nur über ihren eigenen felsenfesten Standpunkt der universellen Skepsis. Der Skeptizismus bringt zwar „eine Verzweiflung an den sogenannten natürlichen Vorstellungen, Gedanken und Meinungen zustande“ (WW 3; 73), wirft aber alles in den leeren Abgrund des absoluten Zweifels – außer sich selbst. Insofern ist ihm „sein Gegenstand nur Verwirrung“, nicht die aufhebende Problematisierung (WW 19; 402).

1.1.4 Kritik an der gesellschaftlichen Praxis Produktive Kritik kann auf die Offenlegung von Unerträglichkeiten in der alltagsweltlichen Praxis und/oder in der Praxis von Theoriebildung und Forschung ausgerichtet sein. Sie stellt dann Tätigkeiten und Routinen nicht nur in Frage, sondern zielt auf mehr oder minder einschneidende Veränderungen und Verbesserungen, vielleicht sogar auf entschlossene Abschaffung oder den radikalen Umbruch einer bislang bestehenden Praxis. Sprachkritik ist eine Sache, auch wenn zur Textkritik von Theorien und Forschungsprozessen nach meiner Auffassung stets auch eine Analyse ihrer allemal implizit oder explizit gegebenen inneren Beziehungen zur „gesellschaftlichen Praxis“ gehört. Gesellschaftskritik ist eine andere Sache, wie immer sich diese konkret darstellt, verstanden oder missverstanden wird. Gesellschaftskritik in einem allgemeinen Sinn geht über die Kritik von individuellen oder gruppenspezifischen Einstellungen, Meinungen und Aktionen hinaus. Sie setzt allgemeine („oberste“) Maßstäbe der Moral und der Beurteilung von Mustern politisch-praktischer Handlungen, Ereignissen und Abläufen voraus. Es geht um „die Vernunft“ oder „die Unvernunft“ vorfindlicher Organisationen und Institutionen, vor allem aber um die Rationalität gesamtgesellschaftlich bedeutsamer Strukturen und Prozesse. Damit stehen Gesellschaftskritiker nicht zuletzt vor zwei Grundfragestellungen der politischen Philosophie, die sich nicht vermeiden, allenfalls verdrängen lassen: (a) Das Problem des Spannungsverhältnisses utilitas vel honestas, also zwischen Nützlichkeit und Sittlichkeit. Es durchzieht die gesamte Geschichte nicht nur der abendländischen Ethik. Die Kernfrage lautet: Stellt „das Glück“, „die Lust“, „der Nutzen“ etc. das oberste Prinzip der Ethik dar oder ist das gewiss unumgängliche Nutzenstreben je nach der Art oder Unart seiner Maximen im Rückgriff auf das oberste Prinzip der Sittlichkeit, auf das Autonomieprinzip zu bewerten? (b) Das Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Relativismus. Sind die obersten Normen, Regeln und Kriterien einer Gesellschaft nur „relativ“ zu einer spezifischen Kultur geboten oder gibt es universelle, die Menschheit insgesamt betreffende Prinzipien? Universelle Prinzipien von Recht und Moral stehen keineswegs über der Geschichte, sondern in der Geschichte. Das heißt: Sie sind geschichtlichen Deutungen, Veränderungen, Präzisierungen oder Simplifizierungen keineswegs entzogen. Wohl aber kann man im Verlauf der Geschichte der Menschheit „Familienähnlichkeiten“ (Wittgenstein) zwischen ihnen erkennen. „Die Freiheit“ hat das moderne Bürgertum bzw. „der Westen“ weder gepachtet, noch erfunden. Um Befreiung von Unrecht und Unterdrückung haben im Verlauf der Zeiten die verschiedensten Personen und Gruppen gekämpft. Gleichwohl unterscheidet sich das Freiheits-

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streben antiker Sklaven in den Grundorientierungen, konkret angewandten Strategien, je spezifisch eingesetzten Mitteln, natürlich auch in der besonderen Ausprägung ihrer Zielsetzungen von einem mittelalterlichen Bauernaufstand, der von der besonderen Religiosität zu dieser Zeit geprägt wird. In den Bereich der Diskussion über Relativismus und Universalismus in der Ethik und politischen Philosophie fällt auch die permanente Auseinandersetzung über Naturrecht (Vernunftrecht) im Verhältnis zum positiven Recht. Es ist bei den verschiedensten Personen, Gruppen und Medien durchaus üblich, kritisch über „die“ Gesellschaft bzw. über eine bestimmte Gesellschaft als Ganze zu reden. „Gesellschaft“ wird als grammatisches Subjekt in Aussagen eingesetzt und im Urteil mit einem kritischen Prädikat verbunden. „Diese Gesellschaft ist totalitär“ oder „Diese Gesellschaft ist in sich gespalten“ (oder „antagonistisch“) u. v. a. m. Auch Teilbereiche einer Gesellschaft werden mit aller Selbstverständlichkeit zum Bezugspunkt von Bewertungen gemacht. „Das Rechtssystem der der Gesellschaft (oder Staates) X ist völlig korrupt“ „Diese staatliche Maßnahme ist völlig ungerecht.“ Normative Prinzipien wie vor allem Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Vernunft wurden immer schon – in ihren historisch verschiedenen Ausprägungen – derartigen Urteilen zugrunde gelegt. Das Verhältnis dieser vier normativen Bestimmungen zueinander sehe ich als das zentrale Problem der Sozialphilosophie als philosophia practica universalis an (vgl. Ritsert 2012a, S. 30–35). Sie ist nicht mit den kritischen Rechtsphilosophien der Neuzeit, schon gar nicht mit den arbeitsteiligen Fächern und Spezialgebieten innerhalb der juristischen, philosophischen, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten gleichzusetzen. Sie wirkt weiterhin – in den Worten Max Horkheimers – als ein „interdisziplinäres Projekt“ nach.

1.2

Die Transzendenz der immanenten Kritik

Immanente Kritik stellt den strikten Gegensatz zu einer jeden Abrechnungshermeneutik ebenso wie zu aggressiver Polemik dar. Doch in unproblematischer Perspektive verlangt dieses Vorgehen nichts mehr und nichts weniger, als die Argumentation anderer nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, selbstgefällig abzuwerten oder dogmatisch abzuwehren, sondern die innere Ordnung und Stichhaltigkeit eines alternativen Diskurses abzuwägen. Die Standardwaage dafür tariert nicht zuletzt logische Konsistenz und Klarheit der Annahmen, Schlüssigkeit der Schlussfolgerungen sowie die Tragfähigkeit von empirischen Befunden aus. Doch immanente Kritik meint natürlich mehr als solche Selbstverständlichkeiten. Sie lässt sich ausdrücklich auf andere, auch und gerade entgegengesetzte Standpunkte ein, um produktive Sinnmöglichkeiten der opponierenden Vorlage herauszuarbeiten, die sich hilfreich auf aktuelle Probleme in Theorie und Praxis beziehen lassen. Statt triumphierend mit den Schwächen entgegengesetzter Positionen abzurechnen oder sie bestenfalls in die Vorläuferrolle zum eigenen Paradigmaklüngel abzuschieben, wird also der Versuch gemacht, Stärken einer anregend entgegengesetzten Position auszubauen. Standardvokabeln wie „Rekonstruktion“ (statt

Grundbegriff: Kritik

51

„Dekonstruktion“) zielen in diese Richtung – „Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus“, so heißt z. B. ein Projekt von Jürgen Habermas aus den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Man könnte aber auch Hegels berühmten Begriff der „Aufhebung“ damit in Verbindung bringen. Die Wahrheiten einer kritisierten Position werden in einem erweiterten Rahmen des Verständnisses aufbewahrt, während Widersprüche, Ungenauigkeiten und Unwahrheiten negiert werden. Die sog. „performativer Selbstwidersprüche“ bieten das logisch stringenteste und kräftigste Beispiel für immanente Kritik: A bestreitet energisch die Voraussetzungen, die B bei seinen Argumenten macht und/oder die zentralen Behauptungen, die der Kontrahent B aufgestellt hat. Doch B kann zeigen, dass A seinerseits genau diejenigen Voraussetzungen machen muss, welche er bei ihm bestreitet. Gerade im Hinblick auf Hegel können die Ansprüche an das Verfahren der immanenten Kritik auch überzogen werden (vgl. Ritsert 2009, S. 161 ff., 2014a, S. 15–17). Dann entsteht der Anschein, man könne die Maßstäbe für eine Kritik an der jeweiligen gesellschaftlichen Praxis oder am Zustand des gesellschaftlichen Ganzen umstandslos den zu kritisierenden Verhältnissen selbst entnehmen. Adorno benutzt dafür die an Hegels Sprachgebrauch anschließende Metapher vom „Messen der Verhältnisse an ihrem Begriff.“ Aber was ist der (ideale) Begriff einer Gesellschaft? Geht es dabei um Basisnormen – etwa im Sinne der integrierenden common values von Talcott Parsons? Aufgrund welcher Kriterien rechnet ein Kritiker diese Normen zu „dem Begriff“ und jene nicht? Was ist mit der möglichen Inhomogenität und Unklarheit all jener Normen, welche zum vorfindlichen „Begriff“ der jeweiligen Gesellschaft gehören sollen? Was ist mit den von einer breiten Masse anerkannten und unterstützten Grundnormen einer totalitären Gesellschaft? Soll dieses so verstandene Verfahren der immanenten Kritik auf einen Kulturrelativismus hinauslaufen, für den die kritischen Maßstäbe gleich denjenigen sind, welche fundamental und allgemein verbreitet, in diesem Sinne mehrheitlich so in Kraft sind wie das positive Recht? Es reicht aus, an ein anderes, im Kontext der Geschichtsphilosophie vorgetragenes Argument von Hegel selbst zu erinnern, um kritisch anmerken zu können, dass eine immanente Kritik als Vorgehen von Kritikern, welche davon träumen, sie bräuchten keine konstruktiven Zutaten und Voraussetzungen mit ins kritische Spiel zu bringen, einen Mythos darstellt: „Auch der gewöhnliche und mittelmäßige Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken und bringt seine Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene; bei allem insbesondere, was wissenschaftlich sein soll, darf die Vernunft nicht schlafen und muss Nachdenken angewandt werden“ (WW 12; 23). Genauso ist es auch bei der Gesellschaftskritik, wie genau und energisch sie sich auch auf den zu kritisierenden Lebenszusammenhang einlassen muss. Vorausgesetzt allerdings, sie hält Positionen wie die des Historismus, des Kulturrelativismus und des Rechtspositivismus für in keiner Weise tragfähig. Die schlecht hegelianisierenden Vorstellungen von immanenter Kritik als Messen der Verhältnisse an ihrem Begriff, den man einfach den bestehenden Verhältnissen entnehmen kann, sind zwangsläufig durchweg ein Stück weit transzendent.

52

J. Ritsert

2

Was ist dialektische Theorie der Gesellschaft? (Max Horkheimer und Th. W. Adorno)

2.1

Ein kurzer Überblick über ursprüngliche Merkmalsangaben Max Horkheimers für die Kritische Theorie

1930 wird Max Horkheimer Direktor des 1924 gegründeten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a. M. 1931 hält er einen programmatischen Vortrag über „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung“, worin er die Zielsetzungen des Instituts absteckt. Den Namen „kritische Theorie der Gesellschaft“ für das Theorie- und Forschungsprogramm dieser Einrichtung soll er gewählt haben, um bei allen Rückgriffen (auch) auf die Kritik der politischen Ökonomie von Marx eine scharfe Grenzlinie gegenüber dem dogmatischen Parteimarxismus abzustecken. Weitere Grenzen zieht er 1937 in einem Aufsatz, der das Verständnis der Kritischen Theorie der Gesellschaft als „Frankfurter Schule“ bis heute beeinflusst. Es handelt sich um die Schrift: „Traditionelle und kritische und Theorie“. Darin wird u. a. eine Abgrenzung gegen das Theorieverständnis all jener Sozialwissenschaften begründet, welche unvermittelt an den exakten, sich komplexer mathematischer Kalküle und Modelle bedienenden Naturwissenschaften orientieren. Kritisch wird auch das damit einhergehende Praxisverständnis beurteilt, welches die technisch möglichst effiziente Zweck-MittelKoordination und den Nutzen maximierendes Wirtschaften favorisiert. Auf der Strecke bleibt bei diesen Denkstilen die Frage nach der Vernunft oder Unvernunft der vorausgesetzten Zwecke, damit nach einer über die Nützlichkeit hinausreichenden substanziellen Sittlichkeit. Man kann diesen Artikel in gewissen Hinsichten als ersten Anstoß zur Kritik am Positivismus und Neo-Positivismus durch kritische Theoretiker lesen, die 1961 im sog. „Positivismusstreit“ in der deutschen Soziologie ihre nächste klassische und Ausprägung erfährt. Horkheimers programmatischem Artikel von 1937 lassen sich (u. a.) neben der Auseinandersetzung mit szientistischen Positionen der damaligen Zeit wie dem Neo-Positivismus der sog. „Wiener Schule“ fünf thematische Schwerpunkte entnehmen, welche die Grenzlinie zwischen traditioneller und kritischer Theorie ziehen sollen:

2.1.1 Kritische Theorie als dialektische Theorie der Gesellschaft In seinem Vortrag über die „gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie“ hat Horkheimer bei aller unumgänglichen Kritik an Hegels System des absoluten Idealismus die besondere Bedeutung von dessen Sozialphilosophie für sein Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft hervorgehoben. Denn Hegels Dialektik fördert nach seiner Auffassung das „philosophische Verständnis des kollektiven Ganzen, in dem wir leben und das den Boden abgibt für die Schöpfungen der absoluten Kultur.“ Sie ermöglicht „zugleich die Erkenntnis des Sinnes unseres eigenen Seins nach seinem wahren Wert und Gehalt“ (GS 3, S. 22). Mehr noch: Es gibt einen Brief aus dem Jahre 1939, worin Horkheimer die Absicht kundtut, ein Buch zu schreiben, das sich mit Dialektik bzw. dialektischer Logik auseinandersetzt (vgl. Wiggershaus 1988, S. 202 ff.). Anders als Herbert Marcuse, der sich in seinem als Habilitationsschrift

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bei Heidegger geplanten und 1932 veröffentlichten Buch über „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“ intensiver (auch) mit der logischen Struktur der Aussagenordnung bei Hegel auseinandersetzt, ist Horkheimer nicht dazu gekommen, sein „Dialektikprojekt“ als Rekonstruktion der dialektischen Logik jenseits starrer Schemata des DIAMAT zu entwickeln. Die zusammen mit Theodor W. Adorno geschriebene und 1947 in Amsterdam veröffentlichte „Dialektik der Aufklärung“ stützt sich in erster Linie auf die logische Struktur der von mir sog. „Minimaldialektik“. „Minimal“ bedeutet in diesem Falle nur, die Darstellungsstruktur eines Prozesses, der aus sich heraus Selbstzerstörungspotenziale freisetzt, stellt zwar ein tragfähiges Modell, jedoch – gemessen an Hegels „Wissenschaft der Logik“ – nur die Startlinie für weiterführende Schritte in Richtung auf ein logisch differenzierteres Dialektikprojekt dar. Horkheimer greift bekanntlich auf bestimmte Thesen der politischen Ökonomie von Marx zurück, hat aber sehr wenig für den orthodoxen DIAMAT mit seinem dogmatischen Ökonomismus übrig, der eherne Quasi-Naturgesetze der Geschichte voraussetzt und im Extremfall lineare Kausalbeziehungen zwischen ökonomischen Faktoren als Basis und kulturellen Faktoren als Überbau unterstellt.

2.1.2 Kritische Philosophie der Geschichte Alles andere als linientreu ist zudem Horkheimers Kritik an der geschichtsphilosophischen These des DIAMAT, das irgendwie als homogen aufgefasste Kollektivsubjekt „das Proletariat“ sei der historische Träger eines radikalen Umbruchs der bürgerlichen Gesellschaft, wobei die revolutionären Aktionen dieses Subjekts der modernen Geschichte – vom Parteiapparat und dem ZK als allwissenden Geburtshelfern angeleitet – mit eiserner geschichtlicher Notwendigkeit zum Zustand einer klassenlosen Gesellschaft führen müssten. Damit endete dann die Vorgeschichte der Menschheit. Selbst Friedrich Engels, der mitunter als Gewährsmann für derartige Ansicht herhalten musste, schreibt in einem Brief vom 12.03.1895 an Conradt Schmidt, es sei ein Fehler, eine „geschichtliche Tendenz . . . in apodiktischer Form“, und das heißt: als „vollendete Tatsache“ zu behandeln. Nach der Auffassung von Max Horkheimer kann die kritische Theorie darüber hinaus bei ihren Praxisbezügen weder schlechthin an Aktionen und Bewusstseinsinhalte des ohnehin nicht einheitlich klassenbewussten Proletariats anknüpfen, noch sich auf ein geschichtliches, als „dialektisch“ zu bezeichnende Entwicklungsgesetz der Geschichte verlassen, das in jenem klassenlosen Heilszustand der Menschheit ausmünden müsse. „Bestünde die kritische Theorie wesentlich im Formulieren der jeweiligen Gefühle und Vorstellungen einer Klasse, so zeigte sie keine strukturelle Differenz gegenüber der Fachwissenschaft . . .“ (GS 4, 215 f.). Diese Einsicht hindert Horkheimer – genau so wenig wie Adorno – keineswegs daran, das Ungleichheitssystem der modernen Gesellschaft als sich verändernde Klassenstruktur zu begreifen und dabei auf Begriffe und Thesen der Kritik der politischen Ökonomie von Marx zurückzugreifen. 2.1.3 Kritik der Fachbornierung In seinem einflussreichen Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ notiert Max Weber mit Fug: „Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter

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tatsächlich das Vollgefühl einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen zu machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird. Eine wirklich endgültig und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialisierte Leistung.“ (Weber 1922, S. 588 f.) Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass – von der ohnehin gegebenen Unvermeidlichkeit selektiver Perspektiven auf den interessierenden Sachverhalt abgesehen – kein wissenschaftlich arbeitender Mensch um die arbeitsteilige Kopfarbeit herum kommt. Das ist die eine Seite der Medaille. Doch auf deren Kehrseite zielt die Kritik an der wissenschaftlichen Praxis sowohl bei Horkheimer als auch bei Adorno. Zur Zielscheibe wird das Fachidiotentum, die Engstirnigkeit all jener wissenschaftlich Werktätigen, welche nicht über die Zäune ihrer akademischen Naturschutzparks hinaus zu denken vermögen. Adorno hält insbesondere das reine Spezialistentum bei der Transformation der Philosophie in ein „Fach“ mit Facharbeitern, die ein streng abgegrenztes Gebiet bearbeiten und z. B. Sprachanalyse nicht anders denn als Banalsatzzergrübelung betreiben, als fatal. Denn für ihn stellt die Philosophie an den modernen Akademien gleichzeitig „ein Fach und kein Fach“ dar. Zwar kann auch sie sich in unseren Tagen den Tendenzen zur Arbeitsteilung und Spezialisierung nicht vollständig entziehen. Aber zugleich soll es sich „in der Philosophie um Dinge handeln, die wesentlich, für jeden Menschen wesentlich sind und die mit der Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen Wissenschaften nicht erledigt werden können.“ (Adorno 1973, S. 9) Dem entspricht ein gutes Stück weit das klassische Programm einer philosophia practica universalis (Chr. Wolff), die als Sozialphilosophie Fächer wie Theorie der societas civilis (Staatsgesellschaft), Ökonomie (oeconomia), Rechts-, Sitten- und Morallehre übergreift. Zur Fachbornierung gehört also, dass die Betreffenden ihre Spezialkenntnisse gar nicht mehr in einen Gesamtzusammenhang, geschweige denn in den Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung einzubetten verstehen. Dementsprechend hat Max Horkheimer von vornherein das Programm einer sozialphilosophisch fundierten interdisziplinären Arbeit für das Institut für Sozialforschung entworfen. Es geht ihm dabei „um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Mode, öffentliche Meinungen, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil usf.“ (GS 3, S. 32). Was Karl Marx angeht, spiegelt sich in diesem Zitat erneut das schwierige Basis-Überbauproblem der kritischen Ideologietheorie wider.

2.1.4 Zielsetzungen einer kritischen Sozialforschung Arbeiten in den Sozialwissenschaften müssen sich immer auch der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie stellen. Für ein Institut für Sozialforschung versteht sich das von selbst. Dementsprechend fragt Max Horkheimer: „Wie aber hängt das kritische Denken mit der Erfahrung zusammen?“ (GS 4, S. 185). Während die traditionellen (szientistischen) Theorien Beobachtungen und Protokolle von Beobachtung und Experiment als empirische Datenbasis sämtlicher Überprüfungen und Falsifikationen von Vermutungszusammenhängen behandeln, stützt sich die kritische Forschungsarbeit nach Horkheimer auf einen anderen Datenbegriff: „Die-

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selbe Welt, die für den Einzelnen etwas an sich Vorhandenes ist, das er aufnehmen muss und berücksichtigt, ist in der Gestalt, wie sie da ist und fortbesteht, ebenso sehr Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Was wir in der Umgebung wahrnehmen, die Städte, Dörfer, Felder und Wälder tragen den Stempel der Bearbeitung an sich“ (GS 4, S. 173 f.). Offensichtlich greift Horkheimer an dieser Stelle auf die zweite Feuerbachthese aus Marx und Engels „Deutscher Ideologie“ zurück. Dementsprechend argumentiert er, kritische Sozialforschung habe die Tatsache zu berücksichtigen, dass viele ihrer wahrlich nicht von Gott gegebenen, nicht einfach mit einem Kreuz auf dem Fragebogen oder mit einer Computereingabe identische, schon gar nicht felsenfest dastehenden „Daten“ immer auch Produkte der „im ganzen freilich chaotischen, im einzelnen aber zielgerichteten gesellschaftlichen Arbeit“ darstellen (GS 4, S. 177). Zu berücksichtigen ist zudem – weitgehend im Einklang mit einer zentralen These des „symbolischen Interaktionismus“, der „Ethnomethodologie“ und den Verfahrensvorschlägen für die sog. „interpretativen Sozialwissenschaften“ heute –, dass „Daten“ immer auch ein Stück weit über das Bewusstsein der Akteure in der Alltagswelt vermittelt sind (vgl. dazu Ritsert 2014b). Das heißt: Soziale Tatsachen, die als „Daten“ erfasst und verarbeitet werden sollen, sind in vielen Fällen und verschiedenen Hinsichten das, was sie sind, dadurch, dass die Handelnden bestimmten Vorstellungen anhängen, Wünsche und Hoffnungen hegen, Regeln folgen und Ziele anstreben. Auch Vernunft kann in den „Daten“ stecken. Denn, so Horkheimer, die menschliche Produktion enthält „stets auch Planmäßiges.“ In „der gesellschaftlichen Praxis (steckt) immer auch das vorhandene und angewandte Wissen“ So gesehen, ist in vielen sozialen Tatsachen in einem wenn auch eingeschränkten Sinn „Vernunft zu finden“ (GS 4, S. 174). Die kritische Sozialforschung sucht jedoch nach Vernunftpotenzialen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die über die partikulare Vernunft hinausreichen. Adorno spricht in diesem Falle von „Chiffren“ (menschlicher Autonomie und autonomiefördernder Lebensbedingungen). Das sind Spuren einer konkreten, nicht bloß jener libertär und formal reduzierten Freiheitsvorstellung, welche die rationalen Beutegreifer auf Märkten reklamieren. An dieser Stelle lässt sich sogar eine Verbindungslinie von Argumenten Adornos zu Thesen von Popper ziehen. Für beide gilt – in einem je verschiedenen gesellschafts- und wissenschaftstheoretischen Kontext – nicht systematische „Beobachtungen“ oder Basissätze über Gegebenheiten, sondern praktische Probleme bedeuten die Basis sozialwissenschaftlicher Logik und Erkenntnisbemühungen.

2.1.5 Der deontische Rahmen der Kritik Als das oberste politisch-moralische Ziel der kritischen Theorie der Gesellschaft gibt Horkheimer in seinem programmatischen Aufsatz „das Streben nach einem Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung“ an Damit ist die Idee „einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist“ verwoben. Es handelt sich für Horkheimer um einen Gehalt, dem von sämtlichen Projekten der kritischen Theorie bei allen unabdingbaren Korrekturen, Variationen und narzisstischen Grenzziehungen durch Fraktionen „die Treue zu wahren ist“ (GS 4, S. 191). Eine so verstandene kritische Gesellschaftstheorie steht

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im strikten Gegensatz zu jedweden gesellschaftlichen Verhältnissen, worin „die materielle und ideologische Macht zur Aufrechterhaltung von Privilegien funktioniert“, anstatt dass – im Einklang mit der Kritik der praktischen Vernunft Kants – eine „Assoziation freier Menschen“ angestrebt würde, in der „jeder die gleiche Möglichkeit“ hätte, „sich zu entfalten“, also seine Autonomie bestätigt und damit seine Würde anerkannt zu finden (GS 4, S. 193). Insofern müssten eigentlich sämtliche kritische Theorien der Gesellschaft vergangene und bestehende Verhältnisse in der Perspektive der Befreiung (Emanzipation) von Unterdrückung, Diskriminierung und von der auf Herrengewalt basierender Minderung des an sich erreichbaren „Glücks“ der Einzelnen betrachten. Man könnte die allgemeinste Zielsetzung auch so bestimmen: Die kritische Tradition „der“ kritischen Theorie der Gesellschaft besteht in der Geschichte des deontischen Rahmens. Bei Horkheimer findet sich damals folgender Umriss dieses über die Maxime der unbedingten Effizienz hinausgehenden Bezugssystems der Kritik: Wenngleich das kritische Denken ebenfalls aus der bestehenden „gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewussten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach (nur – J. R.) darauf bezogen, dass irgendetwas besser funktioniere . . . Die Kategorien des Besseren, Nützlicheren, Zweckmäßigen, produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu tun schaffen hat“ (GS 4, S. 180 f.). Diese Vorbehalte gegen rein utilitaristische Denkmuster implizieren keineswegs, dass das Streben nach individuellem Glück sowie die Bemühungen um Effizienz von Aktionen und Abläufen als solche den Verdacht erregen. Im Gegenteil, diese Strebungen sind unabdingbar – solange sie nicht als oberste Maximen gesetzt und gegen das Autonomieprinzip gerichtet sind. Alfred Schmidt (1931–2012) hat eine Reihe dieser Motive aufgegriffen, um „anlässlich einer dokumentarischen Neupublikation der wichtigsten Texte Horkheimers aus der Zeitschrift für Sozialforschung, die in den Jahren 1932–1941 entstanden, nachdrücklich an die damalige Absicht ihres Verfassers zu erinnern“ (Schmidt 1974, S. 7). (Es handelt sich um den von A. Schmidt herausgegeben Band 3 der Gesammelten Schriften Horkheimers. Der Aufsatz über traditionelle und kritische Theorie findet (1937) sich in Horkheimer 1987, S. 4) Er macht u. a. darauf aufmerksam, welche Rolle der Begriff und die Realität der Gesamtgesellschaft im Denken Max Horkheimers spielen – eine Rolle, die Adorno dann mit seinen Reflexionen über die gesellschaftliche Totalität als mindestens so zentral einschätzt. All dem entsprechend besteht für Horkheimer die Hauptaufgabe der „Zeitschrift für Sozialforschung“ darin, „die Theorie des gegenwärtigen Gesellschaftsprozesses durch Konzentration aller für ihre Weiterbildung wichtigen Fachwissenschaften auf das Problem der Gesellschaft zu fördern“ (zit. Schmidt 1974, S. 16). A. Schmidt setzt seinen besonderen Akzent auf die klassische Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Materialismus bei Horkheimer, ein Thema dem er auch später weiter nachgegangen ist. Er betont mit Recht, dass es wenig Sinn macht, diese ohnehin in sich wenig homogenen Positionen der Metaphysik und Erkenntnistheorie als strikte weltanschauliche Disjunktion zu behandeln. Für ihn gehört es vielmehr „zu den wahrlich aktuellen Aspekten der

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Horkheimerschen Aufsätze, diesen Gegensatz zu erhellen, ohne die erkenntniskritischen Bedenken des Idealismus gegen den Materialismus zu vernachlässigen und ohne ihn als „Weltanschauung“ zu akzeptieren“ (Schmidt 1974, S. 22). Ironischerweise kann man sich mit derartigen Ansprüchen sogar auf den als Erzidealisten gescholtenen Johann Gottlieb Fichte beziehen. Fichte verhandelt den Materialismus in seiner erkenntnistheoretischen Ausprägung als naiver Realismus und in seiner moralphilosophischer Erscheinungsform als Determinismus. Er bezeichnet den Materialismus als „Dogmatismus“. Der Dogmatiker „leugnet die Selbstständigkeit des Ich, auf welche der Idealist baut, gänzlich ab, und macht dasselbe lediglich zu einem Produkte der Dinge, zu einem Akzidens der Welt; der konsequente Dogmatiker ist Materialist. Nur aus dem Postulate der Freiheit und Selbstständigkeit des Ich, könnte er widerlegt werden; aber gerade das ist’s, was er leugnet“ (1. EL 17). Der Idealist besteht hingegen auf der konstitutiven Rolle und den selbstständigen Anteile der allgemeinen Erkenntnisinstanz an jeder Erkenntnis – wie immer diese Instanz damals und heute bezeichnet werden mag: als „Ich denke“ (res cogitans), „das Ich“, „das Subjekt“, „der Geist“, heutzutage eher als „die Sprache“ oder mit dem unvermeidlichen Modewort „der Diskurs“. Den Vorteil des Idealismus sieht Fichte darin, dass man beim Entschluss zum praktischen Vollzug des Denkens seiner selbst der Tatsache unmittelbar inne wird, dass man sich damit selbst zu einer „Tathandlung“ bestimmt hat. Das wiederum erklärt der Dogmatiker als eine von außen induzierte Selbsttäuschung. Damit steht es unentschieden. „Der Streit zwischen dem Idealisten und Dogmatiker ist eigentlich der, ob der Selbstständigkeit des Ich die Selbstständigkeit des Dinges, oder umgekehrt, die Selbstständigkeit des Dinges, die des Ich aufgeopfert werden solle“ (1. EL 18). Welche von den beiden Positionen – Materialismus oder Idealismus – soll nun den Rang der herrschenden Weltanschauung einnehmen? (Vgl 1. EL 19). Diese Frage ist nach Fichte so nicht zu beantworten. „Es ist kein Entscheidungsgrund aus der Vernunft möglich . . . Der letzte Grund der Verschiedenheit des Idealisten und Dogmatikers, ist sonach die Verschiedenheit ihres Interesses“ (ebd.). Ich gebe dieser Ansicht, die Fichte durch seinen berühmten Spruch ergänzt, „was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist“ (1. EL 21), eine besondere Wendung. Sie entspricht nach meiner Auffassung, wohl auch nach der von A. Schmidt, den Absichten von Max Horkheimer in Aufsätzen wie z. B. „Materialismus und Metaphysik“ (GS 3, S. 70 ff.): Das als weltanschauliche und strikte Disjunktion behandelte Verhältnis von Materialismus und Idealismus ist in der Tat keinem „Entscheidungsgrund aus Vernunft“ (Fichte) zugängig. Das eigentliche Problem besteht vielmehr darin, die innere Vermittlung dieser scheinbar disjunkten weltanschaulichen Grundpositionen unter Rücksicht ihre ständigen historischen Variation klar zu machen. A. Schmidt macht darüber hinaus deutlich, dass Horkheimer wie viele Autoren in der Geschichte des Materialismus nachdrücklich „auf dem sinnlichen Glück der Einzelnen“, nicht nur dem auf Autonomieprinzip der Idealisten beharrt (Schmidt 1974, S. 26). Als ein wichtiges Ergebnis der frühen Arbeiten Max Horkheimers hebt er zudem hervor, dass die kritische Theorie – anders als die mechanische Widerspiegelungstheorie, die man in Lenins Schrift über „Materialismus und

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Empiriokritizismus“ findet – den erkenntniskritischen Materialismus ihres Projekts ganz anders begründet. Nach Horkheimer begnügt sich das szientistische Denken „mit dem Organisieren von Erfahrung, wie es sich auf Grund bestimmter gesellschaftlicher Aufgaben ergibt. Was diese über ihre abstrakte Unmittelbarkeit hinaus für das gesellschaftliche Ganze bedeuten, geht in die Kategorien traditioneller Theorie nicht ein“ (Schmidt 1974, S. 29) – So sehr Wissenschaft sich an der Beschaffenheit ihrer Objekte zu orientieren hat – unausrottbar sind ihre Begriffe mit subjektiven Faktoren und Interessen behaftet; es gibt keine „„theoriefreien Tatsachen““ (Schmidt 1974, S. 30). Für Horkheimer sind sozialwissenschaftliche „Daten“ immer auch Produkte der gesellschaftlichen Praxis. Dass es keine theoriefreien Daten gibt, diese Tatsache wird zwar inzwischen allenfalls noch von wenigen hart gesottenen Datenpositivisten in der empirischen Sozialforschung oder von lupenreinen Behavioristen bestritten. Doch anders verhält es sich mit der Rolle, die „subjektive Faktoren“ und Interessen bei der Theoriebildung und Forschung spielen. Die aktuellen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Externalismus und Internalismus in der Wissenschaftssoziologie oder über den Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Interesse legen Zeugnis dafür ab. Insofern ist auch die kritische Theorie selbst, wie Horkheimer sagt, ein Ganzes von Einsichten, das „aus einer bestimmten Praxis, aus bestimmten Zielsetzungen herrührt“ (zit. Schmidt 1974, S. 34). Alfred Schmidt schließt daraus, wenn irgendetwas „die kritische Theorie kennzeichnet, dann ist es diese Reflexion auf die eigene Bedingtheit. Sie glaubt nicht, den ordo sempiternus rerum auf einem fleckenlosen Spiegel wiederzugeben, sondern bekennt ein, dass sie von leibhaftigen Menschen und deren Interessen an vernünftigeren Zuständen entscheidend bestimmt wird“ (Schmidt 1974, S. 34). Diesem Zitat lässt sich etwas von der logisch schwierigen Stellung jeder kritischen Theoriebildung zwischen Universalismus und Relativismus entnehmen. Kritische Theorie ist undogmatisch und tut gut daran, ihre eigenen sich ändernden (inneren) Zusammenhänge mit sich verändernden geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnissen zu überdenken. Genau so wenig kann sie davon ausgehen, ihre normativen Prinzipien stünden über der Geschichte. Umgekehrt gilt: Deswegen kann jedoch das Interesse an „vernünftigeren“ gesellschaftlichen Verhältnisse nicht relativistisch als Ausdruck bestimmter Umstände und eines spezifischen Zeitgeistes zugerechnet werden. Der Vernunftbegriff selbst kann trotz all seiner Wandlungen im Gang mitunter fürchterlicher Zeiten nicht souverän als ein Prinzip „dekonstruiert“ werden, das am Ende selbst völlig totalitär geworden ist und Horkheimers Begriff der über Zweckrationalität hinausreichenden „objektiven Vernunft“ als eine völlig haltlose Utopie erscheinen lässt. Es handelt sich offensichtlich um eine der Gelegenheiten, bei denen der Gedanke zur Dialektik drängt. Ich halte es daher bei dieser Fragestellung mit den Konsequenzen aus Überlegungen wie der folgenden Adornos: „Das Ärgernis des bodenlosen Denkens für Fundamentalontologen ist der Relativismus. Diesem setzt Dialektik so schroff sich entgegen wie dem Absolutismus (= Universalismus – J. R.); nicht indem sie eine mittlere Position zwischen beiden aufsucht, sondern durch die Extreme hindurch, die an der eigenen Idee ihrer Unwahrheit zum überführen sind“ (ND 45 f.).

Grundbegriff: Kritik

2.2

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Dialektische Theorie der Gesellschaft

Theodor W. Adorno bestreitet keineswegs die Unverzichtbarkeit der analysis, die von Kant und Hegel auch als „Verstandesdenkens“ bezeichnet wird. Die clara et distincta ratio ist schon gar nicht schlicht mit dem verdinglichten Denken gleichzusetzen, worauf sich Adornos Ideologiekritik zu einem wesentlichen Teil richtet. (Dialektik hat „ja gerade zum Lebensnerv überhaupt, Verdinglichtes, Verhärtetes, Verfestigtes aufzulösen . . .“ (ED 77).) Wie immer sich das dialektische Denken zur analytischen (formalen) Logik verhält, es setzt diese voraus und kann sie nicht einfach verwerfen: Es ist nun einmal so, „dass das Denken über andere Formen als die begrifflichen Formen tatsächlich nicht verfügt, [und dass] wir, seit wir überhaupt im Besitz der klassifikatorischen und definitorischen Techniken sind, wie sie die formale Logik ausgebildet hat, aus diesen Formen nicht herausspringen können . . .“ (ED 62; vgl. auch 304). Eine andere Frage ist jedoch, ob damit das letzte und einzig vernünftige Wort der Logik gesprochen ist. Adorno jedenfalls „weiß (sich) als Hegelianer“ und das bedeutet, dass er die dialektische Logik Hegels bei aller Kritik am absoluten Idealismus, der dessen System prägt, aufgreift und als Grundlage seiner Darstellung und Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse sehr ernst nimmt (Adorno 2003, S. 22). Horkheimer hat in seinem programmatischen Aufsatz über „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung“ die Bedeutung der dialektischen Philosophie Hegels für das Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft ebenfalls betont. Adorno versteht die kritische Theorie ausdrücklich auch als dialektische Theorie der Gesellschaft und bezeichnet sie so. Die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno trägt diesen Titel ja ebenfalls nicht zufällig. In der Tat folgt die Ordnung der Argumente bei der Darstellung von Prozessen der Aufklärung im Allgemeinen, der modernen abendländischen Aufklärung im Besonderen im ersten Abschnittes („Begriff der Aufklärung“) dieses Buches in wesentlichen Zügen den logischen Prinzipien der Minimaldialektik. Dabei folgen die Autoren ein Stück weit dem großen Vorbild der Bürokratiekritik von Max Weber. Sie stellen die abendländische Aufklärung als einen Prozess der Durchsetzung des Prinzips der Zweckrationalität, der unbedingten Effizienz in alle Lebens- und Handlungssphären der modernen kapitalistischen Gesellschaft hinein dar. Diese Steigerung von Orientierungen und Maximen technischer und strategische Rationalität geht mit dem politisch Dezisionismus existenzieller Entscheidungen für oder gegen Ziele und Zwecke einher, die zudem als durch Vernunft so unbegründbare Voraussetzungen des Handels behandelt werden, wie es die moderne neo-klassische Nationalökonomie im Hinblick auf die Menge der Präferenzen unterstellt, welche die Marktgänger zum Nutzenmaximieren anstacheln. Effizienz des Denkens und Handelns ist unverzichtbar, aber ihre Erhebung zum obersten Prinzip einer jeden Maxime und Strategie, ihre Fetischisierung wie beim aktuellen inzwischen etwas schwächelnden Marktradikalismus sowie die zur zweiten Natur mit ihren Sachzwängen verdinglichten „rationalen“ Verhältnisse, all diese Tendenzen setzen zugleich destruktive Potenziale innerhalb des abendländischen Prozesses der Aufklärung frei, weil es sich nur als partielle Rationalisierung, um eine „positivistisch halbierte Vernunft“ (Habermas). Die Ökologiekrise der Gegenwart

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J. Ritsert

legt ein drastisches Zeugnis dafür ab. „Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet“ (DdA 53). (Zur Struktur der gesellschaftskritischen Minimaldialektik zuletzt ausführlicher J. Ritsert 2015, S. 16 ff.) Doch in dem Abschnitt „Begriff der Aufklärung“ findet sich zudem ein Argumentationszusammenhang, der den ersten logisch konsistenten Schritt über minimaldialektische Muster der Ordnung des Diskurses repräsentiert. Er rückt nach und nach ins Zentrum der Adornoschen Dialektik, wobei er unter „Dialektik“ das versteht, „was man etwa mit „„Vermittlung“ bezeichnet hat“, und das für ihn wie für Hegel „nicht ein Mittelweg zwischen den Extremen ist.“ Dialektische Vermittlung geht vielmehr davon aus, dass „die dialektische Vermittlung nicht ein Mittleres zwischen den Gegensätzen ist, sondern dass sie eigentlich bewirkt wird nur dadurch, dass man in das Extrem hineingeht und dass man in dem Extrem selber, indem man es zum Äußersten treibt, seines eigenen Gegenteils eben gewahr wird . . .“ (ED 265). Demzufolge gibt es also (mindestens) zwei Bestimmungen, die im strikten Gegensatz zueinander stehen, wobei beide strikt disjunkten Glieder in ihrer gedanklich zugespitzten Gegensätzlichkeit gleichwohl einander, zumindest Bestimmungen des gegensätzlichen Anderen „ohne Mitte“ (Schnittmenge, Brückenprinzip etc.) in sich enthalten (ED, s.). Exakt im Rahmen dieser in einer wichtigen Hinsicht die Minimaldialektik erweiternden Vermittlungsfigur wird im ersten Abschnitt der „Dialektik der Aufklärung“ das Verhältnis von Mythos und Ratio dargestellt. Ein wichtiger Zusatz zur dialektischen Argumentationsfigur besteht dabei in der (impliziten) Berücksichtigung der Dimensionen der Positivität (+) und der Negativität (): Aufklärung im Sinne der „Entzauberung der Welt“ (Weber) besteht schon früh in der Geschichte in Versuchen zur Befreiung des Denkens und Handelns von Dämonen, Geistern, Göttern, von „dumpf eingelebter Sitte“ (Weber) sowie von ungezügelten Naturgewalten. Die abendländische Aufklärung der Neuzeit zielt als Kritik nicht zuletzt auf Säkularisierung nicht zuletzt als Befreiung vom Kirchenbann, aber auch vom „stummen Zwang“ (Marx) der als gleichsam naturwüchsig erlebten gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse. Es handelt sich – so gesehen – um Anstrengungen zur Emanzipation von der Negativität des Mythos (in einer ganz allgemeinen Hinsicht) im strikten Gegensatz zur Positivität der Vernunft. (Natürlich bezieht sich diese Kategorie in einer spezifischeren Hinsicht auf Mythen wie die bekannten der griechischen Mythologie.) Aber der Mythos verkörpert nicht immer nur die absolute Negativität wie sie der „Mythos des Abendlandes“ als barbarischer Herrenrassenwahn und vernichtungsbürokratischer Antisemitismus der Nazis verkörpert. Schon die frühen Mythen, so betonen Horkheimer und Adorno, wollten zugleich „berichten, nennen, den Ursprung sagen; damit aber darstellen, festhalten, erklären“ (DdA 18). Insofern impliziert der Mythos ein Moment der Rationalität von Erklärungsansprüchen und damit der Positivität in sich. Vernunft und Aufklärung offenbaren sich in der Geschichte der Menschheit nicht allein beim zweckrationalen Erfindungsreichtum, der sich in der Entwicklung der technischen Produktivkräfte und strategisch überlegteren Vorgehensweisen, auch im Falle friedlicher Beziehungen zwischen den Menschen erweisen kann, sondern

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darüber hinaus auch in Gestalt der historisch ganz verschiedenartigen Befreiungsversuchen von Unterdrückung, geistiger Bevormundung und der Verschließung von Möglichkeiten eines besseren Lebens aufgrund eines dumpfen Traditionalismus der Herrschaftshörigkeit. Es geht mithin um Vernunft als Autonomie, als Ausdruck von Selbstständigkeit. Aber auch das der Selbstbestimmung fähige Subjekt, das „autonome Ich“ ist in seiner „inneren organischen Zusammensetzung“ – wie Adorno im Anschluss an einen kapitaltheoretischen Grundbegriff von Marx formuliert – nicht von der Vermittlung mit „äußeren“ Lebensbedingungen, aber auch nicht von der Vermittlung mit existierender Repression unabhängig. Selbst Bestimmungen des historischen Zustandes der gesellschaftlichen Totalität samt ihren Antagonismen prägen sich der Psyche des Individuums ein. (Man denke etwa an Freuds Lehre vom Überich oder an G. H. Meads Konzept des „generalized other“). „Das vereinzelte Individuum, das reine Subjekt der Selbsterhaltung, verkörpert im absoluten Gegensatz zur Gesellschaft deren innerstes Prinzip. Woraus es sich zusammensetzt, was in ihm aufeinanderprallt, seine „Eigenschaften“ „sind allemal zugleich Momente der gesellschaftlichen Totalität“ (Adorno 1979, S. 55). Eine anderes der zahlreichen Beispiele, woran Adorno auf diese Weise Vermittlungen der Gegensätze in sich deutlich machen will, bezieht sich auf die moderne Kunst. Sie kann als „l’art pour l’art“ den Anschein erwecken, Kunst werde um nichts als ihrer selbst willen betrieben. Dem widerspricht Adorno mit Nachdruck. „Hinfällig aber sind Kunst und Kunstwerke, weil sie, nicht bloß als heteronom (vor allem von den Kunstmärkten – J. R.) abhängige, sondern bis in die Bildung ihrer Autonomie hinein . . . nicht nur Kunst, sondern auch ein dieser Fremdes, Entgegengesetztes sind“ (ÄT 14). Er sagt sogar: „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form“ (ÄT 16). Allein diese knappen Zitate reichen wohl aus, um zu belegen, dass Adorno Kritik nicht schlechthin als analytische, sondern als dialektische Kritik versteht. Deren Prinzip fasst er nicht minimaldialektisch, sondern als „mutuelle Vermitteltheit der Gegensatzpaare“, „Vermittlung ohne Mitte“, „Vermittlung der Gegensätze ich sich“ etc. zusammen. Kurzum: Innere Vermittlung besteht darin, „dass die beiden einander entgegengesetzten Momente nicht etwa wechselseitig aufeinander verwiesen sind, sondern dass die Analyse eines jeden in sich selbst auf ein ihr Entgegengesetztes als ein Sinnesimplikat verweist“ (PhT II; 141 f.).

3

Was ist Kritische Theorie der Gesellschaft? – Herbert Marcuse

3.1

Das Maßstabsproblem der kritischen Theorie

„Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft“ – so lautet die Überschrift für eine Sammlung von Aufsätzen Herbert Marcuses (1898–1979), die im Zeitraum zwischen 1932 und 1967 verfasst wurden. Abgesehen von der Trivialität, dass diese Ideen sich letztendlich aus verschiedenen Argumenten in seinem Gesamtwerk zusammensetzen, kann ein kurzer Überblick darüber sich vor allem auf zwei Text-

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stücke stützen: 1.) Auf die Vorrede zur Studie über den „Eindimensionalen Menschen“ (Marcuse 1967, S. 11 ff.). 2.) Auf einen Vortrag „Zum Begriff der Negation in der Dialektik“, der im Jahre 1966 vor dem Prager Hegelkongress gehalten wurde. Auch in diesen beiden Schriftstücken steht „die fortgeschrittene Industriegesellschaft“ im Zentrum der Darstellung und Kritik (Marcuse 1967, S. 17). Wie es damals üblich war, bezeichnet Marcuse die verschiedenen westlichen Industriegesellschaften als „Spätkapitalismus“. Die Aufgabe einer Gesellschaftstheorie als Kritik der spätkapitalistischen Gegenwartsgesellschaft – aber auch des totalitären Sowjetregimes – besteht nach seiner Auffassung nicht zuletzt darin, „die Gesellschaft im Lichte ihrer genutzten und ungenutzten oder missbrauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage“ zu analysieren (Marcuse 1967, S. 12). Und mit diesen „Kapazitäten“ sind nicht nur die technischen Produktivkräfte und das Wachstum des Sozialprodukts, sondern auch Widerstandspotenziale im Interesse der Abschaffung ihrer herrschaftskonformen Nutzung gemeint sowie verstellte Möglichkeiten der Steigerung des Glücks der Individuen zusammen mit der Förderung ihrer Autonomie. Marcuse sieht und sagt ganz klar, dass damit zwangsläufig die Frage aufgeworfen wird: „Was aber sind die Maßstäbe einer solchen Kritik?“ (Marcuse 1967, S. 12). In der „Vorrede“ scheinen seine Antworten auf diese als „Maßstabsproblem der kritischen Theorie“ umlaufende Frage nach den normativen Grundlagen einer Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft vor allem auf zwei wesentlichen Konzepten zu beruhen: 1. Auf dem Konzept der Objektiven Möglichkeiten: 2. Auf der Unterscheidung zwischen den wahren und falschen Bedürfnissen beim Streben der Individuen nach Glück. Ad 1: Objektive Möglichkeiten In der Vorrede schlägt Marcuse einen zwiespältigen Maßstab zur Durchführung eines Vergleichs vor. Man könne und müsse „die etablierte Weise, die Gesellschaft zu organisieren“, an anderen Organisationsformen messen, „von denen angenommen wird, dass sie der Erleichterung des menschlichen Kampfes ums Dasein“ dienen (Markuse 1967, S. 12). Dies könnte auf der einen Seite heißen, irgendeine Opposition gegenüber den vorfindlichen Verhältnissen ginge davon aus, bestimme Maßnahmen, die Chancen der Menschen zur Erleichterung des Kampfes ums Dasein zu erhöhen und lebensbedrohende Entwicklungen zu verhindern, seien besser geeignet als die innerhalb der bestehenden Herrschaftsordnung zugelassenen. Ökoprotestbewegungen oder Antiatomkraftbewegungen, welche in der Tat die Gefährdung des menschlichen Daseins durch bestimmte Technologien verhindern wollen, mögen ein Beispiel dafür liefern. So gesehen hat es die Gesellschaftstheorie „mit den geschichtlichen Alternativen zu tun, die in der etablierten Gesellschaft als subversive Tendenzen und Kräfte umgehen“ (Marcuse 1967, S. 14). Nur, wann genau und warum sind bestimmte subversive Tendenzen produktiv, wann sind die Versuche, Alternativen durchzusetzen destruktiv? Wie hängen die positiven und die negativen Potenziale derartiger Gegenbewegungen historisch zusammen? „Die moderne Industriegesellschaft ist die durchgehende Identität dieser Gegensätze“ (vgl. Marcuse 1967, S. 17). Andererseits soll die

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Grundstrategie der Kritik darin bestehen, „eine bestimmte historische Praxis . . . an ihren eigenen geschichtlichen Alternativen“ zu messen. Wenn dieser Vorschlag nicht mit dem logisch äußerst problematischen Verfahren des „Messens der Verhältnisse an ihrem Begriff“ gleichgesetzt werden soll, dann liegt vielleicht eine andere Deutung näher: Jede auf Verbesserung zielende politische Praxis muss tatsächlich vorhandene Möglichkeiten erkennen und ergreifen, also an ein Potenzial zu Verbesserungen anknüpfen können, das in den bestehenden Verhältnissen zumindest latent vorhanden ist. Dementsprechend heißt es bei Marx in den „Grundrissen“: „ . . . wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine Klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichotterie.“ (Marx o. J., S. 77) Damit lässt sich die Kategorie der objektiven Möglichkeit eher in Verbindung bringen: „Die „Möglichkeiten“ „müssen sich innerhalb der Reichweite der jeweiligen Gesellschaft befinden; sie müssen bestimmbare Ziele der Praxis sein“ (Marcuse 1967, S. 13). Der Ausdruck „objektive Möglichkeit“ gehört logisch zu den Modalbegriffen. Das sind Begriffe, die eine Möglichkeit oder eine Notwendigkeit ausdrücken. „Es ist möglich, dass . . ..“ – „Es ist notwendig, dass . . .“ Sowohl bei Ernst Bloch als auch bei Georg Lukács spielt die Kategorie der „objektiven Möglichkeit“ eine zentrale Rolle. Max Weber hat sie zuvor auf ihre Wurzeln in der Rechtstheorie seiner Zeit zurückgeführt. (Vgl. den Abschnitt: „Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung“, in Weber 1922, S. 266 ff.). Marcuse geht es in erster Linie um realistische Möglichkeiten einer weiteren „Erleichterung des menschlichen Daseins“ (s. o.). Welche Optionen und Strategien zu einer vernünftigeren Gestaltung ihrer Verhältnisse stehen den Akteuren an sich zur Verfügung oder haben ihnen in geschichtlicher Situation zur Verfügung gestanden? Es kann sich auch um Prozesse handeln, die unter bestimmten Umständen aufgrund einer anderen Praxis auch hätten anders verlaufen können, obwohl die vorfindlichen Abläufe aus einem Interesse heraus als Sachzwang oder als Naturgesetz der Gesellschaft propagiert werden. Was wäre wenn? Was wäre gewesen wenn? Was geht, was geht wahrscheinlich nicht? So lauten passende Gretchenfragen. Wenn wie bei Bloch, Lukács und Marcuse eine Verbesserung der bestehenden Verhältnisse ins Auge gefasst wird, muss immer ein Schuss Utopie, eine Vorstellung von Lebensbedingungen hinzu kommen, von denen die bestehenden Verhältnisse meilenweit, wenn nicht Lichtjahre entfernt zu sein pflegen. Auf eine vergleichbare Weise sucht Adorno nach „Chiffren“ der Vernunft inmitten gesellschaftlicher Unvernunft. Damit wird der Begriff der Vernunft als Maßstab der Werturteile im Zuge einer Gesellschaftskritik zum Problem (vgl. dazu Ritsert 2011). Was zeichnet vernünftige – oder wie Adorno oftmals sagt – „versöhnte“ gesellschaftliche Verhältnisse aus? Ad 2: Wahre Bedürfnisse und das individuelle Streben nach Glück Allen „geistigen Anstrengungen“ der kritischen Theorie liegt nach Marcuse a priori das Werturteil zugrunde, „dass das menschliche Leben lebenswert gemacht werden kann oder sollte.“ (Marcuse 1967, S. 12). Damit wird das Maßstabsproblem natürlich nur verschoben. Denn nun lautet die zwangsläufige Anschlussfrage: Was genau macht das menschliche Leben lebenswert, wenn es dabei um mehr geht als nur die

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elementare Selbsterhaltung? Marcuse schlägt in diesem Zusammenhang seine berühmte und umstrittene Unterscheidung zwischen „wahren und falschen Bedürfnissen“ der Menschen vor: „Wir können wahre und falsche Bedürfnisse unterscheiden. „Falsch“ „sind diejenigen, die dem Individuum durch partikulare gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Unterdrückung verewigen“ (Marcuse 1967, S. 25). Es handelt sich also um all jene durch Macht, Zwang, Herrschaft, Manipulation, Reklame und Propaganda fremdbestimmten Bedürfnisse, welche das Individuum oftmals als seine ureigensten missversteht. Die wahren Bedürfnisse hingegen beziehen sich in letzter Instanz „auf die optimale Entwicklung des Individuums, aller Individuen“ bei „optimaler Ausnutzung der materiellen und geistigen Ressourcen, über die der Mensch verfügt“ (Marcuse 1967, S. 26). Worin aber besteht die optimale Entwicklung des Individuums? In der Steigerung seines Glücks? Dann ergäbe sich ein Anschluss an die lange Tradition der sozialphilosophischen Diskussionen über das „gute Leben“ – von Aristoteles bis zu Kants Lehre von den erfüllten menschlichen „Neigungen“ und deren Inbegriff als „Glück“. Auch der „Nutzen“ der utilitaristischen Ethiken (einschließlich moderner Wirtschaftstheorien) fällt in diesen Bereich. „Glück“ bzw. „Glückseligkeit“ (eudaemonia) lässt sich also wie bei Kant als Summe der „Bedürfnisse und Neigungen“ verstehen, nach deren Befriedigung die Einzelnen streben (Kant, Werke, S. 23). Aber, was unterscheidet die „wahren“ von den „falschen“ Erscheinungsformen des individuellen Strebens nach Glück? Die Antworten auf diese Fragen werden dadurch erschwert, dass die Neigungen (Präferenzen) der Individuen oftmals unbewusst, vorbewusst, vage, wandelbar und nicht selten äußerst widersprüchlich sind. Deswegen lassen sich die „wahren“ Bedürfnisse nicht umstandslos daran ablesen, was die Individuen hier und jetzt so alles antreibt und was sie gerade so wünschen und wollen. Einen interessanten Vorschlag, mit dieser Problematik im Anschluss an die Lehre vom „guten Leben“ bei Aristoteles umzugehen, hat vor einiger Zeit Martha Nussbaum gemacht. (Nussbaum 1993, S. 323 ff.) Sie gibt der Fragestellung die folgende Wendung: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit menschliche Lebensformen Bestand haben können? Die Antwort muss natürlich im vollen Bewusstsein der schlichten Tatsache gegeben werden, dass die Strategien und Möglichkeiten der Menschen, diesen Bedingungen gerecht zu werden, historisch ganz verschieden ausfallen und geschichtlich aus den verschiedensten Ursachen heraus mitunter äußerst begrenzt sind. Der Vorschlag von Frau Nussbaum lässt sich kurz so zusammenfassen: Zum „guten Leben“ gehören auf jeden Fall • Ansprüche des körperlichen Daseins: Hunger, Durst, Sexualität, Schlaf, Bewegung, Bedürfnisse der Behausung. Das sind zweifellos elementare und durchgängige Ansprüche der körperlichen Existenz des Einzelnen. Von der (auf die verschiedensten Weisen möglichen) Befriedigung dieser wahren gleich grundlegenden Bedürfnisse hängt die Lebensqualität der Individuen allenthalben ab. Wahre Bedürfnisse wie diese bewegen sich weitgehend im Umkreis des Zieles und Zweckes einer Besorgung von Mitteln für den Lebensunterhalt. Aber in Erinnerung an Aristoteles weist Martha Nussbaum zudem darauf hin, dass auch

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zweckfreie Tätigkeiten des Individuums wie vor allem Spiel und Humor zu den Grundbedürfnissen der Einzelnen gehören. Allerdings gibt es zahllose historische Verhältnisse, in denen die Menschen gar nichts zu lachen hatten und haben. • Bedingungen der Sozialisation und Enkulturierung: Gemeint sind Entwicklungsbedingungen wie sie mit der Abhängigkeit des Kleinst- und Kleinkindes von Bezugspersonen wie der Mutter zum Ausdruck kommen. Hinzu treten Bedingungen der „Affilation“ (Nussbaum). Das heißt: Jeder einzelne Mensch ist und bleibt immer auch von der Interaktion mit bedeutsamen Anderen abhängig. Einbindungen in eine Gemeinschaft liefern ein Beispiel dafür. • Individuierung: Kein Individuum ist mit dem anderen in allen denkbaren Hinsichten gleich. Denn sonst wären sie völlig identisch, gleichsam eindimensional. Individuierung zeigt sich auch in der Unverwechselbarkeit von Biografien – so sehr die Einzelnen im Verlauf ihres Lebens genau die gleichen Merkmale und Formen der Lebensäußerungen als Sozialcharakter ausbilden und aufweisen mögen wie zahlreiche Mitmenschen auch. Aber Individuierung beinhaltet auch das Werden zum autonomen Subjekt. M. Nussbaum betont im Einklang damit, dass Kompetenzen wie die in welchem Grad auch immer ausgebildete praktische Vernunft (Selbstbestimmungsfähigkeit) zu den Bedingungen gehören, deren Förderung oder Zerstörung Lebensqualität bestimmt. (Diese drei Schwerpunkte entsprechen natürlich den drei Gattungsproblemen, die oben als ein wesentlicher Bestandteil des Gesellschaftsbegriffs erwähnt wurden.) Die Spannbreite der praktischen Vernunft reicht dabei vom einfachen Selbstgefühl bis hin zum entwickelten Selbstbewusstsein als Wissen um sich selbst sowie als Vermögen Handlungen selbst bestimmen zu können. Von allen Bedürfnissen, die an diese elementaren Lebensbedingungen geknüpft sind, kann man sagen, sie stellten wahre Bedürfnisse im Sinne von „grundlegend“ unter der Voraussetzung dar, dass ihre Befriedigung mit akzeptierten Mitteln und auf legitimen Wegen gesucht wird. Doch wiederum hat unter der Hand eine Problemverschiebung stattgefunden: Wenn die Art und der Grad der Erfüllung dieser Neigungen über die „Glückseligkeit“ des Einzelnen entscheidet, nach welchen Kriterien wird das darüber hinaus gehende „legitime“ Glücksstreben der Einzelnen und Gruppen vom „illegitimen“ unterschieden? Folgt man deontischen Ethiken, etwa der Kants, dann sind diejenigen Strategien zur Erfüllung der Neigungen nicht bloß legal (geltenden Regeln gerecht), sondern legitim, welche die Freiheit, den freien Willen der anderen, mithin die historischen Möglichkeiten ihrer Selbstständigkeit fördern und stützen, nicht aber z. B. aus Selbstsucht heraus untergraben. (Rückgriffe auf das Autonomieprinzip finden sich im Zusammenhang mit diesem Thema natürlich auch bei Marcuse. „In letzter Instanz muss die Frage, was wahre und was falsche Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst verantwortet werden, das heißt sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu geben“ (Markuse 1967, S. 26). Aber anhand welcher Kriterien gibt der Einzelne eine vernünftige Antwort?) Nicht nur das Werk „Der eindimensionale Mensch“ belegt an zahlreichen Stellen, dass auch Marcuse selbstverständlich auf eine Variante dieses Autonomieprinzips als oberste Instanz zur Unterscheidung der legitimen von den illegitimen Bedürfnissen zurück-

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greift. „Wissenschaftlich begriffen und gemeistert, erscheint Natur aufs Neue in dem technischen Produktions- und Destruktionsapparat, der das Leben der Individuen er hält und verbessert und sie zugleich den Herren des Apparats“ sowie als naturwüchsig erfahrenen Abläufen unterwirft. (Marcuse 1967, S. 180 f.). Insofern steigert der Spätkapitalismus als Wohlstandsgesellschaft zwar das an den immer vielfältigeren und vielfältiger manipulierten Bedürfnissen gemessene „Glück“ der Individuen – aber um den Preis des wachsenden Autonomieverlustes, der den „eindimensionalen Menschen“ am Horizont erscheinen lässt. Anstatt „die Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu begreifen und zu verwirklichen“, scheint es kaum mehr einen Grund dafür zu geben, „auf Selbstbestimmung zu dringen, wenn das verwaltete Leben das bequeme und sogar „gute“ „Leben ist“ (Marcuse 1967, S. 69). So sieht bei ihm der vorherrschende negative Zug innerhalb einer Minimaldialektik der Rationalität aus. „Die vernünftige Gesellschaft untergräbt die Idee der Vernunft“ (Marcuse 1967, S. 181). Aber Vernunft ist gleichwohl nicht vom Autonomieprinzip zu lösen, worauf eine Art trotziger Humanismus immer wieder zurückgreift. „Als geschichtlicher Prozess schließt der dialektische Prozess Bewusstsein ein: dass die befreienden Potenzialitäten erkannt und erfasst werden. Damit schließt er Freiheit ein“ (Marcuse 1967, S. 234). Es gibt diese positiv bestimmten objektiven Möglichkeiten der Autonomie also auch noch für Marcuse.

3.2

Marcuse wider eine Reduktion der Minimaldialektik

In seinem Prager Vortrag „Zum Begriff der Negation in der Dialektik“ grenzt sich Herbert Marcuse scharf gegen die pseudodialektische Geschichtsphilosophie des offiziellen DIAMAT ab. „Dialektik“ wird letztendlich auf ein deterministisches Geschichtsverständnis reduziert, auch wenn „die Geschichte“ von Antagonismen vorangetrieben wird, die meist als „Gegensätze“ oder „Widersprüche“ bezeichnet werden. Vor allem aber macht sich ein unproduktiver Hegelianismus in Form einer mechanistischen Interpretation von „Aufhebung“ als eine „Negation der Negation“ bemerkbar. Was kurz zuvor noch im Anschluss an den wehrlosen Marx als parteioffizielle „materialistische Geschichtsauffassung“ gegolten hatte, enthält nach Marcuses Eindruck neben anderen Schwierigkeiten einen „eingebauten Mechanismus . . ., der sie gegen jede Widerlegung durch die Wirklichkeit immun macht“ (BN 185). Die Wurzeln dieser spezifischen Schwierigkeit führt Marcuse auf ein Stück Herkunft der Marxschen Dialektik aus der Hegelschen zurück. Damit geht für ich auch die für eine aktuelle Zeitdiagnose wichtige Kritik einer „Stillstellung der Dialektik der Negativität“ einher (ebd.). Um diesen Befund zu erläutern, setzt sich Marcuse u. a. mit den damals sehr einflussreichen Versuchen von Louis Althusser (1918–1990) auseinander, die Marxsche Dialektik neu zu bestimmen. Den Ausgangspunkt bildet eine Interpretation des Hegelschen Begriffs der „Negativität“, dem Marcuse einen Scheincharakter attestiert. Das heißt im Einklang mit den Standardkritiken an Hegels System des absoluten Idealismus, dass „durch alle explosiven und radikalen revolutionären Übergänge und Untergänge in der Hegelschen Philosophie sich immer nur das eine Wesen entfaltet, dessen in ihm selbst

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gefangenen und verhinderten Möglichkeiten durch Negation freigesetzt werden“ (BN 186). Der Geist bei Hegel enthält – ähnlich der Entelechie bei Aristoteles – demnach alle Möglichkeiten in sich, die sich von der inneren Negativität dieses übergreifenden Wesens angetrieben, sukzessive entfalten und verwirklichen, bis der Geist in allem scheinbar Äußerlichen und Entfremdeten nichts als sich selbst wiedergefunden hat. Im Zuge dieser Entfaltungsdialektik setzt „sich schließlich doch die Positivität der Vernunft, der Fortschritt“ durch (ebd.). Althusser vertritt die These, Marx habe mit dieser Hegelschen Dialektik vollständig gebrochen, eine völlig eigenständige Dialektik entwickelt und diese auf den Boden der wirklichen geschichtlichen Entwicklung gestellt. Marcuse stellt eine Gegenthese auf: Die orthodoxe materialistische Dialektik verharrt zwangsläufig weiterhin im Banne der idealistischen Entfaltungsdialektik, „solange sie nicht die Konzeption des Fortschritts dekonstruiert, nach der die Zukunft immer schon im Innern des Bestehenden verwurzelt ist“ (ebd.). Stattdessen müssen geschichtliche Brüche und – so lässt sich an dieser Stelle ein zentrales Motiv der Theorie Marcuse einpassen (s. o.) – an sich vorhandene „objektive Möglichkeiten“ einer „positiven“ Entwicklung bedacht und im idealen Fall ergriffen und in der gesellschaftlichen Praxis verwirklicht werden. Auf diesen Wegen wäre die Hegelsche „Negation der Negation“ dann neu zu bestimmen. Konsequent, aber zu den damaligen Zeiten für bestimmte Kreise immer noch ausgesprochen ketzerisch, stellt Marcuse ein weiteres Dogma des HISTOMAT grundsätzlich in Frage: Existiert tatsächlich schon in der „hoch entwickelten technischen Basis der kapitalistischen Produktion die materielle Grundlage für die Entfaltung der sozialistischen Produktivität“? Bedeutet diese Vorstellung nicht selbst „wieder eine Form der Fortschritts der objektiven Vernunft“? (BN 187). Die Entfaltungsdialektik wirft für Marcuse also die lange Zeit zuvor schon sowie in einigen Regionen regelrecht gefährliche Frage auf: „Kommen die negierenden Kräfte innerhalb eines antagonistischen Systems mit historischer Notwendigkeit in dieser fortschrittlichen, befreienden Weise zur Entfaltung, müssen die Klassen und Klassenkämpfe in eine solche positive Dynamik eingelegt werden“? (BN 187). Eine so auf den Selbstentfaltungsmythos reduzierte Dialektik unterschätzt nach Marcuse nicht nur die Rolle der brutalen Gewalt von Unterdrückungsapparaten, sondern auch die „Gewalt der Tatsachen“ wie sie etwa in der mit der wachsenden Produktivität der Arbeit und dem steigenden Lebensstandard breiter Bevölkerungsgruppen in den westlichen Gesellschaften zum Ausdruck kommt. Unterschätzt wird also die Folgebereitschaft der „Massen“, welche durch die Tendenz zur besseren Befriedigung ihrer Bedürfnisse und das Zurückdrängen unmittelbar brutaler Herrengwalten stabilisiert wird. Das System wird immer zustimmungsfähiger für breite Bevölkerungsgruppen. Unterschätzt der orthodoxe Marxismus damit nicht „die Kräfte der Integrierung und Kohäsion, die auf der Spätstufe des Kapitalismus wirksam sind“? (BN 188). Und damit zeichnet sich für Marcuse zugleich die ganze „Fragwürdigkeit des Begriffs der sich im Innern eines bestehenden Ganzen als Befreiung entfaltenden Negation“ ab (ebd.). Nicht nur die Kritik an der Praxis, die kritische Praxis selbst muss daher von der Entfaltungsdialektik abgekoppelt werden (ebd.). Zu bestimmen und zu mobilisieren wäre nach Marcuse daher ein jedes Potenzial, das „außerhalb“ des gesamten Interessensystems „in dieser hoffnungslos antagonistischen Gesell-

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schaft“ steht (ebd.). Doch ist hier vermutlich auch bei ihm keine Praxisillusion im Spiel, die davon ausgeht, es gäbe einen Standpunkt von Menschen gänzlich außerhalb der spätkapitalistischen Totalität, worin sie zugleich ihr Leben reproduzieren müssen. Für Marcuse handelt es sich vielmehr um ein „Außen“ im Sinne „von gesellschaftlichen Kräften, die Bedürfnisse und Ziele repräsentieren, welche in dem bestehenden antagonistischen Ganzen unterdrückt sind“ (BN 189). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die „Kraft der Negativität, wir wissen es, . . . heute in keiner Klasse konzentriert“ ist (BN 190). Der „proletarische Standpunkt“ ist sehr wackelig geworden. Aber nicht lizensierte und illegitime Bedürfnisse, wer immer sie verspüren und artikulieren mag, Bedürfnisse des autoritären Charakters etwa, wie sie sich einer „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (Fromm) offenbaren, können natürlich auch für Marcuse nicht das Gleiche bedeuten wie die „wahren Bedürfnisse“ (bei all ihrer Verschränkung mit den gesellschaftlich präformierten). In seinem Vortrag beschreibt er letztere in einer utopischen Form: „Solidarität anstelle des Konkurrenzkampfes; Sinnlichkeit anstelle von Repression; Verschwinden der Brutalität, Vulgarität und ihrer Sprache; Friede als Dauerzustand“ (ebd.). Aber alles in allem geht es auch Marcuse – wie nahezu allen Vertreterinnen und Vertretern einer Gesellschaftstheorie als Kritik der Gesellschaft, als kritische Theorie der Gesellschaft – um die so weit wie möglich reichende Verwirklichung des Autonomieprinzips. Bei Marcuse heißt das letztendlich: Es geht um Widerstandspotenziale gegen die Tendenz zur Etablierung der ihres Glückes als entfaltete Bedürfnisbefriedigung in der Wohlstandsgesellschaft gewissen, aber zugleich auf den Status des „eindimensionalen Menschen“ reduzierten Person.

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Diskursethik als Kritik – J. Habermas

Am Ende des zweiten Bandes seines umfangreichen Werkes über die „Theorie des kommunikativen Handelns“ fasst Jürgen Habermas die Konsequenzen zusammen, die sich für sein Verständnis von kritischer Gesellschaftstheorie aus dem zentralen Befund dieses Werks ergeben. Er hat darin eine wachsende „Kolonialisierung“ der modernen Lebenswelt durch soziale Systeme, ausdifferenzierte Teilsysteme und abstrakte Mechanismen festgestellt (Habermas 1981, S. 548 ff.). Das entscheidende Ergebnis seiner Zeitdiagnose besteht also darin, dass „das Wachstum des monetärbürokratischen Komplexes Handlungsbereiche berührt, die nicht ohne pathologische Nebenwirkungen auf systemintegrative Mechanismen umgestellt werden können“ (Habermas 1981, S. 548). Das heißt: Mechanismen in der Form regelmäßiger Ereigniszusammenhänge (wie der Kreislauf des Kapitals) und generalisierte Medien der Systemintegration (wie die Sprache sowie das Geld als Geld) sind einerseits für den wie immer auch brüchigen Zusammenhang der hoch differenzierten Gesellschaft der Moderne unverzichtbar. Sie stellen zweifellos Bedingungen der Möglichkeit der Systemintegration komplexer Gesellschaften der Neuzeit dar. Andererseits dringen sie immer tiefer in die Sphäre der Lebenswelt ein. Die Sozialintegration der Lebenswelt ist vom alltagssprachlich vermittelten kommunikativen Handeln und damit von Akteuren und Aktionen abhängig, die an kommunikativer Rationalität

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und das heißt: an herrschaftsfreier Verständigung orientiert sind. Doch die Sphäre der Lebenswelt wird heutzutage immer mehr durch den stummen Zwang bürokratischer Organisationen, abstrakter, als Quasinaturgesetze oder Sachzwänge erlebter Abläufe sowie durch die Allgegenwart des grenzenlosen Strebens nach dem generalisierten Medium Geld (als abstrakter Anspruch auf eine unbestimmte Menge von Waren und Dienstleistungen anonymer Hersteller und Erbringer) „kolonialisiert“. Die Umstellung der Gesellschaft auf Systemintegration als einen „anderen Mechanismus der Handlungskoordinierung und damit auf ein anderes Prinzip der Vergesellschaftung wird vielmehr nur dann eine Verdinglichung, d. h. eine pathologische Verformung von kommunikativen Infrastrukturen der Lebenswelt zur Folge haben“ wenn sich die Lebenswelt aus den betroffenen Funktionen nicht zurückziehen, wenn sie diese Funktionen nicht, wie es bei der materiellen Reproduktion der Fall zu sein scheint, an mediengesteuerte Handlungssysteme schmerzlos abgeben kann (Habermas 1981, S. 549). Anonyme Prozesse können durchaus handlungsentlastend wirken. „Schmerzhaft“ wird es, wenn die Systemrationalität zerstörerische Effekte auf die kommunikativen Handlungszusammenhänge ausübt. Nicht zuletzt dann, wenn substanziell sittliche Einstellungen und Handlungen der Individuen sukzessive durch die rein strategischen Orientierungen und Aktionen cooler Nutzenmaximierer verdrängt werden. Damit ergeben sich für Habermas zugleich bestimmte Zielrichtungen der Gesellschaftskritik: Marx’ Kritik der politischen Ökonomie war immer auch Kritik an Vertretern der politischen Ökonomie als der in England vorherrschende Wirtschaftswissenschaft seiner Zeit. Kritische Theorie war immer auch Kritik an verschiedenen Wissenschaftstypen – so etwa Positivismuskritik, wenn auch Th. W. Adorno sich eines m. E. zu weit gefassten Begriffs des „Positivismus“ bedient. Aber kritische Theorien waren und sind in erster Linie an Gesellschaftskritik interessiert. Das gilt genauso für Jürgen Habermas. Es kann sein, dass die äußerst schäbige Behandlung, die er durch Max Horkheimer während seiner Zeit als Assistent von Theodor W. Adorno erfahren hat, ein wenig zu der inzwischen zum Klischee erstarrten Gegenüberstellung einer „älteren“ von der „neueren“ (von Habermas und seinen Schülern geprägten) kritischen Theorie beigetragen hat. (Zu den Vorbehalten Horkheimers gegenüber Habermas, die diesen zwangen, seine Habilitation mit der Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ in Marburg bei Wolfgang Abendroth abzuschließen, vgl. den Briefwechsel (Band 4) zwischen Horkheimer und Adorno. Brief vom 27.09.1958.) Doch was immer auch von den Parolen eines fundamentalen Paradigmenwandels vom Dienst innerhalb dieser Tradition zu halten sein mag: Habermas betont ebenfalls, eine „Theorie der kapitalistischen Modernisierung“, die in seinem Falle allerdings „mit Mitteln einer Theorie des kommunikativen Handelns durchgeführt wird“, könne Marx in einer bestimmten Hinsicht weiterhin folgen: „Sie verhält sich kritisch sowohl gegenüber den zeitgenössischen Sozialwissenschaften, wie gegenüber der gesellschaftlichen Realität, die diese erfassen sollen“ (Habermas 1981, S. 549). Der begründungslogische Anspruch, den Habermas gleichzeitig mit diesen klassischen Zielsetzungen der Kritik verbindet, besteht darin, „die normativen Grundlagen einer kritischen Theorie“ aufzuklären (Habermas 1981, S. 583). Denn an der „Schwierigkeit, über ihre eigenen normativen Grundlagen Rechenschaft zu geben hat die (ältere – J. R.)

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Kritische Theorie von Anbeginn laboriert“ (Habermas 1999, S. 500). Seitdem gibt es fruchtbare und furchtbare Diskussionen über das „Maßstabsproblem“ der Kritischen Theorie, die jedoch nach meiner Auffassung nichts mehr und nichts weniger darstellen als Varianten der allerdings sehr schwierigen und bestimmt weder durch „alte“ oder „neue“ Paradigmata letztinstanzlich aufgelösten Problematik der normativen Grundlagen von Gesellschaftskritik überhaupt. Abgesehen von den akribischen Arbeiten von Jürgen Habermas über die Varianten des Rationalitätsbegriffes gilt seine „Diskursethik“ mit Fug und Recht als ein wichtiger Beitrag zur Klärung von rationalen Standards (auch) der Gesellschaftskritik. (Zur Rationalitätsdiskussion bei Habermas vgl. z. B. TKH I, S. 15–71, ders. 1999, S. 102–137 sowie S. 271–318.) Diese Rolle als Grundlage von Kritik lässt sich auf den kürzesten, wenn auch recht steinigen Wegen einigen Passagen aus dem Aufsatz: „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“ entnehmen. (Dieser Aufsatz findet sich in Habermas 1985, S. 53 ff.) Praktische Fragen als begründungslogische Problemstellungen richten sich auf den Status derjenigen normativen Prinzipien, welche Werturteilen und – je nach dem Verständnis von „Vernunft“ – vernünftigen Maßnahmen in der gesellschaftlichen Praxis zugrunde gelegt werden können oder auch nicht. So gibt es eine lange Tradition von Streitigkeiten darüber, ob grundsätzliche praktische Gebote oder Empfehlungen, etwa solche der Moral, überhaupt „wahrheitsfähig“ und „begründungsfähig“ sind. „Nicht-kognitivistische“ Ethiken bestreiten die Möglichkeit einer rationalen Begründung von Basisnormen der Moral, des Rechts oder der Politik. Die Problematik begründungsfähiger Maximen ist zugleich mit der ganz alten Diskussion verwoben, ob alle Grundsätze, auch die obersten Gebote von Recht und Moral historisch oder kulturell „relativ“ sind (worauf genau?). Gibt es demgegenüber nicht doch eine Teilmenge normativer Prinzipien, die – wie die Menschenrechte – als universell geltend angenommen und daher ihrerseits der Kritik historisch geltender Normen, Regeln, Kriterien und allgemeiner „Wertideen“ zugrunde gelegt werden können? Letzteres wird nicht zuletzt in der Tradition des egalitären Naturrechts angenommen. (Vgl. DE 53). Als Kontrastfolie für seine Argumentation dient Habermas eine Position, die mit einem weit verbreiteten Grundsatz der „nicht-kognitivistischen Ethik“ zum Ausdruck kommt. Er lautet: Praktische Vernunft stellt nichts mehr als kalkulatorische Vernunft dar. Wir können je nach dem Stand unseres Wissens diejenigen Mittel überlegt und überlegend abwägen und anwenden, welche zumindest mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zum Ziel führen werden oder bislang womöglich immer zum Ziel geführt haben. Dem entspricht bei Horkheimer die subjektive Vernunft. So etwas wie „objektive Vernunft“, worauf er sich als Ausdruck einer über Zweckrationalität hinaus erweiterten Rationalität beruft, gibt es jedoch nicht. „Moralisch-praktische Fragen des Typs: ‚Was soll ich tun?‘ werden, soweit sie nicht unter Aspekten der Zweckrationalität beantwortet werden können, aus der vernünftigen Erörterung ausgeblendet“ (DE 55). Diese charakteristische These ist Ausdruck einer Verkehrung der subjektiven Vernunft in die (bloß) instrumentelle Vernunft. Sie lautet in einer anderen, äußerst prägnanten Zusammenfassung und Bestätigung durch Alasdair MacIntyre so: „Im Bereich der Praxis kann sie (die Vernunft – J. R.) nur über Mittel sprechen. Über die Zwecke selbst muss sie

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schweigen“ (Zit. DE 53). Ziele und Zwecke sind „gesetzt“, Erscheinungsformen von Gefühlen (Neigungen, Präferenzen) pro oder contra, bestenfalls Ausdruck einer existenziellen Entscheidung dafür oder dagegen. All dem hält Habermas die „Kantische Tradition“ und damit die in der Neuzeit einflussreichste Version der deontischen Ethik(en) entgegen (ebd.). Dieser Rückgriff auf die Kritik der praktischen Vernunft durch Kant hat das Beharren auf der Möglichkeit zur Folge, universalistische Prinzipien für eine menschenwürdige Praxis ausweisen, begründen und gegen relativistische und dezisionistische Kritik mit rationalen (wohlbegründeten) Argumenten stützen zu können. „Erst der Anspruch auf allgemeine Geltung verleiht einem Interesse, einem Willen oder einer Norm die Würde moralischer Autorität“ (DE 59). Aber wie genau ist ein solcher Anspruch zu begründen? Denn etwas „tun sollen heißt, (gute – J. R.) Gründe haben, etwas zu tun“ (DE 59). (Alle Hervorhebung im Original. Zur damaligen Diskussion über „gute Gründe“ für das Handeln, die sich von Ursachen für Tun und Lassen unterscheiden, s. auch DE 60 ff. Habermas setzt sich insgesamt mit verschiedenen Ansätzen der angelsächsischen analytischen Philosophie der Moral im Detail auseinander. Das ist hier nicht das Thema. Diese Varianten der Ethik „erklären, dass der Sinn unseres moralischen Vokabulars in Wahrheit darin besteht, etwas zu sagen, wofür Erlebnissätze, Imperative oder Absichtssätze die angemessenen linguistischen Formen wären. Mit keinem dieser Satztypen kann ein Wahrheitsanspruch oder überhaupt ein auf Argumentation angelegter Geltungsanspruch verknüpft werden“ (DE 65).) Für deontische Ethiken (universalistische Pflichtethiken) reicht die Antwort: „Na, das erfüllt halt seinen Zweck und/oder nutzt mir und meinen Kumpanen – ist das nicht ein guter Grund?“ nicht aus. Ein derartiger Utilitarismus liefert keineswegs die letzten und obersten Worte für Moral und Recht. Was aber heißt es, universelle Normen zu begründen? Die Antwort, die Habermas vorschlägt, stützt sich auf einen „Universalisierungsgrundsatz“ (DE 67). Diesen versteht er ausdrücklich nicht als ein von philosophischen Beobachtern ausgedachtes Prinzip, das allein jenseits des „Horizontes der Lebenswelt“ der alltäglich Handelnden sowie ihrer Sprechakte zu suchen und zu finden wäre. Im Gegenteil: In „Zusammenhängen kommunikativen Handelns“ sind die Potenziale zu suchen, die – um eine Vokabel Hegels zu gebrauchen – den philosophisch reflektierten und als universalistisch ausgewiesenen Moralprinzipien „entgegenkommen“, wenn nicht deren Ursprungsort darstellen. Normen sind also „darauf angewiesen, dass legitim geordnete interpersonale Beziehungen immer wieder hergestellt werden. Sie würden einen im schlechten Sinne „‚utopischen‘‚ Charakter annehmen, geradezu ihren Sinn verlieren, wenn wir nicht Aktoren und Handlungen, die die Normen befolgen bzw. erfüllen können, mindestens hinzudenken“ in der Lage sind (DE 71). Man kann zum Beispiel im Hinblick auf alltagsweltlich bedeutsame moralische Basisnormen an die lange Wirkungsgeschichte der sog. „goldenen Regel“ moralischer Gesinnungen und Handlungen erinnern. („Was Du nicht willst, das man Dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“ Diese Regel ist allerdings sowohl utilitaristisch als auch deontisch interpretiert worden.) Bei Habermas liefert das kommunikative Handeln in der lebensweltlichen Praxis des Alltags die Grundlage der Moral (s. o.). „Kommunikativ nenne ich Interaktionen, in denen die Beteiligten ihre Handlungspläne einvernehmlich koordinieren“ (DE 68). Dabei ist

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der Unterschied zwischen Faktizität – etwa der Grad, in dem Normen gesellschaftlich tatsächlich in Kraft sind bzw. befolgt werden – und der Geltung (dem Geltungsanspruch) von normativen Bestimmungen zu beachten. Das „‚Bestehen‘‚ oder die soziale Geltung von Normen (sagt) noch nichts darüber, ob diese auch gültig sind“ (DE 71). Es gibt Normen, die lange historisch in Kraft sind und dennoch – gemessen an universell geltenden Prinzipien – „nicht gültig“, weil z. B. Unrecht sind. Nur ist und bleibt es weiterhin die Frage, wie lassen sich universelle Prinzipien von Recht und Moral rational begründen? An dieser Stelle, so denke ich, muss man bei Informationen über Jürgen Habermas’ Diskursethik als Medium der Gesellschaftskritik zwei entscheidende Fragestellungen unterscheiden: 1. Wie sehen die Möglichkeiten aus, Adressaten von den universellen normativen Bestimmungen so zu überzeugen, dass sie ihnen zu folgen bereit sind? 2. Was kann als rationale Begründungsstrategie für universelle Normen gelten und welcher Inhalt zeichnet sie aus, wenn dieser sich nicht auf die einschlägigen Grundsätze von Utilitarismus, Hedonismus und Eudämonismus reduzieren lässt? Ad 1 Nach meiner Auffassung sind diese beiden Fragen keinesfalls in einen Topf zu werfen. Die erste Problematik bringt Habermas in die Form der wohlbegründeten Feststellung, „dass sich ein Einverständnis über theoretische oder moral-praktische Fragen weder deduktiv, noch durch moralische Evidenzen erzwingen lässt“ (DE 73). Ich interpretiere diese Aussage folgendermaßen: Eine reale Handlung kann nicht als die deduktiv gezogene Konsequenz aus einem sog. „praktischen Syllogismus“ angesehen werden; nicht einmal im Falle technischer und strategischer Schlussfolgerungen (Deduktionen). Ein ganz einfacher technischer Syllogismus sieht etwa so aus: Der Akteur A will q. Nun lehrt uns unser Wissen über gesetzmäßige oder regelmäßig Ereigniszusammenhänge, dass man (cet. par.) p einsetzen oder hervorrufen muss, um q zu erreichen. Also setzt der Akteur tatsächlich p ein. Wenn der praktische Syllogismus so oder so ähnlich abgefasst wird, dann ist die Schlussfolgerung nicht gleich der entsprechenden realen Handlung von A. Denn die Ableitung mündet ja in einer Aussage über eine Handlung aus, die der Akteur eigentlich vollziehen müsste, wenn er q ernsthaft anstrebt. Dennoch kann der lockere Vogel A in der Praxis allemal sagen: „Nun und? Da lasse ich es lieber. Das ist mir zu anstrengend etc.“ Er wird dann vielleicht als borniert, irrational oder als Abweichler gescholten. Selbst das kann ihn u. U. keinen Millimeter bewegen. Und wenn sich jemand auf moralische Evidenzen beruft – „Aber das ist doch völlig klar, dass man das so und nicht anders nicht anders machen muss“! – kann der unangepasste A wiederum nachfragen: „Wieso? Wer ist das anonyme „man“ und warum soll ich denen folgen“? Mit einem Wort: Die Folgebereitschaft für noch so gut begründete moralische Prinzipien lässt sich in der Tat nicht durch eine Schalterdrehung erzwingen. Der besten Begründung folgt die Überzeugung und Praxis der Adressaten empirisch nicht mit kausaler Notwendigkeit! Denn es gibt Freiheit auch als „Freiheit der Willkür“, wobei der Begriff „Willkür“ eine Doppelbedeutung aufweist. Kant, der diesen Begriff häufig gebraucht, versteht darunter eher die Freiheit, eine Wahl unter

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Alternativen treffen zu können. Unter „Freiheit der Willkür“ kann jedoch auch – negativ – eine „erratische“ Haltung wie die von A verstanden werden. Das ist eine Haltung, die angesichts der gleichen Anstöße und Aufforderungen mal so, mal so oder einfach „frei Schnauze“ zu völlig verwirrenden Reaktionen führt. Die Frage 1 lässt sich also nur durch die Berücksichtigung des grundsätzlich kontingenten Verhältnisses zwischen Begründen und Überzeugen beantworten. Der Zwang des guten Argumentes ist bestenfalls einer der deduktiven Logik und keiner, der – wie der Funke im Pulverfass – eine bestimmte Reaktion des Adressaten notwendigerweise zur Folge haben muss. Insofern stellt das Verhältnis von Begründen und Überzeugen ein Problem und keine Aufgabe dar, für die ein lösungsgarantierender Weg jenseits von Versuch und Irrtum (inclusive Rede und Widerrede) vorliegt. In einer derartigen Problemlage können zwei fundamentale und zugleich gegensätzliche Formen des Sprechhandelns ins Spiel kommen: Auf der einen Seite sollen wohlbegründete Argumente die als selbstständige Partner anerkannten Adressaten von der Richtigkeit von Informationen und Handlungsvorschlägen überzeugen. Im idealen Fall, nach gelungener Erziehung der Subjekte zur Selbstständigkeit (vgl. Fichte 1922, S. 39 ff.), würde dabei berücksichtigt, „dass der andere ein freies, und nicht wie eine bloße Sache zu behandelndes Wesen sei“ (Fichte 1922, S. 85 f.). Auf der anderen, der entgegengesetzten Seite geht es um das Überreden der Adressaten. Die einschlägigen Mittel dafür sind Lug, Trug, Manipulation bis hin zum Einsatz der Sprache als Mittel von Zwang und Gewalt. (Schon die klassische Lehre von der Eristik hat sich mit derartigen Möglichkeiten auseinandergesetzt.) Ad 2 Die zweite Problemstellung müsste eigentlich die Grundlagen für die Bearbeitung der ersten liefern. Denn es geht um die Möglichkeiten der Begründung von universellen, letztlich alle Menschen verpflichtenden Prinzipien des Handelns. In diesem Falle betont Habermas mit Recht: „Alle kognitivistischen (von der Wahrheits- und Begründungsfähigkeit oberster Maximen ausgehenden – J. R.) Ethiken knüpfen nämlich an jene Intuition an, die Kant im Kategorischen Imperativ ausgesprochen hat“ (DE 73). Kant hat bekanntlich „verschiedene Formulierungen“ für dieses Moralprinzip gewählt (ebd.). Habermas scheint vor allem die sog. „Maximenprobe“ als das – wie er sagt – „Brückenprinzip“ anzusehen, das eine Verbindung zwischen der Heterogenität empirischer Interessen, Maximen und Meinungen mit universellen Geboten der Moral herstellt. Ich interpretiere die Maximenprobe so: Es handelt sich um ein Gedankenexperiment und nicht – wie auch Habermas mitunter zu denken scheint (ebd.) – um ein Verfahren, das eine Verpflichtung jenseits strategischer und taktischer Erwägungen von Akteuren begründen soll. Das Experiment lässt sich vielleicht auf die folgende Weise zusammenfassen: Man stelle sich vor, eine empirische Neigung wie die zur grundsätzlichen Veruntreuung des Geldes, das einem anvertraut ist, würde – obwohl man selbst Geld irgendwo hinterlegen muss – zu einem „allgemeinen Gesetz“ (Kant) erhoben. Kann man das wollen? Jenseits des Masochismus gewiss nicht! Denn dann müsste man damit rechnen, dass das eigene depositum flugs futsch ist. Es entsteht also nicht einfach nur ein formallogischer, sondern ein sog. „performativer Selbstwiderspruch“. Man schießt sich mit diesem Handlungskurs praktisch ins Knie. Die Stabilität dieser Brücke darf jedoch

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an einigen Bruchstellen nicht übermäßig strapaziert werden: 1.) Es handelt sich im Kern um ein utilitaristisches Prinzip. Jedenfalls insofern und insoweit wie ein überlegungsfähiger Akteur (anders etwa als der notorische Betrüger) abwägt, ob die Universalisierung eines seiner Interessen bzw. einer seiner Maximen zu einem performativen Selbstwiderspruch führen würde oder nicht. Je nachdem wird er entschieden vorsichtiger agieren oder die Finger ganz von dem Vorhaben weg lassen. 2.) Die Maximenprobe liefert keinen Algorithmus, kein Rechenverfahren, wodurch man die Menge der verallgemeinerungsfähigen von der Menge der nichtuniversalisierbaren durchweg gleichsam mathematisch mengenlogisch exakt trennen könnte. Auch der schlaueste Beobachter – das belegen einschlägige Kritiken an konkreten Beispielen für den Universalisierungstest – kann das Ergebnis nicht einfach herausrechnen. „Du sollst nicht lügen!“ Wenn das Lügen zum allgemeinen Prinzip erhoben würde, gäbe es zweifellos ganz erhebliche Probleme. (Auch wenn das ein etwas skurriler Gedanke ist: Wenn alle grundsätzlich lügen würden, bräuchte man ihre Aussagen nur zu negieren, ihren Wahrheitswert also ins Gegenteil umdrehen. :(:p) = p. (Doppelte Negation). Praktisch wohl ein bisschen umständlich.) Aber wie ist das mit Situationen, in denen die blanke Lüge ein Menschenleben retten würde? Auch performative Selbstwidersprüche werfen in zahllosen Fällen Probleme auf und stellen daher nicht immer Aufgaben dar. Gleichwohl scheint der eingesehene Selbstwiderspruch beim Handeln Menschen besonders empfindlich zu treffen 3.) Schließlich ist der Akteur an sich immer in der Lage und mitunter sogar ausdrücklich bereit, wider seine Interessen zu handeln und seine Neigungen zu unterdrücken. 4.) Den auch wegen einer als Algorithmus missverstandenen Maximenprobe erhobenen Rigorismusvorwurf gegen Kants Ethik, sie sei rein formalistisch, halte ich für völlig unbegründet. Denn was wird denn bei der Maximenprobe im Gedankenexperiment verallgemeinert? Ein konkretes Interesse, eine empirische (inhaltliche!) Maxime. In der Tat haben zahlreiche Auseinandersetzungen mit diesem Brückenprinzip, „zu formalistischen Missverständnissen und selektiven Lesarten geführt (DE 74; Herv. i. Org.)“. Übersehen wird des Öfteren auch, dass die Maximenprobe – wie auch Habermas unterstreicht – keine hinreichende Bedingung für gültige moralische Gebote liefert, weil selbst fragwürdige Maximen universalisiert werden können. Es muss also normative Bestimmungen geben, welche es gestatten, an sich der Universalisierung fähige Interessen und Maximen selbst noch im Hinblick auf ihre moralische oder unmoralische Qualität zu bewerten. An dieser Stelle führt Habermas „die Grundvorstellung einer Diskursethik“ ein, die er den „diskursethischen Grundsatz D“ nennt. Er lautet: „Der Diskursethik zufolge darf eine Norm nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), dass diese Norm gilt“ (DE 76). Ein praktischer Diskurs zeichnet sich dadurch aus, dass die Teilnehmer herrschaftsfrei, also alle anderen Teilnehmer als gleichrangig achtend sowie grundsätzlich verständigungsorientiert einen Diskurs führen, der zu einem Einverständnis darüber führt, was moralisch und nicht bloß strategisch zu tun geboten ist. Sollte diese Idee, wie es anklingt, tatsächlich als Umformulierung „des“ Kategorischen Imperativs gemeint sein, dann handelt es sich um eine überraschende Wendung. Denn die Maximen-

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probe legt bei Kant den maßgebenden Inhalt des „Sittengesetzes“ nicht fest. Das leistet erst diejenige Formulierung des Kategorischen Imperativs, welche ich als die „Selbstzweckformel“ oder „Anerkennungsformel“ des Kategorischen Imperativs bezeichnen möchte. Sie gebietet bekanntlich jedem Subjekt in der Interaktion, die Würde der anderen Subjekte anzuerkennen und sie damit immer auch als „Selbstzweck“ und nicht bloß als Mittel für die je eigenen Zwecke zu behandeln. Das wiederum bedeutet, ihren freien Willen zu fördern und zu achten – solange sie ihn nicht ihrerseits dazu missbrauchen, Repressionen gegenüber ihren Mitmenschen ausüben und/oder repressive Strukturen und Prozesse zu unterstützen. „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (Kant, Werke, S. 69). Dieser Inhalt des „Sittengesetzes“, also das Autonomieprinzip, entscheidet in letzter Instanz über die moralische Qualität konkreter, heterogener und oftmals widersprüchlicher Maximen und Interessen! Die damit umrissene Grundvorstellung erweitert Kant am Ende dann zur ethisch-politischen Utopie eines umfassenden Lebenszusammenhangs als „Reich der Zwecke“, worin jede(r) jede (n) Anderen vorrangig als Zweck an sich selbst und nicht immer nur als Mittel zum Zweck behandeln würde. An die Selbstzweckformel schließt vor allem J. G. Fichte die Lehre von der wechselseitigen Anerkennung des freien Willens an. Damit kommt die mitunter als vermisst gemeldete Interaktion mit der gebotenen Selbstverständlichkeit ins Spiel. Hegel greift sie in der „Jenaer Realphilosophie“, vor allem in der Parabel über „Herr und Knecht“ in der „Phänomenologie des Geistes“ auf. Er verhandelt zudem in seiner „Rechtsphilosophie“ ausdrücklich die institutionellen, allgemein gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen einer Stützung des Autonomieprinzips – zusammen mit einer Kritik repressiver und entfremdeter Verhältnisse wie sie sich etwa mit der Pauperisierung breiter Massen in der frühen bürgerlichen Gesellschaft abgezeichnet haben (Hegel 1821, § 244). Als „monologisch“ können diese Wurzeln der modernen Anerkennungstheorie also nur insofern gescholten werden, dass sie in einem Rahmen verhandelt werden, der singuläre Übersubjekte wie „das Ich“, „das Subjekt“, „der absolute Geist“ (gleich Gott) in das Zentrum der Philosophie rücken. Auf diesem Hintergrund wirft der „diskursethische Grundsatz D“ in seiner zitierten Fassung dennoch einige charakteristische Probleme auf: Der Diskurs zielt auf „Einverständnis.“ Aber ein Konsens kann erreicht werden, ohne dass er bei der Bearbeitung eines Problems auch nur einen Schritt weiter führen würde. Er kann die tatsächliche Verfassung der Problemsituation sogar völlig verfehlen. Man ist sich im Irrtum einig. So gesehen stellt er ebenfalls keine hinreichende Grundlage für ein genuin moralisches Urteil dar. Das Grundprinzip der Kritischen Theorie ist jedoch z. B. in den Randbedingungen des Diskurses, in den von Habermas sog. „Diskursregeln“ aufgehoben: Regel 1: „Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen“ (DE 99), Niemand, der selbständig ist, darf von der Teilnahme an Diskursen gegen seinen Wunsch ausgeschlossen werden. Vom Ziel einer „Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit“ (Fichte 1922, S. 39) bzw. der „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno), die ja in einem asymmetrischen Anerkennungsverhältnis stattfindet, wird dabei abgesehen.

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Regel 2a: „Jeder darf jede Behauptung problematisieren“ (DE 99). Der Diskurs ist auch intern offen. Niemand darf in seinen Möglichkeiten beschränkt werden, Einwände gegen Behauptungen geltend zu machen. Hier kommt offensichtlich ein egalitäres Prinzip mit ins Spiel – Gleichbehandlung. Regel 2b: „Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen“ (DE 99). Implizit werden dabei doch wohl aggressive, narzisstische, mit den Mitteln der Manipulation und der sprachlichen Gewalt vollzogene assertive Sprechakte strikt ausgeschlossen. Es soll ja Herrschaftsfreiheit und Verständigungsorientierung vorliegen. Regel 2c: „Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern“ (DE 99). Das gilt, solange nicht aufgrund welcher bewussten und unbewussten Antriebe auch immer eine Majorisierung der Diskussion angestrebt und die grundsätzliche Verständigungsorientierung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Diskurs konterkariert wird. Regel 3: „Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine (in den o. a. Regeln – J. R.) festgelegten Rechte wahrzunehmen“ (DE 99). Das entspricht erneut der Forderung nach Herrschaftsfreiheit des idealen, rein verständigungsorientierten Diskurses. Niemand darf – womöglich gewaltförmig – zum bloßen Mittel für den Zweck von Akteuren erniedrigt werden. Und genau das gebietet die Selbstzweckformel! Habermas hat mit seinem diskursethischen Grundsatz D eine kontrafaktische – weil in der Realität in reiner Form nur äußerst selten vorzufindende – Situation des Sprechhandelns entworfen. Es dürfte deutlich geworden sein, wie sehr die darauf aufbauende Diskursethik von den deontischen Prinzipien der Anerkennungsformel des Kategorischen Imperativs Kants und nicht nur von dessen Maximenprobe geprägt ist. Die Akteure müssen sich als selbständige, gleichrangige und aggressionsfreie Subjekte achten und behandeln. Genau wie in der Selbstzweckformel bildet also ein striktes Repressions- und Manipulationsverbot, die Achtung des freien Willens den inhaltlichen Kern des Prinzips der Kritik. So gesehen bewegt sich auch die politische Ethik von Jürgen Habermas im deontischen Rahmen, dem mit der Theorie des kommunikativen Handelns gewiss eine spezifische Wendung gegeben wird. Wenn ich recht sehe, findet sich dafür eine ausdrückliche Bestätigung bei Habermas selbst. Denn in seinem späteren Buch „Faktizität und Geltung“ mit dem Untertitel „Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“ schreibt er: „Die Zivilgesellschaft muss die Ungleichverteilung sozialer Machtpositionen und der aus ihnen resultierenden Machtpotentiale abfedern und neutralisieren, damit soziale Macht nur so weit zum Zuge kommt, wie sie die Ausübung staatsbürgerlicher Autonomie ermöglicht und nicht beschränkt.“ Das (deontische) Autonomieprinzip ist und bleibt auch bei dieser Version einer Gesellschaftstheorie als Kritik der Drehund Angelpunkt aller Spezifizierungen und Erweiterungen. Wem unbedingt danach ist, kann trotzdem weiterhin ganze tiefe Paradigmagräben zu anderen Varianten der

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Kritischen Theorie ausheben und irgendeinen „älteren“ Denkstil dieser Gattung in die Vorläuferrolle zu sich selbst abdrängen.

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Ein neuer Modus der Kritik? – Critique à la française

„Q’est-ce que la critique? (Critique et Aufklärung)“, so lautet die von der Redaktion des Bulletin de la Société française de philosophie gewählte Überschrift über einen prägnanten und klar abgefassten Vortrag, den Michel Foucault (1926–1984) am 27.05.78 gehalten hat. Für die deutsche Ausgabe von 1992 wurde der Titel: „Was ist Kritik?“ gewählt. Das war, ist und bleibt die Frage. Es handelt sich dabei in der Tat um ein „Projekt, das sich unablässig formiert, sich fortsetzt und immer wieder von neuem ersteht“ – und das nicht nur „an den Grenzen der Philosophie, ganz bei ihr, ganz gegen sie, auf ihre Kosten, im Hinblick auf die kommende Philosophie oder anstelle jeder möglichen Philosophie“ (Foucault 1992, S. 8). Gesellschafts- und Institutionenkritik gibt es zweifellos seit langem. Im Hinblick auf all die verschiedenen Varianten, in denen eine derartige Kritik zum Vorschein kommt (vgl. Kap. 1), nimmt Foucault an, sie verkörperten „eine bestimmte Art zu denken, zu sagen, zu handeln auch, ein bestimmtes Verhältnis zu dem, was existiert, zu dem, was man weiß, zu dem, was man macht, ein Verhältnis zur Gesellschaft, zur Kultur, ein Verhältnis zu den anderen auch“ (ebd.) So betrachtet stellt sich „Kritik“ als eine universelle Haltung und Praxis der Problematisierung dar. Für Foucault gibt es zudem „etwas in der Kritik, das sich mit der Tugend verschwägert. Ich möchte Ihnen gewissermaßen von der kritischen Haltung als Tugend im allgemeinen sprechen“ (Foucault 1992, S. 9). Philosophische Bemühungen, den Modus und die Haltung der Kritik seinerseits kritisch zu untersuchen und zu begründen, hat es natürlich auch schon früh in der Geschichte der Philosophie gegeben. Es gab sie beispielsweise als dialektiké téchne, die von klassischen Philosophen gegen die Eristik (Überredungskunst) abgegrenzt wird. Trotz allem Dogmatismus der Protagonisten könnte man später nicht nur die Rhetorik, sondern auch die meist mit formaler Logik gleichgesetzte Dialektik als Bestandteil des Kanons der Lehre an mittelalterlichen Universitäten als Beispiel für eine einflussreiche kritische Haltung nennen. Die quaestiones und disputationes stellen zweifellos eine Erscheinungsform akademisch institutionalisierter Kritik dar, die einiges mit dem zu tun hat, was heute in den Bereich der formalen Standardlogik fällt. (Als Standardquelle für Informationen (auch) über die mittelalterliche Disputationstechnik sehe ich weiterhin M. Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode (1911), 2 Bände, Darmstadt 1957 an. Vgl. a. a. O.; Band II, S. 13 ff.) Der Ruf Non sequitur! („Das folgt nicht aus den gemachten Voraussetzungen!“) galt als besonders kritischer Vorbehalt. Wem das im akademischen oder religiösen Streitgespräch der Scholaren und Magister zutreffend entgegengehalten werden konnte, der hatte gleichsam verloren. Also war auch der Dogmatismus der Scholastiker nicht durchweg so stur und eindimensional, wie er gelegentlich erschien und im Extremfall auf dem Scheiterhaufen erlebt werden musste. Von diesen Zeiten, die er die „christliche Pastorale“ nennt, geht Foucault aus, um die Geschichte der kriti-

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schen Haltung hin zur und in der Neuzeit zu beschreiben (Foucault 1992, S. 9). Die christliche Pastorale, so beginnt er seine Skizze dieser Entwicklung, hat eine einzigartige Idee entwickelt und durchgesetzt. Die Idee nämlich, „dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse“ (Foucault 1992, S. 9 f.). Priester und Kirchenfürsten sind diejenigen, welche diese mit subtilen Mitteln der Gewissensprüfung direkt auf die Individuen zielende Kontrolle „im Namen des Herrn“ und der von ihm verkündeten Wahrheit ausüben. (Foucault weist darauf hin, dass es in der griechisch-orthodoxen Kirche die techne technon, in der römisch-katholischen Kirche die ars artium gab. Darunter wird die Kunst verstanden die Menschen nicht zuletzt durch Gewissensprüfung zu regieren.) Sie setzen jedoch nicht selten nackte Gewaltmittel ein, die sich gegen die ihre Herrschaft bedrohenden „Ketzer“ oder Konkurrenten um Pfründe richten. Neben all dem setzt sich zugleich ein keiner Problematisierung zugängiger Modus der Kritik fest: Nicht nur bei den die Heilslehre verkündenden und verwaltenden Kirchfürsten, sondern überhaupt bei religiösen Fanatikern und politisch-theologischen Dogmatikern findet er sich vor. Er äußerst sich bis auf den heutigen Tag in den Charaktermasken dogmatischer Theoretiker, die sich vom Weltgeist geküsst wähnen, in den heilsgewissen Äußerungen von Gesinnungsethikern mit starrem Sendungsbewusstsein, bei Verschwörungstheoretikern mit selbstdefinierten Privilegien des Zugangs zur Wahrheit, zudem in einer heute mit Baseballschlägern unterstrichenen Bereitschaft, abweichende Meinungen und ihre Vertreter „niederzumachen“. Man kann das alles als wesentliche Teile einer Kontrastfolie ansehen, vor deren Hintergrund sich für Foucault Erscheinungsformen der kritischen Haltung in der Neuzeit abheben. Vor der Reformation, vom 15. Jh. an hat nach seiner Meinung in Europa jene sich mehr und mehr vom Kirchenbann ablösende „Explosion der Menschenregierungskunst“ stattgefunden (Foucault 1992, S. 10). „Sodann hat sich diese Regierungskunst in den verschiedensten Bereichen vervielfältigt: wie regiert man die Kinder, wie regiert man die Armen und die Bettler, wie regiert man eine Familie, ein Haus, wie regiert man die Heere, wie regiert man die verschiedenen Gruppen, die Städte, die Staaten, wie regiert man seinen eigenen Körper, wie regiert man seinen eigenen Geist? Wie regiert man? – ich glaube, dass das eine der grundlegenden Fragen des 15. und 16. Jahrhunderts gewesen ist“ (Foucault 1992, S. 11). Der Gegenzug wider diesen Zug zur Regierungsentfaltung lässt sich in der Frage zusammenfassen: Wie wird man nicht regiert? Darin ist eine schwelende und im Prozess der abendländischen Aufklärung manifest und politisch werdende Form der Kritik enthalten. Denn die neuzeitliche kritische Haltung stellt sich zu einem nicht unerheblichen Teil in den Gegensatz zu den immer sublimer werdenden Regierungskünsten. Sie wird damit zu einer Strategie, den Regierungskünsten „zu misstrauen“, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen . . . (Foucault 1992, S. 12). Geschichtlich kommt es – oftmals unter Berufung auf die „wahre“ Lehre in der Bibel („Von John Wiclif bis zum Pierre Bayle hat sich die Kritik zu einem beträchtlichen Teil im Verhältnis zur Heiligen Schrift entwickelt. Die Kritik ist historisch gesehen biblisch“ (Foucault 1992, S. 13)) – zur Wendung

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gegen Dogmen und Kontrolltechniken der katholischen Amtskirche. Die verwalteten Gesetze „des Herrn“, aber auch die der kirchlichen und weltlichen (Grund-) Herren werden in Frage gestellt. „Unter diesem Gesichtspunkt heißt also Kritik: die Regierung und dem von ihr verlangten Gehorsam universale und unverjährbare Rechte entgegensetzen, denen sich jedwede Regierung, handle es sich um den Monarchen, um den Erzieher, um den Familienvater, unterwerfen muss. Wir haben es hier mit dem Problem des Naturrechts zu tun“ (Foucault 1992, S. 13). Hinzu kommt schließlich noch ein antiautoritärer Zug der Kritik: „Es heißt: etwas nur annehmen, wenn man die Gründe, es anzunehmen selber für gut befindet. Dieses Mal geht die Kritik vom Problem der Gewissheit gegenüber der Autorität aus“ (Foucault 1992, S. 14). Foucault zieht aus diesem Blick auf gesellschaftliche Entwicklung die Folgerung, dass der Nährboden der modernen Haltung der Kritik ein Komplex von Beziehungen zwischen Macht, Wahrheit und dem Individuum als ein nach Autonomie strebendes Subjekt darstellt. Man kann die neuzeitliche Kritik demnach auch so beschreiben, dass sie als eine Bewegung zu begreifen ist, „in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin“ (Foucault 1992, S. 15). Kritik wird zur Kunst der „reflektierten Unfügsamkeit“ (ebd.). Von diesen Erwägungen her stellt Foucault eine Verbindung zu Immanuel Kants berühmtem Artikel in der „Berlinischen Monatsschrift“ (vom 05.12.1783) her, der die Überschrift: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ trägt. Diese Frage, die er beinahe (für) so wichtig hält wie die Frage „Was ist Wahrheit?“, sollte nach Kant „doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgend beantwortet gefunden!“ (Werke VI 53/FN). Kants Definition am Anfang seines Artikels ist klar, eindeutig und inzwischen zu einem geflügelten Wort gediehen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt . . . Sapere Aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (ebd.; Herv. i. Org.). „Ohne Leitung eines anderen“ – in dieser Wendung steckt die Kritik am blinden Gehorsam gegenüber einfach hingenommenen Autoritäten und Gewalten sowie die Aufforderung „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (ebd.; 55). Daran knüpft Kant die Hoffnung, dass diese Postulate endlich auch „auf die Grundsätze der Regierung“ Einfluss nehmen, „die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nur mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln“ (ebd.; 61). Die Herrengewalten, welche Menschen im Zustand der Unmündigkeit halten wollen, werden damit ausdrücklich zum Gegenstand der Kritik gemacht. Mit Recht betont Foucault daher, all das, was Kant unter „Aufklärung“ verstanden hat, „ist eben das, was ich als Kritik charakterisiere: als die kritische Haltung, die man im Abendland als besondere Haltung neben dem großen historischen Prozess der Regierbarmachung der Gesellschaft auftauchen sieht“ (Foucault 1992, S. 16 f.) Foucault, das ist mein Eindruck, reduziert allerdings Kants Forderung: „Sapere Aude“ eher auf den Anspruch, „sich von seiner eigenen Erkenntnis eine richtige Idee zu machen“ (Foucault 1992, S. 17). Doch Kant ist

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seiner Zeit auch praktisch-politisch weit voraus, aber wie jeder große Denker dieser natürlich nicht völlig enthoben. Auch Hegel weiß, ohne damit Relativismus predigen zu wollen: „Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst (Hegel 1821/1955, S. 16; Herv. i. Org.)“ Dass Kant sich trotz aller Betonung der Rolle der Gewaltenteilung und der Freiheitsrechte bei der Untersuchung des Staates, den er gleichsam rechtsstaatlich als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (MS 432) definiert, z. B. monarchischer Souveränität einen Platz anweist und an manchen Stellen „Pflicht“ tatsächlich orientiert am preußischen Pflichtethos definiert, kann nur außerordentlich geringfügige Überraschung erwecken. Aber nicht nur, dass ihn sein oberster Dienstherr wegen seiner aufklärerischen Religionsphilosophie mit einer Art Radikalenerlass bedroht hat, vor allem aber dass der Begriff der „Pflicht“ bei ihm aufs Engste mit „Willensfreiheit“, „Autonomieprinzip“, „Würde des Subjekts“ und der Utopie eines „Reichs der Zwecke“ verbunden ist, mag allenfalls eine stereotypisierte Kantkritik übersehen. Kant hat alles in allem bestimmt keinen Kadavergehorsam „gegenüber den Souveränen“ unterstützt (Foucault 1992, S. 17). Als eine charakteristische Konsequenz der Begründung und Verbreitung einer kritischen Haltung im Prozess der modernen Aufklärung nach dem Vorbild von Immanuel Kant nennt Foucault die Wendung der Kritik in die „Form eines Misstrauens, jedenfalls eines Verdachts: für welche Machtsteigerung, für welche Regierungsentfaltung, die umso unabwendbarer sind als sie sich auf Vernunft berufen, ist diese Vernunft selbst historisch verantwortlich?“ (Foucault 1992, S. 19 f.). Daran schließt sich in Deutschland eine zentrale gesellschaftskritische Fragestellung an: „Von der hegelschen Linken bis zur Frankfurter Schule hat es eine ganze Kritik des Positivismus, des Objektivismus, der Rationalisierung, der techne und der Technisierung gegeben, eine Kritik der Beziehungen zwischen dem Fundamentalprojekt der Wissenschaft und der Technik, die zeigen möchte, wie eine naive Anmaßung der Wissenschaft mit den eigentümlichen Herrschaftsformen der zeitgenössischen Gesellschaft verknüpft ist“ (Foucault 1992, S. 20 f.). (Foucault erinnert zudem an die besondere Wendung, die Edmund Husserl diesem Kritiktyp in seiner Schrift „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ (1935/36), den Haag 1976 gegeben hat.) Das entspricht in der Tat wesentlichen Zielsetzungen der „Dialektik der Aufklärung“ und erklärt, warum Foucault eine „Position der Brüderlichkeit gegenüber der Frankfurter Schule“ registriert (Foucault 1992, S. 26). Nach seinem Eindruck ist daher bei allen Differenzen das „Problem der Aufklärung (wie es für das deutsche Denken seit Mendelssohn, Kant und über Hegel, Nietzsche, Husserl und die Frankfurter Schule usw. wichtig gewesen ist) nun in Frankreich in einer bemerkenswerten Nachbarschaft zu den Arbeiten der Frankfurter Schule aufgegriffen worden“ (Foucault 1992, S. 22). Das durchgängige Motiv einer Reihe seiner Schriften, nämlich die „Frage nach den Beziehungen zwischen den Rationalitätsstrukturen des wahren (mit festem Wahrheitsanspruch auftretenden – J. R.) Diskurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen“ wird also ausdrücklich nicht nur in Verbindung mit Nietzsches Philosophie, sondern auch mit Themen und Thesen der kritischen Theorie der Gesellschaft

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gebracht (Foucault 1992, S. 26). In diesem Rahmen gilt es, „die Beziehungen zwischen Macht, Wahrheit und Subjekt“ zu analysieren – ein Projekt, das Foucaults Werk durchzieht (Foucault 1992, S. 28). Es geht ihm entscheidend um den Zusammenhang zwischen Erkenntnis, Interesse und Herrschaft – ein Thema, das wiederum eine zentrale Stellung auch in der Tradition der Kritischen Theorie der Gesellschaft einnimmt. In einer bestimmten Phase der Entwicklung seiner Gedanken arbeitet Foucault allerdings mit dem m. E. unglücklich gewählten Begriff des „Antihumanismus“, der eine Nähe zur Unmenschlichkeit andeutet, die ihm wahrlich nicht vorzuwerfen ist. Gleichwohl haben von ihm damals mit Entschiedenheit vertretene Thesen wie die, man solle Probleme nicht auf der Ebene des Glücks, sondern auf der des Funktionierens stellen, wenig mit dem Denken von Horkheimer und Adorno zu tun. Foucault erregt deswegen als einer der Hauptvertreter des „französischen Nietzscheanismus“ alsbald erheblichen Widerspruch (vgl. M. Foucault 1978, S. 29.) (Eine scharfe Kritik am „französischen Nietzscheanismus“, für den Foucault steht, vgl. L. Ferry und A. Renaut 1987). Denn er erweckt damals mit einer Reihe seiner Formulierungen tatsächlich den Eindruck, er betrachte die menschlichen Individuen nur noch als Marionetten, die an den Fäden der Zwänge und Machteffekte von „Strukturen“ und/oder seines mysteriösen „Diskurses“ zappeln, der – wie bei Wittgenstein die Sprachspiele – an die Stelle der klassischen Übersubjekte getreten ist. Horkheimer und Adorno kritisieren jedoch genau umgekehrt die im Spätkapitalismus vorherrschende Tendenz, die Idee des autonomen Subjekts, „die letzte Erinnerung an Subjektivität abzuschaffen und durch die desto reibungslosere Arbeit der selbsttätigen Ordnungsmechanismen zu ersetzen“ (DdA 43). Ihre Erkenntnis wird vom Interesse an der Bewahrung und Förderung autonomer Subjektivität geleitet. Ein strikter Gegensatz zu dieser Denkweise tut sich also stets auf, wenn Foucault sehr klar und eindeutig klingende Sprachwendungen wie die folgende wählt: „Dasjenige, mit dem sich die verschiedenen Humanwissenschaften wirklich beschäftigen, ist etwas von den Menschen Verschiedenes, das sind Systeme, Strukturen, Kombinatoriken, Formen usw. Wenn wir uns daher ernsthaft mit den Humanwissenschaften auseinandersetzen wollen, müssen wir uns vor allem der Illusion entledigen, es gelte, den Menschen zu suchen“ – „Die Möglichkeit der Kontrolle führt zur Idee des Zwecks. Tatsächlich hat die Menschheit keine Zwecke. Sie funktioniert, sie kontrolliert ihr Funktionieren und bringt ständig Rechtfertigungen für diese Kontrolle hervor. Wir müssen uns damit abfinden, dass es nur Rechtfertigungen sind. Der Humanismus ist nur eine von ihnen, die letzte“ (Foucault 1978, S. 26, 30). Die Entschiedenheit derartiger Aussagen ist zudem mit seiner eigenen Position in „Was ist Kritik“ nicht verträglich. Darüber hinaus sind in einem seiner Spätwerke, etwa im 3. Band der „Histoire de la sexualité (dt.: Sexualität und Wahrheit)“, der den Titel „Die Sorge um sich selbst“ (Le souci de soi) trägt, gleichermaßen Töne zu vernehmen, die überhaupt nicht zum „Antihumanismus“ passen. So gehören für ihn zu einem wohl bedachten Begriff des „Individualismus“, den er offensichtlich allgemeiner fasst als nur im Hinblick auf die individualistischen Ideologien der bürgerlichen Gesellschaft. Er wirft für ihn drei Grundfragestellungen des Menschen auf, die er auch im Hinblick auf ihr Gewicht nach meinem Eindruck ausdrücklich nicht auf die Moderne eingeschränkt sieht: Denn nichts spricht gegen die „individualisti-

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sche Einstellung, gekennzeichnet durch den absoluten Wert, den man dem Individuum in seiner Einzigkeit beilegt, und durch den Grad an Unabhängigkeit, der ihm gegenüber von der Gruppe, der es angehört, oder den Institutionen, denen es untersteht, zugestanden wird; die Hochschätzung des Privatlebens, das heißt das Ansehen, in dem die familiären Beziehungen, die Formen der häuslichen Aktivität und der Bereich der Erbinteressen stehen; endlich die Intensität der Selbstbeziehungen, das heißt der Formen, in denen man sich selbst zum Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich nehmen soll, um sich umzubilden, zu verbessern, zu läutern, sein Heil zu schaffen“ (SdS 59). Aussagen wie diese scheinen auf die historisch wechselnden Arten und Grade der gleichwohl unverzichtbaren Selbständigkeit der Individuen als „Beschäftigung mit sich selber“ zu zielen. Sie erscheinen damit nicht länger nur als reine Struktur-Funktionäre oder Marionettenwesen. Und z. B. die Beschreibung, die der über die Jahrtausende hinweg einflussreiche Theoretiker der Moral: Epiktet (ca. 50–138) von der Sorge um sich selbst gibt, wertet er bestimmt nicht einfach als „humanistisch“ ab: „In den Gesprächen (Epiktets – J. R.) wird das menschliche Wesen definiert als eines, das der Sorge um sich selbst anvertraut ist. Darin unterscheidet es sich grundlegend von den anderen Lebewesen: die Tiere finden alles „bereitgestellt“, was sie zum Leben brauchen; denn die Natur hat alles so eingerichtet, dass sie zu unserer Verfügung stehen, ohne dass sie sich um sich zu kümmern brauchen, und ohne dass wir uns um sie zu kümmern brauchen“ (SdS 65) (vgl. Nietzsche 1954, S. 1266 f./Aphorismus 546). So ganz sollte das autonome Subjekt dann doch nicht aus den strukturalistischen Diskursen über „den Diskurs“, dem überindividuellen Statthalter für die alten Übersubjekte der Philosophiegeschichte verschwinden. Für einen „neuen Modus der Kritik“ plädiert Alex Demirović im Anschluss an einige Thesen Foucaults. Denn nach seinem Eindruck hat „die Aktivität der Kritik . . . ihre Selbstverständlichkeit verloren. Es wird versucht, die Kritik philosophisch neu zu begründen oder die Art und Weise ihres Argumentierens genauer zu bestimmen“ (Demirović 2008, S. 9). Gewiss hat sich Kritik als Gesellschaftskritik wohl nie durch eine unangetastete Selbstverständlichkeit ausgezeichnet, aber Demirović scheint eine Art Metakritik der Gesellschaftskritik der jüngeren Vergangenheit im Auge zu haben, die sich in einer „kritische(n) Wendung im Verhältnis zur Kritik“ offenbart (Demirović 2008, S. 9). Der offizielle Parteimarxismus, der ökonomistisch eingefrorene HISTOMAT bzw. DIAMAT, selbsternannte Sachwalter des absolut richtigen moralischen Kurses, aber auch die Psychoanalyse als „umfassende, umhüllende Theorie“ haben ihre Suggestivität verloren – und wurden durch die tiefgreifende Kultur- und Politikhegemonie des Neo-Liberalismus zurückgedrängt. Kritische, gegen Hauptströmungen wie den Marktradikalismus anschwimmende Theoretikerinnen und Theoretiker müssen nach Foucault daher „wieder ganz von vorne anfangen.“ Was kann überhaupt noch in einer Situation getan werden, „in der die bisherige implizite oder explizite Grundlage unserer Kritik weggebrochen ist“ (Foucault zit. Demirović 2008, S. 10). „Unserer“ Kritik? Gemeint ist die linke Kritik. Nachdem sie – wie im Falle des ehemaligen Vertrauens in die eindeutig festgelegte Rolle des Proletariats in einer Heilsgeschichte der fortschreitenden Emanzipation von Ausbeutung und Unterdrückung – ihren Boden unter den Füßen

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verloren hat, stellt sich weniger die Frage nach der Letztbegründung der Maßstäbe humanistischer Gesellschaftskritik als die „nach einer neuen Verankerung in der Wirklichkeit“ (ebd.). Mit einer festeren Verankerung der Kritik in der gesellschaftlichen Wirklichkeit war das allerdings immer schon, schon lange vorher so eine Sache. Denn diese wahrlich zentrale Frage nach den normativen Grundlagen von Kritik und ihrer Umsetzung in die Tat hat sich immer schon auf die geschichtlich verschiedensten Weisen gestellt. Nicht zuletzt deswegen, weil es nun einmal keine festen Garantien dafür gibt, dass eine noch so subtil begründete Theorie oder Philosophie praktisch wird. Auch nach meiner Meinung ist die „linke“ Praxisillusion von der fest bestimmten Rolle eines Subjekts der Geschichte in der Tat (mal wieder) in die Krise geraten (vgl. Ritsert 2012a). Dem Kutschertrauma mancher Gruppen, ja Individuen, welches sich in dem Gefühl äußert, irgendwie die Zügel der Weltgeschichte in der Hand zu haben oder wenigstens in einer privilegierten Rolle einsehen zu können, wohin der Karren notwendigerweise rollt, sind oftmals die Gäule durchgegangen. Wie Foucault mit Recht zu erkennen gibt, lassen sie sich auch nicht mehr einfangen. Doch das alles tangiert nicht im Geringsten die für Kritische Gesellschaftstheorien entscheidende „praktische“ Frage: Wie könnte eine „neue Verankerung“ kritischer Maximen in der veränderten Wirklichkeit aussehen? (Ritsert 2012a). Welche Potentiale in der gesellschaftlichen Realität – mit Marcuse ließen sie sich als „objektive Möglichkeiten“ bezeichnen – kommen kritischen Ideen bzw. Maximen entgegen oder auch nicht? Wie sehen die inneren Praxisbezüge (praktischen Implikationen) von Theorien aus? Was sind in dieser Situation halbwegs aussichtsreiche Ansätze zur Bearbeitung praktischer Probleme vom Rang der Entsubjektivierung der Subjekte? Wenn eine Kritik wirksam würde, die sich nicht länger geschichtlicher Zielsetzungen und Entwicklungsnotwendigkeiten gewiss glaubt und gesinnungsethisch verankert wird, dann könnte sie womöglich dennoch „die Gesellschaft gleichsam vor sich her“ treiben, und „vorhandene Interessenlagen, Institutionen und Identitäten“ auflösen sowie „zur Bildung neuer“ beitragen. „Dieser Prozess ist konstitutiv für Demokratie“. Diese kann deswegen als auf Dauer gestellte, als institutionalisierte Revolution begriffen werden (Demirović 2008, S. 21). Doch auch dieses flexibilisierte Verständnis von Kritik kann den Fragen, wohin genauer sie die „Gesellschaft treiben“ möchte und was ihre allgemeinen Zielsetzungen bei diesem Vorhaben seien, nicht aus dem Wege gehen. Dementsprechend erwähnt Alex Demirović (im Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe) „Freiheit und Gleichheit“ als Prinzipien dieses Kalibers. Dem würde ich unbedingt „Gerechtigkeit und Vernunft“ hinzufügen! (vgl. Ritsert 2012b). Es ergibt sich dann eher das Problem, wie die tatsächliche Heterogenität scheinbar homogener Substantive wie „die Freiheit“ zu berücksichtigen sowie ihr Status als höchstrangige „Maßstäbe“ einzuschätzen ist. Zu berücksichtigen ist überdies, dass sie nicht über der Geschichte, sondern in der Geschichte stehen, ohne deswegen historisch „relativ“ zu sein. Dazu passt in der Tat ein klassischer Typus der Kritik, der in der Tradition des Hegelmarxismus seit Georg Lukaćs bis hin zu Adorno oder auch Habermas steht: Er zielt darauf, „die sozialen Verhältnisse ihres verdinglichten Scheins, ihrer Naturhaftigkeit zu entkleiden, ihre Fixiertheit erneut zu verflüssigen, und sie von neuem für Praxis zu öffnen“ (Demirović 2008, S. 22).

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Kritik in der allerallgemeinsten Perspektive bedeutet Problematisierung überhaupt. In der Tat: „Die Auflösung von Normalismen, logisch erscheinenden Artikulationen, Ordnungen, Identitäten ist ein wichtiger Betrag der Kritik“ (Demirović 2008, S. 26). Kritik hat aber auch den Dogmatismus bei sich selbst zu scheuen. Die Logik der Kritik verlangt, „dass sie im Verhältnis zu sich selbst nicht affirmativ wird und sich bei dynamisierenden Interventionen bescheidet. Der Begriff der Kritik muss deswegen reflexiv radikalisiert werden . . .“ (Demirović 2008, S. 26). Man darf an dieser Stelle wohl den Verdacht äußern, dass man mit dem Bild einer radikal dynamisierten Kritik leicht zwischen zwei Extreme geraten kann, die Kritiker nachgerade zum dialektischen Denken nötigen müssten. Es handelt sich nämlich um eine Konstellation, die eigentlich die Struktur der „Vermittlung der Gegensätze“ in sich aufweist – wie es bei Adorno heißt. Deren eines Extrem lässt sich so bestimmen: Wiese Kritik überhaupt kein geschichtlich allgemeines Fundament mehr, also nur noch eines auf, das in veränderter historischer Situation stets völlig neu bestimmt werden muss, dann landete sie letztendlich beim bloßen Skeptizismus, der alles in den leeren Abgrund des Nichts wirft – nur sich selbst nicht. Alles fließt. Hinzu kommt der Sachverhalt, dass es aus schlichten logischen Gründen unterhalb von gods point of view weder eine völlig standpunktlose Kritik, noch eine rein immanente Kritik einer geschichtlichen Situation ohne jede Zutat von „außen“ geben kann. Das andere Extrem gründet in der Ansicht, es ginge mit der kritischen Haltung gegenüber dem Kapitalismus wie beim Rennen zwischen Hase und Igel zu: Die „Kritik wird absorbiert, durch die Kritik hindurch erneuert sich die kapitalistische Gesellschaftsformation und setzt die Kritik von neuem frei, um die Verhältnisse aufzustören. Sie trägt auf ihre Weise dazu bei, diese Verhältnisse auf einem immer höheren Niveau zu reproduzieren“ (Demirović 2008, S. 27). Das Kapital ist immer schon da – so könnte man z. B. einige Passagen z. B. bei Boltanski und Chiapello (2006) verstehen oder missverstehen (Boltanski und Chiapello 2006). Dem nämlichen Missverständnis können nur allzu leicht paradox klingende Formulierungen wie die folgende ausgesetzt sein: „Das Streben nach Freiheit durch Kritik führt nicht zur Freiheit, sondern vielmehr ist Freiheit ein Adjustierungsmechanismus, der zu den notwendigen Normalisierungsprozessen in der kapitalistischen Gesellschaft beiträgt; in einer endlich freien Gesellschaft hingegen müsste niemand mehr nach Freiheit streben“ (Demirović 2008, S. 28). Das klingt nach einem Prinzip Hoffnungslosigkeit, nach der negativen Utopie des sich immer wieder schließenden Gehäuses der Hörigkeit. Das System reproduziert nichts sonst als sich selbst. Es ist auch gegenüber Kritik unter Berufung auf Freiheit immer schon da. Denn es sieht so aus, als könne es sich verlässlich auf Mechanismen der Reaktion auf Krisen stützen, die stets zur Wiederanpassung auf einem „höheren Niveau“ führen (Positive Feed-Back-Schleife). Die zitierte freiheitstheoretische Aussage macht allerdings dann Sinn, wenn man davon ausgeht, sie setze (mindestens) zwei verschiedene Freiheitsbegriffe voraus. Im einen Falle zielt „Freiheit“ auf die Befreiung von Repression, Ausbeutung, Verdinglichung und Entfremdung. „Will die Kritik dieser Logik etwas entgegenstellen, dann muss sie radikal sein, sie muss . . . alle Verhältnisse kritisieren, unter denen die Menschen geknechtet, verlassen und verächtlich sind“ (Demirović 2008, S. 29). Das Schlagwort dafür ist „Emanzipation.“ Danach müsste unter den Bedingungen der positiven Utopie einer „versöhnten Gesellschaft“

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(Adorno) oder des „Reichs der Zwecke“ (Kant) in der Tat niemand mehr streben. Aber es kommt zwangsläufig noch ein zweiter, ein substantieller Freiheitsbegriff ins Spiel. Denn das „Reich der Zwecke“ zeichnet sich durch anerkannte Willensfreiheit (Autonomieprinzip) aus. Warum sollte man auch überhaupt noch Gesellschaftskritik betreiben, wenn der Logik des Hase-und-Igel-Prinzips tatsächlich die uneingeschränkte Wirksamkeit nachgesagt werden könnte? Man kann dieses „Immer schon da“ vielleicht als pessimistische Prognose über die absehbare Entwicklung des Kapitalismus lesen. Aber wo es mit der modernen Gesellschaft lang gehen wird, kann niemand mit jenem Grad der Gewissheit voraussagen, welcher dem Fallgesetz eignet. Es ist wie beim berühmten „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“. Auch dabei handelt es sich um alles andere als ein Quasi-Naturgesetz, das die Vorhersage eines notwendigen Zusammenbruchs des Kapitalismus erlaubte. Es stellt vielmehr die gedankliche Verlängerung eines durch Statistiken gestützten und historisch möglichen Trends dar, eine Prognose, die jedoch unter dem starken Vorbehalt einer Menge nur teilweise erfasster und erfassbarer Randbedingungen steht. Ceteris Paribus. (Bekanntlich kann man eine jede empirisch falsifizierte Gesetzesannahme durch den Hinweis auf veränderte oder nicht erfasste Randbedingungen aufrechterhalten.) Andererseits sind wir allein schon bei unseren alltagsweltlichen Handlungen grundsätzlich auf mit einiger Wahrscheinlichkeit zutreffende Prognosen angewiesen. Wir hegen Erwartungen über die (wahrscheinlichen) Handlungen von Personen in bestimmten Situationen. Sie treffen erstaunlich oft zu. Wir hegen auch über das, was sie tun sollten Erwartungen, denen die tatsächlichen Handlungen anderer Subjekte oftmals – beileibe nicht immer – entsprechen. Auch unsere Erwartungen über das, was sie von uns selbst erwarten, stehen – anders als etwa bei der Himmelsmechanik – unter einem erheblichen Risiko. Aber wehe, wenn es in all diesen prognostischen Fällen keine Gewissheiten gäbe, auch wenn sie äußerst selten „absolut“ sein können. Kurzum: Die kritische Analyse der modernen Gesellschaft ist in der Tat „nicht objektivistisch zu denken, die Wahrheit besteht nicht in einer prophetischen Rede, in der Verkündung der tiefen historischen Gesetzmäßigkeiten, so als hätten sie mit den Kritikerˍinnen nichts zu tun“ (Demirović 2008, S. 34). Wie immer die Spielarten des Themas bei den verschiedenen Individuen und Gruppen aussehen, die das Projekt einer Kritischen Theorie der Gesellschaft fortführen wollen, Variationen des Autonomieprinzips bilden den Dreh- und Angelpunkt sämtlicher Antworten auf das berüchtigte „Maßstabsproblem.“ Man findet diese Verankerung auch im hübschen bon mot von Michael Walzer wieder, auch wenn man über den Kapitalismus wohl kaum etwas Relevantes ohne Kapitaltheorie sagen kann: „Menschen zu schinden“ ist „falsch, ganz gleich, ob die Marxsche Wertlehre“ zutrifft oder nicht (Demirović 2008, S. 13).

6 ÄT: BN:

Siglen Verzeichnis Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. Herbert Marcuse: Zum Begriff der Negation in der Dialektik, in: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969, S. 185 ff.

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DdA: DE:

ED: EM: GMS: GN: GS: IKT: LUW: RPh: SdW: TKH I: TKH II: Soz: VND: WiK:

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Grundbegriff: Kritik

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Kritische Theorie als reflektierter Marxismus Alex Demirović

Zusammenfassung

Ausgehend vom Selbstverständnis der Vertreter der Kritischen Theorie, dass diese eine Reflexion auf den Marxismus und gleichzeitig dessen kritische Fortsetzung sei, legt der Text dar, dass Horkheimer und Adorno an einer Konzeption des offenen Materialismus und der offenen Dialektik gearbeitet haben, die zentrale Begriffe der Theorie von Marx in eine historische Perspektive rückt. Dem Anspruch nach zielt die Kritische Theorie auf eine Bestimmung des systematischen Zusammenhangs der kapitalistischen Gesellschaft in ihrem geschichtlichen Verlauf. Doch wird auch danach gefragt, was die jeweils historisch spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen für eine solche spezifische Totalität sind, ob es tatsächlich zur Einheit einer Gesellschaft kommt und ob ein solches Ziel aus Gründen der Emanzipation nicht ebenso wie andere zentrale bürgerliche Begriffe auf bestimmte Weise negiert werden müssten. Es gehört zu den besonderen Leistungen der Kritischen Theorie, nicht nur den Anspruch eines theoretischen und empirischen Forschungsprogramms zur Analyse der kapitalistischen Gesellschaft erhoben, sondern es in vielen Einzelbeiträgen hinsichtlich einzelner Bereiche auch umgesetzt zu haben.

Schlüsselwörter

Marxismus · Materialismus · Basis-Überbau · Totalität · Ideologie · Kultur · Theorie-Praxis · Individuum · Psychoanalyse

A. Demirović (*) Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_2

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Das Projekt einer Theorie der Gesellschaft als ganzer

Es entspricht dem Selbstverständnis der älteren Kritischen Theoretiker, ihre Theorie als kritische und reflektierte Fortsetzung nicht nur der Marxschen, sondern der marxistischen Theorie zu begreifen. Kritische Theorie könne nicht, so Adorno, Wissenschaft sein wie Marx und Engels es postuliert hätten, weil Wissenschaft verflochten sei in die Produktionsverhältnisse. Damit unterliege sie jener Verdinglichung, „gegen welche die kritische Theorie sich richtet“ (Adorno [1969]/2003, S. 292). „Das heißt soviel wie daß in der kritischen Theorie der Marxismus – ohne daß er aufgeweicht würde – sich selbst kritisch reflektieren muß.“ (Adorno [1969]/2003, S. 292). Kritische Theorie bewegt sich im Rahmen der Theorie von Marx, sie bezieht sich mehr oder weniger ausdrücklich auf deren Begriffe und Theoreme; von dort bezieht sie viele ihrer grundsätzlichen Fragestellungen, kritisch beruft sie sich auf politische und theoretische Traditionen im Marxismus. Gleichzeitig verändert sie aber auch das Verständnis dessen, was als die Theorie von Marx und als Marxismus gelten kann. Denn der Marxismus, das besagt die Formulierung, kann sich angemessen nur fortsetzen lassen und Kontinuität gewinnen, wenn er sich in der Form der kritischen Gesellschaftstheorie kritisch reflektiert; das heißt auch: sich durch diese Reflexion hindurch verändert, gerade dadurch immer noch Marxismus bleibt und auf neue Weise Marxismus wird, nicht jedoch in irgendeine Spielart von kritischer Sozialtheorie oder Postmarxismus übergeht. Es gibt offensichtlich gute, sowohl in der Theorie als auch in der historischen Entwicklung liegende Gründe dafür, dass der Marxismus über sich selbst kritisch nachzudenken hat: die Bedeutung und Funktion des Wissens von Marx und seiner Nachfolger/-innen im Zusammenhang und in der Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, das Scheitern der Aufklärung in den jeweils langen Restaurationsphasen in den vergangenen zweihundert Jahren, die Regressionen innerhalb des sozialistischen Projekts, wie sie seit der Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg und der Stalinisierung der kommunistischen Bewegung seit den 1920er-Jahren immer wieder beobachtet werden konnten. Die kritische Theorie, in einem nicht-schulischen, nicht-akademischen Sinn, ist historisch gerade diese theoretischreflexive Praxis. Das ist anspruchsvoll gedacht und hat eine jahrzehntelange theoretische Arbeit angetrieben. Die Bemühungen Horkheimers und Adornos müssen im Lichte dieser Aufgabenbestimmung gesehen werden: die einer kritischen Reformulierung des Marxismus auf der Grundlage von historischen Erfahrungen in Theorie und Praxis und veränderten empirischen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft. Anspruchsvoll auch deswegen, weil Horkheimer und Adorno tatsächlich eine Vielzahl von marxistisch orientierten Autoren kannten und mit ihnen in einem – oftmals sehr kritischen – Austausch standen. Zwar war ihre Theoriebildung hinsichtlich ihrer systematischen Breite, der empirischen Kenntnisse und der theoretischen und politischen Radikalität sehr avanciert. Doch ist offenkundig, dass sie viele theoretische Debatten und wegweisende Beiträge zur marxistischen Theorie nicht kannten, nicht ernst genug nahmen oder bestimmte Entwicklungen in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht mehr oder allenfalls nur indirekt aufnahmen. Insofern beinhaltet das von Adorno formulierte Selbstverständnis durchaus auch eine hegelianisierende und usurpatorische Geste, die die Kritische Theorie als höchste Gestalt des Marxismus imaginiert. Es ergibt sich nämlich die Frage, welche Gestalt der Marxismus über die Reflexionsstufe der Kritischen Theorie hinaus

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annehmen könnte. Die Suggestion einer homogenen Geschichte, die in der Denktradition der Kritischen Theorie eine höchste Stufe erlangt, rächt sich an dem, was als „Frankfurter Schule“ verstanden wird. Denn das Argument legt nahe, dass diejenigen, die diesen Standpunkt einnehmen, qua Standpunkt und Erbe auch diejenigen sind, die den höchsten Stand der Theoriebildung verkörpern. Das Provinzielle und Sektiererische der akademischen Schulenbildung ist damit vorgezeichnet, die „Kritische Theorie“ wird zu einem Geschäftsmodell, zu einem ‚Brand‘, mit dem sich ganz verschiedene Produkte verkaufen lassen. Der Theorie jedoch geht gerade verloren, wofür sie eingetreten ist: eine offene Dialektik, die nicht alles auf das immer schon Bekannte reduziert (vgl. Adorno [1964]/ 2008, S. 135). Zudem ist es nur ein kleiner Schritt dahin zu glauben, durch eine Kritik an Adorno oder Horkheimer nächsthöhere Reflexionsstufen zu erlangen und sich damit auch des Marxismus entledigen zu können – dies dann als Fortschritt und nicht als Rückschritt und Verlust an Erkenntnis begreifend. Gleichwohl ist der von Adorno formulierte Anspruch auf eine kritisch-reflektierte Fortsetzung sowohl für das Verständnis der Kritischen Theorie als auch den Marxismus wegweisend. Die Kritische Theorie gibt ihm neue Impulse. Denn die Marxsche Theorie liegt ja nicht in einer umfassend ausgearbeiteten Form vor. Es ist durchaus umstritten, welchen Gegenstandsbereich sie konstituiert und wie umfangreich er zu verstehen ist. Unter marxistischer Theorie kann in einem engen Sinn die Kritik der politischen Ökonomie verstanden werden, die die Funktionsweise der kapitalistischen Produktionsweise zum Gegenstand hat (vgl. den Beitrag von Kößler & Wienold in diesem Handbuch). Nach diesem Verständnis trägt die Marxsche Theorie nicht unmittelbar zur Analyse der spezifischen gesellschaftlichen Prozesse, also zu Staat, Recht, Kunst, Familie oder Geschlechterverhältnis bei – oder anders: sie würde ihre Kompetenzen überschreiten, wenn sie mehr tun würde, als nur die Begriffe der politischen Ökonomie in ihrem Zusammenhang kritisch darzulegen. Die ältere kritische Theorie scheint stellenweise ein solches Verständnis des von Marx konstituierten Gegenstandsbereichs zu vertreten (vgl. Braunstein 2011). Demnach geht es ihr weniger darum, die Kritik der politischen Ökonomie weiter auszuarbeiten: also die Veränderungen zu bestimmen, die die Zentralisierungstendenzen der Unternehmen, die Arbeitsorganisation und die korporatistischen Absprachen zwischen den Verbänden, die Veränderung des Weltmarkts, die Ausdehnung staatlicher Interventionen, die Einrichtung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, die Zunahme an Qualifikationen, der Bedeutungszuwachs des zinstragenden Kapitals, die Stoffwechselprozesse mit der Natur für den idealen Durchschnitt des Kapitalverhältnisses spielen (vgl. Kößler und Wienold im Handbuch) – obwohl sich sagen lässt, dass Horkheimer und Adorno eine ganze Reihe von Veränderungen wahrgenommen und nicht zuletzt deswegen von Spätkapitalismus gesprochen haben (Horkheimer [1942]/1987; Gangl 1987). Doch haben sie diese Phänomene nicht systematisch als Herausbildung neuer Formen des Kapitalkreislaufs bestimmt. In ihren Analysen geht es vielmehr in kritischer Absicht darum, im Verhältnis von kapitalistischer Struktur und gesellschaftlich-empirischer Oberfläche die Folgen zu bestimmen, die eintreten, wenn die Logik des Äquivalententauschs das gesellschaftliche Leben erfasst, durchdringt und subsumiert. Dass dies in der Tradition nicht geschehen ist, halten sie für ein Defizit und den Grund dafür, dass die marxistische Theorie selbst vielfach positivistisch blieb, weil sie zu den Handlungsorientierungen nichts zu sagen hatte. Sie schlägt demgegenüber

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vor, die Begriffe des Kapitalverhältnisses (Ware, Wert) mit Blick auf ihre Auswirkungen für den Alltag, das Bewusstsein, die Einstellungen und Verhaltensweisen zu deuten (Verdinglichung, Integration). Theorie geht unmittelbar in kulturkritische Zeitdiagnose über. Deswegen können Adorno und Jaerisch ([1968]/1972, S. 186) schreiben: „Theorie und gesellschaftliche Physiognomik fusionieren sich.“ Dieses eher enge Verständnis des Gegenstandsbereichs der kritischen Theorie ist verbunden mit einem weiten Verständnis des Projekts einer kritischen Gesellschaftstheorie, die den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, die Gliederung der Gesellschaft, die Wechselwirkungen thematisiert. Es wird im Folgenden also zu erörtern sein, worin und auf welche Weise nach ihrem (Selbst-)Verständnis die kritische Theorie die marxistische Theorie aufgreift, fortsetzt, aktualisiert, weiter ausarbeitet und was dies genau für den Marxismus bedeutet. Diese Frage hat Horkheimer und Adorno selbst immer wieder beschäftigt. Ihre Antworten fallen in den mehr als vierzig Jahren ihres theoretischen Arbeitens durchaus unterschiedlich und mitunter sehr kritisch aus. Insgesamt ist es nicht einfach, die Frage zu beantworten. Dem Selbstverständnis ihrer Vertreter nach tritt die kritische Theorie nicht das vielleicht als lästig oder willkommen empfundene Erbe der Theorie von Marx an (vgl. Derrida 1995). Vielmehr bewegt sie sich im Horizont der marxistischen Theorie, sie stellt einen Beitrag zu dieser dar und ist als deren Fortsetzung zu verstehen – die kritische Theorie begreift sich demnach also nicht als eine beliebig andere und akademisch originelle Theorie einer Gruppe von Philosophen und Soziologen, die fünfzig Jahre nach dem Tod von Marx dessen Werk rezipieren und sich gelegentlich einmal dazu äußern. Was sie tut, ist dem Anspruch nach Marxismus – in dem für die Kritische Theorie spezifischen Sinn, dass die Theorie von Marx selbst eine zeitgemäße Gestalt der Aufklärung darstellt (Horkheimer [1968]/1985, S. 307, 313), und die kritische Theorie die durch Marx erneuerte Aufklärung ihrerseits unter historisch veränderten Umständen und auf höherer Stufenleiter fortsetzt (vgl. hierzu Tauber im Handbuch). „Verbindende Erkenntnis“ und „einheitliche Theoriebildung“, die auf einen Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung ziele, sei die intellektuelle Grundlage für die Bildung eines „Kreises der Träger“ der kritischen Theorie, die sich zum Zweck ihrer strengen Weitergabe am Institut für Sozialforschung herum zusammenfinden würden (Horkheimer [1937]/ 1988, S. 215). Es handelt sich also nicht um eine philosophische, soziologische oder sonstige Theorie, die den akademisch-bürgerlichen Bemühungen professioneller Intellektueller entspringt, die immer neue Systeme schaffen, Originalität beanspruchen oder neue Rechtfertigungen für Herrschaft liefern. Adorno formuliert das früh für sich deutlich: „Ich passe nicht herein, ich will keine Wissenschaft machen und keine Weltanschauung, sondern eben etwas prinzipiell anderes, was zu den akademischen Kategorien ganz disparat steht und was die Leute erbittert, die im Grunde doch immer noch aristotelisch oder hegelianisch nach dem Sinn von Sein fragen möchten.“ (Adorno an Kracauer, 29.05.1931, Adorno und Kracauer 2008, S. 275) Horkheimer notiert in den 1960er-Jahren: „Der Mensch ist ein Tier und die Vernunft ein Organ, kein Zweck an sich selbst. Das Marxsche wie das echte Evangelium sind keine Wissenschaft.“ (Horkheimer [1933b]/1988, S. 132) Durch eine Vielzahl von institutionellen Mechanismen – zu denen Tagungen, Monografien, Aufsätze, akademische Abschlussarbeiten gehören – wurde die kritische Theorie in den vergangenen

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Jahrzehnten fachwissenschaftlich diszipliniert. Dies geschah ihr nicht allein gleichsam von außen. Sie selbst wurde von ihren Vertretern nach der Rückkehr aus dem Exil im Kontext universitärer Disziplinen institutionalisiert, um einen Kontext zu schaffen, in dem sie tradiert werden konnte (vgl. Demirović 1999). Dies geschah mit erheblichem Vorbehalt und der Warnung vor dem Fetischismus der Wissenschaft (Adorno [1968]/1993, S. 214 f.). Es wird zu wenig ernst genommen, dass die Vertreter der kritischen Theorie nicht disziplinär orientieren wollten, sondern für eine eigene Form emanzipatorischer intellektueller Aktivität eintraten: umfassende Theorie der Gesellschaft – Theorie, die sich auf dem Niveau der fortgeschrittenen philosophischen und fachwissenschaftlichen Diskussionen bewegen und sich durch Kritik an ihnen entfalten sollte, weil diese den objektiven Geist verkörpern oder, Gramscianisch formuliert, organisch mit den herrschenden Klassen und der von ihnen organisierten Lebensweise verbunden sind. Die Theorie von Horkheimer und Adorno wird jedenfalls verrätselt, wenn einzelne Theoreme aus dem Zusammenhang ihres marxistischen Selbstverständnisses herausgenommen werden. Als das für sie Spezifische kann in einem vorläufigen Sinn gelten, dass die kritische Theorie nicht Kritik der politischen Ökonomie betreibt, ebenso wenig verfolgt sie einfach philosophische Fragen oder befasst sich mit Fragen der Kultur oder des Subjekts, sondern bemüht sich vielmehr um eine empirische Tatsachen und Entwicklungen aufnehmende und zeitdiagnostisch verdichtete kritische Theorie der Gesellschaft. Ihre jahrzehntelange Arbeit bündelt sich im Begriff der Vernunft: „Die kritische Theorie wird motiviert von einem veränderten Vernunftbegriff.“ (Adorno [1969]/2003, S. 292) 1931 übernahm Max Horkheimer die Leitung des Instituts für Sozialforschung. Das Institut ist das Ergebnis der Bemühungen, die Anfang der 1920er-Jahre mit Überlegungen von Felix Weil und Karl Korsch begannen, Treffen von marxistischen Intellektuellen zu organisieren, auf denen „Probleme des Marxismus“ diskutiert werden sollten. Ein solches Treffen, die „Erste Marxistische Arbeitswoche“ fand im Frühjahr 1922 in Ilmenau statt. Es nahmen neben anderen Franz Borkenau, Karl Korsch, Georg Lukács, Richard und Christiane Sorge, Felix Weil, Karl August und Rose Wittfogel sowie Friedrich Pollock teil (vgl. Migdal 1981, S. 34). Sie alle traten für eine sozialistische Transformation Deutschlands ein. Im Zentrum der Arbeiten insbesondere von Lukács und Korsch standen Bemühungen um ein neues, kritisches, praxisorientiertes Verständnis der Theorie von Marx, dessen Werk sie als eine materialistische Fortsetzung der Philosophie Hegels begriffen. Sie reagierten damit auf die historische Bedeutung der russischen Revolution und das Versagen der Sozialdemokratie, die mit ihrer parlamentarischen Zustimmung zu den Kriegskrediten den deutschen Expansionskrieg unterstützt hatte und sich nach dem Sturz der Monarchie im Bündnis mit monarchistischen und anti-republikanischen Militärs daran beteiligte, rätedemokratisch-sozialistische Bestrebungen zu bekämpfen. Dies führte bei all diesen Autoren zu einer kritischen Überprüfung des marxistischen Erbes in der sozialdemokratischen Tradition, der Attentismus, Objektivismus und Ökonomismus vorgeworfen wurde. Anders gesagt, es galt, den revolutionären, parteilich-aktiven Charakter der Theorie und gleichzeitig ihren besonderen, weitreichenden Erkenntniswert herauszuarbeiten. Der Stifter Felix Weil wollte, wie er

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rückblickend schrieb, dem Marxismus eine von jeder außerwissenschaftlichen Einmischung freie akademische Heimstätte schaffen. Die Gründung eines Instituts für Sozialforschung und die Einrichtung einer Professur an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität sollten „in erster Linie dem Studium und der Vertiefung des wissenschaftlichen Marxismus“ dienen (Felix Weil am 01.11.1929, zit. nach Wiggershaus 1986, S. 28; Migdal 1981, S. 38, 44 f., 80). Bereits unter dem Direktor Carl Grünberg, einem bekannten Austromarxisten und Wirtschaftshistoriker, war das Institut für Sozialforschung geprägt vom Marxismus als einer offenen, undogmatischen Theorie, die nicht ewige Gesetze unterstellt, auf die Erkenntnis zielt, sondern annimmt, dass es in der gesellschaftlichen Entwicklung zu steten Veränderungen kommt und gewonnene Resultate immer wieder kritisch revidiert werden müssen. Arbeitsschwerpunkte waren programmatisch die Geschichte sozialer Bewegungen und Theorien, des Sozialismus sowie die Kritik der politischen Ökonomie (vgl. den Beitrag von Krätke in diesem Handbuch). Mit der Übernahme der Institutsleitung durch Max Horkheimer, dem um ihn versammelten Kreis von Freunden und Mitarbeitern sowie der programmatisch gemeinten institutionellen Verlagerung des Instituts innerhalb der Universität von den wirtschaftlichen Staatswissenschaften zur philosophischen Fakultät änderte sich dies. Der Horkheimer-Kreis – zu dem im engeren Sinn Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno gehörten – konnte nun sein Verständnis von marxistischer Theorie zur Geltung bringen. In seiner Antrittsrede nimmt Horkheimer nur beiläufig Bezug auf Marx. Dies ist eine wichtige Geste, denn die eigenen Überlegungen werden durch Bezug auf anerkannte Autoren und deren Philosophien zu einer kritischen Zeitdiagnose zugespitzt. Damit entspricht Horkheimer in gewisser Weise methodisch der Anforderung von Marx, der Welt nicht doktrinär entgegenzutreten und ihr die wahren Parolen zuzuschreien, sondern zu zeigen, warum die Welt eigentlich kämpft und dass sie sich dieses Bewusstsein aneignen muss (Marx [1844]/1972, S. 345) – weil es rational ist und die Prinzipien expliziert, die in der konkreten Gesellschaft wirksam sind. Horkheimer entfaltet seine Gedanken, ohne sich philologisch jeweils unmittelbar bei Marx zu vergewissern und dessen Formulierungen zu interpretieren. Es wird also nicht so getan, als sei bei Marx alles gesagt und müsse nur im Lichte des Neuen umgedeutet werden – was am Ende nichts weiter wäre als eine Form hermeneutischer Gewalt, da so getan würde, als sei eigentlich gar nichts Neues zu erkennen, weil immer schon alles in den Texten von Marx enthalten sei und bei genauerer Interpretation hätte herausgelesen werden können; es würde so verkannt, dass auch Marx selbst durch Kritik an der politischen und ökonomischen Theorie zu historisch völlig neuen Formen der Erkenntnis gelangt war Das, was Horkheimer programmatisch und auf Marx gestützt entwickelt, ist als ein Beitrag zur Analyse der Krise in Deutschland und zu ihrer Überwindung zu verstehen. Diese Krise ergreift auch die Wissenschaften und schlägt sich im „Gelten verschiedenartiger Wirklichkeitsbegriffe“ (Horkheimer [1931]/1988, S. 27) nieder. Sozialphilosophie und Sozialwissenschaften bewegten sich in der Alternative, auf der einen Seite bloß weltanschaulich, bekenntnishaft von Ideen und Wesenheiten zu sprechen, auf der anderen Seite nur Tatsachen zu konstatieren. Als Ziel materialistischer Forschung gilt Horkheimer,

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Philosophie und Wissenschaft zu vereinigen (vgl. Horkheimer [1933a]/1988, S. 94 f.). Entsprechend formuliert er den Anspruch darauf, dass in planvoller Arbeit theoretische und empirische Erkenntnisse zusammengeführt werden sollen. Ziel ist die materiale Einschätzung der Gegenwart im Lichte von aufs Große zielenden, „aktuellen philosophischen Fragestellungen“, die besondere Forschungen anstoßen und Untersuchungen organisieren – gleichzeitig aber ihrerseits weltoffen genug sind, „sich vom Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verändern zu lassen“ (Horkheimer [1931]/1988, S. 29). Horkheimer wendet sich damit gegen eine doppelte Fehldeutung: die Philosophie ist nicht jener Bodensatz, der übrig bleibt, wenn alle konkreten Fragen an die empirische Forschung abgegeben werden, um dann noch lediglich die Funktion kompensatorischer Verklärung der Wirklichkeit zu erfüllen und die Versagung individuellen Glücks zu rechtfertigen; die Philosophie ist aber auch nicht jene Königswissenschaft, die die „entscheidenden Probleme behandle und dabei von Erfahrungswissenschaft unangreifbare Theorien, eigene Wirklichkeitsbegriffe, die Totalität umspannende Systeme konstruiere, während im Gegensatz dazu die Tatsachenforschung ihre langen, langweiligen, sich in tausend Teilfragen aufsplitternden Einzelerhebungen aufteile, um schließlich im Chaos des Spezialistentums zu enden“ (Horkheimer [1931]/1988, S. 29). Beide Arbeitsweisen sollen im Forschungsprozess einer am Institut für Sozialforschung dauerhaft einzurichtenden interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft zusammengeführt werden (vgl. Bonß und Schindler 1982). Daniel Hackbarth (2015, S. 56 ff.) weist darauf hin, dass diese Analyse unausgesprochen auch noch einen weiteren Zusammenhang kritisch adressiert. Denn Horkheimer kritisierte in der „Dämmerung“ (Horkheimer [1931]/ 1987, S. 373 ff.) an den beiden linken Parteien der Weimarer Republik, der KPD und der SPD, dass die eine zwar abstrakt und prinzipienfest an der Marxschen Theorie festhielt, ihr aber das Verständnis der Theorie fehlte: wohl träte sie für das Ziel der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse ein, analysierte jedoch nicht die konkrete Situation – die andere hingegen orientierte sich positivistisch an Tatsachen und hätte das Wissen um die Unmöglichkeit der wirksamen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verloren. Tatsachenkenntnis und Theorie wurden hier von den zwei linken Parteien zum Schaden der sozialistischen Bewegung und Ziele auseinandergerissen. Horkheimers skizziertes Forschungsprogramm kann demnach als Versuch gedeutet werden, diese Trennung zu überwinden und damit auch den Marxismus aus seinen theoretischen Sackgassen zu führen. Horkheimer verbindet mit der von ihm skizzierten Forschungsarbeit das Ziel der Förderung einer „Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft als ganzer“ (Horkheimer [1932a]/1988, S. 36); erstrebt wird die „Erkenntnis des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs“, „des historischen Verlaufs der gegenwärtigen Epoche“, der sich aus einer dem Begriff zugänglichen „Struktur wirkendender Mächte“ ergebe (Horkheimer [1932a]/ 1988, S. 38). Das Ziel ist die mit Geschichtsforschung und Soziologie verknüpfte „einheitliche Theorie“ des Verlaufs des Kräftespiels, das sich nach „außen als Kampf der großen nationalen Machtgruppen und nach innen als Gegensatz der sozialen Klassen“ darstellt (Horkheimer [1936a]/1988, S. 342). In einer solchen umfassenden Theorie der Gesellschaft, die zum Verständnis der Gegenwart, also einem kohärenten Begriff der Wirklichkeit gelangt, sieht Horkheimer den Beitrag des Instituts zur Über-

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windung jener Krise, die vom Übergewicht des Allgemeinen vor dem Lebensschicksal und dem Glück der Einzelnen verursacht wird. Offensichtlich bezieht sich Horkheimer auf das Marxsche gesellschaftstheoretische Modell von Basis und Überbau, betrachtet es aber nicht als ein Schema, das auf alle Fragen eine Antwort gibt, sondern als einen Begriff, der empirische Fragestellungen erzeugt (Horkheimer [1932b]/1988, S. 56, 58). Marx ([1859]/1974, S. 8 f.) schreibt, dass die Produktionsweise des materiellen Lebens den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt bedinge, also das gesellschaftliche Sein der Menschen ihr Bewusstsein bestimme. Horkheimer ([1937]/ 1988, S. 188) zufolge ist das Verhältnis von Sein und Bewusstsein bei den verschiedenen Klassen und im historischen Verlauf verschieden. Um diesen zeitlichen und sozialen Unterschieden Rechnung tragen zu können, reformuliert er die These als Fragestellung: Wie sind die verschiedenen Verläufe 1) des wirtschaftlichen Lebens der Gesellschaft, konkreter: einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe im Wirtschaftsprozess, 2) der von ihr hervorgebrachten Gedanken und Einrichtungen, also der „Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil usf.“ (Horkheimer [1931]/1988, S. 32) und 3) der psychischen Struktur und Entwicklung der einzelnen Mitglieder der gesellschaftlichen Gruppen – wie sind also die ungleichzeitigen Dynamiken der gesellschaftlichen Bereiche und ihr Zusammenhang zu begreifen? Es kommt mit diesen Überlegungen zu drei Verschiebungen gegenüber Marx: 1) Horkheimer wendet sich gegen Annahmen, in denen ein Erstes unterstellt wird: sei es die Behauptung, dass für überhistorisch gehaltene psychologische Eigenschaften des Menschen (Egoismus) oder dass geistige Gehalte das Handeln der Menschen (Religion, moralische Normen) bestimmten, sei es, dass die Wirtschaft für die einzig wahre Realität gehalten würde, aus der Recht, Kunst oder Philosophie als bloße Spiegelbilder abgeleitet werden könnten. Letzteres hält Horkheimer für schlecht verstandenen Marx, weil damit undialektisch Geist und Wirklichkeit geschieden würden. Problematisch erscheint ihm aber offensichtlich auch die identitätsphilosophische Annahme, dass die drei Sphären sich jeweils entsprechen müssten. Gegen eine dogmatische Vorentscheidung plädiert er also dafür, die geistigen, die psychologischen und die materiellen Prozesse als drei Verläufe zu begreifen, die nicht nur auf historisch je spezifische Weise eine Einheit bilden, sondern sich auch in einem Verhältnis der Ungleichzeitigkeit zueinander befinden, weil sie jeweils ihrer Logik und ihrem Rhythmus folgen. 2) Horkheimer erweitert die zu untersuchenden Bereiche der verschiedenen Überbauten um Sport, öffentliche Meinung oder Vergnügungsweisen. Damit gibt er der Überbautheorie nicht nur eine empirische Ausrichtung, sondern trägt umfassenden alltagskulturellen Praktiken Rechnung; ebenso kommt damit in den Blick, dass auch die Subalternen von den Überbauten erfasst sind. 3) Dort, wo Marx die Produktionsweise des materiellen Lebens vom Bewusstsein unterscheidet, führt Horkheimer nun noch zusätzlich die psychischen Vorgänge in den Individuen als Vermittlung zwischen Basis und Überbau ein. Was in dem Antrittsvortrag als Programm angedeutet ist, wird in den nächsten Jahrzehnten wenigstens partiell ausgearbeitet, verfeinert und Gegenstand selbstkritischer Revisionen. Grundzüge der gesellschaftstheoretischen Überlegungen und Analysen dieser drei Verschiebungen werden in den folgenden drei Abschnitten skizziert.

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Zur Kritik der politischen Ökonomie

2.1

Materialismus und Kritik der Totalität

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Dem von Horkheimer angedeuteten umfassenden theoretischen Programm zufolge soll die Gesellschaft als ganze, also in ihrem inneren Zusammenhang, in der Wechselwirkung ihrer Bereiche ebenso wie in dem von diesem Zusammenhang bestimmten historischen Prozess und schließlich in ihrer gegenwärtigen Epoche erkannt werden (Horkheimer [1936a]/1988, S. 341, 343 f.). Marx hat für ein solches Verständnis der kapitalistischen Gesellschaftsformation die Grundlage gelegt. Gegen Hegel gewendet argumentiert er, dass die Gesellschaft nicht als ein einziges Subjekt betrachtet werden sollte, in der Produktion und Konsumtion identisch seien; das sei eine spekulative Betrachtung (Marx [1858]/1983, S. 29). Seinem Verständnis nach treten mit der besonderen historischen Epoche der bürgerlichen Gesellschaft die „vereinzelten einzelnen“, die ihre jeweiligen Zwecke verfolgen, aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus, die jetzt den einzelnen bloße Mittel für ihre Privatzwecke werden (Marx [1858]/ 1983, S. 20). Für die Ökonomie unterscheidet Marx kreislauftheoretisch Produktion, Konsumtion, Distribution und Zirkulation. Diese seien nicht identisch, sondern bildeten „alle Glieder einer Totalität, Unterschiede innerhalb einer Einheit“ (Marx [1858]/1983, S. 34). Wie wird nun diese Totalität bestimmt? Marx wendet sich an diesem Punkt entschieden gegen eine positivistische Wissenschaftsauffassung, die sich den kritischen Analysen von Horkheimer ([1937]/1988, S. 163 ff.) und Adorno ([1958]/2010, S. 186 ff., 210 ff.) zufolge bis zu Descartes zurückverfolgen lässt. Dieser unterstellt die Einheit der Welt, die von isolierten, einfachen Gegebenheiten induktiv und kontinuierlich in logischen Schritten zum Zusammengesetzten, Komplexen führt, bis schließlich aufgrund aufgehäuften Wissens in einem Annäherungsprozess ein abschließendes System unwandelbarer Naturgesetze aufgestellt werden könne (vgl. Horkheimer [1933a]/1988, S. 99). Einem solchen Verständnis gemäß kann das Neue nur als das Vorbestimmte erscheinen, „das somit in Wahrheit das Alte ist“ (vgl. Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 50). Gesetzmäßigkeiten können demnach nicht verändert werden; es ist ausgeschlossen, dass sie sich aus einer neuen, historisch spezifischen Praxis konkreter Menschen überhaupt erst ergeben. Marx zufolge ist die richtige wissenschaftliche Methode, mit abstrakten Bestimmungen das Konkrete zu erzeugen. Doch dürfe dies nicht, wie im Fall von Hegel, zu dem Missverständnis führen zu denken, dass das Reale das Resultat eines „sich selbst sich bewegenden Denkens“ sei und im Denken das Konkrete entstehe. Vielmehr sei die Methode, „vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren“. Die „konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum“ sei ein Produkt des Begreifens, ein Produkt des denkenden Kopfes, „der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet“ (Marx [1858]/1983, S. 36). Das reale Subjekt bleibe nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbstständigkeit bestehen. Marx lässt sich so verstehen, dass die Begriffe Wert, abstrakte Arbeit, Mehrwert, Akkumulation theoretische Begriffe sind, die auf eine Erklärung komplexer gesellschaftlicher Prozesse zielen, nicht jedoch bereits selbst schon zeitdiagnostisch gemeint sind (vgl. Kößler und Wienold im Handbuch).

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Wenn nun die Gesamtgesellschaft in ihrem Verlauf begriffen werden soll, stellen sich zwei Fragen: einmal die nach dem Ganzen und dem Standpunkt, von dem aus es überhaupt erkannt werden kann, da es ja nicht möglich ist, sich außerhalb zu stellen. Zweitens stellt sich die Frage nach dem historischen Ablauf, also danach, ob die Entwicklungen des Kapitalismus nur bestimmte Erscheinungsformen betreffen, sein Wesen davon aber unberührt bleibt. Umgekehrt wirft dies aber auch das Problem auf – Adorno folgt hier gern Hegels Überlegung, dass das Wesen erscheinen muss –, ab welchem kritischen Punkt relevante Veränderungen der Erscheinungen auf eine Veränderung des Wesens schließen lassen. Die Frage ist demnach, wie das Verhältnis von tief liegenden Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft, ihrer Dynamik ständiger Selbstrevolutionierung oder Modernisierung und den historischen Veränderungen an der empirischen Oberfläche, den politischen Tagesgeschäften, den kulturellen Moden, den alltäglichen Handlungen und Gewohnheiten der Individuen sowie ihr Alltagsbewusstsein bestimmt ist – und von welchem Punkt an auf all den an der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens erfahrbaren Veränderungen sich auch die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft qualitativ derart verändert, dass die Marxschen Begriffe sich als nicht mehr geeignet erweisen. Es bedarf der dialektischen Theorie, dieses Verhältnis eines Ganzen, das sich ständig ändert und doch mit sich identisch bleibt, zu begreifen. In der marxistischen Tradition hat insbesondere Georg Lukács den Hegelschen Begriff der Totalität zur Geltung gebracht (vgl. Jay 1984). Ihn beschäftigte in „Geschichte und Klassenbewußtsein“, einem maßgebenden Werk des sog. Westlichen Marxismus (vgl. Anderson 1978), die dann auch für Horkheimer relevant werdende Frage, ob und in welcher Weise die Theorie von Marx Jahrzehnte nach seinem Tod und unter veränderten historischen Umständen (organisierter Kapitalismus, unerwartete sozialistische Revolution in einem vorwiegend agrarischen Land, Demokratie und Faschismus) noch aktuell sei.1 Lukács folgend wäre denkbar, dass sämtliche einzelnen Aussagen von Marx als sachlich unrichtig nachgewiesen werden könnten, ohne dass die „marxistische Orthodoxie“ aufgegeben werden müsste. „Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode. Sie ist die wissenschaftliche

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Dies kann bedeuten, dass die Marxschen Begriffe in wissenschaftlicher Hinsicht nicht prinzipiell falsch, aber doch nur zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt richtig waren, durch die weitere gesellschaftliche Entwicklung dann aber ihre Gültigkeit verloren haben. Das führt zu der daran anschließenden Frage, ob es tiefer liegende Strukturen gibt, die die von Marx analysierten kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten selbst noch bestimmen – oder ob die kapitalistische Produktionsweise sich nach der von Marx bestimmten Dynamik intern derart verändert (bürgerliche Maßnahmen zur Eindämmung von Konkurrenz, Verhinderung von Krisen oder Pazifizierung des Klassenkonflikts durch allgemeine, gleiche Wahlen, den Wohlfahrtsstaat, durch sozialpartnerschaftliche Absprachen), dass die ursprünglichen Begriffe nicht mehr oder nur noch teilweise gelten. Marx selbst hat bis in die letzten Lebensjahre immer wieder kritisch geprüft, welche Begriffe den „idealen Durchschnitt“ der kapitalistischen Produktionsweise ausmachen, welche logisch und nicht nur historisch von Bedeutung sind. Die Frage nach Kontinuitäten und Veränderungen in der Gestalt des Kapitalismus hat viele Analysen bestimmt (Finanzkapital, Monopolkapital, fordistischepostfordistische Regulationsweise). Die Kritische Theorie hat vorgeschlagen, den internen Wandel als Spätkapitalismus zu bestimmen (Adorno [1968a]/1972).

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Überzeugung, daß im dialektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, daß diese Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann.“ (Lukács [1923]/1968, S. 171) Das entscheidende Merkmal dieser Methode sei die materialistische Dialektik. Als revolutionär kann diese Dialektik gelten, weil aus der Beziehung der Theorie zum Gegenstand ihr praktisches Wesen entwickelt wird. Daraus resultiert eine Geschichtlichkeit der Begriffe, die Lukács stichwortartig andeutet: „Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Veränderung des Substrats der Kategorien“ (Lukács [1923]/1968, S. 175). Die Theorie steht nach diesem Verständnis nicht äußerlich einer Welt von isolierten Tatsachen gegenüber, sondern muss als Selbsterkenntnis der Wirklichkeit verstanden werden. Diese Wirklichkeit ist historisch konkret das Ergebnis einer von Menschen theoretisch vor-gedachten Praxis. In der Klassengesellschaft ist die emphatisch verstandene Theorie die Theorie jener Klasse, die mit ihrer Arbeit die gegenständliche Welt erzeugt. Durch Selbsterkenntnis des Proletariats kann es deswegen zugleich zu einer richtigen Erkenntnis der ganzen Gesellschaft kommen. Demgegenüber ist für die bürgerliche Klasse methodisch die Erkenntnis der Welt eingeschränkt; sie bleibt bei der fetischisierten Erscheinungsweise von isolierten Tatsachen oder eigengesetzlichen Teilgebieten wie Ökonomie oder Recht, also an der empirischen Oberfläche stehen. Aufgabe der dialektischen Theorie ist es demgegenüber, die „konkrete Einheit des Ganzen“ in den Blick zu nehmen und den Schein als Schein zu enthüllen (Lukács [1923]/1968, S. 177); die „die Wirklichkeit verhüllende Funktion des fetischistischen Scheins, der alle Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft umgibt“ (Lukács [1923]/1968, S. 186), und den Gegenständen und entsprechenden Kategorien eine „Ewigkeitshülle“ und „Dinghaftigkeitshülle“ verleiht, zu zerreißen, „um den Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit freizulegen“ (Lukács [1923]/1968, S. 187). Es müssen jene Vermittlungen gefunden werden, durch die die Erscheinungen auf ihren „Kern, auf ihr Wesen bezogen und in ihm begriffen“ werden, so dass ihr Schein als eine „notwendige Erscheinungsform“ jenes Wesens deutlich wird. Die dialektische Methode ermöglicht die Erkenntnis, dass auch „falsche Begriffe aufgrund ihrer methodischen Funktion, die sie als aufgehobene Momente in der Totalität erhalten, zu ihrer richtigen Bedeutung gebracht werden können“ (Lukács [1923]/1968, S. 168). Erst eingefügt in die Totalität, wird es möglich, die einzelnen Tatsachen als Momente der geschichtlichen Entwicklung, als Ergebnis von historisch konkreter Praxis und damit die Wirklichkeit zu erkennen (vgl. zum Gesellschafts- und Totalitätsbegriff auch die Beiträge von Zuckermann, Ludwig und Freytag im Handbuch). Die Begriffe werden also nicht einfach als falsche ausgeschieden und verworfen, sondern selbst als Momente dechiffriert, die objektiv wirksam sind. Erscheinungen sind demnach mehr als Erscheinungen des Wesens, weil sie das Wesen vermitteln und deswegen auf es einwirken. Horkheimer übernimmt diese Fragestellung von Lukács. Auch er stellt sich die Frage nach der Orientierung an der Marxschen Theorie für den Fall, dass sie sich nicht bewährt. Dabei geht es ihm nicht um den prognostischen Gehalt der Theorie, sondern darum, dass die großen Aufgaben der Gesellschaft nicht gelöst werden (Horkheimer [1934]/1988, S. 192) und dass Einzelne und Gruppen, die für eine

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vernünftige Verfassung der Gesellschaft eintreten, Niederlagen erfahren und die Gesellschaft selbst sich rückläufig entwickelt. Die Erkenntnis der untergehenden Kämpfer werde nicht dadurch zuschanden, so Horkheimer, dass die Menschheit in Bomben und Giftgas verkomme. Die Bewährung der Wahrheit bemesse sich nicht an einfachen pragmatischen Erfolgen; die Grundstruktur der Theorie werde durch Rückschläge und Niederlagen nicht ausgelöscht, da eben Theorie und Praxis nicht identisch sind und nur in besonderen Konstellationen übereinstimmen (vgl. Horkheimer [1935]/1988, S. 304 f.). Zur Beurteilung der Entwicklung der Praxis ebenso wie der von Theorien bedürfe es einer „Theorie der Gesamtgesellschaft“ (Horkheimer [1935]/1988, S. 307), die auf dem jeweils höchsten Erkenntnisstand die Begriffe und gesellschaftlichen Entwicklungen nach Gesichtspunkten des möglichen, noch nicht vollendeten geschichtlichen Prozesses beurteilt. Dies berühre jedoch auch die Gestalt der Theorie und den Sinn ihrer Begriffe. Auch sie würden „in der Zeit einen Wandel ihrer Funktion“ im Erkenntnisganzen erfahren. Dies betrifft Horkheimer zufolge Begriffe wie Basis-Überbau, Geschichte, Gesellschaft, Fortschritt, Wissenschaft und schließlich auch Dialektik selbst. Die Dialektik, mit der allgemeinste Bewegungsgesetze des Denkens bezeichnet würden, die aus der bisherigen Geschichte abstrahiert worden seien, erscheine als relativ konstant. Doch mit den Veränderungen eines Gegenstandsgebiets verliere auch dieses Denken seine Grundlagen und seine Gültigkeit als Form der Theorie (Horkheimer [1935]/1988, S. 311). Damit weist Horkheimer entschieden auf den historischen Charakter des Marxschen Materialismus hin. Gleichzeitig betont er aber die fortbestehende Gültigkeit der Theorie. „Die kritische Theorie hat nicht heute den und morgen einen anderen Lehrgehalt. Ihre Änderungen bedingen keinen Umschlag in eine völlig neue Anschauung, solange die Epoche sich nicht ändert. Die Festigkeit der Theorie rührt daher, daß bei allem Wandel der Gesellschaft doch ihre ökonomisch grundlegende Struktur, das Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt, und damit auch die Idee seiner Aufhebung identisch bleibt. Die hierdurch bedingten entscheidenden Züge des Inhalts können sich vor dem geschichtlichen Umschlag nicht ändern.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 208) Gegenwart ist demnach kein kurzer zeitlicher Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern bestimmt durch eine spezifische soziale Struktur, die den Rhythmus der zeitlichen Entwicklung und die Ordnung der Dinge über einen längeren Zeitraum festlegt. „Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik der politischen Ökonomie erfaßt. Aus dem allgemeinen Grundbegriff der Ware wird hier in rein gedanklicher Konstruktion der des Wertes abgeleitet. Aus ihm entwickelt Marx die Kategorien von Geld und Kapital in einem geschlossenen Zusammenhang; alle historischen Tendenzen dieser Form der Wirtschaft, die Zusammenballung der Kapitalien, die sinkende Verwertungsmöglichkeit, Arbeitslosigkeit und Krisen sind mit diesem Begriff gesetzt, werden in strenger Folge abgeleitet. Zwischen dem ersten allgemeinsten Begriff, dessen Abstraktheit mit jedem theoretischen Schritte weiter überwunden wird, und den einmaligen historischen Verläufen soll zumindest der theoretischen Intention nach – ein geschlossener gedanklicher Zusammenhang bestehen, in dem jede These notwendig aus der ersten Setzung, dem Begriff des freien Tausches von Waren folgt. Gemäß der theoretischen Absicht, deren Gelingen hier nicht untersucht wird, soll die Erkenntnis aller gesell-

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schaftlichen Prozesse auf ökonomischen, politischen und allen übrigen kulturellen Gebieten aus jener ursprünglichen Erkenntnis vermittelt werden.“ (Horkheimer [1935]/1988, S. 311) Die gegenwärtigen Zustände müssen aus dem „Begriff des einfachen Tauschs“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 200) entwickelt werden. Dies führt logisch zur Darstellung der ökonomischen Kategorien wie Ware, Geld, Kapital, Arbeit, Wert, Mehrwert, Produktivität, Profit, Klasse. Die Begriffe müssen in der ganzen Schwere ihrer strengen und notwendigen Systematik ernst genommen werden, um aus ihrem Zusammenhang die zwangsläufig sich einstellenden Krisen, Gegensätze, Kriege und Revolutionen abzuleiten. Die Aufgabe der Theorie besteht nicht allein in der Darlegung der Begriffe und ihres systematischen Zusammenhangs, die Theorie bleibt nicht bei der Deduktion und dem Nachweis der Notwendigkeit stehen, ihr geht es nicht um wissenschaftliche Hypothesen. Vielmehr sei die „kritische Gesellschaftstheorie als ganze ein einziges entfaltetes Existenzialurteil“ (Horkheimer [1937]/ 1988, S. 201). Die Kritik geht mit Marx und der kritischen Theorie also über das Kantische Verständnis hinaus: Sie zielt nicht darauf, Fehlschlüsse der Vernunft dadurch zu vermeiden, dass sich diese auf die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit besinnt, sondern will solche Grenzen aufsprengen, indem sie jene Bedingungen und Formen in Frage stellt, die es mit sich bringen, dass das Zusammenleben nicht frei nach vernünftigen Gesichtspunkten organisiert wird. Argumentiert wird für ein kritisches Verhalten, „das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 180) und anti-autoritär nicht den Maßstäben vertraut, die das herrschende gesellschaftliche Leben vermitteln, also für eine radikale Haltung der Verurteilung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien, für die Emanzipation von einer „dumpfen Seinsform“ und das Ziel einer „Veränderung des Ganzen“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 182) eintritt. Adorno wird diese von Horkheimer vorgeschlagene kritische Haltung in seinen Kommentaren zu Hegel als ein wesentliches Merkmal von Dialektik bestimmen. Nur durch die „Übermacht der Welt über das Subjekt hindurch“ könne sich die Bestimmung des Menschen realisieren. Dieser „soll noch die ihm feindlichen Mächte sich zueignen, gewissermaßen in sie hineinschlüpfen“. Nicht von oben her und äußerlich soll über den Gegenstand geurteilt und dieser kritisiert werden, das Allgemeine nehme immer die Gestalt des Besonderen an. „Fruchtbar ist nur der kritische Gedanke, der die in seinem eigenen Gegenstand aufgespeicherte Kraft entbindet; für ihn zugleich, indem sie ihn zu sich selber bringt, und gegen ihn, insofern sie ihn daran mahnt, daß er noch gar nicht er selber sei.“ (Adorno [1963]/ 1971, S. 318) Dialektisches Denken erstarre jedoch nicht vor den Gegenständen und Tatsachen. Adorno begreift es als organisierten Widerspruchsgeist, es sei listig und erhoffe „sich den Sieg über die Übergewalt der Welt, die es ohne Illusion durchschaut, davon, daß es diese Übergewalt gegen sie selber wendet, bis sie ins Andere umschlägt“ (Adorno [1963]/1971, S. 287). In einer Art Judo-Technik schmiegt sich das dialektische Denken dem Gegenstand an und eignet sich dessen Schwere zu, nicht jedoch, um sich ihm zu unterwerfen. Im Gegenteil. Erst dort, wo Dialektik sich mit der „schmerzhaften Erfahrung“ von der Herrschaft der Fakten vollgesogen habe und sich mit dem Widerstand des Seienden sättige, hebe sie an und sprenge

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auf (vgl. Adorno [1963]/1971, S. 318, [1968a]/1972, S. 357). Indem der Gedanke ausspreche, was ist, spreche er auch aus, dass es nie ganz so sei. Er bewege sich durch festgehaltene Differenz, ihm sei ein Element von Übertreibung wesentlich. Dadurch löse er sich von der Schwere des Faktischen (vgl. Adorno [1951]/1980, S. 142). Welche Kraft ist es, die der Gedanke gleichsam spielerisch durch Aussprechen freisetzt? Die Vernunft. „Die Vernunft kann sich selbst nicht durchsichtig werden, solange die Menschen als Glieder eines vernunftlosen Organismus handeln.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 182) Es müssen also mit, durch und für Vernunft die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst verändert werden, damit diese vernünftig werden, sie wirklich begriffen werden können und sich die Vernunft, die in dieser objektiven Wirklichkeit wirksam wird, sich selbst in ihr auch (wieder)erkennen kann. Auf diese Weise wird ganz materialistisch der Vorrang eines bestimmten Typs von Materialität selbst in Frage gestellt: die Abhängigkeit von Selbsterhaltung, Produktion, Eigentumsverhältnissen.

2.2

Die Historizität des Materialismus

Horkheimer und Adorno plädieren demnach für eine bestimmte Erkenntnishaltung des Materialismus. Positivistischer als der Positivismus, soll er die Tatsachen ernst nehmen. Dies beinhaltet, dem Gewicht, der Strenge, der Logizität und Systematizität der historisch geltenden Begriffe nicht auszuweichen (Horkheimer [1937]/ 1988, S. 182) und sie als Hinweis auf die konkrete Gestalt des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu deuten. Aber diese Haltung darf ihrerseits diese Begriffe nicht ontologisieren, sondern muss sich ihnen gegenüber frei verhalten und ihren historischen Charakter selbst noch in die Theorie mit hineinnehmen. Denn nur unter bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen ist die Gesellschaftstheorie von ökonomischen Begriffen bestimmt; und nur dann erweist es sich als wahr, die Begriffe überhaupt in einen solchen logisch zwingenden Zusammenhang zu bringen. „Dieser Versuch, die Theorie in der geschlossenen Gestalt eines in sich notwendigen Gedankengangs bis zu Ende durchzuführen, hat einen objektiven Sinn. In der theoretischen Notwendigkeit spiegelt sich die reale Zwangsläufigkeit, mit der in dieser Epoche die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens vor sich geht, die Selbstständigkeit, welche die ökonomischen Mächte den Menschen gegenüber gewonnen haben, die Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Gruppen von der Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Apparats. Daß die Menschen ihre eigene Arbeit nicht nach ihrem gemeinsamen Willen gestalten können, sondern unter einem Prinzip, das sie einzeln und in Gruppen einander gegenüberstellt, mit ihrer Arbeit nicht Sicherheit und Freiheit, sondern allgemeine Unsicherheit und Abhängigkeit hervorbringen; daß sie statt das unermeßlich gewachsene gesellschaftliche Vermögen zu ihrem Glück anzuwenden, in Elend, Krieg und Zerstörung geraten und anstatt die Herren die Sklaven ihres Schicksals sind – das kommt in der Form logischer Notwendigkeit zum Ausdruck, die der wahren Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft eigen ist. Es wäre daher eine verkehrte Ansicht, daß die Vorgänge in einer künftigen Gesellschaft nach densel-

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ben Prinzipien und mit derselben Notwendigkeit abgeleitet werden könnten wie die Entwicklungslinien der gegenwärtigen.“ (Horkheimer [1935]/1988, S. 312) Diese Überlegung ist für Horkheimers und Adornos Bestimmung des historischkritischen Charakters der Theorie von Marx zentral. Diese ist gültig, aber nur solange, wie bestimmte historische Verhältnisse bestehen, für deren Überwindung sie eintritt. Die theoretischen Begriffe haben eine konkrete Bedeutung für das Leben der Menschen: sie charakterisieren ihre gesellschaftliche Situation, in der diese gezwungen sind, ihre Lebenszeit und ihr Arbeitsvermögen auf einem Markt als Ware zu verkaufen; und sie erhalten das Lebensnotwendige nur als Ware, also nicht aufgrund ihrer Bedürftigkeit, sondern ihrer Zahlungsfähigkeit. Die Begriffe und ihre Darstellung werden auch in diesem Fall als eine zeitdiagnostische Physiognomie der Gesellschaft gedeutet. Um die historische Dynamik und Historizität der Theorie zu denken, ohne in eine überhistorische Geschichtsphilosophie auszuweichen, bezieht sich Horkheimer auf die Denktradition des Materialismus, zu ihm zählt er die Theorie von Marx ebenso wie die kritische Theorie. Der Materialismus bewegt sich nicht im selben epistemologischen Raum wie der Idealismus, es geht also nicht um eine andere Spielart der Metaphysik (vgl. auch Hackbarth 2015, S. 63; Abromeit 2011, S. 227 ff.; Schmidt 1983). Er bildet kein System, wie es für die Geschichte der Philosophie charakteristisch ist, sondern besteht, Horkheimer zufolge, aus einer Reihe von Gedanken und praktischen Verhaltensweisen. Die Unterstellung von Kritikern, wonach der Materialismus das Denken oder das Bewußtsein auf stoffliche Vorgänge wie mechanische oder nervliche Prozesse, reduziere, sei falsch. „Keineswegs ist der Materialismus auf eine bestimmte Auffassung von der Materie festgelegt.“ (Horkheimer [1933a]/1988, S. 95) Der Materialismus strebe keine einheitliche Struktur des Denkens an, er unterstelle keine Transzendenz jenseits des natürlichen Seins. Er wolle nicht, wie der Idealismus, begründen und rechtfertigen, er suche weder nach einem Unbedingten und Ersten noch nach letzten Gründen, von denen das persönliche Leben der Individuen abhängen soll, auch nicht nach einer zugrunde liegenden Wirklichkeit, und ebenso wenig – und das ist kritisch sowohl gegen den Positivismus als auch gegen das in der Sozialdemokratie und im Stalinismus verbreitete Verständnis von Wissenschaft gerichtet – nach unveränderbaren Gesetzen der Natur, für die in einem naturalistischen Fehlschluss der Anspruch erhoben wird, als Norm für das Handeln des Individuums zu gelten, das sich ihnen unterwerfen soll, um zu werden, was es seiner Bestimmung nach eigentlich immer schon ist. Die Metaphysik erhebe das Allerallgemeinste, „etwa die Elemente, welche allen Menschen aller Zeiten, aller Orte, aller Gesellschaftsschichten, ja, womöglich allem Dasein eigen sind, zum ‚Konkreten‘. Sie überbietet sich im Hervorbingen immer neuer Lehren, immer neuer Entwürfe, um dieses Letzte, Ursprüngliche, Konkrete zu entdecken und auf es zu verweisen.“ (Horkheimer [1933a]/1988, S. 92). Von solchen Entwürfen verspreche sich der Materialismus jedoch nichts. „Die Materie ist an sich selbst sinnlos, aus ihren Qualitäten folgt keine Maxime für die Lebensgestaltung: weder im Sinn eines Gebotes noch eines Musterbildes.“ (Horkheimer [1933a]/1988, S. 79) Wie unten noch deutlich werden wird, vertritt die kritische Theorie diese These nicht so entschieden, wie es hier klingt.

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Horkheimer hat ein historisch-konstruktivistisches Verständnis von Materie. Zwar anerkenne der Materialismus nur, was sich in der sinnlichen Erfahrung ausweise, doch die Beschaffenheit des Sinnlichen ändere sich historisch, ebenso die Beziehungen des ‚Subjekts‘ zu den ‚Gegebenheiten‘ (Horkheimer [1933a]/1988, S. 102). Der Begriff der Materie ist von der konkreten Praxis abhängig und gewinnt seine spezifische Bedeutung in der Theorie. Das Wissen ist immer endlich, historisch, konkret. Nicht das Denken werde vom Materialisten geleugnet, sondern seine Autonomie; er fasse es „immer als das Denken bestimmter Menschen in einer bestimmten Zeit“ (Horkheimer [1933a]/1988, S. 92). Das aber bedeutet für Horkheimer nicht, dass es beliebig ist. Auch dann, wenn man wissen kann, dass das jetzt gültige Wissen das Wissen konkreter Menschen zu dieser bestimmten Zeit ist und einmal nicht mehr gelten oder eine andere Bedeutung bekommen wird, ist es zum jetzigen Zeitpunkt für diese konkrete Gruppe von Menschen verbindlich, denn es gibt jenen absoluten Standpunkt nicht, von dem aus überhistorisch über Wahrheit entschieden werden kann. Streitigkeiten über das Materielle und Sinnliche, die historischen Veränderungen ebenso wie die Wahl von Begriffen, die Bestimmung der Begriffe in ihrem Verhältnis zueinander oder die Geltung der Theorie werden demnach in der Theorie selbst entschieden. „Indem ein Begriff in der dialektischen Konstruktion eines Geschehens eine bestimmte Rolle spielt, wird er zum unselbstständigen Moment eines gedanklichen Ganzen, das andere Eigenschaften hat als die Summe aller in es aufgenommenen Begriffe; dieses Ganze, die Konstruktion des bestimmten Gegenstands, kann freilich nur dann in einer der jeweiligen Erkenntnis angemessenen Weise zustande kommen, wenn die Begriffe in dem Sinn in es aufgenommen sind, der ihnen in den Systemen der Einzelwissenschaften, in den systematischen Inventaren wissenschaftlich fundierter Definitionen zukommt – soweit es sich überhaupt um Begriffe handelt, für welche Fachwissenschaften zuständig sind.“ (Horkheimer [1935]/1988, S. 316 f.) Dies führt Horkheimer zu der Einschätzung eines weitreichenden Funktionswandels des Materialismus. Der Materialismus des frühen Bürgertums habe auf die Vermehrung der Naturerkenntnis und eine umfassendere Beherrschung von Natur und Menschen gezielt. Das Elend der Menschen sei damit aber nicht beseitigt worden, sondern an die gesellschaftliche Struktur geknüpft. „Darum bildet die Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigen Materialismus.“ (Horkheimer [1933a]/1988, S. 84) Theorie der Gesellschaft ist als solche nicht selbstverständlich, weil das Bürgertum einem solchen Anspruch auf umfassendes Verständnis der eigenen Verhältnisse skeptisch bis feindselig gegenüber steht. Der Materialismus selbst, der wiederum gar nicht bestrebt ist, philosophische Denksysteme auszuarbeiten, wendet sich der Theorie zu, weil dies unter bestimmten historischen Bedingungen ein objektives Erfordernis ist und übernimmt damit die gesellschaftliche Funktion der Philosophie, das Bestehende zu kritisieren, um damit zu verhindern, dass Menschen sich individuell und wie zufällig an unzusammenhängende Ideen und Verhaltensweisen verlieren, „welche die Gesellschaft in ihrer jetzigen Organisation ihnen eingibt“ (Horkheimer [1940]/ 1988, S. 344). Die Form der Theorie und ihr Gegenstand stellen demnach eine historisch konkrete Praxis des Materialismus dar. „Der Materialismus der Gegenwart ist nicht

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vornehmlich durch die formalen Züge, welche gegenüber der idealistischen Metaphysik hervorzuheben sind, gekennzeichnet, sondern durch seinen Inhalt: die ökonomische Theorie der Gesellschaft.“ (Horkheimer [1933a]/1988, S. 104 f.). Anders gesagt: die materielle Produktion ist kein metaphysisch Erstes, kein Schlüssel, der Zugang zu jedem Geheimnis verschaffen würde. Dass die gegenwärtige Gesellschaftsform „in der Kritik der politischen Ökonomie erfaßt“ werde (Horkheimer [1935]/1988, S. 311), ist aber nicht beliebig und zufällig so, sondern ergibt sich als Erkenntnis dieser konkreten Wirklichkeit gerade aus einer Auseinandersetzung mit den einzelwissenschaftlichen Forschungen, die Marx zu seiner Zeit durchgeführt hat. „Im Kapital führt Marx die Grundbegriffe der klassischen englischen Nationalökonomie: Tauschwert, Preis, Arbeitszeit und andere nach ihren exakten Bestimmungen ein. Alle auf Grund der wissenschaftlichen Erfahrung damals fortgeschrittensten Definitionen werden herangezogen. Im Gang der Darstellung gewinnen jedoch diese Kategorien neue Funktionen; sie tragen zu einem theoretischen Ganzen bei, dessen Charakter den statischen Anschauungen, innerhalb deren sie entstanden sind, und vor allem ihrer unkritischen isolierten Anwendung widerspricht. Das Ganze der materialistischen Ökonomik ist dem System der klassischen entgegengesetzt, und doch sind einzelne Begriffe übernommen. Die dialektischen Bewegungsformen des Denkens erweisen sich als dieselben wie diejenigen der Wirklichkeit.“ (Horkheimer [1935]/1988, S. 317) Verzichtet hier Horkheimer auf seine konstruktivistische Auffassung der Theorie? Nimmt er an, dass es zu einer Identität von Theorie und Wirklichkeit kommt, sich die Theorie also derart an die Wirklichkeit angenähert hat, dass sich ihre logischen Operationen und Begriffe mit denen der Wirklichkeit decken? Nimmt der Materialismus die Gestalt der Gesellschaftstheorie und diese die Gestalt der politischen Ökonomie also nur deswegen an, weil diese unmittelbar der Wirklichkeit selbst entspricht? Überlegungen, die in diese Richtung weisen, legt Adorno nahe, wenn er über den Äquivalenttausch spricht. Er bezieht sich auf die Überlegung von Marx, wonach diejenigen, die eine Ware tauschen, in dem Akt des Tausches einen Vergleichsmaßstab in Anspruch nehmen und die Waren in etwas Drittem gleichsetzen. Dabei handelt es sich um abstrakte Arbeit, also die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeit zur Herstellung der Waren. Adorno nimmt an – anders als Marx, der argumentiert, dass es sich um einen theoretischen Begriff handelt, der eine Erkenntnis erzeugen soll, und anders als Horkheimer, der die Materie als sinnlos bestimmt – dass sich der begriffliche Prozess in der Wirklichkeit selbst vollzieht. „Die Abstraktion liegt also hier nicht in dem abstrahierenden Denken des Soziologen, sondern in der Gesellschaft selbst steckt eine solche Abstraktion, oder [. . .] es steckt in der Gesellschaft als einer Objektivität bereits etwas wie ein ‚Begriff‘.“ (Adorno [1968]/1993, S. 59) Die dialektische Lehre von der Gesellschaft beziehe sich auf diese in der Sache liegende Objektivität (vgl. Ludwig und Zuckermann im Handbuch). Der Begriff des Tausches sei keine leere Abstraktion, sondern impliziere mit all seinen zerstörerischen Folgen auch schon Kritik. „Der Übergang zur Kritik liegt also eben in dieser Einsicht in die Bestimmtheit, wenn Sie wollen, in den Begriffscharakter der objektiven Struktur selbst [. . .].“ (Adorno [1968]/1993, S. 60, vgl. auch S. 77)

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Horkheimer vertritt ein konstruktivistisches Argument, das nicht hegelianisierend die theoretischen Begriffe in der Wirklichkeit identifiziert. Er betont, dass sich die Marxsche Theorie in der kritischen Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Denkmaterial, nämlich einzelwissenschaftlichen Fragestellungen und Forschungsergebnissen, herausbildet und selbst die historisch konkrete Erkenntnispraxis darstellt, die mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und deren Bestrebungen auf Veränderung verbunden ist. „Da besonders im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick die Lösung der entscheidenden realen Probleme, an denen die Menschheit leidet, von dem Ausgang der Kämpfe zwischen den gesellschaftlichen Gruppen abhängt, so entscheidet über das Gewicht einer Theorie vor allem der Umstand, wie weit ihr Konstruktionsprinzip durch die Aufgaben einer solchen Gruppe und nicht durch die private Lage ihres Autors mitbestimmt ist. Nach Hegel wird der Gang der universalen Dialektik durch die immanente Dynamik der Begriffe eindeutig festgelegt; dagegen gilt dem Materialismus jede dialektische Konstruktion als ein Produkt, das Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrer gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt entwerfen. Sie ist daher in ihrem ganzen Verlauf nicht bloß vom Objekt, sondern auch von dem geistigen Entwicklungsgrad und den bewußten und unbewußten Strebungen der Subjekte geleitet. [. . .] Über den Wert einer Theorie entscheidet ihr Zusammenhang mit den Aufgaben, die im bestimmten historischen Moment von fortschrittlichen sozialen Kräften in Angriff genommen sind, und auch dieser Wert gilt nicht unmittelbar für die gesamte Menschheit, sondern zunächst bloß für die an der Aufgabe interessierte Gruppe.“ (Horkheimer [1934]/1988, S. 191 f., Herv. AD) Nach Horkheimers Verständnis findet sich die Theorie nicht bereits in der Wirklichkeit. Sie ist aber auch kein Instrument, denn immer sind die Bestrebungen und die Praktiken der Individuen mit konkreten Theorien verbunden. Über die Wahrheit der Theorie und die Notwendigkeiten ihrer inneren Veränderung wird innerhalb der Theorie selbst und durch die Bewegung der Begriffe entschieden, weil es nicht möglich ist, von einem externen, dritten Standpunkt aus die Theorie und die Wirklichkeit miteinander abzugleichen. Ein solcher Standpunkt wäre nichts anderes als eine weitere Theorie. Von der dialektisch-materialistischen Theorie verlangen Horkheimer und Adorno deshalb, dass sie – anders als im Fall der positivistischen Methodologie, die letztlich subjektivistisch verfährt, weil sie in vermeintlicher Wertneutralität und Objektivität Distanz zum Gegenstand herstellt, die Kategorien im Vorhinein definiert und diese dem Material gegenüber stabil hält – offen dafür ist, sich mit dem Gegenstand zu bewegen und zu verändern. „Die These vom Primat des Seins übers Bewußtsein schließt die methodische Forderung ein, Begriffe nicht nach dem Maßstab denkpraktisch-zweckmäßiger Merkmaleinheiten zu bilden und zu verifizieren, sondern in ihrer Bildung und Bewegung die Bewegungstendenzen der Wirklichkeit auszudrücken.“ (Adorno [1937]/1977, S. 38 f.) Der Materialismus, der sich als offener und dialektischer Materialismus versteht, kann aus materialistischen Gründen keinen einzelnen Begriff als Erstes setzen und ihm den Vorrang vor anderen einräumen. Das schließt auch den Bereich der materiellen Produktion ein. Anders gesagt: in einer Totalität, in der alle Momente sich wechselseitig vermitteln, kann nicht vorentschieden werden, dass einem dieser Momente der Vorrang zukommt. „Die allgemeinen Begriffe, die das Fundament

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der Gesellschaftstheorie bilden, können in ihrer richtigen Bedeutung nur im Zusammenhang mit den anderen allgemeinen und besonderen Begriffen der Theorie, das heißt als Momente einer bestimmten theoretischen Struktur verstanden werden. Weil nun überdies die Beziehungen aller dieser Begriff zueinander ebenso wie die des ganzen logischen Gebilde zur Realität sich fortwährend ändern, so ist die konkrete, das heißt wahre Definition einer solchen Kategorie schließlich immer die ausgeführte Gesellschaftstheorie selbst, wie sie in ihrer Einheit mit bestimmten praktischhistorischen Aufgaben in einem geschichtlichen Augenblick wirksam ist.“ (Horkheimer [1936a]/1988, S. 359) Wenn der Materialismus mit der Theorie von Marx die Form einer ökonomischen Gesellschaftsauffassung annimmt, dann verweist dies darauf, dass in der Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse die Ökonomie, die von ihr bestimmten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und die Geschlossenheit des deduktiven Zusammenhangs der Begriffe eine besondere Bedeutung erlangen. Das Vorgewicht der Ökonomie mit ihren gesellschaftlichen Naturgesetzmäßigkeiten stellt selbst eine besondere historische Konstellation dar, die durch Unfreiheit und mangelnde Autonomie der Menschen gekennzeichnet ist. Vom Primat der Ökonomie zu sprechen, ist demnach eine zeitdiagnostische Bestimmung der gegenwärtigen Gesellschaft. Das muss keinesfalls so bleiben, denn es bedeutet, dass Menschen in ihrem Denken und Handeln von den ökonomischen Verhältnissen bestimmt werden, also von Zwängen, die sich aus der Naturbeherrschung ergeben, von Notwendigkeiten und Not. Da das Verhältnis von Sein und Bewusstsein bei verschiedenen Klassen verschieden ist, ist denkbar, dass es sich neu anordnet und das, was als Idealismus gilt – nämlich geistige Anlagen des Menschen zur Entfaltung bringen –, in die Form eines neuen Materialismus eingeht (Horkheimer [1932c]/1988, S. 46, [1937]/1988, S. 188). Unter Bedingungen der Freiheit wird das Bewusstsein in ein anderes Verhältnis zum Sein, zur materiellen Produktion des Lebens, treten, weil jenes die Fähigkeit besitzt, die Wirtschaft den Menschen unterzuordnen und das Sein nach vernünftigen, freien Gesichtspunkten zu gestalten. „Kritische Theorie ist keine Ontologie, kein positiver Materialismus. In ihrem Begriff liegt, daß die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse die notwendige, aber nicht die zureichende Bedingung einer befreiten Gesellschaft ist. Der verwirklichte Materialismus ist zugleich die Abschaffung des Materialismus als der Abhängigkeit von blinden materiellen Interessen.“ (Adorno [1969]/2003, S. 292)

2.3

Arbeit und Erkenntnis – oder die Verwirklichung der Vernunft

Horkheimer denkt in der Perspektive vernünftiger Praxis und damit der Freiheit, er nimmt also an, dass Menschen, um sich selbst zu erhalten, die Welt mit Begriffen erschließen und sie mit ihrer gemeinsamen Arbeit gestalten. „Die menschliche Produktion enthält stets auch Planmäßiges. Insofern, als die Tatsache, die für das Individuum äußerlich zur Theorie hinzukommt, gesellschaftlich produziert ist, muß daher, wenn auch in eingeschränktem Sinn, Vernunft in ihr zu finden sein.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 174) Damit aber nimmt Horkheimer eine sehr grundsätzliche

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Überlegung von Marx ernst. Denn Marx kritisiert an den historisch überlieferten Formen des Materialismus, dass er die Wirklichkeit „nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt“ habe, „nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv“ (Marx [1845]/1969, S. 5). Demgegenüber habe der Idealismus diese tätige Seite entwickelt, wenn auch in abstrakter Weise, eben nicht als wirkliche, sinnliche Tätigkeit. Marx betont somit, dass Menschen die Natur und die Verhältnisse, die sie vorfinden, aneignen, bearbeiten und gestalten. Dies tun sie mittels Vernunft, also durch Begreifen, Planen sowie durch koordiniertes gemeinsames Arbeiten, das sich auf in der Kooperation entwickelte Werkzeuge stützt, die die Arbeit erleichtern und rationeller machen. „Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß.“ (Marx [1890]/1969, S. 193) In diesem Sinn verstanden, bilden die gegenständliche Welt, in der die Menschen leben, und ihr Denken eine intern vermittelte Einheit. „Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozeß, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 174) Horkheimer hält es für ein besonderes Merkmal der früheren und der kapitalistischen Formen von Klassenherrschaft, dass die individuelle und die gesellschaftliche Weltauffassung auseinanderfallen: die Einzelnen müssen die Welt als etwas Vorhandenes, als Tatsache hinnehmen, während sie für die Gesellschaft das Produkt einer allgemeinen gesellschaftlichen Praxis darstellt. Je mehr nun die Menschen sich die Natur und ihre Verhältnisse aneignen und durch Begriffe und Arbeit umgestalten, um so vernünftiger wird die Welt, um so freier werden die Menschen potenziell. Darin steckt eine Art teleologisch angelegte Richtung gesellschaftlicher Entwicklung, da die Menschen in der Welt, in der sie leben und die sie in einem immer höheren Maße nach ihren Zwecken gestalten, immer mehr sich selbst und ihre Vernunft entdecken. Dementsprechend wäre also in der Entwicklung und im Begriff der Vernunft angelegt, dass sich der historische Prozess auf eine vernünftig gestaltete Totalität hinbewegt, Subjekt und Objekt also identisch würden. Dies ist, was Lukács im Anschluss an Hegel von einer emanzipierten Gesellschaft erwartet; und Horkheimer folgt ihm darin. „Im Denken über den Menschen klaffen Subjekt und Objekt auseinander; ihre Identität liegt in der Zukunft und nicht in der Gegenwart.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 185)

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Praxis und Theorie, Subjekt und Objekte drängen von sich aus auf eine Einheit, die, obwohl in der Arbeit angelegt, sich nicht zur Geltung bringen kann. Dieses Theorem wurde in Auseinandersetzung mit Adorno, Horkheimer und Marcuse von Jürgen Habermas kritisiert. Mit dem Ziel, eine eigene kritische Theorie zu entwerfen, hält er diesen Autoren vor, dass sie Vernunft auf eine monologische, instrumentelle Rationalität reduzieren, die sich allein an der erfolgsorientierten Naturbeherrschung bemisst. Dem stellt er den Prozess der intersubjektiven Verständigung und kommunikativen Handlungskoordination entgegen. Damit will Habermas systematisch für ein Vernunftverständnis argumentieren, das nicht geschichts- und bewußtseinsphilosophisch eine vollständige Aneignung der Welt erwartet, die dann in transparenten technischen Vollzügen rational verwaltet würde, sondern gekennzeichnet ist von vielstimmigen Kommunikationsverhältnissen, in denen Individuen ihr Handeln jeweils neu aufeinander abstimmen, zu einer gemeinsamen Weltsicht gelangen oder Dissens formulieren. Habermas‘ Überlegungen zum kommunikativen Handeln enthalten produktive Aspekte, doch sind sie belastet durch überhistorische universalpragmatische Annahmen zu Bedingungen sprachlichen Austauschs, die ihn letztlich jene philosophischen Fehler begehen lassen, die Horkheimer an der Metaphysik kritisiert: immer neue Begründungen und Systementwürfe, Unterstellung zugrunde liegender Gesetzmäßigkeiten sprachlichen Handelns, die auch moralisch relevant werden sollen und auf eine historische Teleologie drängen, eine Verklärung der verhältnisse, die nahelegt, die kapitalistische Moderne mit Wohlfahrtsstaat und repräsentativer Demokratie sei das abschließende Stadium der historischen Entwicklung. Die Kritik von Habermas an Horkheimer und Adorno geht letztlich an der Sache vorbei. Die Bewusstseinsphilosophie und deren Schlüsselbegriff „Entfremdung“ haben Marx und Adorno entschieden problematisiert. Schon Marx begreift vernünftig geplante Arbeit als arbeitsteiligen Prozess, in dem weit verzweigte und den Individuen nicht unmittelbar transparent zur Verfügung stehende kooperative Verhältnisse die Bedingung für differenzierte Bedürfnisse und Fähigkeiten sind, die sich auf hohem zivilisatorischen Niveau erst entfalten können, wenn sie nicht durch Profitorientierung gelenkt und gefesselt werden. Zum zweiten werden bei Horkheimer und Adorno das Denken, die Begriffe, die Theorie, das Wahrnehmen, die Erfahrung als objektive, materiale Praktiken vieler konkreter Menschen verstanden. Kritisiert werden könnte, dass sie die institutionellen und kommunikativen Prozesse, in denen eine Wahrnehmung, eine Denkweise, ein Begriff sich verallgemeinert und Objektivität gewinnt, nicht zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht haben. Doch finden sich Hinweise: auf die Verbreitung einer positivistischen Haltung zur Wirklichkeit im Kapitel über die Kap. ▶ „Kulturindustrie“, auf die Vermittlung von Kategorien wie Oben-Unten in „Autorität und Familie“, auf die Verbreitung von ontologischen Denkmustern im „Jargon der Eigentlichkeit“. Tatsächlich ist es wünschenswert, solche Prozesse nicht nur, aber auch der kommunikativen Verbreitung, Durchsetzung und Aneignung detailliert zu untersuchen, um Macht- und Herrschaftspraktiken sowie Widerstände zu erkennen und Alternativen zu unterstützen, wie es dann in der Medienforschung (Prokop 1973; Hepp und Winter 1999) oder in Diskursanalysen im Anschluss an Foucault (1973) geschehen ist.

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Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt bilden je eine konkrete historische Einheit, ein Ensemble. Das Subjekt ist das Subjekt dieser konkreten historischen Welt (Horkheimer [1937]/1988, S. 213). Die Theorie erwächst aus einer Praxis und wirkt auf sie zurück, doch indem sie den Charakter von Allgemeinheit annimmt, geht sie in dieser besonderen Praxis nicht auf und kann Impulse für ganz neue Theorie und Praxis geben. Auch wenn sie immer von der Praxis abhängig ist und immer selbst eine bleibt, darf sie ihr nicht unterworfen werden, damit sie ihrer Fähigkeit nicht beraubt wird, ins Offene zu denken. Wenn die Theorie in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wenigen vorbehalten wird, die Herrschaft ausüben, dann werden auch die Rückwirkungen auf die Praxis und die Richtung zukünftiger Theorieentwicklung von Herrschenden kontrolliert, die auch Theorie nutzen, ihre Herrschaft zu reproduzieren. Das Ensemble von Theorie und Praxis wird der Gestaltung durch alle Beteiligten entzogen, ein herrschaftliches Theorie-Praxis-Ensemble steht einem anderen, vernünftig-emanzipatorischen Theorie-Praxis-Ensemble entgegen, das sich kaum entfalten und allenfalls heterogen bleibende Bruchstücke ausbilden kann. Einheit von Theorie und Praxis ist nicht Identität, muss aber auch nicht Gegensatz sein. Anzunehmen, sie könnten identisch werden, stünde im Widerspruch zu den weiteren praxisphilosophischen Erwägungen und Überlegungen zur dialektischen Logik, die Horkheimer und Adorno anstellen. Ihrem Verständnis nach ist die materialistische Dialektik von der Hegelschen prinzipiell verschieden. Hegels Philosophie hat einen Prozess zum Gegenstand, in dem sich der Geist entfaltet und ausdrückt, der alle Begriffe in sich enthält und sich schließlich in einem harmonischen System abschließt, in dem alle Widersprüche aufgehoben und Subjekt und Objekt identisch geworden sind. Die materialistische Dialektik hingegen kennt keinen Abschluss, keine Teleologie, keine Aufhebung, keine ewigen Gesetze und keine stabile Bedeutung der Begriffe. Konkrete, denkende Menschen sind praktisch tätig und verändern ständig die gegenständliche Welt, die sozialen Verhältnisse sowie sich selbst ständig. Die Erkenntnis nähert sich der Wirklichkeit nicht an, da diese nicht statisch von ewigen Gesetzen bestimmt ist, die zunehmend erkannt und dann für menschliche Zwecke genutzt werden. Zudem: von welchem Standpunkt aus ließe sich jemals erkennen, dass die Erkenntnis dem Gegenstand näher kommt? Vielmehr werden die Wirklichkeit und die Gesetzmäßigkeiten und damit die Praktiken selbst ständig durch neue Einsichten und Praktiken der Menschen verändert. Das, was als allgemein gilt, ist das, was für eine konkrete Gruppe von Menschen unstrittig ist. Dies gilt auch für den Bereich der Naturgesetze: die Aussage, dass das Fallgesetz universelle Gültigkeit besitze und immer schon galt, ist sinnlos und eine ahistorische Rückprojektion, weil die Gesetzeserkenntnis, selbst eine Praxis, nur in der Verbindung mit spezifischen Praktiken bedeutsam wird (vgl. a. Adorno [1937]/1977, S. 41). Menschen nähern sich der Wirklichkeit also nicht infinitesimal an, sondern erzeugen und reproduzieren mit ihren Praktiken jeweils eine mehr oder weniger veränderte Wirklichkeit. Die kritische Theorie tritt dafür ein, dass die sich aus dieser Einsicht ergebende Möglichkeit zur Offenheit, Differenziertheit, Vielfalt von Verhältnissen, Individuierungen und Praktiken gegen die großen Gleichmacher Äquivalententausch und staatliche

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Verwaltung wirklich gelebt werden kann. Dies führt zu neuen Formen der Erkenntnis und einem veränderten Verhältnis zwischen Erkenntnis und Gegenstand selbst. Diese kritischen und vielfach gegen Hegel vorgebrachten Gesichtspunkte werden in der weiteren Theorieentwicklung dann für Horkheimer und Adorno – und vor allem auf der Grundlage der „Dialektik der Aufklärung“ – so relevant, dass es zu einer Kritik sowohl an den wissenschaftstheoretischen wie an den politischen Folgen des Totalitätsbegriffs und an dem Ziel einer Herstellung der Identität von Subjekt und Objekt kommt, also an jenem verum-factum-Prinzip, dem zu Folge die Menschen, die mit ihrer Arbeit die Gegenstände erzeugen, sie auch erkennen. Lukács’ zufolge bringt sich diese Bewegung im Proletariat auf den Begriff. Der Tendenz nach soll eine vernünftige Beherrschung der Lebensbedingungen und Transparenz all dessen, was Individuen tun und denken, erwartet werden können, denn andernfalls wären die Verhältnisse noch nicht vernünftig organisiert. Allerdings befürchtet die kritische Theorie, dass die Emanzipation in eine vernunftgemäß geplante und gesteuerte verwaltete Welt und Technokratie münden könnte, in der alles durch wissenschaftliche Analyse und Planungsstäbe jeweils schon im Vorhinein festgelegt wäre. Am Ende einer solchen Rationalisierung stünde, nach einem Ausdruck Max Webers, das stählerne Gehäuse der Hörigkeit. „Wir sind zu der Überzeugung gelangt, daß die Gesellschaft sich zu einer total verwalteten Welt entwickeln wird. Daß alles geregelt sein wird, alles!“ (Horkheimer [1969]/1985, S. 340) Die, die dann noch Zweifel hätten, könnten leicht als Verrückte pathologisiert werden (vgl. Adorno [1937]/1977, S. 45). Dass der Sozialismus in Autoritarismus umschlagen konnte, liegt demnach daran, dass er noch im Bann des bürgerlichen Vernunftbegriffs steht, der genau wegen dieses Umschlags in der „Dialektik der Aufklärung“ zum Gegenstand kritischer Analyse gemacht wurde (vgl. Demirović im Handbuch). Nach Horkheimers und Adornos Verständnis ist die Theorie von Marx so zu verstehen, dass die vom Tausch bestimmte kapitalistische Gesellschaft einen systematischen Zusammenhang bildet, dessen integrierendem Zwangscharakter nichts entgeht. Innerhalb des Kapitalismus selbst gibt es keinen Ausweg, die kapitalistische Produktionsweise schließt sich zum System ab. Dem entspricht das herrschende Wissenschaftsverständnis: „Noch die deduktive Form der Wissenschaft spiegelt Hierarchie und Zwang.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/ 1987, S. 44) Für das herrschende Weltverständnis, wie es dann in der modernen, positivistischen Wissenschaft kulminiert, stellt Erkenntnis eine Form von Macht dar. Das Subjekt und das aufgeklärte Denken rücken in Distanz zur Natur, zum eigenen Selbst und zur Gesellschaft, um diese besser kontrollieren und über sie verfügen zu können. Horkheimer und Adorno kritisieren – ganz im Sinne der Überlegungen von Georg Lukács –, dass, indem von der Besonderheit der Gegenstände zugunsten bestimmter nützlicher Merkmale abstrahiert wird, sie auf formale, quantitative und manipulierbare Eigenschaften gebracht und Vermittlungen, die sie jeweils miteinander verknüpfen, zerstört werden. Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis, die der Tendenz nach eine historisch jeweils spezifische, vermittelte Einheit bilden, werden aufgespalten und voneinander separiert, so dass die Menschen nicht mehr erfahren und begreifen, dass sie selbst

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diejenigen sind, die die Dinge, die Verhältnisse erzeugen und reproduzieren. Es ist ein dialektisches Moment der bürgerlichen Gesellschaft, dass Subjekt und Objekt sowie Theorie und Praxis eine Einheit bilden und gleichwohl nicht eins sind, sondern sich in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander bewegen. Diese Bewegung zwischen Einheit und Spaltung entspricht einer objektiven Realität: die gesellschaftliche Wirklichkeit lässt sich unter Bedingungen von Herrschaft Weniger, die sich zudem untereinander in Konkurrenz befinden, nicht aus dem Horizont individuellen Handelns, aus Intentionen und Plänen der Einzelnen sinnhaft erschließen und verstehen – gleichzeitig ist sie jedoch verstehbar und auf Menschliches zu bringen, weil sie aus der gesellschaftlichen Arbeit, aus Plänen der Mächtigen und Aktivitäten der Vielen entspringt (Adorno [1965]/ 1972, S. 12, [1968]/1993, S. 142). Gesellschaft ist durch die Individuen und ihre Praktiken vermittelt und tritt ihnen gleichwohl als ein übermächtiger, blinder Zusammenhang entgegen, als Anforderung, als normativer Druck, als zweite Natur, die zur Konformität verhält; sie ist nur der begrifflichen Abstraktion und der Theorie zugänglich, die diese widersprüchliche Bewegung von Blindheit und Rationalität selbst noch zum Gegenstand hat (vgl. Marx [1890]/1969, S. 12; Adorno [1965]/1972, S. 11). Die Prozesse der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung unterliegen (historisch noch) nicht der Kontrolle durch die Menschen. Horkheimer und Adorno wird aber im Zuge ihrer kritischen Überprüfung der Aufklärung immer klarer, dass es der kritischen Theorie nicht darum gehen kann, der idealistischen, bewusstseinsphilosophischen Vorstellung einer herzustellenden Identität von Subjekt und Objekt bzw. Praxis und Theorie zu folgen. Das Zusammenleben der Menschen als versöhnte Menschheit – und nichts Geringeres ist das Ziel der kritischen Theorie (Demirović 2004) – wird sich nicht auf die Intentionen der Einzelnen zurückführen lassen. Horkheimer ([1937]/1988, S. 203) zufolge geht es deswegen ‚nur‘ um die Transformation einer blinden in eine sinnvolle Notwendigkeit. Der materialistischen Theorie zufolge erzeugen die Menschen durch eine Aneignung der Natur mit Begriffen, Werkzeugen, koordiniertem Handeln ihre Verhältnisse. Das aber bedeutet gerade nicht, dass es zu einer Identität kommt oder kommen sollte, sondern dass im Prozess ihrer praktischen Aneignung und Veränderung der Welt sich diese Verhältnisse und die Menschen selbst sich neue gestalten und differenzierter werden. Das Subjekt nimmt keine durch Philosophie oder Methodologie ermöglichte, verfügende Erkenntnisposition von oben her ein. Vielmehr entfalten sich Subjekt und Objekt – das Subjekt, auf engste mimetisch dem Objekt verbunden, ohne mit ihm identisch zu werden – auf versöhnte Weise durch die Praxis des Begreifens und Umgestalten des Materials in immer feinerer und größerer Differenz. Anzustreben ist nicht Identität, sondern Versöhnung. Das Objekt behält das Primat, das Wissen und die Praktiken der Subjekte bleiben immer endlich. Aber ihre Praktiken werden nicht mehr durch blinde, gesellschaftlich erzeugte Naturgesetze regiert. „Freiheit wäre, daß man auf einer höheren Stufe wieder in das Diffuse zurückgleitet. [. . .] Das Chaotische, das Diffuse wäre das Glück.“ „Freiheit ist nicht, daß ich akkumulieren kann, sondern daß ich nicht zu akkumulieren brauche.“ (Horkheimer und Adorno [1956]/1996, S. 40, 42)

Kritische Theorie als reflektierter Marxismus

2.4

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Zum Begriff der Gesellschaft

Horkheimer zufolge stellt die kritische Theorie den Prozess der kapitalistischen Gesellschaft als einen begrifflichen Gesamtzusammenhang dar, der sich aus dem Wert und der Warenform ableitet. Der logische und systematische Zusammenhang der Begriffe, von denen einer aus dem anderen hervorgeht, ist keine methodische Willkür der Theorie, sondern kritische Physiognomik. Sie will die Härte der gesellschaftlichen Verhältnisse charakterisieren, den „höllenhaften, zwangshaften Charakter des Ganzen, unter dem wir alle leiden“ (Adorno [1968]/1993, S. 143 f.). In diesem Zitat aus der Vorlesung vom Sommersemester 1968 bezieht sich Adorno auf jene Logizität und Systematizität der Begriffe als eine materiell gegebene Tatsache; die Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaft in dieser logischen Strenge zu bestimmen, gilt als dialektische Voraussetzung für eine die Verhältnisse überwindende Kritik. Doch stellt sich die Frage, ob dieser Materialismus der kritischen Theorie nicht in Affirmation umschlägt, weil er ihnen zu viel vorgibt, wenn er ihnen abnimmt, derart fest gefügt und ein System zu sein, in dem alles funktional ineinandergreift. Wie ließen sich dann die Antagonismen, die Widerstände, die inhärenten Möglichkeiten des Anderen denken, wenn sich alles lückenlos ableiten lässt? In einer Vorlesung vier Jahre zuvor hatte Adorno an Marx gerade kritisiert, dass dieser dem Liberalismus viel zu sehr verpflichtet sei. „Ich würde sagen, in diesem Sinn sind von den Theorien der Gesellschaft die positiven liberalen Theorien und die negativen wie die von Marx und Engels, also die kritischen Theorien, einen Sinnes gewesen; das heißt, auch die Marxische Theorie ist darin ganz klassisch, daß sie die Gesellschaft als ein System, als ein in sich geschlossenes, deduktives System, aufgefaßt hat.“ (Adorno [1964]/2008, S. 46). Gerade aber Marx habe sich gegen die Konsequenzen dieses einstimmigen Zusammenhangs gewendet, weil er zeigen konnte, wie das System, dessen Funktionsweise auf dem liberalen Prinzip des freien und gerechten Tausches beruht, in sein „eigenes Negatives“ übergehe. Marx komme also bei dem „Versuch einer objektiven Deduktion der Gesellschaft“ zu dem Ergebnis, dass „es mit jener reinen, bruchlosen Deduktion des Systems aus seinem Begriff so seine Schwierigkeit hat; wäre wirklich das System rein aus seinem Begriff zu deduzieren, dann hieße das ja soviel wie, daß eben doch schließlich und endlich, trotz aller partikularen Widersprüche, etwas wie Einheit herrscht.“ (Adorno [1964]/ 2008, S. 47) Adorno stellt sich also die berechtigte Frage, ob im Fall der kapitalistisch bestimmten Gesellschaft tatsächlich von einem System gesprochen werden kann, wenn das Negative ein für sie konstitutives Moment ist. Er argumentiert deswegen weiter, dass die Gesellschaft nicht ihrem Begriff entspricht, also kein System ist, sondern sich von „einem System der Gesellschaft nur als von einer Tendenz sprechen“ lasse. Das ist bemerkenswert, weil Adorno damit betont, dass die Totalität der Gesellschaft weniger als das Ganze ist (vgl. Kap. ▶ „Totalität und Subjektiver Faktor als Methode“). Gesellschaft als Tendenz erklärt Adorno als Ausdehnung des Tausches. Gesellschaft sei kein höchster, allgemeinster klassifikatorischer Begriff, sie sei auch keine unmittelbare Gegebenheit und lasse sich nicht wie von außen beobachten, und ebenso wenig sei sie die allgemeine Vermittlung von allem mit allem. Gesellschaft

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wird von Adorno als der spezifische funktionale Zusammenhang bestimmt, der durch den Tausch hergestellt wird. Im Tausch werden, wie oben bereits ausgeführt, zwei Gegenstände miteinander verglichen und als gleich viel wert angesehen. Das Maß für diesen Wert finden die Tauschenden in der abstrakten Arbeit. „Das allherrschende Identitätsprinzip, die abstrakte Vergleichbarkeit ihrer gesellschaftlichen Arbeit, treibt [die Menschen] bis zur Auslöschung ihrer Identität.“ (Adorno [1965]/1972, S. 13) Der kapitalistische Tausch schließt eine Dynamik zunehmender Vergesellschaftung ein, denn immer weitere Bereiche des sozialen Lebens werden warenförmig zugerichtet. Dies bedeutet, dass die Besonderheit der Individuen, ihre Lebensformen, ihre Bedürfnisse dem Allgemeinen unterworfen und sie in zunehmendem Maße und bis in ihre innersten Verhaltensweisen und das Bewusstsein hinein integriert werden. Gesellschaft ist ein spezifisches soziales Verhältnis, das sich mit dem kapitalistischen Tausch konstituiert; dieser wird Totalität, ens realissimum, seiner Gewalt gehorcht der gesellschaftliche Lebensprozess (Adorno [1968a]/ 1972, S. 364 f.). Der theoretische Begriff geht in Physiognomik über, die die Folgen des Strukturbegriffs für die Gesellschaft und die Individuen diagnostiziert. Denn die Tendenz zu einer immer weiter um sich greifenden Tauschvergesellschaftung, die sich über die Menschen hinweg vollzieht, droht zu einer immer umfassenderen, schließlich einer totalen Vergesellschaftung und Integration zu führen. „Die Integration der Gesellschaft ist angewachsen im Sinn einer zunehmenden Vergesellschaftung; das gesellschaftliche Netz ist immer enger gesponnen worden, es gibt immer weniger Bereiche, immer weniger Sphären der sogenannten Subjektivität, die nicht ganz unmittelbar von der Gesellschaft mehr oder minder beschlagnahmt werden.“ (Adorno [1964]/2008, S. 106; vgl. Demirović 2015a) Diese Überlegung legt eine Entwicklungstendenz der kapitalistischen Gesellschaft nahe, in der alles, was noch außen ist, zunehmend dem Äquivalententausch subsumiert wird. Alles, die Individuen, die Dinge, die Prozesse und Verhältnisse, müssen sich einfügen, berechenbar, statistisch erwartbar, nach Chancenkalkülen prognostizierbar, planbar, steuerbar sein. „Im Zeitalter der Statistik sind die Massen zu gewitzigt, um sich mit dem Millionär auf der Leinwand zu identifizieren, und zu stumpfsinnig, um vom Gesetz der großen Zahl auch nur abzuschweifen. Die Ideologie versteckt sich in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. [. . .] Im Grunde erkennen alle den Zufall, durch den einer sein Glück macht, als die andere Seite der Planung.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 171 f.) Durch die subsumtionstheoretische Annahme kommt gleichsam wie von selbst ein geschichtsphilosophischer Zug in die Überlegung Adornos hinein, die zudem auch als eher pessimistisch und resignativ gedeutet werden kann, da die Konstruktion wie eine Art Nullsummenspiel angelegt ist: das Nicht-Integrierte, noch nicht Aufgehende, die Widerstände werden liquidiert; die Individuen, ihre Besonderheiten werden vergesellschaftet und zu „bloßen Agenten der objektiven Tendenz“ herabgesetzt (Adorno [1937]/1977, S. 36) – bis irgendwann alles derart der Gesellschaft unterworfen ist, dass sich nichts mehr draußen befindet. Diese Zeitdiagnose hat sich als sehr produktiv erwiesen und vieles vorweggenommen, was von anderen wiederholt wurde: Kolonialisierung der Lebenswelt, Bürokratisierung (Verstaatlichung, Verrechtlichung), Konsumismus, Ökonomisierung, Monetarisierung, Individualisierung. Gleichzeitig aber wirkt das Theorem steril und lässt sich über Adorno

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hinaus kaum fortsetzen, denn wenn das Prinzip einmal klar ist, können eigentlich nur noch quantitative Steigerungen der Subsumtion festgestellt werden. Widerstände werden lediglich als Widerstände gegen die Integration denkbar, doch müssen sie, sofern kapitalistische Verhältnisse fortbestehen, zwangsläufig geringer werden, bis es sie irgendwann nicht mehr gibt (die Hauptleistung mancher Theorien besteht dann darin, bei gleichbleibender Zeitdiagnose die theoretischen Begriffe so zu organisieren, dass der Konflikt auf Dauer gestellt wird). Der Antagonismus wird hier von Adorno nicht als innerer Widerspruch der Gesellschaft selbst gedacht, sondern an deren Grenze verlegt, also in jene Zone des noch nicht Aufgehenden, nicht Integrierten. Bei Integration handelt es sich für Adorno nicht um einen nur systemisch zu denkenden Prozess. Denn die Tendenz zur Integration wird von ihm nicht als Zwangsläufigkeit, sondern als durch Herrschaft vermittelte gedacht. Die Mächtigen und die ihr nahestehende Intelligenz würden sich bemühen, mit Mitteln der Planung das zur Katastrophe hintreibende „Getriebe“ am Funktionieren zu halten. Im totalitären System jeglicher Gestalt führe dies dazu, die „Widersprüche, die es zwangsläufig produziert, mit barbarischem Druck unter die Oberfläche des gesellschaftlichen Seins zu drängen“ (Adorno [1937]/1977, S. 45). Damit spricht Adorno (vermutlich vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus, der den Marxismus beschuldigte, die Volksgemeinschaft zu spalten) die Tatsache an, dass in den verschiedenen Gesellschaftssystemen diejenigen, die von Widersprüchen, von der Existenz von sozialen Klassen oder Besonderheiten von Minderheiten sprechen, wissenschaftlich diskreditiert, publizistisch lächerlich oder gar politisch verfolgt werden, weil sie die Einheit der Gesellschaft in Frage stellen. Aber Adorno meint darüber hinaus grundsätzlicher gesellschaftlich sich vollziehende Integrationsprozesse. Was heute Integration genannt werde, vollziehe sich von oben her, „und zwar durch die technologisch gesetzten Methoden der Standardisierung im Arbeitsprozeß ebenso wie in den Massenkommunikationen, wie zusätzlich doch auch durch weitgehende Planungen der mächtigsten Gruppen, die da in so ungeheuer einflußreichen Sphären wie denen der Reklame und der Propaganda – und ich halte die Unterscheidung von Reklame und Propaganda für pure Ideologie – eben in einer so außerordentlich drastischen Weise sich durchsetzen“ (Adorno [1964]/2008, S. 108). Die Integration scheitert jedoch; die Folge ist, was Adorno als Desintegration bezeichnet. Die Interessen der Totalität der Gesellschaft und die Interessen der einzelnen Menschen werden durch Integration nicht versöhnt. Mit ihr gehe vielmehr ein Anwachsen der gesellschaftlichen Widersprüche, Antagonismen und Irrationalitäten einher, da gesellschaftliche Prozesse, die aus divergenten und einander widersprechenden Interessen erwüchsen, nun ihre relative Gleichgültigkeit verlieren und „immer mehr einander widerstreben“ würden (Adorno [1968]/1993, S. 79). Die Herstellung von Glätte, Identität und Widerspruchslosigkeit an der Oberfläche standardisiert und rationalisiert die Individuen. Sie würden immer realitätsgerechter, würden sich selbst immer mehr zum Instrument der Selbsterhaltung machen, doch bliebe nichts mehr übrig, wofür diese Mittel, also sie selbst, arbeiten würden. Die Folge dieser Form der Selbsterhaltung, die das Selbst aufhebt, sind Irrationalität und Wahnhaftigkeit. Denn die Menschen unterwerfen sich der Macht der Vernunft, die

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die Vernunft der Mächtigen ist, also einer Vernunft, die sich selbst dementiert, weil sie nicht allgemein sein kann (vgl. Adorno [1937]/1977, S. 45). Weil die Integration scheitert, muss sich die Theorie offen halten für das, was in der konsistenten Theorie nicht aufgeht, und vor allem auf die Objektivität des Widerspruchs reflektieren, in dem sich die Theorie selbst bewegt, nämlich System und Nicht-System zu sein: System insofern, als sie die Geschlossenheit und Einheit der integrierten Gesellschaft ausdrücken muss; Nicht-System insofern, als die Geschlossenheit „durch sich selbst die Antagonismen reproduziert“ (Adorno [1964]/2008, S. 126). Die Widersprüche, die, durch Integration verdrängt, unter einer glatten, harmonischen Oberfläche verdeckt werden, setzen sich aufgrund dieser Integration und der Anstrengungen, die die Gesellschaft aufbieten muss, um den offenen Ausbruch der Antagonismen und reale Lösungen zu verhindern, in der verschobenen Form ungezählter Momente der Irrationalität durch. Mit rationalen Modellen lasse sich die Gesellschaft nicht begreifen, weil diese sich an die „in ihr definierten rationalen Spielregeln“ immer weniger halte (Adorno [1964]/2008, S. 128). Vernunft gehe in Unvernunft über – in seiner Rationalität sei das Ganze ein Irrationales geblieben. Deswegen könne vernünftiges Verhalten darin bestehen, von dem für vernünftig Gehaltenen abzuweichen. Darauf stellt sich die kritische Theorie ein. „Die Theorie, die alles von den Menschen und ihrer Aktion erwartet, die nicht mehr mit politischen ‚Kräfteverhältnissen‘ rechnet, sondern dem ‚Kräftespiel‘ ein Ende bereiten will, prophezeit nicht. Spengler sagt, es käme darauf an, in der Geschichte in weitestem Maße mit Unbekannten zu rechnen. Die Unbekannten der Menschheit sind aber gerade das, womit sich nicht rechnen läßt. Die Geschichte ist keine Gleichung, kein analytisches Urteil.“ (Adorno [1941]/1977, S. 64) Es hätten sich, so Adorno, Abweichungen und Widersprüche, die Marx als partikulare und zufällige Abweichungen von den Gesetzmäßigkeiten erscheinen konnten, derart entfaltet, „daß sie selbst nicht mehr ebenso aus dem einheitlichen Begriff der Gesellschaft zu entwickeln sind“, wie die Marxsche Theorie dies versuchte. Es gäbe empirisch derart viele Abweichungen und Widersprüche, „daß dadurch die Idee überhaupt einer Theorie der Gesellschaft im Sinn einer systematischen Einheit außerordentlich schwierig geworden ist“. Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die nur der Tendenz nach als System besteht, ist jedoch gleichzeitig derart heterogen und von Abweichungen gekennzeichnet, dass sich Adorno die Frage stellt, ob nicht „dadurch die Möglichkeit einer Theorie überhaupt ausgeschlossen“ ist. Es liegt auf der Hand, dass er darauf negativ antwortet, meldet aber als Folgefrage an, wie die „Gestalt einer nichtsystematischen Theorie“ aussähe (Adorno [1964]/2008, S. 49). Eine systematische Antwort auf seine Frage gibt Adorno in der Vorlesung nicht. Nachdrücklich und kritisch betont er, dass sie sich nicht an dem Anspruch der soziologischen Theorie der Gesellschaft auf Glätte, Identität und Widerspruchslosigkeit orientieren kann, da dies auf Verdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche hinausläuft. „Die Antagonismen bestehen fort, zwar nicht unmittelbar sichtbar oder oft nicht unmittelbar sichtbar als Gegensätze der Lebenshaltung oder als Gegensätze furchtbarer Armut und üppigen Reichtums, aber sie bestehen fort in Gestalt eines bis ins Extrem angewachsenen Antagonismus

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der gesellschaftlichen Macht und der gesellschaftlichen Ohnmacht.“ (Adorno [1964]/2008, S. 111) Angesichts dieser fortexistierenden und sich reproduzierenden Widersprüche müsse der methodische Anspruch auf Widerspruchslosigkeit und Einstimmigkeit der Theorie in einen Widerspruch zu ihrem Gegenstand, der antagonistischen Gesellschaft, geraten (Adorno [1964]/2008, S. 127 f.). Die methodische Erwartung an die Konsistenz der Theorie sei eine gefährliche Denkgewohnheit und entspreche mehr einem subjektiven Bedürfnis der Wissenschaftler nach Sekurität als der Erkenntnis des Gegenstands. Dies gehe auf Kosten der Wahrheit und der Einsicht in das Wesen der Gesellschaft – und sei Ergebnis des Übergreifens des Fetischcharakters der Ware auf die Wissenschaft, „die nun abgelöst wird von dem, worauf sie geht“ und sich selbst nicht mehr das Maß ihres Wahren und Falschen ist (Adorno [1964]/2008, S. 134). Es finden sich weitere Hinweise darauf, was eine solche nichtsystematische Theorie sein könnte, doch sind sie ihrerseits mit Problemen verbunden. 1) Adorno kann nicht meinen, dass, weil die Wirklichkeit widersprüchlich ist, auch die Theorie inkonsistent und widersprüchlich sein müsste. Denn dies würde zum Verständnis der sozialen Widersprüche nichts beitragen. Er schlägt vor, das Problem durch eine duale Struktur der Theorie zu lösen: System sei die Theorie insofern, als die Gesellschaft geschlossen sei, Nicht-System insofern, als sich die Gesellschaft durch Antagonismen hindurch reproduziert und Momente der Irrationalität offenbart. Die Theorie sei insofern rational, als sie die Rationalität der Gesellschaft nachzeichnet, sei aber auch rational in dem Sinne, dass sie „die Irrationalitäten der herrschenden Gesellschaft aus dem Wesen ihrer eigenen Rationalität heraus selber entwickelt“ (Adorno [1964]/2008, S. 126). Die Theorie ist demnach konsistent, logisch und sogar in einem höheren Maße systematisch, weil sie ja auch noch die Antagonismen und das Irrationale, die nicht-linearen, kontingenten Umschläge im gesellschaftlichen Prozess in die Theorie hineinnehmen will: die Kriege, die Katastrophen wie der Holocaust oder der Abwurf der Atombomben, die Krisen der Ökonomie, der Politik, der Kultur und des Subjekts, die Widerstände, die Revolten und Revolutionen. Das gilt auch für die darüber hinaus gehenden, an den Grenzen der Gesellschaft zur Natur stattfindenden Prozesse, die unerwartete Folgen zeitigen: Krankheiten, Klimawandel, Bodendegradation oder Desertifikation. Adorno verlangt von der Theorie, dass sie nicht einfach nur vorhandene Entwicklungen fortschreibt, sondern mit systematischen Argumenten das Verständnis für offene Prozesse und das Neue schafft, weil sich nicht sagen lässt, wann und auf welche Weise solche Umschläge des antagonistischen Prozesses stattfinden. „Der Versuch, über alles hinauszugehen, was der Fall ist, trotzdem aber die Schwere dessen, was ist, aufzunehmen, genau das bezeichnet den Begriff der Tendenz. Tendenz, das bedeutet soviel wie Sätze darüber, wohin die Gesellschaft auf Grund ihrer wesentlichen Gesetzmäßigkeiten, die jetzt und hier schon gelten, sich entwickelt. [. . .] Theoretisch werden Formulierungen von Tendenzen erst, wenn sie gegenüber dem, was ist, dem bloß Seienden, etwas prinzipiell Neues, nicht bereits Absehbares anzeigen.“ (Adorno [1964]/2008, S. 37 f., 39)

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2) Gesellschaft ist Adorno zufolge ganz und gar modern, bürgerlich, das Ergebnis des modernen, entfalteten Warentauschs, der sich konstitutiv durch das Moment der abstrakten Arbeit auszeichnet. Der funktionale Zusammenhang des Tauschs dehnt sich immer weiter aus und greift integrierend auf immer mehr Lebensbereiche über. Zum Verhältnis zwischen einerseits der durch Tausch konstituierten Gesellschaft und andererseits den sozialen Lebenszusammenhängen sagt Adorno wenig. Ebenso ungeklärt ist, wie diese sozialen Lebenszusammenhänge ihrerseits beschaffen sind. Handelt es sich um vorkapitalistische Relikte und sind sie irgendwann einmal völlig wegrationalisiert? Existieren sie als Zone der Informalität neben der kapitalistischen Vergesellschaftung fort? Reproduzieren sie sich gar und benötigt sie der Kapitalismus – vergleichbar Rohstoffen? Adorno legt mit seinen Überlegungen eine unilineare Entwicklung zunehmender Integration einer sich immer weiter totalisierenden Gesellschaft nahe, die immer mehr zur Totalität wird und immer weniger draußen lässt. Was dieses umfassende Draußen ist, wie es begrifflich gefasst oder empirisch beschrieben werden kann, bleibt unklar. Es wird von Adorno nicht zum Gegenstand der Theorie und Analyse gemacht. Gleichzeitig jedoch beschreibt Adorno die Gesellschaft deswegen als Tendenz, weil sie selbst Erscheinungen hervorbringt, die im Begriff dieser Totalität nicht aufgehen und die Form von Abweichungen und Desintegration annehmen. Gesellschaft gelingt es also nicht, zur Totalität zu werden, sie stellt nur eine Tendenz der Totalisierung dar. Sie bringt sich selbst demnach nicht auf den Begriff. Muss kritische Theorie sich also nicht rückbesinnen auf das Horkheimersche Projekt einer umfassenden Theorie der Gesellschaft oder vielleicht sogar übergehen in etwas, was umfassender ist als Gesellschaftstheorie, eine Theorie des Sozialen? 3) Adorno lässt offen, welcher Art die Antagonismen sind. Er betont, dass es sie gibt. Er legt nahe, dass der Antagonismus an den Rändern des sich totalisierenden Tauschzusammenhangs besteht, also dort, wo sich Integration vollzieht. Dies könnte zur pessimistischen Erwartung führen, dass irgendwann einmal alles derart integriert sei, dass auch Antagonismen völlig absorbiert würden und nicht mehr existierten.2 Er argumentiert aber auch, dass die Antagonismen ihrerseits ein Moment zur Reproduktion der Gesellschaft geworden seien. Die Arbeiterklasse war, so Adornos These, im 19. Jahrhundert, obwohl Produzentin des

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Das ist nicht zwingend notwendig. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991, S. 181 ff.) haben in ihren diskursanalytischen Überlegungen die Frage aufgeworfen, wie in einer Gesamtheit von positiven Gegebenheiten überhaupt die Bedeutung eines Negativen, eines Antagonismus möglich ist. Sie erklären das damit, dass verschiedene Bedeutungen nur äquivalent werden können, indem eine einzelne Positivität die Bedeutung der Negation dieser Äquivalenzkette und der von ihr konstruierten Identität annimmt. Nur durch einen Antagonisten können sich soziale Zusammenhänge zur Gesellschaft totalisieren. Der Antagonismus ist Laclau und Mouffe zufolge immer am Rande angesiedelt: er kann niemals absorbiert werden, weil dies das Ende der Möglichkeit von Gesellschaft selbst wäre; vielmehr umgekehrt, jede Gesellschaft setzt konstitutiv den Antagonismus als ihr ausgeschlossenes Anderes voraus. Während Laclau und Mouffe für ein formales und affirmatives Verständnis von Gesellschaft und Totalität argumentieren, wendet sich Adorno kritisch gegen beide Begriffe, da er sie als historische Formen versteht, die das Bürgertum dem Zusammenleben gegeben hat.

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gesellschaftlichen Reichtums und insofern der Gesellschaft immanent, exterritorial zur Gesellschaft gewesen, sie gehörte nicht zu ihrem Begriff. Dieses Moment der Immanenz habe dann an Gewicht zugenommen. Proletariat und Klassenkampf seien „in weitem Maß in den Funktionszusammenhang der Gesellschaft eingebaut worden, ja als Teil ihres Funktionierens bestimmt“. Nicht trotz des Klassenverhältnisses, sondern durch es hindurch erhalte sich die Gesellschaft. (Adorno und Jaerisch [1968]/1972, S. 183) Obwohl Adorno hier die kapitalistische Produktionsweise als antagonistische bestimmt, schließt er nicht an Marx an, der die Antinomie zwischen der Klasse der Produktionsmittelbesitzer und den Lohnarbeitenden unter Bedingungen kapitalistischer Eigentumsverhältnisse für die grundlegende Konstellation hält, die nicht integrierbar ist. Der Antagonismus zwischen diesen beiden Klassen, zu dem die Gegensätze mit weiteren Klassen hinzukommen, ist die Triebkraft für die Krisen, Kämpfe und alle jene Handlungsweisen, mit denen die Bourgeoisie auf jeweils höherem Niveau ihre Herrschaft reproduziert (Technologieentwicklung, Zwang, Autorität und Disziplin, Hegemonie und Führung). Marx und Adorno würden für den Sachverhalt also identische Formulierungen finden: die Gesellschaft reproduziert sich durch den Antagonismus hindurch. Doch Adorno begreift den Antagonismus selbst als funktionales Moment: der Antagonismus wird seinerseits der Einheit der Gesellschaft subsumiert. Allerdings hält Adorno mit einer kritischen Wendung eine widerspruchsfreie Gesellschaft unter Bedingungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst nur für eine glatte Oberfläche und einen Schein, den die vorherrschende Tauschvergesellschaftung erzeugen will. Diese Wirklichkeit sei aber Unwirklichkeit. „Der Vergesellschaftungsprozeß vollzieht sich nicht jenseits der Konflikte und Antagonismen oder trotz ihrer. Sein Medium sind die Antagonismen selbst, welche gleichzeitig die Gesellschaft zerreißen. Im gesellschaftlichen Tauschverhältnis als solchem wird der Antagonismus gesetzt und reproduziert, der organisierte Gesellschaft jeden Tag mit der totalen Katastrophe auslöschen könnte. Einzig durch das Profitinteresse hindurch und den immanent-gesellschaftlichen Bruch erhält sich, knirschend, stöhnend, mit unsäglichen Opfern, bis heute das Getriebe.“ (Adorno [1965]/1972, S. 14 f.; vgl. Ruschig 2011) Wenn die Gesellschaft sich durch Antagonismen hindurch reproduziert, dann stellt sie doch kein sich schließendes System dar, sondern die Konflikte durchziehen das gesellschaftliche Ganze selbst. Dieses antagonistische Ganze kann nicht oder nur teilweise als Totalität begriffen werden, da diesem letzteren Konzept nach alle Momente miteinander vermittelt sind und funktional stimmig im Ganzen aufgehen. Doch die kapitalistische Gesellschaft lässt sich nicht begrifflich als ein deduktiver Zusammenhang quasi-reibungsloser systemischer Prozesse fassen, vielmehr durchziehen Herrschaft, Widersprüche zwischen den Herrschenden, Widerstände und die Bestrebungen nach Ausbrüchen und Alternativen die bürgerliche Gesellschaft selbst, diese ist identisch und nicht-identisch mit sich selbst. An diesem Punkt seiner Überlegungen kritisiert Adorno dann Marx, dem er eine Art Systemtheorie des Kapitals unterstellt. Er hält ihm entgegen, dass der Tauschakt: lebendige Arbeit gegen Lohn das Klassenverhältnis voraussetze. „Das ist natürlich eine der Marxischen Theorie gegenüber vollkommen häreti-

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sche Ansicht, weil Marx ja geglaubt hat, gerade umgekehrt die Herrschaft aus dem Tauschverhältnis ableiten zu dürfen.“ (Adorno [1964]/2008, S. 97) Diese Überlegung ist allerdings weniger Marx gegenüber häretisch als der Kritischen Theorie. Denn es sind ja Horkheimer und Adorno selbst, die in ihren Texten gerade den deduktiven Zusammenhang der Begriffe in der Kritik der politischen Ökonomie behaupten und nahegelegen, der Tausch sei das Absolute, aus dem die weiteren Begriffe der kapitalistischen Gesellschaft abzuleiten seien. Adorno vermittelt mit seinen Überlegungen zwei wichtige metatheoretische Einsichten: a) Er überdehnt das Argument, wonach der Klassenkampf zu einer Funktion der integrierten Gesellschaft selbst geworden ist. Jedoch weist er damit zurecht darauf hin, dass Klassenkämpfe zur Reproduktion des Kapitalverhältnisses auf höherer Stufenleiter beitragen können. Vor allem aber macht er begreiflich, dass der Ort des Antagonismus im gesellschaftlichen Ganzen durch eine Vielzahl von Praktiken verschoben werden kann und sich keineswegs in ‚reiner‘ Form äußern muss. b) Wenn es sich um vermittelte Totalität handelt, dann wird der Widerspruch selbst durch den Vermittlungsprozess stillgestellt – er ist dann kein Widerspruch mehr, sondern Vermittlung, die sich in einem funktionellen Ganzen aufhebt. Die Totalität wird versöhnlich. Der Klassenantagonismus und die Herrschaft können auf diese Weise nicht mehr bestimmt werden. Totalität und System werden als ideologische Konzepte erkennbar.

2.5

Denken in Konstellationen

Wenn sich Adorno also kritisch gegen das Konzept der Totalität wendet, dann handelt es sich um bemerkenswerte Überlegungen. Denn Adorno resümiert hier, so lässt sich sagen, eine Erfahrung aus mehr als dreißig Jahren Arbeit an der kritischen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft und deren empirischer Erforschung. Im Rückblick kann er feststellen, dass es trotz der jahrzehntelangen Arbeit zur Bildung jener von Horkheimer ursprünglich ins Auge gefassten systematischen, einheitliche Theorie der Gesellschaft nicht gekommen ist. Doch im Sinn der materialistischen Theorie handelt es sich nicht um ein Versagen derjenigen, die am Projekt einer solchen Theorie arbeiten; auch der Anspruch auf eine solche Theorie war nicht völlig falsch. Die Ursachen sieht Adorno in der gesellschaftlichen Praxis von Wissenschaft und Theorie sowie im Gegenstand liegen. Vielfältige Widersprüche und Abweichungen stellen wesentliche Elemente des Ganzen dar; es bedarf deswegen einer Vielzahl von sozialtechnischen Anstrengungen der Integration, um diese Widersprüche hinter eine Fassade von Harmonie und Einheit zu verdrängen, ohne dass dies gelingt. Totalität ist demnach ein grundsätzlich misslingendes Projekt. Für die Auffassung der zentralen Begriffe, also Theorie, Gesellschaft, Tendenz, Widerspruch, Totalität, ist dies folgenreich, da ihre historische Vorläufigkeit, ihr Übergangscharakter, ihr Scheitern zu ihnen gehören und als Tatsache kritisch mitgedacht werden müssen. „Wenn Begriffe wie Tendenz, Totalität, Theorie nur von einer einheitlichen Gesellschaft gelten, so bedeutet das nicht nur, daß die Theorie durch ihr Objekt, die Gesellschaft, bestimmt ist, es bedeutet auch, daß die Möglich-

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keit von Theorie nicht nur eine Sache subjektiver Vernunft, wissenschaftlicher Disziplin ist, sondern davon abhängt, ob die gesellschaftliche Wirklichkeit überhaupt einer Theorie adäquat ist.“ (Adorno [1964]/2008, S. 41) Theorie der Gesellschaft ist demnach für Adorno selbst ein Gegenstand kritischer Reflexion, kein affirmatives Ziel; unter Bedingungen eines freien Lebens bedarf es keiner kritischen Theorie mehr. Denn Theorie, gerade, wenn sie in systematischer Form entfaltet wird, bricht die begrifflichen Erfahrungen, vereindeutigt und stellt Einheit her, wo keine ist; gleichzeitig ist auch zusammenhängende Theorie notwendig. Adorno bereitet jene kritischen Gedanken vor, die dann auch von Michel Foucault weiterverfolgt werden, wenn er sich so entschieden gegen die Machteffekte der Wissenschaftlichkeit und der Theorie wendet (vgl. hierzu auch Brieler im Handbuch). Dabei geht es letzterem nicht um den Rückfall auf stumpfsinnigen Empirismus, opportunistischen Eklektizismus oder theoretische Armut, sondern um die – unter Bezug auf an den Rand gedrängtes, zum Verstummen gebrachtes oder unterworfenes Wissen – theoretisch geleitete Infragestellung der Macht des Wissens. Foucault nimmt an, dass sich aus dem Blickwinkel des diskontinuierlichen, partikularen und lokalen Wissens die hemmende Wirkung der umfassenden Theorien des Marxismus und der Psychoanalyse erkennen lasse. Er kritisiert, dass sich mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und globale Theorie eine theoriepolitische Avantgarde inthronisiert und bestimmte Machteffekte ausgeübt werden sollen, die das Abendland jenen vorbehalte, die einen wissenschaftlichen Diskurs führten. Dort, wo Marxismus und Psychoanalyse diese Machtwirkungen durch eine Vielzahl von kritischen Instrumenten unterlaufen haben, sei dies nur möglich gewesen unter der Bedingung, die theoretische Einheit des Diskurses aufzuheben, zu verschieben, umzudrehen, zu theatralisieren. „In jedem Fall hat jede Wiederaufnahme sogar in Kategorien der Totalität in Wirklichkeit zu einem Bremseffekt geführt.“ (Foucault [1976]/1999, S. 14). Adorno und Horkheimer würden dieser Kritik tendenziell wohl zustimmen. In einer kleinen Notiz unterscheidet Horkheimer (1988, S. 339) Wissenschaft von Erkenntnis. Erstere vermittele keine Erkenntnis, sie zeige, was nützlich und schädlich ist, ansonsten sei sie uninteressant; letztere sei hingegen unkonformistisch. Alles, was Menschen denken, sei unter dem Gesichtspunkt der emphatischen Erkenntnis zu denken und nicht unter dem der Wissenschaft. „Für das letztere sind die Universitätsprofessoren da.“ In diesem Sinn verteidigt er Marx: Dieser habe Wissenschaft und Erkenntnis noch nicht trennen müssen, weil zu seiner Zeit noch zu hoffen war, dass Wissenschaft der Weg zur Erkenntnis und Wahrheit sei und das Gute verwirkliche. Adorno thematisiert kritisch den Begriff der Theorie, aber vermutlich hätte er Foucault entgegengehalten, dass gerade die Prozesse der Artikulation von begrifflichen Erfahrungen, Verschiebung und Aufhebungen eben doch ein Kennzeichen für eine Dialektik der Theorie seien, diese also nicht programmatisch aufgegeben werden könne. So wenig Adorno Theorie affirmiert, so wenig den Begriff der Totalität. Der letzte Angriffspunkt einer kritischen Theorie der Gesellschaft und ihr gesellschaftliches Substrat sei die konkrete Situation, geändert werden müsse das reale Leben der einzelnen Menschen. Allerdings sei dieses Leben der Einzelnen kein unmittelbares, sondern gesamtgesellschaftlich bestimmt (Adorno [1968b]/1972, S. 580, 582). Es stellt sich für ihn die Frage, was es bedeutet, wenn

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die Gesellschaft sich gar nicht zu einem zusammenhängenden System abschließen kann; wenn es nicht zu jener Totalität kommt, in dem alle Momente vermittelt und einer homogenen Zeit unterworfen sind, sondern wenn vielmehr die Gesellschaft in sich widersprüchlich ist, wenn es durch Ungleichzeitigkeiten, Inhomogenitäten, Irrationalitäten, ständige Abweichungen von Normen nicht zu jenen statistisch ermittelten Normalitätskurven kommt, die als Maß für konforme Verhaltensweisen der Individuen bewertet werden – das, was Horkheimer und Adorno das „Gesetz der großen Zahl“ nennen. In diesem Fall entspricht das Ganze nicht dem, was in der hegelmarxistischen Tradition als Totalität charakterisiert werden kann. In solchen Ungleichzeitigkeiten, die in „Autorität und Familie“ eher noch kritisch bewertet werden, weil sie als Zurückgebliebenheit und Grundlage für Autoritarismus interpretiert werden, erkennen Horkheimer und Adorno ([1947]/1987, S. 13) aus dem Blickwinkel der Dialektik der Aufklärung „Residuen der Freiheit“, also Momente der Bewahrung, des nicht glatt Aufgehenden, die nicht weg rationalisiert werden sollten. Bei Adorno bereitet sich ein Begriff eines ungleichzeitigen Ganzen vor. Es folgt partiell einem einfachen Schema: technokratisch-zeitgemäß versus zurückgeblieben. Doch die Überlegung ist insgesamt komplexer, wenn Adorno zufolge auch das Überholte zur Grundlage von Kritik und Utopie werden kann; oder wenn „Grundstrukturen“ – die er wesentlich als Gegensatz von Kapital und Arbeit bestimmt – über Jahrzehnte hinweg kaum jemals in reiner Form sichtbar werden, sondern sich nur auf indirekte, auf verschobene Weise geltend machen. Der Klassenkampf nimmt die Form von Konflikten an, die sich in „gesellschaftlichen Randphänomenen“ äußern, wo die Integration nicht hinreicht, oder in „jenem ‚Abhub der Erscheinungen‘, den der antagonistische Prozeß nach wie vor aus sich ausscheidet“ (Adorno und Jaerisch [1968]/1972, S. 188). Zwar hält Adorno an der Wesensbestimmung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital fest, aber aufgrund seiner eigenen Dynamik ändert sich seine Erscheinungsweise. Es gehört zu den Eigenarten der kapitalistischen Entwicklung, dass sich aufgrund von Integration das Wesen nicht in der Weise erscheint, wie es zu erwarten wäre, sondern der Antagonismus kaum je erfahrbar ist und sich immer wieder in ‚unreiner‘ Form zur Geltung bringt. Aber mehr noch: der Antagonismus selbst wird verschoben. Denn die Totalität ist nicht das Umfassende, sondern lediglich eine Tendenz zur Totalisierung, zur Einheit, zum System. Sie scheitert mit Notwendigkeit unter Bedingungen der antagonistischen Widersprüche der Klassengesellschaft, auch wenn mächtige Gruppen versuchen, diese Totalität mit den Mitteln der Herrschaft und der Integration herzustellen. Dem stellt sich die kritische Theorie entgegen. „In der Konzeption von der Gesellschaftslehre, für die ich im Augenblick ohne alle Autorität spreche, [fällt] der schwerste Nachdruck auf das Konkrete, Einzelne, aber in einem anderen Sinn, nämlich dem, daß die Vormacht der Totale, die zwar abstrakt ist, aber dem allgemeinen Begriff in einem gewissen Sinn sich auch entzieht, nur in der Erfahrung des Einzelnen und in der Deutung dieser Erfahrung des Einzelnen getroffen werden kann. Abgesehen davon ist, wo es dem Denken überhaupt noch möglich ist, Einzelnes und Konkretes zu ergreifen. Darin gerade überwintert das Potenzial einer besseren Einrichtung der Gesellschaft, die eine wäre, in der das Viele ungefährdet und friedlich miteinander existieren könnte. Nicht etwa

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ist die Totalität das Interesse einer kritischen Theorie der Gesellschaft derart, daß sie jene herstellen möchte.“ (Adorno [1968b]/1972, S. 587) Totalität stellt in der Kritischen Theorie – anders als bei Georg Lukács – kein emanzipatorisches Ziel dar. „Kritische Theorie geht nicht auf Totalität, sondern kritisiert sie. Das heißt aber auch, daß sie ihrem Inhalt nach anti-totalitär ist, mit aller politischen Konsequenz.“ (Adorno [1969]/2003, S. 292) Die Schlussfolgerung, die Adorno hier zieht, ist bedeutungsvoll. Denn sie legt nahe, dass für die kritische Theorie Totalität allenfalls temporär, für bestimmte Aspekte des sozialen Lebens und nur in der Form eines Existenzialurteils ein Erkenntnisprinzip und konkreter Inhalt sein kann. Es handele sich um die von früheren philosophischen Entwürfen erzeugte Illusion, dass „es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen“ (Adorno [1931]/1973, S. 325). Totalität stellt genau genommen Ideologie dar, die für das Bürgertum charakteristisch ist, das die eigenen Lebensverhältnisse totalisiert und sich bemüht, mit formalen Allgemeinbegriffen die Widersprüche im gesellschaftlichen Prozess auszublenden. Diese kritischen Überlegungen haben Konsequenzen für das Verhältnis zum Begriff der Totalität. Dieser erweist sich aus einer materialistischen Sicht nicht oder nur in kritischer Hinsicht als brauchbar. Das, was sich zur Totalität fügt, muss aus der Perspektive der kritischen Theorie jedoch anders gefasst werden. Zu lernen sei, auf die Totalitätsfrage zu verzichten (Adorno [1931]/1973, S. 336). Adorno hat in seinen Arbeiten dafür schon früh den Begriff der Konstellation in die Diskussion gebracht. Nach seinem Verständnis kann es nicht darum gehen, verborgene oder vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten. Adorno teilt die Auffassung Horkheimers, dass die konkrete Konstruktion eines Zusammenhangs des Materials das für den Materialismus Spezifische ist. Die Materie motiviert und erzwingt nichts, die Menschen sind ihr gegenüber frei. „Deutung des Intentionslosen durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung des Wirklichen kraft solcher Deutung: das ist das Programm jeder echten materialistischen Erkenntnis; ein Programm, dem das materialistische Verfahren um so gerechter wird, je weiter es sich von jeglichem ‚Sinn‘ seiner Gegenstände distanziert.“ (Adorno [1931]/1973, S. 336) Deutung wird hier nicht hermeneutisch verstanden als Bemühung, hinter dem Schleier der Erscheinungen verborgene Intentionen und ursprüngliche Bedeutungen zu erschließen (vgl. Jay 1982, S. 76 f.). Im Gegenteil stellt Adorno hier Überlegungen an, wie sie – angestoßen von de Saussure – auch für das semiologisch-diskursanalytische Verständnis von Bedeutungsprozessen kennzeichnend sind. Totalität ist in diesem konstruktiven Sinn selbst nur eine besondere Konstellation, und zwar eine, in der alles so wirkt, als ob niemand aktiv sei, den Zusammenhang herzustellen, als ob er sich wie von allein als System vollziehe. Die herrschaftlich organisierte Gesellschaft schieße „je und je zu Totalitäten zusammen“, die dem Einzelnen keine Freiheit lasse (Adorno [1941]/1977, S. 59). So wie sich Adorno gegen die Totalität als zwanghafte Einheit wendet, so auch gegen nominalistische, analytische Methoden, die jeden Zusammenhang in zahllose Deskriptionen auflösen und Halt machen vor dem begrifflichen Prozess, der eine Einheit herstellt. Gegen beide von ihm verworfenen Alternativen richtet sich Adorno. Begriffsmaterial und Erfahrungen am Begriff sind Gegenstand von „Gruppierung“, „Versuchs-

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anordnung“, „Konstellation“, „Konstruktion“, „Konfiguration“ oder „Modellen“. Einmal kann in den immer neuen Anordnungen das Material zur schlagenden Evidenz und „Einheit der Erfahrung“ einer erzeugten Wirklichkeit zusammenschießen. (Adorno [1931]/1973, S. 341, [1969b]/1977, S. 598) In diesem Fall kommt es schockartig zu einer handlungsermächtigenden, alles veränderungen Zeitdiagnose. Wenn die Materie keine besonderen Konstellationen und Konstruktionen motiviert und erzwingt, so stellt sich die Frage, auf welche Weise diese Konstruktionen rational sind und nicht einfach nur willkürlich. Um diesen Zusammenhang zu denken, führen Horkheimer und Adorno den Begriff der Mimesis ein. Individuen werden nicht unmittelbar durch die Materie bestimmt, sondern durch die Erfahrungen, die sie in der Aneignung des Materials körperlich und intellektuell machen. Horkheimers oben zitierte Formulierung, dass Materie als solche sinnlos sei, ist gerade aufgrund ihrer Abstraktion von der menschlichen Praxis in gewisser Weise falsch. Denn Materie ist immer schon angeeignete Materie. In und durch diese Aneignung sind die Natur und die gegenständliche Welt in der spezifischen Weise aktiv, dass Menschen sich ihnen mimetisch anschmiegen und Erfahrung mit ihnen machen (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 210 f.). Alle diese Materialitäten finden die Individuen nicht einfach als passive, neutrale Objekte, als isolierte Elemente vor, sondern – wie oben ausgeführt – immer in schon von Menschen begrifflich durchdrungener, angeeigneter und bearbeiteter Form. Begriffe stellen eine doppelte Relation dar: sie beziehen sich als Einsicht in die Sache im Denkprozess auf andere Begriffe ebenso wie auf das von ihnen Gemeinte (Horkheimer und Adorno [1956]/1996, S. 57). Über diese kollektiv geteilte Kultur der Bedeutungs- und Erfahrungsgehalte von Begriffen können sich die Individuen nicht hinwegsetzen. Aber es ist ein wesentliches Moment ihrer Freiheit, die Begriffe zu durchdenken, neu anzuordnen, Zusammenhänge herzustellen und in die Begriffe eingebundene Widersprüche freizusetzen und sie wirksam werden zu lassen. Auf dieser Überlegung beruht für Adorno auch alle praktische Hoffnung, die Schwere der Verhältnisse doch einmal in Bewegung zu bringen. Denn auch winzige Verschiebungen und Umgruppierungen könnten einmal und plötzlich jene Konstellation herbeiführen, mit der eine völlig neue gesellschaftliche Praxis beginnt. Deswegen ist es wichtig, die Worte zu sagen, in immer neuen Konstellationen zu sagen. Die Menschen fühlten die Not des Zustands, aber es fehle das „lösende Wort“, jenes „Sesamöffne-Dich“, das die Felsentore der Unfreiheit bewegt und es erlaubt, ins Offene zu treten (Adorno [1962]/1977, S. 617; vgl. Demirović 1999, S. 693 ff.). Martin Jay (1982, S. 72 f., 78) vertritt die Ansicht, dass Adorno, neben dem hegelmarxistischen Modell von Lukács und Horkheimer und einem kausalen BasisÜberbau-Verständnis bei Walter Benjamin, mit dem Begriff der Konstellation schon früh eine weitere Konzeption des Ganzen in die Arbeit des Instituts eingebracht habe. Demnach handelt es sich bei ihm also nicht um eine späte Einsicht in das Scheitern einer jahrzehntelangen Bemühung um eine kohärente kritische Theorie der Gesellschaft, sondern eher darum, dass Adorno Horkheimers hegelmarxistischem Programm von vornherein kritisch gegenüber stand, aber wenig Vertrauen in den praktischen Wert seiner Idee gehabt habe, weil sie kein Kriterium für die Überprüfung von Theorie oder Praxis anführen könne. In Keimform liege schon die Abkoppelung der Theorie

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von der Praxis vor (Jay 1982, S. 75). Jay bedenkt bei seiner Überlegung nicht, dass Theorie, indem sie eine Konstellation von Elementen zusammenbringt und als Totalität konstruiert, enorm praktisch und geradezu aktivistisch wird. Denn die bestimmte Deutung ist ein konstruktiver Akt und eine Intervention durch Zeitdiagnose, die jeweils mit der Erwartung verknüpft ist, dass auf kontingente Weise jenes lösende Wort fallen und der Umschlag in Freiheit stattfinden könnte. Ich meine, dass auch Horkheimer seit der gemeinsamen Arbeit an der „Dialektik der Aufklärung“ die hegelmarxistische Konzeption der Totalität und eine entsprechende Theoriebildung nicht mehr positiv verstanden hat. Aber auch Adorno hat seine Haltung verändert: er ist offener und argumentiert im theoretischen Zusammenhang und mit Blick auf konkrete Prozesse mit mehreren Begriffen des Ganzen. Es lassen sich bei beiden mehrere Modelle unterscheiden: a) Ein Modell, in dem aus einem Begriff (Ware, Äquivalententausch) die einheitliche Theorie des Ganzen entwickelt wird und die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, die auf dieser Grundlage entstehen, in den Blick genommen werden. Es wird eine Gesamtheit von Bereichen angenommen, und die Ökonomie ist nur unter bestimmten historischen Umständen der bestimmende Bereich. b) In einem zweiten Modell stellt die Gesellschaftstheorie einen strikten, systematischen Ableitungszusammenhang her. Sie analysiert und kritisiert die Folgen, die die Dynamik der Subsumtion all dessen, was sich außerhalb befindet, unter die Warenform für die Gesellschaft hat: diese wird als ein zwanghaft integriertes Ganzes begriffen, das sich der Tendenz nach totalisiert, aber neue Desintegration mit sich bringt und an den Rändern zahlreiche Irrationalitäten erzeugt. c) Das Modell, wonach die bürgerliche Gesellschaft bis hin zu ihren grundbegrifflich bestimmbaren Zusammenhängen wie dem Warentausch aus denn Herrschaftsverhältnis zwischen Klassen hervorgeht, also durch einen Klassenantagonismus gekennzeichnet ist, durch den hindurch die Gesellschaft sich reproduziert. d) Adorno sieht das Problem, dass insbesondere die unter (a) und (b) angesprochenen Gesellschaftsmodelle in einen affirmativen Materialismus oder in eine positivistische Systemtheorie übergehen können und schränkt den Begriff der Gesellschaft stark ein. Kritisch schlägt er vor, die materialistische Analyse als eine Aktivität zu begreifen, die intentionslose Elemente in einer Konstellation zusammenbringt. Horkheimer und Adorno haben nicht selbst noch einmal das Verhältnis dieser verschiedenen Begriffe des gesellschaftlichen Ganzen zueinander erörtert, mit denen sie über mehrere Jahrzehnte hinweg arbeiten und die verschiedenen Erfahrungen entsprechen. Am ehesten bei Adorno finden sich Hinweise darauf, dass es sich nicht um heterogene Theoreme handelt, sondern er diese Modelle als Momente eines heterogenen Ganzen begreift, die gleichermaßen von der kritischen Theorie berücksichtigt werden müssen. Aber die Konzeption eines in sich ungleichzeitigen Ganzen – in dem verschiedene Formen des Verhältnisses von Allgemeinem und Einzelnem wirksam sind – kommt über Andeutungen nicht hinaus und wird von ihm selbst nicht mehr weiter ausgearbeitet. So müsste ja weiter vertieft werden, um welchen Gesellschaftstyp es sich handelt, in dem eine solche konstellative Praxis möglich ist; es müsste bedacht werden, wer jeweils die Konstrukteure und Deuter sind und auf welche Weise Deutungskonflikte ausgetragen werden. Es stellt sich die Frage, ob es nicht Akteure gibt, die die Macht haben, nicht nur Elemente ideologieplanerisch herzustellen, sondern auch bestimmte Konstellatio-

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nen über längere Zeiträume stabil zu reproduzieren – und umgekehrt stellt sich die Frage, ob die Infragestellung einer solchen Konstellation auch das Ganze der Klassengesellschaft und ein für allemal trifft. Wenn die Konstellation je und je zur Totalen zusammenschießt – würde dies bedeuten, dass unter emanzipierten Bedingungen nicht in Konstellationen gedacht würde? Wäre die versöhnte Menschheit eine Konstellation unter anderen denkbaren – oder bereitet Adorno einen kritischen Begriff der Konstellation vor? Das sind, wenigstens teilweise, Fragen der Hegemonie, die erst unter ganz anderen theoretischen Vorzeichen im Anschluss an Antonio Gramsci (vgl. zum Vergleich Adorno und Gramsci den Beitrag von Kastner im Handbuch) oder Ernesto Laclau weiterverfolgt wurden.

3

Überbau: das Verhältnis von Ökonomie und Ideologie

Es wurde oben darauf hingewiesen, dass Horkheimer in seiner Antrittsrede auf das Marxsche Modell von Basis und Überbau Bezug nimmt und dieses für die empirische Forschung öffnet. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass Horkheimer und Adorno der Ansicht sind, dass es nur für besondere historische Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung zutrifft, dass die materielle Produktion des Lebens auch das Bewusstsein bestimmt. Für die Kritische Theorie ist – im Anschluss an Marx – ein zentrales Motiv, dass die Menschen ihre Lebensverhältnisse denkend und begrifflich konzipieren. Das Moment von Freiheit besteht gerade darin, dass die Verhältnisse, unter denen Menschen leben, von ihnen nach von allen einsichtigen Gesichtspunkten gestaltet werden. Wenn dies einmal der Fall sein sollte, kann nicht mehr in der gleichen Weise davon gesprochen werden, dass die Basis das Leben und Denken der Menschen festlegt, sondern umgekehrt würden diese darüber entscheiden, wie die materielle Produktion organisiert wäre. Dies würde auch beinhalten, den materiellen Zwang zur körperlichen Arbeit, zur Arbeit insgesamt auf das denkbar geringste Maß zu reduzieren. Freiheit von der notwendigen Arbeit wäre das erste Ziel der Gesellschaft: „Freiheit bedeutet, daß man nichts arbeiten muß.“ (Horkheimer und Adorno [1956]/1996, S. 40) Das Basis-Überbau-Modell wäre kein angemessener theoretischer Begriff mehr. Horkheimer und Adorno werfen allerdings auch die Frage auf, ob sich das Verhältnis von Basis und Überbau nicht bereits unter kapitalistischen Bedingungen folgenreich verschoben, verändert und umgeschichtet hat. Um solche Veränderungen zu diagnostizieren, nehmen sie die Entwicklung der Kultur in den Blick, konkreter: Ideologie, Kulturindustrie, Bildung oder Wissenschaft. Auf die beiden erstgenannten Begriffe soll im Folgenden näher eingegangen werden (zu Bildung vgl. u.v.a. Adorno 1959; Bittlingmayer und Sahrai 2014; Demirović 2015b).

3.1

Der „Kitt“ und die gesellschaftlichen Alternativen

Ideologie ist für Horkheimer und Adorno nicht einfach ein Bewusstseinsphänomen einzelner Individuen. Im Unterschied zur egoistischen Nutzenmaximierung, parti-

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kularen Interessenverfolgung oder individuellen Bedürfnisbefriedigung verkörpert die Ideologie die gesellschaftliche Allgemeinheit: Allgemeinheit der Begriffe und des Denkens, der sinnlichen Wahrnehmungen, des Wissens und der Naturaneignung. Diese Allgemeinheiten objektivieren sich historisch in arbeitsteilig besonderen Formen wie Religion, Recht, Politik, Wissenschaft, Philosophie oder Kunst; insbesondere mit den drei letztgenannten befasste sich die kritische Theorie Horkheimers und Adornos. Ideologie ist eine historisch spezifische Denk- und Erfahrungsweise, erst seit dem 18. Jahrhundert entwickelt sich diese besondere Denkform. Sie ist schwierig zu fassen, da Begriffe der Erkenntnistheorie nicht oder nicht hinreichend geeignet sind: bei Ideologie handelt es sich nicht um Nicht-Wissen und NichtErkanntes, ebenso wenig um Täuschung, Falsches oder Lüge. Auch Wahres und Wissenschaft können zur Ideologie werden; und das, was falsch ist, kann wahr sein, weil es den Verhältnissen entspricht und ihnen angemessen ist (‚notwendig falsches Bewusstsein‘). Ideologie kann nicht einfach durch den Hinweis auf empirische Tatsachen oder logische Mängel eines Arguments widerlegt werden. Das Falsche bleibt beharrlich, die Individuen immunisieren sich gegenüber Einsicht, so dass das Wahre sich nicht zur Geltung bringen kann. Frühaufklärer wie Helvetius und Holbach haben dieses Phänomen der Ideologie als erste genauer in den Blick genommen. Für sie handelte es sich nicht mehr um erkenntnistheoretisch bestimmbare Täuschungen des Geistes, sondern um Meinungen, Ansichten und Vorurteile, die verbreitet sind, weil die Mächtigen die öffentliche Diskussion beherrschen. Sie glaubten noch, dass solche Meinungen sich durch Aufklärung auflösen ließen. Adorno weist jedoch darauf hin, dass sich hier bereits ein Verständnis von Ideologie als einem notwendig falschen Bewusstsein vorbereitet, das als Konsequenz und Moment der Gesellschaft zu begreifen ist. Marx und Engels bewegen sich mit ihren Überlegungen in diesem Spannungsfeld. Sie argumentieren immanenztheoretisch. Menschen machen sich wohl falsche Vorstellungen von der Wirklichkeit. Das aber ist nicht nur falsch, denn auch diese falschen, illusorischen Vorstellungen, wie sie in Politik, Philosophie oder Religion in Deutschland entwickelt werden, gehören zu dieser besonderen deutschen Wirklichkeit hinzu. „Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen.“ (Marx und Engels [1845]/2017, S. 7) Die beiden Autoren schlagen deswegen vor, dies zu tun und die Ebene philosophischen Denkens nicht einfach nur hinter sich zu lassen, sondern selbst noch zum Gegenstand der theoretischen Analyse zu machen. Hier entfalten sie Ansätze einer Ideologietheorie. Demnach handelt es sich bei den herrschenden Gedanken um die Gedanken der Herrschenden (Marx und Engels [1845]/2017, S. 60). Diese haben unter anderem auch Bewusstsein und denken; aber mehr noch: sie verfügen über die Mittel zur geistigen Produktion und Distribution von Gedanken, haben also die Möglichkeit, andere zu beauftragen und zu bezahlen dafür, die geistige Arbeit von konzeptiven Ideologen zu übernehmen, also Geistliche, Juristen, Philosophen, die die geistige Tätigkeit in beruflich spezialisierter Weise ausführen. Marx und Engels bezeichnen das, was diese Ideologen ausarbeiten, als Illusionen. Es haftet ihnen also etwas Scheinhaftes und Falsches an. Die Illusion besteht darin, dass die Herrschenden

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„ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darstellen“ (Marx und Engels [1845]/2017, S. 62 f.). Mit der Überwindung der Herrschaft der bürgerlichen Klasse soll überhaupt die Notwendigkeit, eine herrschende Allgemeinheit, also Ideologie zu erzeugen, verschwinden (Marx und Engels [1845]/2017, S. 64). Die Formulierungen von Marx und Engels legen zunächst einmal nahe, dass sie – ähnlich wie die Frühaufklärer – Ideologie als Ergebnis von herrschaftlichem Handeln begreifen. Dies könnte dahin missverstanden werden, dass die Herrschenden selbst zynisch sind, also wider besseres Wissen Illusionen nähren. Doch betonten Marx und Engels ausdrücklich, dass diese Illusionen real wirksam sind in der konkreten Form der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Arbeitsteilung. Ihnen haftet also das Moment der Notwendigkeit an, wie der metaphorische Hinweis auf die Camera obscura erläutern soll. „Die Menschen sind die Producenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte & des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, & das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen u. ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.“ (Marx und Engels [1845]/2017, S. 135) Mit diesem Hinweis jedoch wird wiederum nahegelegt, als handele es sich bei der Frage der Ideologie um ein allgemein-erkenntnistheoretisch-naturwissenschaftliches Problem. Doch bei Ideologie handelt es sich um eine Praxis, die weder nur Illusion noch notwendige Täuschung ist. Schon Marx und Engels war klar, dass die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit und die Herausbildung von Ideologie nur unter Bedingungen stattfinden kann, unter denen Herrschaft die Form einer dinglichen, sachlichen Gewalt annimmt (Marx und Engels [1845]/2017, S. 70, 97). Marx selbst arbeitet keine Theorie der Ideologie aus; insofern kann die kritische Theorie als eine Bemühung verstanden werden, gerade diese theoretische Lücke zu füllen (vgl. Eagleton 1993; Ritsert 2002; Rehmann 2008 und den Beitrag von Kap. ▶ „Ideologiekritik“). Es ist das Spezifische von Ideologie als einer genuin bürgerlichen Denkform, dass sich in ihr Wahres und Falsches verschränken. Um Ideologie handelt es sich, weil in intellektuellen Objektivationen (Nation, Gott, Kunst, Gesetz) das Moment des Objektiven, Allgemeinen und Wahren enthalten ist und sich mit einem partikularen Interesse verschränkt, das sich vermittels dieser ideologischen Formen als ein Allgemeines behauptet. Diese Absonderung und Konstitution der geistigen Sphäre werden von Horkheimer und Adorno als „gesellschaftliches Resultat der Arbeitsteilung bestimmt. Schon der bloßen Form nach rechtfertige diese Transzendenz eine gespaltene Gesellschaft. Der Anteil an der ewigen Ideenwelt wird dem vorbehalten, was durchs Ausgenommensein von der physischen Arbeit privilegiert ist.“ (Adorno [1954]/1972, S. 457) Das Allgemeine des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens ist herrschaftlich organisiert; es ist das Denken herrschender Gruppen, die Allgemeinheit in Anspruch nehmen, weil vermeintlich das Überleben aller nur gewährleistet

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ist, wenn ihr partikulares Interesse verfolgt wird – dieses soll also unmittelbar selbst das Allgemeininteresse sein. Adorno kann deswegen sagen, dass in der Ideologie immer auch ein Moment von Rationalität und Wahrheit enthalten ist, da historisch tatsächlich das Überleben vieler nur durch ihre Unterwerfung und Arbeit für andere gewährleistet war. Das ist die Grundlage von Ideologiekritik, die Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit konfrontiert und sich an ihrem rationalen Element abarbeitet (Adorno [1954]/1972, S. 465). Wäre das Bewusstsein vollständig manipuliert, könnte dies nicht als Ideologie bezeichnet werden. „Wo bloße unmittelbare Machtverhältnisse herrschen, gibt es eigentlich keine Ideologien.“ (Adorno [1954]/1972, S. 465). Genau in diesem Sinn vertritt Adorno die These, dass der Nationalsozialismus eben keine Ideologie sei. Denn Rassismus und Antisemitismus enthalten keinen objektiven Geist, sie sind wahnhaft, Gewalt gegen Menschen, und diesen Vernichtung wird nicht für einen Zweck der Selbsterhaltung in Kauf genommen, sondern wird zum Selbstzweck. Die Ideologie trägt dazu bei, dass Herrschaft reproduziert, damit über die Arbeit anderer verfügt sowie das in der gemeinsamen Arbeit der Vielen erzeugte Produkt von Wenigen privat angeeignet wird. „Kultur selber [entspringt] in der radikalen Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit und [zieht] aus dieser Trennung, der Erbsünde gleichsam, ihre Kräfte.“ (Adorno [1949]/1977, S. 20) Die, die elitär davon sprechen, dass sie Kultur hätten im Unterschied zu denen, denen sie fehlen würde, bekräftigen damit ihre Herrschaftsposition. „Von Kultur zu reden war immer schon wider die Kultur.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 156) Kultur ist demnach nicht einfach nur ein Privileg Weniger; weit mehr als das ist sie konstitutiv, also bis in ihr Innerstes hinein von Herrschaft durchdrungen und übt, indem sie in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung geistige Funktionen, also Funktionen des Kommandos über die Arbeit, des Denkens und Fühlens wahrnimmt, selbst Herrschaft aus. Doch diese allgemeine Analyse veranlasst Adorno und Horkheimer nicht, Kultur und geistige Arbeit zu verwerfen. Das erschiene ihnen barbarisch, da damit der Anspruch auf Denken, auf Begriffe selbst verworfen würde, also gerade das, was als Ergebnis all der Bemühungen und Kämpfe um Selbsterhaltung der Menschen eben dazu beigetragen hat, dass es ihnen gelungen ist, sich zu erhalten und mithin die Grundlage des im herrschaftlichen Denken immer auch enthaltenen Moments von Vernunft darstellt. Das Ziel ist die Aufhebung der Kultur, die Überwindung der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit (Adorno [1949]/1977, S. 23). Deswegen ist es notwendig, in der Kultur, in der Ideologie jene Auseinandersetzung um das rationale Moment zu führen, um von der Seite der Kultur her die gesellschaftliche Besonderung des Geistigen zu überwinden, aber auch jenes Moment der Vernunft zu retten. Aufhebung der Ideologie durch die Überwindung der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit darf nicht derart missverstanden werden, als solle alles auf körperliche Arbeit reduziert werden. Aufhebung bedeutet nicht, auf die verschiedenartigsten Kenntnisse und auf die Scheidung leitender und ausführender Funktionen überhaupt zu verzichten. Das würde den Rückfall in die Urzeit bedeuten. Vielmehr geht es um darum, die Autorität der Leitungsfunktionen von egoistischen Interessen und Ausbeutung zu lösen. Die von der Leitung verfolgten Ziele und Pläne seien dann keine Resultanten divergierender Klasseninteressen

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mehr, vielmehr führten alle nur die Pläne aus, die sie selbst beschlossen haben (Horkheimer [1936a]/1988, S. 386 f.). Insofern ist das Verhältnis von körperlicher und geistiger Arbeit selbst auf nicht-herrschaftliche, durchsichtige Weise zu bestimmen. In einer Diskussion mit Horkheimer sagt Adorno: „In einer Welt, die so geplant wäre, daß alles, was man tut, in einer durchsichtigen Weise dem Ganzen dient und nicht mehr darin besteht, daß unsinnige Tätigkeiten ausgeführt werden, würde ich gern zwei Stunden am Tag einen Lift bedienen.“ (Horkheimer und Adorno [1956]/ 1996, S. 41) Adornos Äußerung trifft auf lustige Weise den wichtigen Punkt einer durch die Willensbildung aller vermittelten Arbeitsteilung, allerdings umgeht sie die Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn die sog. Handarbeit selbst sehr viel Kompetenz und Routine benötigt, um sachgemäß ausgeführt zu werden: Pflege, Klempnerarbeit, Softwareentwicklung. Michael Albert (2006) hat deswegen vorgeschlagen, Tätigkeiten nach Komplexität zu zergliedern und zu Bündeln zusammenzustellen, in denen Hand- und Kopfarbeit neu gemischt werden. Das Besondere an den ideologischen Artefakten ist, dass sie aus dem unmittelbaren Arbeits- und Verwertungszusammenhang heraustreten. Indem Kunst, Philosophie oder Wissenschaft Autonomie erlangen, erscheinen sie nicht als Instrumente für anderes, sondern als Selbstzweck, als ein Versprechen, sich nicht der Lebenserhaltung, der Profitmaximierung oder politischer Macht unterzuordnen. Durch ihre Distanz zur Selbsterhaltung, zum Äquivalententausch, zum Zweck-für-anderes stellen die kulturellen Praktiken einen semiologischen Abstand zur Wirklichkeit her. Sie eröffnen einen Raum, in dem die Kultur auf jene andere Wirklichkeit hinweist, in der Menschen für andere lediglich Mittel sind und die Möglichkeit zur Besonderung zunehmend verlieren. „Denn kein authentisches Kunstwerk und keine wahre Philosophie hat ihrem Sinn nach je sich in sich selbst, ihrem Ansichsein erschöpft. Stets standen sie in Relation zu dem realen Lebensprozeß der Gesellschaft, von dem sie sich schieden. Gerade die Absage an den Schuldzusammenhang des blind und verhärtet sich reproduzierenden Lebens, das Beharren auf Unabhängigkeit und Autonomie, auf der Trennung vom geltenden Reich der Zwecke impliziert, als bewußtloses Element zumindest, die Anweisung auf einen Zustand, in dem Freiheit realisiert wäre.“ (Adorno [1949]/1977, S. 16; Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 160) Kultur im Sinn von Aktivitäten, die aufgrund der herrschaftlich durchgesetzten gesellschaftlichen Teilung von körperlicher und geistiger Arbeit wenigen Intellektuellen und Bürgern vorbehalten sind, weiset gerade in ihrer Distanz und Freiheit von der unmittelbaren körperlichen Arbeit kritisch auf jenen Zustand hin, in dem den Vielen die Möglichkeit der Teilhabe an der Kultur versperrt ist. Indem sie sich dem „Dienst am Kunden im Dienst der Verfügenden“ und der Herstellung des Immergleichen entziehen, halten die autonomen Kunstwerke den Menschen die Treue (Adorno [1949]/1977, S. 16) und weisen auf die Möglichkeit einer Anordnung der gesellschaftlichen Arbeit hin, in der körperliche und geistige Arbeit nicht mehr getrennt sind. Adorno argumentiert ganz entschieden für diese semiologische Distanz der Kultur, betont aber auch – wie in den Überlegungen zur Odyssee in der „Dialektik der Aufklärung“ –, dass eine Kultur, die sich von der gesellschaftlichen Selbsterhaltung entfernt, ihrerseits ohnmächtig und wahnhaft wird. „Der moderne Begriff der reinen, autonomen Kultur bezeugt den ins Unversöhnliche

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angewachsenen Antagonismus durch Kompromißlosigkeit gegenüber dem für anderes Seienden sowohl wie durch die Hybris der Ideologie, die sich als an sich Seiendes inthronisiert.“ (Adorno [1949]/1977, S. 21) Für die materialistisch-dialektische Theorie – wie Horkheimer und Adorno sie verstehen – ist die Kultur also kein Epiphänomen, sondern ein Moment in der herrschaftlichen Organisation gesellschaftlicher Arbeit. Als geistige Arbeit steht Kultur auf der Seite der Herrschaft. Die bürgerliche Gesellschaft ist durch eine besondere Gliederung und Arbeitsteilung gekennzeichnet. Wäre die Ideologie nur als ein Sekundäres abgeleitet, könnte ihre Analyse lediglich bestätigen, was man durch eine Wesensbestimmung des Kapitalverhältnisses ohnehin schon wüsste. Für die Wirksamkeit der materiellen Prozesse hätte sie kaum eine weitere Bedeutung. Das von Horkheimer vorgeschlagene Modell von Basis und Überbau schlägt eine andere Herangehensweise vor: Welche Stellung und Funktion die Kultur in der Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse jeweils einnimmt, wird als ein Merkmal genommen, an dem sich der Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft ablesen lässt. Für eine lange Entwicklungsphase war die Trennung der ideologischkulturellen Prozesse von den kapitalistischen Formen der Produktion kennzeichnend. Die bürgerliche Gesellschaft denkt und praktiziert in den Kategorien von Religion, Familie, Recht, Kunst, Philosophie oder Wissenschaft jenes Allgemeine, was ihr dort, wo die unmittelbare Selbsterhaltung stattfindet, nicht gelingt. In der Ideologie lag deswegen eine der Grundlagen für die Möglichkeit von kritischer Theorie und der Bestrebung, von der Seite der Kultur her die gesellschaftliche Arbeitsteilung aufzuheben. Doch was seit den 1920er-Jahren stattfand, war etwas anderes. Gegenüber der vorgegangenen, liberalen Phase beobachten Adorno und Horkheimer einen „Strukturwandel und Funktionswechsel von Ideologie und Ideologiebegriff“ (Adorno [1954]/1972, S. 464), also tief greifende Veränderungen im Verhältnis von ideologischem Überbau und der Sphäre der materiellen Produktion. Die topologische Theorie von Basis und Überbau sei angesichts der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr angemessen, die finstere Einheitsgesellschaft dulde jene relativ selbstständigen Momente der Kultur nicht mehr (Adorno [1949]/1977, S. 29). Adorno beobachtet eine Schwächung des Geistes, die er nicht erklären will durch ein Nachlassen schöpferischer Kräfte bei einzelnen Individuen oder die technische Zivilisation schlechthin. Er spüre eine „Art Gesteinsverschiebung“. „Gegenüber den katastrophischen Vorgängen in den Tiefenstrukturen der Gesellschaft hat der Geist selber etwas Ephemeres, Dünnes, Ohnmächtiges angenommen. [. . .] Die Gesteinsverschiebung – buchstäblich eine zwischen den Schichten des Überbaus und des Unterbaus – reicht bis in die subtilsten immanenten Probleme des Bewußtseins und der geistigen Gestaltung hinein und lähmt eher die Kräfte, als daß es an diesen fehlt.“ (Adorno [1954]/1972, S. 473 f.)

3.2

Kultur und Herrschaft

Das Basis-Überbau-Theorem wird von Adorno und Horkheimer genutzt, um eine relevante Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft selbst zu bestimmen. Der

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Charakter der Ideologie ändert sich, der semiologisch-hinweisende Abstand der Kultur zur Ökonomie wird eingezogen. Der Kapitalismus ist im Prozess seiner Reproduktion selbst seit den 1920er- und 1930er-Jahren in eine neue Periode übergegangen. Diese wird bestimmt durch die Herausbildung der Kulturindustrie. Häufig wird darunter Film, Radio und Musik verstanden. Auch Adorno legt dies durchaus nahe. Doch Kulturindustrie umfasst mehr: die Zweckarchitektur der Industrie und Verwaltung, die Wohn- und Geschäftshäuser, Kinos, Mode, Zeitungen und Illustrierte, die Reklame und der Starkult, Sport und Jahrmärkte – also eigentlich eine umfassend organisierte Lebensweise. Es geht Horkheimer und Adorno weniger um eine einzelne Sparte der Kulturindustrie, sondern um den Bereich als Ganzen. „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus. [. . .] Die ästhetischen Manifestationen noch der politischen Gegensätze verkünden gleichermaßen das Lob des stählernen Rhythmus.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 144) Die Kulturindustrie stellt eine Totalität dar, ein System in der die verschiedenen Momente aufeinander verweisen. Die Vertreter der kritischen Theorie sprechen absichtsvoll von Kulturindustrie, nicht von Massenkultur, weil sie betonen wollen, dass die Produkte planvoll hergestellt und auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind, also nicht spontan aus den Massen aufsteigen, die Massen seien ein Einkalkuliertes, Anhängsel der Maschinerie (Adorno [1963]/1977, S. 337). Sie wenden sich damit auch gegen eine elitäre kulturkonservative Kritik, die nahelegt, eine Teilhabe von großen Massen an der Kultur müsse zu deren Verfall führen. Kritisiert wird die Praxis der Kulturindustrie, das Profitmotiv unmittelbar auf die geistigen Gebilde zu übertragen, diese seien nicht auch Waren, sondern seien es durch und durch (Adorno [1963]/1977, S. 338). Auch wenn die großindustrielle Industrie in einzelnen Sparten eine gewisse Rolle spielt, wird vor allem die Standardisierung der Sache und die Rationalisierung der Verbreitungstechniken kritisiert. Da es sich um Kapitalverwertung handelt, würden die Menschen genau um das betrogen, was ihnen versprochen wird, nämlich Teilhabe an Kultur. Bei der Kulturindustrie handele es sich um die Manipulation durch die ökonomisch Stärksten. Sie würden sich darauf berufen, dass die Kulturproduktion und Zirkulation für viele Menschen mit technischen Zwängen einher gehe und gar keine Kunst bieten wolle. Begründet wird das mit Sachzwängen: „Der technische Gegensatz weniger Herstellungszentren zur zerstreuten Rezeption bedinge Organisation und Planung durch die Verfügenden.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 145) Genau das kritisieren Horkheimer und Adorno als die falsche Identität von Allgemeinem und Besonderem. Das gilt zum einen für das Produktionsverhältnis selbst. Die Einzelnen können auf die Definition von Kultur, auf das, was als Kultur produziert und zirkuliert wird, keinen Einfluss nehmen. Es habe sich keine Apparatur der Replik herausgebildet, demokratisch mache das Radio „alle gleichermaßen zu Hörern, um sie autoritär den unter sich gleichen Programmen auszuliefern“ (Horkheimer und Adorno [1947]/ 1987, S. 146). Für die Kulturindustrie als Industrie ist kennzeichnend, dass Kunstwerke nicht mehr von einzelnen Künstlern für den Markt oder nach Absprache für Kunden hergestellt werden. Die Zirkulationssphäre des Marktes wird durch Monopole, in diesem Fall Monopole der Kulturerzeugung, in den Griff genommen. Dies

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hat zur Folge, dass in der Herstellung und Verbreitung der Kulturprodukte nichts dem Zufall überlassen wird. Die Kulturmärkte sind global organisiert. Deswegen stellt aus der Sicht von Horkheimer und Adorno die Behauptung, die Kulturindustrie befriedige Bedürfnisse, eine bloße Ausrede dar, denn es handelt sich um einen Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis. Die Einheit von Kulturindustrie und erzeugtem Bedürfnis gilt als Grundlage ihrer Gewalt (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 162; ähnlich Marcuse [1964]/1989, S. 24 ff.). Mit Blick auf spätere machtkritische Überlegungen von Michel Foucault lässt sich sagen, dass die Macht der Kulturindustrie Bedürfnisse nicht einfach unterdrückt, sondern aktiviert oder erzeugt. Die Kultur wird in enger Verbindung mit Marktanalysen und Konsumforschung hergestellt, die die jeweiligen Einkommensgruppen und ihre Kaufkraft erfasst, die Bedürfnisse statistisch isolierbarer Gruppen bis ins Detail identifiziert und klassifiziert, erfasst, aufgreift, bestätigt, steuert, diszipliniert, intensiviert. Der Unterschied von hoher und niederer Kultur wird beseitigt, neu werden die Konsumenten nach verschiedenen Sparten wie E- und U-Musik oder A- und B-Filme differenziert. „Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 147, vgl. auch, S. 167) Auch Repression und Zensur kommen vor, die die Repräsentation unpassender politischer Positionen, individuellen Leidens oder erotischer Momente ganz oder teilweise unterbinden. Es wird aber auch mit der Normalität von Abweichungen und Kritik gerechnet, sie werden als Hinweise auf neue Marktsegmente und auf neue Reproduktionsmuster des Immer-Gleichen der Kulturwarenproduktion genutzt. „Die Öffentlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft läßt es zu keiner vernehmbaren Anklage kommen, an deren Ton die Hellhörigen nicht schon die Prominenz witterten, in deren Zeichen der Empörte sich mit ihnen aussöhnt.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 156) Zum zweiten ist die falsche Identität von Allgemeinem und Einzelnem auch für die einzelnen Produkte kennzeichnend. Sie werden standardisiert, zergliedert und in arbeitsteiligen Prozessen in genauester Abstimmung von verschiedenen Berufsgruppen erzeugt und mit Blick auf den Effekt zusammengesetzt. Der Effekt, die technischen Details übernehmen in den Kulturwaren die Vorherrschaft. Das Neue, die Abwechslung ist die Umkleidung eines immer gleichen Gerüsts „starr konservierter Grundkategorien“ (Adorno [1963]/1977, S. 339) Was für Kunstwerke charakteristisch war: eine harmonische Einzelwirkung, eine partikulare Farbe, ein Stilbruch, der Ausdruck von Leiden, wird von der Kulturindustrie in die Totalität hineingezwungen. „Während [Kulturindustrie] nichts mehr kennt als die Effekte, bricht sie deren Unbotmäßigkeit und unterwirft sie der Formel, die das Werk ersetzt. Das Ganze tritt unerbittlich und beziehungslos den Details gegenüber [. . .]. Die sogenannte übergreifende Idee ist eine Registraturmappe und stiftet Ordnung, nicht Zusammenhang. Gegensatzlos und unverbunden tragen Ganzes und Einzelheit die gleichen Züge. Ihre vorweg garantierte Harmonie verhöhnt die errungene des großen bürgerlichen Kunstwerks.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 150) Geschätzt werden an den Kulturwaren dann auch vor allem sekundäre Merkmale, die auf die Macht der Kulturindustrie selbst hinweisen: die Produktionskosten, die aufwändigen Kulissen und Ausstattungen, die technischen Neuerungen und Details, die großen Stars, ihre

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Gagen, ihre modische Kleidung, ihr mondäner Lebensstil, die Käuferzahlen, Einschaltquoten oder ‚Follower‘. Die kulturindustriellen Produkte schlagen von Aufklärung ganz konkret in Mythos um: auf dem höchsten Niveau technologischer Möglichkeiten werden die einfachsten, mythischen Stoffe immer wieder reproduziert (der Kampf zwischen Gut und Böse, Liebe und Geld), stereotype Erzählmuster gewählt, seit langem überholte Musikformen genutzt. Kultur dient der Betäubung und der Unterwerfung; sie geht in Terror über, ständig wird dem Publikum demonstriert, was ihm angetan werden könnte an polizeilichem Rechtsbruch, an Gewalt, Korruption oder Folter. Die Kulturindustrie basiert offensichtlich auf einer Reorganisation der Produktion und einer Neugliederung des Alltags der Lohnabhängigen. Sie hat zur Voraussetzung, dass die Produktivität deutlich angestiegen ist und die Lohnabhängigen höhere Löhne und eine Arbeitszeitbegrenzung, also mehr freie Zeit durchsetzen konnten. Zudem haben vor allem zunächst einmal die Angestellten, die ‚Menschen in den Büros‘ aufgrund ihrer Arbeitsverhältnisse einen verstärkten Bedarf nach Konsumangeboten (Kleidung, Kosmetik, Haushaltstechnik, Fast Food), sie verfügen auch über freie Abende oder Wochenenden und können sich langlebige Konsumgüter (Immobilien, Möbel, Auto, Radio, Plattenspieler, Fernsehgerät, Kühlschrank, Waschmaschine) leisten. Es bildet sich der besondere Zeitabschnitt nicht der spontanen freien Zeit, sondern der organisierten „Freizeit“ heraus, die mit spezifischen sozialen Praktiken verbunden ist. Die Produktivitätsfortschritte und der dadurch erzeugte gesellschaftliche Reichtum würden es den Menschen ermöglichen, die Zeit, die nicht mehr für unmittelbare Selbsterhaltung aufgewendet werden muss, auf vielerlei Art und Weise zu nutzen, sich Wissen, Kompetenzen und Kultur anzueignen und neue Gewohnheiten und Bedürfnisse ausbilden (Adorno [1931]/1984, S. 831). Die Individuen könnten sich ihre Lebenszusammenhänge auf dem historisch höchst möglichen begrifflichem und emotionalem Niveau differenziert aneignen und sie gemeinsam mit vielen anderen verbessern und derart gestalten, dass niemand mehr hungern müsste sowie die Notwendigkeit der Arbeit immer weiter zurückgedrängt und umfassende Muße möglich würde. Aus dem Blickwinkel von Horkheimer und Adorno verfolgt die Kulturindustrie jedoch gerade das Ziel, jene emanzipatorischen Möglichkeiten zu blockieren, alle beschäftigt zu halten und dankbar zu sein dafür, dass sie ‚Arbeitnehmer‘ sein dürfen. In der von der Arbeit getrennten Freizeit soll die Arbeitskraft wieder hergestellt werden; damit bleibt sie, in strikter Trennung von der formellen Arbeit, dieser untergeordnet. Die Freizeit soll in nichts an die Arbeit erinnern – „das ist der Grund des Schwachsinns vieler Freizeitbeschäftigungen“ (Adorno [1969a]/1977, S. 647) und ist so häufig mit Langeweile verbunden –, gleichzeitig jedoch werden die Verhaltensweisen der Arbeit fortgesetzt oder eingeübt. Die Freizeit (Adorno nennt Tourismus, Camping, Sport) ist ein profitables Geschäft, indem sie sich Teile des Konsumtionsfonds der Lohnabhängigen aneignet. Sie schafft Anreize, mehr zu arbeiten, um Kulturwaren erwerben zu können. Indem sie die intellektuellen, ästhetischen, emotionalen Kompetenzen der Individuen in Wert setzt, beutet sie sie aus und lässt die Kultur als Fähigkeit und Macht des Kapitals erscheinen. Die Kulturindustrie verkörpert soziale Macht, weil sie viele Millionen Menschen organisiert und zueinander in ein Verhältnis setzt: sie wissen,

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dass eine Vielzahl anderer die Nachrichten, einen Musikwettbewerb oder eine Talkshow sehen, sie teilen Musikstile und Stars, Kleidung, Produktdesign, Wohnungseinrichtungen, ihnen werden individuelle Muster des Verhaltens oder der Gefühle als Modelle der Interaktion und Kommunikation vorgeschlagen oder den Alltag durchziehende Gesprächsthemen über Autos, Filme, Radio- und Fernsehsendungen vermittelt. Mit ihrer Grammatik, ihrer Syntax, mit ihren intertextuellen Praktiken gibt sie Applikationsmodelle für die gemeinsame Orientierung, Gespräche, Verhaltensweisen. „Die von der Existenz unterm Systemzwang demoralisierten Massen, die Zivilisation nur in krampfhaft eingeschliffenen Verhaltensweisen zeigen, sollen durch den Anblick des unerbittlichen Lebens und des vorbildlichen Benehmens der Betroffenen zur Ordnung verhalten werden. Zur Bändigung der revolutionären wie der barbarischen Instinkte hat Kultur seit je beigetragen. Die industrialisierte tut ein übriges.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 179 f.) Die Kulturindustrie ist ein Ordnungsfaktor, ihr kategorischer Imperativ laute: „du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist“ (Adorno [1963]/1977, S. 343). Für das Verständnis ideologischer Prozesse sind diese Analysen folgenreich. Obwohl Ideologie die Frage der Erkenntnis berührt, kann sie nicht in erkenntnistheoretisch-philosophischen Konzepten gefasst werden. Heute sei das Geheimnis, wie der Geist zu einem Begriff von Wirklichkeit kommt, enträtselt, schreiben Horkheimer und Adorno ironisch. „An der Einheit der Produktion soll der Freizeitler sich ausrichten. Die Leistung, die der kantische Schematismus noch von den Subjekten erwartet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenommen. Sie betreibt den Schematismus als ersten Dienst am Kunden.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 149) Die Kulturindustrie organisiert den Alltag der Individuen; diese bewegen sich ununterbrochen in der von der Kulturindustrie erzeugten und verwalteten Kultur. Die ganze Welt werde durch ihr Filter geleitet, alle Zweige der geistigen Produktion werden dem „einen Zweck unterstellt, die Sinne der Menschen vom Ausgang aus der Fabrik am Abend bis zur Ankunft bei der Stechuhr am nächsten Morgen mit den Siegeln jenes Arbeitsganges zu besetzen“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 156, S. 150). Ideologie weist nicht mehr auf die Welt hin, sie ist in diesem Sinn keine kulturelle Repräsentation mehr. Ideologie im Sinne von falschem Bewusstsein gibt es nicht mehr; vielmehr sei sie übergegangen in die Art und Weise, wie die alltägliche Welt von den Menschen mit ihrem kulturindustriellen Bewusstsein gelebt wird. „Ideologie heißt heute: die Gesellschaft als Erscheinung.“ (Adorno [1949]/1977, S. 25) Die Gesellschaft selbst sei der gesellschaftlich notwendige Schein geworden – das Faktische der Verhältnisse, das So-wie-es-ist wird zur Ideologie, zum Sinn. Das Dasein werde als seine eigene Norm proklamiert, die Menschen „im glaubenlosen Glauben an die pure Existenz befestigt“ (Adorno [1954]/1972, S. 477). Deswegen kann Adornodavon sprechen, dass Ideologie Reklame für die Welt geworden sei, da sie allein in dem Verweis der Verhältnisse auf sich selbst besteht. „Alle Phänomene starren wie Hoheitszeichen absoluter Herrschaft dessen was ist.“ (Adorno [1949]/1977, S. 29)

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Dieser These zufolge ist die gesellschaftliche Wirklichkeit also so, wie sie ist, selbst zur Ideologie geworden. Der Positivismus sollte demnach nicht allein als eine Wissenschaftsphilosophie oder Methode, sondern das Selbstverständnis einer solchen Gesellschaft verstanden werden, an der nichts mehr über sich selbst hinausweist. Die gesellschaftliche Wirklichkeit hat die kulturellen sinnhaften Momente in sich absorbiert. Im strengen Sinn von Adornos Begriff von Ideologie ist die kapitalistische Gesellschaft mit Faschismus und kulturindustrieller Planung und Verwaltung in eine Phase übergegangen, in der er obsolet geworden ist. „Von Ideologie läßt sich sinnvoll nur soweit reden, wie ein Geistiges selbstständig, substanziell und mit eigenem Anspruch aus dem gesellschaftlichen Prozeß hervortritt. Ihre Unwahrheit ist stets der Preis eben dieser Ablösung, der Verleugnung des gesellschaftlichen Grundes. Aber auch ihr Wahrheitsmoment haftet an solcher Selbstständigkeit, an einem Bewußtsein, das mehr ist als der bloße Abdruck des Seienden, und danach trachtet, das Seiende zu durchdringen. Heute ist die Signatur der Ideologien eher die Absenz dieser Selbstständigkeit als der Trug ihres Anspruchs.“ (Adorno [1954]/1972, S. 474) Diese Beobachtung ist mit einer Einschätzung der Bedeutungsverschiebung der kritischen Theorie selbst verbunden. Denn jene hilft zu verstehen, warum diese in gewisser Weise funktionslos wird: der „Geist“ spaltet sich auf in eine esoterische Wahrheit, die in den unmittelbaren Wirklichkeitszusammenhängen ihre Wirkung verliert, und „in planende Verwaltung dessen, was einmal Ideologie war“ (Adorno [1954]/1972, S. 474). Wenn über die kapitalistische Gesellschaft nichts mehr hinausweist und die Kritik an ihr folgenlos wird, dann ist die Situation verstellt; und Adorno steht vor der Frage, welche Möglichkeiten kritischen Denkens und verändernder Praxis er sieht. Er gibt seiner Überlegung eine verwegene dialektische Wendung. Wenn Ideologie keine Verhüllung der Welt mehr ist, sondern Propaganda und Terror, wenn die Realität zur Ideologie ihrer selbst wird, dann stellt die Kritik der Ideologie schon unmittelbar eine Kritik der Verhältnisse selbst dar. Es bedürfte „nur einer geringen Anstrengung des Geistes, den zugleich allmächtigen und nichtigen Schein von sich zu werfen“ (Adorno [1954]/1972, S. 477). Theorie kann Konstellationen herbeiführen, die unmittelbar in verändernde Praxis umschlagen. Die Überlegungen zur Kulturindustrie und zur verwalteten Welt sind ein wichtiger Beitrag Horkheimers und Adornos zum Verständnis der Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise. Sie zeigen, dass sich mit neuen Industrien der Kulturwarenproduktion und der statistisch vermittelten Lenkung der Bevölkerung ein neuer Bereich der Kapitalverwertung herausgebildet, der Kapitalkreislauf sich mit der Bildung von Kulturmonopolen also erweitert hat. Kennzeichnend für die neue Entwicklungsphase des Kapitalismus ist, dass ideologische unmittelbar mit ökonomischer Herrschaft, Überbau mit Basis zusammenfallen. Obwohl die Überlegungen zur Kulturindustrie eine zentrale Rolle für die ältere Kritische Theorie, spielt, haben sie zwar intensive Diskussionen in den Lehrveranstaltungen Adornos angeregt (vgl. Demirović 1999, S. 429 ff.). Bemerkenswert ist jedoch auch, dass vielen Fragen nicht weiter nachgegangen wurde. So bleibt die grundsätzliche Frage offen, wie im Bereich der industriellen Kulturwarenproduktion Kapital verwertet wird. Die Antwort besteht vor allem darin, dass das kapitalistische Tauschverhältnis

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die Kultur und den Konsum unterwerfen. Doch die Arbeitsorganisation und die Aneignung von Mehrarbeit der Beschäftigten selbst werden nicht näher analysiert. Eher legt die Argumentation nahe, dass die Unternehmen ihren Gewinn zum einen durch Werbung generieren und andererseits, indem sie die Lohnabhängigen vom Freizeitbetrieb abhängig machen und einen Anteil von deren Konsumfonds aneignen. In beiden Fällen handelt es sich um eine indirekte und sekundäre Aneignung; es scheint, dass Horkheimer und Adorno den Mechanismus irrationaler Preisbildung aus der Sphäre der Kunst auf den Bereich der Kulturindustrie übertragen, es hier also nicht zur Bildung eines Wertes kommen muss, der der im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendigen Arbeitszeit entsprecht. Erstaunlicherweise regt die Kulturindustrie-These kaum detaillierte empirische Forschung am Institut für Sozialforschung an: also Details der Unternehmensformen und Marktorganisation, der Eigentumsverhältnisse; ihr Einfluss auf und die Verschränkung mit Politik; technologische Entwicklungen, Arbeitsverhältnisse in den ‚Betrieben‘ (Verlage, Radiound Fernsehanstalten, Konzerthäuser, Filmproduktion, Plattenfirmen, Mode, Hersteller technischer Geräte und Infrastrukturen und damit verbundene politische Prozesse); Rekrutierungsmuster in Film, Musik oder Fernsehen; das Rezensionswesen und die Praktiken der Preisverleihungen; die konkreten kulturindustriellen Alltagspraktiken in der Produktion, Verbreitung, Rezeption von Film über Musik, Mode und Shopping bis zum Sport. Das Theorem der Kulturindustrie wurde von Horkheimer und Adorno auch nicht näher empirisch spezifiziert für verschiedene Nationalstaaten oder für verschiedene Bereiche der Kulturindustrie. Ebenso wenig haben sie die zeitgenössischen kulturindustriellen Entwicklungen zum Anlass weiterer Reflexion genommen, also die Tatsache, dass viele kritische Intellektuelle wie Adorno selbst, der Autorenfilm, linke Verlage mit anspruchsvoller Literatur, eine kritische Aufführungspraxis klassischer Musik oder kritische Ausrichtungen der verschiedenen Formen zeitgenössischer Musik in der Kulturindustrie einen starken Rückhalt finden konnten. Erst einige Jahrzehnte später begannen Jüngere, sich kritischen Analysen der Kulturindustrie zuzuwenden (Prokop 2001; Kellner 2005; Steinert 1998; vgl. die Beiträge in der Zeitschrift für kritische Theorie, H. 10/2000). Es liegt heute auf der Hand, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Kulturindustrie und Plattformökonomie zu prüfen: facebook, Twitter, youtube, Google, Uber, netflix vergesellschaften Milliarden Menschen; gleichzeitig bleibt diese Vergesellschaftung unter privater Kontrolle, hierarchisch und intransparent. Diese Unternehmen weisen enorme Gewinne aus, die weitgehend abgeleitet sind aus der Werbewirtschaft und dem Konsumtionsfonds der Verbraucher. Vor einem ganz anderen marxistischen Hintergrund argumentierend, regte Louis Althusser an, ideologische Prozesse nicht als ökonomisch-kulturindustriell organisierte zu bestimmen, sondern ihre politisch-staatliche Funktionsweise zu analysieren. Er rückte damit die Praktiken der Anrufung/Verkennung, der Subjektivierung der Individuen, ihre Individualisierung und Totalisierung durch den Vollzug von Ritualen und Praktiken in den Blick, die in den verschiedenen ideologischen Staatsapparaten (Kirche, Familien, Hochschule, Parteien) organisiert werden. Diese Überlegungen sind ähnlich wie bei Adorno gegen die Begriffe des Sinns und des Subjekts gerichtet, allerdings wird mit einer durchaus psychoanalytischen Hintergrundüberle-

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gung das Subjekt durch den Staat und das Gesetz, nicht vermittelt über die Familie und den Vater konstituiert (vgl. unten Abschn. 4). Diese verschiedenen Traditionslinien wurden von den ebenfalls marxistisch orientierten Cultural Studies aufgenommen, die die Überlegung verfolgen, der zu Folge auch die populare Alltagskultur eigensinnig ist und die kulturindustriellen Praktiken nicht einfach nur ideologische Unterwerfung von oben darstellen, sondern es widerständige Prozesse der Produktion, Kommunikation und Rezeption gibt. Dies führt auch zu einem veränderten Verständnis der autonomen Kunstwerke, die nun ebenfalls im Zusammenhang mit Alltagspraktiken und Kämpfen um Lebensweisen erschlossen werden. Die Cultural Studies setzten direkt dort an, wo Horkheimer und Adorno aufgehört hatten, nämlich an einem Verständnis von Ideologie als von Subjekten sinnhaft gelebten Praktiken – allerdings vertreten sie nicht die These vom Niedergang oder Verfall der Ideologie (vgl. Ritsert 2002, S. 97); anders gesagt, sie stellen Veränderungen ideologischer Herrschaft nicht entlang der Entwicklungslinie im Verhältnis von Basis und Überbau fest, sondern in den konfliktreichen kulturellen Aneignungsprozessen von Klassenverhältnissen. Auf diese Weise lässt sich verständlich machen, dass die ideologische Unterwerfung nicht abschlusshaft verläuft, sondern auf der Ebene der ideologischen Praktiken immer wieder eigensinnige, widerständige und alternative Bedeutungspraktiken entstehen. Unter von Antonio Gramsci, Louis Althusser oder Stuart Hall ausgearbeiteten Gesichtspunkten wird verständlich, dass Kultur nicht allein als industrielle Kulturwarenproduktion zu begreifen ist, sondern, gerade um die Herrschaftsfunktion zu verstehen, auch die staatlich-zivilgesellschaftlichen Praktiken einbezogen werden müssen: die Organisation der Kultur in ihrer Gesamtheit, wozu der gesamte Bereich der Verlage, Zeitschriften und Zeitungen, Parteien, Verbände und Nichtregierungsorganisationen, das Wissen und die Organisation von Forschung und Wissenschaften mit ihren Fachvereinigungen, die Hochschulen, Akademien und Schulen sowie die entsprechenden Curricula an Schulen und Hochschulen, die Kirchen und religiösen Rituale, die Kleidungsstile und Nahrungsgewohnheiten, die geschlechtlichen Muster und sexuellen Normalisierungen, die Restaurants und Kneipen, die Jugendkulturen oder die Vereine gehören. Diese Aufzählung – die deswegen unvollständig ist, weil auch in Unternehmen, Militär, Polizei, Post, Bahn oder Familie kulturelle Prozesse stattfinden – lässt aber mit Blick auf Horkheimer und Adorno erkennen, dass sie hinsichtlich der Themenbreite und vieler inhaltlicher Überlegungen originell und enorm innovativ waren und, so umfassend, wie ihre Gesellschaftstheorie angelegt war, kaum etwas außer Betracht gelassen haben. Ihre theoretische Perspektive hat eine Schwäche, die gerade aus ihrer der Sache nach richtigen Bemühung resultiert, den Unterschied zwischen zwei Phasen der Ideologie zu bestimmen. Dazu hat sich die Kritische Theorie vor allem auf das je für sich stehende autonome Kunstwerk und dabei wiederum besonders auf die Produktionstechnik und das Material bezogen. Die Veränderung seines Status sollte als Seismograph für die gesellschaftlichen Entwicklungen genutzt werden. All die diskursiven Prozesse, die den Bereich der Kultur durchziehen, werden kaum in die Analyse einbezogen, obwohl Adorno selbst für eine Überführung der Ideologie- in Sprachanalyse plädiert. Demgegenüber zeichnet die weitere kritische Kulturforschung aus, dass Kunstwerke selbst als spezifische Signifikanten, als Diskursereignisse verstan-

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den werden, die ein komplexes strategisches Feld kultureller Macht und Herrschaft konstituieren: mit den Feuilletons und Fachzeitschriften, den Galerien, Museen, Verlagen, Theatern und Kinos, den Preisverleihungen, die die Kulturindustrie selbst feiern, den Diskussionsveranstaltungen, den Literarischen und Philosophischen Quartetts und Universitätsseminaren. Erst auf einem riesigen Sockel von kulturellen Praktiken nehmen einige von ihnen in und durch zahlreiche Kämpfe vermittelt in entsprechenden Bedeutungspraktiken auch die Form von Kunst an und trennen sich von der Alltagskultur. In all diesen Konflikten geht es zwar auch und vor allem indirekt um die Verteilung von ökonomischen Ressourcen, um Kultur als ökonomisches und rechtliches Eigentum, doch in erster Linie werden sie ausgetragen um die Deutung und Aneignung der gesellschaftlichen Verhältnisse, also um Weltverständnisse und Empfindungsweisen. Dass ‚es so ist wie es ist‘, ist eben nur eine Bedeutung, die gegen andere Bedeutungen durchgesetzt werden muss. Insofern haben Horkheimer und Adorno nicht Recht behalten. Ihr Irrtum weist darauf, dass sie das Feld der Kultur als ein Terrain, auf dem die Menschen weiterhin das Bewusstsein über die gesellschaftliche Entwicklung gewinnen und ihre Konflikte darüber austragen, nicht umfassend genug im Blick hatten. Damit ist aber ein zweites Defizit verbunden. Der Bezug auf das Kunstwerk hat auch zu einem Kategorienfehler in der Bestimmung der Kulturindustrie geführt, der in der marxistischen Theorie eine gewisse Tradition hat. Für die reinen Kunstwerke nehmen Horkheimer und Adorno ([1947]/ 1987, S. 184) an, dass sie den Warencharakter verneinen und eigenen Gesetzen folgen. Mit der Kulturindustrie schwöre Kultur ihrer Autonomie ab und bekenne sich als Konsumgut zu ihrem Warencharakter. Mit dieser Überlegung weisen Horkheimer und Adorno zu Recht auf das sich verändernde Verhältnis des Überbaus zur Basis hin. Das stellt eine bedeutende Einsicht in die historische Dynamik der Stellung der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären zueinander dar. Allerdings unterstellt sie, dass Kultur dann nicht mehr Überbau ist, wenn sie selbst einen materiellen Apparat hat; Kunst scheint dann den Status eines Überbauphänomens zu verlieren, da der Überbau mit der Ökonomie zusammenfällt. Das Basis-ÜberbauTheorem verlöre aufgrund der inneren Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise seine Geltung (vgl. Dubiel 1982, S. 472). Im Sinne der Marxschen Theorie sieht die kritische Theorie die Überwindung der Trennung von Basis und Überbau als emanzipatorisches Ziel an. Dabei geht es darum, die naturhafte Eigengesetzlichkeit der Ökonomie zu überwinden und die Prozesse der gesellschaftlichen Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Freiheit zu reorganisieren. Eine solche kulturindustrielle Integration der Kultur in die Ökonomie stellt aus diesem Blickwinkel eine falsche Versöhnung dar und begünstigt aufgrund der damit verbundenen Entdifferenzierung der Gesellschaft totalitäre Tendenzen. Im Unterschied zu Horkheimer und Adorno weisen Gramsci (1992, S. 472) und im Anschluss an ihn Althusser darauf hin, dass der Überbau aus zahlreichen Apparaten besteht. Er ist mit eigenen ökonomischen Prozessen verbunden und kann – wie im Fall von Verlagen und oder der Druck-, Film- oder Musikindustrie – eine eigene ‚Basis‘ ausbilden, Kapital verwerten und Menschen ausbeuten; oder er ist ökonomisch abhängig von einer indirekten Finanzierung sei es durch Mäzenaten-

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tum, Stiftungen oder den Staat wie im Fall von Theatern, Opernhäusern, Konzerten oder Museen. Diese Gelder müssen ihrerseits verwaltet und verausgabt werden; es gibt Konflikte um Finanzierung und Verwendung der Mittel. Horkheimer und Adorno weisen auf solche Sachverhalte hin, halten sie aber für eine übergangsbedingte Ungleichzeitigkeit, die durch den Prozess ökonomischer Monopolisierung selbst bald beseitigt werden würde, so dass am Ende ein Zweig einheitlicher Kulturmonopole stünde (vgl. Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 157). Doch bringt, so Gramsci, erst der Kampf um die Macht an der Basis die Superstrukturen hervor. Der Hauptaspekt der Kulturapparate sind die Bedeutungspraktiken; sie gehen über Werbung und Unterwerfung hinaus, vielmehr entscheidet sich in ihnen die Art und Weise der Gewohnheiten, des gelebten Alltags. Horkheimer und Adorno sehen dies wohl, wenn sie die Veränderungen des Ideologiebegriffs bestimmen und auf all die zu Alltag werdenden Aktivitäten hinweisen: vom Sport übers Kino bis zur Therapie. Für den Bereich der Kunst räumt Adorno ein, dass gesellschaftliche Konflikte von den Künstlern in das Werk hineingenommen werden können. Im Prinzip orientiert sich Adorno aber allein an der Immanenz des Werkes und seinem Material; nur im Inneren des Werkes werden Konflikte analysiert. Konflikte in der Produktion dieser Immanenz, zwischen Werken, Künstlern oder zwischen den verschiedenen Strömungen in Kunst, Literatur oder Musik, ihre Gegensätze und Bündnisse auf dem Feld der Kunst ebenso wie die organischen Repräsentationsbeziehungen der Intellektuellen mit den gesellschaftlichen Gruppen und Klassen und deren Lebensformen (Essen, Vereine, Fotografie, Wohnungseinrichtung, wie sie Pierre Bourdieu dann in den „Feinen Unterschieden“ thematisieren sollte) bleiben weitgehend außer Betracht (für einen Vergleich Bourdieus mit der Frankfurter Schule vgl. die Beiträge in Bauer et al. 2014). Obwohl die Kulturindustrie ausdrücklich eine Herrschaftsfunktion wahrnimmt, werden kaum die verschiedenen Herrschaftsstrategien noch die verschiedenen Praktiken des Widerstands und der Suche nach alternativen Kulturpraktiken selbst in den Blick genommen, die sich auf dem riesigen Feld der Kulturindustrie entfalten. Selbst wenn viele Widerstandspraktiken dann tatsächlich Teil des Geschäfts werden – worauf Horkheimer und Adorno zurecht hinweisen –, brechen sie nicht nur mit herrschenden Alltagsgewohnheiten, verschieben die kulturellen Praktiken und öffnen Spielräume, sondern verbinden sich auch mit emanzipatorischen Praktiken und übernehmen eine organische intellektuelle Funktion.

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Subjekt und Ideologie

Es wurde oben gezeigt, dass Horkheimer das topologische Basis-Überbau-Theorem von Marx erweitert und neben der Ökonomie und den Kulturgebieten auch das Individuum und seine psychische Entwicklung systematisch in der Theorie berücksichtigt wissen will. Wie ebenfalls bereits oben angesprochen, gehört es zum Selbstverständnis der materialistischen Tradition seit den Feuerbach-Thesen von Marx, die sinnlich menschliche Tätigkeit, das Subjekt, die Praxis als einen materiellen Faktor zu begreifen. Sich eine natürliche und gesellschaftliche Welt ohne die Existenz der Menschen, ihre vielfältigen Praktiken, ihr Denken und ihre Begriffe vorzustellen, ist

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nicht möglich. Das wird zwar in der Religion, der Metaphysik oder dem Szientismus immer wieder versucht, aber es handelt sich um sinnlose Spekulationen. Auch noch die universellsten Behauptungen religiöser oder wissenschaftlicher Art sind hochgradig konventionalisierte, historisch spezifische Überzeugungen. Die Menschen sind immer ein Moment dieser Welt, sie finden sich in ihr vor, sie eignen sich die Welt, die Verhältnisse, unter denen sie leben und die von vorherigen Generationen gestaltet wurden, an, reproduzieren sie und verändern sie dabei mehr oder weniger – und mit ihren Praktiken und Konventionen einhergehend konstruieren sie jeweils historische Begriffe von Gesetzmäßigkeiten, die ihnen diese Praktiken ermöglichen oder sie ihnen aufzwingen und die sie erkennen können (Horkheimer [1932a]/1988, S. 58). Marx hat diese aufklärende Konstruktionsarbeit vor allem auf die ökonomischen Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft gerichtet, die kritische Theorie auf weitere Bereiche, um die Zusammenhänge der gleichsam ‚blinden‘ Dynamiken zu erklären, die trotz aller Vernunft sich gegen die Menschen durchsetzen. Das ist die Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit (vgl. auch Marcuse [1968]/1984). Dieses Moment der Freiheit, der Spontanität, der Fantasie, des Denkens der Individuen wird insbesondere von den bürgerlichen Produktions- und Gesellschaftsverhältnissen umfassend genutzt, angeregt und organisiert (Wissenschaft und Technik, Kunst, Öffentlichkeit), gleichzeitig jedoch blockiert, gemessen an den Möglichkeiten immer umfassender verstellt und vereinseitigend instrumentalisiert für die Aufrechterhaltung von Herrschaft und Notwendigkeit. Deswegen zielt ein erheblicher Teil der Arbeit an der kritischen Theorie darauf, dem Subjekt, dem „subjektiven Faktor“ (Adorno [1969]/2003, S. 292), und der Psychologie einen logischen Ort in der Theorie zu geben (Horkheimer [1932a]/1988, S. 68; vgl. Bonß 1982, S. 376; vgl. kritisch Adorno [1955]/1972, S. 43). Das sollte nicht zu dem Missverständnis führen, dass die ältere kritische Theorie bewusstseinsphilosophisch argumentiert hätte. Die Kritik an der philosophischen Tradition des konstitutiven Bewusstseins in der Tradition Kants, Fichtes oder Husserls ist einer der wichtigen Argumentationslinien der älteren kritischen Theorie (vgl. Abromeit 2011, S. 85 ff., 304 ff.). Der Rückgriff auf die Psychoanalyse vertieft diese Kritik noch, weil nun auch noch für inneren Kern des ‚Bewusstseins‘ Determinanten im „unbewußten Triebgrund“ ausgemacht werden, die zur Erkenntnis beitragen, warum das ‚Subjekt‘ nicht über sich selbst, sein Bewusstsein, seinen Willen, seinen Körper verfügt (Adorno [1951]/1980, S. 65). Bewusstsein, Denken, Begriffe bleiben, dem materialistischen Verständnis der Kritischen Theorie zufolge, immer von den materiellen Gegebenheiten von Natur und sozialen Prozessen abhängig, so sehr die Aneignung von Natur und Gesellschaft auch begrifflich vermittelt sein mag. Horkheimer und Adorno wollen nicht im Sinne des Liberalismus, dessen beschränkte Konzeption von Freiheit sie für Ideologie halten, weil sie als vollendete Autonomie erscheint, nahelegen, dass die Verhältnisse und der Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung von den Subjekten abhängt. Die Individuen sind historisch immer noch bestimmt von den blinden, unberechenbaren Prozessen eines gesellschaftlich unkoordinierten Handelns. Den Begriffen des Subjekts und seiner Selbstbestimmung stehen Horkheimer und Adorno skeptisch gegenüber. „Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die objektiven

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Bestimmungen seiner selbst verleugnet; Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich entschlagen, was aus der eigenen Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Verschalung von sich abgeworfen hätte. Das ideologische Unwesen der Person ist immanent kritisierbar. Das Substantielle, das nach jener Ideologie der Person ihre Würde verleiht, existiert nicht. Die Menschen, keiner ausgenommen, sind überhaupt noch nicht sie selbst.“ (Adorno [1966]/1973, S. 274). Im Gespräch mit Adorno äußert Horkheimer: „Es ist eine erbärmliche Vorstellung, daß die Freiheit in der Selbstbestimmung bestehe, daß man sich nichts anderes darunter vorstellen kann, als daß man sich die Arbeit, die früher der Herr befohlen hat, nun selber aussucht; der Herr hat sich aber nicht selber bestimmt.“ Darauf Adorno, den Gedanken noch zuspitzend: „Der Begriff der Selbstbestimmung hat nichts mit Freiheit zu tun. Kant: Autonomie: Pariere Dir selber.“ (Horkheimer und Adorno [1956]/1996, S. 42) Freiheit ist konkrete, material verstandene Freiheit von der Arbeit. Horkheimer und Adorno wenden sich aber auch gegen jenen Objektivismus, der alles der Übermacht der gesellschaftlichen Verhältnisse zuschreibt und die Aktivitäten, die Praktiken, die Initiativen der Subjekte nicht im Blick hat – denen in den verschiedenen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Eine solche Überlegung führt ganz materialistisch zur Frage, ob und wie die Individuen je konkret die Notwendigkeiten der Selbsterhaltung in freies Handeln übersetzen und danach streben, den Raum konkreter, materialer Freiheit auszudehnen, also die Verhältnisse, die die Art und Weise ihrer Selbsterhaltung bestimmen, derart zu verändern, dass Selbsterhaltung selbst kein Gesichtspunkt mehr im Verhältnis der Individuen zu sich, zu anderen und zur Natur ist. Horkheimers Auffassung von einem zeitgemäßen Materialismus zufolge müssen die Umformungen der menschlichen Natur aus den materiellen Lebensprozessen der Gesellschaft abgeleitet werden. Unter den besonderen Bedingungen, die die Notwendigkeiten der Selbsterhaltung historisch mit sich brachten, waren die psychischen Prozesse letztlich kausal von der Basis determiniert. „Die Veränderungen in der seelischen Struktur, welche nicht bloß die einzelnen Kulturen kennzeichnet, sondern auch innerhalb jeder einzelnen von ihnen bestimmte Gruppen, werden als Momente eines Prozesses betrachtet, dessen Rhythmus in der bisherigen Geschichte von der Entfaltung und sprunghaften Umgestaltung des Verhältnisses der Menschen zur jeweils gegebenen Natur bei der Reproduktion ihres Lebens, das heißt von der ökonomischen Notwendigkeit diktiert worden ist.“ (Horkheimer [1936a]/1988, S. 340) Die Menschen sind also bis ins Innerste hinein von den Bedingungen ihrer materiellen Reproduktion bestimmt. Es kann demgemäß keine ursprüngliche, tief innere Freiheit jenseits dieser Materialität unterstellt werden; allerdings besagt diese materialistische These im Umkehrschluss auch, dass das menschliche Handeln ebenso wenig von überhistorischen Konstanten festgelegt ist, also durch Eigenschaften wie Egoismus, Selbsterhaltungsstreben, Gier, Neid oder Misstrauen, Bedürfnis nach Halt und Führung. In solchen Kategorien denkt die bürgerliche Anthropologie, die vorgibt, solche Affekte gehörten zur Natur des Menschen. Doch Menschen sind psychisch nicht allein individualistisch organisiert, es finden sich auch Solidarität, Empathie, Mitleid, Altruismus; sie sind bereit, sich für die Allgemeinheit zu engagieren, im Krieg zu opfern oder sich an mächtigen Kollektiven zu orientieren und

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dafür die Befriedigung unmittelbarer physischer Bedürfnisse zurückzustellen. Die materialistische Theorie will historisch spezifische Regelmäßigkeiten feststellen und den Prozess begreifen, in welchem die Menschen nach ihren von diesem Prozess selbst geförderten oder gehemmten Kräften handeln. Individuen sind wohl von den materiellen Prozessen der Aneignung der Natur bestimmt. Doch weil es um Selbsterhaltung geht, gehört dazu, dass die Individuen und Gruppen der Gesellschaft mit ihren „Fähigkeiten arbeitend und kämpfend auf die jeweiligen ökonomischen Verhältnisse zurückwirken“ (Horkheimer [1936a]/1988, S. 340 f.). Die Frage ist weniger, ob sie das überhaupt, sondern wie und in welchem Umfang sie es tun und ob ihre Aktivitäten angemessen und zeitgemäß sind. Angesichts einer verbreiteten Bereitschaft der Menschen in den hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, also in Deutschland, in Europa, in den USA, sich anti-demokratisch, faschistisch, rassistisch, antisemitisch zu orientieren und entsprechende Kräfte zu unterstützen, fragt sich die Kritische Theorie, warum dies der Fall ist, wo doch offensichtlich eine solche autoritäre Tendenz weit hinter das erreichte Niveau der Kultur und Aufklärung sowie die Möglichkeiten zur Fortentwicklung einer höheren und rationaleren Produktionsweise zurückfallet. Die Widerstände der Natur, die sich bei ihrer Aneignung geltend machten, setzten sich, der Kritischen Theorie zufolge, innerhalb der Gesellschaft durch die Klassen fort und wirkten als Härte auf die Individuen von Kindheit an (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 247). Individuen sind durch lange Phasen der Geschichte hindurch von ökonomischen Verhältnissen bestimmt, in denen eine kleine Gruppe führt und leitet, während der größere Teil sich ihrer Dispositionsmacht unterwirft, um sich selbst zu erhalten. Das ist folgenreich. „Die Verknüpfung der leitenden Funktionen mit einem angenehmen und der ausführenden mit einem schweren Leben und die schicksalhafte Verteilung der beiden Existenzweisen auf bestimmte Gruppen der Gesellschaft wird jedoch als unabänderlich vorausgesetzt.“ (Horkheimer [1936a]/1988, S. 378) Eine für das Überleben zu einem bestimmten Zeitpunkt rationale gesellschaftliche Organisationsform und entsprechende individuelle Eigenschaften können als überzeitliche missverstanden werden. Dies hat eine objektive Grundlage. Denn es bilden sich jeweils historisch spezifische psychische Mechanismen heraus, mit denen die Menschen sich an ihre ökonomische Lage anpassen. Durch psychische Präformation werden Weltbild und ökonomisch gefordertes Handeln in Einklang gebracht. Kraft ihres psychischen Apparats nehmen die Individuen die Welt auf eine Weise zur Kenntnis, dass die Befriedigung ihrer gruppenspezifischen ökonomischen Interessen dem „Wesen der Dinge“ entspricht (Horkheimer [1932a]/1988, S. 61 f.). Allerdings kann es zu einer gesellschaftstheoretisch bedeutsamen Abweichung zwischen psychischer Verfassung der Individuen und gesellschaftlicher Entwicklung kommen. Denn ist dieser psychische Mechanismus einmal entstanden, kann er unter besonderen historischen Umständen ein Beharrungsvermögen und relative Autonomie entwickeln; er gerinnt zu einer strukturierenden Struktur und stellt eine Art Suchschema dar, das sich unter den Handlungsmöglichkeiten gerade diejenigen aussucht, die es wiederum bestätigen. Die Bedeutung dieser Überlegung – die das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu vorwegnimmt, der allerdings nicht psychoanalytisch und charak-

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terologisch argumentiert – besteht für Horkheimer und Adorno darin, dass sie damit erklären können, warum Menschen ungleichzeitig zur ökonomischen Entwicklung handeln und an ideologischen Positionen und Einstellungen festhalten, auch wenn es rationale und empirische Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung obsolet sind. Die Individuen werden durch einen umfassenden herrschaftlichen Kulturapparat dazu bestimmt, sich mit enormer psychischer Energie an eingelebte kulturelle Muster, an Gefühle, Kategorien oder Einsichten zu binden. Ein- und Unterordnung, Befehl und Gehorsam, oben und unten, Bejahung der Abhängigkeit von gegebenen Ordnungen und fremden Willen, erlangen für die Individuen einen transzendentalen Status (Horkheimer [1936a]/1988, S. 357, S. 396). Diese „relativ statischen psychischen Verfassungen der Individuen“ bezeichnet Horkheimer als „Charakter“ (Horkheimer [1932a]/ 1988, S. 57). „Nach unserer Theorie ist der Charakter eine mehr oder weniger beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend das konsistente Verhalten – ob verbal oder physisch – bestimmen. So konsistent das Verhalten jedoch sein mag, es ist nicht gleich Charakterstruktur; der Charakter liegt hinter dem Verhalten und im Individuum. Die Kräfte im Charakter sind nicht Reaktionen, sondern Reaktionspotenzial; ob ein Potenzial offenen Ausdruck findet oder nicht, hängt nicht nur von der gegebenen Situation ab, sondern auch von Verhaltenspotenzialen, die in Opposition zu jenem stehen. Gehemmte Charakterkräfte gehören tieferen Schichten an als jene, die sich unmittelbar und konsistent im Verhalten manifestieren.“ (Adorno [1950]/1973, S. 6) Horkheimers und Adornos Verständnis nach ist die Herausbildung eines das individuelle Handeln bestimmenden Charakters kritisch zu beurteilen. Der Charakter ist nicht etwas starr Beharrendes, sondern er entfaltet eine eigensinnige, das Handeln und die Vernunft einschränkende Wirksamkeit (vgl. Bock 2018, S. 39 ff.). Obwohl die produktiven Fähigkeiten der Individuen wachsen und eine neue Produktionsweise möglich ist, welche die Allgemeinheit besser versorgen könnte als die frühere, wird ihre Entfaltung durch bestehende soziale Strukturen und Institutionen verhindert, die eine bestimmte psychische Verfassung der Individuen formieren, gleichzeitig aber von dieser wiederum erhalten und gefördert werden (Horkheimer [1936a]/1988, S. 355). Mit dieser Überlegung wendet sich Horkheimer gegen die Annahme, dass allein Zwang ausreichen könnte, um Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten; ebenso wenig vermag dies der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse, von dem Marx ([1890]/1969, S. 765) spricht. Es sind nicht allein die ökonomischen Abhängigkeiten der Arbeiter vom Unternehmer, der Frauen von ihren Männern, der Kinder von den Vätern. Vielmehr hält er einen „geistigen Kitt“ für erforderlich, also Kultur. Diese stellt ihrerseits einen Inbegriff von Kräften dar, die dazu beitragen können, die gesellschaftliche Dynamik entweder zusammenzuhalten oder sie aufzulösen; sie können „je nachdem den Mörtel eines noch werdenden Baus, den Kitt, der auseinanderstrebende Teile zusammenhält, oder einen Teil des Sprengstoffs bilden, der das Ganze beim ersten Funken zerreißt“ (Horkheimer [1936a]/1988, S. 344). Für Horkheimer markiert diese Überlegung eine Abwendung von der Metaphysik des Geistes hin zur wissenschaftlichen Theorie (Horkheimer [1932a]/1988, S. 55 f.). Soziale

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Gruppen und Individuen können dafür eintreten, die neu entstanden Möglichkeiten der aus der Kooperation und technischen Entwicklung entstandenen Kräfte fruchtbar zu machen und die Zwänge der Naturaneignung abzubauen – oder sie verweigern sich und beharren auf den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen. Für Europa und die USA beobachtet er eine offenkundige Krise, die die Gefahr des Untergangs birgt, da es Kräfte gibt, die eine Veränderung der Gesellschaften entsprechend den historischen Möglichkeiten nicht bereit sind zu akzeptieren und die an überkommenen Verhältnissen festhalten wollen. Das Individuum steht vor der Wahl zwischen zwei Verhaltensweisen: Entweder „der bewußte Kampf gegen die Zustände der Wirklichkeit – in ihm ist das positive Element der bürgerlichen Moral, die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit unmittelbar enthalten, aber seine ideologische Hypostasierung aufgehoben. Oder das ungebrochene Bekenntnis zu dieser Moral und der ihr entsprechenden Rangordnung – dies führt zur geheimen Verachtung der eigenen konkreten Existenz und zum Haß gegen das Glück der anderen, zu einem Nihilismus, der sich in der Geschichte der neueren Zeit als die praktische Vernichtung alles dessen, was froh und glücklich ist, als Barbarei und Zerstörung immer wieder geäußert hat.“ (Horkheimer [1936b]/1988, S. 75) Viele Individuen nehmen die ihnen mögliche Wahl nicht wahr, weil sie durch tief in ihre psychische Dynamik eingelassene Gefühle und Kategorien den Antrieb dazu nicht nur nicht haben und am Alten, an der Unterordnung festhalten, sondern auf die Möglichkeiten der Freiheit und auf diejenigen, die sie symbolisieren, mit negativen Affekten, mit Aggression und Vernichtungswillen reagieren. Das Heraustreten aus überkommenen und der Übergang zu neuen Verhältnissen, die mit einer erhöhten rationalen Tätigkeit verbunden sind, verlangen Kraft und Mut. „Dies ist auch einer der Gründe, warum welthistorische Umschläge nicht davon erwartet werden können, daß sich zunächst die Menschen ändern. Sie pflegen aktiv durch Gruppen herbeigeführt zu werden, bei welchen keine verfestigte psychische Natur den Ausschlag gibt, sondern die Erkenntnis selbst zur Macht geworden ist.“ (Horkheimer [1936a]/1988, S. 357) Herrschaft wird also im Innern der Menschen selbst befestigt (Horkheimer [1936a]/1988, S. 357; Adorno [1942]/1972, S. 390). Der Prozess, in dem dies geschieht, in dem die Menschen individualisiert werden und als Individuen einen starren, erkenntnisabwehrenden Charakter ausbilden, wird von Horkheimer und Adorno in Begriffen der Tiefenpsychologie bestimmt. Grundsätzlich trägt der gesamte Kontext, die ökonomischen Prozesse und die kulturellen Apparate, zur Formierung dieses vereinzelten Individuums bei. Aber eine besondere Aufmerksamkeit richtet die Kritische Theorie auf die Konstellation der bürgerlichen Kleinfamilie und insbesondere die väterliche Autorität, denn sozialisatorisch erwerben die Kinder in der Familie jene Haltung des Einfügens, des Gehorchens, der Unterordnung unter den mächtigen Vater (vgl. Umrath 2019). Den Einzelnen wird in der bürgerlich-liberalen Familie ein Gewissen, gesellschaftliche Verhältnisse zu Inwendigem gemacht. Für die bürgerlichen Freiheiten kämpfend, sollen sie lernen, sich selbst zu bekämpfen, Verantwortung für sich und ihre Familien zu übernehmen, also die psychische Instanz des realitätsgerechten Ich mit der Fähigkeit des Vor- und Überblicks auszubilden (Horkheimer [1936b]/1988, S. 25; Horkheimer und Adorno

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[1947]/1987, S. 110). In den einzelnen Individuen nimmt diese Allgemeinheit die psychische Instanz des Über-Ichs an. „In ihren heroischen Zeiten hat die Freudsche Schule, darin eines Sinnes mit dem anderen, aufklärerischen Kant, die rücksichtslose Kritik des Über-Ichs als eines Ich-Fremden, wahrhaft Heteronomen, gefordert. Sie durchschaute es als blinde und bewußtlose Verinnerlichung von gesellschaftlichem Zwang.“ (Adorno [1966]/1973, S. 269) Der Vater verkörpert diesen gesellschaftlichen Zwang aufgrund der Verfügung über Geld, er repräsentiert im Mikrokosmos der Familie die Allgemeinheit der Gesellschaft und die staatlichen Gesetze, die ihm Erziehungs- und Entscheidungsbefugnisse verleihen. In der Achtung des Kindes vor dem Vater sind demnach das rationale vom irrationalen Element nicht zu trennen (Horkheimer [1936a]/1988, S. 397). Er vermittelt nach gesellschaftlichen Gesichtspunkten Anerkennung, Wissen und Erfahrung, Verantwortung, Unterstützung und Zuneigung; ebenso aber auch Kälte, Egoismus, Durchsetzungsvermögen. Er setzt die Kinder unter Druck zu lernen, jeden „Mißerfolg nicht bis zu seinen gesellschaftlichen Ursachen zurückzuführen, sondern bei den individuellen stehenzubleiben [. . .]. Das in der Familie ausgebildete schlechte Gewissen fängt unendlich viele Energien auf, die sich sonst gegen die beim eigenen Versagen mitsprechenden gesellschaftlichen Zustände richten könnten. Das Ergebnis der väterlichen Erziehung sind Menschen, welche von vornherein den Fehler bei sich selbst suchen. [. . .] In der Gegenwart vereitelt das zwangsmäßige Schuldgefühl als andauernde Opferbereitschaft die Kritik an der Wirklichkeit, und das Prinzip zeigt wesentlich seine negative Seite so lange, bis es in richtiger Gestalt zum allgemeinen wird: als das in jedem Glied der sich selbst bestimmenden menschlichen Gesellschaft lebendige Bewußtsein, daß alles Glück Ergebnis der gemeinsamen Arbeit sei. Die heute vorherrschenden Menschentypen sind nicht dazu erzogen, den Dingen auf den Grund zu gehen, und nehmen die Erscheinung für das Wesen. Durch theoretisches Denken selbstständig über die bloße Feststellung, das heißt die Aufnahme des Stoffs in konventionelle Begriffe, hinauszugehen, vermögen sie nicht, auch die religiösen und sonstigen Kategorien, in denen man sich aufzuschwingen getraut, liegen schon bereit; man hat es gelernt, sich ihrer kritiklos zu bedienen.“ (Horkheimer [1936a]/1988, S. 399) So apodiktisch manche Formulierungen klingen, muss betont werden, dass Horkheimer hier Thesen formuliert, die in den empirischen Arbeiten zu „Autoritär und Familie“ und in weiteren Studien überprüft und vertieft werden sollten. Gesellschaftstheoretisch sahen sich Horkheimer und Adorno im Zusammenhang ihrer Forschungen über Autoritarismus und Antisemitismus zur Frage veram lasst, ob die Autorität des Vaters nicht im Begriff war, auf mächtige andere kulturelle Apparate und ihre Repräsentanten: politische Führer, Sportler/-innen, Schauspieler/-innen, Musiker/-innen überzugehen. Sie beobachteten bereits in den 1930er- und 1940er-Jahren aufgrund der Veränderung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse eine erhebliche Schwächung des Vaters als psychische Instanz. Denn wohl konnte er sich in der Familie noch als Herr geben und die Kinder zum Gehorsam erziehen. Doch ihrer sozialen Stellung nach hatten die Männer des Kleinbürgertums ebenso wie des Bürgertums viel von ihrer Dispositionsmacht verloren und nahmen in den riesigen Unternehmen eine „armselige Stellung“ als Angestellte ein. Dies hat aus der Sicht Hork-

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heimers und Adornos Folgen für die psychische Organisation der Individuen: das Ich schrumpft, die Abhängigkeit von starken Außeninstanzen wächst. Das bürgerlich-liberale Subjekt bildet jene Zone, in der Triebe, Begehren, unmittelbare Selbsterhaltung, psychisch vertreten durch das Es, und die Allgemeinheit, die als psychische Instanz des Über-Ich begriffen wird, sich aneinander reiben und einen Kompromiss ausbilden, der es dem Individuum erlaubt, sein Begehren in einer sozial erwarteten und akzeptierten Weise zu verwirklichen. Das Subjekt, die psychische Instanz des realitätsgerechten Ich, ist dieser Kompromiss voller Spannungen (Adorno [1955]/1972, S. 65). Das Individuum ist nicht, was es seinem Wortsinn nach sein soll, das Ungeteilte und eine letzte Instanz der Autonomie, des Willens, der Freiheit, des Entscheidens. Nicht nur das Individuum, sondern schon die Kategorie der Individualität sei ein Produkt der Gesellschaft (Adorno [1952]/1972, S. 27). Es kann also nicht als Einheit vorausgesetzt werden; vielmehr ist es hin -und hergerissen zwischen seinen unterschiedlichen Trieben, dem Begehren, den Bedürfnissen und Selbsterhaltungsbestrebungen auf der einen und den sozialen Allgemeinheiten auf der anderen Seite. Das Individuum kann die Divergenzen nicht aufheben; statt die objektiven Konflikte auszutragen, werden sie als Unbewusstes vergessen gemacht. In diesem Prozess bildet sich ein individueller Charakter. Dieser dürfe nicht als harmonische Totalität verstanden werden. Die gegenwärtige Gesellschaft werde in Schocks erfahren, in abrupten Stößen, der Charakter sei weniger die Wirkung kontinuierlicher Erfahrung, sondern solcher Schocks. „Seine Totalität ist fiktiv: man könnte ihn beinahe ein System von Narben nennen, die nur unter Leiden, und nie ganz, integriert werden. Die Zufügung dieser Narben ist eigentlich die Form, in der die Gesellschaft sich im Individuum durchsetzt.“ (Adorno [1952]/1972, S. 24) Die Psychoanalyse erlaubt demnach der kritischen Theorie, einen gesellschaftstheoretischen Begriff des individualisierten Menschen und der Apparatur der Subjektfunktionen in der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln sowie Veränderungen der Subjektivität selbst zu begreifen. Die Psychoanalyse, so lassen sich Horkheimer und Adorno verstehen, habe zunächst den inneren „Kleinbetrieb“ des Individuums, wie es unter den historisch spezifischen liberal-kapitalistischen Bedingungen formiert wurde, „als komplizierte Dynamik von Unbewußtem und Bewußtem, von Es, Ich und Über-Ich dargestellt. In Auseinandersetzung mit dem Über-Ich, der gesellschaftlichen Kontrollinstanz im Individuum, hält das Ich die Triebe in den Grenzen der Selbsterhaltung. Die Reibungsflächen sind groß und die Neurosen, die faux frais solcher Triebökonomie, unvermeidlich. Dennoch hat die umständliche seelische Apparatur das einigermaßen freie Zusammenspiel der Subjekte ermöglicht, in dem die Marktwirtschaft bestand.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 234) Mit der Entwicklung von mächtigen, den Markt kontrollierenden Unternehmen und der Kulturindustrie haben sich jedoch die Lebensverhältnisse der Individuen folgenreich verändert. Es entsteht ein neuer Bedarf an der Lenkung der Einzelnen, der sich auch in psychischen Konstitution ihrer niederschlägt. Aufgrund der Schwächung der Figur des Vaters kommt es nicht mehr zu jenem psychodynamischen Kompromiss zwischen Es und Über-Ich in der psychischen Instanz des Ich, wie er für das in der liberalen Familie sozialisierte Subjekt kennzeichnend war. Das Kind hat jenes autoritative Gegenüber nicht mehr, an dem es sich orientiert und von dem es in

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durchaus schmerzvoller Auseinandersetzung und Distanzierung die Maßstäbe eines sozial akzeptierten Verhaltens erwirbt. Das Ergebnis jenes früheren Prozesses unter liberalen Bedingungen war die Herausbildung eines Ich mit einem Gewissen, das auf der einen Seite das Subjekt zur freiwillige Unterwerfung und Konformität drängt, auf der anderen Seite jedoch fordert, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, sich die Anliegen anderer zu eigen zu machen, Sachverhalte kritisch zu prüfen und zu beurteilen sowie moralische Entscheidungen zu treffen. Mit der ökonomisch geschwächten Position des Vaters werden seine Autorität und das Vater-Imago derart prekär, dass jene Konflikte nicht mehr stattfinden, die notwendig sind, um zur Bildung eines starken Über-Ich zu führen. „Es kommt nicht mehr zum Austrag des eigenen Triebkonflikts, in welchem die Gewissensinstanz sich ausbildet. Statt der Verinnerlichung des gesellschaftlichen Gebots, die es nicht nur verbindlicher und zugleich geöffneter macht, sondern auch von der Gesellschaft emanzipiert, ja gegen diese wendet, erfolgt prompte, unmittelbare Identifikation mit den stereotypen Wertskalen.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 229) Aufgrund eines derart geschwächten Über-Ich kann sich auch die psychische Instanz des Ich nicht mehr derart ausbilden, dass das Individuum über die Fähigkeit verfügt, seine Triebregungen realitätsgerecht zu kontrollieren und ihnen in sublimierter Weise eine Befriedigung zu geben. Das Ich wird geschwächt, es fehlen ihm jene psychischen Dispositionen, die eine rationale und objektive Haltung zur Wirklichkeit ermöglichen, vielmehr ist es vom Es dominiert und deswegen unsicher, ängstlich, projektiv, aggressiv. Um auf sozial akzeptable Weise zu handeln, vertraut sich das Individuum der Leitung einer starken Führung und „totaler Verwaltung“ an (Marcuse [1963]/ 1984, S. 67), es orientiert sich konformistisch an als gesellschaftlich stark und mächtig geltenden Personen und Kollektiven. „In der Ära der großen Konzerne und Weltkriege aber erweist sich die Vermittlung des Gesellschaftsprozesses durch die zahllosen Monaden hindurch als rückständig. Die Subjekte der Triebökonomie werden psychologisch expropriiert und diese rationeller von der Gesellschaft selbst betrieben. Was der Einzelne jeweils tun soll, braucht er sich nicht erst mehr in einer schmerzhaften inneren Dialektik von Gewissen, Selbsterhaltung und Trieben abzuringen. Für den Menschen als Erwerbstätigen wird durch die Hierarchie der Verbände bis hinauf zur nationalen Verwaltung entschieden, in der Privatsphäre durchs Schema der Massenkultur, das noch die letzten inwendigen Regungen ihrer Zwangskonsumenten in Beschlag nimmt. Als Ich und Über-Ich fungieren die Gremien und Stars, und die Massen, selbst des Scheins der Persönlichkeit entäußert, formen sich viel reibungsloser nach den Losungen und Modellen, als je die Instinkte nach der inneren Zensur.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 234). Marcuse ([1963]/ 1984, S. 64) fügt noch die Schul- und Sportgruppen oder Jugendbanden hinzu. Für Horkheimer und Adorno sind diese Überlegungen von entscheidender Bedeutung, um erklären zu können, warum Aufklärung und Vernunft so ohnmächtig sind angesichts antisemitischer, rassistischer, anti-demokratischer Einstellungen. Es handelt sich in diesem Fall nicht um Vorurteile, die sich durch Hinweis auf empirische Tatsachen oder mit guten Argumenten widerlegen ließen; ebenso wenig handelt es sich um Ideologie im Sinne eines falschen Bewusstseins, dem noch ein rationales Moment anhaften würde. Horkheimer und Adorno wenden sich einem Phänomen

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zu, das bis heute eine zentrale Fragestellung für eine auf Emanzipation und vernünftige und freie Gestaltung der Gesellschaft zielende kritische Theorie geworden ist: Kapitalistische Gesellschaften können nicht allein nach ökonomiekritischen Gesichtspunkten verstanden werden, da für sie Antisemitismus, Rassismus, Autoritarismus konstitutiv sind. Es ist die Frage zu stellen, warum sich Menschen antidemokratisch, rassistisch, antisemitisch, sexistisch orientieren. Ökonomische Erklärungen greifen zu kurz, weil die Subjekte am Ende also gegen ihre eigenen Interessen, gegen Vernunft und Erkenntnis handeln (Adorno [1955]/1972, S. 43, kritisch S. 59). Es muss ernst genommen werden, dass sie aggressiv, gewaltbereit, rebellisch und unterwürfig, projektiv und anti-intrazeptiv, ressentimenthaft, dass ihre Gefühlsregungen kalt, primitiv und menschenverachtend, dass sie unzugänglich für Argumente und Fakten sind – und an all dem patzig, mit Wut, mit Abwehr gegen Einsicht festhalten. Horkheimer und Adorno zufolge bleiben Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen an der Oberfläche, sie sind eingebettet in einen psychodynamischen Zusammenhang, der bestimmt, was ein Individuum denkt, was es sagt, was es tut, was es sich selbst vielleicht nicht eingestehen mag. Diesen Zusammenhang sehen sie, wie oben erläutert, im Charakter, den sie als ein Reaktionspotenzial begreifen, das von heterogenen Kräften bestimmt wird. Er soll erklären, warum Individuen empfänglich für antidemokratische, faschistische Tendenzen sind. Individuen werden also nicht allein von der Ökonomie und materiellen Interessen determiniert; auch nicht ergänzend dazu von politisch-kulturell verbindlichen Allgemeinheiten. Beide Determinanten reichen nicht hin. Erst die Annahme einer Charakterstruktur – ihrerseits in ökonomischen Verhältnissen gebildet, die familiär-sozialisatorisch ans Individuum vermittelt werden – erklärt aus der inneren Dynamik des Individuums seine ideologischen Präferenzen, also die Tatsache, dass es sich auch in unterschiedlichen Situationen konsistent verhält, hartnäckig an seinen Meinungen festhält, Fakten ignoriert, dass Menschen in der gleichen soziologischen Situation abweichende oder gegensätzliche Meinungen zu gesellschaftlichen Fragen haben oder sich in einer Weise gesellschaftspolitisch orientieren, die ihren materiellen Interessen widerspricht (Adorno [1950]/1973, S. 8, 11). Anders gesagt: kommunistische Arbeiter können Nazis und Rassisten werden, konservative Bürger Juden verstecken und ihnen bei der Flucht helfen. Ideologietheoretisch und im Sinn einer materialistischen Erkenntnistheorie ist dies folgenreich. Denn es wird argumentiert, dass im Fall einer schwachen Ich-Identität die affektive Besetzung von Vernunft, rationalen Argumenten, Wirklichkeitsbezug gering ist. Psychische Prozesse gewinnen eine eigene Macht gegenüber den Entwicklungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sie können eine zeitgemäße Wahrnehmung der historisch konkreten gesellschaftlichen Veränderungen, ihres Potenzials und die Antizipation von Alternativen blockieren. Individuen und bedeutende soziale Schichten lassen sich nicht durch die „Erkenntnis, sondern durch eine das Bewußtsein verfälschende Triebmotorik“ bestimmen; sie erhalten mit psychisch zum Charakter gewinnenen Einstellungen und Gewohnheiten ökonomische Verhältnisse aufrecht, obwohl ihre Kräfte und Bedürfnisse über diese schon längst hinausgewachsen sind und eine „höhere und rationalere Organisationsform“ möglich wäre (Horkheimer [1932a]/1988, S. 59). Deswegen nehmen Horkheimer und Adorno an, dass es politisch und

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pädagogisch sinnvoll ist, das Ich und damit seine Bindung an Erkenntnis und Begriffe sowie die Fähigkeit zu stärken, eigene, nicht-rationale Anteile zu erkennen und nach autonomen Gesichtspunkten zu handeln. Es geht darum, dass Begriffe derart stark energetisch aufgeladen und affektiv besetzt werden, dass sie zu einer Verschiebung der gesamten psychischen Struktur führen; dass Vernunft die affektiven, irrationalen Antriebe absorbiert. Menschen können – im sozialpsychologischen Sinn verstanden – vernünftiger werden (Adorno [1950]/1973, S. 15), so dass sie sich in ihren Praktiken in stärkerem Maße von Denken, Theorie, Begriffen und kritischem empirischem Wissen bestimmen lassen. Dies hätte zur Konsequenz, dass sich der Charakter auflöste und die Individuen selbst sich differenzierten und verfeinerten (Horkheimer [1932a]/1988, S. 65). So wie die Ökonomie und ihr Vorrang, wie der Prozess der Selbsterhaltung, wie die Kultur und ihre Apparate stünden mit Blick auf Emanzipation auch jene psychische Struktur und ihre Instanzen zur Disposition, die sich in den vergangenen zweihundert Jahren unter bürgerlichen Bedingungen herausgebildet haben. Denn das Subjekt und sein Individuum, das als biologische, vorgesellschaftliche Einheit unterstellt wird, erweist sich als eine historisch spezifische Form, in der Menschen miteinander in Beziehung treten. „Gerade als Absolutes ist das Individuum bloße Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse.“ Der Gesellschaft verdanke das Ich sein Dasein, all sein Inhalt komme aus ihr. „Es wird um so reicher, je freier es in dieser sich entfaltet und sie zurückspiegelt, während seine Abgrenzung und Verhärtung, die es als Ursprung reklamiert, eben damit es beschränkt, verarmen läßt und reduziert.“ (Adorno [1951]/1980, S. 173) Das Ich, in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft konstituiert, kann nach dem Verständnis der kritischen Theorie niemals ein gelingendes Subjekt sein: „In der antagonistischen Gesellschaft sind die Menschen, jeder einzelne, unidentisch mit sich, Sozialcharakter und psychologischer in einem, und kraft solcher Spaltung a priori beschädigt.“ (Adorno [1955]/1972, S. 69). Das gelingende Moment steckt nicht in ihm, sondern in den Verhältnissen. Es gibt also keinen Grund, romantisierend auf frühere Phasen des Kapitalismus zurückzuschauen. Aber unter liberalen Bedingungen musste die materialistische Theorie alle die psychologischen Momente noch nicht zum Gegenstand der Analyse machen, weil bestimmte Subjektfunktionen (Ich, Gewissen, eigenes Urteil, Vernunft) zur Koordination der gesellschaftlichen Akteure in einem gewissen Maß beitragen konnten. Dies ändert sich seit dem späten 19. Jahrhundert. Die Träger der Vernunft, die Menschen als Personen, werden dazu angehalten, sich widerstandslos einer nach den Plänen höherer Instanzen gestalteten Realität anzupassen. Damit werde der ganze Mensch zum „Subjekt-Objekt der Repression“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 235). Das Subjekt ist demnach derart konstituiert, dass es die Leistung der Unterwerfung von sich aus vollzieht. Damit werde der Begriff des Menschen – sein Glück, seine Muße, seine Vernunft, seine Autonomie – all das, worauf bezogen das Ganze gerechtfertigt wird, zuschanden. Die Dialektik der Aufklärung schlage objektiv in Wahnsinn um. Die „organische Zusammensetzung des Menschen“ wachse, die Subjekte seien immer ausschließlicher als Teilmomente im Zusammenhang der materiellen Produktion bestimmt (Adorno [1951]/1980, S. 259). Das Ich nimmt den ganzen Menschen als Apparatur bewusst in den Dienst, es verhält sich zu sich wie zu einem bloßen

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Betriebsmittel. Adorno nimmt an, dass diese Selbstpreisgabe des Selbst und des Lebendigen um der Selbsterhaltung willen das Individuum enormen Spannungen aussetzt: es muss leistungsbereit, willig, gehorsam, konformistisch und konsumistisch sein, gleichzeitig jedoch soll es sich auch als autonom, meinungs- und bedürfnisbegabt, willensstark, originell, besonders und authentisch, subjektiv erweisen. Diesen durchaus widersprüchlichen Anforderungen zu entsprechen, übt auf die Individuen enormen Druck aus. Das Subjekt kann sich als ‚normales‘ auf dieser höheren Stufe seiner organischen Zusammensetzung nur noch vermittels des gewaltigen Apparats der Kulturindustrie und der Psychotherapie reproduzieren. Das Normale sei die zeitgemäße Krankheit (Adorno [1951]/1980, S. 63). Die Psychoanalyse, die Individuen darin unterstützt, sich rational ans Irrationale anzupassen, wird affirmativ (vgl. Adorno [1952]/1972, S. 40; vgl. Schmid Noerr 2017). Triebkonflikte würden als harmlose Krankheiten akzeptiert und „in die Oberfläche des genormten Lebens als unumgängliche Bestandstücke hineinmontiert“ (Adorno [1951]/1980, S. 71). An diesem Punkt muss dem Verständnis der kritischen Theorie zufolge ein aktualisierter Materialismus über die ökonomischen Begriffe hinausgehen und systematisch psychologische zur Geltung bringen, um die vielfachen wahnhaften Handlungsweisen der Individuen und die Funktion der Psychoanalyse und -therapie zu begreifen. Psychologie und therapeutische Praxis haben sich zu einem Zeitpunkt herausgebildet, an dem sich in den alltäglichen Abläufen der liberalkapitalistischen Gesellschaft pathologische Ränder bildeten, die Gegenstand von Normalisierungspraktiken wurden, die psychischen Dynamiken der Individuen und damit die Subjektfunktion des Ich zu gewährleisten (ohne die ‚gestörten‘ Individuen, wie das über längere Zeit von der Psychiatrie praktiziert wurde, sofort massiv als Krankheit auszugrenzen, in Kliniken einzusperren und der Folter auszusetzen; vgl. dazu Foucault [1973]/2005, S. 141 ff., [1975]/2003, S. 404 ff.). Gesellschaftliche Entwicklungen an der Basis brachten eine Neugliederung des gesellschaftlichen Ganzen mit entsprechenden Folgen auch für die psychische Organisation der Individuen und die Herausbildung eines medizinisch-therapeutischen Komplexes mit sich. Für die kritische Theorie ist demnach die Berücksichtigung des „subjektiven Faktors“ und der starke Bezug auf die Psychoanalyse nicht allein durch den wissenschaftsgeschichtlichen Vorgang zu erklären, dass es zur Formierung der Psychoanalyse und des Freudomarxismus kam (vgl. Dahmer 2012, 2013). Vielmehr versucht sie, das psychologische und psychoanalytische Wissen als inneres Moment der historischen Veränderung der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft und deswegen auch als Moment einer veränderten materialistischen Gesellschaftstheorie zu begreifen. Daraus resultiert der widersprüchliche Charakter der Psychoanalyse, die zur Erkenntnis der inneren Konflikte der Individuen beiträgt, gleichzeitig aber auch an deren Normierung und Normalisierung mitwirkt. Aus der Sicht Horkheimers und Adornos sollte es bei diesem Entwicklungsstand nicht bleiben, der gekennzeichnet ist durch die Trennung von Gesellschaft und individuellen psychischen Prozessen, der die kritische Gesellschaftstheorie Rechnung tragen muss. Wäre Gesellschaft nicht mehr repressiv, wäre „das gesellschaftlich Allgemeine wahrhaft der Inbegriff der individuellen Bedürfnisse“, dann verschwände der Unterschied der Soziologie und des spezifisch Psychologischen (Adorno [1966]/1972, S. 87 f.).

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Der psychotherapeutisch-medizinisch-industrielle Komplex besteht weiterhin fort. Gleichzeitig hat in der kritischen Gesellschaftstheorie der Bezug auf die Psychoanalyse nicht zuletzt wegen zahlreicher Kritiken an ihrem normalisierenden und affirmativen Charakter stark abgenommen. Doch schon Marcuse ([1963]/1984, S. 70, 74) äußerte die Vermutung, dass der Bedeutungsverlust der Psychoanalyse vor allem mit gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1950er-Jahren selbst zu tun hatte: mit der masssenkulturellen Verwaltung des Ich-schwachen Individuums und Liberalisierung der Sexualmoral würde es zu einer repressiven Entsublimierung kommen. Dazu hat auf widersprüchliche Weise der Emanzipationsprozess seit den 1960er-Jahren beigetragen. Wurde eine Ende der rigiden bürgerlichen Sexualmoral und ein neues Subjekt gefordert, die autoritäre Rolle des Vaters und die Enge von heteronormativen Familienverhältnissen kritisiert, so haben in diesen Bereichen weitreichende Veränderungen stattgefunden. Dazu gehören die Rechte, die Frauen seit den 1950er-Jahren erlangt haben, ihre Teilnahme an der höheren Bildung, am Erwerbsleben und damit ihre deutlich geringere Abhängigkeit von Männern; Ansprüche der Frauen auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, die Kritik an der phallisch zentrierten männlichen Sexualität und die Trennung von sozialem Geschlecht, biologischem Geschlecht und den sexuellen Orientierungen; die veränderten Beziehungsformen und Patchwork-Familienkonstellationen, die Trennung von sozialer und biologischer Elternschaft, die Familienbildungen von Schwulen und Lesben, liberalere Formen der Kindererziehung. Autorität wurde auf diese Weise – und durchaus unter Bezug auf Einsichten der Kritischen Theorie – abgebaut. Dies mag zu einer Schwächung gesellschaftlichen Zwangs im Subjekt und damit des Zwangs zur Anpassung führen. Die Kehrseite könnte aber eine Schwächung des Ich und eine Vervielfältigung der Konformismen sein. Möglicherweise hat sich gleichzeitig der von Horkheimer und Adorno beobachtete konformistische Charakter verallgemeinert, und damit verbunden kommt es dann zu einer stärkeren Außenlenkung der Individuen – in den Worten Foucaults: eine Stärkung der Pastoralmacht – durch eine umfassende Freizeitindustrie und eine Vielzahl von den Alltag immer tiefer durchdringenden und strukturierenden Sozialtechniken, die das Individuum zu vielseitigen Formen der Subjektivierung durch Selbstmonitoring, Selbstoptimierung, Bekenntnisse und Selbst(re)präsentationen drängen (von facebook-Profilen über youtube-Videos oder auf Instagram geteilten Fotos bis zu Auftritten bei Deutschland sucht den Superstar), die so schnelllebig sind, dass sie sich nicht mit tieferen psychodynamischen Prozessen verbinden. In der soziologischen Forschung werden Habitus und Emotionen thematisiert, doch wird auf eine psychoanalytische Vertiefung und Erklärung verzichtet. Dies könnte dafür sprechen, dass die organische Zusammensetzung der Individuen noch weiter zugenommen hat, und das Subjekt sich immer weiter an die Oberfläche einer instrumentellen Verfügung über sein Selbst und sein Lebendiges verschiebt: ein Subjekt, das zu seinem Selbst in Distanz rückt und es managerial in den Griff nimmt, seine Fähigkeiten als Portfolio betrachtet und sich ständig selbst optimiert – damit aber auch häufiger psychisch erkrankt und zahlreiche neue Krankheitsbilder erzeugt (Freytag 2008; Bröckling 2017). Hier greift die Psychoanalyse also möglicherweise aufgrund der fortschreitenden kapitalistischen Vergesellschaftung auch innerer Vorgänge nicht mehr.

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Die über viele Jahre sich hinziehende Befassung mit Psychoanalyse weist trotz einer beeindruckend systematischen Argumentation Defizite auf. Horkheimer und Adorno argumentieren sehr verallgemeinernd. Der ursprüngliche Ansatz, die psychischen, subjektivierenden und familiären Muster der verschiedenen Klassen sozial differenziert zu bestimmen, wird nicht weiterverfolgt; nationalstaatlichen Differenzen oder sozialen Ungleichzeitigkeiten wird nicht ausreichend Rechnung getragen, vielmehr werden Befunde aus den empirischen Beobachtungen in den USA, genauer: in Kalifornien, auf die neue Stufe des Kapitalismus insgesamt extrapoliert. Die Analysen orientieren sich überwiegend am männlichen Sozialcharakter, geschlechtliche Aspekte oder verschiedene sexuelle Orientierungen finden allenfalls gelegentlich Erwähnung. Schließlich bleibt auch eine zentrale theoretische Spannung ungelöst: das Ich wird sozialpsychologisch als Instanz der Vernunft und der Urteilskraft positiv ausgezeichnet, während doch gerade eben dieses Ich auch als eine Form der gefühlskalten Verfügung über das eigene Selbst und über andere charakterisiert wird. Dieser Dialektik müsste eindringlicher nachgegangen, eine kritische Konzeption der emanzipierten Neuzusammensetzung von Subjektfunktionen ausgearbeitet werden. Horkheimer und Adorno neigen theoretisch auch dazu, die Entwicklung als eine lineare darzustellen. Nicht nur die Ungleichzeitigkeiten werden nicht bedacht, sondern auch die Möglichkeit, dass subjektive und kollektive Praktiken die Individuierungsprozesse verändern können. Das ist überraschend, weil überhaupt die Hinwendung zur Frage der psychischen Prozesse gerade von der Frage nach den subjektiven Bedingungen emanzipatorischen Handelns angestoßen worden war. Adorno nimmt dies wahr. In seiner Vorlesung „Einleitung in die Soziologie“ im Sommersemester 1968 greift er die These Horkheimers aus den 1930er-Jahren auf. Demnach sind Subjekte ein negatives Moment. Sie seien ein Teil von Ideologie, und wie alle Ideologie seien sie langsamer, schwerfälliger. Nur durch dieses Beharrungsvermögen, die psychische Zusammensetzung der Menschen, die als Kitt wirke, werde die integrierte Gesellschaft zusammengehalten. Doch das Subjekt sei auch das einzige Potenzial, das über das System hinausweise (Adorno [1968]/1993, S. 254 f.). Die Kulturindustrie, „zu der man alle Mächte der gesellschaftlichen Integration in einem weiteren Sinn hinzurechnen“ muss, präge die Menschen (Adorno [1968]/1993, S. 255). Jene trägen dazu bei, dass der Klassenantagonismus sich nicht zur Geltung bringt, das Wesen nicht erscheint. Aber offensichtlich würden ihre Mechanismen doch nicht so wirken, wie sie es sollen. Gerade die Studentenbewegung sei für ihn deswegen beglückend, weil sie zeige, dass die Integration nicht einfach so glatt aufgehe: „Das funktioniert nicht, und darin liegt etwas unbeschreiblich Hoffnungsvolles.“ (Adorno [1968]/1993, S. 100 f.)

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Perspektiven

Der Nationalsozialismus und, in der Folge davon, das Exil waren eine einschneidende Erfahrung für die Vertreter der Kritischen Theorie. Dies gilt nicht nur mit Blick auf ihre persönlichen und bürgerlichen Umstände. Auch für die intellektuelle Aktivität und die Theorie stellten die historischen Ereignisse eine gewaltige Heraus-

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forderung dar. Die intellektuellen Zusammenhänge in Deutschland waren zwangsweise aufgelöst und neue mussten unter schwierigen Bedingungen geschaffen werden, die Möglichkeit, durch akademische Lehre zu wirken, war genommen, sich mit Publikationen an der öffentlichen Diskussion in Deutschland zu beteiligen, war unterbunden, das Verhältnis zu den politischen Diskussionen im Umfeld von linken Parteien und Gewerkschaften war durch die faschistische Konterrevolution zerstört. Die antidemokratischen und antikommunistischen Kräfte, die während der Weimarer Republik wirksam waren, hatten sich mit der Bildung von Hitlers Koalitionsregierung endgültig durchgesetzt. Das Bürgertum hatte seine Orientierung an Demokratie, an den liberalen Normen von Freiheit und Gleichheit aufgegeben, seinen Anspruch auf Vernunft und Wahrheit auf bloße instrumentelle Rationalität, auf Verfügung und Verwaltung von Menschen und Ressourcen verkürzt. Die Organisationen der Arbeiterklasse waren zerstört, ein Teil der Arbeiterschaft unterstützte die Nationalsozialisten. „Unter den Verhältnissen des Spätkapitalismus und der Ohnmacht der Arbeiter gegenüber den Unterdrückungsapparaten der autoritären Staaten ist die Wahrheit zu bewunderungswürdigen kleinen Gruppen geflüchtet, die, unter dem Terror dezimiert, wenig Zeit haben, die Theorie zu schärfen. Die Scharlatane profitieren davon, und der allgemeine intellektuelle Zustand der großen Massen geht rapide zurück.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 211) Sollte man – und wenn ja, warum überhaupt das Projekt einer kritischen Theorie, einer kritischen Erneuerung des Marxismus weiterverfolgen? Horkheimer und Adorno beantworten diese Frage ohne Zweifel positiv. Aber diese Antwort ist gebrochen. Ihre theoretische Anstrengung zielt darauf, sie fortzusetzen. Aber sie wollen gleichzeitig begreiflich machen, dass sie nicht naiv, linear fortgesetzt werden kann. Die Theorie muss einmal in Rechnung stellen, dass sie sich durch die Fortentwicklung kapitalistischer Verhältnisse als falsch erwiesen hat und sich kritisch überprüfen. Doch selbst wenn sie in diesem Sinn nicht falsch ist, steht sie vor einem weiteren Problem. Die fortgeschrittenen Teile der Gesellschaft, darunter dann auch diejenigen, die die marxistische, kritische Theorie vertreten, können entmutigt und von der allgemeinen Ratlosigkeit ergriffen werden, da der „Hoffnung, die menschliche Existenz grundlegend zu verbessern, der Boden“ entzogen werden soll. Es ist das Ziel der Feindschaft gegen die Theorie, jene theoretische Anstrengung zu hemmen, die „im Interesse einer vernünftig organisierten zukünftigen Gesellschaft die gegenwärtige kritisch durchleuchtet“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 207). „Die Feindschaft gegen das Theoretische überhaupt, die heute im öffentlichen Leben grassiert, richtet sich in Wahrheit gegen die verändernde Aktivität, die mit dem kritischen Denken verbunden ist.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 206) Mehr noch. Die Theorie gerät eben deswegen in Verruf, weil „die fortgeschrittenste Gestalt des Denkens in der Gegenwart die kritische Theorie der Gesellschaft ist und jede konsequente intellektuelle Anstrengung, die sich um den Menschen kümmert, sinngemäß in sie einmündet“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 206). Die kritische Theorie muss demnach in ihr Verständnis der kapitalistischen Verhältnisse einbeziehen, dass sie selbst als fortgeschrittene Form des aufklärenden und verändernden Denkens bekämpft wird. Dies bedeutet, dass die herrschenden Verhältnisse selbst sich derart verändern, dass sie sich gegenüber der Veränderung immunisieren. Die Theorie wird

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von den Herrschenden mit vielerlei Maßnahmen – dazu gehören Gewalt und Verfolgung ebenso wie Kulturindustrie und Halbbildung – von der Praxis getrennt. Das aber hat zur Folge, dass die kritische Theorie keinen unmittelbaren Adressaten hat. Demnach stellt sich ihren Vertretern die besondere Aufgabe, die Kontinuität der Theorie zu bewahren. „Angesichts dessen, was jetzt über Europa und vielleicht über die ganze Welt hereinbricht, ist ohnehin unsere gegenwärtige Arbeit wesentlich zur Überlieferung durch die Nacht hindurch bestimmt, die kommen wird: eine Art Flaschenpost.“ (Horkheimer an Salka Viertel, 29. Juni 1940, in: Horkheimer 1995, S. 726) Der Status der Theorie ändert sich demnach: sie kann nicht derart als selbstverständlich unterstellt werden, dass sie auf unmittelbare Weise gleichsam naiv fortgesetzt werden kann, sondern erweist sich je nach Stand der gesellschaftlichen Entwicklung als bedroht. Die Kontinuitätssicherung der Theorie vollzieht sich demnach nicht im Sinn eines an Dritte zu vermittelnden fachlichen und formellen Wissens; die Theorie muss vielmehr auch noch ihre eigene Existenz und intellektuelle Praxis mit in die Theorie einbeziehen. „Die möglichst strenge Weitergabe der kritischen Theorie ist freilich eine Bedingung ihres geschichtlichen Erfolgs; aber sie vollzieht sich nicht auf dem festen Grund einer eingeschliffenen Praxis und fixierter Verhaltensweisen, sondern vermittels des Interesses an der Umwandlung, das sich zwar mit der herrschenden Ungerechtigkeit notwendig reproduziert, aber durch die Theorie selbst geformt und gelenkt werden soll und gleichzeitig wieder auf sie zurückwirkt. Der Kreis der Träger dieser Tradition wird nicht durch organische oder soziologische Gesetzmäßigkeiten umgrenzt und erneuert. Er ist weder durch biologische noch durch testamentarische Vererbung konstituiert und zusammengehalten, sondern durch die verbindende Erkenntnis, und diese garantiert nur ihre gegenwärtige, nicht ihre zukünftige Gemeinschaft. Mit dem Siegel aller logischen Kriterien versehen, entbehrt sie bis ans Ende der Epoche doch der Bestätigung durch den Sieg. Bis dahin währt auch der Kampf um ihre richtige Fassung und Anwendung. [. . .] Vor dem allgemeinen historischen Umschlag kann die Wahrheit bei zahlenmäßig geringen Einheiten sein. Die Geschichte lehrt, daß solche selbst von den oppositionellen Teilen der Gesellschaft kaum beachtete, verfemte, aber unbeirrbare Gruppen auf Grund ihrer tieferen Einsicht im entscheidenden Augenblick zur Spitze werden können.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 214 f.) Die Theorie wird von Horkheimer als eine aktive Praxis bestimmt, die das Interesse an Veränderung, das im gesellschaftlichen Prozess immer wieder spontan entsteht, mit gestaltet: eine Haltung, ein Wissen, eine Bindung an Theorie und Begriffe. In diesem Sinn trägt die Theorie auch für sich und ihre Funktion im gesellschaftlichen Prozess selbst Verantwortung. Dazu gehört, dass die Theorie sich fortentwickelt, um tatsächlich die fortgeschrittenste Gestalt des Denkens in der Gegenwart zu sein, aber auch, um mit all den konkreten Aktivitäten gegen ungerechte Verhältnisse, mit all denen verbunden zu bleiben, die das Andere wollen. Die Trennung der Theorie von der Praxis halten Horkheimer und Adorno für eines der Merkmale der kapitalistischen Gesellschaft und insbesondere ihrer spätkapitalistischen Phase: es soll nicht das getan werden, was Theorie tut, begrifflich allgemein über die Gegenwart hinaus und ins Offene zu denken, um die großen Probleme zu lösen und die sich stellenden Aufgaben zu bewältigen. Jene Abtren-

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nung von der Praxis lässt sich durch Anstrengungen der Theorie nicht einfach überwinden. Dies wirft die Folgefrage auf, in welcher Weise denn kritische Theorie betrieben werden kann oder sollte. In einer Diskussion, die Horkheimer und Adorno 1956 führen, berühren sie ihr Verhältnis zu Marx, zu Theorie und Praxis. Es wird angedeutet, dass sie ein Manifest in der Tradition des Kommunistischen Manifest schreiben wollen, dass sie für den Kommunismus eintreten, auch wenn sie alles das, was in Russland stattfindet, ablehnen (Horkheimer und Adorno [1956]/1996, S. 66). Eine sozialistische Partei müsste hergestellt werden, denn ohne eine solche sei unbestimmt, für wen man schreibe. Die Theorie gehe aus der Praxis hervor, als rationales Tun verlange diese nach Theorie; sie sollte Marx, Engels und Lenin die Treue halten und sagen, was „im Hinblick auf die Verwirklichung des Kommunismus innerhalb einer bestimmten Mächtekonstellation“ zu tun sei (Horkheimer und Adorno [1956]/1996, S. 64). Aber diese enge Bindung an die Praxis sei, so Adorno, auch bei Marx und Engels schon ein Moment der Barbarisierung, das Denken sei bei ihnen „verdinglichter als im fortgeschrittensten bürgerlichen Bewußtsein“ (Horkheimer und Adorno [1956]/1996, S. 64). Doch Theorie, reine Kontemplation habe selbst etwas Archaisches. Das Begriffspaar Theorie und Praxis sei, so Horkheimer, überholt. Er schlägt vor, dass die kritische Theorie sich vom Marxismus abwende, denn dieser erwarte vom Sozialismus, dass alles gut werde. Dieser Gesichtspunkt der Erwartung ist dann auch der zentrale Dissens, den Horkheimer und Adorno zwischen sich ausmachen. Beide halten die grundlegende Veränderung für möglich, aber Horkheimer hegt die Befürchtung, dass es den Rückfall geben könne. Gleichwohl plädiert für Sozialismus, er hält ihn für das Resultat des „westlichen Gedankens über den Gang der Zivilisation“ (Horkheimer [1968]/1985, S. 314). Entschieden erinnert er auch in späten Texten an wesentliche Einsichten, die die Kritische Theorie seit den 1930er-Jahren vertreten hat. Die Arbeitsweise müsste nicht mehr durch die Notwendigkeit der Naturaneignung bestimmt werden. Dass die einen befehlen und die anderen den Karren ziehen, dass es Bürger und Arbeiter, dass es Klassen, Herrschaft und Befehl, dass es weltweit immer noch Not, Hunger, Epidemien gibt, hält er für antiquiert. Die Menschheit könnte sich eine klassenlose Zukunft, eine rationale weltweite Arbeitsteilung und Nutzung der Ressourcen, ein friedliches Leben schaffen, die Geschichte im eigentlichen Sinn beginnen – „Geschichte im Zeichen menschlicher Selbstbestimmung“ (Horkheimer [1968]/1985, S. 312 f.). Gegenüber der Arbeiterklasse ist Horkheimer skeptischer als Adorno. Sie stehe dem Ziel des Sozialismus nicht näher als aufgeklärte Bürger, Marx‘ Erwartung an eine revolutionäre Arbeiterklasse habe sich als falsch erwiesen, da sich ihre Lage deutlich verbessert habe. Das ist ein ökonomistischer Kurzschluss, der nahelegt, Arbeiter/innen könnten kein Interesse an der Überwindung ihrer Klassenexistenz haben. Er plädiert für die Solidarität der Menschen untereinander und mit der Kreatur schlechthin. Kritisch gegenüber Marx ist Horkheimer auch in einer weiteren Hinsicht. Marx habe zwar für die freie Entwicklung der Individuen plädiert, aber seine Vorstellung von Sozialismus sei „in der Tat die verwaltete Welt“ (Horkheimer [1969]/1985, S. 348) Horkheimer will das nicht Marx anlasten. „Denn wir wollen ja, daß die Welt vereinheitlicht wird, wir wollen ja, daß die Dritte Welt nicht mehr hungert oder an der Hungergrenze leben muß. Aber um dieses Ziel zu erreichen,

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wird mit einer Gesellschaft bezahlt werden müssen, die eben eine verwaltete Welt darstellt.“ (Horkheimer [1969]/1985, S. 347) Er befürchtet, wie oben schon angesprochen, dass gerade aus der rationalen Einrichtung der Welt die Gefahr des Autoritarismus erwächst, es nicht nur zu einem Rückfall auf frühere Stufen kommt, sondern die Dialektik der Aufklärung weiterhin wirksam ist und erneut in Mythos umschlägt, voran getrieben gerade von jenen, die für Emanzipation eintreten. Alles würde automatisch geregelt und vom Staat verwaltet. Deswegen trete die Kritische Theorie nicht mehr wie in ihren frühen Jahren für Revolution ein, sondern dafür, das, was positiv zu bewerten ist, zu bewahren: die Autonomie der Subjekte, bestimmte Momente der Kultur, die Bedeutung der differenzierte Psychologie der Einzelnen, bestimmte religiöse Kategorien (darunter die Lehre von der Erbsünde, die die Erinnerung an all die Verbrechen der Vergangenheit und die Opfer des Fortschritts wachhält). Ich schlage vor, an diesem Punkt Horkheimer nicht für resigniert zu halten, vielmehr handelt sich um einen Hinweis auf die herausfordernde Frage, mit der sich die Kritische Theorie seit der „Dialektik der Aufklärung“ und mehr noch Adorno als Horkheimer immer wieder befasst hat: Wie muss die Rationalität eines sozialistischen Zusammenlebens der Menschheit gedacht werden? Was in der Vernunft führt dazu, dass sie in eine vollends verwaltete Welt übergeht? Und noch eine Stufe allgemeiner: Wie können jene kulturellen Voraussetzungen gesichert werden, die es ermöglichen, sich diese theoretische Frage überhaupt zu stellen. Adorno erwartet, dass die kritische Reflexion auf die Vernunft und ihre Dialektik jene Kraft gibt und jeweils neue Konstellationen ermöglicht; Horkheimer legt nahe, dass es kultureller Ressourcen bedarf, die durch kapitalistische Subsumtion und Rationalisierung erschöpft werden. Horkheimer und Adorno haben über Jahrzehnte mit Marx’ Begriffen gearbeitet, sie vertieft und weiter ausgearbeitet. Zu einer Abwendung der kritischen Theorie ist es also nicht gekommen, jedoch zur kritischen Überprüfung und Bewertung einzelner Thesen und Überlegungen, die auch häufig eher von ihnen selbst oder in der marxistischen Tradition als von Marx vertreten wurden. Adorno wendet sich gegen die Behauptung, Marx sei überholt und hält dies für einen Trick der bürgerlichen Ideologie, die Marx nicht mehr bekämpfe, sondern einfach für veraltet erkläre, um das Unabgegoltene abzuschneiden (Adorno [1968]/1993, S. 163 f.). Für ihn bleibt die Marxsche Theorie prototypisch für kritische Theorie der Gesellschaft (Adorno [1968]/1993, S. 243). Er ebenso wie Horkheimer unterstützen die Forderung der studentischen Protestbewegung, dass an den Universitäten Marx und seine Kritik der Politische Ökonomie gelehrt werden sollte: nicht als Ideologie, nicht als Bekenntnis, nicht kritiklos, sondern alternativ zu „antiquierten und sonstigen Lehrstoffen in Schulen, Hochschulen und Universitäten“ um der eigenen Zukunft willen und um die geschichtlich gestellten Aufgaben zu bewältigen (Horkheimer [1968]/1985, S. 314; Adorno [1968]/1993, S. 235). Zu diesen Aufgaben gehören die, auf die die Kritische Theorie in ihren jahrzehntelangen Bemühungen hingewiesen und zu deren Lösung sie versucht hat beizutragen: Wie zu einem offenen materialistischen Denken gelangen, das die Aufklärung aus den Zwängen der Naturaneignung und vom Bann des Immer-Gleichen befreit? Wie eine neue Kultur ermöglichen, die das Schicksal der Trennung von Kopf- und Handarbeit überwindet? Was wäre jenes

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Individuum, das nicht mehr gespalten in Gesellschaftliches und Psychologisches, nicht mehr Reflexionsform des Eigentums, nicht mehr normal und ‚realitätsgerecht‘, nicht mehr gekennzeichnet von „äonenalter Repression“ (Adorno [1955]/1972, S. 88), sondern differenziert und kooperativ verknüpft wäre? Kritische Theorie ist die intellektuelle Bemühung, nicht eine Schule zu pflegen, sondern sich selbst durch die Einlösung ihrer Intentionen im historisch-objektiven Sinn selbst überflüssig zu machen.

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Aufklärung und Religion in der kritischen Theorie Christoph Türcke

Zusammenfassung

Der Mensch macht die Religion, aber er wird sie nicht wieder los. Er bleibt gottbedürftig, auch wenn es Gott nicht gibt. Anders als Marx glaubte die kritische Theorie nicht, dass sich Religion in „richtigen“ sozialen Verhältnissen völlig erübrigt. Bei Horkheimer und Adorno fungieren Gott oder Versöhnung als kritische Kategorien, die einer Versöhnung mit unversöhnten Verhältnissen vorbeugen sollen. Schlüsselwörter

Opium des Volks · Gottbedürftigkeit · Atheismus als Utopie · Kritische Theorie · Religion · Aufklärung · Marxismus · Fundamentalismus

Zur trostlosen Lage der arbeitenden Klasse in England, die Friedrich Engels in den Jahren 1843–44 untersucht hat, gehörte auch „die stärkste Versuchung zur Trunksucht“ und zu „Opiaten, besonders Laudanum“ (Engels 1845 [1976], S. 331–333). Die verelendeten Volksmassen, die bei den Kirchen wenig Verständnis für ihre Situation fanden, begannen sich eher an Suchtstoffen festzuklammern als an den Sakramenten oder dem Evangelium. Während so Schnaps und Opium gewissermaßen zur Religion des Volks wurden, formulierte Karl Marx seine berühmte Umkehrung: Religion sei „Opium des Volks“ (Marx 1977 [1844], S. 378). Die Pointe dabei: Der aktuelle Drang der Proletarier nach schmerzstillenden benebelnden Substanzen offenbart, was Religion immer schon war: schmerzstillende benebelnde Vertröstung auf ein besseres Jenseits. Damit sollte ein für allemal Schluss sein, und zwar nicht durch eine Widerlegung religiöser Inhalte, sondern durch den C. Türcke (*) Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_7

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Frontalangriff auf ihre sozialen Ursachen. „Die Kritik der Religion endet [. . .] mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (S. 385). Dann erübrigen sich die Opiate von selbst, die physischen wie die mentalen. Doch wo genau „endet“ die Religionskritik? Gehört ihr Marx’ berühmter kategorischer Imperativ noch an oder hat er sie gerade verlassen? Das ist keine nur scholastische Frage. Einerseits war für Marx „die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt“ (S. 378) – eine verdienstvolle, aber auch beschränkte Leistung Ludwig Feuerbachs, die sich in einem Satz zusammenfassen ließ: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ (S. 378) Marx selbst hatte Wichtigeres vor: die „Kritik des Himmels [. . .] in die Kritik der Erde“ zu verwandeln, „die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik“ (S. 379) – und zwar durch ein Studium der politischen Ökonomie, dessen Resultat zweieinhalb Jahrzehnte später Das Kapital war: ein Mammutwerk, welches „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“ (Marx 1979 [1890], S. 15 f.) trachtete. Andrerseits streifte Marx auf dem Weg zum Kapital nicht einfach seine Vergangenheit ab. Er nahm vielmehr die ganze christlich-humanistische Bildung, die er als Gymnasiast in Trier und als Student in Berlin aufgesogen hatte, als Schwungmasse mit. Das Neue Testament war ihm ebenso wie die attischen Tragiker im griechischen Urtext vertraut. „Die Vereinigung der Gläubigen mit Christo nach Joh 15, 1–14, in ihrem Grund und Wesen, in ihrer unbedingten Nothwendigkeit und in ihren Wirkungen dargestellt“ war der Titel seines Abituraufsatzes (Marx 1975 [1835], S. 449) gewesen. Marx’ Weg zur Kritik der politischen Ökonomie war durchaus kein eindeutiger Abschied von der Religionskritik. Er lässt sich ebenso als ihre Fortsetzung mit andern Mitteln, als ihre Radikalisierung verstehen. Das ökonomische Elementarphänomen Geld etwa, seine ungeheure verkehrende Kraft, die die Schurken ehrenwert, die Hässlichen begehrenswert, die Gebrechlichen mächtig macht, vermag sich der junge Marx ohne theologische Terminologie gar nicht zu erschließen. „Die Verkehrung und Verwechslung aller menschlichen und natürlichen Qualitäten, die Verbrüderung der Unmöglichkeiten – die göttliche Kraft – des Geldes liegt in seinem Wesen als dem entfremdeten, entäußernden und sich veräußernden Gattungswesen der Menschen. Es ist das entäußerte Vermögen der Menschheit.“ (Marx 1974 [1844], S. 565) Das ist keine bloß metaphorische Redeweise. Das Geld tut tatsächlich, was die herkömmliche Religion ihren Göttern bloß zuschrieb. Es ist für Marx ein real existierender monotheistischer Gott. Die ganze moderne Gesellschaft verehrt ihn und dient ihm. In ihrem Geldkult ist die Religion irdisch geworden, aber Religion geblieben. Für die Geldreligion gilt daher genauso wie fürs Christentum: „Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind“ (Marx 1977 [1844], S. 378). Und nicht erst die besondere Ware Geld, sondern die Ware generell ist, wie Marx allmählich entdeckt, „voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ (Marx 1979 [1890], S. 85). Die kapitalistische Gesellschaft behandelt sie wie Naturvölker ihre Fetische. Sie projiziert einen gesellschaftlichen Wert in ihre Waren und glaubt dann, er sei ihre Natureigenschaft. Dieser „Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald

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sie als Waren produziert werden“ (S. 87), sitzt aber nicht nur in den Köpfen, sondern in der kapitalistischen Vergesellschaftungsform selbst. Sie muss umgewälzt werden, wenn er verschwinden soll. Nur über ihn aufklären genügt nicht. Selbst die Kritik der politischen Ökonomie geschieht also um der Religion willen. Marx will ihr noch die letzte und tiefste Wurzel ausreißen: den Geldkult und Warenfetischismus. Die Herstellung von Verhältnissen, die der Religion nicht mehr bedürfen, ist ein Grunddesiderat seines Lebenswerks – von den Frühschriften bis ins Spätwerk. Und der berühmte Satz „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend“ (Marx 1977 [1844], S. 378): wie ist der zu verstehen? Marx selbst wird damit kaum mehr gemeint haben, als dass es sich um eine elende Protestation handelt. Religion zeigt zwar an, dass es ohne sie in der Welt nicht auszuhalten ist; aber sie protestiert gegen die verkehrte Welt auf ähnlich verkehrte, sich selbst undurchsichtige Weise wie der Griff zum Opium. Doch für sich genommen gestattet dieser Marx’sche Satz durchaus eine andere Lesart: dass in der Religion auch etwas steckt, was nicht nur verkehrt ist: ein Widerstandspotenzial, das einer unverkürzten Gesellschaftskritik gerade zugute kommen kann. Und zu dieser Position neigte die gesellschaftskritische Gruppe, die Max Horkheimer ab 1930, als er Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung geworden war, um sich versammelte. Es gab dort so etwas wie einen unausgesprochenen Feuerbach’schen Konsens: dass „Gott“ ein mentales Geschöpf des Menschen ist, nicht der Mensch ein reales Geschöpf Gottes. Und doch war die Religion damit nicht erledigt. Das Institut beschäftigte zwar keinen Experten für Religionsfragen, so wie Friedrich Pollock für Ökonomie, Herbert Marcuse für Philosophie, Leo Löwenthal für Literatur, Erich Fromm für Psychologie, Theodor W. Adorno für Musik als besonders zuständig galten. Aber theologische Affinitäten brachten, schon wegen ihrer jüdischen Herkunft, fast alle Mitarbeiter mit, wenn auch in unterschiedlichem Maße, und Horkheimer wirkte schließlich als deren kritischer Katalysator. Zwar hatte er sich schon als Jugendlicher unter dem Eindruck seiner Schopenhauer-Lektüre weit von der jüdischen Religion seiner Väter entfernt. Durch sein Marx-Studium, das ihm für das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft immer unentbehrlicher wurde, wuchs diese Distanz noch. Dennoch findet sich unter seinen programmatischen Schriften der 1930er-Jahre, die die theoretische Gesamtrichtung des von ihm geleiteten Instituts angaben, auch ein Gedanke zur Religion. „Im Gottesbegriff war lange Zeit die Vorstellung aufbewahrt, daß es noch andere Maßstäbe gebe als diejenigen, welche Natur und Gesellschaft in ihrer Wirksamkeit zum Ausdruck bringen. Aus der Unzufriedenheit mit dem irdischen Schicksal schöpft die Anerkennung eines transzendenten Wesens ihre stärkste Kraft.“ „Die produktive Gestalt der Kritik am Bestehenden, die sich in früheren Perioden als Glaube an einen himmlischen Richter geäußert hat, ist gegenwärtig das Ringen um vernünftigere Formen des gesellschaftlichen Lebens. Aber ähnlich wie die Vernunft sich nach Kant trotz ihres eigenen besseren Wissens des Wiederauftauchens bestimmter erledigter Illusionen nicht erwehren kann, bleibt auch seit dem Übergang der religiösen Sehnsucht in die bewußte gesellschaftliche Praxis ein Schein bestehen, der sich zwar widerlegen, jedoch nicht ganz verscheuchen läßt. Es ist das Bild vollendeter Gerechtigkeit. Diese kann in der Geschichte niemals ganz verwirklicht werden; denn

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selbst wenn eine bessere Gesellschaft die gegenwärtige Unordnung abgelöst und sich entfaltet haben wird, ist das vergangene Elend nicht gutgemacht und die Not in der umgebenden Natur nicht aufgehoben.“ (Horkheimer 1988 [1935], S. 326 f.) Religion erübrigt sich mit der Etablierung des Kommunismus, hatte Marx gehofft. Religion erübrigt sich nie, sagt Horkheimer. Keine Gesellschaft kann vergangenes Elend annullieren und die Not der ganzen Natur beseitigen. Man darf hinzufügen: Auch menschliche Gebrechlichkeit und Sterblichkeit werden bleiben. Sofern der Gottesgedanke daran erinnert, ist er nicht bloß ein lästiger Rückstand der Vergangenheit, sondern ein kritisches Ferment gegen die fatale Versuchung, die „bessere Gesellschaft“ schon für die gute zu halten und sie gegen alle Kritik zu immunisieren. Jede Gesellschaft, die sich nicht im „Schein vollendeter Gerechtigkeit“ reflektiert, krankt an Reflexionsmangel. Das war nicht nur ein klares Statement gegen den platten Staatsatheismus der Sowjetunion; auch gegen Marx’ eigenen religionskritischen Optimismus. Es ist kein bloßes Versehen, dass in dem studentischen Raubdruck, der in den bewegten 1960er-Jahren von Horkheimers frühen Aufsätzen kursierte, der Gedanke zur Religion fehlt. Er passte nicht ins Konzept; wollte man den jungen Horkheimer doch ganz marxistisch darstellen und gegen den alten ausspielen, der hinter seine eigenen kritischen Standards zurückgefallen und schließlich sogar zur Religion zurückgekehrt sei. Von Rückkehr kann freilich nicht die Rede sein. Der Gedanke zur Religion enthält ein Motiv, das die programmatischen Aufsätze der 1930er-Jahre von Anfang an durchzieht, zumeist allerdings implizit, weil es für Horkheimer Wichtigeres gab: „das Ringen um vernünftigere Formen des gesellschaftlichen Lebens“. Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs schien ihm allerdings auch dieses „Ringen“ an ein Ende zu kommen. Die „bessere Gesellschaft“, die sich in Westeuropa nach den demokratischen Standards der USA etablierte, war weiterhin eine kapitalistische; nur hörte sie auf, über sich selbst hinauszuweisen. Überall, wo eine neue, mehr oder weniger sozialistische Wirtschaftsordnung ausprobiert wurde, hafteten ihr die Verwaltungsstrukturen, die sich in der kapitalistischen Ära herausgebildet hatten, samt ihren Massenmedien und Telekommunikationsformen unablösbar an, und es war nicht mehr einsehbar, wie eine komplexe Gesellschaft, gleich welcher Eigentumsordnung, überhaupt noch ohne diese Strukturen funktionsfähig sein könnte. Die Jahre des Faschismus und Stalinismus waren für Horkheimer düsterer, aber auch hoffnungsvoller gewesen. Die Zeit danach schien ihm komfortabler, aber auch aussichtsloser. In dieser Situation kehrte er das Thema Religion expliziter hervor: als ultimativen Kontrapunkt zur „verwalteten Welt“. Über den Grad von deren Verwaltbarkeit hegte Horkheimer zwar geradezu blauäugige Vorstellungen: „Am Ende steht, wenn keine Katastrophen alles Leben vernichten, eine völlig verwaltete, automatisierte, großartig funktionierende Gesellschaft, in der das einzelne Individuum zwar ohne materielle Sorgen leben kann, aber keine Bedeutung mehr besitzt.“ (Horkheimer 1985 [1969/1972], S. 347) Andrerseits war für ihn individuelle Bedeutungslosigkeit etwas schlechterdings Trostloses. Gegen eine verwaltete Welt, die auf absehbare Zeit tatsächlich alternativlos ist, reklamiert er den Gottesgedanken als letzten Einspruch.

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Das tut er 1970 fast noch genauso wie 1935, nur dass der Gottesgedanke nun nicht mehr als Motor, sondern nur noch als Platzhalter der großen Umwälzung zum Besseren fungiert. Damit ändert sich freilich die gesamte Tonlage, zumal auch leichte inhaltliche Schwankungen hinzutreten. „Das Bewußtsein unserer Verlassenheit, unserer Endlichkeit ist kein Beweis für die Existenz Gottes, sondern es kann nur die Hoffnung hervorbringen, daß es ein positives Absolutes gibt.“ (Horkheimer 1985 [1970], S. 386) Wenig später heißt es auf die Frage, ob Theologie „Ausdruck einer Hoffnung“ sei: „Ich möchte lieber sagen: Ausdruck einer Sehnsucht [. . .] danach, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“. (S. 389) Da ist die Möglichkeit eines positiven Absoluten schon fast wieder zurückgenommen. Dann wiederum sagt er: „Auf Gott können wir uns nicht berufen. Wir können nur handeln mit dem inneren Gefühl, daß es einen Gott gibt.“ (S. 395) Man merkt, wie Horkheimer hier schwankt. In seinen späteren Jahren ist er sich nicht einmal mehr über die Nichtexistenz Gottes ganz sicher. Um so mehr wird ihm die gedachte Jenseitigkeit Gottes zum letzten Anker kritischen Bewusstseins – im Gegensatz zum Atheismus. Die „großen Atheisten“ der frühen Neuzeit, die für ihre Verneinung der Existenz Gottes ihr Leben riskierten, schätzt er zwar hoch, aber bloß als Vertreter einer „Antithese“, die „so offenkundig von der These, dem Geist des Evangeliums „lebte“, daß sie das Interesse an Religion eher zu vertiefen als auszulöschen imstande war“. (Horkheimer 1985 [1963], S. 178) In modernen Gesellschaften habe der Atheismus hingegen seinen kritischen Stachel verloren. „Atheismus heute ist tatsächlich die Gesinnung, die mit der je stärkeren Macht es hält“ (S. 186), lautet die ungeschützte Behauptung. So steht es in dem Aufsatz Theismus – Atheismus. Dass Horkheimer gerade ihn für die Festschrift zu Adornos 60. Geburtstag verfasste, sagt einiges über das theologische Ferment in der Freundschaft der beiden. Horkheimers Jugendfreund und erster Vertrauter im Institut für Sozialforschung war Pollock gewesen. Doch zum prominenten Zweigespann wurden Horkheimer und Adorno – die beiden mit der größten Affinität zur Theologie im Institutskreis. Ohne ihre einvernehmliche tiefe Neigung, gesellschaftskritisches Denken bis zu den so genannten letzten Dingen voranzutreiben, wären sie schwerlich zum gemeinsamen Verfassen eines Buches fähig gewesen. Horkheimer hebt das ausdrücklich hervor. „Denken Sie daran, was wir, Adorno und ich, in der Dialektik der Aufklärung geschrieben haben. Es heißt dort: Politik, die, sei es höchst unreflektiert, Theologie nicht in sich bewahrt, bleibt [. . .] letzten Endes Geschäft“ (Horkheimer 1985 [1970], S. 388). Horkheimer war schon bei Hans Cornelius Assistent, als der Student Adorno ihn 1921 kennen lernte. Acht Jahre Altersunterschied machen in diesen Jahren viel aus. Horkheimer entwickelte sich gerade zum Marxisten, und der orientierende Einfluss, den er dabei auf Adorno ausübte, erhielt sich bis in die Anfangszeit ihrer Zusammenarbeit im Institut für Sozialforschung. Freilich stand Adorno Anfang der 1930er-Jahre intellektuell längst auf eigenen Füßen, war Horkheimer an philosophischem und soziologischem Durchblick ebenbürtig, nur eine Spur exzentrischer, brachte zudem eine umfassende musikalische Begabung und Kenntnis mit – und einereligionstheoretische Orientierung, die sich ausgerechnet an jenen Walter Benjamin anlehnte, dessen 1925

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verfasste Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels von Cornelius abgelehnt worden war. Auch Cornelius’ Assistent Horkheimer hatte mit dieser Schrift wenig anfangen können und sich nicht veranlasst gesehen, bei seinem Chef Fürsprache für sie zu halten. Das Befremdliche, was von ihr ausging, war ihre eher dekretierende als argumentierende Art, von „Wahrheit“ zu sprechen. Dass unsere Erkenntnis mit einer Begriffsapparatur arbeitet, die sich die Welt zurechtlegt, aber nicht „die Wahrheit“ erfasst: das konnte jeder an Kant geschulte Erkenntnistheoretiker zugestehen. Aber aus dem Hut dieses negativen Befunds zieht Benjamin lauter positive Verlautbarungen über „die Wahrheit“, die wie ein höheres Wissen ohne Quellenangabe daherkommen. „Die Wahrheit [. . .] entgeht jeder wie immer gearteten Projektion in den Erkenntnisbereich“. „Erkenntnis ist erfragbar, nicht aber die Wahrheit.“ (Benjamin 1974 [1925], S. 209) „Wahrheit tritt nie in eine Relation und insbesondere in keine intentionale.“ „Die Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein. Das ihr gemäße Verhalten ist demnach nicht ein Meinen im Erkennen, sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden.“ „Nicht als ein Meinen, welches durch die Empirie seine Bestimmung fände, sondern als die das Wesen dieser Empirie erst prägende Gewalt besteht die Wahrheit. Das aller Phänomenalität entrückte Sein, dem allein diese Gewalt eignet, ist das des Namens.“ (S. 216) „Das adamitische Namengeben ist so weit entfernt, Spiel und Willkür zu sein, daß vielmehr gerade in ihm der paradiesische Stand sich bestätigt, der mit der mitteilenden Bedeutung der Worte noch nicht zu ringen hatte.“ (S. 217) Woher will der Autor all das wissen, was er hier von „der Wahrheit“ behauptet, zumal er es mittels eben jener Begriffsapparatur tut, die an sie ja gerade nicht heranreichen soll? Glaubt er ernstlich, dass das biblische Paradies am Anfang der Menschengeschichte stand und die Namen, die Adam angeblich den Tieren gab, prägende Gewalt auf das Wesen aller Empirie ausgeübt haben? Solche Fragen stellten sich unvermeidlich denjenigen, die über Benjamins Schrift als philosophische Habilitationsleistung zu entscheiden hatten. Auch Adorno sind solche Fragen nicht fremd gewesen. Aber nicht eine von ihnen hat er Benjamin explizit gestellt, und zwar deshalb, weil er dessen theologische Wahrheits- und Namenstheorie sogleich seinem eigenen Denken so assimiliert hat, dass er sie anders als in dieser Form nicht mehr wahrnehmen mochte. Benjamin hatte sich nicht vor direkter theologischer Rede gescheut. „In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist.“ (Benjamin 1977 [1916], S. 148) „Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht.“ (S. 144) So etwas brachte er vor, ohne auch nur mit einem Wort darüber Auskunft zu geben, ob Gott hier als real existierend oder bloß als namenstheoretische Metapher zu nehmen sei, ob Schöpfung und Paradies den Status von Historischem oder bloß von Parabeln haben sollen. Benjamin tat so, als müsse man – auch nach Feuerbach und Marx – dazu nichts sagen. Adorno hingegen hat sich vor solch ungeschützter Redeweise sehr gescheut. Dennoch flog er geradezu auf Benjamins Eingebung vom Namen als der Redeweise, die die Dinge erschließt, sie offenbart, birgt, eins mit ihnen wird – im Gegensatz zum Begriff, der sie bloß unter- und einordnet. Im Namen sah Adorno die Möglichkeit

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einer Begriffskritik aufblitzen, die nicht irrational werden musste und zugleich die zwei Seiten seiner intellektuellen Existenz zusammenschloss: Theorie und Musik. Musik „spricht“, aber sie benennt nicht. Doch bei Lichte besehen benennen auch Worte nicht wirklich; schon Eigennamen sind dazu viel zu sehr begrifflich durchsetzt. Sie wirken in der bestehenden Welt allenfalls wie noch nicht ganz angeglichene Überbleibsel einer vergangenen Epoche. In der bestehenden Welt kommt man nur mit Begriffssprache durch. Namensprache ist hier unmöglich. Aber ihre Unmöglichkeit zeigt ein Ungenügen an: das der Musik, die nicht benennen kann, und das der Begriffe, die etwas aussprechen, ausdrücken wollen, aber bloß in der Lage sind, es zu subsumieren. Das war die Offenbarung, die Benjamin für Adorno parat hielt – aber auch schon das, was Adorno daraus gemacht hatte. Er verdankte es Benjamin und es war ganz sein Eigenes. Als er dies Eigene in seiner Antrittsvorlesung als Privatdozent der Frankfurter Universität skizzierte, erwähnte er Benjamin zu dessen Missfallen namentlich nicht. Als er drei Jahre später in dem berühmten Theologie-Brief vom 17.12.1934 an Benjamin dessen Kafka-Aufsatz überschwänglich lobte, tat er es von der Position einer vollkommenen Übereinstimmung in allen zentralen Fragen aus und versicherte dem Freund: Ihr „Standort“ zur Theologie „dünkt mir aufs genaueste mein eigener“ (Adorno und Benjamin 1994, S. 90). Sich nicht als Empfänger Benjamin’scher Einsichten darzustellen, sondern als jemand, der auf eigene Weise zu ihnen gelangt ist, war aber nicht nur ein Bedürfnis seiner Eitelkeit, sondern ersparte ihm auch die Peinlichkeit, einem so hoch spekulativen und originellen Lehrer und Verbündeten als Wadenbeißer begegnen und mit der simplen religionskritischen Gretchenfrage kommen zu müssen: Hältst du den Menschen ernstlich für ein Geschöpf Gottes statt Gott für ein Geschöpf des Menschen? Willst du hinter Feuerbach zurück? Horkheimers Befremden gegenüber Benjamins Habilitationsschrift gründete in dieser Frage. Er sprach sie nicht aus, setzte sich aber nicht für Benjamin ein. Adorno hingegen sprach sie nicht aus, um sich für Benjamin einsetzen zu können. Damit initiierte er etwas, was er selbst gar nicht voraussehen konnte: ein Langzeittabu über der Benjamin-Rezeption, das schon zu Benjamins Lebzeiten im Institut für Sozialforschung zu greifen begann und in den 1970er-Jahren, als auf Adornos Initiative nach und nach Benjamins Gesamtwerk zugänglich wurde, zu einer Selbstverständlichkeit wurde, von der bis heute die wenigsten Benjamin-Forscher abweichen. Es gilt ihrer Mehrheit immer noch als unschicklich, an Benjamins Werk die religionskritische Gretchenfrage zu stellen, zu der er auch in späteren Jahren, als er nicht mehr von Gott und vom Paradies, wohl aber vom Messias sprach, stets geschwiegen hat, als sei sie unter seiner Würde. Adorno hingegen hat jede affirmative Rede von Gott, Schöpfung, Paradies, Messias tunlichst vermieden und sich auf ein Vokabular von Andeutungen zurückgezogen, das der Marx’schen und Freud’schen Religionskritik standhalten sollte. Name, Utopie oder Versöhnung sind seine bevorzugten Worte; nur an ganz exponierten Stellen spricht er einmal von „Auferstehung des Fleisches“ (Adorno 1973, S. 207) und „Erlösung“ (Adorno 1998, S. 283). So hat er gleichsam hinten herum Benjamins Namenstheologie, die Horkheimer einst abgewiesen hatte, mit ins Institut für Sozialforschung eingebracht, aber eben in einer religionskritisch gefilterten Form, die für Horkheimer vollkommen genießbar war, auch wenn er selbst eher gerechtigkeits- als

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namenstheologisch dachte. Durch seine filternde Tätigkeit kam Adorno nicht nur auf einen gemeinsamen theologischen Nenner mit Horkheimer, sondern erwärmte diesen sogar dafür, Benjamins eigensinnige Originalität für die Forschungsarbeit des Instituts fruchtbar zu machen. Freilich blieb Benjamin steter Zaungast, das Genie am Katzentisch und – unabhängig von der Frage, ob man mehr für ihn hätte tun können oder ihn im Rahmen des Möglichen anständig unterstützt hatte – das schlechte Gewissen des Instituts. Sein Tod erschütterte die Institutskollegen auch deshalb so tief, weil er eine anklagende Wirkung auf sie hatte. Zumal für Adorno bekam Benjamins theologische Fracht postum das ganze Gewicht eines Vermächtnisses. In einem Brief vom 4.9.1941, bald nach Benjamins Tod, gesteht er Horkheimer seine Bemühung, „noch das Geheimnis zu denken. Ich habe ein schwaches, unendlich schwaches Gefühl, dass das möglich sei und auf welche Weise, bin aber ehrlich außerstande, das heute schon zu formulieren. Die Annahme vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie ist ein Motiv dazu, ein anderes die Überzeugung, dass von einem zentralsten Standpunkt aus der Unterschied des Negativen und des Positiven zur Theologie nichts besagt. [. . .] Vor allem aber glaube ich, dass all das, was wir als wahr erfahren, und zwar nicht blind, sondern in der Bewegung des Begriffs, und was sich uns wirklich als index sui et falsi zu lesen gibt, dies Licht nur als Widerschein jenes anderen trägt.“ (Horkheimer 1996, S. 164) Erst Jahre später, im Schlussaphorismus der Minima Moralia, hat Adorno die berühmte Formulierung für „das Geheimnis“ gefunden, die ihn reif zur Veröffentlichung dünkte. „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird.“ (Adorno 1998, S. 283) Erstaunlich, wie weit Adorno sich hier vorwagt. Er spricht im Indikativ vom Licht, das „von der Erlösung her auf die Welt scheint“ und von der Welt, die einst „im Messianischen Lichte daliegen wird“. So ist es; so wird es sein. Erst dann kommt der Rückzieher. Besagte Erlösungsperspektive ist „das ganz Unmögliche“, weil sie „einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muss, [. . .] sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat.“ (S. 283) So wird die Erlösungsperspektive im Moment ihrer Eröffnung auch schon geschlossen – chiffriert. Chiffre für Erlösung kann Erkenntnis nur solange sein, wie sie selbst keine Erlösungsperspektive hat. Messianisches Licht kann sie nur solange reflektieren, wie sie auf solches Licht nicht spekuliert, sondern gänzlich unbekümmert darum einfach bloß ihre Arbeit tut: „ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus“. Und wer sich dieser Fühlung ganz überlässt, für den wird „die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung fast gleichgültig“ (S. 283). Das klingt wie ein verhüllter Nachruf auf Benjamin – eine äußerste Konzession an dessen theologischen Realismus.

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Am besten freilich erschließt sich von der Musik aus, was Adorno aus Benjamin gemacht hat. „Musik ist sprachähnlich. [. . .] Aber Musik ist nicht Sprache.“ „Man pflegt das Unterscheidende darin zu suchen, dass Musik den Begriff nicht kenne. Aber manches in ihr kommt den ›primitiven Begriffen‹ recht nahe, von denen die Erkenntnistheorie handelt. Sie benutzt wiederkehrende Sigel.“ (Adorno 1978, S. 251) Aber sie definiert und identifiziert nicht. „Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen. Musik zielt auf eine intentionslose Sprache. Aber sie scheidet sich nicht bündig von der meinenden wie ein Reich vom anderen. [. . .] Musik ohne alles Meinen, der bloße phänomenale Zusammenhang der Klänge, gliche akustisch dem Kaleidoskop. Als absolutes Meinen dagegen hörte sie auf, Musik zu sein und ginge falsch in Sprache über. Intentionen sind ihr wesentlich, aber nur als intermittierende. Sie verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging an die meinenden Sprachen.“ (S. 252 f.) „Den Namen nennen“: das ist in allem Sprechen intendiert; nur keinem Sprechen gelingt es, dem musikalischen ebenso wenig wie dem verbalen. Gelänge es aber, so wäre es ungleich mehr als eine Sprechhandlung, nämlich die Überführung der Welt in den versöhnten Zustand. Aber der Name ist für Adorno nicht, wie es sich in Benjamins Trauerspielbuch las, die intentionslose jenseitige Wahrheit, die nicht einmal in Frage gestellt werden kann. Er ist lediglich der Fluchtpunkt aller Wahrheitsprätentionen, eben ein flüchtiger Punkt, kein höheres Sein, bloß ein Indikator für das, was menschlicher Sprache, sei es begrifflicher, klanglicher oder bildlicher, fehlt. Aber dieses Fehlende saugt sie an, fügt sie zu Konstellationen von Begriffen, Bildern und Klängen, die sich ineinander greifend um etwas gruppieren, was sie nicht sagen können, aber um dessentwillen all ihr Sagen geschieht. Schon einfachste Begriffe wie „Stuhl“ intendieren mehr als sie einlösen können. Sie subsumieren Einzeldinge unter einen Begriff. Aber sie wollen eigentlich gar nicht sagen, worunter das Ding fällt, sondern was es ist. Sie wollen es offenbaren. Auch das gesummte Wiegenlied will nicht nur, dass das Kind endlich schläft, sondern den Naturfrieden. Die Zeichnung will die Gestalt nicht nur festhalten, sondern lebendig machen. Dies „Wollen“ ist nicht unbedingt die bewusste Absicht dessen, der da spricht, singt oder zeichnet. Es sitzt tiefer: gleichsam im Triebleben von Sprache, Musik, Bildgestaltung selbst. Eigentlich ist es bloß ein physiologischer Impuls: ein Sehnen. Aber gerade das ist gespannt auf den göttlichen Namen, den es nicht zu nennen weiß. Sprache, Musik und Bild sind drei verschiedene Arten, diesen Namen zu intendieren. In jeder von ihnen scheint etwas von ihm auf, was den anderen abgeht, und alle drei scheinen auch ein Stück weit ineinander. Sie können füreinander einstehen, aber sie können sich nicht zum vollen, integralen Namen zusammenaddieren. Der Name bleibt in einem sehr wörtlichen Sinne utopisch. Er hat keinen Ort. Weil Sprache, Musik und Bild den versöhnten Zustand nicht herbeiführen, hat Jürgen Habermas schon in seinem Nachruf auf Adorno vorgeschlagen, die

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„überschwengliche Idee“ der Versöhnung durch die scheinbar realitätstüchtigere „herrschaftsfreier Kommunikation“ (Habermas 1971, S. 35) zu ersetzen – und damit das Paradigma genannt, in dessen Namen er dann in den kommenden Jahrzehnten den linguistic turn der kritischen Theorie vollzog. Nur wann wäre denn Kommunikation herrschaftsfrei? Gewiss nicht schon, wenn sie überall demokratische und logische Regeln befolgt, obwohl das schon sehr viel wäre. Aber communicatio ist ja mehr als mit andern geordnet und verständig sprechen. Wer etwas mitteilt, teilt immer auch sich mit – was keineswegs nur verbal geschieht. Das Maximum der Kommunikation wäre daher die communicatio idiomatum, die wechselseitige Mitteilung aller Eigenschaften und Eigenarten – ursprünglich der fachtheologische Terminus für das Verhältnis der göttlichen und menschlichen Natur in Christus, aber ebenso lesbar als ein anderes Wort für die volle Namenssprache, die Mitteilungsweise im versöhnten Zustand. Die kommunikationstheoretische Wende in der kritischen Theorie war nicht zu kommunikativ; sie war es zu wenig. Sie hat Kommunikation vorab auf Sprechhandlung verkürzt und ausgeblendet, wozu letzten Endes gesprochen wird: nicht damit unablässig weiter gesprochen wird, sondern um des wortlosen Einverständnisses willen. Der linguistic turn machte seine Rechnung ohne das Triebleben von Sprache, Musik und Bildgestaltung. Gerade dort aber setzt Adorno an. Das qualifiziert ihn als Materialisten. Er setzt nicht Sprache, Musik und Bild einen theologischen Überbau auf. Er legt an ihrer Triebstruktur ein theologisches Sehnen bloß, das sich durch keine Kommunikationstheorie wegreden lässt, aber falsch und aufgeblasen wird, wo es mehr sein soll als ein Sehnen. Daraus resultiert, was Adorno im Theologie-Brief an Benjamin „inverse Theologie“ genannt hat (Adorno und Benjamin 1994, S. 90). Sie ist so etwas wie die Zufluchtsstätte der Theologie im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit. Jene Theologie, die als akademischer Überbau von Glaubensgemeinschaften betrieben wird, läuft auf hohle Gewissheitsphrasen hinaus. Sie verfällt der Marx’schen und Freud’schen Kritik. Aber der Wunsch nach dem versöhnten Zustand, der in der Theologie zu falscher Gewissheit aufgeblasen wurde, verschwindet nicht, wenn diese Gewissheit platzt. Er wird dadurch nur ort- und namenlos, versprengt in alle Regionen der Profanität, wo er inkognito fortexistiert. Und nur, wo Theologie derart außer sich ist, zerstoben in tausend heterogene Impulse, unstet und flüchtig wie Kain, im Exil wie das auserwählte Volk, ist sie glaubwürdiger Zeuge der Wahrheit. Nicht, dass sie selbst Wahrheit hätte; sie verweist nur darauf. Aber nicht wie ein Zeiger, sondern wie eine Chiffre, die dasjenige, wofür sie steht, verhüllt. Streng genommen ist es schon zu viel, wenn Adorno, wie im Theologie-Brief an Benjamin, vom „Chiffernwesen unserer Theologie“ (Adorno und Benjamin 1994, S. 91) spricht. Denn von einer Chiffre kann vernünftigerweise nur die Rede sein, wo es einen Klartext gibt, den sie verschlüsselt. Sonst ist sie Chiffre von nichts – nicht einmal Chiffre. Und ob es den Klartext, den alles offenbarenden, bergenden, rettenden Namen gibt, das gerade steht ja dahin. Deshalb ist Adorno mit theologischen Überlegungen so sparsam. Er stellt sie eigentlich nur an, um deutlich zu machen, warum er keine anstellt. Sie sind wie eine Obertonreihe seines Denkens: schwingen stets mit, wenn er sich in soziale, begriffliche oder ästhetische Details versenkt, aber erklingen nicht eigens. Genau das ist mit

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inverser Theologie gemeint. Sie ist stets präsent, aber als dasjenige, wovon nicht zu sprechen ist. Adorno hat sie als äußerste Konsequenz des Judentums verstanden, als Radikalisierung des Imperativs, den Namen Gottes nicht auszusprechen, und zwar nicht, wie das traditionelle Judentum meinte, wegen der Inkommensurabilität der göttlichen Majestät, sondern weil dieser Name das schlechterdings Zweifelhafte ist. Der Zweifel an der Existenz Gottes hatte schon in den 1930er-Jahren zu den Selbstverständlichkeiten in Horkheimers Institut gehört. Theologie galt als passé. An dieser Einschätzung änderte sich auch nach der Rückkehr des Instituts nach Frankfurt kaum etwas. Dass die deutschen Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg wieder voll waren, besagte wenig. Sie leerten sich auch bald wieder. Die „dialektische“ Theologie, die in der Restaurationszeit des westlichen Nachkriegsdeutschlands erneut Kredit gewann, war nach den Kriterien kritischer Theorie eher undialektisch und wurde ähnlich eingestuft wie tonale Musik oder figürliche Malerei: als ein sich aufbäumender Anachronismus. Was Horkheimer und Adorno allerdings nicht mehr miterlebten, ist, wie all dies für obsolet Erklärte seit den 1970er-Jahren überraschend zurückkehrte: mit der ganzen Wucht von vergeblich Verdrängtem. Seit diese Wiederkehr um sich greift – übrigens auch die des in der Dialektik der Aufklärung totgesagten liberalen Kapitalismus – sind die herkömmlichen Koordinaten kritischtheoretischer Urteilskraft allesamt in Mitleidenschaft gezogen. Es gilt neu zu verstehen, was Anachronismus heißt. Wie in der Kunst nicht alles jüngst entstandene Tonale, Figürliche, Minimalistisch-Repetitive sogleich als reaktionär zu verbuchen ist, so bedürfen auch die rezenten Entwicklungen der Theologie veränderter Wahrnehmung. Wenn ein vor dem Richtstuhl kritischer Vernunft schwerlich haltbarer Glaube sich mit kritischer Gesellschaftsanalyse und revolutionärem Wagemut verbindet, wie es in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie geschah, dann zeigt sich, dass man durchaus auch aus falschen Gewissheiten heraus zu richtigen Einsichten und Handlungen kommen kann, die zumindest temporär „die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung fast gleichgültig“ erscheinen lassen. Und wenn die Weltrevolution, die Horkheimer und Adorno für „verstellt“ hielten, tatsächlich neu auf die weltpolitische Tagesordnung gesetzt wird, und zwar durch einen islamistischen Fundamentalismus, der in ganz wörtlichem Sinne revolutio betreibt, nämlich die „Zurückwälzung“ laizistischer westlicher Staatsformen in islamische unter der unbedingten Geltung von Koran und Scharia, dann steht der Revolutionsbegriff, so wie er seit dem Sturm auf die Bastille im europäischen Diskurs verstanden wurde, unversehens Kopf. Adornos Einschätzung von 1958 gilt nicht mehr: „Die religiösen Renaissancen von heutzutage dünken mir Religionsphilosophie, nicht Religion.“ (Adorno 1977, S. 610) Gegen die Offensive des Fundamentalismus hilft kein „Chiffernwesen“, sondern nur ein religionskritischer Klartext, der sich auf die tiefste Form moderner Religion zurückbesinnt: den Warenfetischismus. Der ist nicht nur eine Religion unter vielen, sondern der Boden, auf dem alles, was von herkömmlichen Religionen übrig geblieben ist, fortwuchert. Auf diesem Boden und zu seinen Konditionen tanzen alle herkömmlichen Religionen zur globalen Bewerbung um Anhänger, auch „Kampf der Kulturen“ genannt, an. Er ist global, aber er entstammt dem christlichen Westeuropa. Deshalb erlebte die islamische Welt ihn zweifach: als christliche Ausgeburt

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und als eine Macht, die gegen Allahs Heere deshalb triumphierte, weil sie nicht nur strategisch erfolgreich war, sondern zudem mit ungreifbarer Gewalt, auf göttlichwidergöttliche Weise, auch ins Innere von Allahs Getreuen eindrang. Auch bei strengsten Moslems droht das Regelwerk des kapitalistischen Markts in die alltägliche Haushaltsführung einzugehen, nicht nur in die betriebswirtschaftliche, auch in die seelische. Den einen wird die westliche Lebensweise zur unaufgeregten Gewohnheit. Die andern zeigen bizarr ambivalente Reaktionsweisen: Strikte Ablehnung der religiösen und familiären Freiheitsstandards „des Westens“ bei gleichzeitiger Übernahme seiner mikroelektronischen Kommunikationsmittel und Lifestyleattribute. Hier kommt er als diabolischer Versucher, der mit Hochtechnologie, Mobilität und Entertainment lockt und dabei der islamischen Welt ihre Identität auszusaugen droht. Der Hass gegen „den Westen“ ist dort am heftigsten, wo die Angst am größten ist, von ihm bereits behext zu sein. Und wie weit diese Behextheit reicht, dafür ist gerade der 11. September 2001 Kronzeuge. Eine gewaltigere Verbindung von Islamismus und Showbusiness ist vorerst kaum vorstellbar. Es wurde „dem Westen“ seine eigene Melodie vorgespielt – ein Spektakel veranstaltet, gegen das jede Hollywood-Inszenierung verblasst (Türcke 2005, S. 9). An diese Vorgänge reicht das Konstrukt von der „postsäkularen Gesellschaft“, die Habermas nach dem 11. September sogleich heraufkommen sah, nicht heran. Es bewegt sich in der Spur Max Webers. Dessen Theorem von der „Entzauberung der Welt“ ist jedoch schon im Ansatz einäugig. Eine bestimmte Welt wurde entzaubert, nämlich die vormoderne – und zugleich ein globaler Warenzauber entfaltet. Säkularisierung ist einerseits real; demokratische Verfassungen mit verbriefter Religionsfreiheit sind tatsächlich integraler Bestandteil westlicher Kultur geworden. Säkularisierung ist andrerseits Schein – lediglich Chiffre für die Gründung einer neuen Religion, die an Expansionskraft und Realitätstüchtigkeit alle andern übertrifft. Diese Religion ist Habermas fremd geblieben; der „Fetischcharakter der Ware“ hat in seiner Theorie keinen Ort. Sie reduziert den Kapitalismus auf ein ganz profanes Bündel von „systemischen Mechanismen“, eine „normfreie Regelung von Kooperationszusammenhängen“ (Habermas 1981, S. 226), die allerdings gelegentlich die Unart hat, in der „Lebenswelt“ fremd zu gehen, in die Sphäre der „symbolisch vermittelten Interaktion“ (S. 173 ff.) einzudringen, deren Normbildungsprozesse zu dominieren – und dann in ihre systemischen Schranken zurückzuweisen ist. Genügt nicht aber schon ein Blick auf das symbolisch hoch aufgeladene Design von Geldscheinen, um zu sehen, dass die kapitalistische „Regelung von Kooperationszusammenhängen“ von vornherein vom Symbolgehalt der „Lebenswelt“ durchdrungen ist – und der darin steckenden Religion (Türcke 2005, S. 9)? Schon Marx sah die Religion nicht nur in den Köpfen sitzen, sondern in der sozialen Grundstruktur selbst. Friedrich Nietzsche sah sie noch tiefer sitzen: in den „Eingeweiden“ (Nietzsche 1988 [1889], S. 112). Und er fügte hinzu: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben . . .“ (S. 78) Die kritische Theorie ist in diesem Punkt eher Nietzsche als Marx gefolgt. Es war ihr klar, dass es keine Sozialordnung geben wird, in der sich Religion ganz erübrigt. Menschen bleiben, solange sie gebrechlich und sterblich sind, gottbedürftige Wesen. Die nicht mehr gottbedürftige, also im wörtlichen Sinne gottlose Welt – das wäre erst

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die erlöste, ganz befriedete (Türcke 2006, S. 328). Solange sie nicht hergestellt ist, ist der Atheismus lediglich eine Konfession – eine ebenso beschränkte wie der Theismus –, aber keine menschliche Erfahrung.

Literatur Adorno, T. W. (1973). Negative Dialektik (Gesammelte Schriften, Bd. 6). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1977). Vernunft und Offenbarung (Gesammelte Schriften, Bd. 10.2). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1978). Fragment über Musik und Sprache (Gesammelte Schriften, Bd. 16). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1998). Minima Moralia (Gesammelte Schriften, Bd. 4). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W., & Benjamin, W. (1994). Briefwechsel 1928–1940. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benjamin, W. (1974 [1925]). Ursprung des deutschen Trauerspiels (Gesammelte Schriften, Bd. I. 1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benjamin, W. (1977 [1916]). Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (Gesammelte Schriften, Bd. II. 1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Engels, F. (1976 [1845]). Zur Lage der arbeitenden Klasse in England (Marx-Engels-Werke, Bd. 2). Berlin: Dietz. Habermas, J. (1971). T. W. Adorno wäre am 11. September 66 Jahre alt geworden. In v. H. Schweppenhäuser (Hrsg.), T. W. Adorno zum Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, T. W. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 2). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Horkheimer, M. (1985 [1963]). Theismus – Atheismus (Gesammelte Schriften, Bd. 8). Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, M. (1985 [1969/1972]). Kritische Theorie gestern und heute (Gesammelte Schriften, Bd. 8). Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, M. (1985 [1970]). Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, Gespräch mit Helmut Gumnior (Gesammelte Schriften, Bd. 7). Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, M. (1988 [1935]). Gedanke zur Religion (Gesammelte Schriften, Bd. 3). Frankfurt a. M.: Fischer. Horkheimer, M. (1996). Briefwechsel 1941–1948 (Gesammelte Schriften, Bd. 17). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marx, K. (1974 [1844]). Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband). Berlin: Dietz. Marx, K. (1975 [1835]). Abituraufsatz (Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I. 1). Berlin: Dietz Verlag. Marx, K. (1977 [1844]). Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung, Marx-EngelsWerke, Bd. 1). Berlin: Dietz. Marx, K. (1979 [1890]). Das Kapital I (Marx-Engels-Werke, Bd. 23). Berlin: Dietz. Nietzsche, F. (1988 [1889]). Götzen-Dämmerung (Kritische Studienausgabe, Bd. 6). München: dtv. Türcke, C. (2005). Der Markt hat’s gegeben, der Markt hat’s genommen. Literaturen, 12(05), 6–12. Türcke, C. (2006). Religionskritik zweiten Grades. In I. Dalferth & H.-P. Grosshans (Hrsg.), Kritik der Religion (S. 319–329). Tübingen: Mohr Siebeck.

Der Marxist Adorno und die Erziehung zur Aufklärung Zvi Tauber

Zusammenfassung

Theodor W. Adornos Sammlung von Vorträgen und Radiogesprächen „Erziehung zur Mündigkeit“ ist jüngst auf Hebräisch erschienen. Im Rahmen des kurzen vorliegenden Artikels möchte ich das Erziehungsideal „Aufklärung“ erörtern, welches Adorno in allen acht, der in der Sammlung enthaltenen Aufsätzen deutlich hervorhebt, ein traditionelles Ideal der bürgerlichen Gesellschaft (das in Kants Schrift von 1784, auf welche sich Adorno selbst beruft, paradigmatisch vorgestellt wird). Warum hat sich Adorno, der marxistische Philolsoph und Soziologe (den man nachgerade als „orthodoxen Marxisten“ sehen darf, der sich an der Auffassung des Proletariats als „Subjekt der Revolution“ hielt) auf den bürgerlichen „Aufklärungswert“ der Mündigkeit als das wichtigste Erziehungsideal, ja auf das wichtigste Gesellschaftsideal schlechthin, bezogen? In meiner hier vorgetragenen Antwort stütze ich mich u. a. auf Äußerungen Herbert Marcuses, Adornos Kollegen und Freund, im Hinblick auf die systembedingte Aussichtslosigkeit einer marxistischen Befreiungsrevolution in den 1960er-Jahren und in absehbarer Zukunft, und gelange zur Schlussfolgerung, dass die Aufklärung Adornos als eine Art Vermittlungsfaktor diente, eine notwendige (freilich nicht ausreichende) Bedingung, um der Jugend emanzipatorisches Bewusstsein beizubringen, zunächst aber ihren Schullehrern und den sich universitär ausbildenden Anwärtern aufs Lehramt. Aber auch Adornos Auffassung gemäß – wie ich sie deute – will es scheinen, dass die in den Kategorien der petitio principii und des Teufelskreises definierte Sackgasse, in welche die marxistische Befreiungsauffassung (auch in den 1960er-Jahren, und zwar trotz der Studentenrevolte, der Heraufkunft der Neuen Linken etc.) geraten war, auch den Versuch, das sozial-pädagogische Ideal „Aufklärung“ den Erziehern und der Jugend zu vermitZ. Tauber (*) Philosophy Department, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_78

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teln, wie bereits seinen in der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und ihm deutlichen Äußerungen zu entnehmen ist, kennzeichnete. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Aufklärung · Erziehung · Mündigkeit · Archimedischer Punkt · Petitio Principii · Adorno · Horkheimer · Marcuse · Kant · Marx

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Mündigkeit als bürgerliche Tugend und als Erziehungsideal

Theodor W. Adornos Anthologie von Vorträgen und Radiogesprächen „Erziehung zur Mündigkeit: Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969“ ist jüngst auf Hebräisch erschienen. Im Folgenden möchte ich das Erziehungsideal „Aufklärung“ erörtern, welches Adorno in allen acht, der in der Sammlung enthaltenen Aufsätzen deutlich hervorhebt. Adorno bezog sich nicht nur auf Aufklärung im Allgemeinen, sondern besonders auf den Aufklärungsbegriff Kants in dessen berühmter Schrift von 1784, in welcher der Philosoph ihn als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ definierte und seine Leser aufrief: „Sapere aude! [Wage es, weise zu sein!] Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (Kant [1784]/1965, S. 1). Es sei hervorgehoben, dass der Ausgangspunkt zur Verwirklichung der Aufklärung in dieser von Kant gegebenen Definition als dem einzelnen Menschen immanent, spontan wirkend, als eine Art innerer archimedischer Punkt aufgefasst wird. Adorno verwendete den in der Kantschen Schrift erscheinenden Begriff der Mündigkeit, einen im Deutschen eher raren Begriff, der Reife, Unabhängigkeit, Erwachsenheit etc. bezeichnet. Im abschließenden Artikel der Sammlung, „Erziehung zur Mündigkeit“ (1969), im Vortrag vor Studenten für das Lehramt „Philosophie und Lehrer“ (1961), welcher als Vorbereitung der Abschlussprüfung in Philosophie gehalten wurde, die als Bedingung des Studiumabschlusses und des Erhalts des Befähigungszeugnisses zum Gymnasiallehrer absolviert werden musste, im Grunde aber in jedem einzelnen der Aufsätze, einschließlich „Erziehung nach Auschwitz“ (1966), thematisierte Adorno die Bedeutung der Mündigkeit des Individuums und bezog sich auf sie als Bedingung der Fundierung einer wahren Demokratie, als sei sie, die bürgerliche Tugend, Pflicht eines jeden Bürgers in einer demokratischen Republik (Adorno 1971, S. 107, 133), und erst recht eine pädagogische Pflicht: Pflicht der Lehrer und Pflicht der Lehramtsanwärter, die als berufene Lehrer die zukünftige Genration erziehen wollen (Adorno 1971, S. 31–33, 44–45, 83–85, 99, 104, 106–107, 128–129, 136, 143–146). Und bei der Lektüre dieser Anthologie von Vorträgen und Interviews aus dem letzten Jahrzehnt seines Lebens fragte ich mich, warum eigentlich Aufklärung? Warum hat Adorno, ein marxistischer Philosoph und Soziologe, sich auf Mündigkeit als das wichtigste pädagogische Ideal, ja als das wichtigste gesellschaftliche Ideal bezogen?

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Herbert Marcuse, Adornos Kollege, sein Freund und Kontrahent in gewissen Punkten, sagte in einem Radiointerview, welches er im August 1969, kurz nach dem Tod seines Freundes, gab: „Ich sehe in Adorno einen der ganz wenigen, die die Marxische Theorie in ihren tiefsten Intentionen weiterbetrieben haben. Die Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft und ihre Negation ist durch sein Werk in allen Bereichen der Kultur sichtbar gemacht worden.“ (Marcuse [1969]/1971, S. 50) Marx widersetzte sich gewiss nicht der Aufklärung, aber sie selbst wurde in seinem Denken nicht als Zweck des emanzipatorischen Handelns in der Gesellschaft hervorgehoben, sondern die Eliminierung von Verdinglichung und Entfremdung: die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, welche den Warencharakter in den Beziehungen zwischen den Menschen, die Verdinglichung des Menschen, die Entfremdung aus seinem Dasein auszutreiben vermöchte. Die Aufklärung, welche das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft ausmachte, wird bei Marx nicht als revolutionäres Ziel angesehen, sondern offenbar für selbstverständlich erachtet. Adorno war darüber hinaus ein Philosoph, der sich auf die Hegelsche Dialektik berief und sie sogar in seiner radikalen Forderung einer negativen Dialektik, die sich einer versöhnlichen Aufhebung widersetzt, übertraf. Kants Aufklärungskonzept entfaltete sich demgegenüber nicht im Rahmen des Begriffs einer historischdialektischen Entwicklung, und soweit ich es sehe, sollte es sich nicht in eine reale emanzipatorische Tathandlung übersetzen, jedenfalls nicht als erklärtes unmittelbares Ziel; postulierte doch Kant mindestens zweimal in seinen Schriften deutlich, lediglich die Freiheit der öffentlichen Debatte zu meinen, welche sich im Rahmen des Gehorsams gegenüber dem politischen Souverän zu vollziehen habe: „Räsoniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“ (Kant [1784]/1965, S. 3, 7). Ich wage zu bezweifeln, dass er dabei einzig durch die Angst vor der Polizeigewalt geleitet war. Und wenn von Aufklärung die Rede ist, war es doch Adorno, der zusammen mit seinem Freund Max Horkheimer am Anfang des ersten Kapitels ihres Buches „Dialektik der Aufklärung“ (1944/1947) das historisch-humane Ziel (entsprechend des berühmten Diktums in Max Webers „Wissenschaft als Beruf“) der rationalen Tendenz der Aufklärung mittels der modernen Wissenschaft als „Entzauberung der Welt“ apostrophierte: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herrn einzusetzen“. Zugleich wiesen aber beide – gegen Ende des Zweiten Weltkriegs – kompromisslos auf deren realen historischen Zustand hin: „Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (Horkheimer und Adorno [1944, 1947]/1987, S. 25). Von selbst versteht sich, dass Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ sich nicht der Aufklärung, der Ausrichtung auf die Welt nach wissenschaftlichrationalem Maßstab, widersetzten, aber sie verstanden es, sie auch nach ihrem historisch-relativen Wert zu bemessen und zeigten – am Ende des schrecklichen Weltkriegs – ihre inhärenten Gefahren, vor allem die Übertragung der Muster der Naturbeherrschung durch den Menschen auf den gesellschaftlichen Bereich und die Verwendung der Naturmächte zur Beherrschung des Menschen durch den Menschen

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(Horkheimer und Adorno [1944, 1947]/1987, S. 25–26, 29–30, 50–52, 59–62; Horkheimer [1946]/1991, S. 68).

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Kritik am Marxisten Adorno

Es ist leicht, ja allzu leicht, Adorno ob seiner Aussagen in den Vorträgen und Gesprächen von „Erziehung zur Mündigkeit“ zu kritisieren: Man hat scheinbar einen marxistischen Philosophen und Soziologen vor sich, der offenbar bestrebt war, ein bürgerliches Ideal zu verwirklichen, dessen ihm innewohnenden destruktiven Möglichkeiten er selbst kannte. Adorno erwähnte zwar in fast jedem Vortrag und Gespräch im besagten Band die Gefahr des Faschismus und der Gewalt (Adorno 1971, S. 19–22, 38–39, 88–104, 120–132), aber er bezog sich in diesen seinen Ausführungen, als marxistischer Denker, fast überhaupt nicht auf die raffinierten Repressionsmechanismen des Spätkapitalismus, etwa durch den immensen Anstieg der industriellen Produktivität und infolge dessen den absoluten und relativen Anstieg des Mehrwerts der Arbeit, der sich als Profit akkumuliert, um wiederum primär in die Industrie der Profitmaximierung reinvestiert zu werden. Man findet in diesen Aussagen auch keinen Bezug auf die „relative Pauperisierung“ bei gleichzeitigem „absoluten“ Anstieg des Lebensstandards, ein Prozess, der die materielle Basis für die Paralysierung der möglichen Verwirklichung einer emanzipatorischen Revolution im Sinne Marx’ bildet. In den öffentlichen Radiosendungen Adornos findet sich auch kaum ein Bezug auf die Unterdrückung des Menschen mittels der Werbeindustrie, welche, wie ich es sehe, die Absicht eindeutig widerlegte, diese Ära als „Ende der Ideologie“ (wie es der Soziologe Daniel Bell 1960 nannte) kennzeichnen zu dürfen, auf die Unterdrückung durch den blendenden Reichtum der Waren, vor allem aber auf Unterdrückung durch die Kommerzialisierung von allem Erdenklichen, einschließlich der emanzipatorischen Ideen selbst, womit die Sterilisierung der Inhalte ebendieser emanzipatorischen Ideen bewerkstelligt wäre, mithin ihrer effektiven negierenden Funktion in der Gesellschaft etc. Nicht nur im Vergleich zu „Der eindimensionale Mensch“ (1964) und zum Aufsatz „Repressive Toleranz“ (1965, 1968) von Herbert Marcuse nimmt sich Adorno (in „Erziehung zur Mündigkeit“) als historisch nicht up-to-date aus, sondern sogar im Vergleich zu den Vorträgen Nietzsches von 1872 und ihrer Bearbeitung in der Schrift „Schopenhauer als Erzieher“ (1875), in welcher er die Erziehungsanstalten Deutschlands attackierte, die Gymnasien, vor allem aber die materiell-zweckgerichtete Erziehung, die sie unter ihren Schülern verbreiteten, welche ihnen die beste Kontrolle „über alle Mittel und Wege gebietet, um so leicht wie möglich Geld zu gewinnen“, womit für ihn der Zweck der Erziehung dazu mutierte, „möglichst viele kurante Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze kurant nennt [. . .].“ (Nietzsche [1875]/1983, S. 330–331)

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Mehr noch: Bekanntlich waren die 1960er-Jahre reich an Erregung und Empörung innerhalb der Jugend Amerikas und Europas: die Studentenbewegung, Studentenrevolte; die Neue Linke, Beatniks, Hippies, kurz, verschiedene Formen des Protests, des Konflikts mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung in den entwickelten kapitalistischen Ländern und ihrer politischen Herrschaft. Es handelte sich um Jugendliche im Teen- und Twenalter, nicht wenige unter ihnen Söhne und Töchter der Opfer des Zweiten Weltkriegs, seiner Soldaten und seiner Mörder. Außer einer schwachen Solidarität mit einem Schülerprotest in Bremen gegen die Höhe der Fahrpreise in den öffentlichen Verkehrsmitteln und ein oder zwei weiteren recht blassen Äußerungen finden die Ereignisse der 1960er-Jahre keinerlei Niederschlag in den Aufsätzen besagter Sammlung, von ihrer Analyse schon gar nicht zu reden. Fast würde ich sagen, „draußen wütet der Sturm“ infolge der Empörung unter den Jugendlichen und Studenten, die offenbar eigenständige, revoltierende, negierende, unversöhnliche politisch-gesellschaftliche Positionen artikulieren, aber Adornos Predigten für die Aufklärung – die Mündigkeit – sind davon nachgerade unberührt. Dies sticht besonders in den beiden letzten Gesprächsprotokollen hervor: „Erziehung zur Entbarbarisierung“ (von April 1968) und in gesteigertem Maß in der letzten Gesprächsaufzeichnung „Erziehung zur Mündigkeit“ (von August 1969), einem Gespräch, das nach der Aktion der Studenten aus der Neuen Linken gegen das von Adorno geleitete „Institut für Sozialforschung“ (Frankfurt) stattfand, nach der Besetzung eines der Institutsräume und dem Zusammenstoß mit der Polizei, die kam, um sie zu räumen, nachdem Adorno sie angerufen und um Hilfe gegen die linken Studenten gebeten hatte. Es geht hier auch um Adorno persönlich, der immer wieder von linken Studenten, vor allem Studentinnen, im Vorlesungssaal der Universität während Vorträgen im Rahmen eines seiner Kurse belästigt wurde. Adorno kannte durchaus die sogenannte Studentenrevolte bzw. Studentenbewegung und die Bewegung der Neuen Linken in Deutschland; er positionierte sich auch ihnen gegenüber, wie aus seinen Briefen hervorgeht, etwa aus seiner Korrespondenz mit Herbert Marcuse im Hinblick auf die Aktion der Studenten am Institut: Sie begann mit Adornos an seinen Freund gerichteten Bericht im Februar 1969 über die Besetzung des Institutsraumes durch die Studenten und endete mit einem (von Adornos Sekretärin getippten) Brief am 6. August 1969, Adornos Todestag. Adorno hat zwar den Ausdruck „Linksfaschismus“ bezüglich der linken Studentenbewegung nicht erfunden, aber es will scheinen, als habe er ihn gerechtfertigt. So heißt es etwa in einem Brief an Marcuse vom 19.06.1969: „Hier in Frankfurt, sicherlich auch in Berlin, wird das Wort Ordinarius ganz ähnlich, von oben her subsumierend gebraucht, um Menschen abzutun oder, wie sie es so schön nennen, ‚fertig zu machen‘, wie seinerzeit von den Nazis das Wort Jude. [. . .] Die Gefahren des Umschlages der Studentenbewegung in Faschismus nehme ich viel schwerer als Du. Nachdem man in Frankfurt den israelischen Botschafter niedergebrüllt hat, hilft die Versicherung, das sei nicht aus Antisemitismus geschehen, und das Aufgebot irgendeines israelischen APO-Mannes nicht das mindeste.“ (Adorno [1969]/1998, S. 652a–652b)

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Aufklärung als Vermittlungsfaktor des revolutionären Bewusstseins

Und dennoch möchte ich Adornos Bezugnahme auf das Ideal der Aufklärung in einem nicht negativen Sinne deuten, sondern in einer Weise, die es ermöglicht, den Sachverhalt – d. h., das Postulat der Mündigkeit, welches den Kern der hier erörterten Aufsatzsammlung ausmacht – in die Grundlage seines marxistischen Denkens zu integrieren. Meine Antwort auf die Frage „Warum hielt sich Adorno am Ideal der Aufklärung?“ ist recht spekulativ, vermag aber in gewisser Hinsicht doch zu versöhnen, was als Widerspruch – oder zumindest als Merkwürdigkeit im Hinblick auf den marxistischen Philosophen – erscheinen mag. Ich zumindest glaube, dass meine Adorno-Liebe hier nicht meine Wahrheitsliebe übersteigt. Es will mir also scheinen, als handle es sich bei Adornos Festhalten am Ideal der Aufklärung in den 1960er-Jahren, in den Vorträgen und den Radiogesprächen, um eine Anerkennung des gegenwärtigen Versagens des Marxismus, sich zu einer wirklichen politischen Alternative zur bestehenden kapitalistische Realität heranzubilden, sich als militante soziale Macht zu konsolidieren und in absehbarer Zukunft eine freie menschliche Gesellschaft zu errichten. Marx und Engels erklärten im „Kommunistischen Manifest“, dass die „theoretischen Sätze der Kommunisten [. . .] keineswegs auf Ideen [beruhen], auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“ (Marx und Engels [1848]/1977, S. 474–475). Und genau diese – die „tatsächliche[n] Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes“ – sah der Marxist Adorno nicht vor seinen Augen; er sah im bestehenden historischen Sein das Proletariat nicht als eine „Klasse für sich“, eine Klasse mit kommunistischem Bewusstsein, welche die revolutionäre Tat zu vollziehen vermöchte. Auch im Zusammenhang der Marxschen Auffassung der Befreiung des Menschen ist eine dem Menschen, der Gesellschaft immanente Aktivität gefordert, wie schon gesagt, eine Art inneren archimedischen Punktes – die Heranbildung des Proletariats und seine Entfaltung von einer „Klasse an sich“, einer „Klasse gegenüber dem Kapital“, d. h., einer objektiven soziologischen Gegebenheit im gesellschaftlichen Sein, die unmittelbare Produzenten bezeichnet, Lohnarbeiter ohne Produktionsmittel außer ihrer körperlichen Kraft und ihrem Verstand, die unter Herrschaft der Kapitalisten arbeiten, zu einer „Klasse für sich selbst“, also einem selbstbewussten Proletariat, welches als Klasse emanzipatorisch im historischen Prozess des Klassenkampfes zu agieren hat, d. h. Proletarier, die zum Subjekt der Geschichte avancieren wollen, um aus Selbstbewusstsein, Willen und bewusster Absicht ihr eigenes Schicksal und somit das der Menschheit zu bestimmen. Die Befreiung des Menschen ist für Marx kein Emanzipationsprozess „von außen“ oder „von oben“ (den Marx und Engels den „utopistischen Sozialisten und Kommunisten“ beimaßen), sondern ein Prozess der Selbstbefreiung, der Autoemanziption. Marx schreibt: „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen

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geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.“ (Marx [1847]/1977, S. 180–181) In seinen eingangs zitierten Worten zum Andenken Adornos betonte Marcuse, wie gesagt, die fundamentale marxistische Position seines Kollegen und führte in diesem Zusammenhang auch das Problem des Nichtvorhandenseins eines revolutionären Subjekts unter den historischen Bedingungen des Spätkapitalismus an. Er sagte: „[. . .] ich denke hier besonders an die Integrierung weiter Schichten der Bevölkerung, besonders an die Integrierung der Arbeiterklasse in das bestehende kapitalistische System in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Das heißt aber, dass das geschichtliche Subjekt, das gesellschaftliche Subjekt der Revolution offenbar nicht mehr da war, oder offenbar nicht mehr oder noch nicht aktiv war. An dieser Stelle war er [d. h. Adorno] orthodoxer Marxist. Ohne eine Massenbasis in den ausgebeuteten Klassen ist eine Revolution unvorstellbar. Und weil diese Massenbasis in der gegebenen Situation gerade in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern nicht sichtbar war, hat er sozusagen die Umsetzung der Theorie in die Praxis vertagt. Er hat immer wieder nach den Vermittlungen gesucht, die, ohne die Möglichkeit einer solchen Umsetzung aufzugeben oder zu verraten, wenigstens die Umsetzung der Theorie in die Praxis vorbereiten könnten.“ (Marcuse [1969]/1971, S. 49) Damit wollte Marcuse m. E. Adornos Skepsis gegenüber der Studentenbewegung erklären: In jedem Fall – auch für Marcuse, trotz seiner Kontroverse mit Adorno über das Wesen der Studentenbewegung – bildete diese nicht die Massenbasis für die Revolution des Proletariats; sie verkörperte auf keinen Fall und konnte gar nicht das revolutionäre Subjekt verkörpern, war nicht imstande, den inneren festen Punkt für den Hebel der Befreiungsrevolution des Menschen abzugeben. Zugleich – so will es mir scheinen – kann man Marcuses Worten den Grund für Adornos Festhalten am Ideal der Aufklärung entnehmen. Der kategorische Imperativ der Aufklärung – „Sapere aude!“, die Mündigkeit des Individuums – war für Adorno ein Vermittlungsfaktor, der die Übersetzung der Marxschen Theorie in gesellschaftliche Praxis vorzubereiten vermochte. Daher forderte er in jedem der in der erörterten Sammlung zusammengetragenen Vorträge und Radiogespräche die Verwirklichung des Ideals der Aufklärung als Grundlage der Erziehung in den Gymnasien, vor allem aber als Grundlage der Erziehung der Erzieher, der er sich selbst verschrieb als Lehrer von Anwärtern auf das Lehramt an der Frankfurter Universität.

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Erziehung zur Aufklärung als petitio principii und Teufelskreis

Aber auch die Verwirklichung dieses Ideals ist höchst problematisch und weist letztendlich – auch Adorno zufolge – den Fehlschluss der petitio principii auf, im Grunde den Trugschluss, der das historische Versagen des Marxismus in der Gegenwart und der absehbaren Zukunft kennzeichnet.

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Herbert Marcuse sah die Grundlage der absurden Situation, in welcher sich „die kritische Theorie der Gesellschaft“ befindet, praktisch „ihren schwächsten Punkt“, in „ihrer Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen“ (Marcuse [1964]/1988, S. 265). Und wie gesagt, die marxistische Auffassung der Befreiung des Menschen, welcher auch Adorno anhängt, fordert das Vorhandensein eines Klassenkampfes als aktiver bestehender Faktor, „einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“, wie es bei Marx und Engels heißt. Aber die Anlehnung an ein inneres emanzipatorisches Element, die Verankerung in einen inneren archimedischen Punkt – beim Individuum wie in der Gesellschaft – eignet nicht nur der Marxschen Auffassung der Befreiung des Menschen und der Frankfurter Auffassung in deren Folge an, sondern sie bildet auch, wie gesagt, eine der Grundlagen in Kants Auffassung der Aufklärung – gilt ihm doch die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant [1784]/1965, S. 1). Das heißt, der archimedische Punkt der Aufklärung befindet sich im Inneren des Individuums, und er ist daher m. E. absurd, so wie das Cartesianische „ego cogito“ als archimedischer Punkt der Gewissheit absurd ist (Descartes [1641]/1870, S. 27).1 Mehr noch: Als solcher erfordert er eine dem Individuum äußere Grundvoraussetzung, und diese ist – die Voraussetzung der Aufklärung, Kant zufolge – die Freiheit selbst. Kant schreibt: „Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (Kant [1784]/1965, S. 2). Man sieht also: Die Formulierung der Dinge in dieser Weise erweist sich als Fehlschluss im Sinne der petitio principii. Die Aufklärung ist notwendig für die Errichtung einer freien Gesellschaft, und die freie Gesellschaft – wenigstens im Sinne ihrer Toleranz gegenüber Meinungsäußerungen und Ideen – ist die Bedingung für die schiere Möglichkeit der Aufklärung, sich innerhalb der Seele des Individuums zu entfalten. Adorno war sich dieses grundsätzlichen Problems bewusst – auch vor dem Hintergrund der Hervorhebung der Aufklärung als gesellschaftliches und pädagogisches Ideal in allen Aufsätzen des hier erörterten Bandes. Im ersten Vorwort ihres Werks „Dialektik der Aufklärung“ (1947) definierten Horkheimer und Adorno das Ziel ihres Buches als „nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (Horkheimer und Adorno [1944, 1947]/1987, S. 16). Im weiteren Verlauf dieses Vorwortes zeigte sich bereits die fatale Auffassung der petitio principii (des Teufelskreises) im Verhältnis zwischen Aufklärung und Freiheit: „Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der AufDas Absurde leitet sich davon ab, dass der von Archimedes gemeinte „archimedische Punkt“, der Prozesse bewegen kann – in der geistigen wie in der materiellen Welt, wenn ich recht verstehe –, sich außerhalb des Systems befinden muss, gleichsam als „fester Punkt“ für den Antrieb des System selbst. Bei der Aufklärung jedoch, ähnlich wie beim „ego cogito“ Decartes’, wird dieser „feste Punkt“ als im Innern des Systems verortet aufgefasst.

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klärung. Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist.“ (Horkheimer und Adorno [1944, 1947]/1987, S. 18) Und als klaren Beweis für das kritische Selbstbewusstsein Adornos auch im Hinblick auf das Schicksal der Aufklärung in der spätkapitalistischen Gesellschaft, in der er lebte und wirkte, und in der er die Aufsätze des hier erörterten Bandes verfasste, möchte ich zum Abschluss den letzten Satz im letzten Radiogespräch zitieren, das kurz vor seinem Tod stattfand und eine Woche nach seinem Tod gesendet wurde, dessen Titel wie der des gesamten Bandes „Erziehung zur Mündigkeit“ lautet. Ich zumindest sehe in diesen Worten Adornos einen Ausdruck des Absurden – des Absurden im Sinne Camus’2 –, welches diesmal nicht nur die Verwirklichung der Marxschen Vision einer freien Gesellschaft, wie sie die Denker der Frankfurter Schule adoptierten, belangt, sondern auch den Vermittlungsfaktor, der die Konsoldierung der gesellschaftlichen und bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen für die Errichtung des „Reichs der Freiheit“ ermöglichen soll, also das Absurde, das auch die Aufklärung selbst belangt. Adorno schreibt: „Ich möchte das Gespräch am liebsten damit schließen, daß wir unseren Zuhörern das Phänomen zu bedenken geben, das gerade im Eifer des Änderungswillens allzu leicht verdrängt wird, daß Versuche, in irgendeinem partikularen Bereich unsere Welt wirklich eingreifend zu ändern, sofort der überwältigenden Kraft des Bestehenden ausgesetzt sind und zur Ohnmacht verurteilt erscheinen. Wer ändern will, kann es wahrscheinlich überhaupt nur, indem er diese Ohnmacht selber und seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt und vielleicht auch was er tut.“ (Adorno 1971, S. 147) Adornos Worte am Ende der „Erziehung zur Mündigkeit“ gemahnen sehr an Marcuses Worte am Ende von „Der eindimensionale Mensch“ und das Zitat von Walter Benjamin, welches dieses Buch beschließt: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“ (Marcuse, [1964]/1988, S. 268). Es erweist sich also, dass in der Auffassung der Ohnmacht als Quelle, von der wir vermeintlich die Kräfte für die revolutionär-emanzipatorische Tat schöpfen sollen, Adorno hier seine doppelte und kompromisslose Loyalität bezeugt: die Treue zum Ideal der Befreiung des Menschen von Marx in der Vermittlung des gesellschaftlichen und pädagogischen Ideals der Aufklärung, zugleich aber auch die Treue des Wissen2 Das Absurde, das in Camus’ Denken das Verhältnis im Individuum zwischen der Gewissheit des nahenden Todes und seinem von Wert und Bedeutung bestimmten Daseins (vor dem Hintergrund seines Bewusstseins der Todesgewissheit) kennzeichnet, wird von mir im hier erörterten Zusammenhang auf die emanzipatorische Aktivität von Marxisten im spätkapitalistischen Sein vor dem Hintergrund ihres Bewusstseins des Absurden ihres Kampfes, d. h. der systembedingten Aussichtslosigkeit, ihren Kampf um die Befreiung des Menschen in absehbarer Zukunft zu verwirklichen, angewandt. So gesehen, erfüllen sie das spezifische Verhältnis zum Absurden von Camus: Das Absurde ist eine vom Menschen bestimmte Gewissheit, die er nicht annimmt; „Das Absurde hat nur insoweit einen Sinn, als man sich mit ihm nicht einverstanden erklärt“ (Camus [1942]/1959, S. 36). In einem seiner Vorträge (der im Nachlass publiziert wurde) bezog sich Marcuse auf den emanzipatorischen Kampf im Spätkapitalismus in Kategorien des „Absurden“ im Sinne Camus’ (Marcuse [1968] 1999, S. 111–113).

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schaftlers und Denkers zur wahrhaften Darstellung der bestehenden gesellschaftlichen Realität. Unter den bestehenden historisch-gesellschaftlichen Umständen erscheint diese doppelte Loyalität im Denken Theodor Adornos in den 1960erJahren – wie auch in dem Marcuses und als pronociertes Kennzeichen des Denkens der Frankfurter Schule insgesamt – als Ausdruck von Widerspruch und dem Absurden.

Literatur Adorno, T. W. ([1969]/1998). Brief an Herbert Marcuse, 19 Juni 1969. In W. Kraushaar (Hrsg.), Franfurter Schule und Studentenbewegung (Bd. 2, S. 651a–652b). Hamburg: Rogner/Bernhard bei Zweitausendeins Verlag. Adorno, T. W. (1971). Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Camus, A. ([1942]/1959). Der Mythos von Sisyphos. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag. Descartes, R. ([1641]/1870). Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie. In Descartes’ philosophische Werke (S. 5–123). Berlin: Heimann Verlag. Horkheimer, M. (Hrsg.). ([1946]/1991). Zur Kritik der instrumentallen Vernunft. In Gesammelte Schriften (Bd. 6, S. 19–186). Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Horkheimer, M., & Adorno T. W. ([1944, 1947]/1987). Dialektik der Aufklärung. In M. Horkheimer (Hrsg.), Gesammelte Schriften (Bd. 5, S. 11–290). Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Kant, I. (Hrsg.). ([1784]/1965). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In Politische Schriften (Klassiker der Politik, Bd. 1, S. 1–8). Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag. Marcuse, H. ([1964]/1988). Der eindimensionale Mensch. Hamburg: dtv. Marcuse, H. ([1968]/1999). Jenseits des eindimensionalen Menschen. In H. Marcuse & P. v. Jansen (Hrsg.), Nachgelassene Schriften (Bd. 1, S. 67–80). Lüneburg: Zu Klampen Verlag. Marcuse, H. ([1969]/1971]). Reflexion zu Theodor W. Adorno. In H. Schweppenhäuser (Hrsg.), Theodor W. Adorno Zum Gedächtnis: eine Sammlung (S. 47–51). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Marx, K. ([1847]/1977). Das Elend der Philosophie. In MEW (Bd. 4, S. 63–182). Berlin: Dietz Verlag. Marx, K., & Engels, F. ([1848]/1977). Manifest der Kommunistischen Partei. In MEW (Bd. 4, S. 459–493). Berlin: Dietz Verlag. Nietzsche, F. (Hrsg.). ([1875]/1983). Schopenhauer als Erzieher. In Werke (Bd. 1, S. 287–365). Frankfurt a. M./Berlin/Wien: Ullstein Verlag.

Vernunft und Emanzipation Alex Demirović

Zusammenfassung

Die „Dialektik der Aufklärung“ kann als eines der Hauptwerke der älteren Kritischen Theorie gelten. Die „Philosophischen Fragmente“ entfalten den inneren Widerspruch der Vernunft: Herrschaft und Emanzipation. Im Sinne Horkheimers wird Vernunft als der philosophische Begriff gesellschaftlicher Arbeitsteilung gedeutet, durch die die Menschen sich selbst erhalten. Mit Vernunft werden aber auch Verhältnisse geschaffen, unter denen sich die Menschen aber auch nicht mehr selbst erhalten können. Das ist die von Horkheimer und Adorno konstatierte Aporie, in die der moderne Kapitalismus als bürgerliche Verwirklichung von Vernunft hineingeführt hat. Es bedarf eines Verständnisses von Vernunft, die sich in einer negativen Dialektik selbst überholt, indem sie geschichtlich völlig neuen Formen gesellschaftlicher Kooperation zuarbeitet. Schlüsselwörter

Dialektik · Aufklärung · Vernunftkritik · Herrschaft · Gesellschaftliche Arbeitsteilung

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Vernunftkritik – Resignation oder radikale Fortsetzung der Aufklärung?

Die „Dialektik der Aufklärung“ wurde von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zwischen 1939 und 1944 geschrieben, 1947 erschien sie im Druck im Querido Verlag in Amsterdam. Das Buch besteht aus einer Sammlung von nicht direkt zusammenhängenden Aufsätzen und Aufzeichnungen. Trotzdem gilt es als die A. Demirović (*) Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_22

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folgenreichste und als eine der dichtesten Veröffentlichungen der Kritischen Theorie (vgl. Schmid Noerr 1987, S. 423). Die Aufnahme des Buches war wechselvoll und vielfach sehr kritisch. Marcuse und Kirchheimer hätten, so berichtet Rolf Wiggershaus (1986, S. 383), ratlos auf die ihnen zugeschickten „Philosophischen Fragmente“ reagiert. „Das erwies sich als symptomatisch für die Wirkungsgeschichte dieser Texte auf lange Zeit.“ Ganz so verhält es sich nicht. In den wenigen Rezensionen der „Dialektik“, die in deutschen Zeitschriften und Zeitungen nach Erscheinen des Buches und Anfang der 1950er-Jahre erschienen, wurde es mit eher kritischer Stoßrichtung als marxistisch charakterisiert. Im kalifornischen Exil habe der linke Flügel Hegels sich mit Amerika verschmelzen können. Was will Max Bense mit dieser Überlegung sagen? Es konnte, so seine These, auf diese Weise der besserwisserische dialektische Schematismus und eine soziologische Diagnostik überleben, die doch eigentlich für das Verständnis des Zustandes der modernen Welt nichts mehr taugten. François Bondy bezeichnete das Buch als das Werk zweier Edelmarxisten, die den Fehler machten, den Marxismus als Prüfstein der kapitalistischen Welt anzusehen, während doch gerade er selbst überprüft werden müsste, weil sich an seiner Verwirklichung das tragische Problem vom Ende der Aufklärung ablesen lasse. (Vgl. zur Rezeption die Andeutungen bei Hetzel 2011, S. 395; ausführlich Demirović 1999, S. 153 ff.) Noch bis Ende der 1950er-Jahre ließ sich das Buch im Buchhandel erwerben. Im Zusammenhang des SDS, der sich allmählich formierenden Protestbewegung seit Mitte der 1960er-Jahre und der Wiederentdeckung der marxistischen Traditionen und der Forschungsarbeiten des Instituts für Sozialforschung kam es auch zu nicht autorisierten Nachdrucken der „Dialektik der Aufklärung“. Nach einigem Zögern entschlossen sich die beiden Autoren 1969 zu einer Neuausgabe. Aufgrund der unterschiedlichen Orientierungen innerhalb der studentischen Protestbewegung wurde die „Dialektik“ von einem Teil der Linken als ein Buch angesehen, das bürgerliche Ideologie verbreitete. Vielen ihrer jüngeren Anhängern konnte die Kritische Theorie mit ihrer Distanz zur politischen Praxis als affirmativ oder konservativ gelten (vgl. Krahl 1971, S. 285 ff.). In den 1980er-Jahren gab es um das Buch erneut eine rege Diskussion. Es wurde in den Kontext der Kontroversen über die Postmoderne und die Vernunftkritik gerückt. Nietzsche, Heidegger, Derrida oder Foucault wurden als der problematische, weil antirationale oder irrationale philosophische Kontext gesehen, in den sich Horkheimer und Adorno mit ihren Überlegungen in der „Dialektik“ schon sehr früh eingeschrieben hätten (vgl. Hesse 1984; van Reijen und Schmid Noerr 1987; Kunneman und de Vries 1989). In einer Art philosophischer Totalitarismustheorie wurde allen diesen Autoren vorgeworfen, zur „Zerstörung der Vernunft“ (Georg Lukács) beizutragen und insofern auch eine Tradition fortzusetzen, die zum Verhängnis des Faschismus beigetragen habe. Kritisiert wurde von Jürgen Habermas (1985, S. 156) die „hemmungslose Vernunftskepsis“, die Horkheimer und Adorno zur Ablehnung der Wissenschaft und zu Resignation führen musste, weil die Ideologiekritik sich am Ende auch noch auf den Begriff der Vernunft selbst ausdehnt. „Die Kritik wird, indem sie sich gegen die Vernunft als die Grundlage ihrer eigenen Geltung wendet, total.“ (Habermas 1985, S. 144) Die Vernunft werde dafür kritisiert, dass sie letztlich die Welt der Identitäts-

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logik instrumenteller Verfügung unterwerfe und damit totalitär wirke. Damit ließen sich – so wie bei Nietzsche oder Foucault – die Aspekte von Macht einerseits und Geltung der Vernunft andererseits nicht mehr auseinander halten, Erkenntnis würde auf Macht reduziert; es gebe keinen festen Grund für vernünftige Begriffe mehr, die aus diesem aporetischen Zusammenhang noch herausführen könnten. Angesichts dieser „Bodenlosigkeit“ wird es als konsequent angesehen, wenn Horkheimer und Adorno im Weiteren auf Theorie verzichtet bzw. sich selbst unfähig gemacht hätten, ihre anspruchsvolle Gesellschaftstheorie fortzuentwickeln (vgl. Habermas 1985, S. 154). Ihnen sei nur übrig geblieben, auf Vorbegriffliches, den mimetischen Impuls, zurückzugreifen, auf das reflexive Eingedenken der Natur im Subjekt (Schmid Noerr 1990); Adorno selbst habe die Aporie in den Exerzitien der „Negativen Dialektik“ und der ästhetisierenden Geste seiner Schreibweise fortgesetzt. Insgesamt aber habe sich die kritische Theorie selbst nicht mehr begründen können. Habermas zufolge ist die „Dialektik der Aufklärung“ also nicht nur aus zeitgeschichtlichen, sondern systematischen Gründen das schwärzeste Buch Horkheimers und Adornos. Auf die lösende Kraft des Begriffs würden sie nicht mehr hoffen, eigentlich seien sie hoffnungslos geworden. „Diese Stimmung, diese Einstellung ist nicht mehr die unsere.“ (Habermas 1985, S. 130). Auch Heidrun Hesse (1984, S. 10) vertritt die Ansicht, dass Horkheimer und Adorno in ihrer Analyse der „selbstzerstörerischen Dynamik des aufklärenden Denkens“ erlegen seien. Die „totale Resignation“, der „ungeheure totalitäre Gestus“ und die „hermetische Zivilisationskritik“, die das Buch prägten, seien aber insbesondere dem Grundansatz Adornos geschuldet (Hesse 1984, S. 40 f., 55 f., 98). Im Unterschied zu diesem habe sich Horkheimer mit seiner Kritik der subjektiven bzw. der instrumentellen Vernunft nicht in die Aporien einer radikalisierten Vernunftkritik verstrickt, wie sie dann für Adornos Philosophie prägend wurden. Diese Kritik geht einher mit einer bestimmten Konstruktion der Geschichte der Kritischen Theorie. Danach ist die Kritische Theorie das Ergebnis und die Reflexion der Niederlagen des linken, sozialistischen Projekts des 20. Jahrhunderts: das Ausbleiben der Revolution 1918/19 und in den 1920er-Jahren, die Erschöpfung der kapitalistischen Produktivität und die Weltwirtschaftskrise, dann der Faschismus und Stalinismus. Für die neue Erfahrung der Formierung der Demokratie und des Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg habe die ältere Kritische Theorie die Kraft und das Vertrauen in die Vernunftpotenziale der bürgerlichen Kultur nicht mehr gehabt. Anstatt Horkheimers Programm eines interdisziplinären Materialismus weiter zu verfolgen, das philosophische und einzelwissenschaftliche Forschung miteinander verbinden wollte, hätten Horkheimer und Adorno resigniert. Hätten sie sich die „praktischen Konsequenzen eines Verzichts auf die Anknüpfung an die Sozialwissenschaften“ eingestanden, dann „hätten sie nach dem Kriege ein Institut für Sozialforschung nicht wieder aufbauen können“ (Habermas 1981, Bd. 1, S. 516 f.). Mit der „Dialektik der Aufklärung“ findet demnach eine aporetische Abkehr vom Ziel theoretischer Erkenntnis und dem Versprechen der frühen Kritischen Theorie auf umfassende empirische Forschung statt. Demgegenüber möchte ich argumentieren, dass dieses Buch in der Theorieentwicklung der älteren Kritischen Theorie einen vorläufigen Höhepunkt und Wendepunkt markiert, keineswegs die Theorie aufgibt (vgl. ausführlich Demirović 1999). Das Gegenteil trifft zu: weder

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Defaitismus der Vernunft noch postmarxistische Wende, sondern Ausgangspunkt einer weiteren und radikaleren Ausarbeitung der kritischen Theorie insbesondere durch Adorno. Die Autoren wollen mittels kritischer Reflexion auf die theoretischen Annahmen der Aufklärung und des Marxismus als fortgeschrittenstem Stand der Aufklärung und mittels theoretischer Analyse der Kulturindustrie und des Antisemitismus als bestimmenden Merkmalen einer neuen Periode der kapitalistischen Reproduktion nicht weniger, als zu einer Erneuerung der Aufklärung und des Marxismus beizutragen. Wenn dieser Zusammenhang nicht hergestellt wird – und in der Diskussion der „Dialektik“ geht er oft verloren–, wird der Inhalt des Buches zu einer historisch wenig haltbaren Zivilisationskritik verrätselt. Es waren die Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen; dazu gehörte, dass die Praxis der Aufklärung in dieser neuen historischen Phase, in der die Propaganda, die Lüge, der Wahn das alltägliche bürgerliche Handeln prägten und sich das Bürgertum selbst den Begriffen der Vernunft, der Wahrheit und des begrifflichen Denkens gegenüber nicht mehr verpflichtet sah, ins Leere lief und auf Gleichgültigkeit, Zynismus oder Ablehnung stieß. Es geht dabei nicht um die Frage einer Neubegründung der Vernunft; das ist eine sinnlose Fragestellung. Menschen sind in der Aneignung der Natur und in ihrer Kooperation immer auf die eine oder andere Weise vernünftig, da sie ohne Begriffe und ohne Theorie nicht überleben könnten. Vernunft ist die sich in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung vollziehende Selbsterhaltung der Menschen. Doch gerade diese Vernunft ist nicht mehr selbstverständlich, wenn Menschen im Namen von wahnhaften Vorstellungen (wie Rasse, Nation, Verschwörung oder Ordnung) bereit sind, zu morden und ihr eigenes Leben ebenso wie das der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. Es wird angesichts des Nationalsozialismus, des Stalinismus und der Entwicklungen in den USA, also auf dem höchsten Stand der Aufklärung und der Vernunft, notwendig, die Praxis der Aufklärung zu begreifen. Sie hat aus sich heraus der Schwächung der Vernunft nur wenig entgegenzusetzen, doch wäre die Annahme zu harmlos, der Vernunft würde dies von außen angetan. Zu begreifen ist vielmehr, was es an der Vernunft ist, dass sie dazu beiträgt, dass Menschen und Gesellschaften mit den Mitteln höchst entfalteter Vernunft destruktiv handeln und ihre Selbsterhaltung gefährden. Vernunft gerät, in Barbarei umschlagend, in Widerspruch mit sich selbst. Die „Dialektik der Aufklärung“ will diese Dynamik begreifen und wird insofern zu einer Programmschrift, die für die weitere Arbeit der Autoren bestimmend werden sollte. Habermas legt nahe, dass Horkheimer und Adorno mit ihrem Zweifel am Begriff der Vernunft und am Instrumentalismus moderner Wissenschaften selbst in eine Aporie geraten seien. Ihre radikale Kritik an der Vernunft habe selbst nicht mehr auf einen vernünftig begründbaren Begriff der Vernunft zurückgreifen können, der jene Kritik überhaupt rechtfertigen konnte. Doch Habermas macht sich genau genommen die Argumentationsweise zunutze, die Horkheimer und Adorno selbst kritisch gegen die neuesten Formen des bürgerlichen Denkens entfalteten – also sprachanalytische Sinnkritik, Intuitionismus oder Pragmatismus. Sie beobachteten, dass Philosophie und Wissenschaften faktisch die begrifflichen Grundlagen auflösten, auf denen wissenschaftliche Erkenntnisproduktion stattfinden kann. Es waren Horkheimers und Adornos Selbstverständnis nach nicht sie selbst, die aufgrund ihrer Analyse in

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eine aporetische Lage gekommen waren, sondern die traditionellen Wissenschaften, also die herrschenden Formen des rationalen Denkens und der Naturbeherrschung. „Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Vernunft. Wir hegen keine Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken untrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthält, der heute überall sich ereignet.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 18) Die Tatsache, dass die Wissenschaften selbst zu einer Form von Herrschaft geworden sind, nötigt sie dazu, von innen heraus der Vernunft Einhalt zu gebieten, sich nicht ihrer Dynamik zu überlassen, nicht radikal weiter zu denken und damit die Verbindlichkeit von Vernunft und Wahrheit zu schwächen und preiszugeben. Angesichts dieser Entwicklung soll die Aufklärung nicht verworfen werden, die Kritik zielt auch gerade nicht kantianisierend darauf, ihr Grenzen zu ziehen, sondern sie zu radikalisieren, für ihre Freiheit einzutreten. Die Verdinglichung des Lebens, so Adorno, beruhe „nicht auf einem Zuviel, sondern einem Zuwenig an Aufklärung“ (Adorno [1949]/1977, S. 17). Habermas kommt in seiner Deutung der „Dialektik der Aufklärung“ also zu einer eigentümlichen Fehldeutung. Aber diese ergibt sich wohl aus einer tieferen theoretischen und sachlichen Differenz zwischen ihm und Horkheimer und Adorno. Habermas will die arbeitsteilige Ausdifferenzierung von reiner, praktischer und ästhetischer Vernunft nicht in Frage stellen. Im Gegenteil sieht er in dieser seit Kant und dem Neokantianismus geläufigen Ausdifferenzierung der Vernunft die der kulturellen Moderne eigene Würde liegen und möchte sie weiter entfalten (Habermas 1985, S. 137). Sein Ziel ist es, Ungleichgewichte und pathologische Folgen von Übergriffen der einzelnen Rationalitätsmodi auf jeweils andere und damit die Gefahr der Entdifferenzierung einzudämmen, gleichzeitig aber auch die Verselbstständigung der gesellschaftlichen Bereiche und mögliche destruktive Folgen zu verhindern. Zu diesem Zweck entfaltet er den Begriff der kommunikativen Vernunft und begründet Vernunft mit einer Universalpragmatik, die die allgemeinen, formalen Bedingungen einer Diskursethik umschreibt, in der sich die Nutzer der natürlichen Sprache in quasi-vertraglichen Verhältnissen wechselseitig als vernünftige, freie und gleiche Sprecher anerkennen. Demnach bilden die Austauschprozesse der alltagssprachlichen Kommunikationen in der Lebenswelt eine gemeinsame Grundlage für die Korrektur von Störungen und kolonialisierenden Übergriffen der Funktionssysteme, die in modernen Gesellschaften immer wieder vorkommen können und die auch grundsätzlich nicht zu beseitigen sind, sondern sich nur in ein besseres, weniger pathologisches Gleichgewicht bringen lassen. Demgegenüber sehen Horkheimer und Adorno nicht die Kritische Theorie, sondern die Wissenschaften in einer Aporie – aber genauer verstanden, die Wissenschaften als eine Praxis innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und mit dem Ziel verbunden, mit der Erkenntnis von Natur und Gesellschaft die Selbsterhaltung der Menschen zu ermöglichen, zu gewährleisten und zu erleichtern. Die logische Operation einer tieferen Begründung der Vernunft, wie sie Habermas verfolgt hat und

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wie sie auch von der sinnkritischen Tradition der sprachanalytischen Philosophie betrieben wurde, wäre ihnen wohl als völlig unzureichend erschienen, da es ja keine Frage der Logik, sondern der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Entwicklung ist, die ohne moderne Wissenschaft und Technik nicht existieren könnte. Zudem hätten sie wohl auch Vorbehalte gegenüber den Überlegungen von Habermas, dass auch in der weiteren Zukunft die blinden Übergriffe der Funktionssysteme Wirtschaft und Politik in die Lebenswelt der Menschen immer weiter hinzunehmen seien. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die für Habermas im Anschluss an Max Weber gleichsam evolutionär wirksam ist und sich bis in die wissenschaftlichen Disziplinen hinein fortsetzt, wird von Horkheimer und Adorno nicht akzeptiert. Aus ihrer Sicht bedarf es der Kritik und Veränderung von Gesellschaft und gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Dazu wollen sie mit ihrer Analyse der aporetischen Konstellation der Vernunft beitragen.

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Selbsterhaltung und Vernunft. Zur Kritik der herrschenden Arbeitsteilung

Es gibt keinen Zweifel, dass Vernunft nach Horkheimers Verständnis der Begriff war, der wie kein anderer das bürgerliche Selbstverständnis charakterisierte. „Die Stammbegriffe der westlichen Zivilisation sind dabei, zu zerfallen. Die neue Generation setzt nicht mehr viel Vertrauen in sie. Vom Faschismus wird sie im Verdacht bestärkt. Die Frage ist an der Zeit, wieweit die Begriffe noch haltbar sind. Zentral ist der Begriff der Vernunft. Das Bürgertum kennt keine höhere Idee. Vernunft sollte die Beziehungen regeln, jede Leistung begründen, die von Individuen gefordert wurde, es wäre denn Sklavenarbeit.“ (Horkheimer [1942]/1987, S. 320). Vernunft galt dem Bürgertum in seiner frühen Phase als ein objektiver Begriff. Alle Verhältnisse, unter denen Menschen leben, seien mit Freiheit nach vernünftigen Gesichtspunkten zu gestalten (vgl. Horkheimer [1936]/1988, S. 365) – nach Gesichtspunkten also, die für alle Mitglieder einsichtig und an deren näherer Bestimmung sie beteiligt sind (vgl. Horkheimer [1933]/1988, S. 122). Allerdings konnte und kann das dem Bürgertum nicht gelingen. Denn das Allgemeine der Gesellschaft und die privaten Kalküle der einzelnen Bürger, die sie zum Zweck ihrer Selbsterhaltung anstellen, können unter den Bedingungen kapitalistischer Verhältnisse, also dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, der einzelwirtschaftlich-privaten Produktion für einen anonymen Markt und der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, nicht zusammengeführt werden. Deswegen bleiben die Individuen in sich gespalten in jenen Teil, der nach Selbsterhaltung und individuellem Glück strebt, und in den anderen, in dem das Individuum versucht, nach den Regeln des allgemeinen Gesetzes zu leben. Für die Vernunft ist diese Aufspaltung folgenreich, da sie intern von einem Widerspruch zerrissen wird: die Vernunft zielt aufs Allgemeine, das ihr aber unzugänglich bleibt und das sie nicht gestalten kann, gleichzeitig aber rationalisiert sie die einzelwirtschaftlichen Aktivitäten, die individuellen Selbsterhaltungspraktiken der Individuen und denen Partikularinteresse immer umfassender und intensiver. Die Vernunft wird subjektzentriert, formal und auf besondere Berei-

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che begrenzt. Auf der einen Seite bleiben die Verwendung von kollektiven Ressourcen, die Kooperation, die Wissenschaften und die Technik privaten Zielen unterworfen; auf der anderen Seite werden die allgemein-moralischen und rechtlichen Prinzipien zu Aufgaben spezialisierter gesellschaftlicher Agenturen und Personengruppen mit partikularen Interessen. Beide Sphären treten auseinander. Das Allgemeine der Vernunft wird nach herrschaftlichen Gesichtspunkten in besondere Bereiche der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gegliedert und damit Gegenstand von Expertenwissen. Damit gerät aus dem Blick, dass die allgemeinen Begriffe seit langem Momente der herrschenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind: „Wie die ersten Kategorien den organisierten Stamm und seine Macht über den Einzelnen repräsentierten, gründet die gesamte logische Ordnung, Abhängigkeit, Verkettung, Umgreifen und Zusammenschluß der Begriffe in den entsprechenden Verhältnissen der sozialen Wirklichkeit, der Arbeitsteilung. Nur freilich ist dieser gesellschaftliche Charakter der Denkformen nicht, wie Durkheim lehrt, Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, sondern Zeugnis der undurchdringlichen Einheit von Gesellschaft und Herrschaft.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 44) Horkheimer und Adorno wollen ganz materialistisch, aber ohne jede Affirmation dessen, was ist, gerade solche Konstellationen der Arbeitsteilung, also die Einheit von Herrschaft, Vernunft und Selbsterhaltung, als die historisch konkreten Formen der Vernunft begreifen. Vernunft ist die historisch konkrete und die ganze Existenzweise der Menschen umfassende Praxis; sie ist also weder auf Arbeit noch auf Kommunikation begrenzt: „Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kräfte an und bestätigen ihr Wesen. Zugleich jedoch ist dieser Prozess mitsamt seinen Resultaten ihnen selbst entfremdet, erscheint ihnen mit all seiner Verschwendung von Arbeitskraft und Menschenleben, mit seinen Kriegszuständen und dem ganzen sinnlosen Elend als unabänderliche Naturgewalt, als übermenschliches Schicksal.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 177) Kritische Theorie vertritt demnach das Projekt einer integralen, gesamtgesellschaftlichen Vernunft und tritt für ein Verhalten ein, das die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand hat. Die Trennung von Individuum und Gesellschaft, die Arbeitsteilung von Kopf und Hand, die Spaltung der Menschen in soziale Klassen, in Geschlecht, Rassen oder nationale Gruppen werden als eine Funktion begriffen, die aus dem immer noch blinden Zusammenwirken von Einzeltätigkeiten und aus Herrschaft resultiert. Solche Trennungen sind nicht sachlogisch bedingt, denn alles könnte auch „planmäßiger Entscheidung, vernünftiger Zielsetzung unterstehen“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 181) Die Theorie, die Vernunft dürfen in diesem anspruchsvollen Sinn nicht bloß als ein arbeitsteiliges Vermögen besonderer Gruppen von Individuen oder als „gesellschaftlich nützliche Berufstätigkeit“ verstanden werden; Vernunft bleibt nicht bei den fachlichen Routinen der Wissensproduktion stehen. „Im Gegensatz zu ihren Verwaltern bezeichnet Philosophie mit anderem das Denken, sofern es vor der herrschenden Arbeitsteilung nicht kapituliert und seine Aufgaben von ihr sich nicht vorgeben läßt. [. . .] Die Arbeitsteilung, wie sie unter der Herrschaft sich gebildet hat, wird dabei keineswegs ignoriert. Philosophie hört ihr nur die Lüge an, daß sie unausweichlich sei. Indem sie sich von der Übermacht nicht hypnotisieren läßt, folgt sie ihr in alle Schlupfwinkel der gesellschaftlichen Maschinerie, die a

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priori weder gestürmt, noch neu gesteuert, sondern frei vom Bann, den sie ausübt, begriffen werden soll.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 275) Die Ausdifferenzierung der Vernunft in besondere Sparten des Wissens sowie berufliche Kompetenzen und Tätigkeiten gilt der kritischen Theorie als problematisch. Doch sollte dies nicht missverstanden werden. Die Kritik zielt nicht auf die Überwindung von Arbeitsteilung an sich, sie argumentiert nicht romantisierend für einfache, handwerkliche Verhältnisse. Die kritische Theorie begreift und prüft die gesellschaftliche Arbeitsteilung und Kooperation unter dem Blickwinkel von Notwendigkeit und Freiheit, von Herrschaft und Vernunft. Einen Bedarf, Vernunft neu zu begründen, gibt es nicht, denn sie wird im gemeinsamen Leben der Individuen, in ihrer Kooperation, in ihrer Kommunikation, in ihrem begrifflichen Denken, in all den Facetten der Lebenskünste immer praktiziert. Vielmehr geht es um die historisch konkrete Analyse der irrationalen Momente der bestehenden Arbeitsteilung und um ihre vernünftige Reorganisation, in der die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit abgeschafft ist (Adorno [1949]/1977, S. 17). Solange die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die die konkrete Form der Vernunft darstellt, derart organisiert ist, dass sie unterhalb des Anspruchs der Vernunft bleibt, nämlich des Anspruchs einer vernünftigen Gestaltung der Arbeitsteilung selbst, einer Gestaltung, an der alle in freier Übereinkunft teilnehmen, ist auch die Vernunft begrenzt und nimmt Schaden. „Die Vernunft kann sich selbst nicht durchsichtig werden, solange die Menschen als Glieder eines vernunftlosen Organismus handeln.“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 182) Die kritische Reflexion auf den Stand der Vernunft ist folglich eine Reflexion auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Perspektive der „intellektuellen und wirklichen Freiheit“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 275). Die gesellschaftlichen Akteure befähigen sich durch diese Reflexion, sich und ihrer gemeinsamen Existenzweise eine neue und selbstbestimmte Form zu geben.

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Herrschaft durch Vernunft

Vernunft ermöglicht den Menschen, sich die Natur anzueignen, Wissen und Werkzeuge zu entwickeln, die Arbeitsprozesse zu planen und ihre Kooperation zu organisieren. Vernunft nimmt objektive Gestalt an. All das steigert nicht nur die Möglichkeiten der Selbsterhaltung als solche, sondern trägt zu immer größerer Freiheit bei, vor allem zur Freiheit von der körperlichen Arbeit selbst. Gleichzeitig jedoch erfährt die Vernunft ihre Begrenzung durch eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, in der die einen herrschen, also über den Reichtum, das Glück und die intellektuellen Kompetenzen verfügen, während die anderen arm bleiben, die Last der körperlich anstrengenden Arbeiten tragen, die Opfer von Gewalt sind, deren Selbsterhaltung prekär ist – und die im Namen eines Allgemeinen, welches immer sein konkreter Inhalt sein mag: Staat, Nation, Markt, Zivilisation, Europa, als Überflüssige betrachtet und geopfert werden. Wenn unter herrschenden Bedingungen aufgrund fortschreitender Arbeitsteilung und Spezialisierung mehr Menschen an formellen Bildungsprozessen teilnehmen, so wird gleichzeitig Bildung in Halbbildung transformiert, also von innen her ausgehöhlt, sie vermittelt nicht die umfas-

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sende Fähigkeit, sich die gesellschaftlichen Verhältnisse begrifflich und emotional anzueignen. Kultur verliert ihre kritische Distanz zur ökonomischen Sphäre und vollzieht unmittelbar Ideologie. Sie wird unter das Kapitalverhältnis subsumiert und ein Bereich seiner Reproduktion; ihre Produkte werden auf großindustriellem Maßstab und in einer feingliedrigen Arbeitsteilung als standardisierte Massenware erzeugt und verkauft, deren ästhetische Modelle sachlich völlig überholt sind und Aufklärung in Massenbetrug verkehren. Horkheimer und Adorno halten die technologische Erklärung dieser Vorgänge für fragwürdig, die behauptet, dass die Standardisierung des kulturellen Angebots auf die Teilnahme von Millionen zurückzuführen sei. „Der technische Gegensatz weniger Herstellungszentren zur zerstreuten Rezeption bedinge Organisation und Planung durch die Verfügenden. Die Standards seien ursprünglich aus den Bedürfnissen der Konsumenten hervorgegangen: daher würden sie so widerstandlos akzeptiert. In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt. Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 145) Es handelt sich um Herrschaft, die so, wie in der Ökonomie die Herrschaft der Kapitaleigentümer die Gestalt von Maschinen (Marx [1890]/1969, S. 454 f.), nun im Bereich der Kultur technische Form annimmt. Diese technische Rationalität vereitelt eine wesentliche Praxis der Aufklärung: dass alle aus freier Einsicht und Kooperation an der Bestimmung des Vernünftigen mitwirken. Das Radio mache demokratisch „alle gleichermaßen zu Hörern, um sie autoritär den unter sich gleichen Programmen der Stationen auszuliefern. Keine Apparatur der Replik hat sich entfaltet, und die privaten Sendungen werden zur Unfreiheit verhalten.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/ 1987, S. 146; vgl. Brecht [1932]/1967, S. 127 ff.) Diese herrschaftlichen Begrenzungen bleiben der Vernunft nicht äußerlich und sind folgenreich für ihre Entfaltung. Denn die Vernunft ist zunächst einmal das den Menschen spezifische Organ der Selbsterhaltung, ist ein Moment ihrer Natur und ihrer Fähigkeit, ihre Existenz zu sichern. Darin ist der Möglichkeit nach immer die Einsicht enthalten, dass sie sich nur erhalten können, wenn sie kooperieren. Vernunft geht also immer über das Einzelne hinaus und verweist aus einer inneren Dynamik heraus auf das Allgemeine. Niemand könnte sich allein erhalten, für sich allein arbeiten, denken, fühlen. Es bedarf immer des sozialen Zusammenhangs, der die Aufgaben und Erwartungen, die Werkzeuge, die Materialien, die Wörter, Begriffe und Gefühle zur Verfügung stellt – die ganze Geschichte der Menschheit geht in alle die einzelnen Aktivitäten zur Aneignung und Gestaltung der Natur ein. Über lange Phasen der weltgeschichtlichen Entwicklung konnte sich dieser Widerspruch zwischen der Selbsterhaltung der Einzelnen und der Selbsterhaltung des Ganzen nicht entfalten. Denn das, was diejenigen, die herrschten, taten, um sich selbst zu erhalten, trug gleichzeitig auch dazu bei, dass die Unteren bei allen Opfern, bei allem Leid, überleben konnten. Aufgrund der kapitalistischen Entwicklung seit der Periode des Ersten Weltkriegs, vielleicht sogar schon früher, erschien dies Horkheimer und Adorno nicht mehr der Fall. Die Entfaltung der Produktivkräfte, also die Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums durch die Formen der technisch und wissenschaftlich gestützten Kooperation erreichte ein derartiges Niveau, dass

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niemand mehr hungern müsste und alle in Muße leben sowie den Zugang zu Kultur und begrifflichem Denken auf höchstem Niveau erhalten könnten. Doch die Produktivkräfte würden in Destruktivkräfte transformiert, der Reichtum würde dafür genutzt, um in einem ungeheuren Maßstab Gewalt zu entfesseln, die Menschen zu unterdrücken oder im Leerlauf zu beschäftigen, um weiterhin das Privileg weniger Mächtiger zu erhalten. Vernunft, die sich für Horkheimer und Adorno also von der je konkreten Existenzweise der Menschen nicht ablösen lässt, ist zumindest seit Anbeginn der Hochzivilisationen von Herrschaft durchzogen und bestimmt, denn sie ist vorrangig die Vernunft derjenigen, die sich mit ihrer Hilfe partikularistisch selbst erhielten, die aber gleichzeitig in Anspruch nahmen, dass nur, wenn sie sich erhielten, über die anderen herrschten und Privilegien genössen, auch das Ganze Bestand haben würde. Die Vernunft wurde zum Mittel, die Verhältnisse so zu gestalten, dass diejenigen, die in ihrem Namen sprachen, Herrschaft ausüben konnten. Das bedeutet, dass ein Merkmal von Herrschaft ist, dass die Herrschenden soweit wie möglich solche Verhältnisse schaffen und gestalten, unter denen sie wiederum ihre Herrschaft reproduzieren können, die ihnen deswegen als allgemein und vernünftig gelten kann. Die Herrschenden begreifen auf ihre Weise die Zusammenhänge und das Allgemeine; doch damit begreifen sie auch, dass das Allgemeine selbst eine Herrschaftstechnik ist, die es ihnen erlaubt, ihr besonderes Interesse usurpatorisch als allgemeines Interesse auszugeben. Zwischen der Vernunft und der Herrschaft der partikularen Interessen kommt es also zu einem Kreislauf wechselseitiger Begründung; Herrschaft selbst nimmt die Form der Allgemeinheit und Vernunft an. „Herrschaft verleiht dem gesellschaftlichen Ganzen, in welchem sie sich festsetzt, erhöhte Konsistenz und Kraft. Die Arbeitsteilung, zu der sich die Herrschaft gesellschaftlich entfaltet, dient dem beherrschten Ganzen zur Selbsterhaltung. Damit aber wird notwendig das Ganze als Ganzes, die Betätigung der ihm immanenten Vernunft, zur Vollstreckung des Partikularen. Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als die Vernunft in der Wirklichkeit. Die Macht aller Mitglieder der Gesellschaft, denen als solchen kein anderer Ausweg offen ist, summiert sich durch die ihnen auferlegte Arbeitsteilung immer von neuem zur Realisierung eben des Ganzen, dessen Rationalität dadurch wiederum vervielfacht wird.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 44) Für die Unteren war es historisch durchaus vernünftig, sich in die von den Herrschenden geschaffene Arbeitsteilung einzufügen, sich dem Kommando über ihre Arbeit zu unterwerfen und subalterne, körperlich anstrengende Arbeiten zu übernehmen. Denn auf diese Weise können sie ihr Leben erhalten, auch wenn sie damit dazu beitragen, die Verhältnisse zu reproduzieren, unter denen sie weiterhin beherrscht werden. Mit dieser Existenzweise erhalten sie als Einzelne ihr Leben ebenso wie das Ganze und bilden gemeinsam mit den Herrschenden einen Schuldzusammenhang. Das ist ganz konkret die Verstrickung von Aufklärung und Mythos: vernünftig organisierte Aneignung der Natur durch Arbeit setzt sich als Naturzwang in die Gesellschaft hinein in der Form der gesellschaftlichen Organisation fort und wird ihrerseits von den Menschen nicht frei nach vernünftigen Gesichtspunkten gestaltet. Denn die gesellschaftliche Kooperation wird von den Herrschenden derart bestimmt, als sei

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es für die Aneignung der Natur erforderlich, dass die einen führen und herrschen, die anderen folgen und arbeiten; die einen die Vernunft und die Begriffe monopolisieren, die anderen in ihren Meinungen verharren. Horkheimer und Adorno veranschaulichen diese Konstellation von Herrschaft, Arbeit, Vernunft und Subjekt in einer Analyse des zwölften Gesangs der Odyssee. Odysseus und seine Gefährten werden von Kirke gewarnt, nicht der Schönheit des Gesangs der Sirenen zu verfallen, denn dann würden sie in gedächtnislose Lebewesen rückverwandelt werden. Odysseus löste das Dilemma, in den Genuss des Gesangs zu gelangen, nicht jedoch das eigene Selbst zu verlieren, durch eine urgeschichtliche Klassenteilung auf seinem Schiff. Seine Gefährten wurden darauf verpflichtet, die körperliche Arbeit des Ruderns auszuführen, ihre Ohren wurden verschlossen, so dass sie den Gesang nicht hören konnten. Odysseus selbst ließ sich an den Mast fesseln, so dass er der Verführung des Gesangs nicht bis zur äußersten Konsequenz verfallen konnte. Horkheimer und Adorno sehen in dieser Konstellation verschiedene Herrschaftspraktiken verdichtet: die körperliche Arbeit wird aufgrund von Plan und Kommando des Gutseigentümers Odysseus auf die Gefährten übertragen. Ihnen werden die Lust und das Glück, das der Gesang verspricht, vorenthalten. Odysseus behält sich das Privileg vor, den Gesang zu hören; in dessen Genuss kommt er allerdings nur passiv als gefesselter Zuhörer. Der Gesang wird zu einem ästhetischen Ereignis entmächtigt, das ohne Folgen bleibt. Von der Arbeit befreit und gefesselt, stellt Odysseus sicher, dass er seines Selbst als Genießender, als Mann, als Führender, als Herrschender nicht verlustig geht. „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war. [. . .] Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 56). Horkheimer und Adorno legen mit ihrer intersektionellen Argumentation nahe, dass Klassenherrschaft und Ausbeutung der Arbeit anderer, die Naturbeherrschung, da kommandierende, männliche Selbst, die Herausbildung der Vernunft als Moment der Selbsterhaltung und die Kultur in einer intern zusammenhängenden Praxis konstituiert werden. Die Deutungen dieser Ausführungen gehen auseinander. Wird die Analyse als eine Ausbuchstabierung der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik gelesen, bekommt sie eine affirmative Wendung: Herr und Knecht können dann als schicksalshaft-unaufhebbar, weil auf ewig in ihre Interaktionen des Kampfs um Anerkennung und Selbsterhaltung zusammengespannt gelten. „Für die beiden Vordenker der Kritischen Theorie gibt es nichts, was dieses Streben nach Vorherrschaft, das sich in der sinnentleerten Welt totaler Arbeit niederschlägt, in vernünftige Schranken weisen könnte.“ (Hesse 1984, S. 97). Aber es geht gar nicht um die Einrichtung von vernünftigen Schranken, sondern um die Überwindung des Verhältnisses selbst. Die Überlegungen von Horkheimer und Adorno können, wie ich hier argumentiere, plausibler – und vor dem Hintergrund ihrer Überlegungen zu Sozialpsychologie und Antisemitismus – als eine Komplexitätssteigerung der kritischen Theorie verstanden werden. Demnach entfaltet sich Herrschaft gerade nicht allein in der instrumentellen Naturverfügung oder der Ausbeutung von Arbeit, sondern in einer komplexen Konstellation verschiedener

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Formen von Macht in den Dimensionen von ‚Natur‘, ‚Klasse‘, ‚Geschlecht‘, ‚Rasse‘ oder ‚Bildung‘. Einer solchen Konstellation wird in emanzipatorischer Absicht nur ein umfassender Begriff von Vernunft gerecht (vgl. Maihofer 1995, S. 110 ff.). Nach Horkheimers Verständnis konnte während langer historischer Perioden Herrschaft also insofern vernünftig sein, als die Herrschenden zum Zwecke der Fortdauer ihrer Privilegien das Leben des Kollektivs derart organisierten, dass dessen Interesse dem der Herrschenden entsprach und damit zwar nicht alle, aber doch ein großer Teil der unterworfenen Einzelnen überleben konnte. Die Übereinstimmung zwischen dem allgemeinen Interesse und dem der Einzelnen ist in diesem Fall nicht demokratisch und planvoll, sondern blind und gewalttätig. Überleben können die Einzelnen nur, wenn sie konformieren und sich dem Kollektiv einfügen. Dennoch werden und wurden viele Einzelne im Namen des Kollektivs geopfert. Bis heute geschieht dies im Namen der Nation, des Staates, des Marktes, der Wettbewerbsfähigkeit, der Religion – für den Standort Deutschland wird der Tod von vielen in Kauf genommen, für die Stabilität des Euro werden Menschen in Griechenland oder Spanien geopfert, für den Schutz der staatlichen Souveränität lässt die EU die Flüchtlinge an den Grenzen Europas sterben. So setzt die moderne Gesellschaft – Horkheimer zufolge, der ja unverkennbar an Marx anknüpft – die barbarischen Zustände der Vorgeschichte fort. Vorgeschichte, das ist der Naturzwang, die Unterwerfung des Kollektivs und der Einzelnen unter die Zwänge der Aneignung der Natur durch Arbeit. Diese Aneignung wird unter dem Kommando von Wenigen vollzogen, die, weil sie mit Macht, Recht und Politik über das Wissen und die organisatorischen Kompetenzen verfügen, die Selbsterhaltung aller sichern. Daraus leiten sie wiederum ihre besonderen Rechte ab. So setzt sich der Naturzwang bis in die Gliederung der Gesellschaft, die intellektuellen Fähigkeiten und die Psychologie der Individuen sowie ihr Verhältnis zur Vernunft fort. „Die möglichst vollständige Anpassung des Subjekts an die verdinglichte Autorität der Ökonomie ist zugleich die Gestalt der Vernunft in der bürgerlichen Wirklichkeit.“ (Horkheimer [1936]/ 1988, S. 373) Damit gibt dieses Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem auch ein Maß für die Vernunft der Verhältnisse. Horkheimer war ja im Gegensatz zu einem großen Teil der marxistischen Orthodoxie überzeugt davon, dass Herrschaft, also die „für jede Epoche charakteristische Scheidung in Produktionsleiter und Ausführende“ sich nicht allein durch Zwang aufrecht erhalten könne (Horkheimer [1936]/1988, S. 344). Die Autorität der Herrschenden kann sich dann als objektiv notwendig erweisen, wenn das Kollektiv und die Subalternen nur dadurch überleben können, dass sich das partikulare Interesse der Herrschenden durchsetzt. „Durch ganze Zeitspannen hindurch lag Unterordnung im eigenen Interesse der Beherrschten wie die des Kindes unter eine gute Erziehung. Sie war eine Bedingung für die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten. [. . .] Autorität als bejahte Abhängigkeit kann daher sowohl fortschrittliche, den Interessen der Beteiligten entsprechende, der Entfaltung menschlicher Kräfte günstige Verhältnisse bedeuten als auch einen Inbegriff künstlich aufrechterhaltener, längst unwahr gewordener gesellschaftlicher Verhältnisse und Vorstellungen, die den wirklichen Interessen der Allgemeinheit zuwiderlaufen.“ (Horkheimer [1936]/1988, S. 360) Um sich selbst zu erhalten, müssten die Menschen sich jedoch schon längst nicht mehr unterordnen, nicht gehorsam

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folgen, sondern könnten in aller Freiheit auf dem entwickelten Stand der Produktivkräfte in eine freie, vernünftig selbstbestimmte Kooperation eintreten. Ja, Autonomie wäre angesichts der destruktiven, barbarischen Dynamiken kapitalistischer Gesellschaften selbst unter dem schlichten Gesichtspunkt der Selbsterhaltung angebracht. Die Vertreter der Kritischen Theorie begreifen die zeitgenössischen bürgerlichen Verhältnisse als ungleichzeitig und historisch für überholt: sie sind so beschaffen, dass sie den gesellschaftlichen Reichtum, die Wissenschaften und die Technik dazu nutzen, möglich gewordene Freiheit und Emanzipation zu verhindern. Nach meinem Verständnis geht es Horkheimer und Adorno nicht darum, dass sie einer gescheiterten Revolution in Westeuropa nach dem Ersten Weltkrieg nachtrauern und angesichts der Folgen dieses Scheiterns resignieren. Ganz im Sinne der materialistischen Theorietradition wollen sie die Folgen dieser Konstellation für die Begriffe der bürgerlichen Gesellschaft, für ihren emanzipatorischen Gehalt und damit auch für die weitere theoretische Praxis der marxistischen Theorie sowie die Perspektiven der Emanzipation begreifen und zu einer Theorie des aktuellen Standes von Herrschaft ausarbeiten: die bürgerliche Gesellschaft muss die Begriffe der Vernunft, der Wahrheit, der Theorie entwerten, um für sich selbst undurchsichtig zu werden in einer historischen Phase, in der Freiheit möglich geworden ist. Um diese neuartige Konstellation zu begreifen, verbinden Horkheimer und Adorno philosophische Argumente und konkrete Analysen zu einem spezifischen Wissenstyp, der weder philosophisch noch einzelwissenschaftlich ist.

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Funktionswechsel der Vernunft

Die bürgerliche Gesellschaft konnte in der Periode nach dem Ersten Weltkrieg und nach den weitgehend niedergeschlagenen Revolutionen durch ihre Reorganisation überleben. Mit Verfolgung und Gewalt wurden die Intellektuellen, die für kritisches Denken standen, an den Rand und in subjektive Krisen gedrängt, eingesperrt oder ermordet. Ihre Lebensgrundlage, die kulturellen Apparate, wurde den Investitionsund Entscheidungsinteressen der Mächtigen unterworfen. Die Organisationen der Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften und Parteien, wurden in Klassenkompromisse eingebunden und in Mechanismen zur Aufrechterhaltung von Herrschaft transformiert. In der historischen Phase, in der das frühe Bürgertum eine aufsteigende Klasse war, gegen die Autorität der Tradition und um das Recht auf die Gestaltung der sozialen Verhältnisse kämpfte, nahm es für sich in Anspruch, im Namen von Menschheit, Freiheit, Gleichheit, Glück und Vernunft zu sprechen, und trug damit zu einem Verständnis radikaler Weltimmanenz und zur Formierung der Menschheit als Kollektivsubjekt bei (vgl. Horkheimer [1936]/1988, S. 362). Im Vergleich zu dieser früheren Periode beobachten Horkheimer und Adorno für die neue Periode der kapitalistischen Vergesellschaftung seit den 1920er-Jahren einen Umschlag, einen Funktionswechsel von Wahrheit und Vernunft. Das Bürgertum gab nämlich seine partikularen Interessen nicht auf, die Spaltungen der Menschheit in Nationen, Rassen, Geschlechter, Fortgeschrittene und Zurückgebliebene wurden beibehalten, erneuert und vertieft. Jene Universalismen wurden entweder als Mittel

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solcher Spaltungen eingesetzt und ihrem Gehalt nach ausgehöhlt oder, wie im Fall des Faschismus, vollständig fallen gelassen. Für die Vertreter der älteren Kritischen Theorie war es irritierend, feststellen zu müssen, dass ein wesentlicher Aspekt der Vernunft, nämlich das Moment der Planung, seit den 1930er-Jahren zur Grundlage einer erweiterten Reproduktion von Herrschaft werden konnte. „Mit jedem Stück erfüllter Planung sollte ursprünglich ein Stück Repression überflüssig werden. Stattdessen hat sich in der Kontrolle der Pläne immer mehr Repression auskristallisiert.“ (Horkheimer [1942]/1987, S. 313) Sie beobachteten dies in den USA, der Sowjetunion und in Nazi-Deutschland. Beeindruckt hatte sie offensichtlich die Überlegungen eines der führenden nationalsozialistischen Soziologen, Hans Freyer, der die Ansicht vertrat, dass nicht die Planenden herrschen, sondern die Herrschenden planen sollten. Dies gab Horkheimer den Anlass, den Begriff der Vernunft und einer vernünftig gestalteten Totalität neu zu durchdenken. Es handelte sich also keineswegs um eine resignative Stimmung, sondern um eine ernsthafte Forschungsfrage, die den historischen Funktionswandel der Begriffe Vernunft und Totalität zu begreifen sucht. Denn wenn die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr vom Markt, von der Konkurrenz und der Distributionssphäre bestimmt war, also auch nicht mehr von den marktnahen Begriffen der rechtlichen Gleichheit und Freiheit, sondern die Monopole und die Agenturen der autoritären Staaten die Nachfrage und Produktion, das kollektive Verhalten und die kulturellen Muster, die Gewerkschaften und Arbeiterparteien zu lenken vermochten – wenn also die Herrschenden dazu übergingen, die gesellschaftlichen Verhältnisse machtvoll und durchdringend zu planen, wie konnte dann noch weiter auf einen der zentralen kritischen Begriffe der emanzipatorischen Bewegungen, nämlich Vernunft, Bezug genommen werden? Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich selbst schon totalisierte, wie konnte dann im Sinne von Lukács noch angenommen werden, dass das emanzipatorische Ziel in der Herstellung einer Identität von Subjekt und Objekt und der Totalität zu sehen sei? Horkheimer, der selbst diese Vorstellung in seinem programmatischen Text „Traditionelle und kritische Theorie“ (Horkheimer [1937]/1988, S. 185) noch teilte, ging nur kurze Zeit später schon kritisch dieser Frage in einer intensiven Lektüre vor allem der Texte der französischen Aufklärer nach. In der Französischen Revolution sah er die spätere Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft hin zum autoritären Staat urgeschichtlich vorgezeichnet. Unter Robespierre sei sie ihrer Tendenz nach totalitär gewesen, habe aber auch jene linken Gegner des Etatismus hervorgebracht, deren antiautoritäres Ziel die menschliche Gesellschaft und klassenlosen Demokratie ohne Lohnarbeit und ohne die Zwangsmittel des Staates war (vgl. Horkheimer [1942]/ 1987, S. 299, 312). Mit der Veränderung der kapitalistischen Reproduktion änderte sich auch das Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu Vernunft, Freiheit oder Totalität. Für Horkheimer und Adorno war dies folgenreich, weil sie Vernunft als eine objektive Praxis begriffen. Die entwertende Distanz des Bürgertums zu Vernunft oder Freiheit geschah diesen Begriffen nicht von außen. Ihr emanzipatorisches Potenzial war nicht als solches schon verbürgt. Vielmehr entfaltete die Geschichte ihre innere Dialektik und machte intelligibel, dass die Vernunft historisch bestimmt war durch den Stand von Herrschaft. Solange die Herrschenden nach rationalen Gesichtspunkten über-

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zeugend deutlich machen konnten, dass das Kollektiv nicht ohne ein Kommando von oben überleben kann, wird das Interesse einer kleinen Gruppe von Mächtigen als das der Allgemeinheit anerkannt (die Rettung der sogenannten „systemrelevanten“ Banken nach Ausbruch der Krise 2008 zugunsten weniger Vermögensbesitzer veranschaulicht diesen Zusammenhang auf aktuellem Niveau). Was mit dem liberalen Denken im Nationalsozialismus, was mit dem sozialistischen Denken in der Sowjetunion geschah, der Umschlag in den Mythos, die Totalisierung des Ganzen, das seiner inneren Vermittlungen beraubt wurde, war ein Moment der Vernunft und ihrer historischen Dynamik. Die Vernunft, die den Menschen ihre Selbsterhaltung ermöglicht, konnte bislang immer wieder in den Mythos umschlagen, also in eine Praxis der Unterwerfung unter Natur und eine Angleichung an sie bis zur Selbstaufgabe. Zu keinem bekannten historischen Zeitpunkt gab es je eine herrschaftsfreie Vernunft. Worum sich Horkheimer und Adorno gegen die Ursprungsphilosophie und ihre Mythen bemühen, ist der Nachweis, dass Vernunft keinen unschuldigen Nullpunkt kennt, dass es kein stilles Denken des Seins, keinen unverstellten Zugang zur Natur gibt. Schon der erste Moment der Anpassung an die Natur, vom Impuls bestimmt zu überleben, war Aufklärung. Aber jene erste Aufklärung war schon Herrschaft. Es bildet sich das identische Ich, das sich an Natur anpasst. Um dies zu können, tritt das Individuum gleichzeitig in Distanz zur Natur, es bildet ein distanzierendes, taktisches, kalkulierendes Verhältnis zu sich selbst aus. Dieses Selbst wird Gegenstand von Herrschaft ebenso wie die Natur, denn das identische Ich will auf diese Weise Herr über sich selbst und die Dinge und Situationen sein, um zu überleben. Aber in solchen Prozessen der Anpassung geht das Leben vorbei: „Das Leben lebt nicht“, wie Adorno in den „Minima Moralia“ Ferdinand Kürnberger zitiert. Eine solche herrschaftliche Aufklärung ergreift am Ende die Begriffe der Aufklärung selbst. Die Vernunft wendet sich, Kant immer weiter radikalisierend, gegen sich selbst und fragt kritisch, ob nicht ihre spezifischen Gehalte wie Freiheit und Gleichheit die Lern- und Anpassungsfähigkeit der Individuen und der Gesellschaft und damit die Selbsterhaltung gefährden. In einer radikalen Geste stellt die Aufklärung reflexiv auch noch ihre eigenen begrifflichen Grundlagen in Frage. Die Aufklärung wird in einem radikalen Sinn totalitär (Horkheimer und Adorno [1947]/ 1987, S. 28, 47). Herrschaft durchdringt das Ganze, nimmt es in den Griff und lässt im Namen der Emanzipation die emanzipatorischen Gehalte nicht mehr gelten. Totalität erweist sich als bürgerliches Bestreben, nichts draußen zu lassen, die gesellschaftlichen Widersprüche wenn nicht zu leugnen, dann doch alles, auch den immer von neuem nicht aufgehenden Rest, in eine durch identifizierende Vernunft hergestellte zwanghafte und gleichsam logisch-systemische Einheit der Gesellschaft zu integrieren (vgl. Demirović 2015). Der radikalste bürgerliche Denker dieses affirmativen, integrierenden Vernunft-, Widerspruchs- und Totalitätsbegriffs ist Hegel. Deswegen stehen die kritische Auseinandersetzung mit ihm und die Ausarbeitung einer negativen Dialektik und Totalität im Zentrum der Arbeiten von Adorno nach der Rückkehr aus dem Exil. Um es zu betonen: Es handelt sich für Horkheimer und Adorno nicht um Exerzitien der Verzweiflung, sondern um die Bemühung um eine nicht-naive, kritische Fortsetzung und Erneuerung der kritisch-materialistischen, marxistischen Gesellschaftstheorie und die Vorbereitung einer Praxis,

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die tatsächlich zu Emanzipation führt und nicht erneut in mythische Gewalt umschlägt. Der kritische Sachverhalt ist für die materialistische Theorie offensichtlich. Mit Vernunft begreifen, planen und organisieren Menschen ihre Lebensverhältnisse. Der emanzipatorische Aspekt liegt auf der Hand: die Menschen gestalten die Art und Weise ihres Zusammenlebens selbst. Doch darin steckt das sehr grundlegende Problem, dass die Vernunft, also die Arbeitsteilung und die allgemein geltenden Interessen, herrschaftlich ist. Dem traditionellen, herrschenden Wissenschaftsverständnis zufolge, das bis weit in den Marxismus hineinreicht, erkennen die Menschen die Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft immer umfassender und nähern sich ihnen immer weiter an, auch wenn sie sie niemals erreichen können. Nach Maßgabe dieses Erkenntnis- und technischen Fortschritts können die gesellschaftlichen Verhältnisse eingerichtet werden. Entsprechend wird die Selbsterhaltung der Menschen auf immer höherem Maßstab gewährleistet; gleichzeitig wird der Tendenz nach auf diese Weise die Organisation des sozialen Zusammenlebens immer unfreier, weil sie in immer stärkerem Maße von wissenschaftlich-technischen Gesichtspunkten bestimmt ist – in denen, um es noch einmal zu sagen, die Verallgemeinerung der Kommandogewalt der Herrschenden enthalten ist. Der Fluchtpunkt einer solchen Entwicklung wäre dann die Identität von Subjekt und Objekt, die gleichbedeutend wäre mit jenem von Weber so genannten stählernen Gehäuse der Hörigkeit. Horkheimer und Adorno wurden ihre kritischen Vorbehalte gegenüber jener Erwartung auf die Identität von Subjekt und Objekt, die gleichbedeutend mit Emanzipation sein sollte, im Laufe ihrer Arbeiten immer deutlicher. In der identitätsphilosophischen Zielsetzung, die der Aufklärung immanent war, liegt auch deren Umschlag in Mythos begründet, also die wahnhafte Vorstellung, dass Menschen ihr Zusammenleben und die Natur mit Vernunft vollständig unter Kontrolle bringen und steuern könnten. Kritisch – und mit Blick auf Horkheimers Schriften aus den 1930erJahren – argumentieren sie demgegenüber materialistisch und praxisphilosophisch in eine andere Richtung. Demnach fällt Subjekt immer ins Objekt, die Vernunft ist ein Moment der Selbsterhaltung der Menschen, die Tiere bleiben. Menschen sind naturhaft, der Reichtum wird nicht allein von ihnen durch Arbeit geschaffen, die Welt nicht aus ihrem Kopf erzeugt. Menschen bearbeiten in ihrer kooperativen Praxis – mit Begriffen, Gefühlen und Werkzeugen – die Natur, das soziale Zusammenleben und sich selbst. Dabei erzeugen sie in einem immer stärkeren Maße und auf historisch jeweils konkrete, determinierende Weise ihre Verhältnisse, die natürliche und soziale Umwelt, in der sie leben. Zu einer aufgeklärten Erkenntnis gehört gleichwohl die Einsicht in das Gemachte, in die Vorläufigkeit, in die Tatsache also, dass das, worauf der Begriff geht, niemals in diesem aufgeht. Die Geschichte schließt nicht ab, aber die Art und Weise, wie das Subjekt in das Objekt fällt, kann sich historisch ändern. Das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur, der Stoffwechsel mit ihr, muss nicht Herrschaft bleiben, sondern lässt sich versöhnen und vernünftig gestalten. Dass Vernunft nicht gottgleich das Objekt umfassen und mit diesem identisch werden kann, ist nicht als Unzulänglichkeit zu bedauern; vielmehr umgekehrt: in den Praktiken der Erkenntnis, der Gefühle entstehen auf immer neue und umfassendere Weise neue Erkenntnisse, Gefühle, Aneignungsweisen der Natur und Lebensformen. Der entscheidende Punkt ist demnach, dass die Menschen durch ihre

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Praxis immerzu neue Verhältnisse schaffen, unter denen sie leben und die sie dann wiederum erkennen und verändern. Das, was zu erkennen ist, wird auf paradoxe Weise immer umfangreicher – ebenso, wie auch die Individuen sich mit ihren Verhältnissen immer weiter differenzieren, verfeinern und universalisieren. Vernunft, richtig und emanzipatorisch verstanden, zielt demnach nicht auf Identität, auf Abschließung, sondern auf Öffnung, auf Erschließung, darauf, immer wieder neue Konstellationen von Praktiken herzustellen. Anders gesagt, die Aufgaben der Aufklärung wachsen durch die Einsicht, dass die Vernunft sich ins Offene bewegt und Menschen praktische Wesen sind, die sich und ihre Verhältnisse in der Auseinandersetzung mit der Natur ständig neu erzeugen. Unter Bedingungen der Herrschaft kann diese Einsicht aber selbst nicht praktisch relevant werden.

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Für eine Überwindung der Dialektik der Aufklärung

Die theoretische Frage stellt sich, ob es Horkheimer und Adorno gelingt, den Nachweis zu erbringen, dass die Vernunft tatsächlich aus ihrer Dynamik heraus totalitär wird. Wiggershaus (1986, S. 372) hält die These von der Selbstzerstörung der Aufklärung für eine irreführende Pointe. Denn genauer betrachtet, würden die Autoren die Unterscheidung einer wahren von einer falschen Aufklärung, einer objektiven von der bloß subjektiven, instrumentellen Vernunft in Anspruch nehmen. Aus dem Blickwinkel dieser Unterscheidung betrachtet – und von der Position jener wahren Aufklärung gesprochen – wäre die bisherige Aufklärung keine wirkliche, sondern nur die Praxis der subjektiven Vernunft und damit die Verhinderung der Aufklärung im Sinn der Gestaltung des vernünftigen Ganzen. Andreas Hetzel vertritt im Anschluss an Überlegungen von Düttmann und Menke demgegenüber die These, dass Adorno, anders als Horkheimer, konsequenter und die Vernunft nach seinem Verständnis tatsächlich aporetisch sei. Danach ist die Vernunft durch eine konstituierende Aporetik definiert. Für Adorno sei Vernunft „gerade die Lücke, die sie von sich selbst trennt, die sie daran hindert, sich vollständig zu verwirklichen und gegenüber ihrem Anderen zu totalisieren“ (Hetzel 2011, S. 395). Demnach wird die Vernunft, das Denken, der Begriff niemals identisch mit dem Objekt. In beiden Deutungen wird etwas Richtiges gesehen: Die Überlegungen von Horkheimer und Adorno stellen aufgrund einer radikalen materialistischen Reflexion auf den emanzipatorischen Gehalt von Vernunft in der marxistischen Theorie einen Wendepunkt dar. Über das Ganze der Vernunft muss neu nachgedacht werden. Gleichzeitig wird in beiden Interpretationen mit gegensätzlichen Argumenten das Problem entschärft: im einen Fall wird unterstellt, dass Horkheimer und Adorno nicht konsequent argumentieren und zwei Begriffe von Aufklärung verwenden; im anderen Fall gilt dies nur für Horkheimer, während Adorno durchaus konsequent die Aporie der Vernunft herausarbeitet, aber diese als zu ihrem Begriff gehörig begreift. Meiner Ansicht nach wird mit dieser Alternative auf eigentümliche Weise die Dialektik des Vernunftbegriffs verfehlt, die Horkheimer und Adorno sich herauszuarbeiten bemühen. Sie argumentieren tatsächlich für einen anspruchsvolleren Begriff der Vernunft; dieser allerdings war in der Vernunft immer schon enthalten. Da es sich um eine in

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Klassen gespaltene Gesellschaft handelt, in der sich die Selbsterhaltung der Menschen nur in Antagonismen vollzieht, ist auch die Vernunft intern widersprüchlich: sie ist Moment der individuellen und allgemeinen Selbsterhaltung ebenso wie Moment partikularistischer Herrschaft. Vernunft darf weder vereindeutigt noch wegen dieser Widersprüchlichkeit aufgegeben werden. Adorno arbeitet im Anschluss an die „Dialektik der Aufklärung“ jenen umfassenderen, emanzipatorischen Begriff von Vernunft weiter aus. Mit seiner Konzeption einer negativen Dialektik will er einen offenen, nicht auf die Identität von Subjekt und Objekt, nicht auf Totalität zielenden Begriff der Vernunft vorbereiten. In diesem Sinn verstanden, ist Vernunft nicht aporetisch und konstitutiv durch eine Lücke gekennzeichnet – anders gesagt: emanzipierte Vernunft will sich vermittels einer verbindlichen Praxis verwirklichen und objektivieren, aber es gehört zu ihrem emphatischen Verständnis von Freiheit ohne Hybris das Wissen, dass sie an der Gestaltung einer Welt mitwirkt, in der sie ein Moment ist und die je nach dem Stand der Erkenntnis auf jeweils neue Weise über sie hinausgeht. Vernunft wird nicht durch Analyse, Reflexion und Begriff totalitär, sondern dort, wo sie, identitätsphilosophisch vorentschieden, glaubt, alles auf den identischen Begriff bringen zu können, immer schon alles weiß und nicht offen ist für die durch Praxis jeweils neu gestaltete Welt. Versöhnende Vernunft zielt nicht mehr auf Totalisierung: „Erst wo das Grenzen setzende Prinzip der Totalität, wäre es auch bloß das Gebot, ihr gleich zu sein, zerginge, wäre Menschheit und nicht ihr Trugbild.“ (Adorno [1964]/1977, S. 620). So verstandene Vernunft stellt ein neues Maß für zukünftige Emanzipation dar. Aber auch rückblickend ist sie der Maßstab der Kritik der bisherigen Verstrickung von Aufklärung und Mythos. Insofern hat Wiggershaus mit dem Hinweis recht, dass Horkheimer und Adorno den Begriff einer wahren Aufklärung in Anspruch nehmen. Aber diese war noch nicht, sondern sie in all ihrer Radikalität vorzubereiten verstehen die Autoren als Aufgabe der kritischen Theorie. Dies will ich im Folgenden erläutern. Meine These ist also, dass gerade der zugespitzte Gedankengang die „Dialektik der Aufklärung“, der das Scheitern der bürgerlichen Aufklärung nachzeichnet, zu einem grundlegend kritischen und durchaus optimistischen Buch macht, weil Horkheimer und Adorno in einer mehr als düsteren historischen Lage einen Wendepunkt in der Weltgeschichte der Aufklärung sahen, und in dieser historischen Konstellation für einen neuen Begriff von Vernunft und Befreiung eintreten wollten. Horkheimer und Adorno argumentieren, dass die Vernunft in der bisherigen Geschichte im Bann der Herrschaft stand, dass diese Vernunft sich nicht durchsichtig war und immer wieder in den Mythos umschlug, der Mythos aber auch seinerseits immer Aufklärung war, insofern er Modelle der Erklärung anbot: der Zorn der Götter, der Wille Gottes, die ewige Ordnung der Schöpfung, und eine Einwirkung auf Natur und Selbsterhaltung ermöglichte. Wenn es sich so verhält, dann wäre mit Zwangsläufigkeit auch für alle Zukunft mit immer neuen solchen Umschlägen in beide Richtungen zu rechnen. Immer würden Menschen für den Fortschritt des Wissens und die Aufklärung der Menschen eintreten, immer käme es zu erneuten mythischen Rückfällen. Das bedeutet ja nichts anderes, als dass der historische Prozess, in dem Aufklärung stattfindet, als ganzer selbst immer noch mythisch ist, sofern der Mythos gekennzeichnet ist durch eine Art stillstehende Zeit, eine Wiederkehr des Immer-

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gleichen. Zwar mag es Fortschritt geben, aber das Gesetz seit Adams Zeiten wird nicht gebrochen, das Ganze selbst schreitet nicht voran (vgl. Adorno [1964]/1977, S. 623). Gegen die Subalternität gegenüber den schicksalhaften Gesetzmäßigkeiten wendet sich die Kritischen Theorie; gegen jene bescheidene Haltung, dass es zur menschlichen Bestimmung gehöre, immer wieder den Stein den Berg hochzurollen. Wir könnten uns bei einem solchen Schicksal bescheiden: dem Faschismus, dem Holocaust und der nuklearen Zerstörung von Hiroshima folgen die wohlfahrtsstaatliche Demokratie und der Ausbau der sozialen Bürgerrechte – diesen folgen die gegenaufklärerischen neoliberalen Mythen des Marktes und der Nation – und diesen werden erneut Formen der Demokratie und der Sicherheit folgen. Was einmal möglich war, die Barbarei des Genozids, wird zwanghaft an anderen Orten wiederholt. Geschichtsphilosophisch kann eine neue Welle der Aufklärung, der regulierenden Normen erwartet werden. Aber was ist mit all den vielen namenlosen Opfern dieser zyklischen Geschichte zwischen Aufklärung und Mythos? Was mit den langfristigen krisenhaften Entwicklungen? Wie viele Anstrengungen wird es die Überlebenden kosten, auch nur den Status quo ante wieder herzustellen, Naturzerstörungen einzudämmen, Gewohnheiten zu mäßigen, das Elend zu beseitigen, die Traumata zu bewältigen? Horkheimer und Adorno lehnen die kantischhegelische Sicht ab, allen Opfern der Vorgeschichte einen höheren Sinn geben zu wollen; sie vermitteln in der „Dialektik der Aufklärung“ eine andere Perspektive. Wenn sie sich der Dialektik der Vernunft zuwenden, dann offensichtlich mit dem Ziel, dazu beizutragen, die Vernunft aus diesem mythischen Zusammenhang selbst zu befreien, sie vor sich selbst und dem Verhängnis ihrer widersprüchlichen Dynamik zu retten, in dem sie menschheitsgeschichtlich bislang befangen war. Die Emanzipation der Menschheit kann nur gelingen, wenn die Vernunft und all das, was sie begrifflich beinhaltet, einmal nicht mehr zwanghaft in den Mythos umschlägt, wenn es also der Vernunft aus eigener Kraft möglich wird, aus dem Bann der Natur herauszutreten, in den die Aufklärung durch die herrschaftliche Praxis der Naturbeherrschung immer noch verstrickt ist. Es geht also nicht um die bessere Verwaltung dieser Umschläge von Aufklärung in Mythos und von Mythos in Aufklärung, nicht darum, resiliente Strukturen zu schaffen, die den zivilisatorischen Rückfällen wenigstens graduell widerstehen, um bessere Ausgangsbedingungen für einen zukünftigen Fortschritt zu schaffen. Sicher, darum geht es auch, um Sand ins Getriebe zu streuen, um Ungleichzeitigkeiten zu schaffen, die zu „Residuen der Freiheit“ werden können (Adorno [1969b]/1987, S. 13). Aber das Ziel ist in weltgeschichtlicher Absicht anspruchsvoller, als nur die nächste Welle mythisch-grausamer Ereignisse zu überstehen. Angesichts der Tatsache, dass die Aufklärung in ihrer liberalen Gestalt wie in ihrer sozialistischen Fortsetzung in autoritäre Formen umgeschlagen ist und dem Mythos neue Impulse gegeben hat, wenden sich Horkheimer und Adorno der Herausforderung zu, Aufklärung und Vernunft in der Weise radikal weiter zu denken, dass die Menschheit einmal aus dieser Dialektik der Vernunft selbst heraustreten und ihre naturgeschichtliche Periode, die Vorgeschichte, hinter sich lassen kann. Das ist die Konzeption der negativen Dialektik, also Konzeption einer letzten Dialektik, die die Dialektik und die gesellschaftlichen Widersprüche selbst noch unter der Perspektive ihrer historischen Überwindung begreift. Doch ist es ein Merkmal der Kritischen

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Theorie, dass sie solche Veränderungen zwar auch, aber nicht allein philosophieintern und vom Denken erwartet. Sie will nicht den Begriff der Vernunft philosophisch reformulieren oder neu begründen, sich nicht auf normative Grundlagen besinnen und diese noch tiefer legen. Der Preis für die Allgemeinheit, die auf diese Weise begründet würde, ist letztlich eine weitere Formalisierung der Vernunft, um in der von Gegensätzen durchzogenen Gesellschaft alle Individuen inkludieren zu können. Vernunft würde noch unverbindlicher. Demgegenüber muss der Stand der Vernunft und der Begriffe – wie oben ausgeführt – im Kontext der gesellschaftlichen Arbeitsteilung reflektiert werden. Horkheimer und Adorno versuchen dementsprechend, gesellschaftstheoretisch die Möglichkeiten theoretischer Praxis in den historischen Konstellationen zu bestimmen. Den Zwang zur Anpassung an die Natur halten sie für historisch obsolet. Nach ihrem Verständnis haben sich die Produktivkräfte in einem derartigen Maße entfaltet, dass alle Menschen ohne materielle Not leben und grundlegende, die Gesellschaft konstituierende Widersprüche längst überwunden sein könnten. War es immer schon Mythos, wenn partikulare Kräfte in Anspruch nahmen, nur sie stünden für das Allgemeinwohl, das Überleben des Gemeinwesens ein, und sei es nicht möglich, solidarisch miteinander zu leben, so gibt es für Herrschaft mit dem entwickelten Kapitalismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts keinerlei rationale Grundlage mehr, kein partikulares Interesse kann noch geltend machen, nur unter seiner Führung könne das Überleben der Gattung sicher gestellt werden. Im Gegenteil verhindert jeder solche Anspruch eines partikular Allgemeinen, dass sich die Menschheit als versöhnte Allgemeinheit konstituiert. Dieser These zufolge bereitet sich aufgrund der materiellen, von Herrschaft selbst voran getriebenen Entwicklung weltgeschichtlich ein neuer Vernunftbegriff vor, der Subjekt und Objekt nicht länger miteinander identifiziert und das Nichtidentische freisetzt. Im Schlussteil des Abschnitts „Begriff der Aufklärung“ entfalten Horkheimer und Adorno diese Überlegung. Wenn die „Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt“, dann denunziere diese Absurdität des Zustandes die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 60). Bis ins Denken hinein, das sich als Herrschaft erweist, weil es das Denken der Herrschenden ist, reiche unversöhnte Natur. Doch das Denken, die Vernunft, der Geist weisen von sich aus auch jeweils über das Partikulare auf das Allgemeine hinaus. Wenn die Herrschenden als partikulare Gruppe in Anspruch nehmen, das Allgemeine der Selbsterhaltung aller zu verkörpern, so tun sie dies doch nicht im umfassenden Sinn der Konstitution der Menschheit, aber sie bereiten jenes Allgemeine, die Möglichkeit der „Gestaltung der Gesellschaft im ganzen“ vor (Horkheimer [1937]/1988, S. 191). Denn das Allgemeine wird geltend gemacht. Dem Knecht kann der Herr nicht nach Belieben Einhalt gebieten. „Die Instrumente der Herrschaft, die alle erfassen sollen, Sprache, Waffen, schließlich Maschinen, müssen sich von allen erfassen lassen. So setzt sich in der Herrschaft das Moment der Rationalität als ein von ihr auch verschiedenes durch.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 60) Der partikulare Ursprung des Denkens und seine universelle Perspektive war seit je untrennbar (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 61). Wenn Denken aus der Herrschaft über Natur und Menschen erwuchs, dann beinhaltet sie in der Konsequenz zu jedem Zeitpunkt auch die Kritik an

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ihr. „Jeder Fortschritt der Zivilisation hat mit der Herrschaft auch jene Perspektive auf deren Beschwichtigung erneuert.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 63). Widerstand und Aufbegehren gegen Herrschaft gab es zu allen Zeiten, doch unter naturwüchsigen Umständen erschloss sich den Individuen die praktische Allgemeinheit ihres Zusammenhangs noch nicht – sie wussten davon nur in religiöser Form, in der das Allgemeine ihres Kollektivleben als transzendente Macht Gottes erscheint. Erst mit der kapitalistischen Produktionsweise erschließt sich den Menschen ihre gemeinsame kooperative Macht. Aufgrund der kapitalistischen Entfaltung der Industrie und Maschinerie habe sich unter den zeitgenössischen Bedingungen die „Perspektive des Allgemeinen, die gesellschaftliche Verwirklichung des Denkens“ weit geöffnet (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 61), das in der Apparatur geronnene und das lebendige Denken können sich versöhnen. Das ist auch deswegen möglich, weil aufgrund dieses Entwicklungsstandes die Herrschenden selbst das Denken verleugnen. Theorie der Gesellschaft als fortgeschrittenste Gestalt des Denkens in der Gegenwart, jede intellektuelle Anstrengung, die sich um den Menschen kümmere, „Theorie überhaupt“, gerate in Verruf (Horkheimer [1937]/1988, S. 206). Denn jeder Anspruch auf Allgemeinheit würde darauf hinweisen, dass Herrschaft und damit die überlieferte Arbeitsteilung obsolet sei. Die Herrschenden lassen deswegen von der Vernunft, von der in ihr enthaltenen Allgemeinheit und ziehen sich selbst auf den Mythos zurück (die Mythen der Nation, Rasse, des Staates, der Technik, der Heilsgewissheit, des Erfolgs – oder aktueller: des Wirtschaftsstandorts, des Wachstums, der Wettbewerbsfähigkeit). Es seien nicht mehr die „objektiven Marktgesetze, die in den Handlungen der Unternehmer walteten und zur Katastrophe trieben“, vielmehr vollstrecke die bewusste Entscheidung der Generaldirektoren als Resultante das alte Wertgesetz (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 61). Die Herrschenden glaubten an keine objektive Notwendigkeit mehr, sie spielten sich als Ingenieure der Weltgeschichte auf. Diese Analyse Horkheimers und Adornos besagt, dass die Herrschenden willentlich, also gewissermaßen aus Freiheit die Blindheit der Naturzwänge fortsetzend, herrschen und selbst nicht mehr von der Allgemeinheit und Notwendigkeit ihres Handelns für das Überleben des Ganzen überzeugt sind. Handlungsunfähig erweisen sie sich angesichts der Weltwirtschaftskrise, der Klimakatastrophe oder den globalen Fluchtbewegungen. Doch obwohl sie keine Lösungen haben, wollen sie ihre partikularistische Lebensweise und ihre Vorteile nicht aufgeben, sondern versuchen, sich mit partikularistischen Maßnahmen zu retten (gated communities, autoritärer Populismus). Das schöpferische und vernünftige Potential der Herrschaft kann deswegen historisch als erschöpft gelten. Herrschaft habe zur Erhaltung der Gesellschaft bislang trotz allen Elends beigetragen und die Fähigkeit, die Natur zu beherrschen, in einem ungeheuren Ausmaß entfaltet. Der Gegensatz von Macht und Ohnmacht wachse zusammen mit der Kapazität, das Elend auf Dauer abzuschaffen, ins Ungemessene. Die Vernunft, das Denken sind deswegen aus dem zwanghaften Zusammenhang mit Selbsterhaltung und Herrschaft frei gesetzt. Das erlaubt es der Vernunft, sich kritisch auf diejenigen Aspekte an ihr selbst zu besinnen, die mit Herrschaft verbunden sind. Der Begriff distanziere nicht bloß, „als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnung eben des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomische Tendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht

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verewigende Distanz ermessen. Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt und der Ruf, der Aufklärung Einhalt zu tun, ertönte [. . .] aus Haß gegen den zuchtlosen Gedanken, der aus dem Banne der Natur heraustritt, indem er als deren eigenes Erzittern vor ihr selbst sich bekennt.“ (Horkheimer und Adorno [1947]/1987, S. 64) Es erscheint paradox, dass Horkheimer und Adorno zu Folge das Heraustreten aus dem Bann der Natur in der Weise gelingen können soll, dass die Vernunft sich in einer Selbstreflexion selbst als Natur begreift, also gleichsam wieder in die Natur eintritt. Aber offensichtlich handelt es sich um eine spezifische Art und Weise der Selbstreflexion. Die Selbstbesinnung der Aufklärung darauf, dass sie selbst Natur ist, legt offen, dass Wissenschaft, Technik, das Ich und sein um Selbsterhaltung bemühtes Selbst keineswegs einfach nur Kultur sind, sondern immer noch unter dem Zwang jener Natur stehen und eben Formen der Beherrschung der Natur darstellen. Aufklärung als Herrschaft über Natur ist unfrei, sie steht der Natur unversöhnt gegenüber. So vergewissert sich Vernunft selbstkritisch darüber, dass ihre Distanz zur Natur und ihr Herrschaftsanspruch, der sich bis in die Herrschaft über Menschen, die Formierung der Verhältnisse und der Individuen sowie ihrer Verhaltens- und Denkweisen, ihre Begriffe und Gefühle fortsetzt, historisch immer schon falsch war, aber heute auf keinen Fall mehr angemessen ist. Auf Theorie und eine emanzipatorische Perspektive haben Horkheimer und Adorno nicht verzichtet. Das Gegenteil ist wahr, wie ihre Lehrpraxis an der Frankfurter Universität und ihr emphatisches Plädoyer für theoretische Praxis auch in den Auseinandersetzungen während der studentischen Protestbewegung zeigen, die sie trotz Kritik immer unterstützt haben (vgl. Demirović 1999). Damit sind Horkheimer und Adorno ihrem Programm gefolgt. Denn sie wollen, wie sie schrieben ([1947]/1987, S. 65), mit „unnachgiebiger Theorie“ eine „umwälzende wahre Praxis“ vorbereiten, die auf die Auflösung von Herrschaft hinwirkt. Die unnachgiebige Theorie denkt über die mythologischen Reste auch noch in der Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie selbst nach. In diesem Sinn werden Marx‘ Überlegungen im dritten Band des „Kapital“ kritisiert, in dem Marx zwischen einem Reich der Notwendigkeit und einem Reich der Freiheit unterscheidet und die Ansicht vertritt, dass das Reich der Notwendigkeit zwar zurückgedrängt und in sich anders gestaltet werden, aber nicht aufgehoben werden kann. Horkheimer und Adorno kritisieren, dass die sozialistische Tradition, auf diese Stelle von Marx gestützt, für alle Zukunft die Notwendigkeit, also die herrschaftliche Aneignung der Natur, zur determinierenden Basis der Gesellschaft erhob und den Geist depravierte. Auch hier noch werde Natur als ganz fremd gesetzt, das Zusammenleben nicht durch Freiheit bestimmt. Es ist evident, dass Horkheimer und Adorno mit ihrer Kritik sowohl die von Eduard Bernstein geprägte sozialdemokratische Tradition als auch die stalinistische Konzeption des dialektischen Materialismus vor Augen haben. Ihrer Ansicht nach zielt ein negativer dialektischer Materialismus darauf, die determinierende Kraft der Basis und der Notwendigkeit selbst zu überwinden, also jenes mythische Verhängnis des Wechsels von Aufklärung und Mythos. Aufklärung dürfe ihrer Verwirklichung nicht entsagen und müsse, ganz und gar antitotalitär das Einzelne zur Geltung bringen. Adorno formuliert das viele Jahre später

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so: „Der verwirklichte Materialismus ist zugleich die Abschaffung des Materialismus als der Abhängigkeit von blinden materiellen Interessen.“ (Adorno [1969a]/ 2003, S. 292)

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Wie die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ die Dialektik der Aufklärung erhellen Gunzelin Schmid Noerr

Zusammenfassung

Die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ – beispielhaft de Sade, Hobbes, Mandeville, Nietzsche – fungieren in der Dialektik der Aufklärung (und in der Kritischen Theorie insgesamt) als dialektische Umschlagspunkte. Sie vertreten die Perspektive der jeweils Herrschenden mit einer Radikalität, die in der offiziösen Philosophie ihrer Zeit eher verschleiert wird, die sich aber bei entsprechend gesellschaftstheoretisch aufgeklärter Lektüre für gegenläufige, herrschaftskritische Interessen nutzbar machen lässt. In diesem Sinn interpretieren Horkheimer und Adorno, einer Anregung Geoffrey Gorers folgend, auch de Sades Rechtfertigung ‚faschistischer‘ Verhaltensweisen. Sie skizzieren eine epochale Tendenz der gesellschaftlichen Verdrängung ethisch-universalistischen Orientierungswissens durch wissenschaftlich-technisches Verfügungswissen. Schlüsselwörter

Dialektik der Aufklärung · Dunkle Schriftsteller des Bürgertums · Gorer · De Sade · Kant · Formale Vernunft

1

Kant vs. de Sade – Gibt es ein grundsätzliches Argument gegen den Mord?

Kant, der Rousseau im Allgemeinen schätzt und wie die Revolutionäre in Frankreich von den Ideen der Freiheit und Gleichheit überzeugt ist, bestimmt in der Metaphysik der Sitten das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des G. Schmid Noerr (*) Fachbereich Sozialwesen, ehem. Hochschule Niederrhein Mönchengladbach, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_5

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einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (Kant 1996d, S. 337). Das entspricht dem liberalen Selbstverständnis der Moderne, demzufolge die Freiheit des Individuums nicht mehr, wie in der traditionalen Gesellschaft, durch die Autoritäten von Staat und Kirche, sondern einzig durch die Freiheit der anderen Individuen zu begrenzen sei. Während aber Rousseau den Schritt des Menschen vom Naturzustand in den der Gesellschaft als Deformation des wahren Menschen ansieht, kann nach Kant der Mensch als Vernunftwesen den gesellschaftlichen Antagonismus der gegeneinander gerichteten Interessen durch eine moralische Kultur der gegenseitigen Achtung überwinden. Kant geht davon aus, dass in der bestehenden bürgerlichen Ordnung ein solches allgemeines Gesetz der Freiheit als eines gerechten Ausgleichs der Einzelinteressen praktisch verwirklicht werden könne. In derselben geschichtlichen Epoche, im Ausgang der europäischen Aufklärung, gibt ein anderer Anhänger Rousseaus, der aber schon von den Zeitgenossen und bis heute als Skandalautor angesehen wird und deshalb Jahrzehnte seines Lebens in Gefängnis und Irrenanstalt verbringt, der Infragestellung aller autoritären Bevormundung und der Proklamation von Freiheit und Gleichheit eine ganz andere Bedeutung: Der Marquis de Sade entwirft eine Utopie des von jeder inneren und insbesondere äußeren, strafrechtlichen Triebhemmung freien Individuums. Demzufolge lässt sich die Willkür des einen nur mit der Unterdrückung der Willkür des anderen verbinden, und gerade das macht für de Sade erst ein republikanisches Gemeinwesen wahrhaft freier Menschen aus. Und während Kant einer Version des Kategorischen Imperativs die Gestalt des Instrumentalisierungsverbots gibt – „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1996c, S. 61) –, proklamiert de Sade im Gegensatz dazu die schrankenlose Verfügung über andere: „Keine Leidenschaft [bedarf] mehr der völligen Freiheit als diese; keine ist despotischer; von ihr besessen liebt es der Mensch zu befehlen, Gehorsam zu finden und sich mit Sklaven zu umgeben, die gezwungen sind, ihm Genüge zu tun.“ (de Sade 1969, S. 176)

Dies bezieht sich insbesondere auf das Recht zur sexuellen Verfügung, wobei de Sade in seiner Gesellschaftsutopie als einziges Kriterium das der Lust des Verfügenden zulässt: „Es geht dabei keineswegs um das, was das Objekt spüren könnte, das von der Natur und dem Gesetz zur momentanen Stillung der Begierden des anderen verurteilt ist; es geht nur um das, was dem zuträglich ist, der begehrt.“ (de Sade 1969, S. 180).

Da aber strikt gilt: „Alle Menschen sind frei geboren, alle sind gleich an Rechten“ (de Sade 1969, S. 178), bedeutet das immerhin, dass jeder und jede wechselseitig jede und jeden anderen zum Sklaven ihrer und seiner Lust machen kann, solange sie oder er nur begehrt. Und die Rechtfertigung dieser Sklaverei schließt ausdrücklich Verleumdung, Diebstahl, Prostitution, Ehebruch, Inzest, Vergewaltigung, ja sogar Mord ein, auch wenn hier das Prinzip der ausgleichenden Wechselseitigkeit versagt

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und de Sade bei der Rechtfertigung des Mordes ersatzweise den angeblich kollektiven Nutzen der Natur oder der Republik heranzieht. Hier wie anderswo versteigt er sich zu den gewagtesten Trugschlüssen: „Wagen wir es, unsere Seele einen Augenblick lang mit der heiligen Fackel der Vernunft zu erhellen: ist es eine andere Stimme als die der Natur, die uns den persönlichen Hass, die Racheakte, die Kriege eingibt, mit einem Wort, alle Beweggründe für fortwährende Morde? Wenn sie uns dazu rät, so bedarf sie ihrer. Wie können wir uns also ihr gegenüber schuldig fühlen, wenn wir nur ihren Absichten folgen? Mehr braucht es nicht, um jeden aufgeklärten Leser davon zu überzeugen, dass Mord die Natur niemals beleidigen könnte.“ (de Sade 1969, S. 195)

Während Kant Freiheit aus Vernunftprinzipien konstruiert, proklamiert de Sade eine Freiheit der zerstörerischen Triebe. Offenbar zeigen die moralischen Wegweiser Kants und de Sades in diametral entgegengesetzte Richtungen. Ist es dennoch möglich und sinnvoll, de Sades Utopie als dialektische „Aufhebung“ und „Wahrheit“ von Kants Begriff des autonomen Subjekts zu interpretieren? Eben dies nämlich ist eine der zentralen Thesen der Dialektik der Aufklärung. Horkheimer und Adorno behaupten im zweiten Exkurs ihres Buches, dass der moderne Wissenschaftsbegriff, wie Kant ihn in seiner Vernunftkritik begründet hat, den moralischen Gefühlen der Individuen die ethische Legitimation entzogen habe: „Die Morallehren der Aufklärung zeugen von dem hoffnungslosen Streben, an Stelle der geschwächten Religion einen intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhalten, wenn das [materielle] Interesse versagt.“ (DdA Horkheimer & Adorno 1987, S. 108)

Weiterhin behaupten die Autoren, dass die mörderischen Konsequenzen dieses Aufklärungsprozesses zuerst von de Sade imaginiert, dann im Konkurrenzkapitalismus ansatzweise praktiziert und schließlich in der offenen Gewalt des Faschismus in extremer Form verwirklicht worden seien. Kant habe die Konsequenzen seines Vernunftbegriffs verleugnet, indem er – vergeblich – Moral anstelle der traditionellen Autoritäten durch die dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozess abgelauschte formale Vernunft selbst zu restituieren versucht habe. Horkheimer und Adorno stellen de Sade in eine Reihe mit anderen Philosophen, die sie als die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ (DdA, S. 141) bezeichnen. Ebenfalls dieser Gruppe zugeordnet werden dort beispielhaft Machiavelli, Hobbes, Mandeville und Nietzsche. An anderen Orten (so z. B. Horkheimer 1987b, S. 221) werden, zumindest bezüglich eines Teiles ihrer Lehren, in diesem Sinn auch Spinoza, Bayle, Holbach, Helvetius und Condorcet sowie, last but not least, Schopenhauer genannt, dessen Metaphysik des irrationalen Weltwillens für Horkheimer dennoch zum Anker einer Hoffnung auf Solidarität der sterblichen Wesen wird (vgl. Horkheimer 1985). Die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ verkörpern in eigentümlichen Mischformen Tendenzen der Aufklärung und der Gegenaufklärung. Sie wagen den unverhohlenen Blick in die gesellschaftlichen und individuellen Abgründe – das macht sie für die Erkenntnis bedeutsam. Dabei geht es nicht um eine

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Kritik der Gegenaufklärung im Namen der Aufklärung, sondern um den Nachweis, inwiefern Aufklärung selbst zur Gegenaufklärung wird: „Die dunklen Schriftsteller des Bürgertums haben nicht wie seine Apologeten die Konsequenzen der Aufklärung durch harmonistische Doktrinen abzubiegen getrachtet. Sie haben nicht vorgegeben, dass die formalistische Vernunft in einem engeren Zusammenhang mit der Moral als mit der Unmoral stünde. [. . .] Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrien zu haben, hat den Hass entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen.“ (DdA, S. 141 f.)

Diese These wirkt bis heute verstörend, widerspricht sie doch der Grundvoraussetzung der philosophischen Ethik wenigstens in ihrem Mainstream, dass, bei allen Unterschieden in den Strategien der Moralbegründung, eine solche doch prinzipiell möglich sei. Sie ist aus ihrem historischen Kontext heraus zu verstehen. Die Dialektik der Aufklärung war eine philosophische Antwort auf den durch den Nationalsozialismus ausgelösten epochalen Rückfall in die Barbarei des Weltkriegs und der staatlich organisierten Massenvernichtung. Die Fortschrittserwartungen, die sich seit langem an den Aufbruch der Moderne geheftet hatten, schienen zerstoben. Dennoch hatten die Autoren nicht im Sinn, sich selbst einem hoffnungslosen Kulturpessimismus hinzugeben. Aber sie sahen den einzigen Weg, an die Aufklärung anzuknüpfen, in der rückhaltlosen Verfolgung ihrer Dialektik. Um sich die kulturelle Situierung der These von der neuen Bodenlosigkeit der Moral vor Augen zu führen, mag ein Verweis auf einen anderen, zeitgenössischen Denker erhellend sein, der dasselbe Gefühl das des „Absurden“ nennt. Auch Albert Camus situiert sich, wie Horkheimer und Adorno, „im Zeitalter des Vorsatzes und des vollkommenen Verbrechens“, „in einer Epoche, die in fünfzig Jahren siebzig Millionen Menschen entwurzelt, versklavt oder tötet“ (Camus 1997, S. 9 f.). So wird auch für ihn die Frage, ob es ein grundsätzliches Argument gegen den Mord gibt, zur zeitdiagnostischen Schlüsselfrage. Das Gefühl des Absurden resultiert aus Erfahrungen der untergründigen Verwandtschaften von emanzipatorischen und autoritären Ideologien und Bewegungen. In einer Welt, in der jegliches Handeln, unabsehbar oder nicht, in das Morden einmünden kann, gehen die Argumente für und gegen den Mord in einem Feld der Indifferenz ineinander über: „Ohne Für und Wider hat der Mörder weder unrecht noch recht. Man kann die Verbrennungsöfen schüren, so wie man sich der Pflege Leprakranker widmet. Bosheit und Tugend sind Zufall oder Laune.“ (Camus 1997, S. 11)

Dabei geht es nicht um den individuellen Mord aus Leidenschaft, sondern um den kollektiven, ideologisch gesteuerten Massenmord des 20. Jahrhunderts. Auf dem Weg der Ideengeschichte des Sinnlosen, Absurden stößt auch Camus auf die wichtige Wegmarke de Sade, dem er die „erste zusammenhängende Offensive“ (Camus 1997, S. 48) gegen das Christentum zuschreibt. Er findet in de Sades Romanen die Vorwegnahme zweier moderner Ideen, der schrankenlosen individuellen Freiheit und der totalen Erniedrigung und Instrumentalisierung der Menschen:

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„Zwei Jahrhunderte im Voraus hat Sade die totalitäre Gesellschaft in verkleinertem Maßstab gefeiert im Namen einer von Sinnen geratenen Freiheit [. . .]. Mit ihm beginnt tatsächlich die zeitgenössische Geschichte und Tragödie. [. . .] Unsere Zeit hat sich beschränkt, seinen Traum einer universalen Republik und seine Technik der Erniedrigung seltsam zu verbinden. [. . .] Das Verbrechen, das nach seinem Wunsch die außergewöhnliche und köstliche Frucht des entfesselten Lasters sein sollte, ist heute nicht mehr als die stumpfe Gewohnheit einer nun polizeimäßigen Tugend.“ (Camus 1997, S. 60)

Die Erfahrung des Absurden ist nach Camus kein ontologischer, sondern ein zeitdiagnostischer Befund, das Gefühl des Absurden kein Endpunkt, sondern ein Ausgangspunkt der Analyse. Camus sucht nach einem Ausweg aus dem nihilistischen Zerstörungsprozess der neuzeitlichen Vernunft und findet ihn – auch hier wieder eine gewisse Parallele zur Kritischen Theorie (vgl. DdA, S. 64, 256 u. a. o.) – in der Bejahung des „Leben[s] als einzig notwendige[m] Gut“, einem Gut, das „allen gehört“ (DdA, S. 13) und deshalb dem überlegten Mord entgegensteht. Camus nennt diese Wendung, „das Verlangen, dass der Skandal aufhöre“, die „Revolte“. Sie „keimt auf beim Anblick der Unvernunft, vor einem ungerechten und unverständlichen Leben“ (Camus 1997, S. 17). Das „Absurde“ ist der existenzialistische Name für die negative Dialektik der Aufklärung, die „Revolte“ der Name für die Rettung der Aufklärung.

2

Die Konzeption der ‚Dialektik der Aufklärung‘ und die Anregung Gorers

Die Arbeit an der Dialektik der Aufklärung, die Horkheimer und Adorno zwischen 1939 und 1944 verfassten, wurde hauptsächlich von drei Motiven getragen: • Erstens ging es um eine Weiterentwicklung der philosophischen Grundlagen des Historischen Materialismus. Diese Überlegungen kreisten lange Zeit um die Thematik einer „dialektischen Logik“, das heißt einer materiellen Kategorienlehre zentraler philosophischer Begriffe wie Freiheit, Kultur, Fortschritt oder Vernunft. • Zweitens sahen sich die Autoren bezüglich des vom Nationalsozialismus verursachten globalen Rückfalls in die Barbarei zu einem umfassenden, geschichtsphilosophischen Erklärungsversuch der Moderne veranlasst, der zugleich bis in die anthropologischen Grundlagen hineinreichen sollte. • Drittens hatten sie (zusammen mit Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung) ein umfangreiches empirisches Forschungsprojekt über Antisemitismus entworfen, das mit Förderung des American Jewish Committee durchgeführt werden konnte. Nun sollte der Antisemitismus auch ein zentrales Thema des Buches bilden, insofern „die Juden“, wie es dann im ausgearbeiteten Text hieß, „heute die Gruppe [sind], die [. . .] den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert“ (DdA, S. 197).

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Die früheste schriftliche Formulierung des späteren, in der Druckausgabe von 1947 verwendeten Buchtitels findet sich in einem Brief Adornos vom 10. November 1941, in dem dieser an Horkheimer von Einfällen bei der Lektüre des 1934 erschienenen Buches von Geoffrey Gorer, The Revolutionary Theories of the Marquis de Sade,1 berichtet: „Sie betreffen wesentlich die Dialektik der Aufklärung oder die Dialektik von Kultur und Barbarei. [. . .] Sollte übrigens nicht der Komplex Sade und Antisemitismus für uns einen ersten Kristallisationspunkt abgeben?“ (Horkheimer 1996, S. 211)

In dieser Bemerkung Adornos verbinden sich die drei genannten Motive. Die Aufklärung, in der die Grundsätze der Moderne philosophisch formuliert worden waren, in ihrer Dialektik zu analysieren, hieß, Hegels Aufklärungskritik wieder aufzunehmen und zeitgemäß, nämlich materialistisch, zu reformulieren. Hegel hatte in der Phänomenologie des Geistes der Religionskritik der französischen Aufklärer – namentlich nennt er nur Diderot – vorgehalten, sie sei „ebensowenig [wie der Glaube] über sich selbst aufgeklärt“ (Hegel 1970, S. 418). Ein entsprechendes, aus der Aufklärung mit Notwendigkeit resultierendes Programm einer Aufklärung zweiter Stufe zielte unter historisch-materialistischen Vorzeichen auf die geschichtlichgesellschaftliche Situierung der grundlegenden Begriffe der Aufklärung wie Vernunft, Freiheit und Autonomie. Dabei fungierte der „Komplex Sade“ als Beispiel für den Funktionswandel der ethischen Vernunft. Im Juliette-Exkurs der Dialektik der Aufklärung erscheint de Sade gewissermaßen als eine radikale Konsequenz der Kantischen Erkenntniskritik. Gorers Buch dürfte auch deshalb als Anregung fungiert haben, weil darin mehrfach – schon 1934 – Verbindungslinien zwischen den Sadeschen Romanfiguren und nationalsozialistischen Führen und Funktionären (aber auch zu „sadistischen“ Tendenzen des kulturindustriellen Kinos in den USA) gezogen werden.2 Gorer schreibt:

1

Bereits 1934 hatte Erich Fromm in der Zeitschrift für Sozialforschung eine wohlwollende Besprechung dieses Buches veröffentlicht. 2 Wobei Gorer auf das seiner Ansicht nach verbreitete Missverständnis hinweist, „that the ghastly projects he [de Sade] puts into the mouths of his reactionary ‚fascist‘ characters were taken to represent his own desires“ (Gorer 1934, S. 99). Gorer berücksichtigt allerdings zu wenig die subjektive Ambivalenz der Sadeschen Szenarien, die nicht nur überspitzte Züge der Gesellschaft des Ancien Régime enthalten, sondern auch de Sades Wunschträume und Ersatzbefriedigungen. In der de-Sade-Forschung insgesamt bleibt die Frage umstritten, wie weit der Autor für schrankenlose Triebbefriedigung eintrat oder deren Darstellung von ins Absurde getriebenen Konsequenzen als Demaskierung der jeweils Mächtigen verstanden wissen wollte. – In der 1953 veröffentlichten zweiten Auflage von Gorers Schrift, die auch der 1959 erschienenen deutschen Übersetzung zugrunde liegt, sind die Hinweise auf damalige nationalsozialistische Gräuel und andere zeitgeschichtliche Verbindungen weitgehend getilgt, weil der Autor in den 1950er-Jahren davon ausging, dass diese Hinweise „den meisten Lesern heute ohne ausführliche historische Fußnoten wohl unverständlich bleiben müssten“ (Vorwort zur zweiten Auflage, in: Gorer 1959, S. 9).

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„I must apologize for the constant references to Nazi Germany, but its history in all its details is so similar to the conditions de Sade describes that it almost seems as though one were reading the plot of an unknown novel of his, and the apt comparisons spring spontaneously.“ (Gorer 1934, S. 233 f.)

So deutet er die zynische Rede des Ministers Saint-Fond in de Sades Juliette über die Möglichkeiten, die Massen zu manipulieren, zu unterdrücken und auszubeuten als Vorwegnahme von Prinzipien der Hitlerdiktatur (Gorer 1934, S. 134). Insgesamt ist der Roman Juliette „by far the most realistic of de Sades books. Research has shown that one after another of the institutions and persons that de Sade denounced were not figures of a diseased imagination – but historical truth.“ (Gorer 1934, S. 96)

Gorer zufolge hat die von de Sade ausführlich beschriebene, sexuell getönte Gewalt vielfach ihre realen Entsprechungen überall dann, „whenever men get unrestrained power over their fellows – whether in revolution or counterrevolution, in prisons in America, Guiana, Morocco, Poland, Hungary, Germany, or through their position among races they are allowed to believe inferior – in the colonies, in Putumayo, in the Belgian Congo, in Polish Ukraine or among non-Aryans in Germany, or through position and wealth in Cuba or the native Indian States, they will practice on their victims the most revolting tortures, and tortures which receive a greater or lesser, and usually greater sexual tinge.“ (Gorer 1934, S. 243)

Worüber und wie würde de Sade, fragt Gorer, heute schreiben? „It would no longer be necessary for him to rake classical literature for examples of gratuitous cruelty and oppression; the daily press would furnish him with sufficient examples.“ (Gorer 1934, S. 249)

In diesem Zusammenhang zitiert er aus einem damaligen Presseartikel, in dem von grausamen Folterungen und Morden, begangen von verschiedenen SA-Führern, berichtet wird. – So bezieht schon Gorer auf seine Weise den Desillusionismus der Aufklärung auf die Barbarei des Nationalsozialismus. Der Name des Autors bleibt allerdings in der Dialektik der Aufklärung unerwähnt.

3

Zu den Begriffen „Bürgertum“ und „Aufklärung“

Die Zuschreibung „bürgerlich“ diente in der marxistischen Literatur bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus der klassenmäßigen Herkunfts- oder Standortbestimmung eines Autors. Die Dialektik der Aufklärung steht in philosophiegeschichtlicher Hinsicht gleichsam noch mit einem Bein in dieser Tradition, während sie sich mit dem anderen Bein in das Gefilde einer Geschichte der Vernunft begibt. Als bürgerlich in diesem zweiten Sinn sind Fähigkeiten von Individuen und Erwartungen an diese zu bezeichnen, die von einer organisierten städtischen Marktwirtschaft

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abhängen. Horkheimer und Adorno postulieren dies als gemeinsamen Bezugspunkt von bürgerlicher Subjektivität, die sich allerdings in unterschiedlichen Konstellationen entfaltet. So hängt die für das deutsche Bürgertum um 1800 typische Eigenheit der Innerlichkeit mit seiner realen politischen Machtlosigkeit zusammen und findet sich so nicht in der englischen Literatur derselben Epoche (vgl. Adorno 1996, S. 228 ff.). Sucht man nun nach den geschichtlichen Wurzeln des bürgerlichen Subjekts, dann kann man beim mittelalterlichen Stadtrecht kaum Halt machen. Anders als die anderen genannten Autoren (Machiavelli, Hobbes, Mandeville, Nietzsche) war de Sade kein „bürgerlicher Schriftsteller“ im Sinn der Standes- und Klassenangehörigkeit, stammte er doch aus einer Familie von jahrhundertealtem Adel. Er war auch kein – wie es sie nicht selten gab – adeliger Interessenvertreter des bürgerlichen, „dritten Standes“, gar im Vorgriff auf die dann erst im 19. Jahrhundert übliche Abgrenzung gegenüber dem „vierten Stand“ des Proletariats. Wie aus seinen politischen Schriften hervorgeht, sprach er sich für die radikale Abschaffung des Privateigentums aus und verurteilte im Zuge der Französischen Revolution und mit zunehmender Radikalität König, Kirche, Aristokratie und reiches Bürgertum als Ausbeuter des Volkes, so dass Gorer (1959, S. 209) ihn „einen der ersten konsequenten Sozialisten“ nennt – wobei allerdings dieser „Sozialismus“ vor allem „der Absicherung des Trieblebens des Individuums gegen den Strafvollzug des Staates“ (Lind 1969, S. 22) dienen sollte. Wenn Horkheimer und Adorno de Sade als „bürgerlich“ bezeichnen, so ist dies offenbar in einem geschichtsphilosophischen Sinn zu verstehen, indem sie ihm einen paradigmatischen Ausdruck von individueller Freiheit und rechtlicher Gleichheit als politischen Grundideen der Moderne zuschreiben. In demselben Sinn bezeichnet Adorno später Kants Moralphilosophie als bürgerlich, weil sie das erstarkte Selbstbewusstsein des Subjekts ausdrückt, „sich aus Freiheit selbst das Gesetz zu geben“, „ein Prinzip, das einem jeglichen Traditionalismus und einer jeglichen ständischen, feudalen und absolutistischen Ordnung entgegengesetzt ist“ (Adorno 1996, S. 226). Was unter Freiheit und Gleichheit konkret zu verstehen ist, hängt vom geschichtlichen Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ab. Als diese in der europäischen Frühzeit (nämlich in der griechischen Archaik) zum ersten Mal einheitliche, sich der eigenen Selbsterhaltung bewusste Individuen erforderten und ermöglichten, wurde mit dem Homerischen Odysseus das „Urbild [. . .] des bürgerlichen Individuums“ (DdA, S. 67) geschaffen. Horkheimer und Adorno folgen hier Nietzsches Interpretation des Geistes der Antike in der Ambivalenz von souveränem Denken und lebensfeindlichem „Nihilismus“. „In der Tat erstrecken die Linien von Vernunft, Liberalität, Bürgerlichkeit sich unvergleichlich viel weiter, als die historische Vorstellung annimmt, die den Begriff des Bürgers erst vom Ende der mittelalterlichen Feudalität her datiert. Indem die neuromantische Reaktion den Bürger dort noch identifiziert, wo der ältere bürgerliche [!] Humanismus heilige Frühe wähnt, die ihn selber legitimieren soll, sind Weltgeschichte und Aufklärung in eins gesetzt.“ (DdA, S. 68 f.)

Das Zitat zeigt, dass das Attribut „bürgerlich“ durchaus uneinheitlich verwendet wird, nämlich auch im Sinn der neuzeitlichen Geistesgeschichte. Postuliert man

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demgegenüber ein „Urbild des bürgerlichen Individuums“, dann ist dieses freilich – so lässt sich weiterhin festhalten – nicht identisch mit seinen jeweiligen historisch bestimmten Erscheinungsformen, und diese sind nicht auf jenes zu reduzieren. Horkheimer und Adorno vernachlässigen diese Differenz offenbar absichtlich, indem sie mit gezielten Anachronismen spielen, etwa wenn es von dem an den Mast gefesselten, den Sirenen lauschenden Odysseus heißt, er wohne „einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.“ (DdA, S. 57) Man kann das als historisch unzulässige Vermischung zurückweisen, aber auch als Skizzierung einer Genealogie des künstlerischen wie auch alltagspraktischen Symbolismus und der in ihm enthaltenen Triebhemmung und Sublimierung begreifen. In diesem letzteren Sinn konzipieren die Autoren eine Entstehung der Subjektivität aus der Erfahrung des Leidens: „Der Held [. . .] ist im Leiden mündig geworden. In der Vielfalt der Todesgefahren, in denen er sich durchhalten musste, hat sich ihm die Einheit des inneren Lebens, die Identität der Person gehärtet. [. . .] Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.“ (DdA, S. 55 f.)

Wie bei den modernen Individuen die gesellschaftliche Vorgeschichte ihrer Zurichtung in ihr Unbewusstes abgesunken ist, so verleugnen auch die Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft zumeist diesen disharmonischen Abgrund des sozialen Zusammenspiels. Dies tun jedenfalls die „hellen“ Schriftsteller des Bürgertums, die die möglicherweise erschreckenden Resultate ihrer eigenen Forschungen am Ende gleichsam ungeschehen machen, indem sie ethische Postulate ins Spiel bringen, die nach ihren eigenen Voraussetzungen eigentlich substanzlos sind. Demgegenüber bringen die „dunklen“ Autoren jenes „Furchtbare“ zu Tage, das „die Menschheit sich [hat] antun müssen“, und ziehen Konsequenzen aus den aufklärerischen Grundannahmen, mit denen sie das harmonistische Selbstbild der bürgerliche Gesellschaft erschüttern. „Die Verschwörung der Machthaber gegen die Völker mittels ihrer unentwegten Organisation“, heißt es in der Dialektik der Aufklärung im Anschluss an die Erwähnung von de Sades „Sinn fürs Planen“, „liegt dem aufgeklärten Geist seit Machiavelli und Hobbes so nahe wie die bürgerliche Republik.“ (DdA, S. 110) Vernunft als Planung ist grundsätzlich ambivalent, kann ebenso in politische Freiheit wie Unfreiheit umgesetzt werden. Der „aufgeklärte Geist“ war, mit Machiavelli, jedenfalls schon am Ende des 15. Jahrhunderts, und, mit Nietzsche, noch am Ende des 19. Jahrhunderts wirksam. Darüber hinaus verwenden Horkheimer und Adorno den Begriff der Aufklärung nicht im engeren Sinn historisch, als Epochenbezeichnung (wie sie üblicherweise für das 18. Jahrhundert angesetzt wird), sondern strukturell, als Entfaltung rationaler Planung, Dafür spricht auch, über den hier fokussierten Kontext hinaus, die nahezu transhistorische Gleichsetzung von Aufklärung mit dem begrifflich sich selbst kontrollierenden Denken (im Gegensatz zum magischen und

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mythischen Denken), wie sie insbesondere im Eingangskapitel Begriff der Aufklärung entfaltet wird. Indem die Autoren Aufklärung dort als „Entzauberung“ bestimmen, schließen sie an Max Webers historische Wissenschaftstheorie an. Weber hatte in Wissenschaft als Beruf (1919) den wissenschaftlichen Fortschritt als „ein[en] Bruchteil, und zwar de[n] wichtigste[n] Bruchteil, jenes Intellektualisierungsprozesses“ bezeichnet, „dem wir seit Jahrtausenden unterliegen“: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet [. . .] nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnung beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“ (Weber 1982, S. 593 f.)

Für Weber bestand die wichtigste heutige Konsequenz dieses schon Jahrtausende währenden Entzauberungsprozesses im Rückzug der Wissenschaften von den Fragen des Lebenssinns. Dadurch wird, so Weber, die Antwort auf die Frage, wie wir leben wollen, allein den privaten Vorlieben und Intuitionen überlassen: „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen [. . .] Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander.“ (Weber 1982, S. 612)

Horkheimer und Adorno identifizieren Aufklärung mit Entzauberung im Sinne Webers als strukturellen Begriff der soziokulturellen Rationalisierung, bedingt durch die materielle, gesellschaftliche Organisation der Naturbeherrschung. Unter Aufklärung ist eigentlich, wie Horkheimer in einer späteren Vorlesung formuliert, „das gesamte philosophische Denken zu verstehen, das, im Gegensatz zur Mythologie, seit den Griechen den Kampf darum führt, Klarheit in die eigenen Vorstellungen zu bekommen in dem Sinn, dass die Begriffe und Urteile für jeden einsichtig sein sollen.“ (Horkheimer 1989, S. 571) Allerdings bleibt die Dialektik der Aufklärung nicht bei Webers heroisch-resignativer Feststellung stehen, dass sich die normative Vernunft verflüchtige, sondern stellt diese als Widerstreit der Vernunft mit sich selbst dar. Die „Krankheit der Vernunft“ (Horkheimer 1991, S. 176) ist demnach nur durch die reflexive Anstrengung einer dialektischen Vernunft heilbar, deren Wirksamkeit allerdings von entgegenkommenden gesellschaftlichen Entwicklungen abhängt. Die Schwäche dieses Aufklärungsbegriffs liegt, wie schon beim Begriff „bürgerlich“, in der Tendenz zur historischen Entdifferenzierung. Zwar fanden Intellektualisierung, Rationalisierung, Entzauberung der Welt über die verschiedensten Epochen der Zivilisationsgeschichte hinweg statt, aber doch mit tief greifenden Unterschieden in den Mitteln, Zielen und Folgen, was Horkheimer und Adorno gelegentlich auch selbst einräumen, wenn sie der neueren Aufklärung eine spezifische, sonst nicht erreichte Radikalität zuschreiben (vgl. DdA, S. 115). Beim Vergleich der Epochen lassen sich durchaus Ähnlichkeiten feststellen (zum Beispiel

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zwischen der Renaissance des 15. und der Aufklärung des 18. Jahrhunderts), ohne dass doch Unterschiedliches gleichzusetzen wäre. Zwar wurde die Rede von der „griechischen Aufklärung“ schon seit dem 19. Jahrhundert geläufig, aber damit wurde die Philosophie des 5. Jahrhunderts v. Chr. bezeichnet und nicht, wie Horkheimer und Adorno diese Analogie im umwertenden Anschluss an die „spätromantisch-deutsche Interpretation der Antike“ (DdA, S. 67) ausweiten, die Homerischen Epen des 8. Jahrhundert v. Chr. Während die modernen „Kulturfaschisten“ (DdA, S. 68) Aufklärung noch in ihren mythischen und epischen Frühformen bekämpften, machen Horkheimer und Adorno sich deren Einsicht in die rationalen Seiten des Mythos gegen die Intention ihrer Protagonisten zunutze, um ihre These von der ursprünglichen Verschlingung von Mythos und Aufklärung zu stützen. Die Odyssee als Urgeschichte des bürgerlichen Individuums – dieser Topos war im deutschen Bildungsbürgertum seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geläufig. Patriarchale Selbstfindung, Selbstbeherrschung und Individuierung – zentrale Themen des neuzeitlichen Bürgertums – wurden im Spiegel der griechischen Archaik vergegenwärtigt. Dabei kam es, wie Heinz Steinert (2007, S. 64 ff.) zeigt, auch zu manchen Umdeutungen. So handelt es sich bei der Sexualisierung der Sirenen gemessen am Homerischen Text offenbar um eine viktorianische Projektion. Horkheimer und Adorno werten die in Klassik wie Romantik populäre Heldengeschichte um, indem sie deren dunkle Kehrseite beleuchten: Das zu sich selbst kommende Individuum, das die archaischen Mächte durch Opfer, List und Betrug überwindet, kann dies nur um den Preis der innerlichen Verhärtung und Entsagung. Jedoch hätten, Steinert zufolge, die Autoren der Dialektik der Aufklärung hier noch deutlich weiter gehen können: „Die Dialektik der Aufklärung ist am Beispiel des Individuums, wenn man die Odyssee als Darstellung seiner ‚Urgeschichte‘ lesen will, noch viel trostloser, als die Kritiker der Dialektik der Aufklärung ihr vorwerfen. Diese Errungenschaft verleugnet den Anteil der Knechte und der Frauen, denen sie beiden ohnehin vorenthalten wird, und ihres Opfers an der Möglichkeit, es gegen die alten Mächte zu erkämpfen. Diese Errungenschaft besteht in einer selbstmitleidigen Erzählung, die nur innerhalb der Oberschicht abgenommen wird. Und sie dient dazu, als bildungsbürgerliche Individualität von den wirtschaftsbürgerlichen Geschenken alimentiert zu werden.“ (Steinert 2007, S. 98 f.)

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Dunkle Schriftsteller des Bürgertums – Machiavelli, Hobbes, Mandeville, Nietzsche

Wie die Auseinandersetzung mit den Neuromantikern, die den Mythos idealisierten, zeigt, greifen die Autoren der Dialektik der Aufklärung die Interpretationen der Aufklärungsgegner auf und unterziehen sie einer Umwertung: Wenn Aufklärung schon in ihren archaischen Frühformen aufgespürt und denunziert werden kann, dann kann – so der Gedanke – auf dieser Basis umgekehrt auch deren frühestes zivilisatorisches Potenzial aufgedeckt werden. In dieser Weise werden auch die sogenannten „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ herangezogen. Machiavelli,

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Hobbes, Mandeville und Nietzsche haben gemeinsam, dass sie Einsichten aus der Perspektive der Herrschenden formuliert haben, die sich für gegenläufige, herrschaftskritische Interessen nutzbar machen lassen. Ihr Blick in gesellschaftliche, psychische und kulturelle Abgründe erfolgte ohne ein zureichendes Bewusstsein von den ökonomischen Bewegungsgesetzen und ohne hinreichende Perspektive auf emanzipatorische Alternativen. Erst die entsprechende Umwertung ihrer Analysen gibt diesen die nötige Stoßkraft. Mit Machiavelli und Hobbes hatte sich Horkheimer schon in seiner frühen Arbeit über die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930) auseinandergesetzt. Er beschreibt dort Machiavelli als Begründer einer auf Empirie und Logik basierenden Wissenschaft von der Politik, deren Hauptzweck darin bestand, Kenntnisse darüber zu vermitteln, „wie man Herrschaft erwirbt und wie man sie aufrechterhält“ (Horkheimer 1987a, S. 183). Indem er am Material der politischen Gegenwart und Geschichte nach Regelmäßigkeiten forscht, unterstellt er eine Gleichförmigkeit der psychischen und sozialen Natur, wie sie analog auch für die Gegenstände der Naturwissenschaften, die äußere Natur angenommen wird. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollen nach Machiavelli der jeweiligen Herrschaft, unabhängig von ihrer monarchischen oder republikanischen Fassade, zur Verfügung stehen. Dahinter steht aber kein wertneutraler Opportunismus, vielmehr geht es, so Horkheimer, um „die Herbeiführung und Aufrechterhaltung eines starken, zentralisierten Staates als Bedingung bürgerlichen Wohlergehens. [. . .] Diesem höchsten Ziel menschlichen Tuns sollte nach Machiavelli Religion und Moral untergeordnet werden. In den Dienst dieses Zwecks darf man nach ihm Lug und Trug, Heuchelei, Grausamkeit und Mord stellen.“ (Horkheimer 1987a, S. 190)

Bezog sich die damals übliche Kritik an Machiavellis Theorie der Politik seit der Aufklärung auf dessen Amoralität, so zielt Horkheimers Interpretation auf eine Kritik daran, welches Gewicht der (sei es amoralischen, sei es moralischen) Individualität im Geschichtsprozess zugemessen wurde. Demgegenüber ist, auch mittels der „gegenwärtigen Tiefenpsychologie“ (Horkheimer 1987a, S. 202), eine dialektische Geschichtsbetrachtung anzustreben und möglich, in der auch psychologische Erklärungen ihren angemessenen Ort haben können, ohne dass doch die eigentlich gesellschaftlichen Faktoren zu vernachlässigen wären. Auch Hobbes vertritt, ein Jahrhundert nach Machiavelli und wie dieser, die Notwendigkeit einer starken Herrschaftsgewalt unabhängig von ihrer jeweiligen Form. Die in Herrschaftsverhältnissen vorfindlichen Faktoren von Religion und Moral, Politik und Recht, erklärt er, dem neuen mechanistisch-materialistischen Weltbild entsprechend, als Wirkungen des Zusammenspiels jeweils kleinerer und kleinster körperlicher Einheiten. So reduziert er ebenfalls, Horkheimers Kritik zufolge, fälschlicherweise Geschichte auf Wirkungen von Individuen bzw. auf die triebmäßigen Ursachen ihrer Handlungen, auf Lust und Unlust, Überleben-Wollen und Angst vor dem Tod. Der daraus resultierende Krieg aller gegen alle kann nach Hobbes nur durch einen Gesellschaftsvertrag vermieden werden, durch den die

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Einzelnen ihr Recht auf Leben und Besitz an einen absoluten Herrscher delegieren. Die Aufgabe der großen Maschine des Staates, des mächtigsten Ungeheuers (biblisch: „Leviathan“), ist es, die Unversehrtheit der kleineren Maschinen oder Ungeheuer, der nach Wohlergehen strebenden Bürger, zu gewährleisten und insbesondere das Ungeheuer der Rebellion, des Religions- und Bürgerkrieges (biblisch: „Behemoth“) zu unterdrücken. Wegen seiner gegen die theologische Begründung von Herrschaft gerichteten Lehren wurden Hobbes‘ Schriften von Katholiken wie Protestanten, sofern diese genug Einfluss hatten, verboten und verbrannt. Gegen ihn richteten sich „die Vorwürfe der Unmoral und der Widerwille gegen die Entschleierung tatsächlicher Zusammenhänge“ (Horkheimer 1987a, S. 220). Die Gegner erkannten die Gefährlichkeit der Auffassung vom Gesellschaftsvertrag, durch den die Legitimation der staatlichen Herrschaft an die utilitaristische Zwecksetzung des Bürgertums gebunden wurde. Noch der Machtverzicht der Einzelnen zugunsten der absoluten Autorität impliziert, dass die Staatsgewalt letztlich vom Volk ausgeht. Obwohl die Lehre vom Gesellschaftsvertrag „die wirklichen Entstehungsgründe des Staates [verdeckt]“, enthält sie doch „in verhüllter Form die Ahnung, dass die natürlichen Lebensinteressen der Menschen den Staat geschaffen haben. Dass diese aber nicht einheitlich sind, dass sie sich spalten und verwandeln können, dass daher der Staat aus einem objektiv allgemeinen zu einem partikularen Interessenausdruck werden kann, ist eine Einsicht, die der Vertragsmythos versperrt.“ (Horkheimer 1987a, S. 220)

Wie Machiavelli rechtfertigt auch Hobbes List und Betrug dort, wo sie als Mittel dem für richtig erachteten Zweck dienen, nämlich der durch den Gesellschaftsvertrag legitimierten absoluten Herrschaft. Sie sollen der scholastisch-theologischen Herrschaftslehre entrissen und dem aufstrebenden Bürgertum nutzbar gemacht werden. Auch sollen Religion und Kirche mit ihren Möglichkeiten der Bewusstseinslenkung unmittelbar in den Dienst des Staates gestellt werden. Was im 19. Jahrhundert Ideologie genannt wurde, das interessengeleitete Weltbild, ist in der frühbürgerlichen Epoche, bei Hobbes, noch unmittelbar durchschaubar. Unbeschadet von dieser undialektischen Entgegensetzung von Ideologie und Vernunft, die Horkheimer vor allem mit Rekurs auf Hegel kritisiert (vgl. Horkheimer 1987a, S. 229 ff.), geht es ihm also vor allem darum, Hobbes anthropologischen und sozialen Pessimismus als Erkenntnisinstrument bezüglich der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zu nutzen. Deren reale Widersprüche treten offen hervor, während verschleiernde, harmonisierende Ideologien seinerzeit noch schwach sind. Wie Hobbes von einem potenziellen Krieg aller gegen alle ausgeht, den es zu befrieden gilt – wobei ihm die damaligen Kämpfe zwischen Bürgertum und Adel, frühkapitalistische Gewaltverhältnisse und religiöse Kriege vor Augen stehen –, stellt auch Mandeville, wiederum ein Jahrhundert später, schonungslos die Tatsachen der sozialen Kämpfe in Natur und Gesellschaft dar. Seine Lehre richtet sich gegen Shaftesburys Idee der Verwirklichung eines harmonischen Zustandes durch die Entwicklung des Schönen und Guten. „Mandeville aber hat keinen Augenblick

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an die Harmonie geglaubt – weder an diejenige in der Natur noch an die in der Gesellschaft.“ (Horkheimer 1987b, S. 393) Anders als noch Machiavelli und Hobbes unterscheidet Mandeville nun deutlicher zwischen Staat und Gesellschaft. Politik und Recht sind für ihn zweitrangig, stattdessen geht es ihm um die Erkenntnis der gesellschaftlichen, vor allem ökonomischen Mechanismen. Dabei kommt er zu dem provokanten Resultat, dass es gerade die egoistischen, moralisch fragwürdigen, ja schändlichen Handlungen (Lügen, Verschwendung, Ausbeutung, Krieg) sind, die dem Wohlergehen des Ganzen am meisten dienen. Mandeville versteht seine Bienenfabel mit der darin veranschaulichten These von der Bedingtheit des gesellschaftlichen Wohlergehens durch private „Laster“ als Satire. Dabei prangert er mehr die Heuchelei an, mit der der private Egoismus zugunsten der Sorge ums Allgemeinwohl verleugnet wird, als den Egoismus selbst. Die Darstellungen der „dunklen Schriftsteller“ waren im Allgemeinen verpönt, denn in Wirklichkeit hatten und haben die Profiteure der Ungleichheit durchaus mehr von der Verschleierung als von der Offenlegung ihrer Maßnahmen. Die pessimistischen, desillusionierenden, überspitzten, zuweilen zynischen Äußerungen changieren immer wieder zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung, zwischen kritischer und affirmativer Darstellung des (aus der Sicht der Schwachen) schlechten Bestehenden. Diese Ambivalenz gilt auch für Nietzsche. Einerseits bildet er für die Kritische Theorie insgesamt ein starkes Anregungspotenzial. Kaum übertrieben wäre es, zu sagen, dass die gesamte Dialektik der Aufklärung mit ihrer Grundthese der Verschränkung von Rationalität und Mythos ohne Nietzsche nicht möglich gewesen wäre. Sein Vorschlag, den Leib als „Leitfaden“ (Nietzsche 1969, S. 476) der Vernunftkritik zu nehmen, mündet in Horkheimers und Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“ ein, in jene Idee von Aufklärung, die „der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt“ (DdA, S. 64) ist (vgl. auch Schmid Noerr 1990). Nietzsches Philosophie stellt demnach eine Art Endpunkt der Aufklärung dar: Er „hat wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt“, „hat ihr zwiespältiges Verhältnis zur Herrschaft formuliert“ (DdA, S. 67 f.). Andererseits jedoch bleiben seine Einsichten in gewisser Weise bodenlos: „An der Gegenwart“, schrieb Horkheimer an anderer Stelle, „hat er alles verstanden, nur nicht ihren inneren [ökonomischen] Zusammenhang.“ (Horkheimer 1988b, S. 265) So konnte Nietzsche zugleich auch zu einer Schlüsselfigur der Gegenaufklärung des 20. Jahrhunderts werden, bis hin zum Nationalsozialismus, der sich ebenfalls auf ihn berief. Nietzsches Verachtung gegenüber dem Christentum gilt insbesondere dem Mitleiden mit den Schwachen, von denen er annimmt, sie hätten ihre Feigheit, sich zur Wehr zu setzen, in eine Moral der Menschenliebe und Gerechtigkeit umgelogen. Seine Wertschätzung dagegen gilt den rücksichtslosen Einzelnen, die sich über die Masse stellen, deren Arbeitskraft sie aber durchaus nicht entbehren können, um ihre eigenen, angeblich übermenschlichen Anlagen entfalten zu können. Aber Nietzsches Moralkritik kann, so Horkheimer und Adorno, als Erkenntnismittel auch mit einer kritischen Intention für gesellschaftliche Verhältnisse in Anspruch genommen werden, in denen Unterdrückung überflüssig wird. Wenn die angepasste Moral auf Furcht beruht, kann, so der frühe Horkheimer, eine Überwindung der Furcht dazu führen, „diesen Apparat zu zerbrechen“ und „den Sklavenaufstand der Moral in

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proletarische Praxis zu verwandeln“ (Horkheimer 1987c, S. 338). Auch bei Adorno finden sich immer wieder entsprechende Überlegungen zu Nietzsche. Dessen Konstruktion von Moralität und Amoralität bekommt bei Adorno einen zusätzlichen historischen Index. Mit der Zunahme der materiellen Produktion bis hin zur Überflussgesellschaft haben im 20. Jahrhundert Herren- und Sklavenmoral, Raubprinzip und Kompensation des Zu-kurz-Kommens, endgültig ihren Sinn verloren. „Der Amoralist dürfte endlich sich gestatten, so gütig, zart, unegoistisch und aufgeschlossen zu sein wie Nietzsche damals schon.“ (Adorno 1980, S. 107; zum Verhältnis Nietzsche – Kritische Theorie vgl. auch Schweppenhäuser 2001 sowie Schmid Noerr 2001) Horkheimer und Adorno folgen bei der Interpretation der „dunklen Schriftsteller“ einem übergreifenden Argumentationsmuster, das sich zusammenfassend als mehrfache Dechiffrierung verstehen lässt. • Die Darstellungen werden nicht wörtlich genommen, sondern im Sinne des Historischen Materialismus umgedeutet und auf andere Wirklichkeitsausschnitte bezogen. • Als Hauptmangel ihrer Analysen wird ihre fehlende Einsicht in die ökonomischen Bewegungsgesetze der Gesellschaft gesehen. • Die pessimistischen Zuspitzungen und Verallgemeinerungen werden als symptomatische Problemindizierungen interpretiert, mit denen einer trügerischen Harmonisierung der gesellschaftlichen Widersprüche entgegengearbeitet wird. • Der deskriptive Aspekt des jeweiligen dunklen Weltbildes wird gegenüber dem evaluativen Aspekt in den Vordergrund gestellt. • Die herrschaftsaffirmativen Bewertungen werden gegen die Intentionen des jeweiligen Autors herrschaftskritisch umgedeutet.

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Per astra ad aspera – von Kant zu de Sade und Nietzsche

Die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ erhellen, der Dialektik der Aufklärung zufolge, schonungslos die Bruchlinien der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch die Vereinfachungen und Trugschlüsse der „hellen“ Schriftsteller. Indem ihre Texte gleichsam gegen den Strich gebürstet werden, tragen sie entscheidend zur Selbstaufklärung der Aufklärung bei. So verkörpern die ‚Immoralisten‘ de Sade und Nietzsche eine logisch mögliche, wenn auch nicht intendierte Konsequenz des ‚Moralisten‘ Kant und der Vernunftmoral überhaupt. Ihre Einsichten und Ideen widersprechen inhaltlich der von Kant vertretenen Ethik, aber sie lassen sich als Konsequenz (oder Über-Konsequenz) aus den erkenntniskritischen Ideen der Aufklärung verstehen, die sich insbesondere auf die Befreiung von Bevormundung durch Systematik der Erkenntnis (Ordnung im Denken nach Prinzipien) und die Selbstbestimmung des Subjekts mittels des kalkulierenden Denkens zum Zweck der Selbsterhaltung beziehen. De Sade und Nietzsche enthüllen demnach die destruktiven Möglichkeiten des von Fremdbestimmung freien, vollständig aufgeklärten, bürgerlichen Subjekts, das sich rücksichtslos das ihm bekömmlich Scheinende

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aneignet. Zugleich verweisen sie durch ihre Rebellion gegen die bürgerliche Ordnung auf die der Moral und dem Recht inhärente Tendenz, Freiheit zu beschneiden oder abzuschaffen auch da, wo Moral und Recht angeblich Freiheit schützen sollen. Sie offenbaren die Schattenseite der Aufklärung, deren (selbst)zerstörerisches Potential. Im Juliette-Exkurs der Dialektik der Aufklärung beginnt der Gang vom „Hellen“ zum „Dunklen“ – sozusagen per astra ad aspera – mit Kants berühmter Bestimmung des Begriffs der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant 1996a, S. 53) Ist der „Verstand“, nach Kant, die begrifflich urteilende Bestimmung der durch die Sinne gegebenen Inhalte, so die „Vernunft“ eine Art höherer Instanz, die den Verstand leitet, ohne doch das denkende Subjekt zu bevormunden, und zwar als Vermögen, die Begriffe und Urteile nach Ideen oder Prinzipien zu ordnen, aus dem Besonderen das Allgemeine zu abstrahieren und wiederum aus diesem das Besondere abzuleiten. Mittels der Vernunft arbeitet der Verstand nicht beliebig und willkürlich, sondern selbstbestimmt und konsistent. „Nichts wird von der Vernunft beigetragen als die Idee systematischer Einheit, die formalen Elemente festen begrifflichen Zusammenhangs. Jedes inhaltliche Ziel, auf das die Menschen sich berufen mögen, als sei es seine Einsicht der Vernunft, ist nach dem strengen Sinn der Aufklärung Wahn, Lüge, ‚Rationalisierung‘, mögen die einzelnen Philosophen sich auch die größte Mühe geben, von dieser Konsequenz hinweg aufs menschenfreundliche Gefühl zu lenken.“ (DdA, S. 105)

Diese Reduktion der Vernunft auf formale Stimmigkeit, die Verbindung von Allgemeinem und Besonderem, die vorgängige Korrespondenz von Erkenntnis und Tatsachen wird von Horkheimer und Adorno als Ausdruck der gesellschaftlichen Praxis der Naturbeherrschung zum Zweck der Selbsterhaltung gedeutet. Das Ich, die innere Instanz der Planung, ist „das Produkt sowohl wie die Bedingung der materiellen Existenz“, „es erweitert sich und schrumpft mit den Aussichten wirtschaftlicher Selbstständigkeit und produktiven Eigentums“ (DdA, S. 110). Die der Selbsterhaltung im gesellschaftlichen Maßstab vor allem dienliche Erkenntnisform ist die kalkulierende und klassifizierende Wissenschaft, in der das einzelne Objekt, auch der einzelne Mensch, nur als austauschbarer Repräsentant eines Typus erscheint. Diese Form der Vernunft prägt den Inhalt der personalen Mündigkeit: die Fähigkeit zur Teilnahme am Wirtschaftsprozess. Die verschiedenen Subjekte verwenden dieselben intersubjektiv gültigen Erkenntnisformen, stehen aber zugleich in vielfachen Interessengegensätzen; der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen. So spaltet sich der Begriff der Vernunft auf einerseits in „die Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen, in dem sie zum allgemeinen Subjekt sich organisieren“, und andererseits in die „Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung“ (DdA, S. 106). Moralisch-

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universelles und instrumentell-partikulares Denken und Handeln treten auseinander. Das wissenschaftliche Wissen entsteht durch methodisch angeleitete Operationen. Vor diesem Wissensverständnis haben aber – und hier setzt die negative Dialektik des fortschreitenden Denkens ein – die Vernunftideen selbst keinen Bestand: „Blickte die geheime Utopie im Begriff der Vernunft durch die zufälligen Unterschiede der Subjekte auf ihr verdrängtes identisches Interesse hin, so ebnet die Vernunft, wie sie im Zug der Zwecke bloß als systematische Wissenschaft funktioniert, mit den Unterschieden gerade das identische Interesse ein.“ (DdA, S. 107)

So untergräbt, lange vor der späteren positivistischen Wissenschaftstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts, schon Kants Erkenntniskritik dessen eigene Morallehre: „Der Bürger, der aus dem kantischen Motiv der Achtung vor der bloßen Form des Gesetzes allein einen Gewinn sich entgehen ließe, wäre nicht aufgeklärt, sondern abergläubisch – ein Narr.“ (DdA, S. 108) Dabei agiert der Unternehmer des 19. Jahrhunderts, weil er durch die ökonomische Konkurrenz kontrolliert wird, noch nicht völlig moralfrei. Die weitestgehende Entmoralisierung erfolgt dagegen im Nationalsozialismus. „Die totalitäre Ordnung [. . .] setzt kalkulierendes Denken ganz in seine Rechte ein und hält sich an die Wissenschaft als solche. Ihr Kanon ist die eigene blutige Leistungsfähigkeit.“ (DdA, S. 109) Die dann folgende de-Sade-Interpretation knüpft an die formale VernunftFunktion des Planens und Organisierens an, die zur Verwirklichung aller denkbaren Ziele verwendet werden kann, der Kritik der totalitären Gewalt ebenso wie ihrer Affirmation. Bei de Sade sind sie in den Dienst des strengen Reglements seiner Orgien und totalitären Regierungskünste der Versklavung und Ausbeutung gestellt. Tatsächlich beschreibt er die sexuellen Handlungen und Gewalttaten seiner literarischen Figuren weniger als Ausfluss von Triebimpulsen, die Verstand und Vernunft unterlaufen und zerstören; stattdessen lässt er in ihnen Sinnlichkeit und Denken als organisatorische Leistungen einer vollkommen freien Persönlichkeit kumulieren – frei vor allem von jeglichen gesellschaftlichen Zwängen und moralischen Rücksichten. Horkheimer und Adorno spüren den Parallelen von Kant und de Sade nach und stoßen auf die Forderungen nach Selbstbeherrschung (Dominanz der Vernunft über Gefühle, insbesondere moralischer Art) und nach der Dominanz des wissenschaftlichen Wissen (im Unterschied zum Glauben an Unbewiesenes). Dieses richtet sich im Verlauf der Aufklärung zwar in erster Linie gegen die Religion, aber in der Folge auch gegen moralische Allgemeinbegriffe wie Menschenliebe, Reue, Mitleid, Wohltun. Auch der Genuss und die ekstatische Liebe, die der Dialektik von sublimierten und entsublimierten Affekten folgen und ebenfalls mythische Reste mit sich führen, werden von der formalisierten Vernunft fortschreitend entwertet. „Natur“ (oder das, was als Natur proklamiert wird) dient bei de Sade wie bei Nietzsche zur Rechtfertigung von Kälte und Immoralität. Ein solcher Begriff der Natur enthält nicht nur den Krieg aller gegen alle, den Willen zu Kampf, Überwältigung und Herrschaft, sondern auch alle Arten von Anlagen, erworbenen Fertigkeiten, Privilegien, Reichtümern, die mit dem Genuss von Ungleichheit und Macht zusammenhängen. Nachdem keine transzendent begründete Ordnung mehr

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anerkannt wird, bleibt als einziger Ordnungsfaktor nur das Recht des Stärkeren. Freilich kehrt auch in dieses Weltbild die Moral zurück, indem sich die Schwachen „schuldig“ machen, wenn sie sich (zum Beispiel im Christentum) vereinigen und damit selbst zu Starken werden, dabei aber das eigentliche „Naturgesetz“ der Stärke umgehen. Der Preis dieser Versündigung an der Natur sind Krankheit und Verfall. Mit dieser Ansicht schaffen sich die herrschenden Klassen bei ihren Raubzügen ein gutes Gewissen. Der Hass gegen alles Unterlegene, insbesondere Frauen- und Judenhass, ist der Dialektik der Aufklärung zufolge der krampfhafte, projektive Versuch, der Lockung der zerfließenden Natur und den Anstrengungen der Zivilisation zu widerstehen. Bevor der Nationalsozialismus aus diesen Ansichten eine blutige gesellschaftliche Realität gemacht hat, haben de Sade und Nietzsche die Umwertung der bürgerlich-aufklärerischen Werte im Schatten der entstehenden Industrie und der geschichtlich ermächtigten formalen Vernunft literarisch ins Extrem getrieben und damit die negative Dialektik der Aufklärung dargestellt. Aber sie haben auch, entgegen ihren eigenen Intentionen, deren positive, hoffnungsvolle Spielräume eröffnet (die man allerdings suchen, erkennen und nutzen muss): „Indem [das Bürgertum] im eigenen Spiegel vor sich selbst erschrickt, eröffnet es den Blick auf das, was über es hinaus liegt.“ „Indem die mitleidlosen Lehren die Identität von Herrschaft und Vernunft verkünden, sind sie barmherziger als jene der moralischen Lakaien des Bürgertums.“ (DdA, S. 141, 142 f.)

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Zur Metakritik der formalen Vernunft

Schon Kants Zeitgenossen und unmittelbare Nachfolger stellten sich die Frage, ob und inwieweit dessen theoretische und praktische Philosophie kompatibel seien. So hatte Moses Mendelssohn, zwischen Erschrecken und Bewunderung schwankend, in seiner Morgenstunde auf den „alles zermalmenden Kant“ hingewiesen – Kants Erkenntniskritik war nicht zuletzt gegen Ansichten wie die Mendelssohns gerichtet, der von der rationalen Beweisbarkeit der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes überzeugt war –, und zugleich gemeint, dass Kant „hoffentlich mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat“ (Mendelssohn 1785, „Vorbericht“ [ohne Seitenzählung]). Genau gegen einen solchen möglichen Wiederaufbau wandten sich später diejenigen, die Kants Theologiekritik eher verschärfen wollten. Heinrich Heine popularisierte den Gegensatz in Kants Philosophie mit der satirischen These, der „Alleszermalmer“ habe Moral und Religion nur seinem traurigen Diener Lampe zuliebe wieder in ihre alten Rechte eingesetzt: „Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant [. . .] hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe steht dabei mit seinem

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Regenschirm unterm Arm als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig, halb ironisch spricht er: ‚Der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen.‘ Infolge dieses Arguments unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen, belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getötet.“ (Heine 1995, S. 278 f.)

Aber so amüsant Heine auch erzählt, so wenig wird diese Zweiteilung Kants dessen eigenem Anspruch gerecht, ist doch die Kritik der praktischen Vernunft nicht erst ein heterogener Zusatz zur Kritik der reinen Vernunft, sondern in dieser selbst schon vorgeprägt. Der Kern seiner Philosophie besteht gerade darin, die notwendige Einheit beider zu zeigen. In diesem Sinn betont Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, dass sich Freiheit, als Voraussetzung des Moralischen, zwar nicht (empirisch) erkennen, wohl aber denken lasse, und dass dies die Möglichkeit des Moralischen hinreichend belege (vgl. Kant 1996e, S. 30 f.). Entsprechend versucht er im Antinomien-Kapitel zu zeigen, dass naturwissenschaftlich begründbarer Determinismus und moralische Freiheit des Handelns mit einander vereinbar sind, indem er empirisches und intelligibles Subjekt zugleich unterscheidet und aufeinander bezieht (vgl. zusammenfassend Mittelstraß 1989, S. 348 ff.). Das Moralische entzieht sich nach Kant den erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen, ist aber zugleich Kriterien der Stimmigkeit unterworfen, mit deren Hilfe es zur Orientierung zur praktischen Einrichtung der Sinnenwelt dient. Der „Alleszermalmer“ wurde zum geflügelten Wort (aber auch zum Klischee) der Kant-Rezeption. Auch Horkheimer und Adorno greifen diese Bezeichnung (vgl. DdA, S. 117) und den mit ihr verbundenen Gedanken des doppelten Kant auf, aber weder (wie die theologisch gebundenen deutschen Aufklärer) in einem Kant-kritischen noch (wie die späteren Materialisten) in einem affirmativen Sinn. Vielmehr deuten sie die entsprechende Reaktion auf Kant symptomatisch, als Ausdruck des Beginns einer Selbstauflösungstendenz der Aufklärung. Dabei entziehen sie sich einer immanenten Kritik der Kantischen Philosophie – dies wird übersehen, wenn man ihnen vorhält, Kants Vernunftbegriff zu verfehlen, insofern sie ihn „mit dem Begriff der Zweckrationalität verwechselbar“ (Mittelstraß 1989, S. 342 f.) machen – und spannen diese stattdessen in eine Genealogie der formalen Vernunft ein. Aufgrund ihrer Reduzierung des Kantischen Vernunftbegriffs auf einen Ausdruck der gesellschaftlichen Arbeit scheinen sie in den über die bloße Selbsterhaltung hinausweisenden Vernunftanteilen nur noch eine Verschleierung der ökonomisch induzierten Herrschaftsverhältnisse zu sehen. Das mag darüber hinwegtäuschen, dass die Moralphilosophie der Kritischen Theorie grundsätzlich aporetisch ist: Die moralischen Ansprüche der gegenseitigen Rücksichtnahme und des Wohltuns werden einerseits als sinnvoll und notwendig

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anerkannt, andererseits aber im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung als grundsätzlich unrealisierbar angesehen. „Ephemer“ ist demnach Kants Ethik nicht hinsichtlich ihres theoretischen Gehalts – Kant argumentiert „sublim und paradox wie keiner vor ihm“ (DdA, S. 108) –, sondern auf Grund der Unmöglichkeit der Verwirklichung unter den gegebenen Bedingungen. Dementsprechend weisen die Autoren darauf hin, dass die klassischen ethischen Begründungen des „richtigen Lebens“ oft genug auf tönernen Füßen stehen. Adorno bringt dies in den Minima Moralia auf die nachhaltige Formel: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 1980, S. 43) und demonstriert dies später immer wieder in seinen moralphilosophischen Vorlesungen: „Moralphilosophie in diesem Sinne heißt, dass man sich die Probleme der moralischen Kategorien, dass man sich die Fragen, die sich auf das richtige Leben [. . .] beziehen [. . .], wirklich einmal bewußt macht [. . .]“ (Adorno 1996, S. 13).

Diese Probleme liegen vor allem in der illusorischen Harmonisierung der gesellschaftlichen Widersprüche und in der dadurch bedingten individuellen Überforderung. Das schließt aber nicht aus, auch eine mögliche kritische Funktion von Moral und Moralphilosophie anzuerkennen, zum Beispiel wenn Horkheimer die Moral als eine der psychischen Mächte bezeichnet, „auf Grund deren [die Individuen] sich nicht bloß in das Bestehende fügen, sondern unter Umständen sich ihm auch entgegenstellen“ (Horkheimer 1988c, S. 348), oder wenn Adorno, dem Kantischen Formalismus die Tendenz attestiert, „an der bestehenden Gesellschaft Kritik zu üben und ihr ein [. . .] bilderloses Bild des Möglichen entgegenzuhalten“ (Adorno 1996, S. 224), wobei er hier auf die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs verweist, die offensichtlich dem Fungibilitätsimperativ des beginnenden Industrialismus entgegengesetzt ist. Die „formale Vernunft“ zeigt in der Dialektik der Aufklärung ein Doppelgesicht – und soll doch eine Vernunft sein. Zunächst ist die praktische Vernunft bei Kant bekanntlich in dem Sinn formal, dass sie das Gute nicht gleichsam im direkten Zugriff zu bestimmen sucht, sondern indirekt, auf dem Wege eines Prüfverfahrens hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit eines Grundsatzes, der auf mögliche Handlungspräferenzen angewandt werden soll. Nicht vorgegebene soziale oder religiöse Wertvorstellungen, Gefühle des Wohlwollens oder gesunder Menschenverstand entscheiden über die moralische Qualität von Einstellungen oder Handlungen, sondern allein die vernünftige Form ihrer Anforderungen, ihre Verallgemeinerbarkeit. Auch wenn nun die entsprechende Anwendung des Kategorischen Imperativs auf die konkreten moralischen Fragen – so die Kritik der Autoren – letztlich nicht gelingen kann, da die gesellschaftliche Totalität dem Einzelnen niemals hinreichend einsehbar ist (vgl. Adorno 1996, S. 232; bereits Horkheimer 1988c, S. 115, 119 ff.), hat der Formalismus immerhin den Vorteil, das Bewusstsein über partikulare moralische Wertvorstellungen, die bestimmten Gruppen, Milieus oder Überlieferungen zugehören, hinaus zu heben. Während das Erfahrungswissen von der Pluralität der Moralen zu einer skeptischen Haltung gegenüber ihren Geltungsansprüchen führt, löst der ethische Formalismus den Anspruch der Allgemeingültigkeit ein. Er bürgt

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dafür, dass der allgemeine moralische Zweck nicht durch die immer auch notwendigen Erwägungen über die Mittel und Umstände des Handelns außer Kraft gesetzt werden darf. Nun besteht aber eine weitere Bedeutung des Formalismus der Vernunft darin, dass zugunsten eines effektiven und effizienten Einsatzes der jeweils verfügbaren Mittel von den moralischen Aspekten des Handelns abstrahiert wird. Die instrumentelle Vernunft, die in diesem Sinn das Handeln strukturiert (sei es, mit Camus gesprochen: den Betrieb von Verbrennungsöfen in den KZs, sei es die Pflege Leprakranker im Urwaldkrankenhaus) ist formal, insofern sie Fragen nach der Legitimität ihrer Inhalte, Ziele und Zwecke zugunsten der Organisation des Handelns dahingestellt sein lässt. Problematisch wird ein solches Verhalten, wenn die Zwecke, die es sich von außen vorgeben lässt, einer ethischen Prüfung, wenn sie denn stattfände, nicht standhalten würden. Dass es Bürger gibt, die sich, wie Horkheimer und Adorno gegen Kant vorbringen, einen wirtschaftlichen Gewinn trotz widersprechendem Kategorischem Imperativ nicht entgehen lassen (vgl. DdA, S. 108), hätte Kant nicht bestritten – sah er den Menschen doch als ein „krummes Holz“ an, „aus dem kein ganz gerades gezimmert werden“ (Kant 1996b, S. 41) kann –, aber auch nicht als Einwand gegen die Geltung der praktischen Vernunft gelten lassen. Er hätte darauf bestanden, dass der ethische Formalismus mit dem instrumentellen nicht gleichzusetzen ist und diesem gegenüber eigenständig gilt. Demgegenüber argumentiert die Dialektik der Aufklärung nicht geltungstheoretisch, sondern historisch und gesellschaftstheoretisch, nämlich mit der epochalen Entwertung und Verdrängung des moralischen Potenzials im Übergang vom Liberalismus zum autoritären Staat: „Entgegen dem kategorischen Imperativ und in desto tieferem Einklang mit der reinen Vernunft behandelt [der Faschismus] die Menschen als Dinge, Zentren von Verhaltensweisen. [. . .] Die totalitäre Ordnung [. . .] setzt kalkulierendes Denken ganz in seine Rechte ein und hält sich an die Wissenschaft als solche.“ (DdA, S. 109)

Die „Wissenschaft als solche“ kulminiert, der Dialektik der Aufklärung zufolge, in Klassifikationen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen, in denen das Einzelne nur noch als Fall eines Allgemeinen wahrgenommen wird. Und die Moral als innerer Kompass wird zuletzt durch Disziplin und Gehorsam als starre Verhaltensmuster ersetzt. – Diese pauschalen Urteile werden zweifellos den komplexen Begriffen der Wissenschaft wie der Moral und ihren vielfachen Erscheinungsweisen nicht gerecht. Die neukantianische Unterscheidung zwischen nomothetischen und ideografischen Wissenschaften mag überholt sein, da Naturwissenschaften auch Partikularaussagen und Kultur- und Humanwissenschaften auch Allaussagen formulieren. Und auch eine kausal erklärende Soziologie muss sich, nach Max Weber, auf das Verstehen von Sinnzusammenhängen stützen. Jedenfalls aber wäre das Bild einer nur mit der großen Zahl kalkulierenden Wissenschaft, verstünde man es wissenschaftstheoretisch, reduktionistisch verzerrt. Und geschichtlich verzerrt wäre auch das Bild der politisch-totalitären Ordnung als moralfreier. Der Nationalsozialismus hat keineswegs die Moral überhaupt zugunsten des kalkulatorischen Denkens suspendiert, sondern die universalistische

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Moral der „Menschheit“ durch die partikularistische Moral der „Volksgemeinschaft“, wobei diese Moral dann durch eine skrupellos durchgesetzte instrumentelle Vernunft realisiert wurde. Die nationalsozialistische Moral behauptete, dass die eigene Rasse wertvoller sei als andere, und die verschiedenen Rassen jeweils eigene moralische Rechte und Pflichten hätten. Wenn wir hier zögern, überhaupt von „Moral“ zu sprechen, dann aufgrund unserer kulturellen universalistischen Prägungen der Moderne. Versteht man unter Moral aber, in deskriptiv-explanatorischer Perspektive, ein System von Verpflichtungen, die durch Gefühle von Schuld und Empörung abgestützt werden, oder aber, mit Durkheim (1967, S. 87), die „Bindung an eine wie immer geartete Gruppe“, dann verfügt auch der rassistische Nationalismus über eine Moral (vgl. Gross 2010). Die anthropologisch tief sitzende Gruppenbezogenheit der Verhaltensorientierungen kehrt in der Moderne wieder in der verzerrten und destruktiven Gestalt der Verfolgung von Minderheiten und des Fremdenhasses. Das abgründige Menschen- und Gesellschaftsbild, das die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ zeichnen und das zur Verdeutlichung der Dialektik der Aufklärung dient, ist nicht ontologisch, sondern kritisch-diagnostisch zu verstehen, als vorwegnehmende Verdeutlichung einer geschichtlichen Tendenz, die vom Liberalismus zum Faschismus führte. Es geht um die epochale Tendenz der gesellschaftlichen Verdrängung des ethisch-universalistischen Orientierungswissens durch das wissenschaftlich-technische Verfügungswissen (vgl. Mittelstraß 2002, S. 164 ff.). Das „Verfügungswissen“ dient dazu, vielfältige, letztlich beliebige Kausal- und Mittel-Zweck-Relationen zu organisieren, wobei es in der Moderne, gestützt auf mathematische und zuletzt informationstechnische Verfahren, eine gewaltige Dynamik entwickelt. Demgegenüber bleibt das „Orientierungswissen“, das strebens- und sollensethische Regulative enthält, oft rudimentär und kraftlos. Die Orientierung an gerechtfertigten Zwecken und Zielen, die regulative Vernunft, gerät unter der Vorherrschaft der modernen, durch Imperative der Naturbeherrschung geprägten Rationalität an den Rand und macht allzu leicht Platz für einen neuen, alten Partikularismus und Irrationalismus.

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Kritische Theorie und Psychoanalyse Helmut Dahmer

Zusammenfassung

Die Kulturkritik Freuds und die Kritik der politischen Ökonomie von Marx waren Reaktionen auf die katastrophale Entwicklung der kapitalistischen Weltgesellschaft. Beide Kritiken entstanden auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse und knüpften an die von Schelling und Feuerbach vorgetragene Kritik der Philosophie Hegels an. Beide Perspektiven und Begrifflichkeiten sind einander fremd und lassen sich nicht integrieren, sondern müssen gegeneinander ausgespielt werden. Folgender Artikel geht diesem Versuch anhand der Freud-Rezeption Max Horkheimers und Theodor W. Adornos nach. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Freud · Marx · Horkheimer · Adorno · Psychoanalyse

1

Einleitung

Freuds Therapeutik ist eine spezielle Gestalt der nachhegelschen (nachmetaphysischen) Philosophie – eine Rätsellösungskunst. Die Rätsel, mit denen sie es zu tun hat, sind solche der Lebens- und Kulturgeschichte. Rätselhaft sind biografisch und sozialhistorisch konstituierte Institutionen (sei es eine Obsession, sei es ein Gefängnis), Produkte der Lebensnot, nicht des freien Willens, freier Vereinbarung oder Planung. Der ihnen apologetisch zugesprochene „Sinn“ verdeckt ihre verborgene, wandelbare, stets erst wieder aufzudeckende Funktion. Unfrei vergesellschaftete, ihrer selbst nicht mächtige Subjekte haben in der Vergangenheit kollektive Institutionen (Familie, Privateigentum, Staat, Religion, . . .) hervorgebracht und reproduzieren sie in der Gegenwart. Diese gesellschaftlichen Institutionen bilden den Rahmen von Lebensgeschichten, deren Kalamität die Individuen zu jenen privaten Reaktionsbildungen und Kapitulationen nötigt, die H. Dahmer (*) Technische Universität Darmstadt, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_4

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wir Neurosen und Psychosen nennen. Für die kollektiven wie für die privaten Institutionen gilt, dass sie bewusstlos oder in „falschem“ Bewusstsein gebildet und tradiert werden, dass ihre Produzenten der ihnen aufgedrungenen Autor- und Trägerschaft nicht (mehr) inne sind. Aus dieser „Selbst“-Vergessenheit entspringt die Ohnmacht der Lebenden im Verhältnis zu den sie beherrschenden, überkommenen – und oft längst obsolet gewordenen – Institutionen. Sie erscheinen ihnen als schlechthin lebensnotwendig und werden darum mit „Natur“ verwechselt.1 Der Naturschein, mit dem ihre Träger noch die absurdesten Institutionen und grausamsten Rituale umkleiden, entzieht diese lange Zeit jeder Kritik und damit einer möglichen Revision. Er fungiert als die Gloriole dessen, was vermeintlich immer schon so war, wie es ist. Doch gehen die menschlichen Subjekte in ihren Produktionen und Objektivationen nie restlos auf, so wenig die von ihnen durch die Arbeit vieler Generationen hergestellte künstliche „zweite Natur“ (ihr Habitat) je ohne die „erste“, deren Basis, bestehen kann. Als „nicht festgestellte Tiere“ (Nietzsche2) verfügen Menschen über „luxurierende“ Antriebs- und Wunschenergien, die sie in den unabschließbaren Geschichtsprozess der Welt- und Selbstveränderung verwickeln und sie auch immer wieder zu neuen Götzendämmerungen und institutionellen Innovationen motivieren.3 Die Freudsche Kritik der bestehenden Kultur und die (einige Jahrzehnte zuvor formulierte) Marxsche Kritik von deren politischer Ökonomie waren Reaktionen auf die katastrophale Entwicklung der kapitalistischen Weltgesellschaft – auf den langfristigen Enteignungsprozess, in dem die große Mehrheit der Erdbevölkerung in ein Heer von „Abhängigen“ (mit oder ohne Beschäftigung) verwandelt wird, und Millionen von ihnen periodisch in Vernichtungskriegen dem Kampf um Privilegien, Ressourcen und Einflusszonen aufgeopfert werden. Beide Kritiken entstanden – wie Nietzsches „Genealogie“ der Moral und der Erkenntnis – auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse, auf der Suche nach einem alternativen Entwicklungspfad. Sie knüpfen (programmatisch oder de facto) an die von Schelling und Feuerbach vorgetragene Kritik der Hegelschen „abschlusshaften Geschichtsmetaphysik“ (Horkheimer 1933, S. 128) an. Ihr Verhältnis zu einander ist dadurch bestimmt, dass die vergesellschafteten Indivi-

1

Der Patient, der an einer psychischen Störung leidet, erliegt oft, wie auch sein Praktischer Arzt, dem Schein, es handele sich um einen organischen Defekt. Hilfe erwartet er von einem technischen Eingriff, von Messer und Droge, um nicht sich selbst (als möglichen Autor seines „Schicksals“) in den Blick nehmen zu müssen. Auch die ausgebeuteten Klassen halten lange Zeit ihre Lage für eine wenn nicht „gottgewollte“, so doch „natürliche“; auch sie erwarten eine magische oder „technische“ Rettung zuerst vom Klassenstaat, der – im günstigsten Fall – die die Ungleichheit sichernde Herrschaft aufrechterhält, indem er sie mildert, sodann von Charismatikern, Tribunen, kleinen, „substitutionistischen“ Verschwörergruppen, ehe sie schließlich doch einmal auf Autoemanzipation setzen. . .. 2 „[. . .] die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme.“ (Nietzsche 1886/1980, S. 81). 3 „Weder die Natur – objektiv – noch die Natur subjektiv ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden.“ (Marx 1844/1968, S. 579): – „Der Mensch“ ist [. . .] ein ‚unermüdlicher Lustsucher‘ [. . .] und jeder Verzicht auf eine einmal genossene Lust wird ihm sehr schwer.“ (Freud 1905/1969, S. 142) – „Die beiden Richtungen der Kultur“ (die Naturbeherrschung zwecks Gütererzeugung und die Regelung sozialer Beziehungen, besonders der Güterverteilung) „sind nicht unabhängig voneinander“, unter anderem, „weil jeder Einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist, die doch ein allgemeinmenschliches Interesse sein soll.“ (Freud 1927/1963, S. 326 f.).

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duen von den (privaten und kollektiven) Institutionen, die sie unterhalten und mit denen sie verwachsen sind, beherrscht werden.4 Eben darum bedarf es einer besonderen, kritischen Wissenschaft, um solche Zwangsverhältnisse aufzuklären und nach Möglichkeit aufzulösen.5 Der Antagonismus zwischen den vereinzelten Einzelnen und den BasisInstitutionen der modernen Gesellschaft hat zur Ausbildung zweier „traditioneller“ Theorien – Soziologie und Psychologie – geführt. (Horkheimer 1937/1988, S. 162–255; Marcuse 1937/1979, S. 227–249) Deren Opponenten sind auf der einen Seite die (vorwiegend) auf die ökonomisch-politischen Verhältnisse gerichtete Kritik, auf der anderen die Kritik, die (vorwiegend) der im Rahmen jener Verhältnisse ausgebildeten seelischen Ökonomie der vielen Einzelnen gilt. Beider Perspektiven und Begrifflichkeiten sind einander fremd und lassen sich nicht integrieren. „Darum scheint uns weniger eine Synthese aus Soziologie und Psychologie an der Zeit“, schrieb Max Horkheimer 1957, „als die insistente[,] aber getrennte Arbeit in beiden Bereichen.“ (Horkheimer und Adorno 1957a/1996, S. 18) Will man die Sphinxrätsel der Gegenwart lösen, muss man die beiden Kritiken gegeneinander führen, sie gegeneinander ausspielen. „Marxismus und Psychoanalyse zusammenfügen, wie sie sind“, schrieb Ulrich Sonnemann, „hieße, synkretistisch beider Blindheiten für die Sache des je andern zusammenfügen. [. . .] Dass die Psychoanalyse an einem Moment von Gesellschaftlichkeit scheitert, deren pionierhafte Theorie ihrerseits an einem von Innerlichkeit scheitert, heißt, dass sie füreinander nicht positive Komplemente sein können, sondern ihre gegenseitigen kritischen Regulative sie vorantreibende Negationen sind.“(Sonnemann 1970, S. 215)6

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Vgl. dazu die Ausführungen Adornos in einem Brief (aus London) an Erich Fromm (vom 16.11.1937): „Was [. . .] die Autorität anlangt, so kann jedenfalls so viel gesagt werden, dass in der gegenwärtigen Phase die entscheidende Autorität nicht die der Familie, sondern viel eher die der fetischisierten Kollektivverbände ist. Angesichts dieser Einsichten scheint es mir aber notwendig, die Frage nach dem Kitt“ – nach dem, was die gegenwärtige Gesellschaft zusammenhält – „neu zu stellen. Und ich bin geneigt, um das Wichtigste gleich vorwegzunehmen, diesen Kitt [. . .] in dem ökonomischen Prinzip zu sehen, dessen Entfaltung das Bewegungsgesetz der Gesellschaft vorschreibt und sie der Katastrophe entgegentreibt, nämlich der Warenform. Ich bin mehr und mehr der Überzeugung, dass die eigentliche Koinzidenz der marxistischen Theorie und der Psychoanalyse nicht in Analogien wie denen von Überbau und Unterbau mit Ich und Es u. s. w. liegt, sondern im Fetischcharakter der Waren und im fetischistischen Charakter der Menschen.“ (Adorno und Horkheimer 2003, S. 540). 5 „Die Durchleuchtung der Tabus, der Götzen und magischen Verhaltungsweisen heute ist in der Tat der kritischen Philosophie zutiefst verwandt; der Auflösung einer als unbedingt erscheinenden Wirklichkeit.“ (Horkheimer 1961/1985, S. 185 f.). 6 In der ein Jahr zuvor erschienenen Negativen Anthropologie desselben Autors heißt es dazu: „Dass die beiden Hauptversionen des anthropologischen Determinismus aneinander scheitern, Marx an einem Moment von Innerlichkeit, Freud von Gesellschaftlichkeit, zeigt sowohl, wie das Gemeinsame an ihnen, über sich selber hinausweisend, einen den Determinismus selbst reflektierenden anthropologischen Bezugsrahmen fordert, als auch, wie innerhalb eines solchen die Sorge um die Gesellschaft und die um die Person ohne die Erfahrung der je anderen, das Empirische an ihr, gar nicht auskommen.“ „Das Unwahre am Projektionismus, psychologistischen Solipsismus, unterliegt der Marxschen Ideologiekritik, so wie das Unfreie am historistischen Notwendigkeitsglauben der marxistischen Lehre, der das Menschliche manipulieren will, der Mechanismuskritik Freuds unterliegt.“ (Sonnemann 1969, S. 87).

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Im Unterschied zu den technisch orientierten Naturwissenschaften und den hermeneutisch orientierten Geisteswissenschaften ist das „Objekt“ der Kritik ein verkapptes virtuelles Subjekt, das in reflexiven Dialogen zu sich kommen, erwachen, die Autorschaft seines Lebens und der gesellschaftlichen Entwicklung wiedergewinnen (oder erstmals erlangen) kann. Die großen Kritiken sind, auch wo sie, an Pseudonatur orientiert, quasi-szientistisch (oder „technisch“) ansetzen, doch Subjekt-, nicht Objektwissenschaften, mit Nietzsche zu reden: nicht Natur-, sondern „unnatürliche Wissenschaften“.7 Ziel der Kritik ist nicht die Steigerung der Natur- und Menschenbeherrschung, sondern die genealogische Entzauberung pseudonatürlicher Institutionen zum Zweck ihrer Revision oder Auflösung. Dem zweideutigen Charakter ihres „Objekts“ entspricht methodologisch das Alternieren zwischen „Erklären“ und „Verstehen“ S. 96–127; Apel (1979). Das Erklären ist, ob es um Neurosen oder um Gesellschaftsformen geht, nur Substitut und Platzhalter des Verstehens, sofern ein direktes Verständnis des ebenso fraglichen wie bedrohlichen Phänomens aktuell noch nicht möglich ist. Die möglicherweise gefundene erklärende Hypothese dient direkt einer rekonstruktiven Aufklärung der Genese des Rätsels, indirekt der Orientierung des Rätsellösers in seiner Gegenwart. Die Neurosentheorie leitet die Deutung der Einfälle, Träume, Verhaltensweisen und Affektstürme des Patienten, der im „therapeutischen“ Prozess zum Historiker seiner Lebensgeschichte werden kann. Die Marxschen Rekonstruktionen der Gesellschaftsformen, die der kapitalistischen vorangingen (Marx 1857/1983, S. 383–412; Dahmer 1976/ 2013, S. 243–341), dienen der Herausarbeitung der Spezifik sowohl jener älteren Formationen als auch derjenigen der „letzten“, der bürgerlichen Form von Klassenherrschaft, in der eine revolutionsfähige internationale Klasse „freier“ Lohnarbeiter sich herausbildet, die, wenn es gut geht, imstande ist, Klassenkampf und Repressionsstaat abzuschaffen. Von der weit zurückreichenden und noch immer andauernden Geschichte der Klassenkämpfe – die von Sklaverei zu „Lohnsklaverei“ geführt hat – spricht Marx „mit schwermütiger Hoffnung“ (Adorno 1961/1972, S. 234)8 als von der „Vorgeschichte“ der Menschheit, in der die eigentliche sich vorbereitet. Schildert er sozialhistorische Prozesse, macht er von Naturkategorien ironischen Gebrauch. Noch gleicht die menschliche Geschichte, was immer die Beteiligten darüber denken, einem Naturprozess und kann folglich auch (fatalistisch) wie ein solcher beschrieben

„Die große Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältnis zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente – unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte – ruht gerade darauf, dass sie das Fremde als Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu wollen. . .“ (Nietzsche 1882, 1887/1980, S. 594 f.). 8 „Was einmal bei Marx, mit schwermütiger Hoffnung, Vorgeschichte heißt, ist nicht weniger als der Inbegriff aller bisher bekannten Geschichte, das Reich der Unfreiheit.“ (Adorno 1961/1972, S. 234). 7

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werden.9 Doch in eben diesem Prozess, ihrer Leidensgeschichte, kommt, Marx zufolge, die Gattung (in Gestalt der letzten Klasse) der Möglichkeit nach auch zu sich, entringt sich bloßer „Naturwüchsigkeit“, und das heißt, dass es eines Tages den vergesellschafteten Individuen nicht mehr ausschließlich um das Überleben und Übervorteilen gehen wird. Freud wandelte sich im Zuge seiner Aufklärung der psychischen Störungen vom Typus der Hysterie und der Obsession (die nicht der ersten, sondern der zweiten Natur angehören, nämlich „soziale Leiden“ sind) unvermerkt von einem Objekt- zu einem Subjektwissenschaftler. Er erneuerte in seiner Kritik psychischer und gesellschaftlicher Institutionen die Dialektik von Amnesie und Anamnesis, mit der er in seiner Jugend durch die Lektüre der Feuerbachschen Kritik der Hegel-Schellingschen Philosophie bekannt geworden war.10 Zumeist identifizierte er erste und zweite Natur und berief sich auf die zweite im Namen der ersten. Dem entsprechend hielt er die Soziologie für angewandte Psychologie und die Psychologie – samt der Psychoanalyse – für eine Naturwissenschaft.11 Die Zweideutigkeit seines (pseudonatürlichen) „Objekts“ schlug sich in seinen Texten nieder, in denen die Sprache der Hegel und Schelling der physiologisch-physikalistischen der Helmholtz-Schule (Bernfeld 1944/1981, S. 54–77, 1949, S. 112–147) opponiert (also, zum Beispiel, die – größtenteils unbewusste – „Seele“ auch als ein „Reizbewältigungsapparat“ figuriert und umgekehrt).12

Dem entsprechend heißt es auch bei Freud: „Endlich wollen wir nicht vergessen, dass über die Menschenmasse, die den ökonomischen Notwendigkeiten unterworfen ist, auch der Prozess der Kulturentwicklung – Zivilisation sagen andere – abläuft, der gewiss von allen anderen Faktoren beeinflusst wird, aber sicherlich in seinem Ursprung von ihnen unabhängig ist, einem organischen Vorgang vergleichbar, und sehr wohl imstande, seinerseits auf die anderen Momente einzuwirken.“ (Freud 1933/1961, S. 194; Hervorhebungen H.D.). 10 „Heute [1936] scheint es, als ob [der] dialektische Charakter der [Freudschen] Theorie auch in den früheren Arbeiten sich unabhängig vom Willen des positivistisch orientierten Autors eingeschlichen hätte“, vermerkt Horkheimer (Horkheimer 1936/1988, S. 81, 1934a/1988, S. 200) – Adorno bemerkte dazu, „dass die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem, wie sie von Hegel gelehrt worden ist [. . .], in dem großartigen wissenschaftlichen Entwurf von Freud, gleichsam blind gegen die Psychologie, wiederentdeckt worden ist, indem Freud [. . .] darauf gestoßen ist, dass der innerste Kern, auf dem die Psychologie des einzelnen Individuums beruht, selber gerade ein Allgemeines ist: nämlich gewisse, ganz allgemeine Strukturen, allerdings archaischer Art, des gesellschaftlichen Zusammenhanges, in denen die Einzelwesen stehen.“ (Adorno 1968/1993, S. 194). 11 „Denn auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie. Streng genommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde.“ (Freud 1933/1961, S. 194) – „Die Psychologie ist auch eine Naturwissenschaft. Was sollte sie denn sonst sein?“ (Freud 1938,1940/ 1966, S. 143). 12 „Die begrifflichen Konstruktionen von Ich, Es und Über-Ich verdanken ihre Namen nicht zufällig der Erfahrung der Reflexion. Sie sind erst nachträglich in einen objektivistischen Bezugsrahmen versetzt und uminterpretiert worden.“ (Habermas 1968/1973, S. 290, 304). 9

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Max Horkheimer

2.1

Freud-Mosaik

Die Frage, was die Freudsche Psychoanalyse eigentlich sei und welche Bedeutung ihr im Hinblick auf eine materialistische Geschichtsschreibung zukomme, hat Horkheimer – wie auch Adorno – stets wieder beschäftigt.13 Überlegungen zur Freudschen Psychologie als einer aktuellen Gestalt der Aufklärung finden sich verstreut in vielen seiner Schriften, Memoranden, Notate und Briefe. Enthusiastische Zustimmung zum Freudschen Projekt14 wechselt in diesen Aphorismen, „Notizen“ und „Spänen“ (Horkheimer 1991, S. 189–425, 1988b, c, d, S. 33–144, 145–171, 172–547) mit schärfster Ablehnung15 (vor allem der als „positivistisch“ gewerteten therapeutischen Praxis, sodann der „revisionistischen“ Strömungen der Psychoanalyse, aber auch ihres „orthodoxen“ Komplements). Horkheimers Ambivalenz entspricht der Zweideutigkeit der Freudschen Lehre, in der sich die Ambiguität ihres (pseudonatürlichen) „Objekts“ geltend macht. Nicht wenige seiner Bemerkungen zur Psychoanalyse sind in dem für ihn charakteristischen, auch von Adorno geschätzten, elliptischen Stil abgefasst, „vibrierend von Verschwiegenem“ (Adorno und Horkheimer 2003, S. 175),16 andere bleiben, für sich genommen, enigmatisch und geben ihren Sinn erst im Zusammenhang mit Texten frei, die der Autor zu anderer Zeit und in anderem Zusammenhang formulierte. Nur selten fügen diese 13

In einem Brief (aus Montagnola) vom 28.04.1969 an Anna Steuerwald-Landmann (in dem es um das Verhältnis der „Frankfurter“ zu Marx – und zur Studentenbewegung – ging) schrieb Horkheimer in schöner Bescheidenheit: „Freud kenne ich wenig, viel Gutes Menschliches aber von ihm u. über ihn.“ Er kam dann auf sein Verhältnis zu Marx und Nietzsche zu sprechen: „Ich kenne Marx gut, habe ihn nie gemocht wegen seines Aufrufs zur Gewalt.“ „Er war ein gescheiter, aber recht unsympathischer Mann, unter anderem gehörte er zu den jüdischen Antisemiten, die mir besonders zuwider sind. Nietzsche ist mir viel näher. Natürlich ist er missverstanden worden. Als ich 1948 zum ersten Mal wieder nach Deutschland kam und einige Vorträge hielt, benötigte ich eines seiner Bücher. In der Buchhandlung wurde mir gesagt: ‚Nietzsche verkaufen wir nicht. Er war ja am National-Sozialismus schuld.‘ Ich antwortete: ‚Er gehört zu den wenigen großen Philosophen, die man ins Konzentrationslager geschickt hätte.‘“ (Horkheimer 1996a, S. 720 f.). 14 „Die aufklärerische Theorie der Gegenwart ist die von Sigmund Freud [. . .].“ (Horkheimer 1958/ 1989, S. 536). 15 In einem Brief (aus Lugano) vom 20.01.1956 an Leo Löwenthal, in dem es unter anderem um die Vorbereitung der (Frankfurter) Vorlesungen zu Freuds 100. Geburtstag ging [Freud in der Gegenwart, Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 6; Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1957], heißt es: „A propos Freudsemester [. . .]. Es bedurfte schon der Zusage eines Zuschusses von uns, um Marcuse im Hinblick auf sein kürzlich erschienenes Freudbuch auf die Liste [der Vortragenden] zu setzen. Außer ihm sind es nur approbierte, orthodoxe Analytiker. Ihnen aber brauche ich gar nicht erst zu sagen, dass ich selbst heute weiter davon weg bin als je. Ich beteilige mich – auf die dringende Bitte Mitscherlichs – an der Sache deshalb, weil eine solche Veranstaltung in Deutschland eine Rückenstärkung der aufgeklärten kulturellen Kräfte bedeutet [. . .]. Ich bin mir wohl bewusst, welche Risiken die Unternehmung mit sich bringt, aber sie gehört zu den Sachen, die mein Hiersein gerade noch rechtfertigen.“ (Horkheimer 1996a, S. 336 f.). 16 Adorno, Brief an Horkheimer vom 29.06.1936 (nach der Lektüre von Horkheimers Essay „Egoismus und Freiheitsbewegung“). (Adorno und Horkheimer 2003, S. 175).

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Mosaiksteine sich zu einem kohärenten Bild – zu einem negativen in den Protokollen seiner Diskussionen mit Adorno im Januar 1939 (Horkheimer und Adorno 1939/ 1985, S. 441–451), einem positiven in seinem 1948 geschriebenen Nachruf auf Ernst Simmel (Horkheimer 1948/1987, S. 396–405),17 einem informativen (wenn auch mitunter leicht ironisch getönten) in der Vorlesung „Fragen der Geschichtsphilosophie“ aus dem Wintersemester 1953/54 (Horkheimer 1953/1989, S. 340–346).18 Horkheimer, dessen Gewährsleute und Gesprächs- oder Briefpartner in Sachen Psychoanalyse in den dreißiger Jahren Erich Fromm und Karl Landauer19 waren, hat die Freudsche Theorie von vornherein als eine (Gestalt der) „Philosophie“ aufgefasst.20 Herbert Marcuse21 und Odo Marquard22 haben nach ihm den philosophischen Charakter der Freudschen Lehre und ihr Verhältnis zur philosophischen Tradition ausführlich dargelegt. Horkheimer konstatierte zum einen die Verwandtschaft der Psychoanalyse mit philosophischen Entwürfen des neunzehnten Jahrhunderts (Schopenhauer,23

17

Vgl. dazu auch Horkheimers Brief (aus Pacific Palisades) an Leo Löwenthal vom 31.10.1942 (Horkheimer 1996b, S. 366 f.). 18 In der 25. und 26. dieser Vorlesungen stellte Horkheimer „die fortgeschrittene Psychologie Freuds“ vor. (Horkheimer 1953/1989, S. 343). 19 Der Freud-Schüler Landauer leitete (gemeinsam mit Heinrich Meng) seit 1929 die Psychoanalytische Abteilung im Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ – das „Frankfurter Institut für Psychoanalyse“. 1933 floh er über Schweden in die Niederlande, wurde dort 1943 verhaftet und kam Anfang 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben. Seine Psychoanalyse bei Landauer (in den Jahren 1927/28) verhalf Horkheimer zu einer praktischen Erfahrung mit der Freudianischen Therapie. (Horkheimer 1985a, S. 453 f.). 20 „Es ist [. . .] sehr kennzeichnend, dass im Zusammenhang mit mir die Psychoanalyse als ein Moment der Philosophie angesehen wurde, nämlich die Kenntnis des Menschen.“ (Horkheimer 1972/1985, S. 453). 21 „Freud entwickelte eine Theorie des Menschen, eine ‚Psycho-Logie‘ im strengen Sinn. Mit seiner Theorie hat er sich in die große Tradition der Philosophie eingegliedert und sich unter philosophische Kriterien gestellt.“ „Freuds Interpretation des Seins in Begriffen des Eros nimmt die Frühform der platonischen Philosophie wieder auf, die die Kultur nicht als verdrängende Sublimierung, sondern als freie Selbstverwirklichung des Eros begriff.“ „Die Einsichten, die in der metaphysischen Vorstellung vom Eros enthalten waren, sind in ein untergründiges Exil vertrieben worden. In eschatologischer Entstellung lebten sie in vielen häretischen Bewegungen, in der hedonistischen Philosophie weiter.“ (Marcuse 1955/1979, S. 14, 110). 22 „Freuds psychoanalytische Theorie ist [. . .] überwiegend so etwas wie ‚transzendentalphilosophische Naturphilosophie unter den Bedingungen eines entzauberten Naturbegriffs‘ [. . .].“ „Auch in Freuds Psychoanalyse gibt es [. . .] – wie bei Schelling und Carus – einerseits den Versuch einer Zurückführung der Geschichte und des Geschichtlichen auf Natur und andererseits den Versuch, diese Natur selbst als Geschichte und Geschichtliches zu erkennen: es gibt auch bei Freud eine Naturalisierung der Geschichte und eine Historisierung der Natur.“ (Marquard 1963/1987, S. 229). 23 „Freud selber hat es gewusst, dass er in mancher Hinsicht eigentlich ein Nachfolger Schopenhauers ist. [. . .] Sie sehen, dass es kein Zufall ist, dass mir, der in seinem Denken von Schopenhauer erfüllt war, Freud, als ich ihn kennenlernte, etwas Besonderes bedeutete.“ (Horkheimer 1972/1985, S. 455) – „Schopenhauer wie Freud sagen: Nicht die Erkenntnis, sondern ein Tieferes ist entscheidend. [. . .] Die Erkenntnis steht im Dienste des Willens. [. . .] Hier hat Schopenhauer die tiefste Metapsychologie zu Freud zu geben.“ (Horkheimer 1958/1989, S. 553 f.).

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Dilthey,24 Nietzsche25), sowie mit denen des frühen zwanzigsten (Bergson, neben Freud „der zweite große Denker dieser Ära“ (Horkheimer 1996b, S. 373)), und betonte zum anderen (wie Adorno) ihre Teilhabe am zeitgenössischen Positivismus (Ernst Machs)26. „Freuds negative Haltung gegenüber den philosophischen Illusionen ist selbst Ausdruck jener besonderen Weise, an die entscheidenden Probleme des Lebens heranzugehen, die wir als seine Philosophie bezeichnen können. Freilich müssen wir den Ausdruck Philosophie unkonventionell gebrauchen, ohne die Konnotation einer Idealisierung der schauerlichen Wirklichkeiten unserer Welt. Im Gegensatz zu solchen fragwürdigen teleologischen Bemühungen hat es immer auch Philosophie in einem anderen Sinn gegeben. Philosophie ist dann die Überzeugung, dass es ohne Wahrheit kein menschliches Leben gibt, und der Wille, die kompromisslose Wahrheit zum Leitprinzip des eigenen Lebens zu machen [. . .]. Philosophie bedeutet weiterhin die Fähigkeit, wirkliche neue Erfahrungen machen zu können, die Kraft, den hypnotischen Zauber herrschender Ideologien zu durchbrechen [. . .].“ (Horkheimer 1948/1987, S. 397). Die Freudsche Philosophie gilt Horkheimer als eine (oder als die aktuelle) Gestalt der Aufklärung.27 Doch hat sich die Aufklärung gespalten. Sie unterliegt einem Prozess der Aufzehrung ihrer eigenen Voraussetzungen. Daraus resultiert die Beschränkung ihres Projekts in Gestalt des Positivismus. Und die positivistisch verengte (oder „halbierte“) Aufklärung provoziert die Kritik, in der die Dialektik des Aufklärungsprojekts (das mit der mythischen Weltdeutung anhebt und später selbst in einen Mythos umschlägt (Horkheimer und Adorno 1944/ 1947/1987)28) entfaltet wird. In der Freudschen Theorie sind beide Tendenzen am Werk, die affirmative und die kritische: „[Freud] neigte in seiner Spätzeit dazu, das seelische Wesen des Menschen gegenüber den Bedingungen seiner Existenz zu verabsolutieren. Das von ihm positiv vertretene ‚Realitätsprinzip‘ kann dazu verleiten, die Anpassung an den blinden gesellschaftlichen Druck

„Für Dilthey ist [1894] eine ganz neue Art der Psychologie erforderlich, um Geschichte recht zu verstehen. Er macht sich damit zum Herold Freuds.“ (Horkheimer 1953/1989, S. 339). 25 „Nietzsches Theorie ist neben der Freuds die modernste heute. Sie ist eine philosophische Vorstellung, die es zu überwinden gilt, die ebenso wie Freuds Theorie nicht dogmatisch hinzunehmen ist. Auch Freud muss heute neu durchdacht werden, um darüber hinauszugelangen. Keineswegs ist mit beiden Theorien das Ende einer vernünftigen Dialektik gegeben.“ (Horkheimer 1958/ 1989, S. 559). 26 Vgl. dazu das Protokoll der 9. (Seminar-)Diskussion über „Wissenschaft und Krise“ am 19.02.1932. (Horkheimer 1985b, S. 386–392) und (Horkheimer und Adorno 1939, S. 449 f.). 27 „Die aufklärerische Theorie der Gegenwart ist die von Sigmund Freud [. . .].“ (Horkheimer 1957b/1989, S. 536) Als Repräsentanten der Aufklärung verweist Horkheimer vor allem auf Hobbes (Horkheimer 1985c, S. 107), Helvétius und Diderot: „Neben der Objektbeziehung findet die Trieblehre eine weitere Entfaltung im Begriff des Sadismus. Freud ist hier auf Ansichten des Helvétius zurückgegangen, ohne ihn zu kennen.“ (Horkheimer 1985c, S. 546) „Diderots ‚Seziere dich selber‘ ist die Vorankündigung der Psychoanalyse.“ (Horkheimer 1958/1989, S. 535). 28 bes. das 1. Kap. („Begriff der Aufklärung“). 24

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entsagend zu sanktionieren und schließlich den Fortbestand des Druckes zu rechtfertigen. Freilich macht diese Intention nur eine Seite der Freudischen Gedanken aus. Sie ist nicht zu trennen von der anderen, seiner todernsten Erfahrung der Last, unter der die Menschheit sich dahinschleppt – jener Erfahrung, die der Freudischen Lehre ihre unversöhnliche Tiefe und Substanzialität verleiht.“ (Horkheimer 1957a/1996, S. 18 f.)29

Horkheimer sah in der von Freud entwickelten Psychologie diejenige des gegenwärtigen Zeitalters, genauer: den Versuch, eine Gestalt des Lebens, die bereits „alt“ (und damit erkennbar) geworden ist,30 festzuhalten. Bürgerliche Individuen der liberalen Ära waren autonom in ihrer Wirtschafts- und Lebensführung, jedoch abhängig von den Konjunkturen des Markts. Ihrem Sozialcharakter gaben die Sorge um das Privateigentum und die stete Angst, es zu verlieren, das Gepräge.31 Da die Entwicklung des Kapitalismus in einem fortschreitenden Enteignungsprozess besteht, wurde aus einer Gesellschaft von Kleineigentümern eine Gesellschaft von abhängig Beschäftigten; damit war dem bürgerlichen Lebensideal die gesellschaftliche Grundlage entzogen. Die Psychoanalyse ist Resultat und Ausdruck dieser Krise. Sie versucht, das Individuum, genauer: eine bestimmte Form von Individuation zu retten, die sich, der soziologischen Diagnose zufolge, in Auflösung befindet, oder die es, wie Horkheimer, Adorno und Marcuse radikaler formulierten, bereits nicht mehr gibt.32 Wird die Freudsche Theorie als eine naturwissenschaftliche, also als eine allgemeine Theorie des Menschen, missverstanden, bleibt ihr historischspezifischer Charakter verdeckt – sie wird zu einer Illusion, so erbaulich und trügerisch wie andere. Die Inflation der Ich- und Selbst-Psychologien, die seit Jahrzehnten den Markt der Psychotherapien dominieren, zeugt von dem (vergeblichen) Versuch,

29

An Frederick Hacker schrieben Horkheimer und Adorno (aus Frankfurt am 02.03.1951) im Hinblick auf ein gemeinsames Forschungsprojekt: „Als Zentrum dessen, was zunächst in Angriff genommen werden soll, möchten wir die Frage nach dem Ziel der Psychoanalyse aufwerfen. [. . .] Theoretisch handelt es sich dabei um den Gegensatz der Analyse als einer Methode zur echten aufklärenden Befreiung zu einer bloßen Technik gesellschaftlicher Anpassung – einen Widerspruch, der in Freud keineswegs eindeutig entschieden ist und zunächst einmal in all seiner Schärfe herausgearbeitet werden muss. [. . .] Die Erforschung des Funktionswandels der psychoanalytischen Technik sollte sich ebenso auf die Orthodoxie und ihre Gefahren wie auf die komplementären der revisionistischen Richtungen erstrecken. Das Ganze muss unter dem Gesichtspunkt stehen, die objektiven wissenschaftlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, durch eine wirklich verantwortliche Selbstkritik der Analyse jene Mängel zu überwinden und die eigentlich progressiven Elemente durchzusetzen. [. . .] Es sollte eindeutig klar werden, dass die Forschungen in letzter Instanz auf die Praxis abzielen, dass aber gerade die zu rasche und unvermittelte Wendung auf die Praxis [. . .] eine Hauptgefahr der gegenwärtigen Psychoanalyse [. . .] bildet.“ (Horkheimer 1996a, S. 194 f.). 30 „Als der Gedanke der Welt erscheint [die Philosophie] erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, dass erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfasst, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut.“ (Hegel 1821/1986, S. 28). 31 Vgl. dazu das Protokoll der (5.) Diskussion zwischen Horkheimer und Adorno am 19.01.1939 (Horkheimer 1985b, S. 451–456). 32 „Die angeblich so destruktive Analyse will das Individuum retten, das es schon gar nicht mehr gibt.“ (Horkheimer 1985b, S. 441) und (Marcuse 1963/1984, S. 60–78).

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das Verlorene, die relative personale Autonomie bürgerlicher Individuen, in einer Gesellschaft der Kapitalmagnaten, Angestellten- und Arbeitslosen-Heere zu restituieren.

2.2

Tugendterror und Thermidor: Quellen der Grausamkeit

In einem (1928 notierten) Aphorismus Horkheimers wird das Verhältnis der Psychologie (und das heißt sowohl der Beschaffenheit der vergesellschafteten Subjekte als auch der Wissenschaft, die darüber Auskunft gibt) zur Geschichte bündig wie folgt bestimmt: „Eine materialistische Geschichtsschreibung ohne genügende Psychologie ist mangelhaft. Psychologistische Geschichtsschreibung ist verkehrt.“ (Horkheimer 1934b/1987, S. 368) Marxistische Theoretiker hatten in der Regel die „Psychologie“ der (Klassen-)Individuen – ihr empirisch ermittelbares Bewusstsein – objektivistisch (zugunsten eines ihnen aufgrund ihrer sozialen Lage „zurechenbaren“ Bewusstseins) beiseitegeschoben (Lukács 1920/1968, S. 218–256); die psychologische Wissenschaft hielten sie im wesentlichen für eine Form von „falschem“ Bewusstsein. Horkheimers Verdikt, wonach eine psychologistisch orientierte Historiografie eine „verkehrte“ ist, galt Versuchen, geschichtliche Prozesse durch den Rekurs auf die Beschaffenheit der in sie verwickelten Individuen, also auf deren vermeintliche „Natur“ zu erklären, ohne den Kontext, die variablen gesellschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, in deren Rahmen gerade „so“ beschaffene Individuen sich herausbilden, und eine Psychologie, die sie beschreibt und mit ihnen rechnet, konzipiert wird.33 Der unscheinbare Satz, wonach die materialistische Geschichtsschreibung defizitär ist, wenn sie ohne Psychologie auszukommen sucht, benennt ein Manko und begründet eine folgenreiche Neuerung. Dem russischen Marxisten Plechanow war „Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“ zum Problem geworden. (Plechanow 1898/1945)34 Um dieses Problem zu lösen (Deut-

Vgl. dazu Horkheimers Auseinandersetzung mit Machiavelli, dem „erste[n] Geschichtsphilosoph [en] der Neuzeit“ (1930), und seinen wenig später (1931) gehaltenen Vortrag über „Geschichte und Psychologie“. (Horkheimer 1930/1987, S. 191–204). 34 Plechanow suchte unter Berufung auf Hegel Fatalismus und Voluntarismus zu versöhnen: Die russischen Marxisten „erhoben sich zum Monismus. Ihrer Meinung nach wird der Kapitalismus durch den Gang seiner eigenen Entwicklung zu seiner eigenen Negation“ und zur Verwirklichung ihrer Ideale führen. „Das ist historische Notwendigkeit.“ Der Marxist muss als Werkzeug dieser Notwendigkeit dienen, „sowohl kraft seiner gesellschaftlichen Lage als auch infolge seines durch diese Lage erzeugten geistigen und sittlichen Charakters. Das ist ebenfalls eine Seite der Notwendigkeit“ (Plechanow 1989/1945, S. 11). Plechanow schloß sich im weiteren Thomas Carlyle (On Heroes and Hero Worship and the Heroic in History, 1841) an: „Der große Mann ist [. . .] ein Beginner, denn er blickt weiter als die anderen und will stärker als die anderen. [. . .] Die soziale Geistesverfassung beeinflussen, heißt die geschichtlichen Geschehnisse beeinflussen. In gewissem Sinne kann ich also doch Geschichte machen, und ich brauche nicht zu warten, bis sie ‚gemacht ist‘.“ (Plechanow 1989/1945, S. 41). 33

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scher 1963, S. 211–245; Novack 1974, S. 97–111)35 war es – Horkheimer zufolge – nötig, endlich eine „genügende“ Psychologie zu entwickeln, nämlich eine solche, die ein (für eine verändernde Praxis) zureichendes Verständnis der vergangenen wie der aktuellen Geschichte ermöglicht, ohne dass der Geschichtstheoretiker darüber auf einen psychologistischen Reduktionismus zurückfiele.36 Im Kontext der „ökonomischen Geschichtsauffassung“ (Horkheimer 1931a/1988, S. 51) ändere sich der Stellenwert der Psychologie. Habe man sie, sofern es um das Verständnis von Geschichte geht, bis hin zu Wilhelm Dilthey für die eigentliche „Grundwissenschaft“ gehalten, so werde ihre Bedeutung nun auf die einer „Hilfswissenschaft“ beschränkt. Allerdings handele es sich – besonders in Krisenzeiten – um eine „unentbehrliche“ Hilfswissenschaft, da die „Rolle der Individuen“ sich „nicht in bloße Funktionen der ökonomischen Verhältnisse auflösen“ lasse. (Horkheimer 1931a/1988, S. 57)37 „Die moderne Psychologie“, von der Horkheimer als einer „unentbehrlichen“ spricht, ist die von den allermeisten Marxisten (den einen Trotzki ausgenommen (Chemouni 2004)) übersehene oder verkannte Freudsche (Horkheimer 1931a/1988, S. 64),38 soweit sie sich in den „Rahmen der [Marxschen] Geschichtstheorie“ (Horkheimer 1931a/1988, S. 65) einfügen lässt (also ohne psychologistische Pseudoerklärungen auskommt). Mit ihrer Hilfe lässt sich „die ökonomistische Entstellung der Lehre vom Menschen“ (Horkheimer 1931a/1988, S. 63) korrigieren. Mit der „Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung [. . .] gewinnen die relativ konstanten Momente in der psychischen Struktur an Gewicht und dementsprechend auch die allgemeine Psychologie an Erkenntniswert. In stabileren Perioden scheint die bloße Unterscheidung gesellschaftlicher Charaktertypen auszureichen, jetzt tendiert die Psychologie dazu, die wichtigste Quelle zu werden, aus der über die Seinsweise des Menschen etwas zu erfahren ist.“ (Horkheimer 1931a/ 1988, S. 68 f.) Horkheimers Vortrag, der im Juli 1931 in der Frankfurter Kant-Gesellschaft gehalten (und dann im Doppel-Heft 1/2 der Zeitschrift für Sozialforschung publiziert (Horkheimer 1931b)) wurde, bildet das Komplement zu seiner ein halbes Jahr zuvor

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Trotzki, Deutscher und Novack knüpfen an ein Gedankenexperiment Plechanows an. (Plechanow 1898/1945, S. 13). 36 „Wir können heute Machiavellis ontologische Setzung einer unabänderlichen Psyche des Menschen vermeiden, ohne dabei auf psychologische Erklärungen in der Geschichte verzichten zu müssen.“ (Horkheimer 1930, S. 202). 37 „Das Ökonomische erscheint als das Umfassende und Primäre, aber die Erkenntnis der Bedingtheit im einzelnen, die Durchforschung der vermittelnden Hergänge selbst und daher auch das Begreifen des Resultats hängen von der psychologischen Arbeit ab.“ (Horkheimer 1931a/1988, S. 65) „Der Begriff der ‚habitude‘, dem die französische Forschung bei der Behandlung sozialpsychologischer Fragen eine wichtige Funktion zuweist, bezeichnet vortrefflich das Resultat des Bildungsprozesses: die Stärke der zum sozial geforderten Handeln treibenden psychischen Dispositionen.“ Will man den Bildungsprozess selbst erforschen, so ist dies „nur auf Grund von Erfahrungen möglich, die in der Analyse von Einzelpersonen zu gewinnen sind.“ (Horkheimer 1931a/1988, S. 60 f.). 38 Horkheimer nennt und zitiert in diesem Zusammenhang verschiedenartige Vorläufer Freuds wie E. Bernheim, G. Tarde, G. Le Bon, W. McDougall und W. Dilthey.

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konzipierten programmatischen Antrittsvorlesung „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung“ (Horkheimer 1988a, S. 20–35). Bescheiden resümierte er seinen Vortrag vor den Hörern der KantGesellschaft wie folgt: „Mit diesen Ausführungen habe ich Ihnen nicht mehr als einige Gesichtspunkte zur Frage nach dem logischen Ort der Psychologie in einer Geschichtstheorie, die der gegenwärtigen Situation entspricht, geben können.“ In Wahrheit hatte er darin die beiden Projekte umrissen, die in den folgenden Jahrzehnten zum Spezifikum der „Kritischen Theorie“ – beziehungsweise der (später so genannten) „Frankfurter Schule“ – wurden: die (kritische) Adoption der Psychoanalyse (also das, was Adorno später die „Wendung aufs Subjekt“ (Adorno 1959/1977, S. 571, 1966/1977, S. 676) nannte) und die Weiterführung der (Marxschen) Kritik der Hegelschen Geschichtsphilosophie und Logik.39 Als ein Modell der ihm vorschwebenden, neuartigen materialistischen Geschichtsschreibung – diesseits von Ökonomismus und Psychologismus – kann (neben der großen Einleitung zu dem 1936 veröffentlichten Sammelband Autorität und Familie (Horkheimer 1935/1988, S. 336–417)) Horkheimers (im selben Jahr veröffentlichter) Essay „Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters“ (Horkheimer 1936/1988, S. 9–88) gelten, einer seiner bedeutendsten revolutionären Traktate aus den dreißiger Jahren. In den drei Kapiteln seines Textes geht es ihm darum, den „Lehrgehalt“ der großen bürgerlichen Anthropologie [freizulegen, H.D.] „und für die psychologische Erkenntnis [zu gewinnen, H.D.].“ (Horkheimer 1936/1988, S. 12) Machiavelli auf der einen, Thomas Morus auf der anderen Seite haben im frühen 16. Jahrhundert einander widerstreitende, pessimistisch beziehungsweise optimistisch getönte Menschenbilder entworfen, die es als politisch notwendig erscheinen ließen, die Individuen zu bändigen oder sie zumindest zu bilden. Soziologisch betrachtet, zeigt sich, dass (und warum) beide Konzeptionen hinsichtlich ihrer Tugendlehre übereinstimmen. Im Widerspruch zur ökonomischen Alltagspraxis in der Konkurrenzgesellschaft verdammen sie, diese Praxis (im Einklang mit der idealistischen Moral) verleugnend, den „Egoismus“. Die Wendung gegen „Epikureismus“, „Lust und Eigensucht“ entspringt zum einen der Notwendigkeit, die Konkurrenz einzudämmen, zum andern der Notwendigkeit, die Aggressionen ausgebeuteter Massen gegen diese selbst zu richten, sie durch die erzwungene Verinnerlichung repressiver Normen vom Handeln gemäß ihrem eigenen Interesse abzuhalten. In der Überzeugung, der Mensch sei von Grund auf verderbt und müsse moralisch in Schach gehalten werden, kommen 39

Vgl. dazu Horkheimers, ebenfalls 1932 veröffentlichten Beitrag zur Festschrift für Carl Grünberg: „Hegel und das Problem der Metaphysik.“ (Horkheimer 1987, S. 295–308) Ferner sein Memorandum „Idee. Aktivität und Programm des Instituts für Sozialforschung“ aus dem Jahr 1938, in dem u. a. von „in den nächsten zwei Jahren“ abzuschließenden und zu publizierenden Büchern die Rede ist, an erster Stelle von „eine[r] dialektische[n] Logik“: „Es handelt sich nicht um eine formalistische Erkenntnistheorie, sondern um eine materielle Kategorienlehre. [. . .] Eine Bestimmung der philosophischen Begriffe ist immer zugleich eine Darstellung der menschlichen Gesellschaft in ihrer geschichtlich gegebenen Verfassung. In dieser Hinsicht fasst das geplante Buch die Logik in ähnlicher Weise auf wie Hegel in seinem großen Werke, nämlich nicht als Aufzählung abstrakter Denkformen, sondern als Bestimmung der wichtigsten inhaltlichen Kategorien des fortgeschrittensten Bewusstseins der Gegenwart.“ (Horkheimer 1985b, S. 156 f.).

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Machiavelli, Luther und Calvin überein, und nicht nur sie, sondern ebenso, einige Jahrhunderte später, der Rousseau-Schüler Robespierre, der um der „Tugend“ willen zum Terror griff (und in diesem Zusammenhang (Horkheimer 1936/1988, S. 15) in Horkheimers Essay figuriert). „In der Neuzeit wird das Herrschaftsverhältnis ökonomisch durch die scheinbare Unabhängigkeit der wirtschaftenden Subjekte, philosophisch durch den idealistischen Begriff einer absoluten Freiheit des Menschen verdeckt und durch Bändigen und Ertöten der Lustansprüche verinnerlicht.“ „Die Fähigkeit zu unmittelbarer Lust“, schreibt Horkheimer, ist „durch die idealistische Predigt der Veredelung und Selbstverleugnung geschwächt, vergröbert, in vielen Fällen ganz verloren“ (Horkheimer 1936/1988, S. 21), und das gilt nicht nur für die ausgebeuteten und verelendeten Massen, sondern auch für die Bourgeoisie. Vor diesem Hintergrund wird „die unrationalisierte, das heißt ohne Rechtfertigungsgründe erstrebte freie Lust“, die als „gemeine“ verpönt wird, zum Desiderat. (Horkheimer 1936/1988, S. 20)40 Horkheimer, Marcuse und Adorno, der ihm nach der Lektüre des „Egoismus“-Essays schrieb, dieser habe ihn „bis ins innerste bewegt und ergriffen“, und er sei „mit dieser Arbeit bis ins Zentrum einverstanden“ (Adorno und Horkheimer 2003, S. 174),41 stellen sich in die Tradition des (antiken und Aufklärungs-) Hedonismus.42 „Sofern in dem materialistischen Protest des Hedonismus ein sonst verfemtes Stück menschlicher Befreiung aufbewahrt ist, ist er mit dem Interesse der kritischen Theorie verbunden.“ Die hedonistischen Richtungen der Philosophie haben gegen die „Verinnerlichung des Glücks, welche die Anarchie und Unfreiheit der äußeren Daseinsverhältnisse als unvermeidlich hinnimmt, [. . .] protestiert. Wenn sie das Glück in die Lust verlegen, so war dadurch gefordert, dass auch die sinnlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse des Menschen ihre Befriedigung finden sollten, dass auch in ihnen der Mensch zum Genuss seines Daseins gelangen sollte – ohne Versündigung gegen sein Wesen, ohne Schuld und Scham“ (Marcuse 1938/1979, S. 250–285). Im zweiten Kapitel seiner Studie vergleicht Horkheimer den Verlauf frühbürgerlicher und bürgerlicher Aufstandsbewegungen aus vier Jahrhunderten sowie Ideologie und Praxis der in ihnen hervorgetretenen (klein-)bürgerlichen Volkstribunen. Die von ihm entwickelte Genealogie bürgerlicher Rebellionsführer, Ideologen und Tyrannen beginnt mit Cola di Rienzo und führt über Savonarola, Luther und Calvin

Entsprechend heißt es bei Adorno: „Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte.“ (Adorno 1951a/1996, S. 68). 41 Adornos im Herbst 1937 und Frühjahr 1938 in London und New York geschriebener (und erst 1952 beziehungsweise 1964 in Buchform veröffentlichter) Versuch über Wagner „hängt aufs engste zusammen mit Horkheimers Studie [. . .] zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters“. Rienzo nennt Adorno, Horkheimer folgend, den „letzten römischen Tribunen und ersten bürgerlichen Terroristen“. Dessen „römische Erhebung wendet sich gegen den libertinen Lebensstil, nicht gegen die feindliche Klasse.“ (Adorno 1964/1971, S. 11 f.) – Vgl. auch Benjamins Brief (aus Paris) an Horkheimer vom 13.10.1936 (Benjamin 1999, S. 392 f.). 42 In einem Brief vom 06.07.1937 sprach Adorno von sich selbst und Horkheimer als von „verdüsterte[n] Hedonisten“. (Horkheimer 1995, S. 195). 40

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zu den Brüdern de Witt und dann zu Robespierre. Horkheimer liest die Geschichte dieser Ideologen und Tribunen mit den Augen eines vertriebenen Intellektuellen, der um 1936 nicht nur Zeuge der pompösen Auftritte Mussolinis und Hitlers war,43 sondern auch derjenigen des neuen Pharaos im Kreml, der eben daranging, die Leninsche Revolutionspartei zu liquidieren und jedwede potenzielle Opposition in einem ungeheuren Blutbad zu ersticken. „Bei aller Verschiedenheit ihres historischen Charakters und ihrer Funktion für den gesellschaftlichen Fortschritt zeigen [die volkstümlichen Erhebungen, H.D.] gemeinsame sozialpsychologische Erscheinungen, die von der Gegenwart aus gesehen besonders wichtig werden.“ (Horkheimer 1936/1988, S. 23 f.)44 In jedem Fall geht es ihren Tribunen zunächst um die Mobilisierung der städtischen Plebs gegen den Adel mit Hilfe (historisch) weit ausgreifender, „utopischer“ Zielsetzungen, sodann aber um die Niederhaltung eben dieser rebellischautoritären plebejischen Massen, die unter der Losung Gleichheit und Gerechtigkeit über die dem Bürgertum erwünschten – und historisch erreichbaren – Ziele hinausdrängen. Je mehr die Kluft zwischen den Interessen der Unterschicht und denjenigen der Tribunen, die versuchen, den politischen Realismus der Bourgeoisie und den Utopismus ihrer Gefolgschaft unter einen Hut zu bringen, wächst, desto „irrationaler“ wird das Gebaren der Demagogen.45 Sie inszenieren sich als neue Cäsaren, Propheten der Tugend, Auserwählte eines „höchsten Wesens“, Zeremonienmeister von Festen der Vernunft und der Freiheit.46 Und wo die Verschiebung der unerreichbaren Forderungen ins Imaginäre nicht genügt, wenden die Tribunen (in der französischen Revolution: die Jakobiner) sich gegen das Volk (die Sansculotten), dem sie ihren Aufstieg im gleichen Maße verdanken wie ihren weltlichen und geistlichen Protektoren und das sich gegen sie wendet, sobald die Tribunen entzaubert sind, sobald die Illusion, sie würden sich ganz auf die Seite der Plebs schlagen, zerstoben ist. Das ideologische Programm dieser Anführer ist es, die Gewalt des Aufruhrs umzulenken, die Rebellion gegen äußere Herrschaft durch Repression und Predigt in asketische Selbstbeherrschung zu transformieren, sie zu verinnerlichen, zu spiritualisieren. Die Geistund Genussfeindschaft,47 die sich als charakteristischer Zug gleichermaßen bei Savonarola wie bei Robespierre findet (bei dem der „Tugend“-Fanatismus in Terro-

„Inszenierung[en] einer bürgerlichen Pseudorevolution mit radikalen völkischen Allüren, entgegen einer möglichen Neuordnung der Gesellschaft überhaupt“. (Horkheimer 1936/1988, S. 72). 44 (Von mir unterstrichen, H. D.). 45 „Die Phantastik ist eine Erscheinungsform ihres Berufs.“ (Horkheimer 1936/1988, S. 67). 46 „Durch Festespomp sucht der Tribun/Zu übertäuben unsere Not;/Ein feierlich Tedeum heut/Soll danken für den Blutʼgen Sieg“, erkennt Baroncelli, ein römischer Bürger, in Wagners Oper „Rienzi“. (Wagner 1840/1966, S. 109) – „Eigenlob und Pomp – Züge der gesamten Wagnerschen Produktion und Existentialien des Faschismus – entspringen der Ahnung von der Unbeständigkeit des bürgerlichen Terrors, von der Todgeweihtheit des Heroismus, der sich selbst proklamiert“, heißt es in Adornos Kommentar (Adorno 1964/1971, S. 13). 47 „Eine geistfeindliche Tendenz macht sich [. . .] in all diesen Volkserhebungen geltend. Sie hängt tief damit zusammen, dass die Massen zu einer selbständigen, auf Befriedigung ihrer eigenen Interessen abzielenden Politik noch nicht fähig sind und ihre Wünsche auf dem Umweg über fetischisierte Personen und Ideen verinnerlichen müssen.“ (Horkheimer 1936/1988, S. 59). 43

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rismus umschlug48), ist, ebenso wie die Grausamkeit, die sie im Kampf gegen Widersacher und Abweichler, gegen unzuverlässige Gefolgsleute und rechte wie linke Oppositionen, vor allem aber auch gegen „Juden, Türken und Papisten“, die aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen werden (Adorno 1964/1971, S. 46), an den Tag legen, nicht Ausdruck ihres individuellen Charakters, sondern Symptom ihrer zwiespältigen historischen Funktion. „Der Führer ist nur der potenzierte Typus. Seine charakterologische Struktur entspricht [derjenigen] der Gefolgschaft. Die Massenschundliteratur des Zeitalters enthält dasselbe unvermittelte Durcheinander von Blutrausch und Tugend, Großsprecherei und Bescheidenheit, das auch im Führer angebetet wird. In seiner Person ist diese Mischung ‚naturgewachsen‘.“ (Horkheimer 1936/1988, S. 67) Die Unfähigkeit der städtischen Mehrheitsbevölkerung, sich selbst zu organisieren und ihr Interesse durchzusetzen, macht sie wundersüchtig. Die Wundersüchtigen suchen sich einen tugendhaften, „unbestechlichen“ Wundertäter, ein Sprachrohr ihres Ressentiments, einen Vorkämpfer, auf den sie eine Zeitlang ihre Hoffnung setzen. Der Wunderglaube verleiht ihrem Helden die Aura des „Charismas“. Doch wehe dem Tribunen, wenn er sie enttäuscht; gleichgültig schaut dann die Menge, die ihn noch gestern umjubelte, seinem Untergang zu, wenn sie nicht selbst für seinen „Verrat“ an ihm Rache nimmt. Cola di Rienzo (1313–1354), der vom Papst Clemens VI. zum „Notar“ des römischen Schatzamts bestellt wurde, führte, beseelt von der Idee der Volkssouveränität und der Wiederherstellung des römischen Imperiums, im Mai 1347 einen erfolgreichen Aufstand gegen den römischen Stadtadel (der Colonna und Orsini) an, der unter anderen von Petrarca enthusiastisch begrüßt wurde. 49 Als Diktator kleidete er sich in altrömische Gewänder, führte eine neue Zeitrechnung ein und sorgte etwa ein halbes Jahr lang tatsächlich für eine Verbesserung der Versorgung und der Sicherheit. Als seine vormaligen Gönner ihm die Finanzmittel sperrten, sah er sich zur Erhöhung der Verbrauchssteuern genötigt, während er an seiner prunkvollen Lebensführung und an aufwendigen Zeremonien festhielt. So fiel die römische Plebs, die ihm zunächst zugejubelt und ihn mit Waffen gegen die adlige Konterrevolution verteidigt hatte, bald von ihm ab. Vom Papst als Häretiker gebannt, musste er aus der Stadt fliehen. Sieben Jahre später vom Nachfolge-Papst Innozenz VI. neuerlich als „Senator“ Roms eingesetzt, fiel er einem zweiten Volksaufstand, der diesmal vom Adel organisiert wurde, zum Opfer.50

Der zwischen Plebejern und Adel hin- und hergerissene „Adriano“ in Wagners „Rienzi“ spricht den Tribunen als „blutʼgen Freiheitsknecht“ an. (Wagner 1840/1966, S. 95). 49 „Wir ordnen an, erklären und proklamieren, dass die heilige Stadt Rom Hauptstadt der Welt und Fundament des christlichen Glaubens sei und alle Städte Italiens frei sein sollen. Von diesem Augenblick an bewirken, erklären und proklamieren wir, dass alle Völker und alle Städte Italiens Bürger Roms seien und die Vorrechte der römischen Freiheit genießen.“ Cola di Rienzo, zitiert nach (Garin 1986, S. 440). 50 „Fortan wortführend“, resümiert aber Der Große Ploetz, „ist die aufsteigende Mittelschicht (viele Großviehzüchter, die Adels- und Kirchenbesitz aufkaufen).“ (Der Große Ploetz 2008, S. 551). 48

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Horkheimers Galerie der Volkstribunen, die immer auch falsche Messiasse und Schreckensmänner waren, reicht von Cola die Rienzo bis zu Maximilien Robespierre. Die Vergegenwärtigung dieses Typus dient Horkheimer zur Markierung der historischen Schranke bürgerlicher Freiheitsbewegungen.51 Keine dieser Erhebungen konnte je dem „unbedingte[n] Glücksverlangen“ (Horkheimer 1936/1988, S. 19) der Menschen, die daran sich beteiligten, Genüge tun. In der Psychologie der Tribunen, in ihrer Narrheit und Exaltiertheit „macht sich ihre Rolle in der Gesellschaft geltend: sie verteidigen die besitzenden Schichten sowohl gegen alte, hemmende Privilegien, die auf der Gesamtgesellschaft lasteten, als auch gegen die Ansprüche der Unterklasse im eigenen System. Ihr Freiheitsdrang ist somit abstrakt und relativ. Die Abhängigkeit wird“ – geht es nach ihnen – „nur geändert, nicht abgeschafft.“ (Horkheimer 1936/1988, S. 35) Horkheimers Präsentation der bürgerlichen Tribunen, besonders aber sein Porträt Robespierres erregte das Missfallen Ernst Blochs, der in seinem – in den vierziger Jahren im amerikanischen Exil begonnenen, in der DDR abgeschlossenen und 1961 in Frankfurt veröffentlichten – rechtsphilosophischen Traktat „Naturrecht und menschliche Würde“ den Autor des Scheinradikalismus bezichtigte und gegen ihn eine Interpretation der Schillerschen Literaturtheorie ins Feld führte, die Georg Lukács (dessen politische Optionen Bloch teilte) 1937 in der Moskauer Emigration veröffentlicht hatte. Horkheimer leugne, schrieb Bloch, „die bürgerliche Revolution als Stammbaum der proletarischen“, „okuliere“ „sie dafür aber gleichsam in den Faschismus“ hinein. Das mache nicht nur „die proletarische Revolution notwendig geschichtslos“, sondern führe, schlimmer noch, dazu, zu „leugnen, dass proletarische Revolution, wenn sie erschienen ist [. . .], eine sei.“ (Bloch 1961, S. 196–198) Hier schieden sich die Geister. Setzte Bloch triumphalistisch auf den Stafettenlauf der Revolutionen und auf ihren ideologischen „Vorschein“, so entzauberte der an Freud geschulte Horkheimer skeptisch ihre Führer, die Tugendterroristen, und deren „Ideale“.52 Auf das Kap. 19 (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) folgt in Blochs „Naturrecht und menschliche Würde“ dann bald das Kap. 21 (Subjektives, objektives Recht . . .), in dem einer der Schreckensmänner des 20. Jahrhunderts, der furchtbare Jurist Andrei Wyschinski, der als Generalstaatsanwalt in Stalins Dienst die Führung der Lenin-

Auch in der Ideologie von der Volkssolidarität „stecken [. . .] Antriebe, die nicht bloß über die feudale, sondern über die Klassengesellschaft überhaupt hinausweisen“, heißt es bei Horkheimer in einem „Zwei Elemente der Französischen Revolution“ überschriebenen Aphorismus der Dämmerung, „aber sie sind mehr in den Schriften der Aufklärer als in dem eine Zeitlang zur Herrschaft gelangten sadistischen Kleinbürgertum zu finden.“ (Horkheimer 1934b/1987, S. 441). 52 Benjamin schrieb (am 13.10.1936 aus Paris) an Horkheimer „von dem großen Eindruck“, den dessen „Egoismus und Freiheitsbewegung“ auf ihn gemacht habe, vor allem die Kritik der „konventionellen Moral“ und „die Kritik der französischen Revolution nach ihrer ideologischen Seite“. „Ich glaube, dass die politische Prägung Ihrer These, die den Revers ihrer philosophischen Wahrheit darstellt, niemandem eindrücklicher sein kann, als dem, der unter den hiesigen französischen Intellektuellen zu Hause ist, und mit den Illusionen Bekanntschaft gemacht hat (und mit den Folgen dieser Illusionen wer weiß welche Bekanntschaft noch machen wird!), die sich aus dem Kult der großen Revolution ergeben, oder ihn vielmehr bilden.“ (Benjamin 1999, S. 392 f.) Bloch schloss sich nicht nur dem „Kult“ der Französischen Revolution, sondern auch dem um Stalin an. . .. 51

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Partei in Lügenprozessen (die Bloch in der Zeit des großen Terrors ohne Not verteidigt hatte53) zu Folter und Tod verurteilte (Waksberg 1991), schlicht als einer unter anderen sowjetischen Rechtstheoretikern genannt wird, wenn auch als einer, dessen Formulierungen – wie Bloch im Anschluss an einen (alsbald gemaßregelten) Kritiker Wyschinskis, Alfred Stalgewitsch (1948), schreibt – von „inhaltloser Gewalthaftigkeit“ (Bloch 1961, S. 253–259) zeugen.54 Horkheimer rekurriert auf die bürgerlichen (und frühbürgerlichen) Revolutionen, weil in diesen Ausnahmesituationen „das bürgerliche Prinzip“, der grausam geführte, wölfische Kampf aller gegen alle, deutlicher hervortritt als im Alltag der konkurrierenden „vereinzelten Einzelnen“, die letztlich durch den „Geldnexus“ (Marx) zusammengehalten werden. Im Kontext seiner Soziologie der Grausamkeit,55 formuliert Horkheimer erstmals eine (über seiner „Notizen“ aus den Jahren 1926–3156 hinausgehende) Kritik der Freudschen Psychoanalyse. Hatte Adorno 1927 die Freudsche Lehre vom Bewusstsein und vom Unbewusstem mit Hilfe der neukantianischen Transzendentalphilosophie ihres gemeinsamen Frankfurter Lehrers Hans Cornelius von den seit dem 19. Jahrhundert beliebten Ontologien des Unbewussten abgesetzt, so favorisierte Horkheimer, neun Jahre später (im Einklang mit der damaligen „Freudschen Linken“ der Reich, Fenichel und Fromm), die „frühen“ Freud-Schriften, während er an den „späteren“ scharfe Kritik übte. Seien Freuds Kategorien ursprünglich (also in den Studien über Hysterie, der Traumdeutung und 53

Vgl. dazu Blochs Artikel zu den Moskauer Schauprozessen aus den Jahren 1937/38 (Bloch 1972) Vgl. dazu auch (Dahmer 1977/2009, S. 534–548) – Horkheimers These über die Funktion des Terrors in den Revolutionen (und Gegenrevolutionen) war auch ein Kommentar zu den Stalinschen Massenverbrechen: Er schrieb, das rationale Ziel des Terrors bestehe „darin, den Gegner einzuschüchtern.“ Die grauenvollen Akte gelten dem Feind, sind Schutzmaßnahmen nach außen und innen. Der Terror verfolgt jedoch auch eine andere Absicht, die seinen Urhebern nicht immer zu Bewusstsein kommt, seltener von ihnen zugestanden wird: die Befriedigung der eigenen Gefolgschaft. [. . .] Dass alle gleichermaßen nichts sind und darauf reduziert werden, sobald sie meinen, mehr zu sein –, diese Brutalität gegenüber dem persönlichen Schicksal [. . .] stellt die Guillotine jedermann vor Augen [. . .].“ Sie „symbolisiert die negative Gleichheit, diese schlechteste Demokratie, die mit ihrem eigenen Gegensatz, der völligen Missachtung der Person identisch ist. Entsprechend tritt in den Gefängnissen und Tribunalen der bürgerlichen Freiheitsbewegungen und Gegenrevolutionen zur Grausamkeit noch die moralische Erniedrigung, Beschimpfung und Beleidigung der Verdächtigen als kennzeichnende Behandlungsart.“ (Horkheimer 1936/1988, S. 76 f.) Man erinnert sich hier der Schimpfkanonaden Wyschinskis, der die von ihm angeklagten, vom „Führer der Völker“ im Kreml zur Auslöschung bestimmten bolschewistischen Parteiführer als „Abschaum“, „räudige Hunde“ und „verfluchtes Geschmeiß“ titulierte. (Waksberg 1991, S. 99–168; Dahmer 2008/2009, S. 488–520). 54 Wyschinski ließ die Angeklagten der Moskauer Schauprozesse ohne jeden Beweis, lediglich aufgrund der von ihnen erpressten phantastischen „Geständnisse“ zum Tode verurteilen. Bucharin erklärte in seinem „Schlusswort“ (am 12.03.1938), es handele sich hier um den Rückfall auf ein „mittelalterliches Rechtsprinzip“. (Zitiert nach Waksberg 1991, S. 167). 55 Adorno bezeichnete Horkheimers „Egoismus und Freiheitsbewegung“ kurzerhand als dessen „Sadismusarbeit“. Adorno, Brief an Horkheimer vom 29.06.1936 (Horkheimer und Adorno 2003, S. 174). 56 „Zur Charakterologie“; „Schwierigkeit eines psychoanalytischen Begriffs“; „Eine Neurose“ (Horkheimer 1934b/1987, S. 312–452).

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in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie) der „Wechselwirkung zwischen äußeren [gesellschaftlichen] und inneren Faktoren“ gerecht geworden, so sei in den Arbeiten der zwanziger und dreißiger Jahre „das historische Moment in seiner Begriffsbildung zugunsten des rein biologischen mehr und mehr zurückgetreten.“ Horkheimer hat hier das philosophische Kernstück der Freudschen Metapsychologie im Auge, die 1920 (in Jenseits des Lustprinzips (Freud 1920/1963, S. 1–69)) entwickelte dritte Triebtheorie, die den zuvor unverstanden gebliebenen Phänomenen der „Unlustbejahung“ (Sándor Ferenczi), also des Masochismus und Sadismus, gerecht werden sollte. Tatsächlich bildete die Spekulation über den Antagonismus von Eros und Thanatos den Rahmen für Freuds Explikation seiner Kulturkritik (von Massenpsychologie und Ich-Analyse bis zu den Moses-Studien) – also der impliziten Voraussetzung der von ihm entwickelten anamnestischen Therapie. „Je mehr [Freud, H.D.] sich umfassenderen soziologischen, geschichtlichen und philosophischen Problemen nähert“, urteilt Horkheimer, „desto deutlicher tritt der liberalistische und weltanschauliche Zug seines Denkens hervor.“ In der Deutung von Hass, Destruktivität und Grausamkeit als einer „angeborenen Neigung des Menschen zum Bösen“, die sich auf einen in ihm (wie in allem Lebenden) wirkenden „Todestrieb“ zurückführen lasse und beständig der kulturellen Repression bedürfe (Horkheimer 1936/1988, S. 81; Freud 1930/1963, S. 478 ff.), scheine Freud sich der bürgerlichchristlichen Doktrin von der „verderbten“ Menschennatur anzuschließen (und damit hinter den Nonkonformismus seiner früheren Schriften zurückzufallen): „Er weiß nicht, wie sehr diese neue Phase seiner Lehre und Bewegung bloß die soziale und religiöse Konvention wiederholt.“ (Horkheimer 1936/1988, S. 83) Was Horkheimer dem „frühen“ Freud konzediert, dass sein „biologischer“ Materialismus zum historischen tendiert, erkennt er in dessen späteren Arbeiten nicht. So heißt es, Freud verallgemeinere und naturalisiere die epochenspezifische Ausprägung menschlicher Destruktivität (die Notwendigkeit grausamer Selbsterhaltung unter KonkurrenzBedingungen); er erkläre die Grausamkeit zwar „in letzter Linie aus dem Zwang zu geduldig ertragenem Elend“, falle dann aber nicht nur auf einen Psychologismus, sondern auf „biologistische Metaphysik“ zurück.57 Horkheimers Kritik greift indes-

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Horkheimers Kritik entspricht insoweit der von Wilhelm Reich vorgetragenen, dessen Massenpsychologie des Faschismus (Kopenhagen 1933) er – unbeschadet seiner (und Adornos) Kritik an Reichs feuerbachianischer Fetischisierung der Genitalität – als „eine theoretisch wichtige Fortführung innerhalb der Psychoanalyse“ würdigte (Horkheimer 1936/1988, S. 80). „Alle narzisstischen Regressionsphänomene wurden als Beweis für die Existenz des Todestriebes vorgebracht und sind doch nichts anderes als Reaktionen auf reale Versagungen der libidinösen Bedürfnisbefriedigung und [der, H.D.] Stillung des Hungers durch unsere Gesellschaftsordnung oder sonstige Einflüsse der Welt“, heißt es bei Reich. (Reich 1933, S. 285 f.; Fenichel 1935/1979, S. 361–371) – Zur Kritik an Reich siehe Adornos Brief (aus London) an Erich Fromm vom 16.11.1937, in dem er unter anderem schrieb: „Sie sehen, ich befinde mich hier, wie übrigens auch in anderen Stücken, im schärfsten Gegensatz zu Reich, der mit einer bei einem so begabten Psychologen kaum glaublichen Naivität auf den vormarxischen, feuerbachischen Standpunkt der ‚gesunden Sinnlichkeit‘ zurückgefallen ist, und auf dem Umweg über den Anarchismus ohne alle Frage beim Reformismus enden wird [. . .].“ (Adorno und Horkheimer 2003, S. 541) Vgl. ergänzend dazu Adornos Briefe an Horkheimer vom 24.11.1934 und vom 29.06.1936 (Adorno und Horkheimer 2003, S. 42, 175).

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sen zu kurz, weil er (an dieser Stelle) Freuds „uneigentliche“ Philosophie,58 die spezifische „Bildersprache [seiner] Psychologie“ für erneuerte Metaphysik hält und „die Anleihen bei der biologischen Wissenschaft“ – nämlich die von Freud zur Stützung seiner „Spekulation“ (beziehungsweise seiner „Hypothesen“) „über die letzten Dinge“ herangezogenen „Analogien“ (oder „Parallelen“) in den Schriften zeitgenössischer Biologen (A. Weismann, E. Hering) (Freud 1920/1963, S. 48–53) – als ein Bekenntnis zum Biologismus missversteht.59 Freuds Verweise auf Plato und Schopenhauer (Freud 1920/1963, S. 62, 99, 53) lässt Horkheimer (in diesem Zusammenhang) unbeachtet, und dass Freud seine („biopsychische“) Theorie vom „Zusammen- und Gegeneinanderwirken beider Urtriebe Eros und Todestrieb“ wenig später bei einem Philosophen des 5. Jahrhunderts (vor unserer Zeitrechnung), dem Vorsokratiker Empedokles, „wiederzufinden“ glaubte (Freud 1937/1961, S. 90–93), konnte der Autor von „Egoismus und Freiheitsbewegung“ 1936 noch nicht ahnen. Freuds „Spekulation“ ist weder eine „rein“ biologische, noch erscheint bei ihm die Grausamkeit als eine „unmittelbar biologisch bestimmte Grundtatsache des Seelenlebens“ (Horkheimer 1936/1988, S. 81). Von seiner „Trieblehre“ sagt Freud (zwölf Jahre nach Jenseits des Lustprinzips), sie sei „sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.“ (Freud 1932/1961, S. 101)60 Und er weiß, dass die „Beschreibung“ der fraglichen „Vorgänge“ ohne (tiefen-)psychologische „Bildersprache“ nicht möglich ist, mehr noch: „[wir, H.D.] würden sie [jene Vorgänge, H.D.] gar Freud unterschied „eigentliche“ Philosophen (wie Schopenhauer oder Nietzsche) von uneigentlichen wie den von ihm verehrten Gustav Theodor Fechner, der kosmologische Spekulationen mit physiologisch-physikalischer Empirie zu verbinden wusste und von dem er die Lehre vom LustUnlust-Prinzip übernahm. Die Freudsche „Philosophie“ steht in der Tradition seiner „Unglaubensgenossen“ Spinoza und Feuerbach und lässt sich als eine materialistische Diesseits-Philosophie charakterisieren, die ohne Gott und Naturvergottung auskommt, ohne den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und an ein „Jenseits“. (Dahmer 2009/2012, S. 87–110). 59 Dass es sich bei der Freudschen Theorie nicht um eine „eigentliche“, sondern um eine „uneigentliche“, nämlich nachmetaphysische handelt, pointiert en passant auch Adorno in einem Brief (aus Los Angeles vom 22.06.1944) an seine Eltern (in New York): „Mein Vortrag [in San Francisco, H.D.] war der größte Erfolg, den ich je als Sprecher in der Emigration hatte. Die ganzen Spitzen der Psychoanalyse, Bernfeld, Fenichel [. . .] waren dabei, und geradezu enthusiastisch [. . .]. Max [Horkheimer, H.D.] und ich waren immer psychoanalytisch interessiert, ohne uns der Analyse als einer Philosophie – die sie nicht ist – zu verschreiben. Es hat sich da nichts geändert, außer dass wir heute glauben, den Zusammenhang zwischen den unbewussten Prozessen in den Menschen, und den gesellschaftlichen zwischen ihnen tiefer zu begreifen als früher.“ (Adorno 2003a, S. 271) (Meine Unterstreichung, H.D.) Adorno berichtet hier über das von Ernst Simmel (Mitte Juni 1944) organisierte „Psychiatric Symposium on Anti-Semitism“, bei dem unter anderen Horkheimer, Fenichel und Simmel sprachen. (Simmel 1946b/1993). 60 1905 schrieb Freud in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie: „Unter einem ‚Trieb‘ können wir zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle [. . .]. Trieb ist [. . .] einer der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen.“ (Freud 1961, S. 67) (Meine Unterstreichung, H.D.) – Bei Paul Ricœur heißt es: Die Psychoanalyse „stellt uns niemals vor nackte Kräfte, sondern immer vor Kräfte auf der Suche nach einem Sinn.“ (Ricœur 1965/1969, S. 161). 58

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nicht wahrgenommen haben“.61 Freud war bewusst, dass uns die „erste“ Natur stets nur vermittelt durch die „zweite“ (durch Werkzeuge und Symbole, Sprache und Deutung) zugänglich ist.62 Sein eigentümliches Problem- und Arbeitsfeld war die als erste larvierte zweite Natur – die „Pseudonatur“.

2.3

„Positivismus“ und „Selbstbesinnung“

Die Freudsche Therapeutik hat es mit pseudonatürlichen Produkten der Lebens- und der Sozialgeschichte zu tun. Sie fasst diese notgedrungen zunächst objektwissenschaftlich (oder „szientistisch“) auf und sucht die (symptomatischen) „Institutionen“ mit Hilfe allgemeiner Erklärungen („Gesetzeshypothesen“) von bestimmten Ausgangs- oder Rand-Bedingungen herzuleiten. Ihr Ziel ist jedoch nicht die Entdeckung oder Bestätigung solcher „Gesetzmäßigkeiten“ – und schon gar nicht die technische Manipulation der Symptome und ihrer Träger –, sondern die Aufhebung des (Wiederholungs-)Zwangs, dem die vergesellschafteten Individuen aufgrund ihrer Biografie, ihres sozialen Orts und ihrer politischen Situation unterliegen. Zu den Rand- und Geltungsvoraussetzungen der gesetzmäßigen Verknüpfung der Anfangssituation mit dem aus ihr resultierenden „Effekt“ gehört – als entscheidende – die der Bewusstlosigkeit derer, die dem „Gesetz“ unterliegen. Die Aufhebung ihrer Bewusstlosigkeit durch Kritik (nämlich durch eine Rekonstruktion der Genese der Voraussetzungen und ihres Effekts) bedeutet, dass das „Gesetz“ – im fraglichen Fall – außer Kraft gesetzt wird . . . „Die Grenzen Freuds“, sagte Horkheimer 1966, „ sind sein Positivismus und sein Bekenntnis zur [Natur-]Wissenschaft.“ (Horkheimer 1988b, S. 373)63 Wie Wilhelm Reich vor ihnen, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas nach ihnen, wollten er und Adorno Freud „von links“ kritisieren.64 Dabei ging es zunächst einmal darum, Freuds Therapeutik zu historisieren, sich also der Entstehungsbedingungen und „Die Mängel unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwinden, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten. Diese gehören zwar auch nur einer Bildersprache an, aber einer uns seit längerer Zeit vertrauten und vielleicht auch einfacheren.“ (Freud 1920/1963, S. 65). 62 Freud hielt, wie Nietzsche, an der „Phänomenalität auch der inneren Welt fest“: „alles, was uns bewusst wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisirt, ausgelegt [. . .] und vielleicht eine reine Einbildung. Diese ‚scheinbare innere Welt‘ ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt, wie die ‚äußere‘ Welt. Wir stoßen nie auf ‚Thatsachen‘: Lust und Unlust sind späte und abgeleitete Intellekt-Phänomene. . .“ (Nietzsche 1887–88/1980, S. 53). 63 Horkheimer fährt an dieser Stelle fort: Freud „will die Menschen arbeitsfähig und genussfähig machen, innerhalb der bestehenden Ordnung. Das schließt Identifikation ein: Denn wer kein Konformist ist, isoliert sich. Freud hat nicht gesehen, dass es im Menschen auch etwas anderes gibt, was jenseits der Wissenschaft liegt.“ 64 Adorno in einem Brief an Horkheimer (aus London am 21.03.1936), in dem er unter anderem Erichs Fromms (1935 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienenen) Aufsatz „Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie“ kritisierte. (Horkheimer und Adorno 2003, S. 130). 61

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der gesellschaftlichen Funktion(en) der Psychoanalyse zu vergewissern. Die Historisierung und die Entfaltung des latenten „spekulativen“ Potentials der Psychoanalyse erforderte die Bildung von historisch-soziologischen Parallel- und Gegenbegriffen 65zu den psychologisch-biologischen, die sie in den Freudschen Texten so oft vertreten. „Umwelt“, „Außenwelt“, „Ananke“ oder „Realität“ stehen dann bei ihm für „Kultur“ oder „Gesellschaft“, historisch variable Verhältnisse werden als Invarianten präsentiert. Unter dem Namen „Realitätsprinzip“, also „Prinzip der Realität“, stellt Freud (in der Metapsychologie) dem (intrapsychischen) Lust-Unlust-Prinzip ein aus ihm entstandenes und vermeintlich ebenfalls intrapsychisches Regulationsprinzip gegenüber, und verdeckt damit, dass „Ich“ und „Über-Ich“ (die psychischen Instanzen der Erkenntnis und der Zensur) sich an den (historisch variablen) gesellschaftlichen Institutionen orientieren (Dahmer 1973/2013, S. 178–202), die (in unserer Gesellschaft) die Herrschaft des Wertgesetzes oder – mit Marcuse zu reden – des „Leistungsprinzips“ (Marcuse 1955/1979, S. 38)66 verbürgen. Im Zuge der Kritik erwies sich die Zuordnung der Freudschen Theorie zu den Naturwissenschaften als scheinhaft und Freuds „Positivismus“ als eine der zweideutigen Natur pseudonatürlicher Phänomene geschuldete Konzession, die im Fortgang der Analyse der Kultur und der Neurose revidiert wird. Die Freudsche „Revolution“ besteht in einer zweifachen Desillusionierung und Grenzverschiebung: Zum einen wird (im Gefolge Schopenhauers) realistisch anerkannt, dass das Bewusstsein nur beschränkte Reichweite hat, dass ihm nur ein Teil der unbewusst prozessierenden seelischen Ökonomie zugänglich ist. Wird damit eine illusorisch zu weit vorverlegte Grenze zurückgenommen, so hat Freud im Gegenzug die Grenze des potentiellen Bewusstseins weit hinausgeschoben in die vermeintliche „Natur“ der kulturellen und biografischen Institutionen. Er hat dadurch traditionell „Unverständliches“ verstehbar gemacht und die Möglichkeiten praktischer Kritik enorm erweitert. (Dahmer 1994b/2012, S. 43–54) Horkheimer hat versucht, die „positivistischen“ von den (ihnen widerstreitenden) „kritischen“ (oder „spekulativen“) Tendenzen der Freudschen Theorie zu trennen. Lange Zeit glaubte er – im Verein mit seinem Lehranalytiker und Freund Karl Landauer und den Freudomarxisten der dreißiger Jahre –, den materialistisch-kritischen „frühen“ Freud „Der ‚unhistorische‘ Charakter der Freudschen Begriffe enthält [. . .] die Elemente seines Gegenteils: ihre historische Substanz muss wieder erfasst werden, nicht indem man ein paar soziologische Faktoren hinzufügt (wie es die ‚kulturellen‘ neo-Freudianischen Schulen unternehmen), sondern indem man ihren eigenen Gehalt entwickelt. In diesem Sinne stellt unsere weitere Diskussion eine ‚Extrapolation‘ dar, die aus Freuds Theorie Gedanken und Lehrsätze ableitet, die in ihr nur in einer verdinglichten Form enthalten sind, in der historische Prozesse als natürliche (biologische) erscheinen. Terminologisch erfordert diese Extrapolation eine Verdoppelung der Begriffe: den Freudschen Begriffen, die nicht [. . .] zwischen den biologischen und den soziologisch-historischen Triebschicksalen unterscheiden, müssen korrespondierende Ausdrücke zur Seite gestellt werden, die die spezifische sozio-historische Komponente bezeichnen.“ (Marcuse 1955/1979, S. 37 f.). 66 Sowie das Kap. VI über „Die historischen Grenzen des geltenden Realitätsprinzips“. – Habermas schreibt zur Problematik des „Realitätsprinzips“: „Für den Einzelnen ist der institutionelle Rahmen der etablierten Gesellschaft eine unverrückbare Realität. [. . .] Aber für die Gattung im Ganzen sind die Grenzen der Realität sehr wohl verrückbar.“ (Habermas 1968/1973, S. 339). 65

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(also den der Hysterie-Studien, der Traumdeutung und der Drei Abhandlungen. . .) dem „späten“, resignativ-pessimistischen (auch elitistischen) der zwanziger und dreißiger Jahre gegenüberstellen zu können. Der spätere Freud sei einem Biologismus verfallen und habe einen „Todestrieb“ als Widerpart des „Eros“ postuliert.67 Differenzierter argumentierte er 1939 in einem Brief an Karl Menninger: „Besonders dankbar bin ich Ihnen dafür, dass Sie Freuds Theorie gegen naturalistische und empiristische Fehlinterpretationen verteidigen [. . .], denn gerade ihretwegen weisen einige besonders fortschrittliche Denker seine Lehre als obsolet zurück. [. . .] Auch wenn manche von Freuds Formulierungen zur Methode der empiristischen Sichtweise sehr nahe kommen mögen, zeigt die logische Struktur bei genauer Analyse, dass viele seiner objektiven Einsichten auf ganz anderen als den von ihm selbst postulierten methodologischen Voraussetzungen beruhen. In Wahrheit nimmt Freud sogar eine ‚Abwehrhaltung‘ gegenüber jenem Empirismus ein, der die offizielle Wissenschaft seiner Zeit beherrschte.“ (Horkheimer 1995, S. 600 f.)

Erst Herbert Marcuse hat schließlich 1955 die politische, der Freudschen Theorie äußerlich bleibende Form der Kritik überwunden, indem er seine These, „Freuds ‚Biologismus‘ [sei, H.D.] Gesellschaftstheorie in einer Tiefendimension, die von den neo-freudianischen Schulen konsequent verflacht worden ist“, überzeugend entfaltete. (Marcuse 1955/1979, S. 13) Die in Jenseits des Lustprinzips 1920 entwickelte Spekulation über die Mischung und Entmischung der Grundtriebe „Eros“ und „Thanatos“ gab den Rahmen für die von Freud in den dreißiger Jahren veröffentlichten Schriften ab, in denen er die radikale Kritik der Gegenwartskultur, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen Übergang von der Objekt- zur Subjektwissenschaft motiviert hatte, explizierte. Horkheimer blieb Freuds „soziologischen“ Schriften gegenüber ambivalent. Er verwies auf den Zusammenhang von Therapie und Kulturkritik,68 vermerkte aber zugleich, dass Freud sich (sowohl in der Trieb- als auch in der Kulturtheorie) „objektiv von der Psychoanalyse entfernt habe“.69 „Der ewige Destruktionstrieb soll, wie der Teufel im Mittelalter, an allem Bösen schuld sein“, hieß es 1936 in Horkheimers „Egoismus und Freiheitsbewegung“ (Horkheimer 1936/1988, S. 83). Einige Jahre später aber schrieb er (am 31.10.1942), sich selbst korrigierend, an Leo Löwenthal: „Betrachtet man [. . .] den Zusammenhang zwischen dem liberalen Wien und Freuds ursprünglicher Methode [. . .] genauer, wird einem bewusst, was für ein großer Denker er war. Mit dem Niedergang des Familienlebens in der Mittelschicht erreichte seine Theorie jene neue Stufe, die sich in ‚Jenseits des Lustprinzips‘ und den späteren Schriften äußert. [. . .] Freud war groß genug, die Psychologie in ihrem eigenen Rahmen zu überwinden. [. . .] Die mit dem Todestrieb verbundenen Begriffe sind anthropologische Kategorien (im deutschen Sinne des Wortes). Selbst da, wo wir nicht mit Freuds Deutung und Anwendung dieser Kategorien übereinstimmen, ist ihre objektive Zielsetzung zutiefst berechtigt und verrät Freuds enormes Gespür für die Situation.“ (Horkheimer 1996b, S. 373) (deutsche Übersetzung). – In seiner Vorlesung über den „Begriff der Seele seit Leibniz“ 1958 sagte er zum Verhältnis der „früher“ entwickelten und der „späteren“ Freudschen Theorien: „Freud hat seine früheren Lehren nicht widerrufen, sondern sie durch die Einführung des Narzissmus und des Todestriebes kompliziert.“ (Horkheimer 1989, S. 546). 68 „Freuds gesellschaftliche Theoreme tragen die Spuren ihrer Herkunft aus der therapeutischen Praxis überall an sich.“ Brief aus Montagnola an Gertrud Lenzer (in Oxford) vom 18.05.1964 (Horkheimer 1996a, S. 566). 69 Brief an Löwenthal vom 31.10.1942 (Horkheimer 1996b, S. 373) (deutsche Übersetzung). 67

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Im Ganzen wollte er die „sozio-historischen Studien – zum Beispiel Totem und Tabu – nur [als] Modelle psychologischer Geschichtsinterpretation“ (Horkheimer 1940/ 1988, S. 367)70 gelten lassen. Freuds Einsicht, dass eine der Triebkräfte des Antisemitismus der auf den „fremden“ Vater-Gott verschobene Hass auf den „eigenen“, den Christen- oder Sohnesgott, sei (Horkheimer 1943/1985, S. 175; Horkheimer und Adorno 1947/1985, S. 205–209), pflichtete er bei, blieb aber Freuds psychohistorischer Interpretation von Genese und Geschichte der mosaischen Religion (Freud 1937–1939/1961, S. 201–246) gegenüber skeptisch und schrieb an Karl August Wittfogel: „Haben Sie [. . .] das neue Buch von Freud gesehen? So etwas sollte man einmal von unserem sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus kritisieren.“71 Was Freuds Kritikern als „Grenze“ seines Denkens gilt, ist oft nur die Grenze, die sie selbst ihrem Verständnis der in seiner Therapeutik einander widerstreitenden Motive setzen. Das zeigt sich deutlicher noch als am Problem des PsychologismusBiologismus an dem der therapeutischen „Technik“ (und der „Behandlungsziele“). Die eine dieser Grenzen hat Marcuse überschritten, die andere Jürgen Habermas. Das Marxsche Projekt hat Adorno einmal mit der Formel „Anamnesis der Genese“ umrissen.72 Keine bessere gibt es, um auch das Freudsche zu bezeichnen. Die von ihm entwickelte Kritik gilt Institutionen, deren Gewalt ihre Träger, die sie bewusstlos erzeugt haben und tradieren, nicht sich entziehen können. Gelingt es dem Therapeuten, seinen Klienten im zensurfreien Raum der „Kur“ mehr oder weniger „freie Assoziationen“ zu entlocken und diese überzeugend zu „deuten“, so kommt allmählich ein Teil der verhohlenen Geheimgeschichte von Patient und Sozietät zutage, und der Bann der unverstandenen Vergangenheit weicht. Ob ein (relativ) zensurfreier, privater Raum aber überhaupt etabliert werden kann, hängt von dem Freiheitsgrad ab, der den Individuen in der jeweiligen Sozietät und vom jeweiligen politischen Regime zugestanden wird. Ob die im Reservat der Therapie mögliche Überwindung individueller Widerstände und kultureller Zensuren ein Tagtraum bleibt oder in der Lebenspraxis von Klient und Therapeut zum Tragen kommt, hängt entscheidend davon ab, ob es im Jenseits der Kur, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, gesellschaftliche Gruppierungen gibt, die in Theorie und Praxis dem jeweils herrschenden „Realitätsprinzip“ opponieren. Horkheimer charakterisierte 1956 das Freudsche „Programm“ als eines „der Selbstbesinnung“ (Horkheimer 1956/1989, S. 260–263). Adorno hatte sich – seit seiner Antrittsvorlesung von 1931 (Adorno 1931/1973, S. 325–344) – das Freudsche Rätsellösungs- und Deutungsverfahren zu eigen gemacht. (Wussow 2007) Doch in der forciertesten ihrer Psychoanalyse-Kritiken haben sie das emanzipatori-

Entsprechend auch in der Vorlesung von 1953/54 über „Fragen der Geschichtsphilosophie“ (Nachschrift von Alfred Schmidt). (Horkheimer 1989, S. 346). 71 Horkheimer an Wittfogel (20.07.1939) (Horkheimer 1995, S. 621). 72 „Historischer Materialismus ist Anamnesis der Genese.“ Notiz Adornos im Anschluss an ein Gespräch mit Alfred Sohn-Rethel am 16.04.1965 (Zitiert nach Sohn-Rethel 1989, S. 223). 70

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sche Potenzial der Freudschen Therapeutik ignoriert und sie in Bausch und Bogen dem „Positivismus“ zugeschlagen. Dort heißt es: „Die Analyse dient der Uniformierung der Menschen. Ist die Ahnfrau der Hysterikerin die Hexe, so hat die Analyse nicht bloß, wie sie es möchte, ihre Vorform in der Beichte, sondern in Wahrheit in der Inquisition. Die Psychologie ist erfunden worden, um die Menschen bei der Stange zu halten. Die Entdeckung des Individuums ist im Ursprung identisch mit dessen Fesselung. Es wird darauf ankommen, die Analyse als Positivismus zu identifizieren.“ (Horkheimer 1985b, S. 443) (Von mir unterstrichen, H.D.)73

Diese Verwerfung der Psychoanalyse als einer Variante „instrumenteller Vernunft“ findet sich in den (von Gretel Adorno protokollierten) Gesprächen Horkheimers und Adornos vom Januar 1939, die einer Vor-Verständigung über ihr gemeinsames Projekt einer „dialektischen Logik“ dienten, jener Reihe von „philosophischen Fragmenten“, die fünf Jahre später zusammengestellt und 1947 unter dem Titel Dialektik der Aufklärung veröffentlicht wurden. Noch war den beiden Autoren nicht klar, um welches Problem ihr Vorhaben zu zentrieren sei, etwa um die Kritik an der Freudschen Therapeutik als einer besonders aufschlussreichen Gestalt des „Positivismus“ oder aber ausgehend von „heute verfemten Begriffen wie denen des Saboteurs“. Schließlich folgte Horkheimer dem Vorschlag Adornos, ins Zentrum des gemeinsamen Buches das bedrohliche Rätsel des (perennierenden) Antisemitismus zu stellen.74 In ihrer Kritik an der Psychoanalyse nahmen Adorno und Horkheimer – wie zuvor Freuds „Biologismus“ – nun sein Bekenntnis zur (Natur-)Wissenschaft für

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Überboten wird diese Kritik später noch in einer (zwischen 1953 und 1955 formulierten) Notiz Horkheimers über „Psychoanalyse als Richter“: „Der psychologische Roman und seine Fortsetzung, die Psychoanalyse, legen den Nachdruck oder besser die Schuld auf innere Antriebe der behandelten Person. Sie machen das fremde oder auch das eigene Subjekt zu ihrem Hauptobjekt, nicht die objektive Konstellation. [. . .] Mit jedem Schritt [der] inwendigen Sondierung wird das jenseitige Ziel, um dessentwillen sie begonnen ward, heilloser mit dem abstrakten Prozess, durch den es erreicht werden soll, konfundiert, bis schließlich das Ziel ganz vergessen und der Prozess, die Analyse für sich allein, angebetet wird. Die letzte Phase, in dem Possenspiel der [Karen, H.D.] Horneyschen ‚Selbstanalyse‘ [1937, H.D.] trivial vorweggenommen, ist dann die ‚Selbstkritik‘ in der stalinistischen Welthälfte. In ihr wird ganz wie bei Freud dem ohnmächtigen Subjekt vom Untersuchungsrichter und schließlich – ihn vorwegnehmend und introjizierend – vom eigenen Ich die vorgeblich immanente Konsequenz des Gedankens oder Aktes entgegengehalten, den das Subjekt gewissermaßen naiv einmal vollzogen hatte. Was es auch dagegen sagen mag, es gilt als Rationalisierung der verfemten Absicht oder – bei Stalin wieder gröber als bei Freud – als Ausflucht und Lüge. Bei beiden steht schon vor der Prozedur der Tatbestand fest, der nachgewiesen werden soll, bei beiden ist man schon von Anfang an verurteilt.“ (Horkheimer 1991, S. 213 f.). 74 „Ich frage mich, ob wir nicht [. . .] die Dinge, die wir eigentlich sagen wollen, im Zusammenhang mit den Juden sagen sollten, die den Gegenpunkt zur Konzentration der Macht darstellen.“ Adorno, Brief an Horkheimer vom 05.08.1940 (Adorno und Horkheimer 2004, S. 84) „Ich bin davon überzeugt, dass die Judenfrage die Frage der gegenwärtigen Gesellschaft ist – da sind wir uns mit Marx und Hitler einig, sonst aber hierin so wenig wie mit Freud.“ Horkheimer in einem Brief an Adorno vom 24.09.1940 (Adorno und Horkheimer 2004, S. 103).

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bare Münze.75 Politische Kritik ersetzte ihnen die immanente. Sie reagierten damit auf die in den dreißiger Jahren in den Publikationen der organisierten Psychoanalytiker sich abzeichnende Tendenz zur Verengung des Freudschen Projekts auf Ichpsychologie und therapeutische Technik.76 Der „Professionalisierung“ (also der Beschränkung der Rekrutierung von Psychoanalytikern auf die Berufsgruppe der Ärzte und Psychologen) war die Vertreibung der Mehrheit der Freudianer aus den psychoanalytischen Zentren Berlin, Budapest und Wien gefolgt. Der Zusammenhang von Kulturkritik, Metapsychologie und „Technik“ löste sich ihnen auf, an die Stelle des Junktims von Forschen und Heilen trat der Primat des Therapierens, der Behandlungs-„Technik“ (und bald darauf: der Erfolgskontrolle) (Marcuse 1957, S. 115–120) (Deutsche Übersetzung). Dem neukantianischen Wissenschaftsverständnis entsprechend, wurde die Psychoanalyse nun vom psychoanalytischen „Mainstream“ als eine Wissenschaft wie jede andere verstanden: Die Aufgabe von „Wissenschaft“ bestehe darin, den Einsatz der jeweils verfügbaren Mittel (hier der therapeutischen) zur Realisierung von vorgegebenen Zielen zu rationalisieren; die „Rationalisierung“ solcher Zwecke selbst aber übersteige die Möglichkeiten von Wissenschaft. In ihren Gedanken-Experimenten vom Januar 1939 ging es den beiden Philosophen zunächst um eine historisch-genetische Kritik der pseudokonkreten Begriffe von Mensch, Eigentum und Individuum (Identität des Ichs, Einheit des Bewusstseins), wie sie – unbefragt – in den Theorien „der psychologischen und existentialen Denker“ (und zumeist auch in der Psychoanalyse) vorausgesetzt werden. (Horkheimer und Adorno 1939/1985, 1. bis 5. „Diskussion“). Horkheimer sagte, „der Grundzug des Positivismus“ sei, „dass eigentlich prinzipiell das Neue ausgeschlossen werden soll.“ Das Neue könne freilich „nur negativ bestimmt werden, indem man sich kritisch zum Alten verhält. [Der, H.D.] Begriff der kritischen Theorie ist das Organon des Neuen.“ (Adorno 1946a/1972, S. 36 f.) „Die Bestimmung des Ich [s] durch das, was schon einmal da war“ (also durch ‚Retentionalität‘) verbinde „Freud mit den Positivisten“. (Horkheimer und Adorno 1939/1985, S. 443, 446, 451, 464 ff.)77 Herbert Marcuse hat demgegenüber später geltend gemacht: „Das Realitätsprinzip schränkt die Erkenntnisfunktion des Gedächtnisses ein – sein Verhaftetsein an frühere Glückserlebnisse, das den Wunsch nach ihrer bewussten Wiederholung erregt. Die psychoanalytische Befreiung des Erinnerungsvermögens wirft die Vernunfthal-

„Wie in anderen Wissenschaften geht es in der Psychoanalyse um Beherrschung der Natur, Beseitigung von Hindernissen, handfeste Zwecke, medizinische Technik.“ (Horkheimer 1967/ 1985, S. 204) – „Seit je wird der erfolgreich Analysierte zum Positivisten, er praktiziert instrumentelle Vernunft.“ (Horkheimer 1971/1985, S. 247). 76 Die 1939 in den Gesprächen mit Horkheimer skizzierte Kritik an der positivierten Psychoanalyse hat Adorno (fünf Jahre später) in den Aphorismen 36–42 seiner Minima Moralia ausgeführt. (Adorno 1951a/1996, S. 69–77). 77 Horkheimer und Adorno kommen hier in der Bestimmung der Phantasie „als des Organons des Neuen“ mit Ernst Bloch überein, der seine (zukunftsorientierte) Philosophie des Noch-nicht-Bewussten der (vermeintlich) vergangenheitsverhafteten Freudschen Konzeption von Bewusstsein und Unbewusstem kontrastierte. (Bloch 1919/1969, S. 115–131; Dahmer 1977/2009, S. 534–548). 75

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tung des unterdrückten Individuums über den Haufen. Während das Erkennen dem Wiedererkennen weicht, beginnen die verbotenen Bilder und Impulse der Kindheit von der Wahrheit zu reden, die die Vernunft ableugnet. Die Regression übernimmt eine progressive Funktion. [. . .] Die Befreiung der Vergangenheit endet nicht in einer Versöhnung mit der Gegenwart. [. . .] Die recherche du temps perdu wird zum Vehikel künftiger Befreiung.“ (Marcuse 1955/1979, S. 25 f.)

Als erzpositivistisch wurde in Horkheimers und Adornos Diskussion schließlich vor allem das von Freud abstrakt formulierte, darum vieldeutige Behandlungsziel attackiert: Die Psychoanalyse „will den Menschen genuss- und arbeitsfähig machen. Das ist darum falsch, weil sie den Menschen nur für diese Form der Gesellschaft, die sie für ewig hält, geeignet machen will. Heute [weisen] Genussfähigkeit und Arbeitsfähigkeit auseinander.“ (Horkheimer und Adorno 1939/1985, S. 441; Horkheimer 1968/1985, S. 294–297, 305). Adorno und Horkheimer markierten in ihren Gesprächen von 1939 „die positivistischen Aspekte der Psychoanalyse“ und hatten darüber deren Spezifikum, die (anti-positivistische) Kritik von Pseudonatur, fast vergessen.78 Es scheint, als hätten sie sich auf das, was ihrer eigenen und der Freudschen Theorie gemeinsam war – „die Auflösung einer als unbedingt erscheinenden Wirklichkeit“ (Horkheimer 1961/ 1985, S. 185 f.) –, also auf Freuds „philosophischen Impetus“, seine Philosophie „in ihrer vollen Bedeutung“ (Horkheimer 1948/1987, S. 398, 405), erst wieder besonnen, als sie mit der Doktrin der „neofreudianischen Revisionisten“ (wie sie die neo-adlerianische Strömung in Analogie zur Bernsteinschen Tendenz in der marxistisch orientierten Arbeiterbewegung vor 1914 nannten) konfrontiert wurden, die – nur allzu „zeitgemäß“ – gerade die „positivistisch“-konformistische Seite der Freudschen Lehre favorisierten, die Einsicht in den Antagonismus von Libido und Gesellschaft ignorierten und die Aufgabe der Therapie in der Anpassung ihrer Klienten an deren soziales Milieu sahen. (Adorno 1946a/1972, S. 40; Marcuse 1955/1979, S. 203–232; Birnbach 1962; Jacoby 1975 und 1983) „Seit dem Tode Freuds“, Wie Marcuse 1955 Freuds als „biologische“ auftretende (Trieb-)Theorie als eine verkappte Gesellschaftstheorie dechiffriert hat, so hat Jürgen Habermas 1968 – parallel zu Karl-Otto Apel (Apel 1966/1973) – Horkheimers Charakteristik der Psychoanalyse als „Selbstbesinnung“ dem Sinne nach aufgenommen und die spezifische Logik einer Institutionenkritik entfaltet: „Die Psychoanalyse ist für uns als das einzig greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft relevant.“ (Habermas 1968/1973, S. 262) „Im Akt der Selbstreflexion ist die Erkenntnis einer Objektivation, deren Gewalt allein darauf beruht, dass sich das Subjekt in ihr als seinem Anderen nicht wiedererkennt, unmittelbar eins mit dem Interesse an Erkenntnis, nämlich an der Emanzipation von eben jener Gewalt. In der analytischen Situation ist die Einheit von Anschauung und Emanzipation, von Einsicht und Befreiung aus dogmatischer Abhängigkeit, ist jene Einheit von Vernunft und dem interessierten Gebrauch der Vernunft wirklich, die Fichte im Begriff der Selbstreflexion entfaltet hat.“ (Habermas 1968/1973, S. 348 f.) Die von Freud entwickelte Therapie orientiert sich, Habermas zufolge, an einer „allgemeinen Interpretation“, einer Erzählfolie für unterbrochene (gestörte) Bildungsprozesse. (Habermas 1968/1973, S. 316 f., 321 f.) Das ideale Ziel solcher Bildungsprozesse wäre „erreicht, wenn sich das Subjekt seiner Identifikationen und Entfremdungen, seiner erzwungenen Objektivationen und seiner errungenen Reflexionen als der Wege erinnert, auf denen es sich konstituiert hat.“ (Habermas 1968/1973, S. 317).

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schrieb Horkheimer 1939 an Landauer, ist die Psychoanalyse „der größten Gefahr theoretischer Entartung ausgesetzt“.79 1957 resümierte er: „Die Rückbildung der Freudischen Theorie in eine Allerweltspsychologie wird auch noch als Fortschritt ausgegeben.“ (Horkheimer 1957a/1996, S. 19). In ihrer revisionistischen Version gab die Psychoanalyse „das Stück kritische Theorie [. . .] auf, das sie ursprünglich war“.80 Bei den psychoanalytischen Revisionisten (Karen Horney, Erich Fromm und andere), sagte Adorno, handele es sich „nicht so sehr um häretische Abweichungen von Freuds Lehren als [vielmehr, H.D.] um eine bequeme Glättung ihrer Widersprüche.“ „Die Unsicherheit des eigentlichen Zwecks der Anpassung, die Unvernunft vernünftigen Handelns also, die die Psychoanalyse aufdeckt, spiegelt etwas von objektiver Unvernunft wider. Sie wird zur Anklage der Zivilisation. Die Revisionisten brauchen nur die praktisch-realistische Seite der Freudschen Konzeption zu isolieren und die psychoanalytische Methode ohne jeden Vorbehalt in den Dienst der Anpassung zu stellen, um zugleich sich als die Vollstrecker der Freudschen Intentionen zu fühlen und ihnen das Rückgrat zu brechen.“ (Adorno 1946a/1972, S. 40). „Wir sind Freud und seinen ersten Mitarbeitern wirklich tief verpflichtet“, schrieb Horkheimer 1952 an Leo Löwenthal. „Sein Denken gehört zu jenen Bildungsmächten, ohne die unsere Philosophie nicht wäre, was sie ist.“81 Und 15 Jahre später hob er noch einmal die Bedeutung der Freudschen Theorie-Therapie für das „Institut für Sozialforschung“ hervor: „Seit seiner Gründung in der Zeit vor 1933 hat das Institut die Psychoanalyse in seine Arbeit einbezogen, und zwar in ihrer strengen Freudischen Gestalt. Von Anbeginn war dem Institut eine psychoanalytische Abteilung angegliedert [. . .]. Die ‚Zeitschrift für Sozialforschung‘ enthielt in ihrer ersten Nummer einen programmatischen Aufsatz über die Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie. Damals, im Schatten der unmittelbar drohenden Hitlerdiktatur, stand uns der Widerspruch zwischen den handgreiflichen Interessen der Massen und der faschistischen Politik vor Augen, für die sie sich enthusiastisch einspannen ließen. [. . .] In zahlreichen theoretischen Arbeiten des Instituts wurde versucht, die Wechselwirkung von Gesellschaft und Psychologie weiter zu verfolgen. Stets freilich haben wir den gesellschaftlichen Druck – das, was Freud selbst ‚Lebensnot‘ nannte – als das Primäre betrachtet. [. . .] Der 1935 in Paris erschienene Band ‚Autorität und Familie‘ nahm [. . .] die analytische Beschreibung und Erklärung des autoritätsgebundenen Charakters [. . .] in Angriff. In den später, während der Emigration [. . .] durchgeführten Forschungen, die in dem Band ‚The Authoritarian Personality‘ veröffentlicht wurden, sind Gesichtspunkte und Kategorien des älteren Werkes auf ein breites empirisches Material bezogen und vor allem an die Erhellung eines der dunkelsten Massenphänomene der Gegenwart, der auf Minoritäten gelenkten Verfolgungssucht gewandt worden. Diese Studien sind ohne den Impuls der Freudischen Psychologie nicht zu denken [. . .].“ (Horkheimer 1957a/1996, S. 17 f.)

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Horkheimer (aus New York) an Landauer (Amsterdam) am 22.12.1939 (Horkheimer 1995, S. 683). 80 Adorno: „Offener Brief an Max Horkheimer“ (zum 14.02.1965) (Horkheimer 1996a, S. 598). 81 Horkheimer (Pacific Palisades, California) an Leo Löwenthal in New York (am 31.10.1942). (Horkheimer 1996b, S. 373) (deutsche Übersetzung).

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Theodor W. Adorno

Adornos Blick auf die Psychoanalyse ist zum einen der eines Rätsellösers, der in Freud und Ferenczi seinesgleichen erkennt und herauszufinden sucht, warum die psychoanalytische Theorie und ihre therapeutische Nutzanwendung sich in unlösbare Widersprüche verwickeln – in der Hoffnung, auf diese Weise über die Grenzen einer psychologistischen Seelenlehre hinauszukommen. Zum anderen ist es der Blick eines Soziologen, der Statik und Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse kennt, innerhalb deren die Psychoanalyse entstanden ist und sich (während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) entwickelt hat, und der darum das Selbstmissverständnis Freuds und der meisten Freudianer nicht teilt, sie betrieben eine Naturwissenschaft von der Seele, von der eine Psychotechnik sich ableiten lasse. Adornos erste philosophische Arbeiten – über Husserl und Freud – waren dem „reinen Empirismus“ verpflichtet, einer Spielart der Kantschen Transzendentalphilosophie, die der Frankfurter Philosoph Hans Cornelius, der akademische Lehrer Horkheimers und Adornos, konzipiert hatte.82 Ziel der Dissertation (von 1924) war es, „den Widerspruch zwischen den transzendental-idealistischen und den transzendentrealistischen Komponenten in Husserls Dingtheorie aufzuklären und zu berichtigen.“ Husserls „Scheidung von Sein als Bewusstsein und Sein als Realität“ (oder „bewusstseinsunabhängiger Dingwelt“) wird brüsk verworfen: Dinge seien nicht Ursachen von Erlebnissen, sondern „Regeln für Erlebnisse“ „und darum dem Bewusstsein streng immanent“. (Adorno 1924/1973, S. 73, 1927/1973, S. 233) In der 1926/27 erarbeiteten, als Habilitationsschrift geplanten, Anfang 1928 aber zurückgezogenen, umfangreichen Studie über den „Begriff des Unbewussten in der transzendentalen Seelenlehre“ wird die an Husserl bewährte Kritik an der Voraussetzung bewusstseinstranszendenter Realien gegen die Metaphysiken des Unbewussten gerichtet, wie sie in der nachkantischen Philosophie (vor allem seit Schopenhauer) gang und gäbe waren. (Heinz und Dahmer 1978, S. 127–167) Das Verfahren und die Begriffe der Psychoanalyse werden zu diesem Zweck denen der Immanenzphilosophie anverwandelt oder in sie „übersetzt“ (Adorno 1927/1973, S. 105 f.). Die Bewusstseinsphilosophie erfährt durch den Aufweis ihrer (weitgehenden) Übereinstimmung mit Freuds empirischer Psychologie eine willkommene Bestätigung, die Psychoanalyse ihre „transzendentale Begründung als Wissenschaft“ (Adorno 1927/1978, S. 304, 248, 310 f.).83 Im Rahmen der Transzendentalphilosophie wird das (von Kant vernachlässigte) Unbewusste als ein mittelbar Gegebenes (von den aktuellen Erlebnissen beziehungsweise Phänomenen Unabhängiges) aufgefasst. Doch „alles Unbewusste findet seinen Ausweis immer und ausnahmslos „Die rein empiristische Weltansicht [. . .] ist im wesentlichen identisch mit derjenigen Theorie, welche Kant unter dem Namen des transcendentalen Idealismus in der Kritik der reinen Vernunft aufgestellt und begründet hat.“ (Cornelius 1911/1919, S. 342). 83 „Die Begriffe, die im Zentrum unserer Untersuchung stehen, kommen in der Psychoanalyse entweder gar nicht vor [. . .] oder sie kommen als Hilfshypothesen vor, die allein erkenntnispraktisch gewogen werden, deren philosophische Legitimität dem Psychoanalytiker gleichgültig ist und die denn [auch, H.D.] oft genug mit Unklarheiten aller Art, dogmatischen Voraussetzungen und Naturalismen behaftet sind.“ (Adorno 1927/1978, S. 239). 82

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in Bewusstem“, nämlich in der Herstellung deutlicher Erinnerung. (Adorno 1927/1978, S. 313 f.) Die Ontologisierung des Unbewussten in der Philosophie des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wird in Adornos Traktat zunächst rein ideengeschichtlich von dem Interesse hergeleitet, eine Schwierigkeit (oder ein Defizit) der Kantschen Philosophie zu beheben. Die Konstruktion eines transzendentalen (anstelle eines transzendenten) Begriffs des Unbewussten erfolgt mit Hilfe des begrifflichen Instrumentariums, das Cornelius entwickelt hatte. Dessen 1916 veröffentlichte Transcendentale Systematik und deren Leitbegriffe – vom „unmittelbar Gegebenen“ bis zur „Bewusstseinsimmanenz“ – werden nirgends in Frage gestellt.84 Am Ende aber, bei nochmaliger Erläuterung des „Zwecks“ seines Unternehmens, lässt der Autor unvermittelt das Labyrinth des Neukantianismus und auch die bloße Ideengeschichte hinter sich (Adorno 1927/1978, S. 316–322): „Zeitgeschichtlicher Notwendigkeit“, heißt es nun, den „gesellschaftlichen Verhältnissen“ sei der so beliebte wie konfuse Begriff eines (transzendenten) Unbewussten entsprungen, dem er – mit Freud – eine „wissenschaftlich reduzierte Theorie des Unbewussten“ entgegensetze. Die ontologische Charakterologie und die ihr „nächstverwandte“ Lebensmetaphysik, schließlich „die Ideologie des Fascismus“ erfüllten eine gefährliche Funktion, indem sie „von der herrschenden Wirtschaftsweise und der Vormacht des Ökonomischen insgesamt ablenken“, ja, die Ausbeutung der Vielen, den Luxus der Wenigen und die Raubzüge des Imperialismus verteidigen (indem sie sie naturalisieren). Denen, die es sich leisten können, werde derart ein imaginäres Refugium geboten, eine Art „Sommerfrische des Bewusstseins“. Die Psychoanalyse aber sei „eine scharfe Waffe [. . .] gegen jegliche Triebmetaphysik und Vergottung bloßen dumpfen, organischen Lebens“; darum werde sie als „destruktiv“ verfemt.85 Dieser Ideologiekritik folgt schließlich die geschichtsmaterialistische Pointe: „Nach allem, was wir über die transzendental-idealistische Möglichkeit eines gesetzmäßigen Zusammenhanges zwischen materieller und psychischer Welt ausführten, kann es uns nicht erstaunen, wenn [nicht allein, H.D.] die Erkenntnis der unbewussten Tatbestände [,] sondern auch deren Konstitution von der materiellen Welt, nämlich der Gesellschaft mit abhängig ist.“ „Die Aufdeckung vieler entscheidender unbewusster Gehalte [hat darum, H.D.] die Änderung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustandes zur Voraussetzung [. . .].“ Damit ist eine „Grenze jeglicher Aufklärung und somit auch unserer Untersuchung“ bezeichnet. „Aber wir glauben Der Herausgeber der „Frühschriften“, Rolf Tiedemann, zitiert in seiner „Editorischen Nachbemerkung“ einen Brief Adornos (aus dem Jahr 1969): Der „Hauptfehler“ seiner Arbeit über den Begriff des Unbewussten sei, „dass [sie, H.D.] Freud einseitig auf die Erkenntnistheorie etwa der Schule von Mach und Avenarius bezieht und das von Anbeginn in Freud vorhandene materialistische Moment, das bei ihm durch den fundamentalen Begriff der Organlust bezeichnet wird, vernachlässigt.“ (Adorno 1927/1978, S. 381 f.). 85 „Wir verkennen nicht, dass die Psychoanalyse nicht eindeutig der Aufklärung des Unbewussten zugewandt ist“; „an manchen Stellen der psychoanalytischen Disziplin“ mussten wir kritisieren, „dass sie ein Unbewusstes naturalistisch voraussetzt und in Gefahr gerät, es zu einer Transzendenz werden zu lassen“ [. . .]. „Aber es lässt sich nicht übersehen, dass die Psychoanalyse in ihren tiefsten Intentionen [. . .] doch den Primat der Erkenntnis über das Unbewusste durchzusetzen fähig und willens ist.“ (Adorno 1927/1978, S. 321). 84

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dennoch [. . .], nichts völlig Vergebliches begonnen zu haben. Die Überwindung der praktischen Folgen falscher Lehren kann zwar nicht allein theoretisch vollzogen werden, aber sie setzt die Einsicht in die Falschheit der Lehren voraus und die Konstitution richtigerer an ihrer Stelle.“

Im ersten Band der Gesammelten Schriften Adornos folgen auf diese „Entzauberung des Unbewussten“ drei „Vorträge und Thesen“ aus den Jahren 1931 und 1932, die – in Gestalt einer „traumhaften Antezipation“86 – das Programm seiner Weiterführung der „junghegelianischen Aufklärung“ (Horkheimer 1923/1987, S. 157) umreißen. In der im Mai 1931 gehaltenen, an Konzeptionen Walter Benjamins anknüpfenden Frankfurter Antrittsvorlesung ließ er die zeitgenössischen Philosophien (Neukantianismus, Lebensphilosophie, Phänomenologie und logischen Empirismus) Revue passieren. Seine Diagnose: Die traditionelle Philosophie befinde sich im Prozess ihrer Selbstauflösung. Der Geist vermag es weder mehr, die Totalität des Wirklichen aus sich zu erzeugen, noch auch, sie zu begreifen, und die positiven Wissenschaften meiden die Reflexion ihrer Voraussetzungen und Befunde. Die Aufgabe einer neuartigen, materialistischen Philosophie sei die der Deutung87 (von Befunden oder Gegebenheiten), genauer: die Auflösung von Rätseln. Rätselhaft ist etwa der „Abhub der Erscheinungswelt“, also das, was dem Interesse an Selbsterhaltung oder Verwertung entgeht, weil es nicht unmittelbar verwendbar scheint – die Brosamen, die von der Herren Tische fallen, das, was übrig bleibt, wenn der Hunger gestillt ist, oder auch das, was als ungenießbarer Abfall („Abschaum“) verworfen und ins Unbewusste verbannt wird. (Adorno 1927/1978, S. 323 f., 1951a/1996, S. 169 f.).88 Dort, wo Adorno auf die „erstaunliche und befremdende Affinität“ zwischen der deutenden Philosophie und dem Materialismus zu sprechen kommt, beruft er zuerst sich auf Freud, dann auf Marx.89 Die materialistische Deutung gilt dem Intentionslosen, das in kleinste Elemente zerlegt wird, aus deren versuchsweiser Anordnung sich bei gutem Glück eine unerwartete Lösung ergibt. Dies ist das Freudsche Verfahren der Traumdeutung: ein enträtselndes Lesen von Zeichen oder die Verwandlung von Chiffren in einen Text.90 Das Rätsel verrätselt nicht ein ihm 86

Aus einem Brief Adornos an Ernst Bloch aus dem Jahr 1962. Zitiert ebenfalls nach Rolf Tiedemanns „Editorischer Nachbemerkung.“ (Adorno 1927/1978, S. 384). 87 Vgl. dazu auch den Aphorismus 82 in der Minima Moralia („Drei Schritt vom Leibe“ [1945]) (Adorno 1951a/1996, S. 143 ff.). 88 Aphorismus 98 („Vermächtnis“ [1945]). 89 Die „Wendung zum ‚Abhub der Erscheinungswelt‘, die Freud proklamierte, hat Geltung übers Bereich der Psychoanalyse hinaus, ebenso wie die Wendung der fortgeschrittenen Sozialphilosophie zur Ökonomie nicht bloß aus der empirischen Übermacht der Ökonomie, sondern ebensowohl aus der immanenten Forderung philosophischer Deutung selbst hervorgeht.“ (Adorno 1931/1973, S. 336). 90 Im Zusammenhang mit der Erörterung einer „Komplikation“, mit der es der Traumdeuter im Fall von sogenannten Bestätigungs- oder Gefälligkeitsträumen in der analytischen Therapie zu tun hat, schreibt Freud, die Aufgabe sei (hier) „der Lösung eines der ‚Puzzles‘ genannten Kinderspiele vergleichbar“. Ein „Puzzle“ (oder Rätsel) werde erzeugt, indem eine farbige Zeichnung auf einem gerahmten Holzbrettchen „in viele Stücke zerschnitten“ wird, „die von den unregelmäßigsten krummen Linien begrenzt werden“. „Gelingt es, den unordentlichen Haufen von Holzplättchen, deren jedes ein unverständliches Stück Zeichnung trägt, so zu ordnen, dass die Zeichnung sinnvoll wird, dass nirgends eine Lücke zwischen den Fugen bleibt, und dass das Ganze den Rahmen ausfüllt, so weiß man, dass man die Lösung des Puzzle gefunden hat und dass es keine andere gibt.“ (Freud 1923/1963, S. 308 f.) (von mir unterstrichen, H.D.).

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zugrunde liegendes (oder hinter ihm verborgenes) „Sein“, das es aufzudecken gelte, sondern verlangt nach einer Lösung, die es selbst, „die Rätselgestalt[,] blitzhaft“ erhellt und aufhebt. Das Rätsel verschwindet also mit seiner Lösung. Eine in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Variante der alten Geschichte vom Rätsellöser Ödipus besagt, er habe das ihm aufgegebene Sphinx-Rätsel keineswegs gelöst (noch gar die Lösung ausgesprochen), sondern nur sinnend die Hand an die Stirn gelegt. Die Sphinx aber habe diese Geste missverstanden, wähnend, der Wanderer wolle demonstrieren, er habe im Nu verstanden, was das Rätsel meine: ihn, Ödipus, also ‚den Menschen‘.91 Bestürzt und verzweifelt habe das menschenfressende Ungeheuer sich daraufhin in den Abgrund gestürzt, und die Thebaner waren von dieser Plage befreit. (Dahmer 1987/2013, S. 9–36, 404–408). Wurde die Husserl-Kritik von 1924 zehn Jahre später in der Emigration in Oxford wieder aufgenommen und weitergeführt,92 so folgte der 1927 konzipierten Verteidigung der Psychoanalyse als Wissenschaft durch Entzauberung des Begriffs des „Unbewussten“ kein „Versuch über Freud“ nach und auch später keine der Psychoanalyse gewidmete Vorlesung oder Seminarveranstaltung. Es gibt von Adorno keine Freud-Monographie, so wenig er eine über Marx oder über Nietzsche schrieb, deren Bedeutung für die Ausarbeitung einer negativen Dialektik kaum zu überschätzen ist. Doch hatte er sich früh die psychoanalytische Denkart zu eigen gemacht, und so sind seine philosophischen, soziologischen, musik- und literaturtheoretischen Schriften sämtlich von Freudschen Begriffen und Theoremen durchwirkt. In einem im November 1934 für Horkheimer geschriebenen Rechenschaftsbericht über seine Arbeit hieß es, er sei mit dem „Psychoanalysekomplex“ „dauernd befasst“ und würde dazu (in der Zeitschrift für Sozialforschung) „gern einmal [. . .] einiges Prinzipielle“ – in Gestalt von „Ideen zu einer dialektischen Psychologie“ – sagen. Das „Problem der Vermittlung von Gesellschaft und Psychologie“ oder der „psychischen Verdinglichung“ sei dabei wohl „das zentrale“. . .93 Solche „Ideen“ sind später in verschiedenen Essays und Aphorismen Adornos entfaltet worden. Der Freud-Kritik in den 1944 formulierten Aphorismen 36 bis 42 der Minima Moralia (Adorno 1951a/1996, S. 65–77), die die „repressiven

„Die verändernde Geste des Rätselspiels – nicht die bloße Lösung als solche gibt das Urbild der Lösungen ab, über welche die materialistische Praxis einzig verfügt. Dies Verhältnis hat der Materialismus mit einem Namen benannt, der philosophisch beglaubigt ist: Dialektik. Einzig dialektisch scheint mir philosophische Deutung möglich.“ (Adorno 1931/1973, S. 338) – „Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel“, heißt es schließlich in der Ästhetischen Theorie. Die Kunstwerke „enthalten potentiell die Lösung, nicht ist sie objektiv gesetzt.“ „Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. Das, nichts anderes rechtfertigt Ästhetik.“ (Adorno 1970, S. 182–193). 92 Nach Teilveröffentlichungen erschienen die „Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien“ in definitiver Gestalt erst 1956. (Adorno 1956/1971, S. 7–245). 93 Brief Adornos an Horkheimer (aus Oxford) vom 24.11.1934 (Adorno und Horkheimer 2003, S. 39–42). 91

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Züge“94 von dessen „unaufgeklärter Aufklärung“ (Adorno 1951a/1996, S. 67) herausstellt, folgte zwei Jahre später ein in der Psychoanalytischen Gesellschaft von San Francisco gehaltener Vortrag, der 1952 unter dem Titel „Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie“ veröffentlicht wurde. Adorno entfaltete hier seine Kritik am „neofreudianischen Revisionismus“ Karen Horneys, der alsbald Schule machen sollte. (Adorno 1946a/1972, S. 20–41). In dem „Grenzen der Aufklärung“ überschriebenen Kapitel der Dialektik der Aufklärung führten Horkheimer und Adorno den Antisemitismus auf „falsche Projektion“ zurück.95 „In gewissem Sinn“, heißt es da, „ist alles Wahrnehmen Projizieren“; „das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin.“ (Horkheimer und Adorno 1947/1987, S. 217, 219) – 1951, nach dem Abschluss der Studien zum autoritären Charakter (Adorno 1950/1973) und über die demagogischen Tricks faschistischer Agitatoren in den USA (Löwenthal und Guterman 1949/1990, S. 9–159),96 veröffentlichte Adorno eine Deutung der Freudschen Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (Freud 1921/1963, S. 71–161) (aus dem Jahr 1921) als einer hellsichtigen Antizipation faschistischer Massen-Manipulation und der sozialpsychologischen Struktur der „Volksgemeinschaft“. (Adorno 1951b/2013, S. 318–342)97 – Dem 1934 (in seinem Brief an Horkheimer) formulierten Projekt einer „dialektischen Psychologie“98 entsprach am ehesten der große Essay „Zum Verhältnis von Psychologie und Soziologie“, mit dem Adorno 1955 eine Festschrift für Horkheimer eröffnete. (Adorno 1955/1972, S. 42–85) Er empfand diese Arbeit allerdings als unbefriedigend oder gar misslungen und schickte ihr zehn Jahre später noch ein kurzes Postscriptum (Adorno 1966/1972, S. 86–92) nach. – Eines der „Kritischen Modelle“ aus der Sammlung Eingriffe (es war dem Andenken Fritz Bauers gewidmet), diente – unter Rückgriff auf Freuds Libido-Theorie – dem Nachweis, dass auch im liberalisierten Sexualstrafrecht die Verpönung des Sexus (als einer Negation des Ichprinzips) fortlebt. Was von der gesellschaftlich akzeptierten Form sexueller Befriedigung abweiche (sei es die Lust an Partialtrieben, die Homosexualität oder der Umgang mit Prostituierten), werde wie eh und je diskriminiert. (Adorno 1963/1977, S. 533–554) – Im 1966 veröffentlichten „Hauptwerk“ wurde die Dialektik der von Freud eingeführten psychischen Instanzen (Es, Ich und ÜberIch) vor allem in den Kant und Hegel gewidmeten Kapiteln weitergetrieben.

Als solche nennt Adorno Freuds Verwerfung des „bedeutungsfernen, vernunftlosen Zweck[s], an dem allein das Mittel Vernunft als vernünftig sich erweisen könnte, der Lust“ (Adorno 1951a/1996, S. 68), und die Folge dieser Verwerfung für die Zielsetzung der Therapie: „Pflege“ statt „Abbau des Über-Ichs“. (Adorno 1955/1972, S. 64–69, 1966/1973, S. 169 ff.). 95 Im Kapitel „Elemente des Antisemitismus“, Abschnitt VI (1944) und VII (1947). (Horkheimer und Adorno 1947/1987, S. 217–238). 96 In der letztgenannten Ausgabe unter dem Titel: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation. 97 Ursprüngich erschienen unter dem Titel: „Freudian theory and the pattern of fascist propaganda.“ (Adorno 1972, S. 408–433). 98 Adorno an Horkheimer (24.11.1934) (Adorno und Horkheimer 2003, S. 39–42). 94

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(Adorno 1966/1973, S. 209–351)99 Schließlich wurde im ersten Kapitel der Ästhetischen Theorie Freuds psychologistische Deutung der Kunst als Wunscherfüllung kritisiert und der Kantschen Lehre vom „interesselosen Wohlgefallen“ am Schönen konfrontiert.

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Fazit

Seit Soziologie und Psychologie sich als selbstständige Wissenschaften etabliert haben, meiden sie einander. Obwohl sie in Gestalt der vergesellschafteten Individuen ein gemeinsames Objekt haben, eines, das eigentlich ein Subjekt ist, hat der unterschiedliche Ansatz der beiden Disziplinen – bei den seelischen Leistungen der Individuen beziehungsweise bei den Sozialverhältnissen, in die sie eingespannt sind – zu weit voneinander abweichenden Theorien über Sozialverhalten und gesellschaftliche Entwicklung geführt. (Adorno 2003b, S. 86 ff.) Versuche, „reine“ Soziologie und „reine“ Psychologie im Rahmen einer umfassenden Gesamttheorie zu integrieren, waren nur möglich, wenn formalisierend auf das Beste verzichtet wurde, auf jene Einsichten nämlich, die sich gerade der Einseitigkeit der einen oder der anderen Disziplin verdanken. Solche gewaltsamen Harmonisierungen liefen allemal (bei Freudomarxisten, Freud-Revisionisten oder Systemtheoretikern) auf einen erneuerten Soziologismus oder Psychologismus hinaus. Zur Lösung psychologischer und gesellschaftlicher Rätsel aber bedarf es eines utraquistischen Verfahrens, bei dem die im Rahmen von Soziologie und Psychologie gewonnenen fachspezifischen Erfahrungen und Einsichten gegeneinander ausgespielt werden. Soziologie und Psychologie sind Reflexionsformen der Sozialgeschichte. In ihr bilden die jeweils institutionalisierten Herrschaftsverhältnisse die Matrix der individuellen Lebensläufe. Die Soziologie weiß das, die Psychologie ignoriert es. Ihren Status als relativ verselbständigte Individuen verdanken die vereinzelten Einzelnen (Sozialatome oder „Monaden“) den Produktions- und Distributionsverhältnissen, von denen sie sich unabhängig dünken. Auch ihre Psychologie wird durch diese Verhältnisse gemodelt, ist darum nicht Konstituens von Gesellschaft, sondern „reales Konstitutum“ (Adorno 1966/1973, S. 342). Dem entspricht der Vorrang, der der Soziologie bei der Aufklärung von Sphinxrätseln der Sozialgeschichte zukommt, sofern sie sich des historisch-spezifischen Charakters ihrer eigenen Begriffe bewusst ist. Die Divergenz von Soziologie und Psychologie (beziehungsweise von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse) beruht auf der Zwieschlächtigkeit, auf dem proteischen Charakter ihres gemeinsamen Objekts, der vergesellschafteten Individuen, deren Binnenstruktur und deren Verhältnisse zueinander beide zu ergründen suchen. Die Formen der Vergesellschaftung, der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, variieren geschichtlich, und mit ihnen ändert sich sowohl die Relation der 99

Dritter Teil („Modelle“), Kap. 1 (Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft) und 2 (Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel).

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Individuen zu den Gruppen, Stämmen, Ständen und Klassen, denen sie angehören, als auch die Struktur ihrer Triebe. Die moderne europäische Gesellschaft ist das Ergebnis der Auflösung der feudalen Gefolgschaften, einer wachsenden Unabhängigkeit der Einzelnen von ihren Herkunftsgruppen und den von diesen okkupierten Territorien. Vereinzelte Einzelne hatten nur in den okzidentalen Städten, das heißt in handwerklich-industriellen Zentren eines internationalen Netzes von Handelsbeziehungen eine Überlebenschance. Individuelle Produzenten (Unternehmer und freie Lohnarbeiter) besorgten hier als Privatleute die gesellschaftliche Warenproduktion, und ihre Beziehungen untereinander waren nicht mehr solche direkter, sondern indirekter, tauschvermittelter Herrschaft. Individuen, die sich – unter günstigen Marktverhältnissen – durch die Verfügung über sich selbst (in der fremdbestimmten Arbeit) oder durch Verfügung über Kapital (und damit über die Arbeit anderer) erhalten können und in diesem Sinne „Autonomie“ entwickeln, sind also das Produkt spezifischer Sozialverhältnisse und haben – wie diese – eine Geschichte. Wer nur über sich selbst verfügen kann, also auf den Verkauf seiner Arbeitskraft angewiesen ist, ist im Hinblick auf Autonomie von vornherein denen gegenüber im Nachteil, die über Produktionsmittel (und damit auch über ihn und seinesgleichen) verfügen. Der Anteil dieser Selbstständigen an der Wirtschaftsbevölkerung aber hat sich in den vergangenen 200 Jahren dramatisch verringert: Die übergroße Mehrheit der ökonomisch Aktiven besteht heute aus abhängig Beschäftigten. Die Selbstständigkeit der vereinzelten Einzelnen war stets nur eine relative, also eine scheinbare; und in einer Gesellschaft, in der internationale Mammutkonzerne Heerscharen von Lohnabhängigen und Almosenempfängern gegenüberstehen, ändern sich nicht nur die Kulturideale, sondern auch das Kräfteverhältnis zwischen den psychischen Instanzen der Vergesellschafteten, also ihre Binnenstruktur. (Horkheimer und Adorno 1947/1987, S. 233 ff.) Geht es um die Geschichte der sozialen Welt, konkurrieren Soziologie und Psychologie um das Monopol der Erklärung. Ihr Autarkiestreben ist die fachspezifische Reaktion auf den Antagonismus von Individuum und Kultur. Die Individuen sind (samt der Struktur ihrer Seele) Produkt der jeweiligen Gesellschaft (also „Überbau“ oder „Konstitutum“); sie werden zur Reproduktion der bestehenden Institutionen abgerichtet und hören, weil sie „unermüdliche Lustsucher“ sind (Freud 1905/ 1969, S. 142), doch nicht auf, ihnen zu opponieren. (Nur darum gibt es eine Individual- und Sozialgeschichte.) Im seelischen Haushalt erscheint der Antagonismus von Individuum und Kultur als Widerstreit zwischen Ich und Es. Psychologie im modernen Sinn, wie Freud sie untersucht und dargestellt hat, ist diejenige, die die scheinselbstständigen Individuen der liberalen Ära ausgebildet hatten.100 An deren Ende, an dem sich mit der Relativierung (oder Abschaffung) der Zirkulationssphäre, der Sphäre der Vermittlungen, auch das Ende dieser Art Psy-

„Die vorbürgerliche Welt kennt Psychologie noch nicht, die total vergesellschaftete nicht mehr. Ihr entspricht der analytische Revisionismus. Er ist der Kräfteverschiebung zwischen Gesellschaft und einzelnem adäquat. Die gesellschaftliche Macht bedarf kaum mehr der vermittelnden Agenturen von Ich und Individualität.“ (Adorno 1955/1972, S. 83).

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chologie abzeichnet, erscheint die Psychoanalyse. Die auf Autonomie erpichten, materiell Selbstständigen haben für ihren psychischen „Reizbewältigungsapparat“ so etwas wie einen virtuellen, marktförmigen Binnenraum entwickelt, ein inneres Forum, auf dem im Interesse von Selbsterhaltung zwischen antagonistischen Strebungen – sexuellen und destruktiven Begierden und verinnerlichter sozialer Gewalt – vermittelt wird, Kompromisse ausgehandelt werden. Adorno101 fasst den Antagonismus von Es und Ich – den Widerstreit des Sexus oder Glückstriebs (Adorno 1970, S. 181) mit den realitätsgerechten Lust-Unlust-Kalkülen des „Betriebsleiters der seelischen Ökonomie“ – wenn möglich noch schärfer102 als Freud, der schrieb, die durch Gewalt und Moral an die repressive Kultur gebundenen Individuen seien deren geschworene Feinde, obwohl sie ihr das Überleben verdankten. (Freud 1927/ 1963, S. 326 f.) Die auf der Höhe des bürgerlichen Zeitalters erreichte relative Selbständigkeit eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung, die zur Ausbildung von kulturellen Autonomie-Idealen führte, wird durch die Konzentration des Kapitals – die Depossedierung der Zwischenklassen – zurückgenommen. Im „Zeitalter der Regression“ (Adorno 1963/1877, S. 533) werden urteilsfähige Bourgeois und selbstbewusste Arbeiter abgelöst von Demagogen, Hassverkäufern und von ihnen aufgestachelten Massen, die alles niedertrampeln, was ihnen nicht gleicht. Unter steigendem gesellschaftlichem Druck machen die Menschen aus sich Maschinen ihrer Selbsterhaltung, weisen eine „steigende organische Zusammensetzung“ auf. (Adorno 1951a/1996, S. 259–262)103 Die daraus resultierende Ich-Schwäche, die „Entselbstung des Selbst“, verführt sie zu einer Externalisierung des Über-Ichs, zum Verzicht auf eine „eigene“, individualisierte Moral. Gefolgschaftshorden, Massaker und Vernichtungslager lehren, was es mit der Autonomie von Individuen heute auf sich hat. Was in der liberalen Ära Individuation ermöglichte und zur Ausbildung eines Ideals von freier Individualität führte, ist in Auflösung begriffen.104 Eine andere Einrichtung der Gesellschaft, die neuartige Formen von Autonomie und Spontaneität ermöglichen könnte, liegt unter dem Horizont. Gleichwohl setzte Adorno auch in der Ära der totalitären Menschenfresser-Regime auf deren unvermeidlichen Zusammenbruch. Das faschistische Regime in Deutschland erschien ihm als unhaltbar, weil „Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte.“ (Adorno 1951a/1996, S. 66) (Aphorismus 37: „Diesseits des Lustprinzips“ [1944]). 102 In der Libidotheorie sieht Adorno „den Kern der psychoanalytischen Lehre“. Der radikalen Psychoanalyse, schreibt er, gilt Libido, „ein Vorgesellschaftliches“, „als die eigentliche psychische Realität“. (Adorno 1946a/1972, S. 27, 39). 103 Aphorismus 147 („Novissimum Organum“ [1946–1947]). 104 „Die neue Anthropologie, d. h. die Theorie des neuen, unter den Bedingungen des Monopol- und Staatskapitalismus sich bildenden Menschentypus steht in ausdrücklichem Gegensatz zur Psychologie. Die Psychologie hat zum Zentralbegriff das Individuum. [. . .] Die Repräsentanten des neuen Typus sind keine Individuen mehr, d. h. die Einheitlichkeit, Kontinuität und Substantialität des Einzelnen ist aufgelöst. [. . .] Wenn sich Kollektivsubjekte bilden, dann ist die ganze Triebökonomie mitsamt dem Lustmechanismus außer Kraft gesetzt. Freud hat in seinen avanciertesten Arbeiten, vor allem in Jenseits des Lustprinzips, etwas davon geahnt, aber nicht die Konsequenzen daraus gezogen.“ (Adorno 1941/2004, S. 453 f.). 101

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dessen Schrecken nicht das Resultat eines Rückfalls auf archaische Barbarei seien, sondern das Produkt einer „künstlichen Regression“ (Adorno 1951b/2013, S. 339, 1966/1973, S. 90), einer theatralischen Inszenierung von Barbarei auf der Bühne der modernen Tauschgesellschaft: „Hielten [die faschistischen Massen, H.D.] nur für eine Sekunde um der Vernunft willen inne, müsste die ganze ‚Show‘ zusammenbrechen, und sie wären der Panik überlassen. [. . .] Die vergesellschaftete Hypnose entwickelt in sich selbst die Kräfte, die den Spuk der ferngesteuerten Regression hinwegfegen und die, die ihre Augen geschlossen halten, obwohl sie nicht mehr schlafen, endlich aufwecken werden.“ (Adorno 1951b/2013, S. 340 f.)105

So weit reicht Adornos Geschichte der modernen Seele und ihrer Instanzen. Doch ist ihr im Hinblick auf den Untergang und das Nachleben der totalitären Regime noch ein Postscriptum anzufügen. Schon Freud schrieb 1927, die leise Stimme des Intellekts suche unablässig zu uns durchzudringen, finde aber erst „am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen“, Gehör. (Freud 1927/1963, S. 377) Nach unserer Erfahrung überdauern politisch induzierte, durch Terror fixierte MassenHypnosen – und das gilt für die von Hitler wie für die von Stalin inaugurierte – Generationen und Regimewechsel.106 Sie überleben ihren Stifter107 und seine Propagandisten, und es bedarf wiederholter, kräftiger Anstöße von außen, um wenigstens einen Teil der Wachträumer, die ihre Geheimnisse nur zu gern für sich behalten, aufzuwecken. Die Hypnose der deutschen „Volksgemeinschaft“ – der Albtraum Europas – währte bis zu ihrer militärischen Niederlage, und nicht wenige „Volksgenossen“ blieben lebenslang in ihrem Bann. Noch die unsanft geweckte Nachkriegsgeneration traute sich lange Zeit nicht, die Augen aufzuschlagen und der Gräueltaten ihrer Vorgänger, dieser entsetzlichen Schlafwandler, ansichtig zu werden. Adorno greift „die abgedroschene Phrase von der Massenhypnose unter dem Faschismus“ auf und spezifiziert sie: „Selbst die Zustände von kollektiver Begeisterung, auf die sich der Ausdruck [. . .] bezieht, [haben, H.D.] ein Element von bewusster Manipulation – auf Seiten des Führers und sogar der Individuen selbst – an sich, das schwerlich als Resultat einer bloß passiven Ansteckung gelten kann. [. . .] An der faschistischen Hysterie ist immer etwas Stilisiertes, Arrangiertes, Unechtes.“ Im Übrigen sei „zynische Nüchternheit [. . .] für die faschistische Mentalität wahrscheinlich eher charakteristisch als psychologische Berauschung.“ (Adorno 1946b/1972, S. 397–401). 106 Hier ist daran zu erinnern, dass Freuds Kollege und Freund Ernst Simmel den exterminatorischen Antisemitismus der Nazis und ihrer Verbündeten als Psychose charakterisiert hat: Das „klinische Syndrom uneingeschränkter, aggressiver Destruktivität im Bann eines Wahns bei vollständiger Verleugnung der Realität ist uns als Psychose wohlbekannt, und zwar als paranoide Form der Schizophrenie. Der Antisemitismus als Massenphänomen ist demnach keine Massenneurose, sondern eine Massenpsychose.“ Das pathologisch geschwächte „Ich des einzelnen Psychotikers rettet sich durch Untertauchen in einer pathologischen Masse vor individueller Regression, indem es kollektiv regrediert.“ (Simmel 1946a/2013, S. 287, 294). 107 Freud hatte die Möglichkeit einer jähen Auflösung des Zusammenhalts „künstlicher Massen“ (wie Kirche oder Heer) erwogen: „Der Verlust des Führers in irgendeinem Sinne, das Irrewerden an ihm, bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr zum Ausbruch; mit der Bindung an den Führer schwinden – in der Regel – auch die gegenseitigen Bindungen der Massenindividuen. Die Masse zerstiebt wie ein Bologneser Fläschchen, dem man die Spitze abgebrochen hat.“ (Freud 1921/1963, S. 106). 105

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Teil II Bestimmungen und Dimensionen Kritischer Theorie

Die theoretische Form der kritischen Theorie Zur historischen Entwicklung der systematischen Bedeutung des Kritikbegriffs in der Gesellschaftstheorie Michael Städtler

Zusammenfassung

Die kritische Theorie hat im Laufe ihrer Geschichte eine systematische Form herausgebildet, als deren wesentliche Momente Subjektivität, Materialismus und gesellschaftliche Erfahrung, Gesellschaftstheorie, Negativität, Geschichtlichkeit, Ideologiekritik und Praxis zu bestimmen sind. Im Folgenden soll zunächst die theoretische Bedeutung dieser Form aus ihrer Genese, mit Bezug auf die Philosophiegeschichte im Allgemeinen und auf die Geschichte der kritischen Theorie im Besonderen, dargestellt und erläutert werden. Auf dieser Grundlage wird das theoretische Selbstbewusstsein kritischer Theorie vor allem bei Horkheimer und Adorno entfaltet. Abschließend wird der Verlust einzelner oder mehrerer Formelemente in der neueren Geschichte der kritischen Theorie thematisiert. Schlüsselwörter

Kritik  Theoretische Form  Geschichte  Kritische Theorie „Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es nicht“ (Horkheimer 1988e, S. 215)

M. Städtler (*) Philosophisches Seminar, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_13

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Einleitung

Die Frage nach der theoretischen Form von Kritik versteht sich im klassischen Sinn als erkenntnistheoretische Frage nach den subjektiven und objektiven Bedingungen von Erkenntnis, aber einer solchen Erkenntnis, die nicht bloß ihren Gegenstand in adäquaten Formen des Denkens erfasst, sondern ihn im Verhältnis zu diesen Formen mit Gründen als mangelhaft oder falsch erkennt. Diese Frage kann nicht beantwortet werden, indem aus verschiedenen kritischen Arbeiten deren allgemeine theoretische Merkmale extrapoliert und aufgelistet würden. Dadurch würde ein wesentliches Merkmal kritischer Theorie ignoriert, nämlich die Geschichtlichkeit des Denkens überhaupt und des kritischen insbesondere. Diese als allgemeines Merkmal neben anderen aufzuzählen, hieße sie durchstreichen. Es sollen daher anhand einer Rekonstruktion philosophiegeschichtlicher Instanzen und Beziehungen von Kritik die systematischen Formelemente von Kritik in ihrem Zusammenhang entwickelt werden, und dieser Zusammenhang ergibt sich nicht durch methodologische Metareflexion oberhalb der Gegenstände, sondern dadurch, dass kritische Theorie in der Durchführung spezifischer Probleme über ihre Voraussetzungen Auskunft gibt. Dies tut sie deshalb, weil sie als dialektische Theorie davon ausgeht, dass subjektive und objektive Seite der Erkenntnis nicht getrennt zu behandeln sind, sondern sich als Momente bedingen. Dann ist es nicht möglich, unveränderliche Formen des Denkens auf ebenso unveränderliche Fakten anzuwenden, sondern die adäquate Darstellung des Gegenstandes erfordert Reflexionen auf die Wechselwirkungen zwischen ihm und dem Subjekt, d. h. dem jeweils avancierten Stand des kritischen theoretischen Selbstbewusstseins. Dies ist jedoch kein konstruktivistischer oder dekonstruktivistischer Relativismus. Im Gegenteil ist theoretischen Darlegungen immer eine bestimmte theoretische Form adäquat, die aber nicht methodologisch festzulegen ist, sondern sich aus dem Verhältnis von subjektiven Formen des Denkens und Bestimmtheit des Gegenstands ergibt. Die dialektische Wechselwirkung beider in der kritischen Theorie ist nur bestimmbar, wenn beide selbst auch etwas Bestimmtes sind. Damit unterscheidet sich die Frage nach der Form der Kritik essenziell von der verdinglichenden Frage „Was ist Kritik?“, auf die es nur die ihrerseits verdinglichte Antwort gibt: „Den Begriff von Kritik, auf den sich beispielsweise die Philosophie verpflichten ließe, gibt es ebenso wenig wie die Philosophie in einer allein in Europa zweieinhalbtausendjährigen Geschichte. Mit dem geschichtlichen Wandel der Sozial-, Human-, und Kulturwissenschaften verändert sich auch ihr Begriff von Kritik“ (Jaeggi und Wesche 2009, S. 9). Ich möchte dagegen zeigen, dass es einen systematischen Begriff von Kritik gibt, der einerseits historisch ist, insofern er sich aus vormodernen Voraussetzungen erst in der Neuzeit entwickelt, der aber andererseits nicht historistisch in Wandlungen und Veränderungen von Vorstellungen aufzulösen ist. In einer kritischen Theorie der Gesellschaft ist Kritik kein bloßer Impuls des Missfallens, sondern beansprucht notwendige und allgemeine Geltung durch Begründung. Wie sie sich als kritisch gegenüber affirmativen Sozialphilosophien und Soziologien absetzt, so setzt sie sich als Theorie gegenüber solchen Schriften, denen der Begründungsanspruch nicht oder nicht mehr als notwendige Bestimmung wissenschaftlicher Arbeit gilt, ebenso ab wie gegenüber bloßen Pamphleten. Unterhalb dieses

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Begriffs kritischer Theorie ist über deren theoretische Form nicht zu reden. Deshalb hat kritische Theorie vorab substanziell etwas mit der von Horkheimer so genannten ‚traditionellen Theorie‘ (Horkheimer 1988e, S. 162–216) gemeinsam, nämlich dass sie Theorie ist und zu sein beansprucht. Ihre Wendung gegen die ‚traditionelle‘ Theorie ist keine abstrakte Preisgabe der Tradition, sondern deren bestimmte Negation. Der allgemeine Begriff der Theorie lässt sich in Unterscheidung zur bloßen Erfahrung dadurch bestimmen, dass sie von ihren Gegenständen nicht bloß aussagt, dass sie sind, sondern sie in allgemeiner Form als das erkennt, was sie – möglicherweise auch im Unterschied zu ihren oberflächlichen Erscheinungen – sind; Erkenntnis besteht in der Angabe von Ursachen dafür, warum etwas so ist, wie es ist (Aristoteles 1989, Buch I, Kap. 1 und 2). So setzt der theoretische Erkenntnisprozess zwar an den für uns individuell primären einzelnen Erscheinungen an, führt diese aber auf allgemeine Prinzipien zurück. Diese sind das systematisch Primäre, denn aus ihnen folgen die theoretischen Erklärungen von Erscheinungen und Einzeldingen (Aristoteles 1991, S. 1029b). Theorie vermittelt Einzelnes und Allgemeines. Diese Grundbestimmung hat sich bei allen Variationen und Fortschritten im Theoriebegriff im Prinzip durchgehalten; ernsthaft bestritten wird er erst im bürgerlichen Positivismus. Der Begriff der Kritik ist spezifisch neuzeitlich (Bormann et al. 1976, S. 1249–1282; Röttgers 1982, S. 651–675), nicht jedoch die Sache. Altgriechisch krinein bedeutet ‚trennen, sondern, unterscheiden‘. Allgemein ist theoretische Kritik als begründetes Unterscheiden, unterscheidendes Urteilen zu fassen. Die Unterscheidung von Bestimmungen, das Trennen richtiger und falscher oder notwendiger und zufälliger Bestimmungen dient der wahren Erkenntnis des Gegenstandes. Insofern ist Kritik ein Formelement jeder Theorie. Die bestimmte Kritik, die Negation von genau bestimmten Elementen einer fehlerhaften Theorie mit dem Ziel der Entwicklung einer richtigen Theorie ist die historisch-systematische Entwicklungsform der theoretischen Erkenntnis. Ohne diesen Entwicklungsgedanken gibt es keine verbindliche Erkenntnis, sondern nur ein kontingent veränderliches Verhältnis der Menschen zur Natur, und dieser Kontingenz fiele auch die theoretische Begründbarkeit von Kritik zum Opfer. Der kritische Begriff von Theoriegeschichte ist deshalb keineswegs durch Paradigmenwechsel gekennzeichnet (so aber einflussreich Kuhne 2017), sondern durch die kritische Referenz auf sachliche Probleme und ihre ungenügenden Erklärungen, vor dem Hintergrund von Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Begründetes Wissen ist daher ebenso Resultat wie Grundlage der Kritik falscher Vorstellungen, Wissenschaftsgeschichte ist Erkenntnisfortschritt durch Kritik falscher Vorstellungen und insofern Ideologiekritik. Dadurch wird Geschichte zum konstitutiven Element der Geltung resultativer Begriffe. Diese sind ihrerseits Geltungsgrundlage der Kritik; Wahrheit ist aufgrund ihrer notwendigen und allgemeinen Geltungsform polemisch gegen partikulare Geltungsansprüche.1

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Daher ist die Bedeutung der Kritik an falschen Meinungen in der Wissenschaft eminent mehr als Selbstvergewisserung zur Stärkung der Schlagkraft einer Position (so aber Jaeggi und Wesche 2009, S. 10).

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Kritikfähig aber sind Vorstellungen nur, weil und insofern sie mit rationalem Geltungsanspruch auftreten. Die Rationalität falscher Vorstellungen ist bezogen auf den historischen Stand der Geistesgeschichte, in dem sie so etwas wie eine ‚relative‘ Notwendigkeit beanspruchen können, weil sie einen Anteil an der, wie immer auch unvollständigen, Welterkenntnis haben. Wäre dies über sie nicht zu sagen, so gäbe es keinen Erkenntnisfortschritt, sondern entweder nur Unwissenheit bis zum Eintreten des dann analytisch verstandenen absoluten Wissens, oder aber lauter gleichberechtigte Narrationen. Der theoretische Erfolg von Kritik entscheidet sich daran, ob es ihr gelingt, die Rationalität der kritisierten Position zur Grundlage der Kritik zu machen. Dadurch wird Geschichtlichkeit zum wesentlichen Element der Konstitution des Erkenntnisgegenstands: Das zu lösende Problem stellt sich dem Denkenden so dar, wie es seine Vorgänger ihm hinterlassen. Deshalb führt der Weg zum Begriff des Gegenstands nur durch die Kritik der fehlerhaften oder unzureichenden Meinungen hindurch. Kein Neuanfang in der Philosophie ist jemals radikal gewesen; noch der radikalste des Descartes lebt implizit von der Kritik an Aristotelismus, Platonismus und Scholastik und bleibt dabei aristotelischer, platonischer und scholastischer als er es selbst sich zugesteht. In der Kritik ein Bewusstsein davon zu behalten, dass die Kritik vom Kritisierten auch bestimmt wird, ist erst ein spätes Merkmal dialektischer Kritik. Im Folgenden soll die Entwicklung der Formbestimmungen des skizzierten systematischen Begriffs theoretischer Kritik an der modellhaften Diskussion ausgewählter Autoren dargestellt werden. Der terminus ad quem der Darstellung ist die Fassung des Kritikbegriffs bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer; dort wird zu zeigen sein, warum dieser Begriff die Problematik kritischer Gesellschaftstheorie am besten begreift. Die Auswahl der übrigen behandelten Autoren bezweckt keine vollständige Geschichte des Kritikbegriffs. Ihr Zweck ist vielmehr, den Zusammenhang der systematischen Bestimmungselemente theoretischer Kritik in seiner Entwicklung im Verhältnis zum Gegenstand der Kritik möglichst präzise an theoretisch herausragenden Autoren modellhaft zu entwickeln. Eine bloße theoretische Ableitung von Kritik ist aufgrund der essenziellen Gegenstandsverwiesenheit von Kritik nicht möglich. Ebenso wenig würde eine bloße Geschichte des Begriffs klären können, was er systematisch bedeutet. Die Darstellung ist deshalb auf Modelle verwiesen. Deren Auswahl bezieht sich dann auf die modellhafte Ausführung derjenigen Begriffselemente, deren notwendiger Zusammenhang erst bei Horkheimer deutlich gesehen und bei Adorno theoretisch begründet wird.

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Vorgeschichte

Auch geschichtlich ist für die theoretische Form von Kritik die erkenntnistheoretische Reflexion auf die eigenen Erkenntnisbedingungen der entscheidende Prozess, denn dazu gehört auch die Reflexion auf die Resultate der jeweiligen Vorgänger. Praxisorientierte, politische Kritik ist in der Philosophiegeschichte zumeist Tyranniskritik, die einerseits literarisch (z. B. in Solons Lyrik oder in Sophokles’ Antigone), andererseits theoretisch in der Form von Politiktraktaten, dann Fürstenspiegeln und schließlich

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Rechtstraktaten stattfindet. Ihre Kriterien sind vor allem Tradition, ontologische oder teleologische Ordnung der Welt und des Menschen sowie ein daran orientierter naturrechtlicher Gerechtigkeitsbegriff; erst spät wird die Objektivität subjektiver Vernunft und Freiheit zum Maßstab (als Überblick: Bauer 1965). Die theoretische Form solcher Kritik bildet sich aber im Zusammenhang mit der theoretischen Philosophie in Metaphysik (und im Mittelalter Theologie) sowie Erkenntnistheorie; die politische Kritik erhält eine triftige Begründung mit dem Fortschritt des theoretischen Selbstbewusstseins wissenschaftlicher Erkenntnis. Zu den ersten Formen theoretischer Kritik dürfte die Ablösung des Mythos durch den Logos gehören. Selbst die mythischen Vorstellungen werden erst zum Gegenstrand theoretischer Kritik, nachdem sie selbst Resultate immanenter Kritik wurden, indem naive Götter- oder Geistergeschichten zu Mythologie oder Theogonie konstruiert wurden (Reichardt 2003 und Snell 1946). In der frühen Philosophie erscheint Kritik als theoretische Methode vor allem bei den avancierten theoretischen Fragen wie der nach dem Sein, dem Wesen oder den Prinzipien der Erkenntnis. Schon der Seinsbegriff des Parmenides, demzufolge das Sein nur ein einziges ungeteiltes sein könne, stützt sich rhetorisch auf die Polemik gegen die ‚blöde glotzenden Sterblichen‘ (Parmenides 1968, S. 165–166), die nur gelten lassen wollen, was sie wahrnehmen können. Überhaupt hat die klassische griechische Philosophie eine kritische Form, insofern sie Aufklärung ist: Sie gründet in der Sophistik, die durch Bildung und durch Aufdeckung sozialer Lebensformen als menschengemachte eine Differenz im Selbstverständnis der Menschen bewirkt, die sich selbst und ihre eigenen Interessen bewusst von den historischen Lebensbedingungen zu unterscheiden lernen. Bildung ist in diesem Sinn Entfremdung (Hegel 1980, S. 264–323) Auch der Sophist Sokrates tritt in Platons Darstellung als hartnäckiger Kritiker der Sophisten auf, unterzieht die Meinungen anderer der Kritik und findet so überhaupt erst zu einer präzisen Formulierung des Problems. Bei Aristoteles wird die Kritik an den Meinungen seiner Vorgänger, einschließlich der Ideenlehre Platons, zur methodischen Grundlage der Gewinnung theoretischer Prinzipien. Aber Aristoteles geht noch einen Schritt weiter: Er begründet auch die Gültigkeit des grundlegenden theoretischen Prinzips, des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, durch Kritik, indem er zeigt, dass sogar die Leugnung dieses logischen Prinzips ohne seine implizite Voraussetzung nicht sinnvoll möglich ist: Wer nur irgendetwas behauptet, muss zugleich behaupten, dass er es mit Recht behauptet. Darin liegt nicht weniger als die Möglichkeit von Theorie überhaupt, denn das Widerspruchsprinzip ist Prinzip aller anderen Prinzipien, insofern diese auch untereinander widerspruchsfrei sein müssen. Alle Theorien, die nicht bloße Adaptionen von schon Vorhandenem sind, haben ein kritisches Moment in sich. Das gilt selbst für die christliche Dogmatik, die seit Augustinus die Einheit des Lehrgehalts durch kritische Abgrenzung gegenüber Häresien herstellt (Bulthaup, Kap. ▶ „Zur Legitimität der Dogmatik“, in diesem Band.) Einen besonderen Auftrieb bekommt die Kritik aber mit der Rezeption des Aristoteles im 13. Jahrhundert. Dadurch wird gegenüber autoritären Formen zunächst die Rationalität theoretischer Kritik wieder betont. So ist sich Thomas von Aquin darüber im Klaren, dass jemand, der an die christliche Offenbarung nicht

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glaubt, nicht durch diese Offenbarung selbst zum Glauben bewegt werden kann. Wenn aber die Gehalte der Offenbarung wahr seien, dann müssten sie jedem Menschen mittels der Vernunft erklärt und bewiesen werden können (Aquin 2013, Buch I, Kap. 3). Die auf die Aristotelesrenaissance folgenden Auseinandersetzungen zwischen neuplatonischen und aristotelischen Strömungen bringen relativ zügig die Brüchigkeit des mittelalterlichen Weltbildes zum Vorschein. Insbesondere die für die Neuzeit maßgeblichen Begriffe des Subjekts, des Willens und der Freiheit verdanken sich der in diesen Auseinandersetzungen geübten Kritik (Mensching 1992). Gleichwohl ist die epochale Veränderung zum neuzeitlichen Denken nicht bloß Ausdruck innertheoretischer Kritik. Dass die Begriffe des Subjekts und der Freiheit auf die Tagesordnung gerieten, ist seinerseits Ausdruck tiefgreifender Veränderungen im kollektiven Leben der Menschen. Die Auseinandersetzungen um den Vorrang kirchlicher oder weltlicher Macht, die wirtschaftliche Bedeutung und politische Verselbstständigung der Städte, die Veränderung wirtschaftlicher Zwecksetzungen vom bonum commune zum Privatinteresse, die damit verbundenen technischen und rechtlichen Veränderungen und vieles mehr ließen die traditionellen meist neuplatonisch gedachten Prinzipien der göttlichen Weltordnung als problematisch erscheinen (z. B. Hoffmann 2009, Kap. I). Die Neuzeit wird damit in einem neuen Sinn zum Zeitalter der Kritik: Kritik ist nicht mehr nur ein stets gegenwärtiges Mittel der Theorieentwicklung, sondern sie wird zur formalen Grundlage theoretischen Denkens überhaupt. Descartes hat nicht allein den Zweifel methodisch angewendet, um unsichere Erkenntnisquellen auszuschließen; das maßgeblich Neue liegt darin, dass er auf diesem Wege das Subjekt als Mittelpunkt theoretischer Erkenntnis gewinnt: Es ist Grund und Resultat von Kritik, und dadurch Maßstab aller Erkenntnisse und ihrer systematischen Zusammenhänge. Damit gelingt Descartes nichts Geringeres als die Entdeckung des Maßstabes der Kritik, der bisher naiv vorausgesetzt werden musste. Weder Platon noch Aristoteles noch auch Thomas von Aquin verfügten über einen formalen Begriff reflexiver subjektiver Identität, der aufgrund seiner Nichtanzweifelbarkeit zur Grundlage der theoretischen Rekonstruktion sicheren Wissens taugte. Ihre Wissenssysteme waren kosmologisch oder theologisch verankert. Die Kritik der Aufklärung an dem auf Descartes folgenden Rationalismus richtet sich denn auch nicht gegen den Gedanken von Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung des Subjekts, sondern vor allem gegen die theologischen und religiösen Annahmen im Rationalismus. Das seiner selbst gewisse Subjekt ist nämlich nur deswegen Subjekt von irgendetwas, weil es aus seiner Selbstbewusstseinsstruktur auf einen Gott meint schließen zu können, der es nicht täuschen will. Das Subjekt der neuzeitlichen Philosophie tritt als unbestimmte Form, als abstrakt freie Reflexivität auf die Bühne, deren leibliche Seite zunächst ebenso unsichtbar bleibt wie ihre moralische, praktische Bestimmung. Die gesellschaftliche Dimension falscher Vorstellungen wird in der Neuzeit mit der Herausbildung allgemeiner gesellschaftlicher Beziehungen als Element der Bewusstseinsbildung entdeckt. Zuerst bringt Francis Bacon dies auf den Begriff, indem er die Grundlagen mittelalterlichen Wissens, soweit sie gesellschaftlicher Natur sind, als Idola Fori und soweit sie etablierten falschen Lehrmeinungen

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entspringen als Idola Theatri kritisiert (Bacon 1999, S. 43–44). Verstärkt wird der gesellschaftliche Akzent noch bei den französischen Materialisten, die die theologischen Gehalte der Philosophie als Werkzeuge des ancien régime der Kritik unterziehen (Mensching 1971). In einer radikalen Kritik aller Spuren des Göttlichen oder der Religion reduzieren sie die Menschen, um sie vom Übernatürlichen zu befreien, ganz und gar auf Natur. Der daraus folgende Determinismus ist einerseits das Spiegelbild des Vorsehungsdeterminismus, andererseits soll aber gerade die Berechenbarkeit des Handelns und des Sozialen den Determinismus in sich umwenden: Durch die Negation von Freiheit in der theoretischen Berechnung des Handelns werde dieses – anders als die Negation von Freiheit durch die Vorsehung – doch rational von den Menschen angeeignet. Mit der Kritik der Aufklärung an transzendent begründeten Weltordnungsvorstellungen tritt das subjektive Interesse als maßgeblicher Faktor, nicht mehr nur als seinerseits der Kritik verfallender Individualismus, in die Philosophie ein. Dies hat Hobbes, mit wieviel Recht auch immer, aus Descartes gezogen und zugleich gezeigt, dass das menschliche Interesse ein ambivalentes Prinzip ist: Die Freiheitsordnung der Neuzeit entsteht als autoritäre Herrschaftsordnung. Die möglichst erfolgreiche Umwandlung des Interesses in gesellschaftlichen Nutzen beschäftigt nicht erst die Nationalökonomie. Schon Bacon macht den menschlichen Nutzen zum Kriterium der angewandten Physik gegenüber rein spekulativer Naturphilosophie; die französischen Materialisten stellen radikaler das individuelle Glück in den Mittelpunkt. Der Mensch ist ein glücksbedürftiges Wesen. Darum drehen sich die Gesellschaftskonzepte dieser Autoren, und dieses Moment geht auch in der Kritik an ihnen nicht ganz verloren. Bei Kant kommt die Kritik als Formbestimmung modernen Denkens in neuer Weise zu sich selbst. Das Selbstbewusstsein, die Grundlage des Denkens im Subjekt, ist Resultat von Selbstkritik, aber nicht wie bei Descartes als Kritik inadäquater Erkenntnisquellen. Über diese erkenntnistheoretische Reflexion hinaus ist Kants Selbstkritik eine wissenschaftstheoretische: Er fragt nach der theoretischen Möglichkeit notwendiger und allgemeingültiger Erkenntnisse, die nicht tautologisch, sondern sachhaltig sind. Dies ist die systematisch zentrale Frage der Kritik der reinen Vernunft (Kant 1990). Damit bezieht er sich auf die systematisierten Resultate derjenigen modernen Wissenschaften, die durch die von Descartes ausgehende kritische Erneuerung der Wissenschaft erst möglich geworden waren, vor allem auf Physik und Mathematik. Als allgemeine Möglichkeit, Inhalte der Anschauung mit Begriffen zu Erfahrungserkenntnissen zu verbinden, erschließt Kant die Einheit des Selbstbewusstseins. Die subjektive Vernunft gelangt durch eine Kritik ihrer eigenen Form zu den Grundlagen moderner Wissenschaft, aber auch zu dem Unterschied von Natur und Freiheit. Die Formen der reinen Vernunft erlauben es, sicheres Wissen über die erscheinende Natur zu gewinnen, nicht aber über die Freiheit. Das ist entscheidend, denn gesetzmäßige Erkennbarkeit von Freiheit wäre erneut Determinismus. In die natürliche Gesetzlichkeit von Kausalität und Wechselwirkung sind Menschen als Bestandteil der erscheinenden Natur zwar eingebunden, aber als kritisch hierauf reflektierende Wesen sind sie nicht Bestandteil der Natur. Insofern Menschen geistige Wesen sind und als solche Entschlüsse über ihr physisches

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Verhalten fassen können, bleibt Freiheit möglich (Kant 1990, S. B560–B586). Ihre Realität bestimmt Kant ebenso über die Einheit des Selbstbewusstseins: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, heißt: Nur solche Zwecke sind moralisch zulässig, die in der Form eines allgemeinen Gesetzes denkbar sind, ohne dass individueller Inhalt und allgemeine Form im Subjekt einen Widerspruch erzeugen und so die Einheit des Subjekts zerstören (Kant 1974, § 7). Zugleich hält Kant, bei aller Kritik am Materialismus, an der Notwendigkeit des individuellen Glücks fest, ordnet dieses aber der Moral unter (Kant 1974, S. 178–179). Für Hegel ist hingegen das gesellschaftliche Leben immer schon eine Verbindung moralischer, politischer und bedürfnisbezogener Prinzipien, seine Moralphilosophie ist ebenso Bestandteil der Rechtsphilosophie wie seine Sozialphilosophie (Hegel 2010). Durch geschichtliches Handeln wird immer schon Rationalität in der Welt realisiert, der gesamte Weltlauf ist im Grunde die Selbstrealisierung von Rationalität durch das gegenständliche Handeln von Menschen hindurch (Hegel 1986, Einleitung). Wirklichkeit ist Produktion und Produziertsein. So versucht Hegel mittels der Kritik an der nominalistisch geprägten erkenntnistheoretischen Reflexion Kants noch einmal metaphysisch die Möglichkeit von Wissen und Handeln zu begründen. Hegels System ist dann ein Zusammenhang von Begriffen, die durch die Kritik ihrer Unzulänglichkeit zu Momenten herabgesetzt werden, zu Teilbestimmungen eines umfassenden Ganzen. Die Gegenbegriffe, aus denen diese Kritik begründet ist, werden zu Gegenmomenten, die Momente treten in einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang ein, der das Ganze in seiner Widersprüchlichkeit fassen kann: nicht durch starre Begriffsverhältnisse, sondern durch dialektisch in sich beweglich gemachte Begriffe. Auf diese Weise will Hegel einen systematischen Zusammenhang aller logischen Bestimmungen zur Totalität der absoluten Idee konstruieren (Hegel 1984, Einleitung), und dieser soll die logische Form für die natürliche wie für die sittliche Welt darstellen (Hegel 1992, Einleitung). Mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit der frühindustriellen Gesellschaft stimmt das schon zu Hegels Zeit nicht mehr zusammen. Er selbst notiert immer wieder grundlegende Widersprüche der Gesellschaft (Hegel 2010, § 245), hält aber am systematischen Charakter auch der Sittlichkeit fest. Allenfalls soll staatliche Politik die Widersprüche der Gesellschaft mäßigen und entschärfen. Dagegen richtet sich die Kritik linker, am Frühsozialismus orientierter Hegelschüler, und sie richtet sich nicht nur gegen die Theorie, sondern gegen die Wirklichkeit. Dafür ist vorausgesetzt, dass die von Hegel entdeckte Geschichtlichkeit nicht nur das Resultative des gegenwärtigen Zustandes, sondern auch seine Kontingenz beinhaltet. Die Gesellschaft ist von Menschen gemacht worden und kann von ihnen daher auch anders gemacht werden.

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Die systematische Konsequenz dieses kritischen Gedankens in Form einer kritischen Theorie gesellschaftlicher Praxis findet sich beim späten Marx. Zwar verliert der Begriff der Kritik nach Hegel durch die Abwendung von dessen System zunächst an

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Eindeutigkeit und wird in unterschiedlichem Interesse auf unterschiedlichen Gebieten unterschiedlich eingesetzt; auch der Kritik-Begriff des frühen Marx ist unspezifisch, da ihm das gesellschaftliche Prinzip der von ihm zum kritischen Maßstab erhobenen Entfremdung noch unklar ist. Mit dem Kapital aber gelingt es, an Hegels systematischen Theorieanspruch anzuknüpfen und zugleich eine Kritik gesellschaftlicher Wirklichkeit mit der Intention ihrer Veränderung zu formulieren.2 Zugleich, und bis heute, provoziert die kapitalistische Gesellschaft eine Vielzahl von Einwänden gegen sie, die sich einer systematischen theoretischen Begründung nicht mehr unterziehen wollen, zum Teil in dieser gerade eine bürgerliche Fessel zu erblicken wähnen. Unter der Voraussetzung der Geschichtlichkeit des Denkens können aber anthropologische oder theologische Maßstäbe der Kritik nicht überzeugen; will Kritik einen Anspruch auf Geltung erheben, so muss sie die gegebenen Verhältnisse zugleich wissenschaftlich erfassen und kritisch beurteilen. Dafür geht Marx sowohl vom Begriff des Subjekts und seiner Glücksbedürftigkeit als auch von der geschichtlichen Form der Realisierung von Subjektivität und der Einsicht aus, dass diese unter wechselnden gegenständlichen Bedingungen sowie gesellschaftlichen und politischen Formen geschieht. Im Mittelpunkt dieser geschichtlichen Einsicht steht die Erkenntnis, dass die Organisation kollektiven menschlichen Handelns grundsätzlich immer von den Formen abhängt, in denen die Menschen ihr materielles Überleben organisieren. Um Zwecke zu verfolgen, müssen Menschen leben, und die Bedingungen, unter denen sie leben können oder müssen, sind zugleich Bedingungen aller weiteren Zwecksetzungen (Marx und Engels 1990, S. 20–50). Deshalb gehen die Ergebnisse der politischen Ökonomie nun auch konstitutiv, als Sachbestimmtheit, in die theoretische Form der Kritik ein. Die Möglichkeit dieser theoretischen Wende hängt aber auch hier nicht allein von innertheoretischen Faktoren ab, sondern von einem erneuten Wandel in der Form der Gesellschaft. Zwar ist und bleibt die neuzeitliche Gesellschaft eine bürgerliche, kapitalistisch wirtschaftende, aber innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise kommt es zu einer technischen Veränderung, die die kapitalistische Form der

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An einem systematischen Begreifen der Marxschen Theorie ist die gegenwärtige Marx-Renaissance dezidiert nicht mehr interessiert: „Wenn Marx also ‚wieder‘ aktuell ist, dann gerade nicht, weil er vor 150 Jahren bereits die richtigen Antworten gegeben [. . .] hätte. [. . .] Aktuell wird er allenfalls durch die Relevanz seiner Problemstellung [. . .]. [. . .] dass Marx’ Schriften neuerdings wieder als ein Steinbruch für Beiträge zu aktuellen Diskussionen in einer Vielzahl philosophischer Disziplinen fungieren, dass man also mit Marx auch unterhalb des Gesamtsystems arbeiten kann, ist [. . .] als ein gutes Zeichen zu werten. [. . .] man nimmt sich Stücke und Motive aus seinem vielfältigen Werk, die für die eigenen systematischen Interessen produktiv sind [. . .]“ (Jaeggi und Loick 2013, S. 11). Das ist weit mehr als die Aufhebung eines vermeintlichen Heiligenstatus’; es ist das erklärte Desinteresse, eine Theorie als Theorie zu behandeln, das freilich auf die HegelRezeption heute genauso zutrifft und dem ganz offen das Interesse unterliegt, irgendeine ‚eigene‘ Vorstellung damit auszustaffieren. Mit dem Herauslösen von Stücken einer kritischen Theorie aus ihrem Begründungszusammenhang wird ihr kritischer Gehalt zu etwas Zufälligem degradiert. Ein krasses Beispiel bietet im zitierten Band Brudney 2013, der strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Begründer radikaler Kapitalismuskritik (Marx) und dem Godfather der implizit-rekonstruktiven Kapitalismuslegitimation (Rawls) zu finden weiß.

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Gesellschaft auf den Punkt bringt und dadurch eine neue Form von Kritik möglich und notwendig macht. Im Zuge der Industrialisierung kommt es erst zur allgemeinen Durchsetzung spezifisch gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit im Handeln der Menschen. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert schlägt die Dialektik der bürgerlichen Freiheit um: Die mittels Reflexion auf die Emanzipation des bürgerlichen Rechtssubjekts aus Privilegien- und Willkürherrschaft gewonnenen Prinzipien Freiheit und Gleichheit werden verkehrt zu formellen Grundsätzen einer gesellschaftlichen Herrschaftsordnung, die Marx polemisch als „Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham“ (Marx 1990, S. 189) charakterisiert. Damit können diese Prinzipien nicht mehr in derselben Weise als Prinzipien sozial- oder rechtsphilosophischer Kritik dienen, wie dies im Naturrecht mit seiner Stoßrichtung gegen feudale Privilegien und Willkürherrschaft der Fall war. Stattdessen ist nun zu erklären, wieso trotz der immer weiter gehenden Durchsetzung bürgerlicher Rechtsprinzipien massive soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen das Leben der Menschen bestimmen. Der theoretischen Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschaft kommt eine grundlegende Bedeutung zu, und diese Bedeutung hat ihren realen Grund in der allgemeinen Durchsetzung der industrialisierten kapitalistischen Produktionsweise. Am Anfang der bürgerlichen Neuzeit steht die Auflösung der mittelalterlichen Lehnordnung. Die Bauern werden zwar aus der Leibeigenschaft entlassen, aber sie verlieren zugleich jeden Anspruch auf die Nutzung von Grund und Boden, der allmählich aus der nutzenorientierten Besitzform des Lehnwesens in bürgerliches Privateigentum und damit in exklusiven Großgrundbesitz überführt wird. Damit sind die Arbeiter zwar bereits im frühen Kapitalismus vom Kapital abhängig, weil sie nicht über die Produktionsmittel verfügen, die sie brauchen, um mit ihrer Arbeitskraft Waren herzustellen. Sie können ihre Arbeitskraft nur anwenden, überhaupt etwas produzieren, wenn sie die Arbeitskraft zu den Bedingungen der Produktionsmittelbesitzer verkaufen. Das Leben der Menschen hängt davon ab. Deshalb sind Produktionsmittelbesitzer in der Lage, die Arbeiter länger arbeiten zu lassen, als es zu deren eigener Selbsterhaltung notwendig wäre. Sie können die Arbeiter erstens ökonomisch zwingen, Mehrarbeit zu leisten, deren Produkt sie sich zweitens aneignen können, weil sie Eigentümer der Arbeitsbedingungen sind. Das darin liegende Herrschaftsverhältnis ist aber noch an Personen gebunden. Marx nennt dies in Anlehnung an Hegelsche Terminologie ‚formelle‘ Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, weil hier das herrschende Prinzip Kapital als formell entgegengesetztes Prinzip in der empirischen Gestalt eines Kapitalisten auftritt. Da aber Arbeitstage auch mit Gewalt nicht unbegrenzt zu verlängern sind, ist das unbegrenzte Verwertungsbedürfnis des Kapitals nur durch die Produktion von relativem Mehrwert zu befriedigen, der dadurch erzielt wird, dass die Produktivkraft der Arbeit durch technische Revolutionierung der Arbeitsprozesse gesteigert wird, wodurch sich das Verhältnis von bloß reproduktiver Arbeit und Mehrarbeit innerhalb eines gegebenen Arbeitstages zugunsten der Mehrarbeit verschiebt. Diese Mehrwertquelle führt unter anderem zur systematisch betriebenen Organisation betrieblicher Arbeitsteilung, in der schließlich jeder Arbeiter nur eine Teilfunktion möglichst effektiv ausführt. Das materialisierte Produkt der Kopfarbeit, nämlich die auf wissenschaftlicher Arbeit

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beruhende industrielle Maschinerie, tritt dem Anwender fremd und feindlich gegenüber (Marx 1990, S. 531). Sie nimmt ihm das Werkzeug aus der Hand, entwertet alle seine Qualifikationen und macht ihn zu einem Anhängsel der Maschinerie. Dadurch, so Marx wieder in terminologischer Anlehnung an Hegel, wird die Arbeit dem Kapital ‚reell‘ subsumiert: Arbeit und Kapital sind hier derart organisch vermittelt, dass es kein äußerlich erscheinendes Herrschaftsverhältnis mehr gibt, sondern Herrschaft ist in der veränderten Gestalt des Produktionsprozesses selbst inkorporiert. Aber die Maschinerie selbst übt keine Herrschaft aus. Dem gesellschaftlichen Prinzip der Herrschaft von Menschen über Menschen, dem Privateigentum an Produktionsmitteln zum Zweck der Verwertung von Wert, korrespondiert keine Anschauung mehr; es ist nur mehr durch Theorie auf seine empirischen Erscheinungen zu beziehen.3 Diese von Marx entdeckte Nicht-Anschaulichkeit gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen ist das entscheidende Argument für eine theoretische Form der kritischen Gesellschaftstheorie, die mit theoretischen Begriffen, die selbst nicht empirisch sind, den Erfahrungsbestand durchdringt und ihn aus seiner nicht-anschaulichen Gesetzmäßigkeit heraus bestimmt und erklärt. Die theoretischen Begriffe sind solche, die sich in der erkenntnistheoretischen Reflexion der philosophischen Tradition als nichtinduzierbare Voraussetzungen theoretischer Erkenntnis erwiesen haben, z. B. Begriffe wie Ursache und Wirkung oder Wesen und Erscheinung. Zudem geht die Marxsche Gesellschaftstheorie davon aus, dass die gesellschaftliche Funktion einzelner Phänomene nur im Verhältnis zum theoretischen Ganzen der Gesellschaft bestimmbar sind; die Totalität gesellschaftlicher Phänomene ist aber ebenso wenig empirisch fassbar wie die Relationen der Phänomene, durch die

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Kritische Impulse, die hinter die Kapitalkritik zurück oder daran vorbei wollen, missraten zu einer konservativen Kulturkritik, die an die Gründe der Herrschaft nicht mehr heranreicht. Autoren dieser Richtung sind so unterschiedliche wie Friedrich Nietzsche, Sören Kierkegard, Sigmund Freud, Martin Heidegger, Ernst Jünger und sein Bruder Friedrich Georg, Carl Schmitt oder Hannah Arendt. Was ihnen bei allen Unterschieden gemeinsam ist, ist der Versuch, einen Begriff von Gesellschaft zu fassen, der weder ökonomische, noch geschichtliche, noch subjekttheoretische Erkenntnisse berücksichtigt. Die Negativität, die ihm beigelegt wird, bleibt deshalb unbegründet und in ihrer Richtung zufällig, ein ‚Unbehagen in der Kultur‘ (Freud 1974, S. 191–270). Freud bestimmt am Ende des Textes die Fehlentwicklung der Gesellschaft als Ausdruck des „Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb[s]“ und sieht die Möglichkeit einer Korrektur darin, dass „der ewige Eros [. . .] sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner [. . .] behaupte[]“. Zweifellos haben Nietzsches Arbeiten zu Geschichtlichkeit und Geschichtsdenken (z. B. Nietzsche 1999a, b) genealogisch ebenso einen Beitrag zur Ausformung kritischer Theorie geleistet wie Kierkegards Thematisierung des vereinzelten und verzweifelten Subjekts (z. B. Kierkegaard 2005), aber sie laufen für sich theoretisch ins Leere. Auch misslingt Nietzsches genealogische Kritik an Kants Moralbegriff, weil sie dessen rationale Stärke nicht zur Kenntnis nimmt: Kant ging es nicht darum, Moral aus der Wirklichkeit moralischer Überzeugungen im Gewissen zu begründen; dies tun heute Konstruktivisten. Für Kant genügte die formale Gegebenheit normativer Urteile als solche, unabhängig von deren Gehalt, für den Nachweis menschlicher Freiheit. Adornos spätere Kritik versucht jedenfalls, sich Kants Gedanken des autonomen Subjekts insofern zu eigen zu machen, als sie ihn ernst nimmt und für das konkrete leibliche Subjekt beansprucht.

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sie strukturiert ist. Auf dieses Verhältnis von Theorie und Empirie wird zurückzukommen sein. Durch die reelle Subsumtion wird die kapitalistische Produktionsweise „allgemeine, gesellschaftlich herrschende Form des Produktionsprozesses“ (Marx 1990, S. 533), und erst dadurch wird die Gesellschaft, der Ort der materiellen Reproduktion, zu einem nach allgemeinen Gesetzen funktionierenden Gesamtzusammenhang. Und hierdurch, durch die durchgehend gesetzmäßige Bestimmung gesellschaftlichen Handelns, wird sie möglicher Gegenstand von Gesellschaftstheorie (Marx 1974, S. 26–27). Auf der Grundlage der Marxschen Mehrwerttheorie können aus der an sich gesetzmäßig verfassten gesellschaftlichen Vielheit durch begrifflich geleitete Beobachtung Prinzipien der theoretischen Rekonstruktion des Gegenstands Gesellschaft erschlossen werden, die erkenntnistheoretisch den Status von Wesensbegriffen gegenüber der variablen Vielheit von Erscheinungen haben, wobei freilich der Wesensbegriff nicht dinghaft zu denken ist, sondern als relationaler Begriff erkenntnistheoretischer Reflexion. Schon der Begriff des Werts, der ersten Kapitalbestimmung, ist als Begriff einer Relation kein Gegenstand möglicher Erfahrung. In der theoretischen Darstellung des Gegenstandes ‚Kapitalismus‘ als System der Verwertung von Werten haben dann alle folgenden Begriffe eine systematisch bestimmte Ordnung. Der Begriff des Werts erhält dadurch seine systematische Bedeutung, dass er bereits auf die spätere Bestimmung des Mehrwerts, insbesondere des akkumulierbaren Mehrwerts, hin angelegt ist (zur Werttheorie: Wienold und Kößler im Handbuch; Bensch 1995). Mehrwert muss in Gestalt von Waren vorliegen, die erneut in den Produktionsprozess eingehen können, denn der Wert von Konsumtionsmitteln verwertet sich nicht weiter, sondern wird in der individuellen Konsumtion vernichtet. Das Kapital wächst gesamtgesellschaftlich nur dann, wenn es Mehrwert in wieder verwertbarer Gestalt produziert, und so bestimmt es sich zur Produktion von Produktivität durch die Produktion von immer produktiveren Produktionsmitteln. Die Produktion von Lebensmitteln wird systematisch zum Anhängsel dieser Produktion von Produktivität, sie fällt auf die Kostenseite der gesamtgesellschaftlichen Bilanz und wird, soweit es physiologisch und kulturell möglich ist, reduziert. Dies bestimmt die entwickelte bürgerliche Gesellschaft zu einem irrationalen Gebilde, das theoretisch aus dem Begriff kapitalistischer Akkumulation aber durchaus systematisch erklärbar ist. Allerdings ist mit dem Systembegriff nicht mehr wie bei Hegel verbunden, dass der Gegenstand damit als rationales Ganzes erwiesen sei; vielmehr geht es darum, Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, die ein in sich widerspruchsvolles und antagonistisches Ganzes in einer stabilen prozessualen Form halten. Die kapitalistische Gesellschaft vereint zudem systematische Stringenz und historische Kontingenz, sie ist eine stabile Herrschaftsform, die das Verhalten mechanisch standardisiert, aber als Herrschaft von Menschen über Menschen eben doch essenziell vom Verhalten von Menschen, der Möglichkeit nach freien Subjekten, abhängt. Insofern tritt als zentrales Herrschaftsmittel auch bei Marx bereits das ideologische Bewusstsein hervor und Gesellschaftskritik wird zum erheblichen Teil Ideologie- und Bewusstseinskritik.

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Historisch-Systematisches Resultat: Formelemente kritischer Theorie

Insofern die Marxsche Gesellschaftstheorie der theoretischen Form nach nicht naiv, sondern selbstbewusstes Resultat der durch Kritik bewegten Geschichte des theoretischen Denkens ist, sind in ihr die nach und nach historisch erarbeiteten Formbestimmungen kritischen Denkens systematisch zur kritischen Theorie verbunden (zu diesen Formbestimmungen: Ritsert 2014). Kritische Theorie ist der logischen Form nach negativ. Sie bestimmt ihren Gegenstand zwar mit dem Ziel systematischer Vollständigkeit, aber nicht in affirmativer Weise. Der kritische erkannte Gegenstand ist erkannt als das, was er in sich notwendig ist, aber es ist zugleich erkannt, dass er nicht überhaupt notwendig so ist, sondern auch anders sein könnte. Diese Negativität allein bliebe aber bloße Negativität ohne weiteren Inhalt, ihr Inhalt wäre sie selbst und damit wäre sie platte Affirmation und Identität. Negativität kann aus sich selbst keine Inhalte hervorbringen, sie muss sich auf Gegenstände beziehen, die von ihr unterschieden sind. Deshalb ist Kritik, um ihrer Negativität willen, auf empirisches, historisches Material angewiesen. Es ist unmöglich, einen kritischen Begriff der Gesellschaft aus begrifflichen Prinzipien zu entwickeln, sondern er muss aus der begrifflichen Analyse und Synthese gegebener gesellschaftlicher Erscheinungen erschlossen werden. Systematisch möglich und auch erforderlich ist dies in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, die erfahrungsanalog nicht mehr beschrieben werden kann, aber auch nicht muss, denn ihre allgemeinen Gesetze können Gegenstand von Theorie sein. Mit der kritischen Verbindung von negativer Form und gesellschaftshistorischem Material, die über eine Gegenstandsbeschreibung kritisch hinausgeht, stellt sich aber die Frage nach dem Maßstab der Kritik. Verbindlichkeit kann sie weder aus individuellen Vorlieben noch aus einem utilitaristischen Durchschnitt beziehen. Die ersten sind partikular, der zweite komparativ allgemein; Theorie ist begrifflich allgemein, d. h. das Kriterium muss begrifflich fundiert sein, ein Prinzip in systematischem Sinn. Der Maßstab der Kritik kann weder aus der negativen Form, noch aus dem materiellen Inhalt der kritischen Theorie stammen, denn die Form ist abstrakt, könnte auf jeden Inhalt angewendet werden, das Material aber ist zufällig oder bestenfalls komparativ allgemein, denn es ist als Material vor aller Kritik bloßer Erfahrungsinhalt (hierzu: Holzer in diesem Handbuch). Der Maßstab der Kritik ist deshalb das kritische Subjekt selbst (Kuhne 2017). Es ist als theoretisches ein vernunftbegabtes Sinnenwesen, das durch Denken die Einheit von sinnlicher Erfahrung und vernunftgeleitetem Denken herstellt. Es unterscheidet und beurteilt Erfahrungsgehalte nach dem Maßstab der Einheit des Selbstbewusstseins. Gegenstände, die als irrational erkannt werden, verfallen der Kritik. Damit reicht theoretische Kritik in die Praxis hinein: Das kritische Subjekt als praktisches ist autonomes Subjekt. Mit diesem Ausdruck sind keine Allmachtsfantasien verknüpft, sondern die bescheidene Einsicht, dass Menschen aufgrund der Reflexivität ihres Bewusstseins nicht naturkausal determiniert sind und deswegen prinzipiell über die intellektuelle Voraussetzung verfügen, ihre eigenen Zwecke zu fassen. Dass sie dies meistens nicht tun, weil die Form der Freiheit durch externe Einflüsse blockiert und deformiert werden kann, ist ein anderes Problem. Jede pragmatische Ermäßigung der Autonomie, die Kant zufolge der Grund der Menschenwürde ist, führt zum Kollaps der Kritik: Wenn es keinen absoluten Wert

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gibt, dann sind alle Erscheinungen nur relativ wertvoll, in Beziehung aufeinander, und die Werte wechseln je nach Relation. Wenn Menschen instrumentalisierbar sind, gibt es keinen verbindlichen Maßstab gesellschaftlicher Ordnung.4 Alles ist aushandelbar, und das Aushandeln hängt von faktischen Machtverhältnissen ab. Deshalb ist es auch theoretisch wie praktisch aussichtslos, das autonome Subjekt in der kritischen Theorie funktional durch Deliberations- oder Rechtfertigungsverfahren ersetzen zu wollen. Wenngleich die individuellen Subjekte nicht gegeneinander oder gegen gesellschaftliche Zwecke aufzurechnen sind, ist Subjektivität doch keine abstrakte, starre Bestimmung. Bestimmbar ist sie nur im Verhältnis zur Objektivität, und darin gründet die historisch verankerte dialektische Form kritischer Theorie. Das Subjekt, das Maßstab der Kritik sein kann, ist nicht einfach als Subjekt da, sondern es steht im Verhältnis zu Objekten. Es kann von Objekten nur durch seine subjektiven Formen hindurch wissen, aber die reale Ausprägung seiner formalen Subjektivität hängt von den objektiven Bedingungen ab, unter denen es lebt, sich selbst erfährt und eine Vorstellung von sich entwickelt. Die Form des Selbstbewusstseins ist nur wirklich in der Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis. Aufgrund dieser wechselweisen Bedingung von Subjekt und Objekt ist ein kritisch reflektiertes Selbstbewusstsein schon erforderlich, um überhaupt ein Bewusstsein von sich und andern sowie anderem zu entwickeln, das über die Reproduktion von Alltagserfahrungen hinaus geht und den Gegenständen selbst gerecht wird. Das Subjekt wird dann nicht allein als Subjekt Gegenstand der Kritik, wie es in der klassischen Erkenntnistheorie war, sondern als objektiv bedingtes Subjekt. In die Erkenntniskritik fließt Gesellschaftskritik ein. Andererseits können die objektiven Bedingungen deshalb Gegenstand der Kritik werden, weil sie selbst Ausdruck historisch realisierter Subjektivität sind. Der emanzipative Charakter kritischer Theorie legt es sodann nahe, Utopie als eine ihrer Formbestimmungen anzunehmen, sowie das der Utopie korrespondierende Vermögen der produktiven Einbildungskraft. In diesem Sinn hat Ernst Bloch den Begriff der ‚konkreten Utopie‘ geprägt (Bloch 1980), der diesen Gedanken gegen die von Marx und Engels vertretene Reduktion der Kritik auf den wissenschaftlichen Sozialismus verteidigen sollte (Marx und Engels 1969 und Engels 1973). Die konkrete Utopie sollte ihrem Gehalt nach nicht bloße Fantasie sein, sondern in Wechselwirkung mit den realen gesellschaftlichen Bedingungen einer möglichen Umgestaltung gedacht werden. Ähnliche Überlegungen zur Dialektik von Denken, Wirklichkeit und Möglichkeit finden sich auch bei Lukács und wieder bei Marcuse, der bereits 1937 die „Phantasie“ ins Spiel bringt, die später für ihn zentral wird (Marcuse 1965a,

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Die sogenannte Selbstzweckformulierung des kategorischen Imperativs, der zu Folge niemand bloß als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck an sich selbst zu behandeln sei, ist ihrerseits instrumentalisiert worden: Dass niemand bloß als Mittel zu gebrauchen sei, heiße doch, man dürfe ihn schon auch als Mittel benutzen, nur eben nicht ausschließlich. Außerdem sei es in der modernen Gesellschaft essentiell, dass man sich wechselseitig zu Mitteln mache. Allerdings setzt diejenige Mittelbarkeit, die nach Kant allenfalls zulässig wäre, voraus, dass der zum Mittel gemachte in dieser Funktion zugleich auch Selbstzweck sein kann. Das aber heißt, er kann nur zu solchen Zwecken zum Mittel gemacht werden, die auch seine eigenen – als eines vernünftigen sinnlichen Wesens – sein könnten.

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S. 122–124). Allerdings ist auch für Adorno neben der Einheit des Subjekts und seiner Autonomie die produktive Einbildungskraft von Interesse, jedoch in erheblich reduzierter Form: Sie ist notwendig für die Vorstellung der Kontingenz des Wirklichen, um die Möglichkeit von Veränderung offenzuhalten: Was ist, ist mehr als es ist (Adorno 1966, S. 61–62; Landwehr 2012)5. Der in diesem Satz liegende Widerspruch kann nur prozessual gedacht werden, als Antizipation der Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit in der gegebenen, und dieser Gedanke ist eine Funktion der produktiven Einbildungskraft; seine bestimmten Gehalte zieht er aber aus dem negativen Verhältnis der Einheit des Selbstbewusstseins zur Wirklichkeit, nicht aus der Phantasie. Kritische Theorie kann aufgrund der Erkenntnis der Kontingenz der Wirklichkeit an dieser bestimmen, was nicht mehr sein soll.

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Das Subjektproblem: Vorgriff auf Herbert Marcuse

Von den bei Marx versammelten Elementen kritischer Theorie erfährt das Subjekt der Kritik kaum eine explizite Darstellung. Es gerät aber, je stärker die Erwartung einer revolutionären Veränderung hinter das Ideologieproblem zurückgedrängt wird, zunehmend in den Mittelpunkt der kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts. Marx hatte die ideologisierende Kraft der Gesellschaft durchaus gesehen, ihr aber zugleich emanzipierende Tendenzen beigeordnet. Das Kapital bricht durch Vergesellschaftung das Widerstandspotenzial der alten artisanalen und agrarischen Gesellschaft, aber es bringt mit der Arbeiterklasse zugleich neues Widerstandspotenzial hervor. Ideologie ist funktional in der gesellschaftlichen Herrschaftsordnung, aber sie ist nicht undurchschaubar. Herbert Marcuse hat diesen systematisch wichtigen Punkt besonders aufgegriffen (H.E. Schiller 1993) und soll deshalb an dieser Stelle anachronistisch vorangestellt werden, zumal seine psychologischen Arbeiten zum Subjekt der Kritik sich auch dadurch der Chronologie sperren, dass sie über einen langen Zeitraum zwar im Austausch mit den anderen Autoren aber doch parallel zu der auf Horkheimer und Adorno führenden Theorieentwicklung verlaufen. Die genaueren historischen Zusammenhänge können hier nicht entwickelt werden (vgl. aber zur Geschichte immer Wiggershaus 1988 und zur Entwicklung in der Bundesrepublik besonders Demirović 1999). Angesichts der Erfahrung, dass das Widerstandspotenzial der Arbeiterklasse unsichtbar wurde, dass es in der Nachkriegsgesellschaft überhaupt keine nicht systemstützende Opposition mehr gebe, hat Marcuse eine psychoanalytische Erklärung versucht, die von der gesellschaftlichen Organisation der Bedürfnisse ausgeht (hierzu: Dahmer, Schmid Noerr und Markard im Handbuch). Mit einer nicht unproblematischen Unterscheidung in wahre und falsche Bedürfnisse (Marcuse 1967, S. 25; Adorno 1972c) versucht er zu zeigen, dass die 5

Aus der Kontingenz geschichtlicher Realität schließt Landwehr allerdings, dass kritische Erkenntnis darin bestehe, bestimmte Urteile nach Möglichkeit zu vermeiden. Ohne bestimmte Urteile ist aber kein Gegenstand zu kritisieren, sondern es wird lediglich die Darstellung in einen unverbindlichen Fluss grundloser Selbstkritik geworfen.

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Gesellschaft die Entwicklung von Bedürfnissen fördere, die der Erhaltung der Herrschaftsordnung dienen. Weil sie überhaupt Bedürfnisse in so großem Umfang befriedige, erscheine die herrschaftliche Organisation dieser Befriedigung selbst als Bedürfnis. Dadurch würden alle oppositionellen Bestrebungen so modifiziert, dass sie der gesellschaftlichen Herrschaft dienlich seien. Diese Gesellschaft nennt Marcuse totalitär. Gleichwohl seien die Organisationsformen, die zur Befreiung aus dem Naturzustand dienten, und dazu gehört auch die Triebunterdrückung zum Zweck geordneter Kooperation, im entwickelten Industriestadium nicht mehr notwendig; vielmehr behinderten sie den Fortschritt zur individuellen Freiheit, der jetzt ohne ökonomische Regression möglich wäre. Der marxistische Befreiungsbegriff, der dem zu Grunde liegt, dürfte sich weniger auf das Kapital stützen als auf die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, deren Wiederentdeckung und Publikation Marcuse in einer Rezension von 1932 begeistert begrüßt (Marcuse 1969, S. 7–54). Diese Schriften haben einen ähnlichen Einfluss auf die Gestalt theoretischer Kritik genommen wie später die Renaissance der Hegelschen Frühschriften mit ihrem Anerkennungsbegriff. In den Manuskripten behauptet Marx, alle gesellschaftlichen Phänomene aus dem Begriff der Entfremdung der Arbeit ableiten zu können. Da Marx in dieser Arbeit weder über den Wertbegriff noch über den Begriff der Mehrwertakkumulation verfügt, bleibt es bei sozialphilosophischen Spekulationen über Beobachtungen, die zwar genau sind, aber sich theoretisch noch nicht ordnen lassen. Der Entfremdungsbegriff kann selbst erst vom Kapital aus einige Bedeutung bekommen, und es hängt von der Gewichtung der reifen Kapitalkritik ab, inwieweit der Entfremdungsbegriff die kritische Theorie bereichert oder aber zur Marginalität herunterbringt. Dies Verhältnis ist nicht immer klar (Rehmann in diesem Handbuch). Dass die kapitalistische Produktionsweise zunächst der Befreiung dient und dann zu ihrer Fessel wird, hatte auch der späte Marx geschrieben. Den nötigen Auslöser für das Sprengen dieser Fesseln hatte er in den unterdrückten objektiven Interessen der Arbeiterklasse gesehen, die durch ökonomische Aufklärung zum Bewusstsein subjektiver Interessen gebracht werden müssten. Marcuses psychoanalytische Erklärung verstellt diesen Weg: Wie von der deformierten Triebstruktur zum Antrieb der Befreiung zu gelangen sei, lässt sich über rationale Argumentation allein nicht mehr klären. Marcuse sucht deshalb die Möglichkeit der Befreiung einerseits in einer ästhetischen Sensibilisierung des politischen Bewusstseins, ähnlich wie Friedrich Schiller sie konzipiert hatte (Marcuse 1965b).6 Die Phantasie sei nämlich der einzige

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F. Schiller 1993, Briefe Nr. 2 und 3. Zwar hat Freud einige Bedeutung dadurch, dass er die Vorstellung eines handlungsmächtigen Subjekts, die noch Marx trotz ideologiekritischer Einsichten festhält, mit erheblichen Einschränkungen versieht. Menschen handeln nicht bloß aufgrund äußerlicher Zwänge irrational, sondern externe Einflüsse wirken sich auf die reale individuelle Ausprägung von Subjektivität und deren sozialem Bindungsverhalten aus (hierzu vor allem Fromm 1932). Für die subjektive Form von Kritik ist dies nicht unproblematisch, denn mit der psychoanalytischen Erklärbarkeit der Verinnerlichung äußerer Zwänge aus der Triebstruktur der vergesellschafteten menschlichen Psyche werden die Erfolgsaussichten rationaler Aufklärung problematisch. Wenn die psychische Struktur in der Vergesellschaftung sich zwangsläufig den Realitätsbedingungen anpasst (Freud 1965, S. 51–59), steht ihr das rationale Argument abstrakt gegenüber.

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Bereich, der nicht durch das Realitätsprinzip völlig deformiert sei. Andererseits sucht Marcuse nach dem revolutionären Subjekt nicht bloß in der Kunst, sondern zunächst in den Gruppierungen der radikal Ausgeschlossenen (die deshalb kein Bedürfnis nach Herrschaftserhaltung haben), der „Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, [der] Arbeitslosen und [der] Arbeitsunfähigen“ (Marcuse 1967, S. 267), später dann auch in der Studentenbewegung (Marcuse 1973). Man kann hier eine Tendenz zu den später so genannten neuen sozialen Bewegungen sehen, die zur Stütze der poststrukturalistischen Wende in der Soziologie gemacht worden sind. Für Marcuse sind diese Gruppen aber klarerweise Ausdruck der Klassenstruktur der kapitalistischen Gesellschaft und geben von daher keinen Anlass zur Abkehr von der Marxschen Theorie (Roth 1985). Dabei changiert er zwischen Passagen, in denen eine nicht näher bestimmte ästhetische Erziehung vorgeschlagen wird, und solchen, in denen klare Bekenntnisse zur theoretischen Bildung und Aufklärung formuliert werden. Dass Marcuse sich nicht festlegt, ist keine Marotte, sondern der theoretischen, nämlich psychoanalytischen Fundierung seiner Kritik geschuldet.

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Situation des 20. Jahrhunderts I: Lukács, Kracauer, Benjamin, Horkheimer, Adorno

Im 20. Jahrhundert wird die Frage, warum die Menschen ihre gesellschaftlichen Zwänge nicht überwinden, obwohl alle theoretischen und gegenständlichen Bedingungen vorhanden sind, immer drängender. Die Arbeiterbewegung korrumpiert sich im Ersten Weltkrieg, indem sie die Waffen nicht gegen die Herrschenden, sondern gegen einander richtete (Bulthaup 1975, S. 131). Was von ihr geblieben war, wurde zunächst von der Sozialdemokratie brutal diszipliniert, dann von den Nationalsozialisten ausgelöscht. Der Faschismus brachte zudem eine systematische Bestimmung des entwickelten Kapitals zur historischen Entfaltung: die Gleichgültigkeit des individuellen Subjekts (Bulthaup 1998b, S. 122–123). Die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln basierende Konkurrenz der Arbeiter untereinander, der systematisch reproduzierte Mangel, begründen eine spezifische Form von Fremdenhass die auch in der Ideologie der Massenvernichtung fungiert Bulthaup 1998b, S. 122 – 123. Die kritische Theorie der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit einer Gesellschaft konfrontiert, die durch diese Erfahrung der radikalen Überflüssigkeit des Individuums hindurchgegangen war (Adorno und Horkheimer 1969, S. 232). Bei allen Widersprüchen und aller Disfunktionalität des Faschismus hat dieser doch dem Kapital einen Dienst erwiesen: Im Kontrast zu ihm erhält der regenierte bürgerliche Kapitalismus den Anschein der selbstverständlichen, mit allem historischen Recht siegreichen Ordnung. Die vom Faschismus bekämpfte Opposition kommt dann nur systemkonform wieder zu sich. Die Egalisierung der Gesellschaft durch den Faschismus wird mit Menschenrechtserklärungen ausgestattet, aber nicht mehr zurückgenommen; das klassische Ideal individueller Vervollkommnung weicht dem der Chancengleichheit. So wird die Gleichheit der Menschen in den Dienst des kapitalistischen Aufbaus gestellt. Dem korrespondiert ein neuer Schub von Positivismus und Historismus in der Wissenschaft sowie eine Tendenz zur affirmativen Illusion

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von Unmittelbarkeit im Bewusstsein: Das Vorrecht subjektiven Empfindens und die Denunziation differenzierenden Denkens, Kernbestimmungen faschistischen Bewusstseins, beherrschen auch in weitem Maße das Selbstverständnis der Nachkriegsgesellschaft. Diese Situation verschärft die gesellschaftstheoretische Problemstellung nicht bloß graduell, sondern sie wirkt sich auf die Form kritischer Theorie aus, die nun an ihrem Wahrheitsanspruch festhalten muss, ohne an die Erfolgserwartungen des frühen Marxismus anknüpfen zu können. Kritische Theorie wird zu dem Unternehmen, das kritische Subjekt gegen seine gesellschaftsfunktionale Vereinnahmung festzuhalten, auch um den Preis der Schizophrenie (Adorno 1973, S. 191–192).

6.1

Georg Lukács

Das zeichnet sich bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen ab. Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zur Massengesellschaft, die „steigende[] kapitalistische[] Vergesellschaftung der Gesellschaft“ (Lukács 1968, S. 340) inspiriert Lukács Anfang der 1920er- Jahre zu erkenntnistheoretischen Überlegungen darüber, wie das kritische Subjekt zu einem adäquaten Bewusstsein der geschichtlichen Wirklichkeit fähig sei, und er stellt dies durchaus in den Rahmen einer allgemeinen materialistisch-dialektischen Erkenntnistheorie. Seine zentrale und einflussreich gewordene Überlegung ist es, die gesellschaftstheoretische Bedeutung des Warenfetischs hervorzuheben. Marx hatte bemerkt, dass gesellschaftliche Eigenschaften wie der Wert, wenn sie allgemeine Prinzipien gesellschaftlichen Handelns werden, als natürliche Eigenschaften der Dinge selbst aufgefasst werden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen, vermittelt über ihre Arbeiten, erscheinen dann als sachliche Verhältnisse, die gesellschaftlichen Verhältnisse werden als dinghaft-natürliche, als Sachzwänge aufgefasst (Marx 1990, S. 87). Diese verkehrte Auffassung ist aber sachgemäß, weil die Bestimmungen der kapitalistischen Gesellschaft das Handeln innerhalb dieser Gesellschaft tatsächlich mit naturkausaler Strenge regeln. Selbst wer dies durchschaut, muss die Sachzwänge in der Alltagspraxis bedienen. Seine Aufgabe sah Lukács darin, den Schein zu erklären und die Richtung des revolutionären Handelns aufzuzeigen. Während Marx kaum an der künftigen Revolution gezweifelt hatte und Aufklärung um der Richtung willen betrieb, hatte er doch zugleich mit dem Warenfetisch die Problematik eines Subjekts der Theorie angesprochen. Lukács bestimmt mit seinem Verdinglichungsbegriff die Ausmaße und die Verdichtung von Ideologie illusionslos: Es „senkt sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen hinein“ (Lukács 1968, S. 185). Wenn die Ware das Element der kapitalistischen Gesellschaft und mit ihr der Fetischcharakter verbunden sei, dann müsse dieser sich folgerichtig über alle Lebensvollzüge ausbreiten, die von der Warenform ergriffen würden. Dagegen will Lukács nun das Proletariat als Träger eines objektiven Bewusstseins von der Gesellschaft aufbieten. Dieses Bewusstsein sei aber nach dem Modell ‚Subjekt erkennt Objekt‘ nicht konstruierbar, weil das Subjekt selbst Bestandteil der Objektivität sei. Die Lösung

Die theoretische Form der kritischen Theorie

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soll darin liegen, dass das Proletariat praktisch verändernd in den Lauf der Geschichte eingreift. Das Problem liegt darin, dass das dafür nötige Klassenbewusstsein als reales erst Resultat der geschichtlichen Praxis ist, wie diese Praxis umgekehrt das Klassenbewusstsein als auslösendes Subjekt voraussetzt. Lukács will auf einen prozessualen Begriff gesellschaftlicher Wirklichkeit hinaus, in dem das Proletariat ein Moment ist. Deswegen soll es in der Lage sein, die in der gesellschaftlichen Dynamik verborgenen Momente, die über die Grenzen des Kapitalismus hinausweisen, wirksam zu machen. Allerdings ist damit ein Modus angedeutet, wie innerhalb eines heteronomen gesellschaftlichen Systems autonomes Bewusstsein als wirklichkeitsbildend gedacht werden kann; aber die Autonomie selbst, die Möglichkeit des Subjekts wird schlicht postuliert: „Diese Verwandlung selbst kann aber nur die – freie – Tat des Proletariats selbst sein“ (Lukács 1968, S. 355). Die Frage nach der Möglichkeit des historischen Subjekts reicht indes hinter ‚das Proletariat‘ zurück: Dort hatte Lukács die Proletarier, die je ideologisch eingebundenen Individuen, vergessen, ihre objektive Konstitution zur Klasse wie selbstverständlich vorausgesetzt.

6.2

Siegfried Kracauer

Der Einzelne gerät hingegen bei Siegfried Kracauer in den Blick, wenn er Ende der 1920er- Jahre vom Ornament der Masse spricht (Kracauer 1977). Die kapitalistische Gesellschaft sieht er in der Tradition organischer Gesellschaftsmodelle, in denen die Einzelnen ebenso wie im Nationalismus als Funktionen eines Ganzen mythologisiert werden, das nicht das ihre ist. Auch Kracauer geht es um die Richtung: Der menschliche Weg aus dem Kapitalismus führt nicht in Gesellschaftsformen niedrigerer Rationalisierungsstufen zurück. Die moderne Gesellschaft ist ein Schritt auf dem Weg zu menschenwürdigen Lebensbedingungen. „Doch die Ratio des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist nicht die Vernunft selbst, sondern eine getrübte Vernunft. Von einem bestimmten Punkt ab läßt sie die Wahrheit im Stich, an der sie einen Anteil hat. Sie begreift den Menschen nicht ein“ (Kracauer 1977, S. 57). Damit ist der selbstbewusste, autonome Einzelne gemeint, also das Individuum, das an der Gattung teilhat: „Der Prozeß führt durch das Ornament der Masse mitten hindurch, nicht von ihm aus zurück. Er kann nur vorangehen, wenn das Denken die Natur einschränkt und den Menschen so herstellt, wie er aus der Vernunft ist. Dann wird die Gesellschaft sich ändern“ (Kracauer 1977, S. 63). Diese Insistenz auf dem vernünftigen, an der Gattung teilhabenden Subjekt wird auch die kritische Theorie nach 1945 bestimmen; die Selbstverständlichkeit dieser Insistenz ist ihr aber abhanden gekommen und deren Begründbarkeit wird ihr zum zentralen Problem.

6.3

Walter Benjamin

Die verzweifelte Form dieses Problems deutet sich bereits bei Walter Benjamin an. Hatte er noch 1936 im Kunstwerkaufsatz vertreten, dass die Massen in den

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Kinos zwangsläufig zu kritischen Subjekten gebildet würden (Benjamin 1955a, bes. VIII und XII), und dass die „Politisierung der Kunst“ (Benjamin 1955a, S. 169) eine Form von Kritik sei, die anders als die bürgerliche Theorie in der Praxis das Subjekt einer kommunistischen Bewegung zu konstituieren vermöchte, so stehen die Thesen Über den Begriff der Geschichte (1939) unter dem Eindruck des Hitler-StalinPaktes, der für Benjamin die Korrumpierung, ja Selbstauflösung des historischen Subjekts bedeutet. Von hier aus rekonstruiert er den bürgerlichen und sozialdemokratischen Positivismus, insbesondere den positivistischen Fortschrittsbegriff als theoretische Form ideologischer Affirmation. Dagegen bietet Benjamin weniger einen Begriff von Geschichte als diese selbst auf: Der fatale kontinuierliche Verlauf der Geschichte soll nicht umgelenkt, sondern angehalten werden. „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst“ (Benjamin 1955b, S. 257). Soweit folgt Benjamin Lukács. Aber er fügt dem revolutionären Bewusstsein der Klasse ein historisches Element hinzu, durch das sie die Individualität und vor allem das individuelle Glück und Leid sich konstitutiv aneignet: Das materialistische historische Bewusstsein soll aus der Not der Gegenwart heraus Geschichte rekonstruieren. Dadurch sollen in dem scheinbaren Fortschritt Niederlagen und Opfer sichtbar werden, die Entwicklung der Menschheit stellt sich als dialektisch in sich gebrochener Prozess dar. Was Benjamin darüber hinaus unmissverständlich klarstellt, ist, dass Kritik im entwickelten Kapitalismus nur mehr aus dem radikalen Anspruch auf Befreiung formulierbar ist. Keineswegs hatte er sich damit nur auf den Faschismus bezogen, sondern diesen ausdrücklich als Gipfelpunkt des bürgerlichen Positivismus dargestellt (zur Geschichtsphilosophie: Bulthaup 1975; zu Benjamin insgesamt: Tiedemann 1973).

6.4

Max Horkheimer

Insbesondere gegen den Positivismus richtete sich dann auch die erste theoretische Reflexion auf kritische Theorie, von der diese auch ihren Namen bezieht: Max Horkheimers Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie von 1937.7 In ihm werden alle bisher entwickelten Formelemente kritischer Theorie zusammengeführt, wie eine Passage vom Schluss des Textes zeigt: „Die kritische Theorie hat bei aller Einsichtigkeit der einzelnen Schritte und der Übereinstimmung ihrer Elemente mit den fortgeschrittensten traditionellen Theorien keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. Diese negative Formulierung ist [. . .] der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft. In eine geschichtlichen Periode wie dieser ist die wahre Theorie nicht so sehr affirmativ als kritisch, wie auch das ihr gemäße Handeln nicht ‚produktiv‘ sein kann. An der Existenz des kritischen Verhaltens [. . .] 7

Dabei kommen Einlassungen Horkheimers aus den 1930er-Jahren zu Materialismus und kritischer Theorie noch mit den späten Arbeiten Adornos zum Positivismus oft wörtlich überein: z. B. Horkheimer 1988b, c, d.

Die theoretische Form der kritischen Theorie

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hängt heute die Zukunft der Humanität“ (Horkheimer 1988e, S. 216; zu Horkheimer: Moritz 1992) Der idealistische Begriff der Vernunft liegt in der Einheit des subjektiven Selbstbewusstseins, die der Kritik vorausgesetzt, aber für sich selbst leer ist und eines Inhalts bedarf. Dieser Inhalt, das Material der Kritik, wird gewonnen durch Negation gesellschaftlicher Erfahrungsgehalte, hier des Unrechts. Dieses negative Verhältnis der Kritik zu ihrem Gegenstand ist zudem geschichtlich bestimmt, worin einerseits ein polemisches Verhältnis zur Ideologie und andererseits ein Praxisbezug gründen (Asbach 1997). Horkheimer gelangt zu dieser Bestimmung zunächst durch Abgrenzung von der von ihm so genannten traditionellen Theorie. Diese wird über ihre logische Form, als System von Sätzen verstanden, die auf einen von der Theorie selbst getrennt gedachten Gegenstandsbereich angewendet oder aus ihm extrahiert werden. Ihr Verhältnis zum Gegenstand ist äußerlich und unhistorisch, sie stellt zeitlos gültige allgemeine Sätze über etwas auf. Diese Denkweise wird bis auf Descartes zurückgeführt. Horkheimers Einschätzung ist, soweit sie Mathematik und Naturerkenntnis betrifft, nicht unproblematisch, denn deren Erkenntnismethoden stellen ja durchaus ein wesentliches Mittel zur Emanzipation menschlichen Lebens aus dem unmittelbaren Naturzwang dar (hierzu: Müller und Bittlingmayer in diesem Handbuch). Dass die neuzeitliche Erkenntnistheorie als Reflexion der modernen Naturforschung das adäquate Selbstbewusstsein dieser Emanzipation ist, kommt bei Horkheimer ebenfalls nicht zum Ausdruck.8 Entscheidender ist aber wohl die Bemerkung, dass die Geisteswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert die positivistische Form der Wissenschaft adaptieren, um ihren Marktwert zu steigern. Außerdem sei die Wissenschaft in ihren technischen Anwendungen (die Horkheimer ebenfalls nicht deutlich von der Wissenschaft unterscheidet) in gesellschaftliche Zwecke involviert. Auch sei zu beobachten, dass das wissenschaftliche Denken in der Geschichte Veränderungen unterworfen sei, und diese bezieht Horkheimer auch auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen des Denkens. Wissenschaft sei Element gesellschaftlicher Arbeitsteilung und daher funktional gebunden. Sie trägt zur gesellschaftlichen Kohärenz bei, selbst wenn sie nicht ökonomisch produktiv ist, sie hat eine mittelbare ökonomische Funktion (zum Ökonomismusproblem Horkheimer 1988a, S. 222). Die traditionelle Wissenschaft hingegen sitzt der Illusion ihrer Unabhängigkeit auf. Weder die Welt noch das Subjekt seien fix gegebene Größen im Sinne des erkenntnistheoretischen Dualismus, in dem das Subjekt nur das passiv aufnehmende sei. Tatsächlich sind beide geschichtlich bestimmt und vermittelt. Die Welt ist

8

Hierauf hat bald Herbert Marcuse aufmerksam gemacht: Marcuse 1965a. Horkheimer hat darauf sofort mit einem klärenden Nachtrag geantwortet, in dem er die Kritik an der Philosophie vor allem auf eine kontemplativ selbstgenügsame Philosophie zuspitzt: Horkheimer 1988a. Letztlich ist die Abgrenzung der kritischen Theorie gegen die traditionelle Wissenschaft nur unter Voraussetzung einer Erkenntnistheorie des kritischen Selbstbewusstseins zu verstehen. Das dürfte Adornos Negative Dialektik motiviert haben. Ex negativo zeigt sich dies bei Geuss 1981, der sich an dem Versuch, den Unterschied kritischer Theorie von ‚scientific theories‘ ohne Bezug auf die philosophischen Voraussetzungen zu bestimmen, die Zähne ausbeißt.

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Resultat geschichtlichen Handelns und das Subjekt ist durch gesellschaftliche Funktionen konditioniert. Das theoretische Selbstbewusstsein dieses Verhältnisses von Subjekt und Welt ist nun die kritische Theorie, die Horkheimer einmal auch kritisches Denken, meistens aber kritisches Verhalten nennt. Offenbar soll damit der die bloße Theorie übersteigende Praxisbezug eingeholt sein. Der Gegenstand dieses Verhaltens ist die Gesellschaft selbst, aber nicht in konstruktiver oder verbessernder Absicht. Es geht um ein kritisches Bewusstsein vom Ganzen. Das „Subjekt[] des kritischen Verhaltens“ (Horkheimer 1988e, S. 181) zeichnet sich dadurch aus, dass es die gesellschaftlichen Bedingungen nicht einfach hinnimmt. Dadurch gerät es aber in einen existenziellen Widerspruch: Es erkennt die Welt als (historisch und theoretisch) seine eigene, die aber (politisch) doch nicht seine ist. Die darin liegende Überwindung der Trennung von wissenschaftlichem und politischem Bewusstsein reproduziert diese Trennung als Spaltung im Subjekt. Bei allem revolutionären Pathos, das Horkheimers Text noch hat, erscheint das Subjekt der Kritik schon als gebrochene Figur, die sich zu dem Material, dessen sie als Subjektivität bedarf, nur negativ verhalten kann, also von sich abstoßen muss, was es benötigt. Dieser Widerspruch in der Form des kritischen Bewusstseins überträgt sich in die Begriffe der kritischen Theorie, die stets affirmative und negative Momente vermitteln; die kritische Theorie ist wesentlich eine dialektische Theorie, sie erhält ihre Bestimmungen nur durch Kritik. Dieses Subjekt ist kein absolutes oder autonomes, sondern ein konkretes. Aber die eigene Konkretion kann es doch nur als unzulänglich begreifen und deshalb Selbstverwirklichung zur historischen Aufgabe machen, weil es – das bleibt bei Horkheimer implizit – von sich als der Möglichkeit nach autonomem Subjekt ausgeht. Die Verankerung der Konkretion in der Erfahrung liegt für Horkheimer in der Konvergenz des kritischen Subjekts mit den objektiven Klasseninteressen des Proletariats. Von hier bezieht es seinen kritischen Impuls, aber keineswegs in Form einer Garantie der Kritik. Die objektiven Interessen der Arbeiter werden von der Kritik ebenso gegenüber dem Kapital wie gegenüber reaktionären Bewegungen im Proletariat verteidigt. Das damit verbundene Ideologieproblem diskutiert Horkheimer ausführlich. Schließlich kommt Horkheimer auch auf die Funktion der Einbildungskraft zu sprechen. Die kritische Theorie knüpft an die gesellschaftliche Gegenwart an und erkennt die in ihr gelegene Möglichkeit einer befreiten Zukunft, z. B. in Akten der Spontaneität, Handlungen aus Freiheit in der Unfreiheit. Diese scheitern zwar politisch, vergegenwärtigen aber real die Möglichkeit der Veränderung. Die damit verbundene Leistung der Einbildungskraft wird auch von Horkheimer als „Phantasie“ benannt, treffender aber noch vielleicht mit dem Ausdruck „Eigensinn“ (Horkheimer 1988e, S. 194; zur Phantasie als subjektkonstitutiv siehe oben Abschn. 5 zu Herbert Marcuse). Im Unterschied zur Phantasie drückt dies auch die verzweifelte Renitenz aus, an der Befreiung auch angesichts ihrer Unwahrscheinlichkeit festzuhalten. Obwohl die kritische Theorie im Unterschied zu den mechanistisch beschriebenen Methoden der traditionellen eher eine organische Rekonstruktion ihres Gegenstandes anstrebt und durch die theoretische Arbeit auch praktisch in diesen eingreift, soll sie doch mit gleicher wissenschaftlicher Strenge verfahren (Ritsert 2011).

Die theoretische Form der kritischen Theorie

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Insbesondere die permanent fortschreitende ideologische Beschädigung der Subjekte stellt ein Problem für die Theorie dar, auf das sie nur durch ebenso permanente Umbildung und Fortentwicklung reagieren kann, wobei diese Fortbildung nicht additiv ist, sondern jeweils das organische Ganze betrifft. Bei diesen Überlegungen, die heute als Assonanzen an den soziologischen Relativismus erscheinen können, ist aber eines klar: „Die kritische Theorie hat nicht heute den und morgen einen anderen Lehrgehalt. Ihre Änderungen bedingen keinen Umschlag in eine völlig neue Anschauung, solange die Epoche sich nicht ändert“ (Horkheimer 1988e, S. 208). Eine Änderung der Epoche wäre erst die vollständige Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, nicht schon die Verlagerung oder Verdeckung von Klassenstrukturen, auf die die Abkehr der neueren Soziologie von der kritischen Theorie sich hauptsächlich stützte.

6.5

Theodor W. Adorno

Die Verbindung der Sozialforschung mit dem gesellschaftstheoretischen Blick aufs Ganze der Gesellschaft bleibt auch bei Adorno der hauptsächliche Ansatzpunkt zur Abgrenzung vom Positivismus. Dem liegt die erkenntnistheoretische Einsicht zugrunde, dass weder wissenschaftliche Urteile über Empirie noch ihre Geltungsgründe Gegenstände möglicher Erfahrung sind. Jene sagen über die Erfahrung Allgemeines aus, das per se nicht anschaulich ist, diese hingegen bestimmen die Gültigkeit von Verknüpfungen von Erfahrungen, und diese Gültigkeit kann ebenso wenig aus den Erfahrungen selbst stammen, wenn sich die Frage nach der Gültigkeit der Gültigkeit nicht ad indefinitum verlieren soll (Adorno 1972a, S. 293). Während positivistische Sozialforschung erhobene Daten, die sie als bloß subjektive Äußerungen ohne soziale Kontexte auffasst, unter methodologisch ermittelte logische Formen subsumiert, also beispielsweise Beobachtungen in Protokollsätzen niederlegt, geht die dialektische Gesellschaftstheorie davon aus, dass auf der einen Seite die subjektiv geäußerten Meinungen von Probanden durch objektive gesellschaftliche Zusammenhänge mitbestimmt sind, die zugleich auch Resultate der Handlungen dieser Probanden sind, und dass auf der anderen Seite auch die Form der Gesellschaftstheorie selbst Resultat einer Geschichte ist; beides muss sie reflektieren, um Ideologie von Wahrheit zu unterscheiden. Wenn es das dialektische Verhältnis von objektiven Formen und subjektiven Vorstellungen nicht gäbe, so wären alle subjektiven Vorstellungen notwendig wahr. Die Möglichkeit der Kritik von Vorstellungen gründet in ihrem Verhältnis zur Objektivität der Gesellschaft als Ganzer (Adorno 1972a, S. 295 und 307–308) Verbunden damit ist das Festhalten der Theorie an der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung (Adorno 1972a, S. 281), allerdings eher in dem gegenüber Aristotelischer Metaphysik verschärften Sinne Hegels, demzufolge die Erscheinung dem Wesen nicht einfach nachrangig ist, sondern zu seinen Konstituentien gehört (Adorno 1972a, S. 292). Daraus folgt, dass Wesen und Erscheinung auch in einem Missverhältnis stehen können, dass am Wesen etwas falsch sein kann, wenn die Erscheinungen ihm inadäquat sind. Das impliziert einen „emphatischen Wahrheitsanspruch“ (Adorno 1972a, S. 284). Dieser

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Wahrheitsanspruch ist aber kein abstrakt übergeschichtlicher, sondern reflektiert auf das Gewordensein des Gegenstands sowie des Denkens (Adorno 1972a, S. 302). Der Streit um die Begriffe der Erfahrung und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis markiert zwar die Grenzlinie zwischen Positivismus und kritischer Theorie, aber den „Brennpunkt der Kontroverse“ (Adorno 1972a, S. 288) verortet Adorno an einem ganz bestimmten Punkt: Der Anspruch des Positivismus – wie jeder theoretischen Disziplin – „auf Modernität kann kein anderer sein als der fortgeschrittener Aufklärung. Er jedoch bedarf der kritischen Selbstreflexion subjektiver Vernunft. Deren Fortschritt, bis ins innerste zusammengewachsen mit der Dialektik von Aufklärung, ist nicht umstandslos als höhere Objektivität zu supponieren“ (Adorno 1972a, S. 288). Adorno bestimmt hier das theoretische Selbstbewusstsein des Subjekts als Zentrum der Theorie. Dieses Selbstbewusstsein ist als Resultat historischer Dialektik kein in sich formell abgeschlossenes, sondern es ist Selbstbewusstsein im Verhältnis zu Anderem, zu seiner Objektivität. Dieses Verhältnis ist aber nicht das einer logischen Subsumtion, sondern es ist ein negatives Verhältnis, in dem das Subjekt die Objektivität, die bildend in es eingeht, zugleich als inadäquate erkennt. Damit sind wesentliche Formelemente von Kritik auch bei Adorno versammelt: Subjekt, Materialität, Negativität, Geschichtlichkeit, Ideologiekritik (hierzu: Schweppenhäuser 1990). Die so verstandene kritische Theorie geht auch bei Adorno aufs Ganze: Das ordnende Verhalten des Subjekts gegenüber dem Material der Erfahrung wird durch den Begriff der Totalität angeleitet, und zwar kritisch: Die Idee der Totalität, die Kant zufolge ein Begriff reiner Vernunft ist, sich deren reflexiver Form verdankt und bloß regulativ zur Ordnung der Denkinhalte verwendet werden darf, weil sich über ihre objektive Realität nichts aussagen lässt, wird zum kritischen Prinzip gegenüber der objektiven Realität, sobald das Subjekt sich nicht bloß passiv zu ihr verhält, sondern negativ reflektiert, dass es eine praktische Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt gibt. Die totalitären Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit widersprechen dem subjektiven Erkenntnisprinzip der Totalität (Adorno 1972a, S. 292). Die Kritik der kritischen Theorie ist nie nur Kritik der theoretischen Darstellung, sondern immer auch Kritik des Gegenstands Gesellschaft selbst. Adornos Kritik der Gesellschaft erliegt dabei nicht der Illusion, nicht selbst auch ein Resultat und Teil dieser Gesellschaft zu sein. Was sich gegen sie sagen lässt, lässt sich nur mit den in ihr selbst entwickelten geistigen Mitteln erfassen und vortragen (Adorno 1977a; Demirović 2004). Damit ist jedoch nicht die Möglichkeit der Kritik aufgehoben, sondern zunächst die Notwendigkeit einer Form von Kritik angezeigt, die ihre eigene Bedingtheit in jedem ihrer Urteile mit reflektierte: Gerade weil solche kritischen Urteile immer selbst im Kontext des Beurteilten stehen, von ihm her ihre Möglichkeit beziehen, sollten sie ihm die Zustimmung verweigern. Grundsätzlich ist damit jede sogenannte ‚konstruktive: sich duckende Kritik‘ (Adorno 1966, S. 329) ausgeschlossen, denn diese bestätigt das bestehende Ganze um partikularer Korrekturen willen. Es ist aber auch die utopistisch motivierte Kritik ausgeschlossen. Wie die befreite Gesellschaft aussehen könnte, darüber gibt die Kritik der Unfreiheit keine bestimmte Auskunft; sie bestimmt lediglich diejenigen Bedingungen, die nicht mit Freiheit kompatibel sind und deren Aufhebung die Minimalbedingung von Befreiung wäre (zum Verhältnis von Utopie und Kritik: Städtler 2005).

Die theoretische Form der kritischen Theorie

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Der Maßstab der Kritik bleiben die Subjekte mit ihren individuellen Glücksansprüchen, die sie erst als autonome Subjekte in einer selbstbestimmt gestalteten Objektivität realisieren könnten (Ritsert 2011, S. 230; Steinert 2007, S. 218). In der gegenwärtigen Gesellschaft steht ihr Glück unter dem Vorbehalt heteronomer Zweckmäßigkeit kapitalistischer Verwertung. Für Adorno bleibt unbestritten, dass „Gesellschaft aus Subjekten sich zusammensetzt und durch ihren Funktionszusammenhang sich konstituiert“ (Adorno 1972a, S. 295). Als Funktionszusammenhang ist Gesellschaft objektive Systemstruktur und daher innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht zu korrigieren. Eine Schwachstelle von Adornos Gesellschaftsbegriff besteht darin, dass er als Prinzip dieses Zusammenhangs immer wieder den Tausch angibt. Der Tausch ist aber Marx zufolge kein Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft, sondern das Medium, in dem die kapitalistische Produktionsweise sich darstellt. Das Prinzip der gesellschaftlichen Herrschaft ist das Produktionsverhältnis zwischen Produktionsmittelbesitzern und Proletariat. Aus dem Tausch selbst folgt keine Herrschaft. Adorno hat dies oft gesehen (z. B. Adorno 2008, S. 49 oder 1966, S. 301–302), aber am Begriff des Tauschprinzips dennoch festgehalten (zu Adornos Marx-Rezeption: Hossdorf 1980). Negativität erhält für Adornos Denken insgesamt fundamentale Bedeutung (zur näheren Bestimmung und für weitere Nachweise zur Debatte um Negativität bei Adorno: Städtler 2012). Während von Marx bis Horkheimer die Negativität der Kritik noch direkt auf die praktische Veränderung der Gesellschaft bezogen war (Bolte 1995), wird dieses Ziel bei Adorno ein vermitteltes. Kritische Theorie ist auf Befreiung aus, aber sie weiß auch, dass die Bedingungen hierfür schlecht stehen. Das dürfte die entscheidende Veränderung der kritischen Theorie durch die Erfahrung von Faschismus und Shoah sein. Adornos Begriff der Negativität sieht nicht mehr in derselben Weise positive Ansatzpunkte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dennoch ist sie kein Negativismus oder Kulturpessimismus; sie ist kein Programm, sondern die konsequente Durchführung der logischen Form von Kritik (Steinert 2007, S. 18). Sie dient dadurch dem Schutz des kritischen Subjekts vorm Mitmachen, der Bewahrung intellektueller Widerstandskraft, um überhaupt den Gedanken an die Möglichkeit politischer Veränderungen offenzuhalten. In der Zeit des Faschismus war das Mitmachen zur Existenzbedingung geworden. Noch der Impuls der Kapitalismuskritik war instrumentalisiert worden von einem sich sozialistisch gebenden Nationalismus. Auch die Nachkriegsgesellschaft, mit der Adorno konfrontiert wird, weist eine besonders hohe integrative Kraft und Homogenität auf, was einen Grund in der Erfahrung der Auslöschung von Widerstandspotenzial in Subjekten wie in Institutionen haben dürfte. Mit einer nicht nur metaphorischen Anlehnung an Hegels Geistbegriff könnte man sagen, dass der Geist der Nachkriegsgesellschaft nicht einfach durch die Beendigung oder Überwindung des Faschismus bestimmt ist, sondern auch dadurch, dass er durch ihn hindurch gegangen ist. Die bürgerliche kapitalistische Gesellschaft nach dem Faschismus integriert nicht nur durch ihren wirtschaftlichen Erfolg, sondern, und das wurde eigentlich erst nach Adornos Tod durch die Krisen offenbar, auch durch einen vom Potenzial zu grundsätzlichem Widerstand gereinigten objektiven Geist. Gegen dieses Klima dichtet Adornos negative Dialektik sich ab. Sie lässt keine positive Aussicht zu, auch nicht

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im Verborgenen oder insgeheim. Durch Konstellation von lauter Negationen lässt sie das gesellschaftliche Ganze als in sich auswegloses gewahr werden. Das Ziel von Kritik liegt jenseits dieser Gesellschaft. Damit steht das kritische Subjekt zugleich innerhalb und außerhalb der Gesellschaft. Das widersprüchliche Selbstbewusstsein der Kritik ist zusammen mit der technischen Möglichkeit einer menschenwürdigen Gesellschaft das Redukt konkreter Möglichkeit von Befreiung in der Gegenwart. Das moderne Subjekt ist nicht nur die theoretische Grundlage der kritischen Theorie Adornos, sondern auch das zentrale Thema seines Denkens. Am konzentriertesten lässt sich dies anhand des Zweiten Teils der Negativen Dialektik darstellen (Städtler 2015; Weyand 2001). Von hier aus verstehen sich auch dessen Materialität, Negativität und Geschichtlichkeit. Am Subjekt interessieren Adorno vor allem die praktischen Gründe und die theoretischen Formen, durch die es sich selbst missversteht. Die zentrale Frage ist, wie die historische Durchsetzung des Subjektprinzips gleichzeitig zur Stillstellung der Spontaneität führen konnte oder doch zu ihrer Instrumentalisierung, was einer Stillstellung gleichkommt (Adorno 1966, S. 75). Adorno führt diese ‚Entmächtigung des Subjekts‘ darauf zurück, dass Subjektivität im Kontext gesellschaftlicher Funktionen zur Entfaltung kommt, in denen sie zugleich instrumentalisiert und dadurch als Subjektivität neutralisiert wird. Der Erfahrung des Subjekts, das in seiner Entwicklung zugleich entmächtigt wird, korrespondiert ein systematisches Problem im theoretischen Selbstbewusstsein moderner Subjektivität: Die subjektive Identität, die den systematischen Grund für Objektivität darstellt, kann die Differenz, ohne die sie kein bestimmtes Denken wäre, nicht aus sich selbst hervorbringen. Damit ist angedeutet, dass das Subjekt nur in einem grundlegenden Verhältnis zum Objekt Subjekt sein könne. Wenn Subjekt nur im Verhältnis zum Objekt und Objekt nur im Verhältnis zum Subjekt bestimmt werden kann, dann kann jedes nur gedacht werden, insofern sein Anderes gedacht wird. Damit übernimmt Adornos kritische Theorie grundsätzlich die dialektische Form aus dem Idealismus, will dieser aber durch ‚rücksichtslose Selbstkritik‘ der Philosophie ihren Gegenstandsbezug erschließen (Adorno 1966, S. 13–14). Adornos dialektischer Subjektbegriff will daher von Anfang an auf eine negative Wendung der Dialektik hinaus. Das Subjekt muss um eines kritischen Bewusstseins seiner selbst willen auf seine objektiven Bedingungen reflektieren. Da die Konstruktion dieser Bedingungen vom Subjekt her dem Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, in dem die totale Funktionalisierung der Subjekte als einzige Gestalt ihrer Freiheit erscheint, gilt es, die Subjekte als Funktionen einer zweiten Natur zu begreifen und aus diesem Widerspruch die Möglichkeit von Autonomie neu zu bestimmen. So wäre Autonomie nicht die bloße Form der spontanen Vernunft, sondern das in den gewordenen und daher geschichtlich verfassten Bedingungen des Handelns objektiv begründete Potenzial von Subjektivität (Adorno 1966, S. 62). Die Gegenstände des Denkens sind nicht einfach da, sondern sie stehen als Gegenstände im Verhältnis zu menschlicher Zwecksetzung. Diese Zwecke stehen ihrerseits unter den jeweils historisch geltenden politischen und sozialen Zwecken, unter denen überhaupt Erkenntnis stattfindet. Dies hat Adorno als den Zeitkern der Wahrheit bezeichnet (Adorno 1970a, S. 285).

Die theoretische Form der kritischen Theorie

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Dass Wahrheit einen Zeitkern habe, bedeutet nicht, dass ihr Geltungsanspruch auf die historischen Bedingungen ihrer Genese reduziert wäre. Im Gegenteil geht es darum, den Erfahrungsgehalt von Erkenntnis zur Geltung zu bringen, ihn im allgemeinen Begriff von Erkenntnis mit zu reflektieren, ohne diesen jedoch um seine allgemeine und notwendige Form zu bringen. Die Rede vom Zeitkern der Wahrheit versucht, die in der Überzeitlichkeit sedimentierte Zeitgebundenheit des klassischen deutschen Subjektbegriffs in einem Erkenntnisbegriff zu überwinden, der den Erfahrungsgehalt in der Form von Erkenntnis mit reflektieren soll. In der Fehleinschätzung dieses Zeitkerns liegt die Möglichkeit von Ideologie. Sowohl die Behauptung absoluter Zeitlosigkeit von Erkenntnis als auch die entgegengesetzte Historisierung des Denkens zum Narrativ sind falsche Vorstellungen. Das Entscheidende an Ideologiekritik ist daher die Verschränkung theoretischer Kritik mit einem historischen Moment (hierzu: Rehmann in diesem Handbuch). Dies denunziert nicht die kritisierte Position, sondern achtet ihren rationalen Gehalt; es versagt freilich vor der akademischen Produktion unkritischer Soziologie, denn diese ist weder systematisch zu begreifen, weil sie den Anspruch auf Rationalität – oft explizit – aufgegeben hat, noch historisch, weil sie aufgrund der Verweigerung rationaler theoretischer Voraussetzungen noch hinter die klassische Ideologie der Nationalökonomie zurückfällt, noch auch funktional, denn der Kapitalismus der reellen Subsumtion bedarf solcher Apologetik nicht. Der Positivismusstreit war vielleicht der letzte Versuch einer ideologiekritischen Klärung, der noch einen greifbaren Gegenstand hatte. Im Unterschied zu postmodernen Soziologien war der klassische Positivismus mit einem eindeutigen und darum kritisierbaren Erkenntnisanspruch aufgetreten. Ideologiekritik ist übrigens kein Privileg der Philosophie, deren akademische Entwicklung mutatis mutandis doch ähnlich verläuft wie die der Soziologie ein Unterschied besteht nur darin, dass Soziologen, wenn sie ideologiekritische Theorie betreiben, sich selbst den Boden entziehen, denn die Konsequenz von Ideologiekritik ist die Überwindung derjenigen bürgerlichen Gesellschaft, als deren theoretisches Selbstbewusstsein die Soziologie im 19. Jh. entstanden war. Diese Konsequenz widerspricht zwar der akademischen Institutionenlogik, dürfte aber als Preis für eine befreite Gesellschaft – in der alle Wissenschaften sich verändern würden – nicht zu hoch angesetzt sein. Nur aus der gegenwärtigen Perspektive erscheint er vielen als unbezahlbar. Mit Adornos Begriff der Ideologie als „gesellschaftlich notwendig falsches Bewußtsein“ (Adorno 1977b, S. 585) ist wiederum ein Problem der erkenntnistheoretischen Form verbunden: Notwendigkeit ist ein Merkmal von Wahrheit. Ließe sich falsches Bewusstsein als notwendig ausweisen, wäre es formal von der Wahrheit nicht unterschieden. Außerdem wäre dann notwendig jedes Bewusstsein falsch, so dass ein kritisches Bewusstsein formal unmöglich wäre. Die Lösung sieht Adorno darin, dass Gesellschaft zweite Natur ist. Ihre objektiven Strukturen sind verdinglichte subjektive Zwecke. Deshalb kann Gesellschaft ihrem eigenen Begriff fundamental widersprechen (Adorno 1977a, S. 19). Der Ausweg aus der Notwendigkeit ideologischen Bewusstseins liegt in der Bestimmung des Denkens als Vermögen: Auch der falsche Gedanke ist subjektive Aktualisierung von Denkvermögen, und darin liegt immer ein Moment von Spontaneität: „Eigentlich ist Denken schon vor

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allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand“ (Adorno 1977g, S. 798). Die formale Bedingung der Aktualisierung dieser Kraft ist die Verbindung des gegen sich selbst kritischen spekulativen Denkens mit der Erfahrung der Unangemessenheit seiner Ergebnisse an die gesellschaftliche Wirklichkeit (Städtler 2005). In dieser Differenz, von Adorno Nichtidentität genannt, liegt das gegenständliche Substrat seines Materiebegriffs. Der Begriff des Nichtidentischen, den Adorno als „Scharnier negativer Dialektik“ (Adorno 1966, S. 24). bezeichnet, steht für die Asymmetrie von Vermittlung und Unmittelbarkeit, für den Umstand, dass die Vermittlung sich das zu Vermittelnde, dessen sie bedarf, nicht selbst erzeugen kann. Adorno kritisiert schon in der Kierkegaard-Arbeit die Vorstellung „objektloser Innerlichkeit“ (Adorno 1979, S. 46). Die Gegenstände lösen sich nicht in der Bewegung des Begriffs auf, sondern die Begreifenden sind fundamental in einer selbst gegenständlichen Beziehung auf die Gegenstände bezogen. Denken ohne solche Differenz bleibt leer. Das Nichtidentische ist somit selbst Moment erkenntnistheoretischer Reflexion, das dort ansetzt, wo das Selbstbewusstsein als reine Sichselbstgleichheit in sich zusammenzufallen droht. Dieser theoretischen Situation korrespondiert die Beziehung praktischer Selbstbestimmung auf gegenständliche Bedingungen. Die formale Allgemeinheit vernünftiger Zwecke gründet im Subjekt, aber ihr Zweckcharakter setzt reale Bedingungen voraus. Reine Selbstbestimmung wäre leer. Ihr Verhältnis zum Glück bliebe unbestimmt, weil solche Reinheit bloß Negation von Bedürfnissen ausdrückt. Eine objektive Vermittlung subjektiver Selbstbestimmung gelingt nur, wenn die objektiven Bedingungen nicht vollständig in subjektiven Bestimmungen aufgehen. Dem Nichtidentischen entspricht im Erkennen dasjenige, was Adorno ‚Mimesis‘ nennt. Es geht darum, in der Erkenntnis nicht das Besondere zu subsumieren und zu katalogisieren, sondern es als Besonderes zu erschließen. Ohne allgemeine Begriffe lässt sich aber keine Erkenntnis formulieren. Es wären Begriffe erforderlich, die gegen ihre eigene begriffliche Form so kritisch wären wie gegen ihre Gegenstände. Zugleich käme dieser Erkenntnisform ein ästhetisches Moment zu, das Adorno als mimetische Anschmiegung an den Gegenstand bezeichnet: Erkenntnis wird nicht methodisch geregelt hergestellt, sondern ähnelt sich dem Gegenstand an, wird zum Ausdruck von dessen eigener innerer Form, so wie Mimesis (Nachahmung) in der Kunst durch stilisierte Darstellung die dem Stoff eigene Wahrheit zur Geltung bringen soll (Adorno 1970b, S. 354, 1974). Subjektiv setzt solches Erkennen ein gebildetes Urteilsvermögen voraus, objektiv aber die Tatsache, dass die zu erkennenden gesellschaftlichen Phänomene als geistige eine Verwandtschaft mit dem erkennenden Prinzip haben. Mimetische Erkenntnis erhält so eine präzise Bedeutung: Gesellschaftstheorie ist Erkenntnis von Geistigem durch Geist, letztlich formal Reflexion des Geistes auf sich selbst und auf seine ihm von ihm selbst vorausgesetzten materiellen Daseinsbedingungen. Indem der Geist sich selbst als Prinzip von Gesellschaft erkennt, schließt er diese von innen her auf. Dabei erkennt er aber auch, wo das geistige Prinzip von Gesellschaft nicht in angemessener Weise realisiert ist, wo die Rationalität der Gesellschaft irrational wird, wo Brüche im System sind. Das adäquate Mittel der Darstellung solcher geistiger Erfahrung ist das Denken in Modellen, das Allgemeines im Besonderen zeigt: „Die Forderung nach

Die theoretische Form der kritischen Theorie

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Verbindlichkeit ohne System ist die nach Denkmodellen“ (Adorno 1966, S. 39). Damit wird keineswegs das Prinzip systematischen Denkens preisgegeben. Ohne den emphatischen Anspruch auf Wahrheit (Adorno 1972a, S. 284) des Gedankens und damit auf seine begründbare Beziehung auf Gegenstände würde jeder Anspruch auf seine Verbindlichkeit zur puren Herrschaftsgeste. Daran reflektiert sich der Materialismus der negativen Dialektik: „In der Idee objektiver Wahrheit wird materialistische Dialektik notwendig philosophisch, trotz und vermöge aller Philosophiekritik, die sie übt“ (Adorno 1966, S. 198). In der Einsicht, dass theoretische Erkenntnis nicht unabhängig neben der menschlichen Praxis steht, sondern dass Naturerkenntnis und deren philosophische Reflexion sich in Wechselwirkung mit Naturbearbeitung und Naturbeherrschung sowie deren gesellschaftlicher und politischer Geschichte entwickeln, gründet Adornos im Prinzip konsequente, in der Durchführung aber oft problematische Verknüpfung von Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie (hierzu: Ludwig in diesem Handbuch). Adorno verlangt vom theoretischen Subjekt kritischen Denkens, dass es noch in der erkenntnistheoretischen Reflexion dessen gewahr bleibe, dass sie die erkenntnistheoretische Reflexion eines empirischen Subjekts auf seine allgemeinen Formen ist und dass diese ohne jenes nicht wären. „Die Einheit des Bewußtseins ist die des einzelmenschlichen und trägt auch als Prinzip sichtbar dessen Spur“ (Adorno 1966, S. 180). Ein Bewusstsein, das nur die Reflexion seiner eigenen Form wäre, unabhängig von jeder Beziehung zu bestimmtem Bewusstsein, kann es nicht geben. Die Erfüllung der Form ist aber aus dem Begriff der Form nicht zu deduzieren. Ohne solche Erfüllung erfüllen die Formen aber ihren eigenen Begriff nicht. Diese Unerfüllbarkeit des reinen Denkens ist die Spur des einzelmenschlichen Bewusstseins in der Einheit des Bewusstseins. Mit dem einzelmenschlichen Bewusstsein geraten die Bedingungen, unter denen es Selbstbewusstsein formuliert, in den Blick, denn diese sind das Einzige, das sie von ihrer allgemeinen Form unterscheidet. Der Unerfüllbarkeit reinen Denkens korrespondiert die Differenz zwischen Denken und Natur, die in der zweiten Natur keineswegs vermittelt, sondern konserviert ist. Diese Differenz von Denken und Natur wird in der modernen Gesellschaft geradezu zum Hebel, an dem Herrschaft ansetzt. Die materiellen Bedingungen des Selbstbewusstseins werden so reproduziert, dass die Subjekte einerseits abhängig bleiben, andererseits aber glauben, nur diese Abhängigkeit gewährleiste ihre Reproduktion und mit dieser das ihnen erreichbare Maß von Freiheit (Adorno 1966, S. 169).9 Dass die Menschen im Zuge ihrer durch Herrschaft, also immer durch partikulare Zwecke, organisierten Naturbeherrschung die natürlichen Objekte nicht mehr als das 9

In diesem Kontext ist auch für Adorno die Psychoanalyse ein Faktor, um die ideologische Konstitution der Subjekte zu verstehen. Dies führt aber nicht zu einer Revision der soziologischen oder politischen Kritik. Vielmehr dient die Psychoanalyse dem Verständnis solcher allgemeiner Konstituentien der psychischen Struktur, auf die gesellschaftliche Deformationen aufsatteln können. Eine zentrale Bedeutung haben dabei Gewalterfahrungen (Adorno 1972b, S. 20–41, 1972a S. 290–291; zur Psychoanalyse: Dahmer, Schmid Noerr und Markard in diesem Handbuch).

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momenthafte Gegenstück ihres subjektiven Geistes, ohne den dieser nichts ist, begriffen haben, sondern immer mehr als bloße Verfügungsmasse zur partikularen Bereicherung, hat Adorno zufolge in der Erkenntnistheorie zu abstrakt isolierten Begriffen von Subjekt und Objekt geführt, deren Verhältnis letztlich konsequent aus dem Subjekt bestimmt worden ist. Dagegen betont Adorno einen ‚Vorrang des Objekts‘ (Adorno 1977d, S. 746–747). Dieser ‚Vorrang des Objekts‘ kann nicht die Geschichte zurückdrehen, meint auch nicht die metaphysische intentio recta, derzufolge ein unmittelbarer erkennender Zugriff aufs Objekt möglich wäre. Objektivität ist hiernach weder naive Unmittelbarkeit (Adorno 1966, S. 185), noch ein Letztes, Gegebenes (Adorno 1966, S. 164–165): „Der Vorrang des Objekts, als eines doch selbst Vermittelten, bricht die Subjekt-Objekt-Dialektik nicht ab. So wenig wie die Vermittlung ist Unmittelbarkeit jenseits von Dialektik“ (Adorno 1966, S. 187). Allerdings ergibt sich eine materielle Asymmetrie im Begriffsverhältnis: Wenngleich Subjekt so wenig ohne Objekt wie Objekt ohne Subjekt zu denken ist, kann zwar „Objekt [. . .] nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt“ (Adorno 1966, S. 184). Auch ist das physische Substrat dasjenige, vermöge dessen überhaupt Erfahrungsgehalte ins Subjekt gelangen. Und in diesem existenziell grundlegenden Sinn ist das Subjekt selbst ein Objekt: Es kann nur als gegenständliches, leibhaftes, existieren. Die Objekte sind zwar subjektiv bestimmt, insofern Subjekte von ihnen wissen, aber das Dasein der Objekte setzen die Subjekte damit nicht, und das erscheint eben in der Erfahrung, die lehrt, dass Subjekte über die materiellen Bedingungen ihres Denkens ebenso wenig verfügen wie über die ihrer eigenen Existenz. Sehr wohl aber verfügen sie mittels negativer Dialektik über die Möglichkeit kritischer Organisation dieser Bedingungen. „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden soll“ (Adorno 1966, S. 203). Das bedeutet, dass die Gesellschaft „so eingerichtet werde, wie die Produktionsmittel [. . .] [genauer: deren Eigentumsverhältnisse, M. St.] unerbittlich es verhindern, und wie es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens“ (Adorno 1966, S. 203).10 Der negative Verweis der Darstellung auf ein Offenes, das nur und erst in der bewussten gesellschaftlichen Praxis der Menschen selbst erschlossen werden könnte, ist theoretisch nicht weiter zu entwickeln. Diese Grenze theoretischer

Theunissen verzerrt diese Forderung zur „Utopie der totalen Zufallsverhütung“ (Theunissen 1969, S. 14) Konsequent erscheint ihm der materialistische Anspruch, an der Bedeutung des physischen Substrats gegen den idealistischen Subjektivismus festzuhalten, als objektivistische Naturontologie, die sich als Kehrseite einer Überstrapazierung des empirischen Subjekts einstelle. Diese Überforderung sieht er in der Annahme, die Menschen könnten ihre Angelegenheiten kollektiv vernünftig regeln und so der transzendentalen Einheit der Apperzeption geschichtlich zur Wirklichkeit verhelfen. Schließt man die Kausalität aus Freiheit als Überforderung aus, erscheint freilich Karl Popper als Inbegriff kritischer Theorie (Theunissen 1969, S. 40).

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Die theoretische Form der kritischen Theorie

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Darstellbarkeit wird bei Adorno durch die, oft unverstandene, Bedeutung der Ästhetik bezeichnet. Dabei geht es nicht darum, dass Philosophie in Kunst überginge, sondern dass sie eines ästhetischen Moments bedarf, wenn sie nicht kontemplativ bei sich selbst bleibt, sondern bei ihren gesellschaftlich gebildeten Gegenständen ist. Kritische Erkenntnis von Gesellschaft bedarf sowohl der Erfahrung des Leids wie der von Freiheit in ihrem leidvollen Scheitern an der Gesellschaft. Solche Erfahrung bleibt unmittelbar, dumpfer Schmerz, wenn sie nicht modellhaft in ihrer Allgemeinheit bewusst zu machen ist. Dies wird ermöglicht durch Kunsterfahrung, die dann freilich ihrerseits eines philosophischen Moments bedarf (weitere Nachweise zur Debatte um die Ästhetische Theorie: Städtler 2014). Adornos Bestimmung kritischer Theorie ist auf die Möglichkeit des kritischen Subjekts gerichtet. Konsequentes, kompromisslos negativ auf seinen Gegenstand bezogenes Denken und ästhetische Erfahrung sind in doppelter Weise Form des kritischen Subjekts: Sie ermöglichen ihm die Kritik und sie ermöglichen es ihm zugleich, bei aller Zerrüttung im Gedanken an seine Gegenstände bei sich selbst zu bleiben. Dies ist kaum eine Versöhnung im Bewusstsein, sondern die Fähigkeit, vermöge der Kritik in den Gegensätzen an sich selbst festzuhalten, nicht einer Seite nachzugeben und dadurch sich selbst zu verlieren. Das erweckt den Anschein, als habe die kritische Theorie Adornos den praktischen Anspruch des frühen Horkheimer oder Benjamins verloren gegeben. Adorno hat allerdings, im Unterschied zu Marcuse, darauf bestanden, dass die Nachkriegsgesellschaft sich nicht in einer revolutionären Situation befinde. Er hat noch in seinen letzten Aufsätzen gegen die Studentenbewegung vertreten, dass es nicht die Aufgabe des Theoretikers sei, revolutionäre Politik zu betreiben (hierzu: S. Martin in diesem Handbuch; Adorno 1977e, f, g; Adornos Theorie- und Praxisverständnis: Demirović 1999; zur Sache auch: Steinert 2007, S. 242; Demirović et al. 2015). In dieser Situation sei Praxis nicht mehr „die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation“, wie es von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die des 20. gewesen war, sondern der zeitgenössische Ruf nach Praxis drohe, „den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte“ (Adorno 1966, S. 13). Dass kritische Theorie nicht auf tagesaktuelle Ausbesserungen, sondern auf eine umfassende und grundstürzende Praxis bezogen ist, war für Adorno immer klar: „Ans Leben gehen ihr [der Menschheit; M.St.] die Formen ihrer eigenen gesellschaftlichen Gesamtverfassung, wofern nicht ein seiner selbst bewußtes Gesamtsubjekt sich bildet und eingreift. An es allein ist die Möglichkeit von Fortschritt übergegangen [. . .] . [. . .] Ob weiter Mangel und Unterdrückung sei – beides ist eines –, darüber entscheidet einzig die Vermeidung der Katastrophe durch vernünftige Einrichtung der Gesamtgesellschaft als Menschheit“ (Adorno 1977a, S. 30, b, S. 592, c, S. 618). Theorie, die tätige Selbsterhaltung des kritischen Subjekts, die Verwirklichung der Form kritischer Theorie in ihren Gegenständen durch ein denkendes Subjekt, das sich nicht dumm machen lässt, hat er als Teil gesellschaftlicher Praxis verstanden. Deshalb ist umgekehrt die theoretische Reflexion auf falsche gesellschaftliche Praxis konstitutiver Bestandteil der kritischen Theorie. Diese ist nicht auf traditionelle Philosophie reduzibel, der sie nur eine dialektische Volte hinzufügte (dies legt jedoch nahe: Sommer 2016).

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M. Städtler

7

Situation im 20. Jahrhundert II: Habermas und Honneth

7.1

Jürgen Habermas

Nach Adornos Tod verändert sich die Form dessen, was als kritische Theorie auftritt, rasch (Türcke et al. 1984, S. 148–169 der Referenztext dieser Kritik: Friedeburg und Habermas 1983). Bereits 1967/68 hatte Jürgen Habermas die Prinzipien Subjektivität, materialistische Gesellschaftstheorie und Negativität aufgegeben. Als Grund dafür werden erstens eine Veränderung der kapitalistischen Ökonomie hin zu einer wissenschaftlich und technisch bestimmten Produktion und zweitens eine Veränderung der Herrschaft vom „autoritativen Staat“ zur „technisch-operativen Verwaltung“ (Habermas 1968b) angegeben, in deren Folge weder die Arbeitswertlehre noch die Begriffe der Klasse und der Ideologie unverändert brauchbar seien (Schiller 1983, S. 92–123). Dass Technik und Wissenschaft Faktoren der Produktivkraft sind, findet sich indes bereits bei Marx, auch dass sie die in der kapitalistischen Produktionsweise entscheidenden Produktivkraftfaktoren sind, allerdings mit dem Wissen, dass Produktivkraftfaktoren stets auf die Produktivkraft der Arbeit bezogen sind und dass ‚Produktivkraft‘ davon abgetrennt – etwa als „unabhängige[] Mehrwertquelle“ (Habermas 1968b, S. 80) – ein ökonomisch sinnloser Ausdruck ist. Technik und Wissenschaft produzieren unabhängig von der menschlichen Arbeit so wenig Waren oder Werte wie der Produktivkraftfaktor Wetter (hierzu: Wienold und Kößler sowie Bittlingmayer in diesem Handbuch). Einzig richtig ist, dass in der Periode der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital der Zusammenhang von Arbeit und Wertbildung sich vollständig der Erfahrung entzieht und nur mehr theoretisch erkennbar ist. Dass dies Habermas’ eigentliches Problem ist, wird an seiner Kritik an den Begriffen Klasse und Ideologie deutlich: (Habermas 1968b, S. 84–85, 1981b, S. 576): Unter Klasse will er nur die spürbaren Differenzen des Alltagslebens fassen; von der ökonomischen Funktion der Klassen, durch das Privateigentum an Produktionsmitteln eine gesellschaftliche Herrschaftsform darzustellen, die Voraussetzung für Lohnarbeit und damit unabdingbar für die Mehrwertakkumulation ist, ist – im Unterschied zur früheren kritischen Theorie – nirgends mehr die Rede. Unter Ideologie versteht Habermas eher umgangssprachlich kontingente Gedankensysteme, die das Vorstellen und Handeln der Menschen bestimmen. Adornos Bestimmung des gesellschaftlich notwendig falschen Bewusstseins war dagegen eng an Marx’ Fetischbegriff angelehnt und bezeichnete, vermittelt über Lukács, eine Verdinglichung im Bewusstsein, die durch die ökonomischen Bedingungen des Handelns erzwungen ist; auch davon bei Habermas kein Wort mehr. Dieser geht von der Beobachtung aus, dass der Staat nicht mehr der ‚Überbau‘ der ökonomischen Basis sei, sondern als Interventionsstaat in die Ökonomie eingreife, deren Härten korrigiere und dadurch Loyalität in der Gesellschaft erzeuge (Habermas 1968b, S. 75). Abgesehen davon, dass die Relation von Basis und Überbau beim reifen Marx keine starre oder mechanische, sondern eine funktional-dynamische ist, ist spätestens seit der Diskussion um den Normalarbeitstag im Kapital offensichtlich (Marx 1990, Kap. 8), dass der Staat in der industrialisierten Gesellschaft als ideeller Gesamtkapitalist die Interessen des Kapitalismus auch unmittelbar gegen die Einzelkapitale wahrnimmt (Habermas

Die theoretische Form der kritischen Theorie

311

1981b, S. 507). Das ändert also nicht die Form des Kapitalismus, sondern ist eine seiner Bestimmungen. Darin besteht auch die ‚unauflösliche Spannung‘, die Habermas zwischen Kapitalismus und Demokratie beobachtet: Die begrenzenden Eingriffe des Gesetzgebers dienen der Selbstkorrektur und damit Stabilisierung der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Spannung ist eine kapitalfunktionale innerkapitalistische, nicht die zwischen Kapital und etwas Anderem, wie auch Habermas selbst feststellt (Habermas 1981b, S. 512). Dennoch behauptet Habermas, die orthodoxe, d. h. nichtkommunikationstheoretische, Marxinterpretation könne die Pazifizierung des Klassenkonflikts durch die Sozialpolitik nicht erklären (Habermas 1981b, S. 505). Das Problem entsteht offensichtlich dadurch, dass Habermas das Kapital kommunikationstheoretisch uminterpretiert und dann Defizite feststellt (Habermas 1981b, S. 504), weil ihm auf dem Wege die materialistische Herrschaftskritik, die das Kapital grundiert, verloren ging. Zwar ist es schon das Ziel der Sozialpolitik Bismarcks oder auch Hitlers gewesen, Loyalität zu erzeugen, aber deshalb war es eben gerade nicht das Ziel, die Gesellschaft zu verändern. Für Habermas ist die Qualifikation der politischen Erzeugung sozialer Loyalität als Veränderung aber entscheidend wichtig, denn er schreibt ihr zu, die Ursache einer Entpolitisierung der Gesellschaft zu sein (Habermas 1968b, S. 78). Die Diskurse, in denen die normativen Richtlinien gesellschaftlichen Handelns bestimmt würden, verlören ihren politischen Charakter zugunsten einer technokratischen Überformung: Alles würde im Bezugsrahmen des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts interpretiert, der aber ohne normatives Korrektiv maßstabslos wachse. Was wie eine Erklärung der Wachstumsideologie des 20. Jahrhunderts aussieht, ist eine handlungstheoretische Beschreibung, die intendiert, durch eine Repolitisierung der Diskurse die Entwicklung des Kapitalismus zu humanisieren. Ließ sich bei Marx über den Begriff der Verwertung des Werts, des automatischen Subjekts, noch die gesellschaftliche Zwecksetzung der Produktion als Grund einer inhumanen gesellschaftlichen Organisation ausmachen, so wird bei Habermas die normative Steuerung des Inhumanen, das als inhuman nicht mehr kenntlich ist, zum Ziel. Das Verhältnis von Gesellschaft und Staat folgt dabei der Form ‚das Gesellschaftliche saugt das Politische auf‘. Später nennt Habermas dies die Kolonialisierung der Lebenswelt (Habermas 1981b, S. 522). Es gelte, das Politische gegenüber dem übergriffigen Gesellschaftlichen zu reaktivieren, eine Denkfigur, die in der deutschen Geschichte keineswegs nur auf der progressiven Seite beliebt war und die sich der Verkennung des dialektischen Zusammenhangs von Politik und Gesellschaft verdankt, den die Gesellschaftstheorie von Marx bis Adorno erkannt hatte. Diese Vorstellung findet sich grundsätzlich bei dezidierten Anti-Marxisten unterschiedlichster Art wie z. B. Carl Schmitt oder Hannah Arendt. Bei aller Problematik der Vorstellung, das gesellschaftliche Sein bestimme das Bewusstsein, drückte diese doch die materielle Bedingtheit subjektiver Freiheit aus: Ohne Veränderung der gegenständlichen Lebensbedingungen, in denen Herrschaft materialisiert ist, ist ein vernunftgemäßes und menschenwürdiges Leben nicht möglich. Bei Habermas schrumpft dies auf die immanente Justierung der Bedingungen, über die kommunikativ entschieden wird.

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M. Städtler

Mehr ist nicht denkbar, weil Habermas nicht allein die materialistische Gesellschaftstheorie und konsequenter Weise auch die strikte Negativität der Kritik ablehnt; diese Ablehnung ist selbst Folge der Preisgabe des traditionellen Maßstabs der Kritik, des Subjekts, und dies wiederum geschieht durch eine Wende von der Gesellschaftstheorie zur Kommunikations- und Handlungstheorie (zur Kritik des gesellschaftstheoretischen Anspruchs bei Habermas: Tuschling 1978). So wie der Arbeitsbegriff nicht mehr ökonomisch, sondern handlungstheoretisch gefasst wird (Habermas 1968b, S. 62), wird auch das Subjekt nicht mehr als Selbstbewusstsein, sondern als Stelle in intersubjektiven Interaktionen bestimmt. Dies geschieht im Rahmen einer steilen Interpretation der frühen Sozialphilosophie Hegels (Habermas 1968a). Diese selbst war der Versuch, die widersprüchliche Dynamik der modernen Gesellschaft durch eine sozialphilosophische Herrschaftslegitimation aufzuheben, die ihrerseits in einen geistphilosophischen Rahmen eingebettet war. Obwohl dort Anerkennung für Subjekt- und Eigentumskonstitution eine Rolle spielt, ist die intersubjektive Versöhnungsphilosophie, die darin gesehen wurde, bei Hegel nicht vorhanden. Aber die Uminterpretation von Geist in Intersubjektivität (Habermas 1968a, S. 13) und des Kampfes um Anerkennung in einen kommunikativen Akt (Habermas 1968a, S. 17) dient der Strategie, innerhalb der Gesellschaft zwischen Lebenswelt und Systemwelt (mit ihren Subsystemen) unterscheiden zu können. Während in der Systemwelt strategisch, im weitesten Sinne technisch, gehandelt wird, ist die Lebenswelt durch kommunikatives Handeln bestimmt. Hier finden Diskurse statt, in denen Normen ausgehandelt und vermittelt werden, und zwar prinzipiell in der Form kritisierbarer Legitimitätsansprüche. Während technische Normen feststehen, sind soziale verhandelbar. Deshalb sei „[e]ine Zurückführung der Interaktion auf Arbeit oder eine Ableitung der Arbeit aus Interaktion [. . .] nicht möglich“ (Habermas 1968a, S. 33, b, S. 91). Habermas wirft Horkheimers und Adornos Kritik der totalitären Gesellschaft eine „Verwechslung von System- und Handlungsrationalität“ (Habermas 1981b, S. 490) vor und trennt eine Sphäre des Handelns als der Möglichkeit nach immer integer von den strategischen Handlungen der Systemwelt ab (Habermas 1981a, S. 132). Weil Kommunikation geradezu analytisch auf Verständigung angelegt sei, bleibe sie auch immer ein mögliches Korrektiv (Habermas 1981a, S. 37–38, S. 149), das im Rahmen der „öffentliche[n], uneingeschränkte[n] und herrschaftsfreie[n] Diskussion über die Angemessenheit und Wünschbarkeit von handlungsorientierenden Grundsätzen und Normen“ (Habermas 1968b, S. 98–99) wirksam auf die Systemwelt zu beziehen sei. Gegenstand dieser Gesellschaftskritik ist nicht die kapitalistische Produktionsweise, sondern die spezifische Entwicklung von Kommunikationsformen in ihr; Ziel ist nicht die Überwindung inhumaner Gesellschaftsformen, sondern ihre deliberative Regulierung. Wenn aber die Erörterung der ‚Angemessenheit und Wünschbarkeit von handlungsorientierenden Grundsätzen und Normen‘ an die Stelle moralischer Reflexion tritt, verdankt sich die Verbindlichkeit des Ergebnisses nicht der logischen Form praktischer Vernunft und der durch sie bestimmten Kritik, sondern den Umständen des Diskurses und der Vereinbarkeit der Interessen der daran Beteiligten, über deren Zulässigkeit allenfalls in einem erneuten Diskurs und vorläufig zu

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entscheiden wäre. Dass unter diesen Interessen moralische Begriffe überhaupt vertreten wären, bliebe dem Zufall überlassen, und selbst wenn sie vorkämen, könnten sie von ihren Vertretern nur gegen ihre unmittelbaren Interessen vertreten werden. Das gesellschaftlich notwendig falsche Bewusstsein schließt den moralischen Erfolg solcher Diskurse jedenfalls solange aus, wie die gesellschaftlichen Gründe des falschen Bewusstseins bestehen bleiben. Der Begriff des herrschaftsfreien Diskurses bleibt in einer Welt, die bis ins Privatissimum hinein durch gesellschaftliche Herrschaft tingiert ist, ein affirmativer Idealismus. Der wohl einflussreichste Vorwurf, den Habermas gegen Horkheimer und Adorno vorbringt, besagt, dass sie aufgrund der Verwechslung von Systemrationalität und Handlungsrationalität den Maßstab ihrer Kritik nicht auszuweisen vermöchten (Habermas 1981a, S. 500) und deshalb auf Geschichtsmetaphysik zurückgriffen (Habermas 1981b, S. 560–561). In der frühen kritischen Theorie sei die normative Grundlage ein „Vertrauen in ein Vernunftpotenzial der bürgerlichen Kultur“ (Habermas 1981b, S. 560) gewesen, das aber später der Kritik der instrumentellen Vernunft zum Opfer gefallen sei. Die normative Grundlage sei dann in eine „objektive Teleologie der Geschichte“ verlagert worden, in ein Entwicklungspotenzial der Vernunft, die „sich in den bürgerlichen Idealen zweideutig ausgelegt hatte“ (Habermas 1981b, S. 561). An diesen Vorwurf schließen sich die Versuche bei Habermas und später bei Honneth an, ein ‚normatives Fundament‘ kritischer Theorie in der gesellschaftlichen Erfahrung selbst, etwa in der Kommunikationsstruktur oder in bürgerlichen Verhaltensnormen wie der Anerkennung, auszumachen: „Das Missverständnis entsteht, weil Adorno und Horkheimer konsequent befreiungstheoretisch denken, die Interpreten aber ein ordnungstheoretisches Modell darüber stülpen“ (Steinert 2007, S. 36). Weil dieser Versuch immanenter Kritik das von Adorno betonte transzendente Gegenmoment – die kritische subjektive Vernunft mit ihren Ideen der Freiheit und des Glücks – als metaphysischen Ballast abwirft, kann er den Maßstab der Kritik nur innerhalb der Erfahrung des historisch Falschen gewinnen. Dies führt zwingend zu dessen theoretischer Affirmation im Verbesserungsvorschlag, der ein Vorschlag zur Verbesserung der Gestaltung von Herrschaft ist, nicht zu deren Überwindung, weil diese in eine separate Systemdimension ausgegliedert worden ist (Benhabib 1986; schon Theunissen 1969, S. 37–38 kann den Maßstab der Kritik nicht finden; hingegen: Ellmers und Elbe 2011, sowie Kuhne 2017). Dem Vorwurf der Geschichtsmetaphysik liegt näher die Verwechslung des Entwicklungspotenzials von Vernunft mit der geschichtlichen Form seiner Realisierung zu Grunde. Es hat mit Geschichtsteleologie nichts zu tun, dass die Vernunft die logische Form der Vermittlung von Allgemeinem und Einzelnem bereithält und deshalb Maßstab und Medium der Kritik an Vergesellschaftungsformen ist, in denen diese Vermittlung durch Herrschaft realisiert ist. Die bürgerliche Subjekt- und Freiheitsphilosophie weist als theoretisches Selbstbewusstsein einer herrschaftlichen Gesellschaft über deren Widersprüche prinzipiell hinaus. Das Bewusstsein, in das diese Kritik fällt, kann freilich nicht konstruktiv an der Wirklichkeit partizipieren. Deshalb denunziert Habermas die negative Dialektik als bloßes Exerzitium, das seinen Erkenntnisanspruch an die ästhetische Theorie abgetreten habe (Habermas

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1981a, S. 514).11 Ohne die Bedeutung zu mindern, die der Ästhetik bei Adorno zukommt, gelangt die Negative Dialektik doch zu eigenen Ergebnissen, nur eben nicht zu affirmativen oder empirischen. Sie kontrastiert die Form von Rationalität und deren empirische Realisate dadurch, dass sie beide auf das subjektive Selbstbewusstsein bezieht: Die Reflexion auf die logische Form von Selbstbewusstsein, den Grund der Freiheit, erfolgt historisch unter Bedingungen, die dieser Form nicht genügen und doch selbst realisierte Vernunft sind. Habermas gibt nun Subjektund Bewusstseinsphilosophie zugunsten einer erfahrungskompatiblen Handlungstheorie auf (Habermas 1981a, S. 523–533, bes. 532). Dadurch wird das gesellschaftliche Handeln in verschiedenen Bereichen empirisch darstellbar und Konflikte entstehen nur dort, wo Systemgrenzen überschritten werden, also z. B. ökonomische Krisen von der Lebenswelt aufgefangen werden. Das ökonomische System als solches gerät nicht in die Kritik. Auf der Grundlage des Subjektbegriffs ist hingegen überhaupt keine konsistente Handlungstheorie möglich, denn unter Bedingungen einer umfassenden kapitalistischen Ordnung muss jede Handlung, die auf Realisierung von Freiheit gerichtet ist, um ihres Zweckes willen unmittelbar auch dessen Gegenteil realisieren. Bei Habermas sind Systemrationalität und kommunikative Rationalität deshalb beides empirische Gestalten, die ihre eigenen Regeln haben, aber nicht durch eine reflexive Form der Subjektivität miteinander in Verbindung stehen. Für die theoretische Reflexion stellt sich hier ein Widerspruch zwischen vernünftigem Handlungszweck und unvernünftigen Handlungsbedingungen dar. Zwar ist die theoretische Reflexion auf den gleichen empirischen Inhalt bezogen, aber sie bezieht den Maßstab der theoretischen Beurteilung nicht aus der Empirie. Nur wenn dieser Maßstab aus der Empirie bezogen wird, sind die Seiten des Widerspruchs innerhalb einer konsistenten Handlungstheorie darstellbar und erscheinen nicht mehr als Widerspruch, sondern als vermittlungsfähiger Gegensatz. Der Maßstab theoretischer Reflexion der gesellschaftlichen Erfahrung ist der im kritischen Selbstbewusstsein begründete moralische Autonomieanspruch, der nicht mit unvernünftigen Handlungsbedingungen vermittelt werden kann. Wie mit der Negativität und dem Subjektbegriff der frühen kritischen Theorie räumt Habermas auch mit dem kapitalismuskritischen Gesellschaftsbegriff auf. Weil Verdinglichung im Rahmen von Subjektphilosophie auf Paradoxien führe, wird die kommunikationstheoretische Wende vollzogen, um die Verklammerung von System- und Lebenswelt zu lösen (Habermas 1981a, S. 533, b, S. 500). Schließlich sei der Marxsche Ökonomismus zu überwinden: Nicht der Wert sei das Prinzip der Gesellschaft, sondern Geld und Macht seien konkurrierende Steuerungsmedien, die in System- und Lebenswelt unterschiedlich kanalisiert würden.

11

Dies hat Adorno bekanntlich nie getan, wohl aber die ästhetische Erfahrung als Möglichkeit der Freiheitserfahrung unter Bedingungen umfassender Unfreiheit festhalten wollen. Ebenso wenig lässt sich bei Adorno ein Postulat unversehrter Intersubjektivität als Versöhnungsideal ausmachen (Habermas 1981a, S. 523–524). Im Gegenteil hat Adorno stets darauf bestanden, dass auch in einer befreiten Gesellschaft die Menschen durch ihre Geschichte bestimmt bleiben. An dieser Stelle zeigt sich der verhängnisvolle Einfluss einer frühen Fehlinterpretation der Ästhetischen Theorie: Baumeister und Kulenkampff 1973.

Die theoretische Form der kritischen Theorie

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Habermas übersieht auch hier, dass die Marxsche Kapitalkritik eine politische Theorie der Gesellschaft ist: Sie ist Herrschaftskritik. Habermas hingegen kann auf seine eigene Frage, woher denn, wenn der Sozialstaat die Gesellschaft bereits pazifiziert habe, überhaupt noch die Konflikte rührten (Habermas 1981b, S. 514–515), nicht mehr theoretisch antworten: Weil die Menschen nicht frei sind. Stattdessen stellt er auf die ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ und die ‚Fragmentierung des Alltagsbewusstseins‘ durch die technokratische Rationalität ab. Der Umkehrschluss ist intendiert: Innerhalb der Systemgrenzen hat der moderne Kapitalismus ein „höheres und evolutionär vorteilhaftes Integrationsniveau“, einen „evolutionären Eigenwert, den mediengesteuerte Subsysteme besitzen“ (Habermas 1981b, S. 499). Damit ist die Kapitalismuskritik endgültig erschlagen: Das zentrale Argument der kritischen Gesellschaftstheorie, dass die Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum, die Organisation seiner Produktion, für alle durchsichtig nach rationalen Zwecken zu erfolgen habe, wird der angeblichen Effektivität einer eigengesetzlich ablaufenden Ökonomie geopfert, deren ‚evolutionärer Vorteil‘ doch historisch lediglich gegenüber (mittelalterlichen oder primitiven) Subsistenzwirtschaften sowie realsozialistischen Planwirtschaften erwiesen ist. Diese Effektivität soll ‚kritisch‘ gerettet werden durch kommunikative Normierung des Verhältnisses von Systemwelt und Lebenswelt. Insbesondere die hier auftretenden Pathologien (Habermas 1981b, S. 554, 564–565) sollen empirisch registriert und durch Aufdeckung des in den kommunikativen Strukturen der Gesellschaft verborgenen Lernpotenzials geheilt werden (Habermas 1981b, S. 549). Explizit, ihrer eigenen Einschätzung nach, ist diese ‚kritische‘ Theorie weder ideologiekritisch (Habermas 1981b, S. 583), noch steht sie in Konkurrenz zu anderen soziologischen Ansätzen (Habermas 1981b, S. 550). Diese kritische Theorie prallt nirgends ab und eckt nirgendwo an, weil sie nicht kritisieren, sondern vermitteln will.

7.2

Axel Honneth

Wie bei Habermas liegt auch bei Axel Honneth der Revision kritischer Theorie eine ostentative Abwendung von Horkheimer und Adorno sowie auch von Marx zugrunde (zu Marx: Habermas 1981b, Kap. VIII, 2; Honneth 2011, C., III, 2; zu Horkheimer und Adorno: Habermas 1981a, Kap. IV, 2; Honneth 1985, erster Teil; Honneth 2009a). Während es Habermas aber noch darum ging, die kritische Theorie in eine nach empirischen Bestimmungen aufgebaute Makrotheorie zu transformieren, setzt Honneth vor allem auf die Rehabilitation empirischer Elemente der klassischen Soziologie, die Horkheimer selbst zunächst vertreten und dann suspendiert habe (Bonß und Honneth 1982; zu der zu Grunde liegenden Fehlinterpretation von Horkheimers frühem Materialismusprogramm: Moritz 1992, S. 214–215). Mit der Kritik der Soziologie, die Honneth bei Horkheimer und Adorno sieht, werde hingegen ‚das Soziale endgültig verdrängt‘ (Honneth 1985, S. 70). Die Kritik, die der emphatische Soziologe Adorno an seiner Disziplin übte, galt freilich der Rettung des Sozialen vor einer bloß positivistischen akademischen Verwaltung, die den falschen Zustand

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festzuzimmern drohte (eine nicht substanzielle, sondern eher methodische Kritik sieht darin hingegen Müller-Doohm 1996). Für die behauptete Verdrängung macht Honneth in Anlehnung an Habermas ‚geschichtsphilosophische Prämissen‘ der kritischen Theorie verantwortlich, näher die Festlegungen darauf, dass zunächst das gesamte soziale Handeln der Menschen durch ökonomische Arbeit zur fortschreitenden Naturbeherrschung definiert sei (Honneth 1985, S. 15), zunächst affirmativ, später pejorativ bewertet. Andere ‚Typen sozialen Handelns‘ (Honneth 1985, S. 38) würden dann unsichtbar. Honneth verwechselt hier geschichtsphilosophisches Denken mit geschichtlichem Denken. Der Gedanke, dass alle kulturellen und sozialen Leistungen und Vorstellungen der Menschen Resultate einer Geschichte sind, die an substanzieller Stelle durch ökonomische Fragen bestimmt wird, ist ein materialistischer und geschichtlicher Gedanke, geschichtsphilosophisch ist er hingegen nicht, denn er macht keine allgemeinen Aussagen über die Geschichte, ihr Ziel oder ihren Verlauf. Auch verhindert diese Auffassung nicht, wie Honneth meint, „die handlungspraktischen Bestandteile sozialer Auseinandersetzungen und Konflikte als solcher zu erfassen“ (Honneth 1985, S. 26), sie verhindert hingegen, sie unabhängig von ihren geschichtlichen und kontemporären Bedingungszusammenhängen, also abstrakt handlungstheoretisch, zu erfassen. Die Polemik gegen die Geschichte, die allenfalls als empirische Offenheit auftreten darf, markiert den Grundton des Positivismus. Dieser, nicht Geschichtsphilosophie, war wie gesagt der Grund, aus dem Adorno die Soziologie kritisierte. Honneth erblickt Adornos theoretische Leistung allein darin, die Philosophie auf eine formelle Reflexion von Begrifflichkeit einerseits und eine hypertrophe Ästhetik andererseits heruntergebracht zu haben (Honneth 1985, S. 75, 83. Auch hier wirkt der Einfluss von Baumeister und Kulenkampff 1973). Adornos Kapitalismuskritik sei abzulehnen, weil sie nicht empirisch-soziologisch, sondern theoretisch ist; sein Ideologiebegriff wird als manipulative Steuerung aller Einzelnen durch ein administratives Übersubjekt missverstanden; die bei Adorno aus der systematisch-unpersönlichen Form gesellschaftlicher Herrschaft und ihrer Fortsetzung im ideologischen Bewusstsein begründete Vernachlässigung sozialer Integrationspraktiken wird als einseitiger Herrschaftsbegriff gerügt; theoretische Begriffe oder Urteile gelten ihm als vage. Immer wieder wird die Weigerung der kritischen Theorie, Gesellschaft als Resultat selbstbewusster Selbstorganisation zu fassen, als soziologische Unfähigkeit denunziert; die Absicht kritischer Theorie, durch negative Rekonstruktion des sozialen Zwangs vom Subjekt aus einen Begriff der Ausweglosigkeit zu vermitteln, der die Notwendigkeit des radikalen historischen Sprungs darlegt, bleibt dem reformistischen Interesse unbegreiflich. All diesen Abgrenzungen gegenüber Adorno und Horkheimer liegt die Tendenz zu Grunde, als Gesellschaftstheorie nur gelten zu lassen, was sich erfahrungsanalog darstellen lässt. Darin setzt sich der von Habermas begonnene Abbau theoretisch reflektierter Begriffe – metaphysischen Ballasts – verschärft fort. Insofern handelt es sich um eine Empirisierung der kritischen Theorie, durch die dieser ihr Gegenstand entgleitet: Die Gesetze, nach denen sich Kapital verwertet und nach denen gesellschaftliches Handeln funktional bestimmt wird, entziehen sich der Erfahrung. Erfahren werden nur die

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Auswirkungen der Funktionalisierung, die Honneth als Pathologien beschreiben will, aber nicht vom Prinzip her theoretisch erklären kann.12 Honneths Unbehagen an der kritischen Theorie gründet stets in der handlungstheoretischen Voreinstellung seiner Lektüre. So vermisst er in der kapitalismuskritischen, am autonomen Subjekt gemessenen Negation gesellschaftlicher Zwänge aus deren allgemeinem Begriff heraus immer wieder den Blick auf kapitalismusimmanente kollektive Verständigungsformen und subkulturelle Handlungsorientierungen. Er möchte zeigen, dass der Kapitalismus ohne ein Mindestmaß an allgemeiner Zustimmung nicht existieren könnte; aber dass diese Zustimmung aus normativen Implikationen des Kapitalismus selbst begründet sei (und nicht Ausdruck der von Marx bis Adorno beschriebenen Ideologie ist), bleibt eine Behauptung. Das bürgerliche Selbstbewusstsein zieht die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit keineswegs aus der selbstbewussten Erkenntnis des Frühkapitalismus, sondern aus der Opposition des Individuums gegen die sozialen Bindungen des Mittelalters. Diese Prinzipien werden von Naturrecht und Nationalökonomie erst auf die Ökonomie übertragen, um diese als empirisches Medium der Emanzipation mit dem theoretischen Bewusstsein der Autonomie verträglich zu machen. In diesen Widersprüchen liegt ein Potenzial kritischer Theorie, das Marx aufgriff, das Honneth aber in empirischer Vereinfachung als normative Implikationen oder Versprechungen des Kapitalismus auffasst (Honneth 2011, S. 317–470). Wie auch Habermas kommt Honneth erst im Zusammenhang der Globalisierungskrisen wieder bzw. überhaupt auf den Kapitalismus zu sprechen, also aus empirischem Anlass. Beide stellen nun fest, dass der Kapitalismus nicht eben den Anschein einer herrschaftsfreien oder kooperativen Organisation macht. Bisweilen wirkt dies vor dem Hintergrund bereits geleisteter Kapitalismuskritik als geradezu unfreiwillig rührend: „Es erscheint [!] heute [2011] im allgemeinen [!] wohl [!] eher [!] als abwegig, das System des marktvermittelten Wirtschaftshandelns als eine Sphäre sozialer Freiheit zu begreifen“ (Honneth 2011, S. 317). Die Ignoranz gegenüber theoretischer Kapitalkritik führt insgesamt dazu, die Entwicklung nicht als Ausdruck längst bekannter Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Gesellschaften, sondern als Fehlentwicklung oder Entgleisung zu qualifizieren (Honneth 2011, S. 317; Habermas 2005). Deren Korrektur durch Reaktivierung der normativen Potenziale von Anerkennungsrelationen ist das Ziel von Honneths Kritik, die damit beansprucht, eine nicht allein theoretisch affirmative sondern auch praktisch stabilisierende Theorie der Gesellschaft zu sein. Zu diesem Zweck thematisiert er empirische soziale Konflikte, die auf Veränderungen sozialer Strukturen hinweisen und hinwirken, indem sie fraglich gewordene Konsense auf neuer Grund-

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Die paradoxe Entwicklung des Kapitalismus, die Gleichzeitigkeit von Fortschritt und wachsender Abhängigkeit, die Honneth als neues Phänomen und als genuine Forschungsidee bestimmt, ist im Prinzip sowohl in Marx’ Kapital als auch in der Dialektik der Aufklärung (Adorno und Horkheimer 1969) bereits untersucht worden. Als neues Problem stellt sie sich dann aufgrund der offenbar politischen oder strategischen Entscheidung, von den bisherigen theoretischen Grundlagen des Instituts für Sozialforschung Abstand zu nehmen und eine förderungsfähige Melange aus „Habermas [. . .] Pierre Bourdieu, Michel Foucault und wahrscheinlich auch Anthony Giddens“ anzustreben (Honneth 2009b, S. 44).

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lage wiederherstellen. In diesen Vorgängen wird die ‚moralische Grammatik‘ vermutet, der die Gesellschaft ihre Stabilität verdankt. Um sie zu bestimmen, macht Honneth aber keine allgemeinen theoretischen Aussagen über Gesellschaft, sondern ist auf der Suche nach pragmatischen Regeln, die abstrakt genug sind, um nicht empirisch zu wirken, und empirisch genug, um nicht leer zu sein (Honneth 1993, S. 277). Diesen Zweck soll die Anerkennung als soziales Prinzip erfüllen. Sie sei die Form empirisch gegebener sozialer Selbstverwirklichung, aber sie mache als Form keinerlei bestimmte ethische Vorgaben: Wie einer sich selbst verwirkliche, ist nicht von vornherein festgelegt. Als Sphären der Anerkennung benennt Honneth die Liebe (Familie), das Recht (Wirtschaft/Gesellschaft) und die Solidarität (Politik). Es gelte jeweils, die intersubjektiven Interaktionen so zu gestalten, dass in ihnen Selbstverwirklichung möglich sei. Zugleich finde in ihnen die Verständigung über die Normen des sozialen Handelns statt und es würde so das Einverständnis mit der geltenden normativen Ordnung erzeugt und bestätigt. Gerate die Ordnung in ein Ungleichgewicht, so komme es zu einem Kampf um Anerkennung, der von den durch das Ungleichgewicht Benachteiligten ausgehe und zu einer Neujustierung der normativen Ordnung führe, so dass soziales Einverständnis, evtl. auf einer neuen Stufe, restauriert werde. Den kritischen Akzent dieser Vorstellung sieht Honneth darin, von sozialen Pathologien ausgehend solche Ungleichgewichte zu ermitteln und so theoretisch am Kampf um Anerkennung mitzuwirken. Die Anerkennung, die beim frühen Hegel noch ein theoretisches Moment der Konstitution des Selbstbewusstseins zu einem kollektiv beziehungsfähigen Subjekt war und den Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist moderierte, ist bei Honneth zur Struktur empirischer Verkehrsverhältnisse geworden. Bei Hegel ist Anerkennung die Form der Eigentumsbegründung, die anschließend allen bürgerlichen Vertragsformen zu Grunde liegt. Von der Vertragsform her werden deshalb die sozialen Beziehungen interpretiert, weil diese Form als freies Verhältnis freier und gleicher Subjekte gedacht wird. Dadurch ist in ihr Geist realisiert, Allgemeines im Einzelnen, und die bürgerliche Gesellschaft fügt sich in die geistige Struktur der Totalität. Von dieser Einbettung der Anerkennung, in der sie philosophisch immerhin einen kritisierbaren Sinn hat, grenzt Honneth sein Konzept strikt ab, vor allem weil Hegel deshalb nur in der Gesellschaft, nicht aber im Staat dem Individuum gerecht werde (z. B. Honneth 1993, S. 102). Allerdings ist bei Hegel der Staat als Instrument zur Beherrschung einer in sich keineswegs durch Anerkennung harmonisierten, sondern verselbstständigten Konkurrenzdynamik der Gesellschaft konzipiert. Anstatt daraus Rückschlüsse auf die Form der Gesellschaft zu ziehen, will Honneth das Anerkennungsprinzip auch für die politische Solidarität erschließen. Es geht ihm nicht um theoretische Prinzipien, sondern um die individuelle Erfahrung von Anerkennung, die die Individuen befähigen soll, sich aus der Sicht ihrer Interaktionspartner zu sehen. Diese Perspektive ist für die in modernen Gesellschaften existenziell geforderte Anerkennung aber nicht möglich, denn diese Gesellschaften werden nicht durch sympathetische Anerkennung, sondern durch Kapital und Verwertungszweck konstituiert und durch rechtspersonale Anerkennung bloß

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moderiert. Selbst bei Hegel blieb Fremdheit konstitutiv für Anerkennung. Wie das von Honneth am Liebesverhältnis modifizierte Anerkennungsmodell in einer auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft möglich sein soll, bleibt sein Geheimnis; ob eine Reproduktion der normativen Affirmation in der kapitalistischen Gesellschaft auf der Basis von Affekt, Gefühl und Empfindung (Honneth 1993, S. 212) wünschenswert ist, steht dahin. Die affektive Reaktion auf Missachtung zum Prinzip der Kritik zu erheben, ist nicht erst auf der Grundlage massenpsychologischer Erfahrung des 20. Jahrhunderts theoretisch naiv. Mit dieser Erhebung empirischer Anerkennungs- oder Missachtungsverhältnisse zu Konstituentien oder Kritikinstanzen der Vergesellschaftung sind jedenfalls das Subjekt als Prinzip und Maßstab, die Negativität als logische Form und die materialistische Gesellschaftstheorie als Inhalt kritischer Theorie aufgegeben.

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Ausblick

Die Empirisierung, die sich – in dem oben näher bezeichneten Sinn – schon bei Habermas abzeichnete und die bei Honneth zum erklärten Ziel wird, ist als solche mit kritischer Theorie nicht vereinbar. Damit ist keine ausschließende Opposition von Theorie und empirischer Forschung gemeint, vielmehr ist Gesellschaftstheorie auf genaue Kenntnisse ihres letztlich in der Erfahrung existierenden Gegenstands angewiesen. Schon die Marxsche Kapitaltheorie war nur als Kritik der politischen Ökonomie möglich, d. h. als Kritik des Bestandes der weitgehend auf empirischen Grundlagen fußenden Nationalökonomie. Aber dieser Bestand konnte nur durch ein auf Vernunftbegriffen beruhendes theoretisches Denken zu einer theoretischen Einheit gebracht werden, die sich im Wechselspiel von Begriff und Erfahrung bildet. Die weitere empirische Erforschung der Gesellschaft kann nur dann vermeiden, den Erkenntnisstand zu unterlaufen, wenn die Konzeption empirischer Untersuchungen das theoretische Wissen über die Gesellschaft bereits voraussetzt. Es gibt kein nichtnormatives Theoriedesign. Das scheinbar naiv herantretende Beobachten akzeptiert implizit die normativen Vorgaben der gesellschaftlichen Wirklichkeit, indem der Gegenstand so genommen wird wie er ist (Adorno 1972d). Zwar standen der kritischen Theorie immer schon positivistische und empiristische Theorien gegenüber, denn dies sind die Stoßrichtungen der klassischen Soziologie: „Soziologie hat dagegen eine Neigung, die jeweilige Gesellschaftsformation als gegeben zu nehmen. Das ist oft genug ein Fehler und jedenfalls der Verzicht auf eine Erkenntnismöglichkeit“ (Steinert 2007, S. 236). Neu war es hingegen, dass im Zuge der weiteren Etablierung der Frankfurter Schule seit den 1970er-Jahren der positivistische und empiristische Protest gegen die kritische Theorie unter deren eigenem Namen geführt wurde und wird. Auch das Missbehagen am Einverständnis mit der kapitalistischen Gesellschaft hat nicht zur Rückbesinnung auf die Prinzipien der kritischen Gesellschaftstheorie geführt, sondern zu deren noch vehementerer Preisgabe. Für die kritische Theorie sind unterm Vorwand

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von Praxis – was immer das jeweils heißen mag – Soziologen wie Pierre Bourdieu und Luc Boltanski13 oder Autoren im Gefolge der neuen sozialen Bewegungen wie Antonio Negri und Michael Hardt oder Chantal Mouffe und Ernesto Laclau herangezogen worden. Sie haben gemeinsam, dass sie die kapitalistische Gesellschaft in ihren Erscheinungen pejorativ beurteilen, insbesondere was die Globalisierung betrifft; ebenso haben sie aber gemeinsam, dass sie kein Subjekt des Widerstands benennen können, obwohl sie es so gern möchten. Das liegt schon an dem Denkfehler, dass die Erfahrung von Alltagspraktiken, die die Subjektivierung erst bewirken sollen, ohne ein vorausgesetztes Subjekt der Subjektivierung gedacht wird. Was tatsächlich in der Praxis erst entsteht, sind Individuen. Indem die Individuen nicht mehr durch einen Subjektbegriff zusammengefasst werden können, ist jede Oppositionsbildung zufällig: Sie kann nicht mehr auf den Anspruch auf Vermittlung des Subjekts mit seinen objektiven Bedingungen rekurrieren. ‚Kritische Massen‘ können nur zufällig und unreflektiert aus massenpsychologischen Dynamiken oder sozialen Trends evolvieren, worin eher eine Gefahr als eine Chance für die Menschheit liegen dürfte. Zudem führt das Subjektivierungstheorem dazu, den Klassenbegriff preiszugeben. Bei Marx war er theoretischer Reflexionsbegriff, der ein Formprinzip der kapitalistischen Gesellschaft angab: Es gab Menschen, die Produktionsmittel besaßen und solche, die keine besaßen. Dadurch wird systematisch über Produktionszwecke und gesellschaftliche Formen entschieden.14 Das ist der Kern gesellschaftlicher Unfreiheit, gegen den zu opponieren bedeutete, die Produktionsweise zu kritisieren. In der postmodernen Politiktheorie gibt es die Klassen nicht, weil es keinen Subjektivierungsfaktor 13

Boltanski kritisiert Bourdieu für dessen überspannten und zugleich vagen Herrschaftsbegriff, vor allem aber dafür, dass Bourdieu trotz aller Elitarismuskritik selbst elitär bleibe, weil Kritik für ihn in einer den Akteuren unzugänglichen Außenposition liege. Er weise seine Maßstäbe aufgrund der Ablehnung akademischer Philosophie nicht mehr aus, sondern evoziere den kritischen Habitus rhetorisch. Boltanskis pragmatische Soziologie soll ihre Kritik aus der Beobachtung kritischer Praktiken in der Gesellschaft selbst als Metakritik herausarbeiten. Zwar bemerkt Boltanski, dass die Soziologie der Kritik keine eigene Kritik begründen kann, aber er bemerkt nicht, dass dies denselben Grund hat, aus dem auch Bourdieus Kritikbegriff unbestimmt blieb: Es fehlt das theoretisch reflektierte Selbstbewusstsein der gesellschaftlichen Zustände, das nicht wie behauptet wird eine anthropologische oder moralische Voraussetzung wäre, sondern der erkenntnistheoretische Angelpunkt begründeter Kritik (Boltanski 2010, S. 73). Deshalb bleibt auch die von Boltanski avisierte Verbindung der kritischen Außenposition Bourdieus mit dem kritischen Sinn der Akteure im Pragmatismus bodenlos (Berger 2014; Bauer et al. 2014). 14 Von den vielen Kritikern der sog. ökonomistischen Kritik ist am ehesten Alex Demirović zuzustimmen, der die zentrale Bedeutung von Ökonomie nicht völlig negiert. Dennoch spricht er von den verschiedenen Bereichen gesellschaftlichen Handelns als von „autonomen Sphären“ (z. B. Demirović 2004, S. 480 u. ö.; Demirović 2007). Dadurch, dass ein Handlungsbereich nicht unmittelbar ökonomisch bestimmt ist, wird er noch nicht zur autonomen Sphäre; die kapitalistische Ökonomie bleibt mittelbar strukturbildend auch für ihn und seine inneren Gesetze. So ist zwar das Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht aus der Kapitalanalyse ableitbar; es ist nicht einmal notwendig – wenn auch wirklich –, dass Bildung neoliberal nach Marktkriterien beurteilt und umgestaltet wird; aber die Zwecksetzungen im Bildungssystem einer kapitalistischen Gesellschaft müssen konkordant mit den Zwecksetzungen gesellschaftlicher Reproduktion sein, wenn sie eine Aussicht auf Realisierung haben wollen. Abweichungen davon sind zufällig und vorübergehend. Deshalb kann das Bildungssystem nicht durch empirische Beobachtung allein verstanden werden.

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Klassenerfahrung gibt. Empirisch ist die Gesellschaft vielfältig in Gruppen zerteilt, von denen einige sich konstituieren über irgendein Missbehagen an der Gesellschaft, die sogenannten neuen sozialen Bewegungen. Auf sie baut die Widerstandshoffnung der postmodernen Politiktheorie, deren bürgerliches Pendant die Repräsentationstheorie ist, die auf Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie setzt. In beiden wirkt kein theoretisches Prinzip von Kritik.15 Die kritiklose Akzeptanz der Vielfalt von Bewegungen verzichtet auf deren theoretische Einigung durch politische Aufklärung. Dadurch divergieren nicht nur die Zwecke der einzelnen Gruppen, sondern diese Gruppen sind selbst Produkte der bestehenden Gesellschaft, die so aus sich selbst heraus ihren relativen Widerpart erzeugt. Damit ist die postmoderne Theorie eine Beschreibung der realen Entwicklung, positivistisch und affirmativ.16 Die empirische Perspektive auf partikulare oder singuläre soziale Akteure verliert den Gegenstand der Gesellschaftstheorie, nämlich Gesellschaft, aus den Augen. Dass die Gesetze kapitalistischer Gesellschaften, insbesondere mit der reellen Subsumtion, keine Gegenstände möglicher Erfahrung sind, wird zum Problem, wenn die Theorie auf Empirie beschränkt ist: Die Kritik der Gesellschaft ist dann undenkbar.17 Negativität, einst logische Form der Kritik, verkümmert, wo sie als Impuls des Protests noch geblieben ist, zum Affekt, der sich gegen alles und nichts richten kann, wenn eine verbindliche Begründung der Kritik als theoretische Zumutung abgelehnt wird. Bruno Latour hat dies, wohl contre coeur, als Nähe zeitgenössischer Kritik zur Verschwörungstheorie erfasst (Latour 2007). Vor allem aber geht das Subjekt als Maßstab verloren, weil der empirische Blick keine Subjekte registriert, zu Recht, denn sie sind nicht sichtbar. Was sich erfahren lässt, sind allenthalben Individuen mit ihren gescheiterten Prätensionen von Subjektivität. Aber diese werden nicht mehr am Maßstab der Reflexion zum Ausgangspunkt der Kritik, sondern sie werden so wie sie sind zum Maßstab einer Kritik am Subjektbegriff, die sich als Kritik so selbst theoretisch untergräbt.

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Zu dem von Anfang an vorhandenen Theoriedefizit in der Studentenbewegung: Bulthaup 1998c. Die Tatsache, dass eine theoretisch uninformierte diffuse Kritik der Gesellschaft nicht nur nicht schadet, sondern durch Kanalisierung und Sublimation von Aggressions- und Gefährdungspotential die Ordnung schützen hilft, dürfte maßgeblich zur Aufgabe der autoritären Haltung gegenüber Protestbewegungen beigetragen haben, was bekanntlich als Erfolg der ʼ68er gefeiert wird. 16 Diesen Charakter postmoderner Theoriebildung bestätigt ihr Selbstverständnis: „Eine Konferenz mit dem Titel ‚Theorietheorie‘ [. . .] gelangte unter anderem zu dem Ergebnis, dass ‚sowohl Konjunktur als auch Abgesang, aber auch Theorieindifferenz und selbst noch der Widerstand gegen die Theorie theoretische Positionen‘ seien“ (Felsch 2015, S. 239–240). 17 Eine Vermittlung versucht Celikates 2009. Mit Recht klagt er gegenüber einer dogmatisch verfahrenden Ideologiekritik die Entwicklung der kritischen Position aus den Erfahrungsgehalten ein. Der Anspruch, dies an kritisch intendierte Artikulationen in Alltagspraktiken anzuschließen, steht jedoch wieder vor dem Problem, dass die Gehalte, aus denen kritische Artikulation überhaupt Begründungen beziehen könnte, nicht als unmittelbare Inhalte von Praktiken vorkommen, so dass kritische Artikulation normalerweise konkretistisch verläuft, also erfahrbare Gegenstände anstelle der nicht erfahrbaren Strukturen der Kritik aussetzt.

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Eine Konsequenz dieses Reflexionsverlusts von Kritik dürfte ihre irritierte Diagnose des eigenen Wirkungsverlusts sein (z. B. Latour 2007, aber auch bereits Foucault 1992 oder Butler 2002, S. 249–265). Foucault schlägt vor, die Kritik wieder stärker als Haltung, „daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird“ (Foucault 1992, S. 12), gegenüber ihrer Entwicklung zur theoretischen Reflexion auf Gründe zur Geltung zu bringen. Bei Butler und anders bei Latour diffundiert noch diese Haltung in immer neuen Praxiskontexten, manifestiert sich nicht als inhaltlich bestimmte Kritik. Auf jeden Fall wird Kritik von einer theoretischen Erkenntnisform in eine individuelle Haltung transformiert. Die Frage nach der Wirksamkeit von Kritik ist ambivalent, postmodern und modern zugleich. Postmodern ist jene Verlagerung in die Alltagspraktiken, modern aber ist der Gedanke einer Tugend des Nonkonformismus, die Wahrheit, die man erkennt, auch zu sagen. Der Impuls hierzu wird von der kritischen Erkenntnis selbst nicht notwendig erzeugt. Das Problem ist unter dem Namen Akrasie in der Philosophie lange bekannt; modern bestimmen lässt es sich präzis mit Kants Begriff der Selbstachtung als notwendig subjektiver Triebfeder einer vernünftigen Praxis (Demirović 2008). Kritik, die bei sich bleibt, ist keine (Adorno 1977a, S. 30). Auf der anderen Seite ist die Aufgabe von Kritik durch eine Haltung oder eine Praktik nicht abgegolten. Daraus ergibt sich die zu der Frage nach dem Wirkungsverlust von Kritik komplementäre Frage nach ihrem Formverlust. Diese Deformation, Entformung, kritischer Theorie entspricht einem Bewusstsein, das Robert Menasse als Resultat einer Phänomenologie der Entgeisterung dargestellt hat (Menasse 1994). Ausgehend von dem Niveau umfassender begrifflicher Vermittlung des theoretischen Selbstbewusstseins bei Hegel entwickelt Menasse im Zusammenhang historischer Bedingungen wie Klassenkampf, Industrialisierung, Faschismus, Weltkrieg und Shoah, wie das moderne kollektive Selbstbewusstsein unter dem Einfluss empirischer Zwänge und Gewalt allmählich an Bestimmtheit und Vermittlung verliert, bzw. sich deren theoretisches Potenzial gar nicht erst aneignet. Diese Erfahrung entformen den Geist der modernen Gesellschaft derart, dass er zu seinen gegenständlichen Lebensbedingungen in ein zunehmend wieder unmittelbares Verhältnis tritt. Es verliert die in historischer Erfahrung gebildeten Formen von Widerständigkeit, zunächst weil es sich taktisch positionieren, sich stets relationieren muss, sodann weil es im Durchgang durch die absolute Bedrohung das Festhalten am Unmittelbaren für den Gewinn des Ganzen hält. Wer an der Existenz bedroht ist, gibt den Kampf um ein emphatisch menschenwürdiges Leben zugunsten des Kampfes um Leben, wie es ist, auf. Dies kennzeichnet den Geist der Nachkriegsgesellschaft, deren adäquates Selbstbewusstsein nach einer Phase des radikalen Antimarxismus der Pragmatismus und Poststrukturalismus wurden, die durchaus wahlverwandt sind. Die Gesellschaft ist postmodern. Die Theorie, die das begreifen soll, kann es nicht sein. Kritische Theorie steht damit vor massiven Schwierigkeiten. Die hohe Affinität zu verkürzten Formen von Kritik bewirkt Zerrüttung und Lagerbildung; es wiederholt sich gewissermaßen die Fraktionierung der Arbeiterbewegung. Ständige interne Auseinandersetzungen behindern die Identifikation der tatsächlichen Objekte von Kritik, zumal gerade die theoretische Form der Objekte und ihrer Identifikation in

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Zweifel gezogen wird. Was hier auf die kritische Theorie durchschlägt, ist das bürgerliche Interesse an der Zerrüttung und dadurch Paralysierung der theoretischen Vernunft (Bulthaup 1998a): Die moderne bürgerliche Gesellschaft hat sich nicht allein ökonomisch und politisch stabilisieren können, sondern sie hat auch die Institutionen der Bildung, die bis zu Fichte und Humboldt noch als Horte der autonomen Subjektivität galten, einer instrumentellen Integration zugeführt, in der die kritische Reflexion nicht systematisch anschlussfähig ist, sondern Zufall bleibt. Peter Bulthaup zufolge ist das „Subjekt radikaler Kritik“ (dieses und die folgenden Zitate aus: Peter Bulthaup, Kap. ▶ „Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie“, in diesem Band), zunächst mit Lukács das Proletariat, in der Entwicklung der Neuzeit zu einem „Wesen ohne Dasein“ geworden. Das Subjekt radikaler Kritik ist das moderne Selbstbewusstsein, das um seiner Autonomie willen die heteronomen Bedingungen seiner Existenz der Kritik unterwirft. In dieser Kritik wirkt als ‚Wesen‘ die substanzielle Idee menschenwürdigen Daseins der Gattung in jedem ihrer Exemplare, die aber im tatsächlich heteronomen Dasein der vereinzelten Einzelnen nicht wirklich ist. Subjekte der Kritik sind die Proletarier deshalb, weil sie der Form nach an der in Eigentum und Naturbeherrschung gründenden Autonomie der bürgerlichen Gesellschaft partizipieren; der Sache nach aber, als bloßen Eigentümern von Arbeitskraft, treten ihnen die Bedingungen von Autonomie als Bedingungen von Heteronomie entgegen. Weil die Negation dieser Bedingungen – die Aufhebung der Produktionsweise – einerseits Bedingung ihrer Autonomie wäre, aber andererseits zugleich deren Bedingungen negierte, wird der radikale Akt der Selbstverwirklichung unmittelbar zu einem Akt der Selbstzerstörung. Auch wer kein Interesse am Kapitalismus hat, hat existenzielle Interessen im Kapitalismus. Solange das Subjekt radikaler Kritik nicht als kollektives sich ein Dasein gibt, bleibt es bei „empirische[n] Manifestation[en] der Kritik durch einzelne Subjekte“, die aber dem „Wesen kein Dasein“ geben, sondern nur Provokationen darstellen für das bloße Dasein der anderen, die keine Manifestationen der Kritik sein wollen. Diese werden durch die vereinzelte radikale Kritik daran erinnert, dass sie an sich Wesen sind, dass sie als vernunftbegabte Sinnenwesen ihre adäquate Entfaltung in einem glücklichen autonomen Leben hätten. Zugleich werden sie daran erinnert, dass dies nur dadurch möglich würde, dass sie selbst Subjekte radikaler Kritik würden: „Die Reaktion auf diese Provokation, Wut und militante Abwehr, ist Symbol des an sich seienden Wesens des Daseins, das nicht für sich werden kann, ohne die radikale Veränderung der Verfassung der Totalität der Bedingungen seiner Reproduktion.“ Das Dasein dringt, weil der Preis seines Wesens es ängstigt, auf Liquidierung der radikalen Kritik. Diese erfolgt nicht erst durch die akademische, bürgerliche oder physische Auslöschung kritischer Subjekte, sondern schon, und wirkungsvoll, durch die theoretische Deformation der Kritik. „Im Widerstand gegen die Tendenz zu seiner Liquidation erst wird die empirische Manifestation des Wesens ohne Dasein, die Selbstbehauptung radikaler Kritik, zu einem objektiven Moment der Agitation für die essentia singularis, die noch nicht ist.“ Die Prinzipien Subjektivität, Negativität, materialistische Gesellschaftstheorie, Geschichtlichkeit und Ideologiekritik ermöglichen eine Reflexion der ‚gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie‘, für die auch ihr Verhältnis zu ihrer Deformation theoretisch bestimmbar wird. Die

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Deformation vermag umgekehrt nicht, ihr Verhältnis zur kritischen Theorie theoretisch zu fassen, denn die Preisgabe der theoretischen Formprinzipien erfolgt explizit nicht durch eine allgemeine theoretische Begründung, sondern aus pragmatischen Erwägungen. Es tut der Deformation aber auch nicht Not, weil sie „mit der realen historischen Tendenz harmoniert“.

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Die Perspektive des Denkens: Horkheimers Begriff der Vernunft Hans-Ernst Schiller

Zusammenfassung

Der Beitrag hat das Ziel, den Gehalt der Begriffe objektive und wirkliche Vernunft, subjektive oder instrumentelle Vernunft und die Konzeption der Überwindung ihres Gegensatzes möglichst klar, aber auch durchaus kritisch zu vergegenwärtigen. Kritische Theorie behauptet, dass die Vernunft in der Gesellschaft wirklich sei, aber sie verneint die Konzeption, dass ihre Widersprüche in jeweils höheren Stufen eine Auflösung finden können und zugleich in der Wirklichkeit aufgehoben seien. Horkheimer wird im Beitrag als exemplarisch für die Kritische Theorie und die Kritik der instrumentellen Vernunft nicht nur als Popularisierung der Dialektik der Aufklärung, sondern als notwendige Ergänzung verhandelt. So wesentlich auch die Änderungen sind, die Horkheimers Denken bei der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung erfährt, es bleibt fundiert auf dem Konzept der wirklichen Vernunft in unvernünftiger Form, die er der Marxschen Theorie verdankt. Generell ist Vernunft ambivalent: Zwar ist begriffliches Denken ein Instrument der Herrschaft, aber es enthält auch die Perspektive wahrer Allgemeinheit. Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft enthält eine eingehende Kritik der Grundannahmen der Theorien subjektiver Vernunft. Dass kritische Theorie die strikte Trennung von Sein und Sollen, theoretischer und praktischer Vernunft, nicht akzeptiert, ist ein Ausdruck dafür, dass sie einem Konzept „objektiver Vernunft“ zuneigt, in dem die vernünftigen Ziele des Menschen aus der Erkenntnis seiner Welt, der Natur und der Gesellschaft bestimmt werden. Für Horkheimer stellt Würde einen Gegenbegriff zur instrumentellen bzw. subjektiven Vernunft dar, denn die Idee der Menschenwürde behauptet das Individuum als Zweck an sich, aber nur auf Grundlage der Anerkennung eines objektiven, das Individuum übersteigernden Zusammenhangs. H.-E. Schiller (*) Fachbereich Sozial-und Kulturwissenschaften, vorm. Hochschule Düsseldorf, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_16

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H.-E. Schiller

Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Max Horkheimer · Vernunftbegriff · Instrumentelle Vernunft · Vernunftkritik · Dialektik der Aufklärung · Menschenwürde

1

Vernunft, theoretisch und praktisch

Horkheimers Zur Kritik der instrumentellen Vernunft aus dem Jahre 1945 steht in der heutigen Landschaft des Geistes wie ein Findling aus einer längst vergangenen Epoche. Sie wäre vielleicht, wie die Schriften von Herbert Marcuse, beinahe vergessen, wenn ihr (deutscher) Titel nicht ein Schlagwort geliefert hätte, das griffig genug ist, um noch gebraucht zu werden. (Der englische Titel von 1945 war Eclipse of Reason – Die Verfinsterung der Vernunft. Der deutsche Titel bringt die zentrale These, dass Vernunft zu einem bloßen Werkzeug geworden ist, gut zum Ausdruck.) Dabei gilt als instrumentelle Vernunft die Zweck-Mittel-Relation als solche und der schlaue Einwand lautet: wie kann man nur kritisieren, dass man bei einem praktischen Zweck nach der Angemessenheit des Mittels fragt? Dass der Begriff „instrumentelle Vernunft“ bedeutet, dieses Moment werde zum einzig legitimen Sinn von Vernunft verabsolutiert, wird unterschlagen oder schon gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Stattdessen wird viel und ziemlich gedankenlos von einer Pluralisierung der Vernunft gesprochen, bestenfalls noch von der Frage, in welchem Bereich der menschlichen Realität die Vernunft zu „verankern“ sei: ob in der Sprache, in der Arbeit, in den Bedürfnissen oder in der Kunst. Man verkennt, dass das Auseinanderfallen und die Verselbstständigung der Bereiche gegeneinander ein Hauptpunkt der Kritik einer jeden Vernunftkonzeption sein muss, die noch nicht vor der Übermacht der gesellschaftlichen Apparate kapituliert, sich also faktisch aufgegeben hat. Sich auf die besondere Logik des besonderen Gegenstandes einzulassen, sollte nicht in den Verzicht verkehrt werden, das Besondere als Besonderung eben des Allgemeinen zu verstehen. Das Bewusstsein, dass Vernunft etwas mit der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und mit deren Widersprüchen zu tun hat, ist im akademischen Betrieb an den Rand gedrängt und außerhalb seiner in Isolation und wirtschaftlicher Bedrängnis kaum überlebensfähig. Schließlich wird Trumpf As aus dem Ärmel gezogen: Ich kenne keinen, der das heute noch vertritt. (Zum Vernunftbegriff der kritischen Theorie haben sich u. a. geäußert: Brunkhorst 1987; Hesse 1984; Raulet 1986; Ritsert 2012, S. 103–115; Schiller 1993a, b sowie 1993c; Schmid Noerr 2012; Welsch 1996, S. 74–98). Die folgenden Seiten haben zum Ziel, den Gehalt der Begriffe objektive oder wirkliche Vernunft, subjektive oder instrumentelle Vernunft und die Konzeption der Überwindung ihres Gegensatzes möglichst klar, aber auch durchaus kritisch zu vergegenwärtigen. Die Übereinstimmung zwischen den Hauptautoren der kritischen Theorie: Horkheimer, Adorno und Marcuse, aber auch Fromm und Benjamin ist groß, sodass die Auseinandersetzung mit Horkheimer einen paradigmatischen Wert hat. Sie hat zudem den Vorteil, die Genesis der kritischen Vernunftkonzeption deutlich machen zu können. Schon in der Rede zur Übernahme des Direktorats im

Die Perspektive des Denkens: Horkheimers Begriff der Vernunft

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Institut für Sozialforschung hatte Horkheimer das Programm einer interdisziplinären Sozialforschung entworfen als „eine den zur Verfügung stehenden Methoden wie dem Stand unseres Wissens angepaßtere Formulierung der alten Frage nach dem Zusammenhang von besonderer Existenz und allgemeiner Vernunft (. . .).“ (Horkheimer 1988a, S. 32) Und gleich im ersten Aufsatz der Zeitschrift für Sozialforschung, den Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, wurde das Spannungsfeld umrissen, in dem sich auch noch die Kritik der instrumentellen Vernunft bewegt: das von Positivismus und reanimierter Metaphysik. „Durch die Lehre, dass der Verstand nur ein für die Zwecke des täglichen Lebens brauchbares Instrument sei, aber vor den großen Problemen zu verstummen und substanziellen Mächten der Seele das Feld zu räumen habe, wird von einer theoretischen Beschäftigung mit der Gesellschaft als ganzer abgelenkt.“ (Horkheimer 1988b, S. 41 f.) In diesen Hohlraum treten die zeitgenössischen Angebote ein, das metaphysische Bedürfnis zu befriedigen. Sucht man in der philosophischen Tradition nach einem Vorbegriff von Vernunft, so lässt sie sich als der Sinn des Allgemeinen, die Tätigkeit des Denkens bezeichnen. Wie wir mit den Augen und Ohren, der Nase, der Zunge und der Haut Bewegungen und Geräusche, Gerüche, Geschmack und Berührung wahrnehmen, so erfassen wir in unserer Vernunft, die auch in den Sinnen wirkt, die Dinge als Allgemeines. Das Dies-da wird erkannt als Tisch oder Gerät, als Hund oder Mensch. Vernunft ist zunächst Denken überhaupt und in diesem Sinne waren die Menschen immer schon auch vernünftig. Historisch gesehen, muss sich der Begriff aber erst aus der Umhüllung des Mythos befreien und, frei nach Hegel (1970a, S. 179), zur Gewissheit kommen, die Realität selbst zu sein. Die Erklärung der Natur und der sozialen Verhältnisse muss in Begriffen erfolgen, nicht mehr in Erzählungen. Ein schönes Beispiel für die Entgegensetzung von Mythos und Logos bietet die Einleitung zu Platons Timaios (1992, S. 15 ff.). Ein weiser Ägypter belehrt den Griechen, dass es in der Geschichte immer wieder Naturkatastrophen gegeben habe, die den Strang der Tradition abgebrochen hätten. „Was man ja auch bei euch erzählt, dass einst Phaeton, der Sohn des [Sonnengottes; H.-E. S.] Helios, den Wagen des Vaters anspannte und infolge seiner Unfähigkeit, auf dem Wege des Vaters zu ziehen, die Erdoberfläche in Brand setzte und selbst, durch einen Blitz getroffen, sein Ende fand; das erzählt man zwar in Form einer Sage [Mythos], in Wirklichkeit aber ist es eine Bahnabweichung der am Himmel um die Erde laufenden Körper und ein in langen Zeiträumen immer wieder eintretender Untergang der Wesen auf der Erde durch eine Menge Feuer.“ Wenn der Begriff und eine in Begriffen formulierte Regelmäßigkeit an die Stelle der Erzählung von göttlichen Personen treten, werden Zweideutigkeit und regionale Besonderheit überwunden. Es gibt eine allgemeine Erklärung, die allgemein nachvollziehbar ist. Der Logos ist nach Heraklit allen gemeinsam, auch wenn sie meinen, in ihrer eigenen Welt zu leben. Vernunft ist auch am Werk, wenn wir praktische Regeln verstehen. Wir wissen, was es heißt, dass „man“ es so macht oder gar, dass sich jeder so verhalten soll, z. B. dass er sein Auto, wenn die Ampel rot zeigt, anhält. Auch im Praktischen bedarf es eines langen Weges, bis die Vernunft zu sich selber kommt: von der mythischen Begründung von Ritualen bis zur bewussten Setzung von Regeln in politischen Gemeinschaften. Philosophisch ist die Unterscheidung von Ethik, der

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H.-E. Schiller

Beschäftigung mit dem richtigen Handeln, und Ontologie, der Lehre vom Seienden, alt, und schon Aristoteles hat im 6. Buch der Nikomachischen Ethik theoretische von praktischer Vernunft (dianoia praktikä bzw. theoretikä) unterschieden (Aristoteles 2001, S. 238). Spätestens seit Kant sind wir mit dem Gedanken vertraut, dass Sein und Sollen nach jeweils eigenen Prinzipien erkannt werden (den Grundsätzen des Verstandes und den kategorischen Imperativen). Aber gerade bei Kant hat sich das Bedürfnis gemeldet, theoretische und praktische Vernunft miteinander doch wieder in Einklang zu bringen, und Hegel hat daraus eine Konzeption entwickelt, nach der die Moral im Sein der Sittlichkeit, dem objektiven Geist, aufgehoben ist.

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Die wirkliche Vernunft in ihrer unvernünftigen Form. Beziehung zu Marx

Auch die kritische Theorie lebt in der Spannung von theoretischer und praktischer Vernunft. Die Theorie der Gesellschaft kann nicht unmittelbar praktisch sein, aber sie vermag dem Handeln vernünftige Ziele zu setzen, wenn sie kritisch ist, d. h. die Strukturen und Werte der Gesellschaft nicht einfach als gegeben hingenommen werden. Die praktischen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit, die von der Französischen Revolution erhoben wurden, sind als gesellschaftlich geltende Werte Teil der wirklichen Praxis geworden. Sie werden einer Kritik unterzogen, indem gezeigt wird, dass sie an der Oberfläche bleiben und die Praxis stets wieder das Gegenteil: Zwang und Ungleichheit produziert. Indem die Kritik, so Horkheimer in Materialismus und Moral, den Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit als Widerspruch in der Wirklichkeit selbst begreift, geht sie über die vorgegebene Form der Wertbegriffe hinaus und gibt ihnen einen neuen Inhalt. Die Freiheit des Vertrags verwandelt sich in die Freiheit vom Ausbeutungsverhältnis und schließlich in die Freiheit zur Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten. Gerade in dem Nachweis, dass die Ideen des revolutionären Bürgertums „ihre Aktualität bewahrt und nicht auf Grund der Wirklichkeit verloren haben, besteht die dialektische Kritik an der Welt, die sich unter ihrem Mantel verbirgt. Diese Ideen sind nichts anderes als die einzelnen Züge der vernünftigen Gesellschaft (. . .)“ (Horkheimer 1988d, S. 137). Dass kritische Theorie die strikte Trennung von Sein und Sollen, theoretischer und praktischer Vernunft, nicht akzeptiert, ist ein Ausdruck dafür, dass sie (nach dem späteren Ausdruck) einem Konzept „objektiver Vernunft“ zuneigt, in dem die vernünftigen Ziele des Menschen aus der Erkenntnis seiner Welt, der Natur und der Gesellschaft, bestimmt werden. Horkheimers Denken widerspricht der Lehre vom „naturalistischen Fehlschluss“, die von George Edward Moore formuliert worden ist. Moore (1970) hatte es z. B. mit der Evolutionstheorie Spencers zu tun und wollte zeigen, dass aus der Richtung der Evolution keine praktische Verbindlichkeit folge, sie zu fördern. Mit Evolutionstheorie aber darf die kritische Theorie nicht verwechselt werden. Nach Horkheimer können Tatsachen wirklich eine Richtlinie des Handelns vorschreiben, aber hier geht es um die bestimmte Negation bestimmten Leidens: „(. . .) zum Beispiel ein Kind oder ein Tier in der Gefahr des Ertrinkens,

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eine hungernde Bevölkerung oder eine individuelle Krankheit. Jede dieser Situationen spricht sozusagen eine eigene Sprache.“ (Horkheimer 1991, S. 34) Sie enthalten einen „stummen Appell“ (S. 51). Motiv ist das moralische Gefühl, das in Politik nicht aufgeht; es sagt: so soll es nicht sein, nicht: das soll wirklich werden. Die Erkenntnis des gesellschaftlichen Seins hingegen, an der sich die Politik einer kritischen Theorie orientiert, hat es nicht mit einer Anhäufung von Tatsachen zu tun, die in vielen einzelnen Protokollsätzen konstatiert werden, sondern mit einem in sich strukturierten Ganzen. Wahrheit ist folglich nicht „ein isoliertes und in seiner Isolierung festgehaltenes Urteil (.), sondern jeweils ein Ganzes der Erkenntnis (. . .).“ (Horkheimer 1988h, S. 151) Mit unverkennbarem Bezug auf Max Webers Wissenschaftstheorie meint Horkheimer: „Entscheidung und Praxis gelten nun als etwas dem Denken nur Entgegengesetztes, als ‚Wertungen‘, private Willkür, unkontrollierbare Gefühle; der Intellekt dagegen soll mit bewusstem Interesse, einer bestimmbaren Richtung seiner Tätigkeit höchstens äußerlich verbunden sein. (. . .) Man hat Denken und Wollen, die Momente des geistigen Prozesses, gedanklich voneinander geschieden, wogegen logisch nichts einzuwenden ist. Man stellt sie nun in ihrer Abstraktheit als Schemata auf, in deren Rahmen die Vernunft zu verbleiben habe (. . .)“ und dagegen sei gerade logisch, freilich nach einem anderen Begriff von Logik als dem der bloß formalen, sehr viel einzuwenden. (Horkheimer 1988h, S. 154) Die Logik der Sache widerspricht der Fixierung des Unterschieds zum Gegensatz von Sein und Sollen. Die Konstruktion des „naturalistischen Fehlschlusses“ macht nur Sinn unter Voraussetzung eines positivistischen Erkenntnisbegriffs, der das Sein auf eine Anhäufung von Fakten reduziert und das Wollen zu einer im Kern vernunftlosen Tätigkeit macht. Das lässt sich an David Hume verdeutlichen, den Horkheimer als „Vater des modernen Positivismus“ bezeichnet. (Horkheimer 1991, S. 40) Auf Hume geht der „naturalistische Fehlschluss“ insofern zurück, als er in allen bisherigen Moralsystemen einen unmerklichen Wechsel von Sätzen mit „ist“ und „ist nicht“ in Sätze mit „sollte“ und „sollte nicht“ glaubte feststellen zu können. Dieser Übergang müsste erklärt werden, aber eben das werde nicht geleistet. Hume äußert sodann die Überzeugung, „dass die Unterscheidung von Laster und Tugend nicht in der bloßen Beziehung der Gegenstände begründet ist, und nicht durch die Vernunft erkannt wird.“ (Hume 1978, S. 212) Mit der Vernunft erkennen wir nur Tatsachen, Sittlichkeit besteht allein in Affekten, Gefühlen, Motiven, Volitionen. Horkheimer hat diese Position stets bekämpft, aber in Hume immerhin eine Trauer über die Ohnmacht der Vernunft gewahrt. (Horkheimer 1988h, S. 132 f.) Genau genommen ist er dieser Trauer später beigetreten. Seine Überlegungen zum moralischen Gefühl weisen schon in Materialismus und Moral eine gewisse Nähe zu Hume (und natürlich zu Schopenhauer) auf, auch wenn er im Gefühl die Allgemeinheit erkennt, d. h. die Liebe zum Einzelnen „als dem möglichen Mitglied einer glücklichen Menschheit.“ (Horkheimer 1988d, S. 134) Kritische Theorie behauptet wie Hegel, dass die Vernunft in der Gesellschaft wirklich sei. Aber im Unterschied zu Hegel verneint sie die Konzeption, dass ihre Widersprüche in jeweils höheren Stufen eine Auflösung finden würden und zugleich in der Wirklichkeit fortbestehen könnten. „Das Zusammenwirken der Menschen in

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der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kräfte an und bestätigen ihr Wesen.“ (Horkheimer 1988i, S. 177) Für die Gegenwart bleibt jedoch ein unaufgelöster Widerspruch kennzeichnend: „Die Produktion ist nicht auf das Leben der Allgemeinheit abgestellt und besorgt auch die Ansprüche des Einzelnen, sondern auf den Machtanspruch von Einzelnen und besorgt auch zur Not das Leben der Allgemeinheit.“ (S. 187) Das Allgemeine vollbringt sich bewusstlos, ist nicht der Zweck einer gemeinsamen Anstrengung. Die Schwierigkeiten des Vernunftbegriffs sind letztlich darin begründet, „dass die Allgemeinheit, die man der Vernunft zuschreibt, nichts anderes als die Übereinstimmung der Interessen aller Individuen bedeuten kann, während die Gesellschaft immer noch in Klassen aufgespalten ist.“ (Horkheimer 1988m, S. 326) Obwohl es also Herrscher und Beherrschte, Profiteure und Verlierer gibt, haben sich die Verhältnisse insgesamt verselbstständigt und wirken als feindliche Macht über den Individuen, die ihre besonderen Zwecke verfolgen. Das Ganze „tritt den Individuen als ihnen fremde Schicksalsmacht, als zweite Natur gegenüber.“ (Horkheimer 1988e, S. 205) Die Autoritäten, gegen die das Bürgertum einst rebellierte, wurden nicht gestürzt, „sie verbargen sich hinter der anonymen Macht der ökonomischen Notwendigkeit, oder, wie man zu sagen pflegt, hinter der Sprache der Tatsachen.“ (Horkheimer 1988f, S. 377) Das Allgemeine existiert als der blinde Mechanismus der ökonomischen Kräfte und Kämpfe, an den der Einzelne sich anzupassen trachten muss: „Die möglichst vollständige Anpassung des Subjekts an die verdinglichte Autorität der Ökonomie ist die Gestalt der Vernunft in der bürgerlichen Wirklichkeit.“ (Horkheimer 1988f, S. 372 f.) Das ohnmächtige Individuum muss sich fügen. Soweit das Handeln bewusst und rational ist, bleibt es auf das Selbstinteresse, die Selbsterhaltung, die partikularen Zwecke beschränkt. Ratio ist die Vernunft des auf seinen ökonomischen Vorteil gerichteten Individuums, das als Typus des Menschen überhaupt gilt. (Vgl. Horkheimer 1988e, S. 199) Das ist die später sogenannte instrumentelle Vernunft. „Die bloße Sorge um das persönliche Fortkommen“ drückt die Menschen zu „Automaten der individuellen Selbsterhaltung herab.“ (Horkheimer 1988e, S. 208) Die Form dieser Rationalität ist Kalkulation, Berechnung. In einer bewundernswerten Aktualisierung von Platons Höhlengleichnis (Horkheimer 1988h, S. 155 f.) hat Horkheimer die Situation des modernen Menschen in seinem lebenslangen Gefängnis, der kapitalistischen Welt, verdeutlicht: der Einzelne, der für sich selbst sorgen muss, ist auf Beobachtung und Berechnung verwiesen. Dass Kalkulation als die Gestalt der Vernunft gilt, ist jedoch einer historisch besonderen Lage geschuldet. Und die Lösung der Fesseln kann weder von außen kommen noch führt sie in ein ewiges Reich der Ideen, sondern ist nur als Organisation der selbsttätigen Subjekte möglich. Die Rede von der wirklichen Unvernunft ist objektiv wahr in einer Gesellschaft, die sich in periodischen Krisen die Vernichtung eines Teils ihres Reichtums leistet, während sie die Sozialausgaben kürzt und die Menschen in abhängigen Ländern verhungern lässt. „Wenn von Vernunft bestimmtes Handeln zum Menschen gehört, ist die gegebene gesellschaftliche Praxis, welche das Dasein bis in die Einzelheiten formt, unmenschlich, und diese Unmenschlichkeit wirkt auf alles zurück, was sich in der Gesellschaft vollzieht.“ (Horkheimer 1988i, S. 183 f.) Die objektive Vernunft

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der Gesellschaft ist blind und die Vernunft der Subjekte beschränkt. Beide existieren „in unvernünftiger Form“. (Horkheimer 1988k, S. 293) Gleichwohl existiert die Vernunft und zeichnet der Praxis eine Lösung vor: die Verwirklichung wahrhafter Allgemeinheit, die „Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation.“ (Horkheimer 1988i, S. 186 f.) Kritische Theorie kann im gegenwärtigen Weltzustand „die Ansatzmöglichkeiten für eine vernünftigere Ordnung“ erkennen. (Horkheimer 1988e, S. 214) Wie in den verselbstständigten Verhältnissen, so ist „das Ziel einer vernünftigen Gesellschaft“ auch „in jedem Menschen wirklich angelegt.“ (Horkheimer 1988j, S. 224) Eine vernünftige Gesellschaft ist möglich. (1988k, S. 289) Horkheimers Begriff der wirklichen Vernunft als widersprüchlicher Verwirklichung des Allgemeinen konvergiert mit der Auffassung von Karl Marx. Der Gehalt des dialektischen Vernunftbegriffs von Marx geht freilich über das hinaus, was Horkheimer an den Begriffen Freiheit und Gleichheit ausgeführt hat. Marx hat die unvernünftige Vernünftigkeit des Wirklichen bis in die Kategorien der politischen Ökonomie verfolgt und damit das Versprechen eingelöst, das er in einem Brief an Arnold Ruge in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern gegeben hatte: „Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht in ihrer vernünftigen Form. Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewusstsein anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln.“ (Marx 1972, S. 345) Die Formen, an denen der Kritiker der politischen Ökonomie anknüpft, sind deren „Kategorien“ als „objektive Gedankenformen“: z. B. Wert und Geld, Preis und Arbeit, Kapital und Zins. Es handelt sich um Denkformen der Wissenschaft wie der Alltagspraxis. Sie sind Denkformen, weil sie sich in ihrer Bestimmtheit mit unendlich vielen Inhalten anreichern lassen. (Der Schuh, die Jacke, das Auto (. . .) kostet, hat den Preis von x, y, z (....) DM oder Euro oder Dollar.) Es handelt sich um objektive Gedankenformen, weil sie jedem Einzelnen vorausgesetzt sind. Sie müssen benutzt werden, wenn er an einer bestimmten Praxis (z. B. Kauf und Verkauf, Investieren, Verleihen, Vermieten) teilnehmen will. Objektive Gedankenformen sind nicht „bloße“ Denkformen, sondern integrales Moment gesellschaftlicher Praxis, allerdings auch ein notwendiges. Die Kategorien sind zugleich „Daseinsformen, Existenzbestimmungen“ (Marx 1983, S. 40) einer bestimmten Gesellschaft. Gleichwohl sind sie irrational und widersprüchlich. Sie verschweißen das Unvereinbare in Eines: Sie weisen einem empirisch wahrnehmbaren Ding übersinnliche Eigenschaften zu: die Geldware Gold gilt als Verkörperung des Tauschwerts; das Kapital ist ein sich verwertender Wert („Geld muss arbeiten!“) und der Arbeitslohn gilt als „Preis der Arbeit“, obgleich, „genau gesprochen, Wert und Preis der Arbeit sinnlose Bezeichnungen sind.“ (Marx 1971, S. 134)1 Die ökonomischen Denkformen sind geradewegs „verrückt“. Aber, so wird man einwenden, diese Kategorien funktionieren doch! Und das ist in der Tat

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Die Bezeichnungen sind sinnlos, weil das, was Wert schafft, nicht zugleich Wert sein kann. Marx zufolge ist Lohn der Preis der Arbeitskraft, die von ihrem Käufer in der Produktion „konsumiert“ wird.

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richtig. Dass mit ihnen trotzdem etwas nicht stimmt, könnte dem Alltagsbewusstsein an den periodischen Krisen aufgehen. Aber die Bestimmtheit, der Forminhalt dieser Denkformen ist den Alltagsakteuren auf eine selbstverständliche und unreflektierte Weise vertraut. Sie gehören zu ihrer „Lebenswelt“. Auch in Krisenzeiten bleibt das gewöhnliche Bewusstsein dabei, dass seine irrationalen Formen normal sind und die Störungen von außen kommen, d. h. einen außerökonomischen Grund haben: die Gier der Finanzjongleure, die Bequemlichkeit der Lohnarbeiter, die Kurzsicht der Unternehmer und das „Anspruchsdenken“ der Empfänger von Transferleistungen. Die Störung der gesamtwirtschaftlichen Reproduktion wird zur moralischen Krise erklärt, weil der innere Zusammenhang der ökonomischen Kategorien sich dem Alltagsbewusstsein entzieht: „Die Vermittlungen der irrationellen Formen, worin bestimmte ökonomische Verhältnisse erscheinen und sich praktisch zusammenfassen, gehen die praktischen Träger dieser Verhältnisse in ihrem Handel und Wandel (.) nichts an; und da sie gewohnt sind, sich darin zu bewegen, findet ihr Verstand nicht den geringsten Anstoß daran. Ein vollkommener Widerspruch hat durchaus nichts Geheimnisvolles für sie. In den dem inneren Zusammenhang entfremdeten und, für sich isoliert genommenen, abgeschmackten Erscheinungsformen fühlen sie sich ebenfalls so zu Haus wie ein Fisch im Wasser.“ (Marx 1969, S. 787) Geht man den Kategorien Wert, Geld, Kapital, Zins etc. auf den Grund, so werden sie entzifferbar als Erscheinungen eines Produktionsverhältnisses, in dem sich Privateigentümer gegenüber stehen. „Nur Produkte selbstständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber.“ (Marx 1975, S. 57) Allerdings entwickelt sich die Produktion von Waren erst dann zur alles bestimmenden Totalität, wenn sich nicht mehr bloß die Inhaber von Waren als Tauschende gegenüber stehen, sondern die Privateigentümer von Arbeitskraft und die von Produktionsbedingungen, wenn also die Produktion der Waren zur kapitalistischen geworden ist. Hier kann die Ableitung der Kategorien aus dem Produktionsverhältnis nicht nachgezeichnet werden (vgl. hierzu ausführlicher Wienold und Kößler im Handbuch), aber es ist wichtig, festzuhalten, dass beinahe alle Merkmale des Horkheimerschen Theorieverständnisses der 1930er-Jahre hier versammelt sind: der Blick aufs Ganze (den inneren Zusammenhang), in dem sich die Vernunft der gesellschaftlichen Reproduktion verwirklicht; die Widersprüche der einander entfremdeten Kategorien als irrationaler Formen; die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung; schließlich die Kritik an einer Gesellschaft, in der sich das Allgemeine nur durch ein von Menschen erzeugtes „blindes Naturgesetz“ und unter Aufopferung des Glücks einer mehr oder minder großen Zahl von Menschen verwirklicht. Auch wenn Horkheimer das implizite Vernunftkonzept von Marx nicht in die Tiefen der Kategorienlehre hinein verfolgt hat, bleibt sein eigener Vernunftbegriff doch auch in der Folgezeit von der Marxschen Kritik abhängig. So wesentlich auch die Änderungen sind, die Horkheimers Denken bei der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung erfährt – es bleibt fundiert auf dem Konzept der wirklichen Vernunft in unvernünftiger Form, die er der Marxschen Theorie verdankt. Diese Grundlage der kritischen Theorie wird in den Schriften Adornos zum Positivismusstreit wieder in aller Deutlichkeit zu Tage treten.

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Die Problematisierung der Naturbeherrschung

Die Entwicklung von Horkheimers Denken in den 1940er-Jahren ist von einer zunehmenden Verfinsterung der Perspektive wahrer Allgemeinheit geprägt. Dennoch ist die Hoffnung auf eine radikale Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse noch nicht geschwunden. Was zunächst aufgegeben wird, ist die Hoffnung auf einen Beitrag der Einzelwissenschaften zum Verständnis des Ganzen. (Horkheimer und Adorno 1969, S. 1 f.) Die Wissenschaften erscheinen zunehmend als bloße Instrumente der Reproduktion von Herrschaft und Unvernunft. Dieser Aspekt mag für die Funktionäre des Wissenschaftsbetriebs die betrüblichste Nachricht sein, ist aber nicht die entscheidende. Wichtiger ist die Reflexion auf die innere Verbindung von Vernunft und Herrschaft und die damit einhergehende Weiterung der Kapitalismus- zur Zivilisations-, ja zur Kulturkritik. (Vgl. Schiller 2006, S. 204 ff.) Angeregt durch Nietzsche und Freud hatte Horkheimer schon in den dreißiger Jahren die Abrichtungen in den Blick genommen, die den Menschen zu einem vernünftigen Wesen machen, das sich zu kontrollieren und an die Zukunft zu denken weiß. Die Dialektik der Aufklärung vergegenwärtigt den Prozess an der epischen Figur des Odysseus, seiner „Introversion des Opfers.“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 72) Die Selbstbeherrschung, durch die der zivilisierte Mensch zum Subjekt naturbeherrschender Vernunft wird, befähigt ihn auch zur Herrschaft über die Gefährten, die in der Moderne zu kündbaren „Mitarbeitern“ avancieren und die körperliche Arbeit zu leisten haben. Selbstbeherrschung, Naturbeherrschung und soziale Herrschaft bilden seit den Anfängen der Zivilisation einen festen Zusammenhang, der unter dem Prinzip der Selbsterhaltung steht. Die Dialektik der Aufklärung stellt einen wichtigen theoretischen Fortschritt dar, weil ihr die Naturbeherrschung im Zeichen des Zusammenhangs mit Herrschaft und Selbstkontrolle fragwürdig geworden ist. Jedoch neigen die Autoren in der Verfolgung ihrer zivilisationskritischen Motive zu historischer Entdifferenzierung. Das lässt sich eben am Begriff der Naturbeherrschung deutlich machen. Die existierende Vernunft war in den Aufsätzen der 1930er-Jahre bestimmt als die Erhaltung des Allgemeinen in der Produktion. Kapitalistische Produktion aber ist Naturbeherrschung, Nutzung der Stoffe und Gesetze der Natur zur Herstellung nützlicher Produkte. Für den Horkheimer der dreißiger Jahre war die Naturbeherrschung noch unproblematisch gewesen. Menschliche Freiheit galt als „identisch mit der Beherrschung der Natur in und außer uns durch vernünftigen Entschluss.“ (Horkheimer 1988n, S. 157) In Materialismus und Metaphysik hieß es, dass die Wirklichkeit, welcher der Materialist sich zu bemächtigen sucht, das Gegenteil einer göttlichen sei „und sein Bestreben geht vielmehr dahin, sie nach ihm als sich nach ihr zu richten.“ (Horkheimer 1988c, S. 79) Als Materialismus erscheint eine Haltung, die Natur den subjektiven Zwecken unterwirft. Es ist nur konsequent, dass Horkheimer, obwohl sein Denken noch lange materialistisch bleibt – ob dies auch für die Spätphase gilt, kann bezweifelt werden (vgl. Schiller 2013), jedoch verliert schon seit den vierziger Jahren die Unterscheidung von Materialismus und Idealismus an Bedeutung – die Bezeichnung der eigenen Position als „Materialismus“ aufgegeben hat, als ihm die Naturbeherrschung problematisch wurde. Der Grund dafür lag in der Einsicht in die

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Verquickung von Naturbeherrschung und sozialer Herrschaft und in einer neuen Interpretation des Marxschen Theorems, dass die Mängel der kapitalistischen Produktionsweise zu einer historischen Naturgesetzlichkeit führen, die mit dem Übergang zu einer planvollen Regelung der Produktion aufgehoben werden könne. Für Horkheimer und Adorno bedeutet der erste Teil des Theorems, dass es eben das Prinzip der Naturbeherrschung ist, das die Menschheit immer tiefer in den Zwang der Natur hinein treibt. In den Begriffen der Marxschen Theorie: die Produktion um der Produktion willen, die den Kapitalismus auszeichnet, verstärkt die Übermacht der Verhältnisse gegenüber den Individuen und höhlt das Subjekt aus, das sie sich aneignen müsste. Der Zwang der Natur ist der in der Konkurrenz der Waren- und Kapitalbesitzer begründete Kampf ums Überleben und der Erfolg des Stärkeren. Die Natur, die dadurch prolongiert wird, ist der struggle for life in der menschlichen Welt und die Blindheit ihrer ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Die unvernünftige Form der Vernunft wird von Horkheimer auch als ihre „Krankheit“ bezeichnet. Sie kommt jedoch nicht von außen, sondern „gründet in ihrem Ursprung, dem Verlangen des Menschen, die Natur zu beherrschen. (. . .) Man könnte sagen, dass der kollektive Wahnsinn, der heute um sich greift, von den Konzentrationslagern bis zu den scheinbar höchst harmlosen Wirkungen der Massenkultur, im Keim schon in der primitiven Objektivation vorhanden war, in des ersten Menschen kalkulierender Betrachtung der Welt als Beute.“ (Horkheimer 1991, S. 176 f.) Aber, so könnte man einwenden, nicht jede menschliche Nutzung der Natur impliziert ihre Beherrschung. Wenn der Frühmensch Früchte sammelt, kann man schwerlich schon von Naturbeherrschung sprechen. Erlegt er mit einfachen Werkzeugen ein Tier, so mag es sich um einen Akt der Naturbeherrschung handeln, aber diese Feststellung wird falsch, wenn sie nicht berücksichtigt, dass der Urmensch sich als Teil eines Ganzen verstand und seine Jagd im Ritus wieder gut machen wollte, um die Erhaltung der Natur nicht zu gefährden (vgl. Campbell 1991, S. 317 ff., 332 ff.). Er will nicht die Welt beherrschen, sondern jenes Stück Natur, das er zum Überleben braucht, sich dienstbar machen, ohne dessen Reproduktion zu gefährden. Zu Recht hatten Horkheimer und Adorno an Freud kritisiert, dass er die Gier der Naturbeherrschung in die Denkart des Animismus zurück projizierte (1969, S. 17). Hinter den großen Linien der Geschichte, die von der Dialektik der Aufklärung gezeichnet werden, droht diese Einsicht in die Gefahr der Rückprojektion gegenwärtiger Verhältnisse verloren zu gehen. Es war schwerlich die Dynamik der Naturbeherrschung als solcher, welche die welthistorischen Sprünge von der neolithischen Gartenwirtschaft zur städtischen Klassengesellschaft und vom Feudalismus zur kapitalistisch industriellen Gesellschaft bewirkt hat, sondern beides erhielt seinen Antrieb erst durch die Etablierung neuer Formen sozialer Herrschaft. Erst in den städtischen Klassengesellschaften kann von Naturbeherrschung im eigentlichen Sinn die Rede sein, denn zu ihr gehören Systematik und Umfänglichkeit, wie sie in dem berühmten Chorlied in Sophokles’ Antigone (ab Vers 331) geschildert werden. Jedoch ist das Panorama der dort ausgebreiteten Leistungen kultureller Naturbewältigung nach heutigen Maßstäben bescheiden; umso bemerkenswerter das Erschauern, dem der Chor Ausdruck verleiht: Ungeheures ist viel, doch nichts/ ist ungeheurer als der Mensch. Solches

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Erschrecken vor sich selbst setzt eine Distanz zur Naturbeherrschung voraus, wohl auch eine Erfahrung bleibender Ohnmacht. Philosophie und Wissenschaft waren zu der Zeit, da Sophokles schrieb, als Theorie bestimmt, nicht als Experiment und praktisches Werkzeug. Das Erschrecken vor den eigenen Möglichkeiten schwindet in eben dem Maße, als die Naturbeherrschung zum Sinn der Philosophie und der Wissenschaften erklärt wird. Das ist erst seit dem 17. Jahrhundert der Fall, im Zuge der Entwicklung der Technik und in den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise. Bacon, der zu Beginn der Dialektik der Aufklärung sicher nicht aus einer bloßen Laune heraus zitiert worden ist, hat das Programm der Naturbeherrschung als erster formuliert. „Es handelt sich nämlich nicht bloß um das Glück der Betrachtung, sondern in Wahrheit um die Sache und das Glück der Menschheit und um die Macht zu allen Werken.“ Man kann die Kette der Ursache nicht zerbrechen, sondern nur sich nutzbar machen: „(. . .) die Natur wird nur besiegt, indem man ihr gehorcht.“ Neque natura aliter quam parendo vincitur. Es gelte, „die Macht und die Herrschaft des Menschengeschlechts selbst über die Gesamtheit der Natur zu erneuern und zu erweitern (. . .) Der Menschen Herrschaft über die Dinge beruht allein auf den Künsten und Wissenschaften.“ (Bacon 1990, S. 63 ff., S. 271) In seiner technischen Utopie, der Nova Atlantis, die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde, hatte Bacon der Wissenschaft den Weg zu den Wohltaten gewiesen, die sie der Menschheit bereiten könnte. Dazu zählen nicht nur Telefon und Klimaanlage, sondern auch Tierversuche und die Hervorbringung neuer Arten. (Bacon 1982)2 Die Identifikation mit den Leiden der Kreatur vollzieht sich als Mitleid, das der wissenschaftlich-experimentellen und technisch industriellen Vernutzung der Tiere widerspricht. Die Vernunft der neuzeitlichen Wissenschaft, die Horkheimer mit Aufklärung gleichsetzt, ist den Gefühlen feind. Liebe, Hass, Reue und Mitleid sind schlecht; statt ihrer ist Coolness gefordert, Apatheia, Unberührtheit. Hingabe gilt als Götzendienst. (Vgl. Horkheimer und Adorno 1969, S. 122) Gesetz des Lebens ist das des Stärkeren, die Schwachen sind schuldig. Selbsterhaltung wird zum Prinzip der Wissenschaft, blutige Leistungsfähigkeit ist ihr Kanon. Inhaltliche Ziele wie Einsicht oder Erkenntnis des Wesens sind Wahn. Die Wissenschaft selbst wird zum Paradigma der Funktionalität: Hauptsache der Laden läuft. Auf der anderen Seite wird das Gefühl von Erkenntnis isoliert und damit der Verantwortung vor dem Denken entzogen, sentimental und manipulierbar. Aber gerade am Mitleid lässt sich zeigen, dass die Entgegensetzung von Vernunft und Gefühl falsch ist: es ist „gleich2

Bacon, so die übliche Einteilung, gehört zu den Empiristen, sein jüngerer Zeitgenosse Descartes zu den Rationalisten. In der Setzung der Naturbeherrschung als Zweck von Philosophie und Wissenschaft sind sie sich einig: Es sei möglich, so Descartes „zu Kenntnissen zu kommen, die von großem Nutzen für das Leben sind, (. . .) so dass wir (. . .) uns zu Herren und Eigentümern der Natur machen könnten.“ „Vernunft“, so heißt es an anderer Stelle, „ist ein Universalinstrument, das bei allen Gelegenheiten zu Diensten steht (. . .).“ (Descartes 1960, S. 101 und S. 93) In Artikel 50 seiner Abhandlung über Die Leidenschaften der Seele beschäftigt sich Descartes mit der Frage, wie die Seele eine „absolute Macht über die Leidenschaften erlangen kann“. Die Antwort heißt: „si on employoit assez d’industrie à les dresser & à les conduire/ wenn sie [die Menschen] sich genügend mit Geschicklichkeit bemühen, sie [die Leidenschaften] zu dressieren und zu leiten.“ (Descartes 1984, S. 88 f.).

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sam das sinnliche Bewusstsein der Identität von Allgemeinheit und Besonderem.“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 108 f.) Wenn Horkheimer am Ende des Exkurses über Juliette oder Aufklärung und Moral von der „Unmöglichkeit“ spricht, „aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen“, so kann dies nur im Hinblick auf eine Vernunftkonzeption gelten, die sie in einen prinzipiellen Gegensatz zum moralischen Gefühl stellt. Horkheimer hat sich hier vom Erbe Humes und Schopenhauers, die eine solche irrationale Moralkonzeption verfochten, überwältigen lassen. Allein die Forderung nach einem Argument, das uns zwingen würde, bewegt sich schon im Bannkreis des Verderbens. Vernunft allein vermag das Verhängnis nicht zu wenden. (Horkheimer und Adorno 1969, S. 237) Praktische Vernunft kann ohne die Disposition des moralischen Gefühls nichts bewirken, welches seinerseits mehr ist als „bloßer“ Affekt. Denker wie Lessing und Rousseau haben das gewusst, als sie dem Mitleid eine besondere Rolle zugewiesen haben, ohne Vernunft und Gefühl voneinander zu isolieren. Wenn man, wie Habermas es tat, der Dialektik der Aufklärung eine „hemmungslose Vernunftskepsis“ attestiert, so findet dieser Vorwurf an der bezeichneten Stelle sein relatives Recht (vgl. hierzu auch die Beiträge im Abschn. 1.3 des Handbuchs). Eine gerechte Würdigung der Gesamtkonzeption kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis (vgl. Schiller 2012, S. 174 f.). So entdecken Horkheimer und Adorno in Kants theoretischer Philosophie einen Doppelsinn. Einerseits bildet in ihr Vernunft die Instanz des kalkulierenden Denkens, das im Schematismus des reinen Verstandes „Allgemeines und Besonderes, Begriff und Einzelfall von außen aufeinander abstimmt“. (Horkheimer und Adorno 1969, S. 91) Andererseits enthalte „Vernunft als das transzendentale überindividuelle Ich (.) die Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen (. . .).“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 90) Die Utopie hatte in der deutschen Philosophie ihr Versteck gefunden. (Horkheimer und Adorno 1969, S. 98) Aber nicht nur in ihr, sondern generell ist Vernunft ambivalent. Zwar ist begriffliches Denken ein Instrument der Herrschaft, aber es enthält auch die Perspektive wahrer Allgemeinheit. „Die Instrumente der Herrschaft, die alle erfassen sollen, Sprache, Waffen, schließlich Maschinen, müssen sich von allen erfassen lassen. So setzt sich in der Herrschaft das Moment der Rationalität als ein von ihr auch verschiedenes durch.“ Dieses Moment kann sich nur entfalten und verwirklichen, indem das Denken auf seine eigene Verstrickung reflektiert. „Seit je war der partikulare Ursprung des Denkens und seine universale Perspektive untrennbar. Heute ist, mit der Verwandlung der Welt in Industrie, die Perspektive des Allgemeinen, die gesellschaftliche Verwirklichung des Denkens, so weit offen, dass ihretwegen Denken von den Herrschende selber als bloße Ideologie verleugnet wird.“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 44)

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„Subjektive Vernunft“

Wer die Geschichte und zumal die Philosophiegeschichte nur als Vorbereitung der industriellen Massenvernichtung begreift, muss sie verkennen. Man kann nicht behaupten, dass Horkheimer und Adorno einer solchen Sicht das Wort geredet

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hätten; gleichwohl ist der Eindruck einer allgemeinen Aussichtslosigkeit, eines generellen Geschichtsverhängnisses, das alle Arbeit des Geistes mit Vergeblichkeit schlägt, nicht bloß Projektion. In der Dialektik der Aufklärung finden die Momente der großen Philosophie, die dem Gang zur Vollendung rationaler Herrschaft widersprechen, kaum Beachtung. Dem begegnet die Kritik der instrumentellen Vernunft mit der Differenzierung von Theorien „objektiver“ und „subjektiver“ Vernunft.3 Insofern ist die Kritik der instrumentellen Vernunft nicht nur eine Popularisierung der Dialektik der Aufklärung unter spezieller Berücksichtigung der Lieblingsthemen Horkheimers, sondern eine notwendige Ergänzung. Der Ausdruck „objektive Vernunft“ wird in einer Situation geprägt, in der er nicht mehr bloß die kritische Theorie der Gesellschaft als eine Theorie objektiver Vernunft bezeichnen kann. Objektive Vernunft ist zweifach: die widersprüchliche der Gesellschaft und die durch Selbsterhaltung und Industrialismus verhangene der Natur. Zweifach sind auch die theoretischen Konzeptionen, an die als Erkenntnis objektiver Vernunft anzuknüpfen wäre. Nach wie vor ist die Marxsche Theorie ein unerlässlicher Bezugspunkt, wenngleich sich dieser Umstand bis zur Unkenntlichkeit verbirgt in Formulierungen wie der, dass „der Kriegszustand unter den Menschen in Krieg und Frieden (.) der Schlüssel (ist) für die Unersättlichkeit der Gattung und für die aus ihr sich ergebenden praktischen Verhaltensweisen (. . .).“ (Horkheimer 1991, S. 119) Schon im Nachtrag zu Traditionelle und kritische Theorie hatte Horkheimer, unter dem Einfluss Herbert Marcuses, die mögliche Erbschaft der Philosophie über jene (vor allem im Deutschen Idealismus entfalteten) Gedanken hinaus erweitert, die in die Marxsche Theorie eingegangen waren. Nun werden jene Philosophien relevant, die von einer objektiven Vernunft in der Natur handeln. Auch hier ist die Problematisierung der Naturbeherrschung der Angelpunkt. Durch sie wird das kritische Denken an die Theorien verwiesen, die der Natur einen eigenen Sinn, eine objektive Bedeutung zuschreiben und dem Denken die Aufgabe stellen, sie zu erkennen und zum Ausdruck zu bringen. Andererseits ist auch der Begriff „subjektive Vernunft“ umfänglicher als der des Positivismus und logischen Empirismus, die in den Aufsätzen der 1930er-Jahre kritisiert wurden und zweifellos zu den Denkgebilden subjektiver Vernunft gezählt werden müssen. Hinzu kommen die Beschäftigung mit dem Pragmatismus und der Blick auf die Vorläufer der subjektiven Vernunft, die eigentlich erst im 17. Jahrhundert zum Programm erhoben worden ist. Beide Begriffe, subjektive und objektive Vernunft, beziehen sich zunächst auf Theorieformen, aber es ist unverkennbar, dass es sich auch um Denkformen der Alltagspraxis handelt. Schon die Aufgabenstellung der Kritik der instrumentellen Vernunft macht dies deutlich. Horkheimer verfolgt „das Ziel, den Begriff von Rationalität zu untersuchen, der gegenwärtiger industrieller Kultur zugrunde liegt.“ (Horkheimer 1991, S. 25) Die subjektive Vernunft, die den praktischen Nutzen des Denkens zum Prinzip erhebt, ist eine objektive Gestalt

Der Ausdruck „subjektive Vernunft“ lässt sich auch bei Hegel finden. (1970b S. 52) Gleichbedeutend ist auch von „selbstbewusster Vernunft“ die Rede. Der Horkheimerschen „objektiven Vernunft“ würde bei Hegel die „seiende Vernunft“ entsprechen. (Hegel 1970b, S. 47).

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der Vernunft. Sie verselbstständigt den subjektiven Aspekt der Vernunft, der durchaus auch in objektiven Konzepten von Vernunft enthalten ist oder enthalten sein sollte. Die Verselbstständigung des subjektiven Aspekts der Vernunft stellt einen Prozess dar, dessen Vorläufer schon in Antike und Mittelalter zu finden sind. Je mehr man sich von den Theorien der Gegenwart entfernt, umso weniger ist es möglich, einen Theoretiker eindeutig dieser oder jener Spielart zuzuordnen. Subjektive und objektive Vernunft sind keine Schubkästchen, in die sich die berühmten Namen ablegen lassen. Das wird z. B. an Spinoza deutlich, der einerseits die Selbsterhaltung zum Prinzip erhebt und dem Formalismus der Vernunft einen ersten Ausdruck verleiht, indem er seine Ethik nach Art eines geometrischen Lehrbuchs aufbaut. Andererseits hielt er an der alten philosophischen Maxime fest, dass sittliches Verhalten von der Einsicht in die objektive Struktur der Natur bestimmt sein sollte. (Vgl. Horkheimer 1991, S. 36 f.) Vernunft ist, wie eingangs gesagt, zunächst einmal Denken und insofern subjektiv. Indem sie die allgemeinen Formen der Verbindung von Gedanken sammelt, ist die Vernunft formal: Klassifikation, Deduktion und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Formalismus ist der theoretische Aspekt subjektiver Vernunft, der hervortritt, wenn der subjektive Aspekt der Vernunft zum einzig relevanten übersteigert wird. Es gibt nur Tatsachen, keine objektiven Strukturen. Der praktische Aspekt subjektiver Vernunft besteht in der Zweckbestimmung der Dinge und des Denkens zum Nutzen des Individuums oder des Kollektivs, sofern es eine Mehrheit von Individuen erhält. Dieser Aspekt wird durch den Pragmatismus isoliert und zum Prinzip erhoben. Selbstinteresse und Anpassung werden zu den leitenden Gesichtspunkten. Die Isolierung des subjektiven Aspekts der Vernunft bedeutet den Verzicht auf eine vernünftige Bestimmung der Zwecke selbst. „Der Gedanke, daß ein Ziel um seiner selbst willen vernünftig sein kann (. . .), ohne auf irgendeine Art subjektiven Gewinns oder Vorteils sich zu beziehen, ist der subjektiven Vernunft zutiefst fremd (. . .).“ (Horkheimer 1991, S. 27) Objektive Vernunft, die Zwecke aus einer von den Individuen unabhängigen Struktur der Welt bestimmen möchte, neigt demgegenüber theoretisch zum Dogmatismus und praktisch zum autoritären Opfer subjektiver Zwecke zugunsten eines ideologisierten Allgemeinen. Man darf jedoch nicht verkennen, dass das Opfer auch in den Denkweisen der subjektiven Vernunft gerechtfertigt wird. Wer unter die Räder kommt, hat seine Chancen nicht genutzt. Die Institutionen, an die sich das Individuum um seines Nutzens und der Erhaltung seiner bürgerlichen (und schließlich seiner physischen Existenz) willen entäußert, behandeln ihn als „Funktionär“, der seine Aufgabe zu erfüllen hat. In den wirtschaftlichen wie in den zunehmend ökonomisierten staatlichen Apparaturen zählt das Funktionieren dieser Teilsysteme, nicht das Individuum als Selbstzweck. Die Kritik der instrumentellen Vernunft schließt die der funktionalen ein. Die Marktbeziehungen, in denen das Prinzip des wechselseitigen Nutzens hoch gehalten wird, tendieren oft (vornehmlich auf dem Arbeitsmarkt) dazu, Fassade zu sein, und fordern immer Eintrittsbedingungen: Man muss etwas zu bieten haben, um an der wechselseitigen Anerkennung des Egoismus teilhaben zu können. Die Verinnerlichung des Zwangs zur Anpassung könnte nicht funktionieren, wenn denen, welche die Eintrittsbedingungen nicht erfüllen, nicht Elend und Verachtung drohen würden.

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Institutionen, die den Macht- und Nutzlosen schützen sollen, wie die Grundrechte einer Verfassung, erfreuen sich auch unter der Herrschaft der subjektiven Vernunft eines gewissen Prestiges, solange sie faktisch gelten. Sobald sie aus Nutzenerwägungen abgeschafft oder bis zur Wirkungslosigkeit eingeschränkt werden, gibt es vom Standpunkt subjektiver Vernunft aus keine Argumentation, die sie retten könnte. „In der Periode des Systems des freien Marktes zum Beispiel wurden die auf der Idee der Menschenrechte basierenden Institutionen (. . .) als ein gutes Instrument akzeptiert, die Regierung zu kontrollieren und den Frieden aufrechtzuerhalten. Wenn sich aber die Lage ändert, wenn mächtige ökonomische Gruppen es nützlich finden, eine Diktatur zu errichten und die Herrschaft der Mehrheit abschaffen, kann ihrem Handeln kein auf der Vernunft begründeter Einwand entgegengesetzt werden. Wenn sie eine reale Erfolgschance haben, wären sie einfach närrisch, sie nicht wahrzunehmen. Die einzige Erwägung, die sie davon abhalten könnte, wäre die Möglichkeit, dass ihre Interessen gefährdet würden, und nicht die Sorge, eine Wahrheit oder die Vernunft zu verletzen.“ (Horkheimer 1991, S. 48 f.) Horkheimers Formulierungen sind auf die Diktaturen der dreißiger Jahre gemünzt, aber sie können auch auf Länder ohne Diktatur angewandt werden, wie in der jüngsten Geschichte der Bundesrepublik die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl gezeigt hat. Die Kritik der instrumentellen Vernunft enthält eine eingehende Kritik der Grundannahmen der Theorien subjektiver Vernunft: des positivistischen Verifikationskriteriums, des pragmatistischen Sinnkriteriums und der szientivistischen Reduktion von Wahrheit auf die Erkenntnis der modernen Naturwissenschaften einschließlich der formalistischen Logik. (Vgl. Horkheimer 1991, S. 60–72, 86–102) Adressaten sind Dewey, James, Peirce, Russell und andere. Besondere Aufmerksamkeit hat Horkheimers Kritik an Max Weber gefunden. Dessen Denken ist für Horkheimer „ein Meilenstein auf dem Weg der Abdankung der Philosophie und Wissenschaft, was ihr Bestreben angeht, das Ziel des Menschen zu bestimmen.“ (Horkheimer 1991, S. 29 f.) Das ist auch ohne Einschränkungen gerechtfertigt, da Weber den Verzicht auf eine vernünftige Bestimmung von Zielen klar ausgesprochen hat. (Weber 1995, S. 39) Das Leben kenne nur den ewigen Kampf, „die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.“ Webers Entscheidung ist hinlänglich bekannt: Sein Gott ist die Macht des deutschen Nationalstaats. (Vgl. meine Erörterung seines Konzepts der Verantwortungsethik aus Politik als Beruf in: Schiller 2006, S. 171 ff.) Weder der Begriff Wertrationalität noch der des affektuellen Handelns überschreitet den Horizont der subjektiven Vernunft. „Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational (. . .) 2. wertrational (. . .) 3. affektuell (. . .) 4. traditional (. . .)“ Vom affektuellen Handeln heißt es: „Das streng affektuelle Handeln steht (. . .) oft jenseits dessen, was bewusst ‚sinnhaft‘ orientiert ist (. . .) Affektuell handelt, wer sein Bedürfnis nach aktueller Rache, aktuellem Genuß, aktueller Hingabe, aktueller kontemplativer Seligkeit (. . .) befriedigt.“ (Weber 2002, S. 673 f.; Herv. H.-E. S.) Weber ist also weit davon entfernt, das affektuelle Handeln als rational zu bezeichnen; es gehört freilich zum sozialen Handeln, das auch irrational und nur auf dunkle,

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unbewusste Weise „sinnhaft“ sein kann. Der Unterschied zum zweckrationalen Handeln liegt nach Weber darin, dass „der Sinn des Handelns nicht in dem jenseits seiner liegenden Erfolg, sondern in dem bestimmt gearteten Handelns selber liegt.“ (Weber 2002, S. 674) Wertrationales Handeln ist in seiner Reinheit per definitionem verantwortungslos, weil es nicht auf die Folgen achtet. Die spezifische Rationalität in Wertfragen bedeutet allein, dass die Konsequenzen von Wertorientierungen offengelegt werden: Wenn man sich zu diesem oder jenen Wert bekennt, muss man so oder so handeln. (Vgl. Weber 1995, S. 38) Horkheimer hat den empirischen Gehalt von Webers Studien zur Bürokratie und zur Religionsgeschichte anerkannt, aber der Weberschen Grundkonzeption, auch der in ihr enthalten Marx-Kritik, stets widersprochen. Die Rede vom „Weber-Marxismus“, die Jürgen Habermas in den 80er-Jahren lanciert hat, ist verfehlt.4 Es bedurfte nicht Max Webers, um die Aufmerksamkeit von Denkern, die von Marx ausgingen, auf das Problem der Rationalisierung zu lenken.5 Weber hat es aus der Sicht der kritischen Theorie eher verdunkelt, indem er nicht die Naturbeherrschung und die Verhältnisse, in denen sie organisiert ist, als deren Kern erkannte. Er hat sich auch nicht der Aufgabe gestellt, den inneren Zusammenhang von Rationalität und Irrationalität, der in der Geschichte des Bürgertums von Anfang präsent war, zu entschlüsseln.6

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„Objektive Vernunft“. Platon und die Stoa

Eine Konsequenz aus der Problematisierung der Naturbeherrschung war, wie erwähnt, die Rehabilitierung der philosophischen Tradition weit über den deutschen Idealismus hinaus. Die großen Philosophien der Vergangenheit „betonen, dass die Vernunft sich in der Natur der Dinge wiedererkennt und dass die richtige menschliche Haltung solcher Einsicht entspringt.“ (Horkheimer 1991, S. 37) Ihre Theorien verdienen den Titel „objektive Vernunft“, weil sie „das Dasein der Vernunft als einer Kraft nicht nur im individuellen Bewusstsein, sondern auch in der objektiven Welt – in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen sozialen Klassen, in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Manifestationen“ behauptet Das gilt auch von Fügungen wie „Hegel-Marxismus“, „Nietzsche-Marxismus“ oder „FreudMarxismus“. In ihnen wird nicht nur auf einen „Einfluss“ hingewiesen, sondern es werden Etiketten gestanzt, die Gegensätze vereinigen statt sie auszutragen. 5 Die Rationalitätsproblematik spielt schon bei Marx und Engels eine prominente Rolle. Im Manifest der kommunistischen Partei, nicht eben eine marginale Schrift seiner Autoren, findet sich eine oft zitierte Stelle, in welcher der Bourgeoisie zugeschrieben wird, sie habe „die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei (. . .) in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst (. . .) Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ (MEW 4, S. 464 f.) 6 Vgl. Egoismus und Freiheitsbewegung (1988g, S. 59): „Max Weber hat den rationalistischen Zug des bürgerlichen Geistes hervorgehoben, der irrationalistische ist von Anfang an mit seiner Geschichte nicht weniger verknüpft.“ Vgl. auch die scharfe Kritik, die Adorno in seiner letzten Schrift, den Marginalien zu Theorie und Praxis an Weber geübt hat. Er muss Böses geahnt haben. 4

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haben. „Dieser Begriff von Vernunft schloss subjektive Vernunft niemals aus, sondern betrachtete sie als partiellen, beschränkten Ausdruck einer umfassenden Vernünftigkeit (. . .).“ (Horkheimer 1991, S. 28) Der Einschluss subjektiver Vernunft meint nicht nur die Untersuchung und den Gebrauch formaler Logik, sondern insbesondere auch das Vertrauen in die Fähigkeit des Einzelnen, gegen die trügerische Übereinkunft der Vielen objektive Erkenntnis geltend zu machen. Von Sokrates bis zu Giordano Bruno, von Spinoza bis zu Voltaire und Marx zeigt die Geschichte der Philosophie Beispiele außerordentlichen Mutes im Namen objektiver Erkenntnis. In ihr hat das Objekt den Vorrang vor seiner formellen Zurichtung. Die formalistische Vernunft braucht keine Liebe, die objektive kann den Eros nicht entbehren. Sie will ihren Gegenstand in seinem Wesen, seinem An-sich-sein erkennen: in dem, was es von sich aus sein will. Sie enthält ein Element von Bejahung, einen Willen zu Bewahrung und Förderung selbst da, wo sie Schwächen und Zweideutigkeiten, Leiden und Schuld erkennt. Sie möchte das Dasein befrieden und wünscht nicht, dass Nichts wäre. Unter den Denkern, die mit dem Begriff der objektiven Vernunft assoziiert werden, ragt Platon hervor. Auch wenn sich Horkheimer von der Selbstbezeichnung „Materialismus“ aus den angeführten Gründen verabschiedet hat, hätte man doch andere Referenzen erwarten können, als ausgerechnet den Erzvater aller Idealisten. Bereits in dem Aufsatz Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie hatte sich Horkheimer vornehmlich an Platon orientiert. Von ihm kann man lernen, was der entscheidende Gesichtspunkt der Philosophie ist: der Blick auf das Ganze. Es geht nicht um summarische Vollständigkeit und auch nicht um Geschlossenheit, sondern um den Zusammenhang, in dem die einzelnen Begriffe und ihre Betätigungen stehen. Auszugehen ist von den verfestigten Denkformen der gesellschaftlichen Praxis. Philosophie ist kritisch, indem sie zeigt, dass die verfestigten Denkformen durch ihre Widersprüchlichkeit über sich hinausweisen. Denken darf, so Horkheimer, „nicht bloß auf die Spezialwissenschaften und das praktische Erlernen eines Berufes beschränkt bleiben“ – es muss „jenen materiellen und intellektuellen Voraussetzungen nachgehen, die gewöhnlich als selbstverständlich hingenommen werden“. (Horkheimer 1988l, S. 339) Die kritische Intention der Philosophie verwirklicht sich bei Platon in einer leidenschaftlichen Praxis. „Platons Forderung, der Staat solle von Philosophen regiert werden, meint nicht, dass die Regierenden unter den Verfassern von Lehrbüchern der Logik ausgewählt werden sollten (. . .) Für Platon war Philosophie gleichbedeutend mit dem Bestreben, die verschiedenen Vermögen und Arten der Erkenntnis so zu vereinigen, dass diese partiell destruktiven Elemente im wahren Sinn zu produktiven würden. (. . .) Die Vernunft lebt innerhalb des Systems der Ideen; sie schreitet von einer zur anderen fort und vermag dadurch jede in ihrer wahren Bedeutung zu verstehen und anzuwenden, in der Bedeutung nämlich, die sie im Ganzen der Erkenntnis besitzt.“ (Horkheimer 1988l, S. 345 f.) Trotz aller Elogen ist Horkheimer sich des ahistorischen und statischen Charakters des Platonismus natürlich bewusst und weit entfernt davon, ihn zu verteidigen. Tatsächlich werden die Philosophen nach der Konzeption Platons dadurch zur Leitung der menschlichen Dinge befähigt, dass sie die Einsicht in die ewige Ordnung des Kosmos haben, von der die Strukturen der menschlichen Seele und der

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politischen Gemeinschaft unvollkommene und verderbliche Abbilder sind. Der Gesichtspunkt des Ganzen ist vertreten in der Idee des Guten, die alle anderen Ideen und mit ihnen die empirischen Dinge sein und erkennen lässt. (Vgl. das Sonnengleichnis im 6. Buch von Platons Politeia. (1990); vgl. zur einheitsstiftenden Wirkung der Idee des Guten die Aufsätze von Giovanni Reale (1996) und Thomas Szlezák (1996)) Die platonische Philosophie geht erkenntnistheoretisch von einem Vorrang des Objekts aus – die Ideen sind intelligible Gegenstände, die angeschaut werden –, verweigert aber die Reflexion auf dessen historisch-gesellschaftlichen Kern. Sie bettet das menschliche Sein und die politische Gemeinschaft in den übergreifenden Zusammenhang der Natur ein, aber projiziert dabei die Hierarchien der antiken Gesellschaft in den Himmel. „Das Hauptargument gegen die Ontologie ist, dass die Prinzipien, die der Mensch in sich durch Meditation entdeckt, die emanzipierenden Wahrheiten, die er zu finden sucht, nicht solche der Gesellschaft oder des Universums sein können, weil beide nicht nach dem Bild des Menschen geschaffen sind.“ (Horkheimer 1991, S. 181) Die bloße Tatsache, inmitten gesellschaftlicher Ungerechtigkeit zu leben, habe bisher der Formulierung einer „wahren Ontologie“ entgegengestanden. (Horkheimer 1991, S. 180) Es gibt eine materialistische Gestalt objektiver Vernunft, die Stoa, der Horkheimer kaum Beachtung geschenkt hat, wahrscheinlich, weil ihn das Ideal der Apatheia als Urbild bürgerlicher Kälte abgestoßen hat.7 Zenon von Kition, der Gründer dieser Schule, erklärte zum „Endziel das mit der Natur in Einklang stehende Leben (. . .). Denn zu diesem leitet uns die Natur. (. . .) Denn unsere Naturen sind Teile des Weltganzen. Daher stellt sich als Endziel das der Natur gemäße Leben, d. h. das der eigenen Natur wie auch der Natur des Alls gemäße Leben, wo man nichts tut, was die Weltvernunft zu verbieten pflegt; diese aber ist die wahre Vernunft, die alles durchdringt (. . .)“ (Diogenes Laertius 1967, 2, S. 48 f.). Cicero referiert den Stoiker Poseidonius, der 200 Jahre später lebte: „Es gibt einen Urstoff, der das ganze Weltall in sich schließt und schützt, und zwar einen, der Empfindungsvermögen und Vernunft besitzt. (. . .) dieses warme, ja feurige Element (ist) in der ganzen Natur so verbreitet, dass in ihm die Kraft der Zeugung und der Grund des Gebärens liegt (. . .).“ (Cicero 2011, S. 143) Vernunft erscheint als Attribut der schöpferischen Materie. Nach Zenon ist die Materie ewig. Es fehle ihr nicht „an Lebensodem und einer Kraft, die sie vernünftig in Bewegung setzt, bald im Ganzen, bald in Teilen (. . .) Der bewegende Odem sei aber nicht bloße Naturkraft, sondern eine Seele, und zwar eine vernünftige Seele, die lebenspendend den sinnlich wahrnehmbaren Kosmos zu der jetzt uns vor Augen stehenden Schönheit geschaffen und ausgeschmückt hat.“ (Pohlenz 1950, S. 49) Um die ontologische Relevanz des Feuers – ein von Heraklit her sich schreibendes Motiv – zu zeigen, weist Cicero darauf hin, „dass das herausgerissene Herz eines Tieres so rasch zuckt, ut imataretur

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Vgl. Horkheimer and Adorno 1969, S. 103, 110. Das Apatheia-Ideal war freilich auch bei namhaften Stoikern nicht unumstritten. Panaitios lehnt es ab; vgl. Max Pohlenz 1950, S. 250. Die Stoa ist für Horkheimer auch deshalb wenig anziehend, weil sie, im Unterschied zu Platon, vom Rückzug ins Private, der Autarkie, ausgeht; vgl. Horkheimer 1991, S. 141 f.

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igneam celeritatem“ – dass es die Schnelligkeit des Feuers nachahmt. (Cicero 2011, S. 138) Was wir seit Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs 1628, einem Meilenstein in der Herausbildung des mechanistischen Weltbilds, als einen Pumpmechanismus des Herzmuskels verstehen, war für den stoischen Gelehrten als Ähnlichkeit begreifbar, kraft derer die Dinge aneinander teilhaben. Die stoische Ontologie integriert die Mimesis als ein Vermögen, Ähnlichkeiten wahrzunehmen und zu erzeugen (vgl. Benjamin 1977, S. 204 ff.), in das Konzept der objektiven Vernunft. Zweck des Menschen ist es nach Chrysipp, „die Welt bewundernd zu betrachten und nachzuahmen.“ (Pohlenz 1950, S. 316) Noch Adornos Verständnis des Seins als „Verflochtenheit“, sein Begriff einer „Kohärenz des Nichtidentischen“ (1973, S. 112, 36) erscheinen als Erbe einer solchen Philosophie. „Alle Dinge“, so heißt es bei Marc Aurel, dem letzten großen Denker der Stoa, „sind miteinander verflochten (. . .) Schwerlich ist eins dem anderen fremd. Denn sie bilden zusammen ein Ganzes, und tragen zusammen zu ein und derselben Weltordnung bei.“ (Marc Aurel 2008, S. 92)8 Es fällt schwer, angesichts der stoischen Kosmosfrömmigkeit nicht an den Schlussaphorismus der Einbahnstraße von Walter Benjamin zu denken. Nichts, so heißt es unter dem Titel „Zum Planetarium“, „unterscheidet den antiken so vom neueren Menschen, als seine Hingegebenheit an eine kosmische Erfahrung, die der spätere kaum kennt.“ (Benjamin 1972, S. 146) Der weitere Gedankengang legt dar, dass der Umgang mit dem Kosmos in der Moderne gleichwohl, wenn auch blind vollzogen wird: in der rauschhaften Vernichtung des Krieges wie in der industriellen Naturbeherrschung. Würde man, so legt Benjamin nahe, in der Technik eine neue Möglichkeit des Umgangs mit dem Kosmos erkennen, könnte sie den Kräften der Zerstörung entwunden werden.9

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Die Dialektik der Vernunft und die Möglichkeit der Versöhnung

Mit dem Fortschritt der Aufklärung, der Verselbstständigung der subjektiven Vernunft, wird das mimetische Moment an der Ratio getilgt oder vielmehr: Vernunft wird zur Mimesis ans Tote. (Horkheimer und Adorno 1969, S. 64) Sie macht sich den Dingen gleich, indem sie selbst zu einem Ding, einem formalistischen InstruAusführlicher und zugleich nüchterner heißt es bei Poseidonius: „Die schöpferische Natur knüpft in allmählichem Übergange die verschiedenen Stufen des Seins aneinander, so dass die ganze Schöpfung eine in sich verwandte Einheit ist. (. . .) Durch schrittweise fortschreitende Verwandtschaft und Veränderung des Wesens verknüpfte sie alle (erg.: Gattungen der Geschöpfe) miteinander, so dass nicht schroff getrennt sind die ganz unbeseelten Dinge von den Pflanzen, die in sich die Fähigkeit zur Selbsternährung tragen, diese wieder nicht von den mit sinnlicher Wahrnehmung ausgestatteten Lebewesen, noch wieder die unvernünftigen Lebewesen von den den vernunftbegabten durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind (. . .).“ (Pohlenz 1950, S. 316). 9 Es bliebe ausgedehnten Mußestunden vorbehalten, der Frage nach der Wirkung von Karl Reinhardt, der in den zwanziger Jahren in Frankfurt klassische Philologie lehrte, auf Benjamin und Adorno nachzugehen. Seine Untersuchungen über Parmenides, Platon und Poseidonius (Vgl. Reinhardt 1926) sollen in den 20er- und 1930er-Jahren sehr einflussreich gewesen sein. 8

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ment wird, dessen geistige Gehalte nicht mehr nachvollzogen werden dürfen. Da Sprache, wie Wilhelm von Humboldt sagt, immer Abbild und Zeichen zugleich ist (Humboldt 1963a, S. 21), werden ihre aus Wissenschaft und Alltag vertriebenen mimetischen Aspekte in die Dichtung abgeschoben. Man kann den mimetischen Impuls jedoch nur unterdrücken oder verleugnen, manipulativ missbrauchen oder im feierabendlichen Bereich der Künste einhegen, aber ihn nicht gänzlich loswerden. Worauf es ankommt, ist, ihn zu befreien. Dies würde in einer theoretischen Sprache geschehen, die sich nicht mehr auf eine Zeichenfunktion reduzieren lässt, sondern die Dimension des Ausdrucks zurückgewinnt. Im Ausdruck erzeugt der Mensch die Ähnlichkeit. Im letzten Kapitel der Kritik der instrumentellen Vernunft betont Horkheimer, dass wir, trotz der Einsicht in ihre ideologische Funktion, den klassischen Systemen der objektiven Vernunft „mehr Dank (schulden) als dem Positivismus, weil sie die Idee bewahrt haben, dass Wahrheit die Übereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit ist.“ (Horkheimer 1991, S. 180) Sprache selbst ist eine Gestalt objektiver Vernunft. Sie ist nicht nur legein, sprechen, sondern auch logos, das Gesprochene im Gesprochenhaben der uns vorangegangenen Mitglieder der Sprachgemeinschaft. Sie ist ein Vorrat an Wörtern (Bedeutungen) und Regeln, die uns vorausgesetzt sind. (Vgl. Humboldt 1963b, S. 436 f.) In ihnen sind die Erfahrungen der Vergangenheit aufgespeichert, hinüberreichend in eine Welt, die noch kein Kapital, keine Industrie und keinen Nationalstaat kannte. „Jede Sprache bildet eine geistige Substanz, in der sich die Denkformen und Glaubensstrukturen ausdrücken, die in der Entwicklung des Volkes, das sie spricht, ihre Wurzeln haben.“ (Horkheimer 1991, S. 168) Aber diese Wurzeln können angegriffen werden, die Sprache stirbt ab und wird nur noch im Mausoleum der Lexika aufbewahrt. Auch die Sprache „ist im gigantischen Produktionsapparat der modernen Gesellschaft zu einem Werkzeug unter anderen reduziert (. . .) Bedeutung wird verdrängt durch Funktion oder Effekt in der Welt der Ereignisse.“ (Horkheimer 1991, S. 43) Dem Wort, das zur Formel erstarrt, werden magische Kräfte zugeschrieben. Wehe dem, der gegen eine Sprachregelung verstößt. Sie ist wichtiger geworden als der angemessene Ausdruck. Die Schwierigkeiten in der Absicht, an der Übereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit festzuhalten, werfen ein Licht auf die Schwierigkeit dessen, was Horkheimer als die „Aufgabe der Philosophie“ bestimmt. Es gelte, die wechselseitige Kritik von objektiver und subjektiver Vernunft zu fördern, um „im geistigen Bereich die Versöhnung beider in der Wirklichkeit vorzubereiten.“ (Horkheimer 1991, S. 175) Die Schwierigkeit besteht zunächst darin, dass die subjektive Vernunft als Verselbstständigung des subjektiven Aspekts von Vernunft und als deren theoretische Artikulation verstanden war. Was sich versöhnen lässt, ist sicher nicht diese Verselbstständigung, sondern das Interesse, auf das sie sich beruft. Im Namen der Interessen der Individuen werden Naturbeherrschung und Selbsterhaltung, Anpassung und Beliebigkeit in den wichtigsten Fragen der Existenz zum Prinzip erhoben. Die Kritik an dieser Alltagsreligion, ihrer Praxis und ihrer vulgären Konzeptualisierung besteht im Aufweis ihrer Dialektik: das Selbstinteresse führt zur Selbstaufgabe, das Bestehen auf der bloßen Meinung zur wahnhaften Erstarrung, und die unausgesetzt fortschreitende Naturbeherrschung zur Übermacht der gesellschaftlichen Apparate gegen die Subjekte, der sie angeblich dient. Umgekehrt lässt sich die Theorie

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objektiver Vernunft am Beispiel des platonischen Urbilds kritisieren durch den Umschlag ihrer Praxis in den blanken Subjektivismus der Herrschenden. Die Wahrheit wird zur Lüge, wenn es gilt, den Massen gegenüber die Linie durchzusetzen. Das Desiderat einer Dialektik der wirklichen Vernunft ist von Horkheimer nicht befriedigt worden. Wahrscheinlich könnte die Racketttheorie das Gegenstück zur Dialektik des Subjektivismus liefern: Die unvernünftige, widersprüchliche Form, in der sich das Allgemeine vollbringt, treibt demnach einem Zustand entgegen, in dem es zur Beute von politischen und bürokratischen, von wirtschaftlich und militärischen Cliquen wird. In ihnen „verkörpert sich am Ende die ökonomische Notwendigkeit, (. . .) es sind nicht mehr die objektiven Marktgesetze, die in den Handlungen der Unternehmen walteten und zur Katastrophe trieben. Vielmehr vollstreckt die bewusste Entscheidung, (. . .) das alte Wertgesetz und damit das Schicksal des Kapitalismus. Die Herrschenden selbst glauben an keine objektive Notwendigkeit, wenn sie auch zuweilen so nennen, was sie aushecken.“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 44) Die Racketttheorie ist nicht zu leicht zu nehmen, und sie könnte in der jüngsten politisch-ökonomischen Krise ihre Bestätigung finden.10 Ungeklärt blieb freilich das Verhältnis der Racketttheorie zu den Formen der objektiven Vernunft wie Wert und Geld, Kapital und Zins, Grundrente und Preis der Arbeit. Das von Horkheimer avisierte Ziel ist die Versöhnung des subjektiven Aspekts der Vernunft mit ihrer Wirklichkeit. Die Selbsterhaltung und das Selbstinteresse der Einzelnen, die Selbstständigkeit ihres Denkens und die Freiheit ihrer Verwirklichung sollen in einer überindividuellen Ordnung erreicht werden, die durch gesellschaftliche Solidarität ausgezeichnet ist. „(. . .) nur eine Definition der objektiven Ziele der Gesellschaft, die den Zweck der Selbsterhaltung des Subjekts einschließt, die Achtung vor dem individuellen Leben, verdient es, objektiv genannt zu werden.“ (Horkheimer 1991, S. 176) Heikle Punkte, wie die Frage des Eigentums und der Klassen, werden von Horkheimer nun vermieden. Klar ist gleichwohl, dass eine solche Gesellschaft keine kapitalistische, von der Jagd nach dem Profit getriebene, mehr sein kann. Sie würde die Bedeutung der Naturbeherrschung relativieren und sie mit Zielen in Verbindung setzten, die durch die Erinnerung der Systeme objektiver Vernunft zu bestimmen wären.

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Menschenwürde als Modell

Während im Bereich der irdischen und erst recht der kosmischen Natur die Idee objektiv vernünftiger Zwecke in einer offenen Problemstellung mündet, gibt es im Bereich der menschlichen Wirklichkeit einen Begriff, der die Achtung vor dem individuellen Leben auf eine objektive Weise ausdrückt, den der Menschenwürde. Vgl. Klein 2009, S. 29: „(. . .) eine mächtige Allianz von einigen wenigen Großunternehmen und einer Schicht größtenteils reicher Politiker (hat) ganz und gar nicht den Markt vom Staat befreit, sie haben sich einfach zusammengetan und sich den Zugriff auf kostbare Ressourcen gesichert, die zuvor im öffentlichen Bereich angesiedelt waren (. . .)“.

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Für Horkheimer ist der „Begriff der Würde des Individuums heute eine der Ideen, die eine humane Organisation der Gesellschaft kennzeichnen.“ (Horkheimer 1991, S. 178) Tatsächlich stellt Würde einen Gegenbegriff zur instrumentellen Vernunft dar, in welcher sich die Subjekte als Mittel behandeln – sei es in asymmetrischen oder, wie in der Idealisierung des Marktes, in gleichberechtigten Beziehungen. Kant zufolge existiert jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich. Jeder, der an praktischer Vernunft Teil hat, soll jeden Anderen als Selbstzweck anerkennen, und darf ihn nicht so behandeln, dass dieser Anspruch verletzt wird. Die Konkretisierungen der Würde als Norm können im Einzelnen Schwierigkeiten bereiten, aber das bedeutet nicht, dass es sich um eine Leerformel handele. Der Sinn des Begriffs ist klar und in der Systematik des bundesdeutschen Grundgesetzes wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 deutlich zum Ausdruck gebracht: Es geht um die Achtung und Verwirklichung der Selbstbestimmung in einer Gemeinschaft gleich geltender Individuen. Schwierigkeiten kommen insbesondere daher, dass nicht jedes menschliche Wesen zur Selbstbestimmung wirklich fähig ist (z. B. Embryonen); manchmal wird die Fähigkeit zur praktischen Vernunft gar nicht oder nur mangelhaft ausgebildet; manchmal geht sie, wie bei Dementen und Apallikern, dauerhaft verloren. Ferner können Menschen ihre Würde in sehr ungleicher Weise darstellen; unter bestimmten sozialen Bedingungen können sie ihre Selbstachtung, das Bewusstsein ihrer Würde als Menschen ganz verlieren. Der entscheidende Gesichtspunkt für all diese Fälle besteht in der Erkenntnis, dass Würde ihren Grund nicht in der wirklichen Fähigkeit zu praktischer Vernunft (noch gar in ihr entsprechenden Entscheidungen und Haltungen) hat, sondern allein in der Teilhabe an einer Lebensform, in der praktische Vernunft ausgebildet wird, und die ohne sie nicht möglich wäre. Grund der Menschenwürde ist die Gattungszugehörigkeit – die Würde ist unantastbar in dem Sinn, dass sie wohl auf brutalste Weise verletzt werden, aber der Anspruch und sein Grund nie verloren gehen kann. Andererseits kann niemand praktische Vernunft besitzen und ein Bewusstsein seiner Würde ausbilden ohne das Gattungsleben mit seinen natürlichen und sozialen Voraussetzungen.11 Die Idee der Menschenwürde behauptet das Individuum als Zweck an sich, aber nur auf Grundlage der Anerkennung eines objektiven, das Individuum übersteigenden Zusammenhangs. Es war nicht nur so daher gesagt, wenn Kant forderte, jeder solle die Menschheit in seiner Person und der Person jedes anderen als Zweck an sich selbst behandeln. (Vgl. Kant 2012, S. 65 und Schiller 2011, Kap. 5) Im Unterschied zu Horkheimer hat Adorno das Negative am Begriff der Menschenwürde hervorgehoben. Sie sei die „Selbsterhöhung des Tiers Mensch über die Tierheit“ (Adorno 1974, S. 99) und damit eine ideologische Rechtfertigung der Naturbeherrschung. Belege für diese These lassen sich bei Cicero, Kant und Fichte mühelos finden. Das Problem ist nur, dass sich die menschliche Lebensform wirklich 11

In Unterscheidung von den sozialen Voraussetzungen meine ich mit den natürlichen v. a. den aufrechten Gang, Hirnwachstum und Instinktreduktion, entspezialisierte Wahrnehmung und Sprache. Bei den sozialen Voraussetzungen wäre an die materielle Produktion in Unabhängigkeit vom unmittelbarem Bedürfnis, an kulturelle Formung der Triebe und Affekte und wiederum an die Sprache zu denken.

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von den anderen tierischen Lebensformen unterscheidet und sich daraus auch kritische Einsichten und Verantwortlichkeiten ihnen gegenüber ergeben. „Würde“, so Adorno, wäre einzig, was die Menschen „noch nicht sind.“ (Adorno 1974, S. 99) Aber dieses Noch-Nicht muss irgendwie das der lebendigen Menschen sein. Deshalb führt, auch wenn der volle Gehalt dieser Bestimmung von Vernunft noch verwirklicht werden muss, kein Weg daran vorbei, ihre gegenwärtige Existenz in Augenschein zu nehmen. Die aber ist, schon bei Kant, nicht nur die Erhebung über die anderen Tiere, sondern auch der Protest gegen die Instrumentalisierung der Menschen zu den Zwecken der herrschenden Klassen. In Anbetracht der Allgewalt der Natur, so hieß es im Streit der Fakultäten, mag der Mensch eine Kleinigkeit sein, aber dass ihn auch seine Herrscher als eine solche behandeln und ihn als „bloßes Werkzeug“ gebrauchen, das sei keine Kleinigkeit, sondern ein moralischer Skandal. (Vgl. Kant 1968, S. 89) Gewiss bleibt der Gedanke der Autonomie, der für Kants Fassung des Begriffs praktischer Vernunft entscheidend ist, in Theorie und Praxis an die Marktsubjektivität – mit all ihren Illusionen und Gemeinheiten – gebunden: wer nichts zu bieten hat, ist in der modernen Gesellschaft fast immer Demütigungen und Feindseligkeiten ausgesetzt. Daher das Phrasenhafte und oft Gestelzte der Berufung auf die Menschenwürde, aber das unterscheidet sie nicht von den Ideen der Freiheit und Gleichheit, welche sie konkretisieren sollen. In der Wirklichkeit all dieser Ideen existiert die Vernunft bislang nur in einer unvernünftigen, d. h. beschränkten und widersprüchlichen Form. Natürlich sieht auch Horkheimer (vgl. 1991, S. 178), dass Ideen wie Freiheit, Gleichheit und eben die Menschenwürde dazu tendieren, zu hohlen Phrasen zu verkommen, wenn sie nicht ein negatives, d. h. verneinendes Element in sich enthalten. Merkwürdigerweise stellt er jedoch im Begriff der Menschenwürde nur die Negation vormoderner Zustände wie des Feudalismus oder der vorzivilisatorischen Gesellschaften heraus, nicht auch die kritische Wendung gegen die modernen Verhältnisse des Funktionalismus und Instrumentalismus. „Redeweisen wie ‚die Würde des Menschen‘ implizieren entweder ein dialektisches Fortschreiten, bei dem die Idee des göttlichen Rechts aufbewahrt und transzendiert wird, oder werden zu abgegriffenen Parolen, deren Leere sich offenbart, sobald jemand ihrer spezifischen Bedeutung nachfragt.“ (Horkheimer 1991, S. 51) Die Idee des göttlichen Rechts verweist auf die Ursprünge der Zivilisation und ihre Schrecken. „Ohne den Schauer, der einmal die Menschen vor ihren Herrschern und Göttern ergriff, würde die Achtung, die auf alles, was Menschenantlitz trägt, heute sich ausdehnen soll, nicht wirklich erfahren. Sie sänke zur hohlen Phrase herab.“ (Horkheimer 1985, S. 31 f.) So viel ist daran zweifellos richtig: Die menschliche Würde muss wie ein Tabu gelten. Auch das wird in der Formel des Grundgesetzes, dass die menschliche Würde unantastbar sei, zum Ausdruck gebracht. Fraglich ist jedoch, ob es „Residuen im kollektiven Unbewussten“ (Horkheimer 1985, S. 32) sein können, die einem solchen Begriff Substanz verleihen. Der Begriff des kollektiven Unbewussten ist seinerseits problematisch und eher ein Asylum ignorantiae als der Ersatz für eine lebendige Erfahrung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. (Vgl. Schiller 2010, S. 60 ff. sowie Schiller 2017) Eine solche für das Verständnis der Würde prägende Erfahrung kann in der Liebe bestehen, die das Kleinkind um seiner selbst willen und

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ohne Leistung erfahren hat. Hier liegt vielleicht die wirksamste Hemmung für die Verführung zu Ausschluss und Grausamkeit, sei sie im Zwang zur Konformität oder in den eigenen Antrieben begründet. Die Behauptung, dass alle Menschen fähig seien, das Tabu zu durchbrechen und sich an Verletzungen der Menschenwürde wie Demütigung und Vergewaltigung zu beteiligen, steht auf einer schwachen empirischen Basis. Fest steht, dass der Alltag der modernen Welt die Idee der Würde oft als Phrase erscheinen lässt, und dass Ideologien rücksichtsloser Konkurrenz, rassistischer und nationaler Überlegenheit die Abwehrkräfte gegen die Menschenfeindlichkeit schwächen. Insofern ist auch Adornos Insistenz darauf, dass die Idee der menschlichen Würde noch verwirklicht werden muss, durchaus gerechtfertigt. „Die Herstellung eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem einer dem anderen nicht zum Mittel wird, ist zugleich die Erfüllung des Begriffs der Vernunft (..).“ (Horkheimer 1985, S. 34) Die gesellschaftlichen Erfahrungen, auf die sich Horkheimers kritische Vernunftkonzeption bezieht, sind auch heute noch möglich. Eine Welt, in der über eine Milliarde Menschen unter der Armutsgrenze lebt, in der die reichen Länder sich eine wachsende Schicht von Armen leisten, die dem Reichtum der anderen zum Opfer gebracht wird, kann nicht den Anspruch erheben, eine vernünftige Allgemeinheit verwirklicht zu haben. Eine Massenloyalität, die auf Abstiegsangst und Verzicht beruht und äußere Feinde braucht, auf die sich die unvermeidliche Gehässigkeit der zu Automaten ihrer Selbstbehauptung erniedrigten Menschen richten kann, ist irrational. Der Taumel fortgesetzter Naturbeherrschung, der sich in Begriffen wie „Wachstum“ versteckt, ist dabei, die letzten unberührten Stücke der Natur in und außer uns zu unterwerfen. Er ist in Wahrheit ein Prozess der Wertschöpfung, der Erzeugung entfremdeter Formen des Reichtums. Während eine Haltung nötig wäre, die den Widersprüchen ins Auge sieht und sie zu begreifen sucht, bläht sich der Subjektivismus, zu dem die auf die sich zurückgeworfenen Einzelnen verhalten sind, in den schicken Theorien auf, die in der akademischen Welt Mode werden. Im Grunde genommen kann man denken, was man will, es kommt eh nicht darauf an. Für diejenigen freilich, die nur die Achseln zucken, um ihren Vorteil zu betreiben, ist eine kritische Vernunftkonzeption verzichtbar.

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Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“: Vorzeitiger Geheimnisverrat Ulrich Brieler

Zusammenfassung

Herbert Marcuses Studie „Der eindimensionale Mensch“ markiert einen Epochensprung in der Geschichte der industriellen Zivilisation: die Geburt des Konsumismus. Der historische Moment des Entstehens der Überflussgesellschaft erzwingt eine Aktualisierung der Kategorien der Kritischen Theorie. Subjekt und Objekt der Befreiung sind neu zu denken, das Projekt der Kritik – sein Fundament und seine Ausrichtung, seine Praktiken und seine Ziele – neu zu verfassen. Heute lässt sich die Studie als eine theoretische Antizipation von Verhältnissen lesen, die unsere Gegenwart als normal hinnimmt, während Marcuse sie im Augenblick ihres Erscheinens noch als skandalös wahrnehmen konnte. Die Tendenzen, die er beschreibt, haben nichts von ihrer Prägekraft verloren. Sie sind zu den historischen Apriori der globalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts geworden. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Bedürfnisse · Befreiung · Kritik · Konsumismus · Subjekt · Tendenz

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Einleitung „Er dachte an Marcuse und ging in eine Buchhandlung und fragte nach Büchern von Marcuse, zum Beispiel nach dem Eindimensionalen Menschen, und ging in die nächste Buchhandlung und fragte auch dort nach Büchern von Marcuse, doch es gab keine Bücher von Marcuse: Vergriffen. Nicht mehr lieferbar. Nicht mehr verlegt. Als hätte es ihn nie gegeben.“ (Zelter 2012, S. 206)

U. Brieler (*) Institut Für Philosophie, Universität leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_18

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Wenn das Ereignis eintritt, verleugnet man die Propheten oder verspottet sie. Heute, wo der Investor die Krone der Schöpfung, die Menschheit ein plastisches Quantum Humankapital, die Welt ein globaler Produktionsort ist, möchte man wenig erinnert werden, dass all dies eine Geschichte hat, dass all dies einer gesellschaftlichen Matrix gehorcht, dass all dies einer erkennbaren Rationalität folgt. Dass es hätte anders kommen können. Aber der Reihe nach. Vorzeitigkeit ist das Schicksal epochaler Bücher. Sie scheitern schlicht an ihrer diagnostischen Kraft. Für Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“1 gilt dies in besonderer Weise. Als die Studie im Jahr 1964 erscheint, singt man bereits das Lied vom Ende der Ideologien und der Ankunft der Mittelstandsgesellschaft. In diesem zeitgeschichtlichen Moment wirken Marcuses Einsprüche unzeitgemäß, bloßes Spätwerk eines Weimarer Emigranten in den USA. Und heute, über 50 Jahre später? Es ist sehr ruhig geworden um dieses Zentralmassiv der Kritischen Theorie. Es bedarf keiner Zensur, um die Erinnerung an dieses Buch zu tilgen. Sie existiert schlicht nicht. Eine Vermutung liegt nahe. Gerade die Schlüssigkeit der Beobachtungen, Beweise und Bewertungen markieren das Suspekte der Studie. „Der eindimensionale Mensch“ ist ein bestürzendes Ereignis, das man nicht zur Kenntnis nehmen darf. Also straft man Marcuse mit Nichtbeachtung, macht ihn bestenfalls zum Klassiker. Vielleicht muss man noch deutlicher werden: Der aktuelle Umgang mit Marcuse hat etwas Herablassendes. Der gute alte Marcuse, den gab es ja auch einmal. So hat man ihn vernachlässigt, verdrängt, vergessen,2 wie die Nachgeborenen fehlen, die sich der Radikalität und dem Freimut dieses Denkens anvertrauen.3 Diese Distanz hat ihre Gründe. Das Risiko, sich die Finger zu verbrennen, erscheint besonders hoch. Man könnte etwa so beginnen: „Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation, ein Zeichen technischen Fortschritts.“ (S. 21) Oder so: „Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebenso sehr dazu gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen?“ (S. 11) Schon hier sagt die Lektüre: Man lebt unmit-

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Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Neuwied/Berlin 1967. Alle im Text benannten Zitate folgen dieser Ausgabe. 2 Am Rande taucht er als ideengeschichtliche Reminiszenz eines anderen Kalten Krieges auf: vgl. Müller (2010). 3 Eine singuläre Ausnahme bildet die Studie von Tatjana Freytag (2008): Der unternommene Mensch. Freytag hält konsequent an einem kritischen Begriff von Eindimensionalität fest, indem sie ihn aktualisiert. Die Physiognomik von Eindimensionalität hat sich verändert, mit der Konsequenz, dass zeitgenössische Prozesse Eindimensionalität in einer neuen Kenntlichkeit entfalten. Zentral bleibt die „Erfahrung des Verlustes der Dimension des Negativen“ (S. 20), eine Diagnose, die für drei Felder exemplifiziert wird: in der marktkonformen Herrichtung des Sozialen, in der Entpolitisierung des Politischen und in der Standardisierung von Bildung. Die „Liquidierung der Kritik“ (S. 191) bringt ein individualisiert-isoliertes Subjekt hervor, das um so weniger in der Lage ist, sich selbst zu bestimmen, als es sich aus freien Stücken systemischen Imperativen unterwirft, die es als eigene verkennt.

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telbarer in den Problemen der Gegenwart als bei der Fülle der Sachbücher, die den Monat ihrer Erstveröffentlichung kaum überleben. Der Versuch einer zeitgenössischen Annahme Marcuses ist nur um den Preis zu haben, sich auf das Niveau seiner kritischen Erkenntnisse zu stellen, im Willen, sie gegenwartshistorisch ernst zu nehmen. Wer will das schon? Also lässt man die Finger davon. Nur, wir existieren in den Konsequenzen der Entwicklungen, die Marcuse als „Tendenzen“ überdeutlich wahrgenommen und analysiert hat: „Im Brennpunkt meiner Analysen stehen Tendenzen in den höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften. (. . .) Ich entwerfe diese Tendenzen und biete einige Hypothesen, nichts weiter.“ (S. 20) Dem Weiterleben des Buches hat diese Ambition zutiefst geschadet. Denn wenn Marcuse Recht hatte, wenn die Wahrheit seiner Überlegungen in der Zukunft liegt und die Zustände fortgeschritten sind, die er beschrieb, dann ist vieles an Theorie, was kam, schlicht Regression, Rückfall hinter eine einmal erreichte Erkenntnisqualität. Die kritische Theorie war dann schon einmal weiter. Ein zweites kommt hinzu. Die kurzzeitige und weit über das akademische Feld hinausschießende Prominenz des Buches als ‚Bibel‘ der 68er Bewegungen war seiner Rezeption wenig förderlich. Die bekannteste Arbeit des 68er-Denkens erfuhr nach der Ausschöpfung des revolutionären Kairos ihr vermeintliches Schicksal. Marcuses Buch ist also veraltet. Aber ja doch! Überholt von der Radikalisierung der Tendenzen, die er kristallklar analysierte. Diese ‚Überholung‘ hat einen Marcuse, der die theoretische Arbeit stets als Element der geschichtlichen Bewegung begriff, die sie beschreibt, gewusst und gewollt. Daher war „Der eindimensionale Mensch“ immer ein Buch für übermorgen. Denn diese „Tendenzen“ – noch einmal, eine der wichtigsten Vokabeln Marcuses – haben eine derartige Omnipotenz und Selbstverständlichkeit erreicht, dass sie nach einer „geschichtlichen Alternative“ (S. 263) schreien. Ein Problem schon für den Marcuse von 1964, für den „68“ nicht ganz überraschend kam. So macht es Sinn, die drei Koordinaten des geschichtlichen Moments zu umreißen, die Marcuses historische Apriori bilden. Dies ist zum einen die Realität der USA in den frühen 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts, ein Modell und Labor für die avancierteste Gestalt der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Man fühlt sich an die berühmten Zeilen von Werner Sombart erinnert: „Die Vereinigten Staaten sind für den Kapitalismus Kanaan: das Land der Verheißung.“ (Sombart 1906, S. 7) Zum zweiten ist es die globale Konstellation des Kalten Krieges. Sie erzeugt eine „Gesellschaft der totalen Mobilisierung“ (S. 39), in der die Gestalt des Feindes imprägnierend wirkt. „Denn der Feind ist permanent. Er existiert nicht in der Notsituation, sondern im Normalzustand.“ (S. 71) Und zum dritten – für Marcuse die wichtigste, in der Rezeption aber wenig erkannte Facette des Buches – etablieren sich affirmative Formen und Gestalten des Denkens, die eine Neubestimmung der Kritik erzwingen. Dieser zeithistorische Moment macht Marcuses Studie singulär. Etwas entsteht, das ebenso sichtbar ist, wie schemenhaft bleibt, in der Spannung zur Tradition das Neue aber umso deutlicher erahnen lässt. „Der eindimensionale Mensch“ ist ein vorzeitiges Buch: vor dem Einbruch der entfesselten Warengesellschaft, vor dem

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Siegeszug der Kulturindustrien, vor dem endgültigen Niedergang der Arbeiterbewegungen. Oder vielleicht sollte man besser sagen: im Moment des Durchbruchs dieser Tendenzen, im Land der entwickelten Tendenzen überhaupt, den USA, dem gelobten Land der reinen Akkumulation. Es ist der Augenblick des Quantensprungs, in dem eine entscheidende Weichenstellung erfolgt. Ab jetzt soll alles dem Wachstum der Warenwelt dienen: Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Kultur, Subjektivität. Es ist die Geburtsstunde des Konsumismus.

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Welt ohne Kritik

Es ist oft gefragt worden, was denn diese „Eindimensionalität“ bedeutet? In drei Worten: Es ist das ‚Ende der Kritik‘. Marcuse beginnt mit diesem Paukenschlag: „Die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition.“ (S. 11) Das ist das allererste Wort. Alle weiteren Symptome illustrieren diese Grundtatsache: „die Nivellierung von Möglichkeit und Wirklichkeit, die Widerspruchsfreiheit der formalen Logik; die Reduktion von Erotik auf Sexualität; die funktionale Kommunikation im Gegensatz zum lebendigen Sprachvermögen; den Mangel an qualitativen Alternativen und einen umfassenden Transzendenzverlust.“ (Kraushaar 2004, S. 19 f.) Eindimensionalität meint im ersten Zugriff die Verkümmerung des kritischen Geistes: Verlust der mündigen Urteilskraft, Gleichschaltung des Denkens mit den Sachzwängen, Indienstnahme des Cogito für die Verwertung. Die dialektische Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was anders sein könnte, schließt sich. Als qualitative Differenz hat sie ganz zu verschwinden. Es soll keine Alternative geben: der Status quo als ewiges Schicksal, rasender Stillstand als seine Bewegungsform. Marcuses Buch vibriert vom Widerstand gegen diese Selbstdestruktion der Kritik als eine feige Hinnahme der Realität. Die Philosophie als früheste Gestalt dieser Kritik verliert ihre „historische Aufgabe“, die seit dem Höhlengleichnis nichts anderes war als die „intellektuelle Auflösung, ja Zerstörung der gegebenen Tatsachen.“ (S. 199) Das zeitgenössische Resultat ist entsprechend: „Das gegenwärtige Bemühen, Reichweite und Wahrheit der Philosophie zu reduzieren, ist erschreckend, und die Philosophen selber verkünden Bescheidenheit und Fruchtlosigkeit der Philosophie. Sie läßt die Wirklichkeit unberührt; sie verabscheut es, über sie hinauszugehen.“ (S. 187) Dagegen denkt Marcuse umso bestimmter historisch: Das, was geworden ist, muss nicht so bleiben. Dies begründet die entschlossene Verteidigung einer kritischen Haltung, die sich den Blick auf das gesellschaftliche Ganze und die Alternativen der niedergeschlagenen und zukünftigen Möglichkeiten nicht nehmen lassen will. Immer geht es darum, „die geschichtlichen Alternativen zu untersuchen.“ (S. 12) Die bürgerliche Kultur – und hier vornehmlich die Philosophie, die Wissenschaften und die Literatur – entstand aus dieser Kraft der Kritik. Sie zehrte von

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dem Willen, die Verhältnisse in ihrer herrschaftlichen Gegebenheit nicht zu akzeptieren, sie der Veränderung für nötig zu halten. Ihre Kunst bezeugte die „Rationalität der Negation. In ihren fortgeschrittenen Positionen ist sie die Große Weigerung – der Protest gegen das, was ist.“ (S. 83) Marcuse zielt auf die heroische Phase der bürgerlichen Kultur, ihren Kampf gegen feudale und religiöse Mächte, ihre Fähigkeit, die eigenen Konstitutionsbedingungen gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zu problematisieren. Natürlich weiß er: „Kunst, bürgerliche Kunst ist in Herrschaftszusammenhängen entstanden und hat sich in ihnen entwickelt.“ Aber aus dieser Lage erwächst ihre kritische Funktion und bleibende Bedeutung. Sie ist „eine Form der Darstellung von bürgerlicher Herrschaft – und ihr Widerspruch.“ (Resch und Steinert 2003, S. 313) Dieser eigensinnige Charakter der Kunst droht von der Kulturindustrie, obwohl dieses Wort nie auftaucht, schlicht verschlungen, „ihrer antagonistischen Kraft beraubt“ (S. 84) zu werden. Ohne Frage: Marcuse ist ein Bildungsbürger im Warenwunderland. Er nimmt die Versprechungen der bürgerlichen Kultur absolut ernst, gerade indem er ihre Grenzen im Blick behält. Damit besitzt er eine belastbare Grundlage, die sich der eindimensionalen Normalität entgegen werfen kann. Denn die Verteidigung einer „zweidimensionalen Kultur“ (S. 76), ihrer oppositionellen und transzendierenden Kraft, richtet sich gegen jene Formen der Warenförmigkeit und „Verkauftstüchtigkeit“ (S. 77), die in der technologischen Gesellschaft die Kulturproduktion zum Geschäft degradieren. Dass die Kultur immer ihren Preis hatte, hieß für lange Zeit nicht, das Ausmaß ihrer Käuflichkeit zu besingen. Marcuse plädiert ausdrücklich für ein Aushalten der Widersprüche, für ein „unglückliches Bewußtsein der gespaltenen Welt, der vereitelten Möglichkeiten, der unerfüllten Hoffnungen, der verratenen Versprechen.“ (S. 81) Man muss die Wunde brennen lassen, die Differenzen markieren und deren Sprengkraft bewahren. Marcuse bleibt Kronzeuge einer historischen Dialektik, die den Widersprüchen in den gesellschaftlichen Fundamental- und den subjektiven Mikrostrukturen nachspürt. Sein Lob der Dialektik denkt von diesen Unvereinbarkeiten her: von gleichzeitig „anwachsender Produktivität und anwachsender Zerstörung“, von der „Erhaltung des Elends angesichts eines beispiellosen Reichtums“ (S. 15), von Möglichkeiten und deren Nicht-Einlösung. Wir haben es mit einer „bestürzenden Harmonie von Freiheit und Unterdrückung, Produktivität und Zerstörung, Wachstum und Regression“ (S. 140) zu tun. Tatsächlich ist wenig in Ordnung. Aber anstelle einer auf der Höhe der Zeit befindlichen Kritik regiert das „positive Denken“ (S. 159), ein Befrieden und Ausradieren der Widersprüche. Alles ist gut oder, maximale Ausreizung der repressiven Toleranz, wird gut. Das positive Denken, „aufgezwungen (. . .) von der überwältigenden, anonymen Macht und Wirksamkeit der technologischen Gesellschaft“ (S. 236), gefällt sich als Affirmationsmaschine. Es bestätigt das Bestehende und denunziert das Bessere. Das positive Denken wird zum Vorläufer dessen, was Pierre Bourdieu das „Einheitsdenken“ im Neoliberalismus genannt hat. Alles stimmt oder wird stimmig gemacht. In dieser Welt ohne Kritik hört Marcuse sehr früh den lauthals geforderten Praxisbezug der Geisteswissenschaften. Die erwünschte

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„Gleichschaltung (. . .) des Geistes“ (S. 123) läuft auf die lautlose Abschaffung der Geisteswissenschaften durch das Mittel der Mimikry an die herrschenden Anforderungen hinaus. Dieser Vorschein auf die akademische Welt der Gegenwart exemplifiziert sich in der Hegemonie der analytischen Philosophie. Ihr „radikale(s) Hinnehmen des Empirischen“ (S. 196) ratifiziert den „Triumph des positiven Denkens: eindimensionale Philosophie“ (S. 184). Es regiert ein „Bereich von Sprachspielen und akademischer Langeweile (. . .), eine eigene selbstgenügsame Welt“ (S. 196), eine „synthetisch verarmte Welt akademischer Konkretheit“ (S. 201). Die Liquidierung der Kritik tarnt sich dabei als objektive Tendenz des technologischen Sachzwangs. Sie „reinigt (. . .) Denken und Sprache von Widersprüchen, Illusionen und Überschreitungen (und) abstrahiert die Analyse vom Negativen, von dem, was entfremdet und antagonistisch ist und in den Begriffen des herrschenden Sprachgebrauchs nicht verstanden werden kann.“ (S. 196) Am Ende des Tages herrscht ein „keimfrei und unempfindlich gemacht(er)“ (S. 212) Jargon, der „zwischen den Polen päpstlicher Autorität und gutmütiger Anbiederung“ schwankt, ein „akademischer Sadomasochismus“ (S. 187). Diese Philosophie ist, in Hegels Worten, bestenfalls „erbaulich“. Der Verfall der kritischen Haltung ist aber beileibe kein moralischer Fehltritt Einzelner. Er ist in die objektiven Tendenzen einer Gesellschaftsformation verwoben, in der sich „die wissenschaftliche Unterwerfung der Natur“ in die „wissenschaftliche Unterwerfung des Menschen“ (S. 16) verlängert. Schon Marcuse denkt ein Macht-Wissen, das über die lebensweltliche Expansion der Humanwissenschaften gerade jene Räume in Beschlag nimmt, die bisher dem systemischen Zugriff entzogen waren: „Heute wird dieser private Raum durch die technologische Wirklichkeit angegriffen und beschnitten. Massenproduktion und -distribution beanspruchen das ganze Individuum und Industriepsychologie ist längst nicht mehr auf die Fabrik beschränkt.“ (S. 30) Der Fetisch des Wachstums, das Versickern der Privatheit, die Allgegenwart von Beobachtung und Bewertung, im Kern: die Kommodifizierung und Kontrolle der Existenz, sind keine Ausrutscher, keine Fehler. Sie artikulieren das kaum geheime Gesetz einer äußerst produktiven Rationalität, die keine Götter neben sich duldet. Marcuse hat 1964 in einem Vortrag auf dem Deutschen Soziologentag aufgezeigt, wie der Begriff einer aufgeklärten Vernunft in der profanen Wirklichkeit einer betriebswirtschaftlichen Rationalität seine Erfüllung findet. (Marcuse 1970) Diese verkehrte Vernunft spricht vom „rationalen Charakter ihrer Irrationalität“ (S. 29). Im Alltagsverstand, und hier entscheidet sich das historische Schicksal jeder Vernunft, heißt sie Kalkül, Effizienz, Nutzen in einer Matrix unüberschreitbarer Verhältnisse. Die Vernunft eines solchen Zuschnitts wird für Marcuse zum Kampffeld. Ihrer kritischen Funktion beraubt, ist neu zu klären, was Mündigkeit, Autonomie und Freiheit in diesem geschichtlichen Moment bedeuten. Wenn sich die „Gleichung Vernunft = Wahrheit = Wirklichkeit“ (S. 139) in der Affirmation der schlechten Wirklichkeit erschöpft, wird die Vernunft zu einer umkämpften geistigen Produktivkraft und der entscheidende Einsatz in den Symbolkämpfen um Wahrheit. Wer die

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Vernunft hat, hat das Sagen und „in dem Maße, wie die bestehende Gesellschaft irrational ist, wird das Bewußtsein nur im Kampf gegen sie frei für die höhere geschichtliche Rationalität.“ (S. 234 f.) Marcuse verteidigt einen Begriff von Vernunft, der seine Wahrheit im Konflikt mit einer unwürdigen Welt gewinnt. Immer wieder stellt er die heute verschwundene Frage nach den Gestalten von Herrschaft und Ausbeutung, nach der Dialektik von Herr und Knecht. Gegen eine Welt, die sich in ihren Oberflächenphänomenen versteinert, wird sein uneingeschränktes Festhalten an einer „Befriedung des Daseins“ (S. 246) zu einem Akt geistiger Rebellion: „Darin besteht der objektive Grund historischer Rationalität.“ (S. 232) Diese Möglichkeiten zu kanalisieren, ist für die technologische Gesellschaft eine Notwendigkeit erster Ordnung. Das „irrationale Moment ihrer Rationalität“ (S. 37) beginnt genau da, wo eine Welt ohne Hunger und Krieg machbar ist, aber die bestehenden Herrschaftsstrukturen dies verhindern. Denn „ihr Wachstum hängt ab von der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den Kampf ums Dasein zu befrieden.“ (S. 12) Wer sich daher „weigert, das gegebene Universum der Tatsachen als den endgültigen Zustand hinzunehmen“ (S. 13), hat die unterschlagenen Potentiale zu bestimmen, und sei es in der Unmöglichkeit ihrer aktuellen Realisierung. „Abstraktheit ist das innerste Leben des Denkens, das Wahrzeichen seiner Authentizität.“ (S. 159). Abstraktion in dieser Absicht ist immer Kritik, weil sie das historische Mögliche einklagt: „Wie „Mensch“, „Natur“, „Gerechtigkeit“, „Schönheit“ oder „Freiheit“ auch definiert werden, sie synthetisieren Erfahrungsgehalte zu Ideen, die ihre besondere Verwirklichungen als etwas transzendieren, was überboten, überwunden werden muß. So umfaßt der Begriff der Schönheit alle Schönheit, die noch nicht verwirklicht ist, der Begriff der Freiheit alle Freiheit, die noch nicht erlangt ist.“ (S. 225 f.) Die Kritik muss den Raum des Möglichen verteidigen, aber auch sich selbst erneuern. Wenn die Formierung von Vernunft und Subjektivität tiefer denn je reicht, dann muss die kritische Haltung als mündige Gegenwehr das ganze Subjekt erfassen. Sie wird zu einer sehr bestimmten Existenzform, die in der Problematisierung der antagonistischen Welt dazu zwingt, die herrschenden Apriori in Politik, Wissenschaft und Kultur grundlegend zur Disposition zu stellen. Ordnungen und Systeme, Paradigmen und Rationalitäten, Haltungen und Bedürfnisse sind in der grundlegenden Funktion der Subjektivierung zu befragen. Um der „Ohnmacht des Denkens in einer empirischen Welt“ (S. 150) zu entgehen, muss sich das kritische Subjekt den „Heimsuchungen des menschlichen Daseins“ verpflichten und die „existentielle Beunruhigung“ (S. 151) suchen. Diese kritische Haltung präpariert Marcuse geradezu für den Geist der 68er. Seine analytische Arbeit gibt nicht nur den Akteuren eine Theorie an die Hand, das begrifflich zu denken, was verändert werden soll. Sie stimuliert auch die eigene theoretische Praxis. Die „technologische Gesellschaft“, die Neubegründung des „Widerstandsrechts“, die „repressive Toleranz“, die „neuen Bedürfnisse“, die „rebellische Subjektivität“ – Marcuse wird zum Begriffsschöpfer für eine neu zu verstehende Welt. Und dies ist sein eigentlicher Sündenfall. Marcuse hat sich mit den „Aufrührern“ identifiziert. Er hat ihnen Beihilfe geleistet, er hat sich „mit der Straße“ eingelassen.

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Marcuses Buch ist eine intensive Suchbewegung nach einer neuen kritischen Figur. Es ist eine Verteidigung des Denkens im Vertrauen auf die Kraft des Denkens. Wie wenige vor und nach ihm sind diese Ideen tatsächlich zur materiellen Gewalt geworden, weil sie die Leute erreicht haben. Damit markiert Marcuse eine intellektuelle Haltung, die sich an dem messen lässt, was sie sagt. Der Kritiker in seinem Selbstverhältnis steht nicht außerhalb der Dinge, die er kritisiert. Der Militante der Sixties hatte sehr viel von einem exemplarischen Propheten. Er lebte im Denken seine Verweigerung vor und fort. Er war „eine exemplarische Kraft, die die Regeln des Spiels verletzt und es damit als aufgetakeltes Spiel enthüllt.“ (S. 267) Marcuse kannte den Preis für diese Haltung: „Die geistige und gefühlsmäßige Weigerung „mitzumachen“ erscheint als neurotisch und ohnmächtig.“ (S. 29) Aber er war bereit, diesen Preis zu zahlen. Und deshalb muss er heute vergessen werden. Allemal spricht Marcuses Buch davon, dass es dieses Ereignis tatsächlich gegeben hat. Große Minoritäten wollten eine radikale Veränderung ihrer Existenzweise und haben diese bewusst vollzogen. Und sie haben diese Arbeit an der Gesellschaft und an sich selbst als eine politische verstanden, indem sie deren Allgemeinwerden proklamierten. Dies mag für manchen zu viel an Subjektivität sein, aber allemal ist es für eine Geschichte der Kritik eine materialistische Subjektivität. Denn das „lebendige Arbeitsvermögen“ (Marx) ist stets mehr als die Summe seiner industriellen Vernutzung.

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Genealogie des Konsumismus

Die Geschichte der Gattung ist die Geschichte des Mangels. Sich satt zu essen war über Jahrtausende ein Privileg der Mächtigen. Die große Mehrzahl der Menschen lebte von der Hand in den Mund. Bis weit ins 20. Jahrhundert bleibt die „atavistische Furcht vor dem Hunger“ (Montanari 1993, S. 205) präsent. Dies ist der Ausgangspunkt. Und nun ein enormer gattungsgeschichtlicher Moment: der Sprung in das Reich des Überflusses, Ergebnis der „fortschreitenden Bewältigung des Mangels“ (S. 90). Zum ersten Mal in der Geschichte des homo sapiens existiert für weite Teile der Bevölkerung keine materielle Not. Was Klassenvorrecht war, wird zur Geschäftsgrundlage. Als Marcuses Buch 1964 erscheint, ist in Europa der Besitz eines Autos noch ein Privileg, das Fernsehen eine Sensation, das private Telefon eine Rarität. Die Welt der massenhaften Konsumgüter steht an ihrem Anfang. Das Besondere von Marcuses Studie liegt darin, die in dieser geschichtlichen Lage erkennbaren Tendenzen weiterzudenken, in denen neue Probleme und Potentiale auftauchen. Denn für eine Gesellschaft, die das Erforderliche an materiellen Bedürfnissen gesättigt hat, existiert kein ‚natürliches‘ Ziel mehr. Es ist eine geschichtliche Schwelle überschritten und dieser Moment erzeugt einen Primärschock. Die Vorwürfe von „Verschwendung“ und „Verführung“, Marcuse bezieht sich auf die bekannten Bücher Vance Packards aus den späten 50er-Jahren (S. 19), artikulieren erste Reaktionen auf die neue Situation. Der Wohlstand wird zum Problem.

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Aber Marcuse reicht diese Polemik nicht. Und hier beginnt seine Analyse, denn „Freiheit von Mangel (ist) die konkrete Substanz aller Freiheit“ (S. 21). Bedeutet die endliche Diversifizierung des Warenangebots ein reales Mehr an Freiheit? Einen Qualitätssprung des Gebrauchswerts? Ein Mehr an Gerechtigkeit und freier Lebenszeit? Eine Welt ohne Armut und Krieg? Das sind die angemessen Fragen. Die Agenda der Befreiung ist in diesem Moment zu aktualisieren. Diese notwendige Neuschreibung ist nur um den Preis eines geschärften Geschichtsbewusstseins zu haben. Marcuse erfasst, dass die konsumistische Kraft auf einem neuen Modell sozialer Regierung beruht, das eine „innere Einheit und Kohärenz (hervorbringt), wie sie auf früheren Stufen der industriellen Zivilisation unbekannt war.“ (S. 41) Ein zweites kommt hinzu. Diese neue „Gesellschaft der totalen Mobilisierung“ (S. 39) regiert mit einer anderen Hegemonie. Alles wird weicher, genehmer, angenehmer. Die „Dinge schwingen mehr, als daß sie unterdrücken, und sie schwingen das menschliche Instrument – nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist und sogar seine Seele.“ (S. 47) Die Geburt des Konsumismus verlangt einen Zusammenschluss aller Faktoren zu einer umfassenden Produktionsmaschine. Die technologische Rationalität expandiert daher in alle gesellschaftlichen Felder und erzieht diese zur Kopie ihrer eindimensionalen Matrix. Alles muss dem Wachstum dienen. Das Geschäftsgeheimnis der eindimensionalen Gesellschaft ist diese organische Geschlossenheit. Sie funktioniert nur als Ganzes. Avant la lettre argumentiert Marcuse gegen jede Systemtheorie. Gesellschaft wird zum „System, von dem das Produkt des Apparats wie die Operationen, ihn zu bedienen und zu erweitern, a priori bestimmt werden“ (S. 17). Ökonomie – Politik – Wissenschaft – Subjekt – Sprache – Kultur bilden eine arbeitsteilige Totalität. Die konsumistische Maschine wird „zu einem festen, überwältigenden Ganzen zusammengezwungen“ (S. 112). Lange vor der Einfassung der Welt durch digitale Produktionsverhältnisse weiß Marcuse: Die Totalität des Konsumismus gründet im Geist der Produktionsweise, nicht in seinen medialen Existenzformen. Alles hat zu parieren. Die konsumistische Maschine ebnet konsequenterweise jene Widersprüche ein, die das Profil des bürgerlichen Zeitalters markierten. Der „Gegensatz zwischen privater und öffentlicher Existenz, zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen“ (S. 18) verschwindet und es greift ein Arbeitsethos Raum, das keine verwertungsfreie Nische erlaubt. Denn paradoxerweise befördert der durch die technologische Entwicklung erreichte Zeitgewinn keinen Gewinn an freier Zeit für die gesellschaftlichen Individuen. Die Verschmelzung von Arbeits- und Freizeit ist seine lebensweltliche Voraussetzung wie Konsequenz. Alles muss der Produktivität dienen. Dieser neue Geist der Produktivität lässt umso weniger mit sich reden, als er global angelegt ist. Der Weltmarkt mit seiner „fortschreitenden Versklavung des Menschen durch einen Produktionsapparat, der den Kampf ums Dasein verewigt und zu einem totalen, internationalen Kampf ausweitet“ (S. 159), verdeutlicht ein universales Apriori allerneuester Art: Niemand darf sich seiner Verwertung entziehen. Dies alles hat einen Preis. Zum einen ist die „unaufhörliche Rationalisierung“ (S. 69) dieser Verhältnisse, einmal freigesetzt, in ihrer Schrankenlosigkeit kaum zu stoppen. Ohne eine andere Regierung der Produktion und der Reichtümer drängt die

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systemische Logik auf eine „zur Perfektion getriebene Verschwendung“ (S. 11). Marcuse kann daher lange vor dem Auftauchen der ökologischen Problematik ihr Erscheinen voraussagen: „Die späte Industriegesellschaft hat das Bedürfnis nach parasitären und entfremdeten Funktionen (für die Gesamtgesellschaft, wenn auch nicht für das Individuum) eher erhöht als verringert.“ (S. 69) Zum anderen erpresst diese Irr-Rationalität eine Konformität ganz eigener Art. Sie entfaltet die „Tendenz, das Ganze gegen Negation von innen wie von außen zu immunisieren.“ (S. 71) Ahnungs-, Wehr- und Sinnlosigkeit finden zusammen. Der Konsumismus ist schiere Selbstbestätigung des Getriebes, eine Gesellschaft, die dem Sinn entsagen kann, weil sie sich allein durch ihr Funktionieren legitimiert. Sie ist nur und bedeutet nichts. Das statistische Wachstum und der Aktienindex sind Beweis genug. Die konsumistische Maschine besitzt daher kein Bremspedal, es existiert kein Notausstieg. Diese scheinbar nur kulturkritischen Töne lassen Marcuse die Frage der Produktionsweise nicht vergessen. Ein Ende der Arbeit? Nichts ist absurder. Marcuse entwickelt unter dem Stichwort der Automatisierung, der Vorstufe der Digitalisierung, präzise die Veränderungen einer industriellen Produktionsweise, in der sich eine technische Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse vollzieht. Damit bringt er eine weitgehend vergessene Debatte der 60er-Jahre um die „neue Arbeiterklasse“ und die Rolle der wissenschaftlich-technischen Intelligenz ins Spiel, die vor allem in Frankreich von Serge Mallet und André Gorz vorangetrieben wurde und ein wichtiges Theorieelement im Geist der Sixties bildete. Marcuse gibt Begriff und Realität des Proletariats keineswegs auf. Hier wird nichts verabschiedet. Im Gegenteil: „Bourgeoisie und Proletariat. In der kapitalistischen Welt sind sie noch immer die grundlegenden Klassen.“ (S. 15) Aber das Verhältnis von totem Kapital und lebendiger Arbeitskraft wird ein historisch Neues. Marcuse reflektiert die Veränderungen durch das spätfordistische Fabrikregime nach dem 2.Weltkrieg, die den klassischen Industriearbeiter für die USA und Westeuropa zu einer minoritären Figur machen. Gleichzeitig nimmt er die Ausweitung abhängiger Arbeitsformen in Bereiche hin wahr, die man heute „immaterielle Arbeit“ nennt: „Reklame, Öffentlichkeitsarbeit, „Schulung“, geplanter Verschleiß der Güter sind keine unproduktiven, zusätzlichen Kosten mehr, sondern vielmehr Elemente der grundlegenden Produktionskosten.“ (S. 69) Der Konsumismus kommt also dramatisch wie auf Taubenfüßen. Seine Expansion erfasst Bereiche, die dem ökonomischen Zugriff bisher verschlossen waren. Die neue technologische Rationalität übernimmt nicht nur die alte Arbeitsdisziplin, sondern schreibt deren Konformität in die Lebenswelten fort. Hier ist wenig diskursiv aufzulösen, aber alles zu optimieren.

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Technopolitik

Schon Marcuse wusste: Die fortgeschrittene Industriegesellschaft besitzt keine Politik. Politik als exklusives und einzig legitimes Feld der Gestaltung des Gemeinwesens verschwindet. Politik wird zur Schmiere fürs Getriebe.

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Die Indienstnahme der Staates – seiner Apparate, seiner Personalstäbe, seiner Techniken, seiner Legitimität – verrät ihr historisches Betriebsgeheimnis: „Die Techniken der Industrialisierung sind politische Techniken; als solche entscheiden sie im vornhinein über die Möglichkeiten von Vernunft und Freiheit.“ (S. 38) Technologische Rationalität gerinnt zu politischer Rationalität und entzaubert die Neutralität der Technik wie die Autonomie des Staates. Technologie verwandelt sich in reine Herrschaft, wie Politik ohne Technologieparforce undenkbar wird. Marcuse denkt zwar vor der Biomacht und der Kontrollgesellschaft. Aber er ahnt die Neuartigkeit der Politikformen und der Machtapparate im technischen Zeitalter. Staat und Ökonomie der industriellen Moderne waren stets aufeinander verwiesene Zwillingsbrüder. Der Quantensprung zur fortgeschrittenen Industriegesellschaft verdichtet dieses enge Verhältnis zu einem kompakten „Herrschaftssystem“ (S. 18). Dieses neue technopolitische Dispositiv entfaltet Wirkungen auf mehreren Ebenen. An erster Stelle steht die „Abriegelung des Politischen“ (S. 39). Mit diesem Urteil antizipiert Marcuse postpolitische Diagnosen der Gegenwart. Eine Technopolitik kann keine Alternativen denken außerhalb der Bedingungen, in denen sie existiert. Sie schließt aus, „daß der Zusammenhang beurteilt wird, in dem Tatsachen gemacht, von Menschen gemacht (. . .) werden.“ (S. 134) Alles muss so sein, wie es ist, nur optimierter. Politische Legitimität verlässt vollständig das Stadium diskursiver Rationalität. Legitimität beweist sich durch „Leistungsfähigkeit und Produktivität“ (S. 103), durch Wachstumsrekorde und Weltmarkteroberungen. Was technisch funktioniert, ist politisch durchzustellen. Die repräsentative Demokratie ändert ihren Akzeptanzboden. Sie ist legitim, da sie schlicht das „leistungsfähigste Herrschaftssystem“ (S. 72) darstellt. Die Erosion ihrer Vernunftbasis wird damit zum Grunddilemma der real existierenden Demokratie. Denk-, Rede-, Gewissens- und Organisationsfreiheit waren kritische Ideen. Werden sie zu Bestandteilen des herrschenden Getriebes, verlieren sie jede Kraft. Die Krise der Demokratie erwächst aus dieser Konstellation. Wenn die Technopolitik ein Ausmaß erreicht hat, das jedes Bewusstsein grundlegender Alternativen unmöglich macht, wird jede Wahl zum leeren Akt. Marcuse fordert daher die permanente Aktualisierung der Freiheiten in Bezug auf die neuen Widersprüche und Möglichkeiten. Er spricht aus, was Jacques Derrida (2006, S. 123 ff.) die „kommende Demokratie“ genannt hat, das Modell einer politischen Ordnung, die sich auf jeder Stufe der geschichtlichen Entwicklung in Bezug auf die historisch möglichen Emanzipationen neu entwerfen muss. Marcuse ahnt, dass der Bürger, dieser Hybrid aus Bourgeois und Citoyen, aus Besitzindividualist und Freiheitsheld, historisch zum Verschwinden verurteilt ist. An seine Stelle treten als Hauptakteur der Investor und als sein Rezipient der Kunde, dem nicht politische Mündigkeiten, sondern Verbraucherrechte zum eigentlichen Anliegen werden. Es muss passen, nicht stimmen. Die objektive Verödung des Politischen raubt dem Citoyen die Existenzberechtigung, denn „die politischen Bedürfnisse der Gesellschaft werden zu industriellen Bedürfnissen und Wünschen, ihre Befriedigung fördert das Geschäft und das

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Gemeinwohl, und das Ganze erscheint als die reine Verkörperung der Vernunft.“ (S. 11) Politisches Leben in der eindimensionalen Welt heißt als Kunde, nicht als Citoyen zu existieren. In den politischen Apparaten verändern sich die Charaktermasken des Personals. Kaum ein Staatsdiener findet sich, niemand lebt mehr für die Politik. Was aber auch heißt: „Die Herren der Welt verlieren ihre metaphysischen Züge“ (S. 90). Es erscheint der Medienstar, der Geschäftemacher und das Lieschen Müller, während anonyme Technokratien die Welt regieren. Nehmen die Distanzen zwischen den Klassen pharaonische Ausmaße an, so gerieren sich die getriebenen Akteure als Menschen wie Du und Ich: Karrieristen und Schaumschläger, Schnäppchenjäger und Lobbyisten. Es machen doch alle so. Die dabei anfallende „Abnahme von Freiheit und Opposition“ ist kein Kollateralschaden, sie manifestiert „einen objektiven gesellschaftlichen Prozeß“. In einem „System des unterworfenen Pluralismus, in dem konkurrierende Institutionen darum wetteifern, die Macht des Ganzen über das Individuum zu festigen“ (S. 70), gilt der Grundsatz: „Je globaler die Herausforderung, die sie aufbauen (. . .), desto größer ist ihre Freiheit von wirklicher Volkssouveränität. Ihre Herrschaft ist (. . .) in die täglichen Verrichtungen und in die Erholung der Bürger eingewandert, und die „Symbole“ der Politik sind zugleich die von Geschäft, Kommerz und Vergnügen.“ (S. 122) Marcuse ist daher wohl der erste, der eine akribische Analyse der diskursiven Ordnung des Konsumismus vornimmt, da im postpolitischen Feld eine eigensinnige Sprache des Politischen ihre Funktion verliert. Die „großen Worte über Freiheit und Erfüllung (. . .) verkehren (. . .) sich in sinnlose Laute, die nur im Zusammenhang mit Propaganda, Geschäft, Disziplin und Verstreuung einen Sinn erhalten.“ (S. 77) Die gesellschaftlichen Individuen werden sprachlos, eine babylonische Sprachverwirrung ganz eigener Art greift Raum: „Indem die Menschen ihre eigene Sprache sprechen, sprechen die Menschen die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter.“ (S. 208) Marcuse nimmt diese „Sprache der totalen Verwaltung“ (S. 104) absolut ernst. Er beobachtet ein sprachliches Universum „voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen, und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten werden.“ (S. 34) Es ist ein gezielt banaler Diskurs, der versimpelt und „gegen den Widerspruch immunisiert“ (S. 107). Er wehrt ab, was überfordert (begriffliche Exaktheit, geschichtliche Herleitung, Abstraktion, kritische Nachfrage), er fördert, was verkürzt (knappste Sätze, Abkürzungen, Slogans). Er arbeitet mit einer „überwältigenden Konkretheit“ (S. 114), um sein zentrales Ziel zu erreichen: „Identifikation und Vereinigung“ (S. 104) in einer Welt tiefster sozialer Spaltungen. „Es ist das Wort, das Befehle erteilt und organisiert, das die Menschen veranlasst, etwas zu tun, zu kaufen und hinzunehmen.“ (S. 105) Die Absorptionsfähigkeit dieser Sprache ist ihr großer Trumpf. Natürlich bleibt sie abgrundtief affirmativ, aber nicht in der Gestalt der Verleugnung, sondern der Integration der Widersprüche. Dieser Diskurs besitzt die Fähigkeit, „alle anderen Ausdrücke seinen eigenen anzuähneln (. . .), größtmögliche Toleranz mit größtmöglicher Einheit zu verbinden“ (S. 109). Er stellt damit zwingend die Frage nach dem,

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was Marcuse das „rechte Wort“(S. 109) nennt, nach einer sprachlichen Gestalt, die einer erneuerten Kritik erkennbar Ausdruck verleiht. Was letztlich für das politische Feld bleibt, ist die Bestimmung des „Feindes“. Dieses Außen, der Kommunismus, erscheint zu Beginn der 60er-Jahre als Konkurrent der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, keinesfalls als sein Antagonist. Marcuse lässt keinen Zweifel an seiner Distanz „im Hinblick auf die abstoßende Gestalt, die der heutige Kommunismus darstellt“ (S. 150). Entscheidend ist die reale Existenz der sozialistischen Welt, die einen „totalen internationalen Kampf“ (S. 159) legitimiert. Heute ist diese Bedrohung verschwunden, aber nicht der sozialpsychologische Mechanismus des notwendigen Feindes. Der Feind bleibt unsere eigene Frage als Gestalt. Und so bleibt der Krieg. Er kann allerorten ausbrechen, er wird gebraucht. Er flottiert nach Geschäfts- und Gefechtslage. Humanitäre Kriege sind das jüngste Muster dieses Komplexes. An jeder Ecke lauert ein neuer Terrorfürst, statt ewigem Frieden „enduring freedom“. Die Drohung mit der Bombe, das realhistorische Menetekel Marcuses, hat sich transformiert in mit gutem Gewissen geführte Kriege, „denn Krieg ist Krieg. Und dieser Krieg ist höchst peripher – er verwüstet nur die „unterentwickelten“ Länder. Sonst herrscht Frieden“ (S. 103). Nicht zu vergessen: Der Krieg ist ein Wachstumsfeld. Marcuse weist auf die stetige Verwachsung des militärisch-industriellen Komplexes mit der Politik und den Wissenschaften hin. Man darf begründet vermuten, dass die Kohabitation von „Kriegsführung- und Wohlfahrtsstaat“ (S. 253) seine Zukunft noch vor sich hat. Technopolitik beschreibt so einen Dreiklang: Akkumulation verwandelt sich in Politik, Verwaltung in Herrschaft und Klasseninteresse in Sachzwang. Marcuse besitzt noch keine anderen Begriffe für diese neuartige Verschmelzung als „totale Verwaltung“ (104) und das „verwaltete Leben“ (S. 69). Sie erfassen das Selbstläufige und Unvermeidliche einer Dynamik, in der die Vermehrung von Profit und die Prägung von Subjektivität zum Verfassungsauftrag werden. Oft taucht daher die Vokabel des „Totalitären“ auf, aber in einer ganz anderen Signatur, als es die antikommunistische Rhetorik seiner Zeit will. Der Begriff benennt im Herzen von Prosperität und Demokratie eine extreme Gefahr: „Zu einem totalitären System organisiert, bestimmen die Instrumente der Produktivität und des Fortschritts nicht nur über die gegenwärtigen, sondern auch die möglichen Anwendungen.“ (S. 265 f.) Der Begriff des Totalitären beschreibt exakt diese gesellschaftsgeschichtliche Möglichkeit, die in der Besetzung der „individuellen Bedürfnisse und Wünsche“ (S. 17) ihr sozialpsychologisches Fundament findet. Die Intensität an technologischer Einfassung der Menschenverhältnisse impliziert daher, jenseits jeder politischen Ambition, einen vollständigen Zugriff auf alle Lebensäußerungen. Wo ein Chip ausfällt, droht die Gefahr des Totalkollapses. Alles muss unter Kontrolle. Mit der Digitalisierung sämtlicher Lebensäußerungen kündigt sich dieser totale Moment an. Skynet steht vor der Tür. Die NSA ist eine systemische Notwendigkeit.

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Schicksal des Subjekts

Es mag kein Zufall sein, sondern die andere Seite der Tendenz: Im selben Jahr wie Marcuses „Eindimensionaler Mensch“ erscheinen erste Untersuchungen Gary Beckers zur „Theorie des Humankapitals“.4 Becker affirmiert die Tatsache, die Marcuse entsetzt, dass die technologische Industriegesellschaft das „ganze Individuum“ (S. 30) in Beschlag nimmt. Es existiert kein Asyl, kein Rückzugsraum, nirgendwo. Vielleicht lässt sich die Genealogie des Denkens seit diesem Moment auf die Alternative bringen: Verwertung des Subjekts kontra Analytik der „psychologische(n) Zerstörung im Innern der Individuen“, so Marcuse (2009, S. 166) in einem seiner letzten Vorträge, anders formuliert, Selbst-Verdinglichung vs. Kämpfe um die Unverfügbarkeit des Subjekts. In Marcuses Denken besitzt die Problematisierung des Subjekts eine überragende Bedeutung. Die Dinge funktionieren nicht ohne Subjekte, die das Funktionieren garantieren, wie die Subjekte im Innern der Dinge entstehen, die sie historisch umgeben. Die „technische Nutzbarmachung des Menschen“ (S. 161) ist im Westen nichts Neues. Das Fließband und der Taylorismus haben ihr im 20. Jahrhundert den Weg bereitet. Diese Tendenz erreicht in den 60er-Jahren eine neue Qualität und heute ist sie allgemeine Geschäftsgrundlage geworden. Keine Klage über die Humankapitalisierung der Menschheit: Sie ist erklärtes Regierungsprogramm, vordringliche Aufgabe aller Wohlmeinenden. Marcuse hat diesen Quantensprung im Auge und benennt die Konsequenzen: „Die Menschen werden dazu gebracht, im Produktionsapparat das wirksame Subjekt von Denken und Handeln zu finden, dem ihr persönliches Denken und Handeln sich ausliefern kann und muß. Und bei dieser Übertragung nimmt der Apparat die Rolle einer moralischen Instanz an. Das Gewissen wird durch die Verdinglichung freigesprochen, durch die allgemeine Notwendigkeit der Dinge.“ (S. 98 f.) Je mehr technologisches Equipment die Leute umfasst, um so mehr verzehrt sich autonome Subjektivität. Die Menschen bekommen an technologischer Einkleidung, was sie an eigenständiger Lebensführung und assoziativen Lebensformen verlieren. Adorno diagnostizierte das Wachstum der „organischen Zusammensetzung des Menschen“ (Adorno 2003, S. 261), d. h. die Selbsterziehung der Existenz zur betriebswirtschaftlichen Variable. Er wusste, dies markiert eine epochale Transformation der Geistes- und Subjektgeschichte. Eine aufgeklärte Vorstellung von Mündigkeit, die das Selbst als Gegenentwurf der objektiven Systeme begreift, verschwindet. Heute ist das Selbst zur digitalen Matrize geronnen. Diese progressive Verobjektivierung des Humanen ist ein sozialer Vorgang, der eine Geschichte besitzt. Diese Genealogie der Verdinglichung ist zu schreiben. 1965, ein Jahr nach Marcuses Studie, erscheint der erste große Roman von Georg Perec. Er trägt den Titel „Die Dinge“. Perec beschreibt ein französisches Ehepaar der

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Michel Foucault hat dies in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität von 1979 zum zentralen Thema gemacht: ders.: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a. M. 2004, S. 300 ff.

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frühen 60er-Jahre, Mitte 20 und Angestellte der Werbeindustrie, bei ihrem Versuch, in der jungen Welt des Überflusses ein freies Leben zu führen. Es ist der Moment des Erstkontakts, des unbefangenen Zaubers der neuen Dinge. Der Überfluss besitzt noch seine Unschuld. Aber schon macht sich ein Unbehagen breit, das sich aus der noch frischen Erinnerung an den Mangel, aber auch aus einer neuen Dimension speist, der puren Maßlosigkeit des Überflusses. Dem „Gesetz der Zivilisation“ ausgeliefert, „daß die Wünsche immer größer als die Möglichkeiten waren“ (Perec 2001 [1965], S. 44), entsteht eine zerrissene Subjektivität, die sich noch in den „Gefängnissen des Überflusses“ befangen weiß, aber gleichzeitig schon nicht mehr entkommen kann: „Der Feind war unsichtbar. Oder vielmehr, er war in ihnen, er hatte sie verdorben, ausgehöhlt, verwüstet.“ (Perec 2001 [1965], S. 79) Eine Metamorphose findet statt, es entstehen „neue Menschen“ (Perec 2001 [1965], S. 36, 42). Man fühlt hier noch eine Scham vor dem Überfluss, ein Zögern vor der Verschwendung. Die bei den Armen stets ausgeprägte Achtung vor dem Dürftigen, der sorgsame Umgang mit dem Notwendigen markiert die mentale Grenze, die eine moralische Ökonomie von einer konsumistischen trennt. Das Verschwinden dieser Scham garantiert die Legitimität des Überflusses und die Selbstverständlichkeit des Konsumismus. Und für den Grenzgänger eröffnet sich exakt in diesem Moment des Übergangs der Blick auf das Öbszone des neuen Ganzen. In der Mitte der 60er-Jahre ist bei Marcuse wie in Perecs Roman noch vieles unentschieden. Staunen und Unbehagen halten sich die Waage. Die neuen Freizügigkeiten und Hohlheiten, die großen Hoffnungen und die alltäglichen Enttäuschungen liegen nahe beieinander. Wir stehen an einer Wegscheide der Genealogie des industriellen Subjekts. Das Unbehagen wird im Mai ’68 im Aufstand gegen die Disziplinarsubjektivität explodieren. Gleichzeitig schleichen sich die neuen Arbeitszwänge und Wunschstrukturen in die Innenwelten der Menschen. Marcuse versucht diesen Umbau des Seelenhaushalts mit den Begriffen „Introjektion“ und „Mimesis“ zu fassen. Introjektion bedeutet eine innere Dimension der Freiheit und Urteilsfähigkeit gegenüber äußeren systemischen Ansprüchen. Die subjektiven Setzungen können „verschieden und ihnen gegenüber sogar antagonistisch“ (S. 31) sein, Ergebnis ist stets „ein individuelles Bewußtsein und ein individuelles Unbewußtes“ (S. 30). Mimesis umfasst „eine unmittelbare Identifikation mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als einem ganzen“ (S. 30). Mimesis ist mehr als Anpassung und Konditionierung. Mimesis meint die leise und unerbittliche Tilgung der Differenz von Eigenem und Systemischen, meint die Abenddämmerung einer aufgeklärten Vorstellung von Mündigkeit, von Citoyen und Geist. Marcuse weiß sehr genau, dass die technologische Gesellschaftsformation einen neuen Seelen- und Bewusstseinshaushalt produziert. Akkumulation und Historizität mutieren die Apriori und geben einer passförmigen Subjektivität Raum, die umso reibungsloser funktioniert, wie die technologische Gesellschaft die von ihr produzierten Bedürfnisse zufrieden stellt. Das konsumistische Subjekt tritt so neben das disziplinierte Subjekt, kopiert dessen Arbeitsmoral und transportiert sie in ökonomisch bisher unerschlossene Bereiche. Die profitable Effizienz muss alle Felder der Lebensführung kontaminie-

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ren. Wachstum gelingt, wenn auch die letzte Humanressource erschlossen ist und sich die neue Rationalität endgültig in den Alltagsverstand von Subjekt und Bevölkerung einschreibt. Es etabliert sich ein stabiler konsumistischer Zirkel: „Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder“ (S. 29), wie sie zur Warenförmigkeit erzogen werden und sich selbst erziehen. Die Chronologie der Entstehung der neuen Welt ist dabei sonnenklar. Die technologische Entwicklung bringt mit den Bedürfnissen die Subjekte hervor, die sie verlangen. In einer Welt imaginärer Warenfülle wird der Konsumismus zu einem „Lebensstil“ (S. 32), zu einem Zustand „versklavender Zufriedenheit“ (S. 254), in der sich Gebrauchswert und Nachhaltigkeit, ein Marcuse noch unbekanntes Wort, verlieren. Dies sind frühe Beobachtungen einer sich in Richtung Verdinglichung bewegenden Gesellschaft. Sie machen die longues durées der konsumistischen Mobilisierung begreifbar. Dennoch ist Marcuse in Subjektfragen nichts ferner als ein ahistorischer Automatismus. Jede Subjektivierung vollzieht sich in einer durchdringenden Dialektik. Denn die Befreiung von harter körperlicher Arbeit ermöglicht auch eine Subjektivität, die auf andere Gedanken und Bedürfnisse kommt. Eine solche Situation besitzt stets ein Möglichkeitsfenster: Kontrolle vs. Befreiung, Mobilisierung vs. Befriedung des Daseins. Nichts in der Geschichte ist vorbestimmt. Und vielleicht ist das Datum „1968“ in seinem genealogischen Kern nichts anderes als der Kampf um diese Potentiale, die eigene Existenz mit den anderen solidarisch zu leben. Jahrzehnte vor Richard Sennetts „Der flexible Mensch“ kann Marcuse daher die berechtigte Frage stellen: Kann es ein völlig warenförmiges Individuum geben? Das Überhandnehmen der „Plastic People“ (Frank Zappa) in den 60er-Jahren deutet diese Tendenz an. Der „fortgeschrittene Industrialismus“, wie Marcuse an anderer Stelle sagt, „nimmt es dem Individuum ab, eine autonome Person zu sein: bei der Arbeit, in der Freizeit, in seinen Bedürfnissen und Befriedigungen, in seinem Denken und Fühlen.“ (Marcuse 1984, S. 173) Und auch wenn Marcuse als versierter Dialektiker diese Frage unbeantwortet lassen muss, so lässt er doch die systemischen Möglichkeiten einer Präparation der individuellen Kräfte erahnen, ihre Verwandlung in taxier- und beherrschbare Größen, in Subjekte der Berechnung und des SelbstManagements. Heute hat der Grad an systemischer Subjektivierung Ausmaße angenommen, die Marcuse kaum vorstellbar waren. Was er denken konnte, war zum einen die Rolle des Komplizen, die von den Humanwissenschaften übernommen wird: „Die operationellen Begriffe münden in Methoden verbesserter sozialer Kontrolle ein: sie werden Teil der Wissenschaft der Betriebsführung, Abteilung Menschliche Beziehungen.“ (S. 127) In dieser Hinsicht ist Marcuse ein vorzeitiger Kritiker der neoliberalen Menschenführung, wenn er bemerkt, wie die „managerhafte Denk- und Forschungsweise sich auf andere Dimensionen geistigen Bemühens ausbreitet.“ (S. 130) Zum anderen sah er die sozialen Konsequenzen der technologischen Subjektivierung: „Einsamkeit (. . .) ist technisch unmöglich geworden.“ (S. 91) Niemand ist desintegriert und ausgeschlossen. Alle sind angeschlossen, alle sollen mitmachen. Das Dispositiv aus Versorgung – Kommunikation – Kontrolle – Abrechnung erfasst

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jeden. Einsamkeit existiert nicht, in technischer Hinsicht: Jeder ist eine Ansammlung von Ziffern und Codes. Man ist erreichbar und weiß Bescheid. Auch der Sherpa auf dem Himalaya braucht ein Handy, auch der Todgeweihte im Seniorenstift, besser ein Tablet PC. Aber Einsamkeit in leiblicher und affektiver Hinsicht existiert mehr denn je, da die technische Absorption reale menschliche Begegnungen minimiert. Man geht nur in die Welt, da man muss. Nicht aus freien Stücken. Man kommuniziert, aber hat sich nichts zu sagen. Was auch.

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Metakritik: Umstrittene Kräfte

Das Szenario der konsumistischen Subjektivität besitzt fraglos menetekelhafte Züge. Aber Marcuse ist Dialektiker genug, um die Widersprüche und Risse dieser Subjektformation zu sehen. „Der eindimensionale Mensch“ ist daher kein Fresko einer kafkaesken Welt ohne Ausgang. Marcuse hält die Tür offen. Im Spiel ist die Unterbindung „qualitative(r) Änderung für die absehbare Zukunft“, aber auch „Kräfte und Tendenzen (. . .), die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können.“ (S. 17) Die Widersprüche entfalten ihre eigene Kraft: Ende offen. „Beide Tendenzen bestehen nebeneinander – und sogar die eine in der anderen.“ (S. 17) Marcuse denkt vor den radikalen Bewegungen der 60er-Jahre, d. h. er denkt vor. Er besitzt den Hintergrund der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die subjektive Radikalität ihres Freimuts, ihrer Entschlossenheit, ihrer gewaltfreien Kraft: „Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, dass sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz und Ordnung.“ (S. 267) Es sind aktuelle Erfahrungen, die ihn fragen lassen, ob der „circulus vitiosus durchbrochen“ werden kann: „wie können die verwalteten Individuen – die ihre Verstümmelung zu ihrer eigenen Freiheit und Befriedigung gemacht haben und sie damit auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren – sich von sich selbst wie von ihren Herren befreien?“ (S. 261) Auf diese doppelte Herausforderung – und dies ist wichtig zu betonen: die Befreiung von dem, was man geworden ist, und von den Bedingungen, die einen dergestalt gemacht haben – antwortet Marcuse mit einer Aktualisierung der kritischen Haltung. Gegen die „Selbsterniedrigung und Selbstanklage des Intellektuellen“ (S. 187) setzt Marcuse auf eine Erneuerung der Kritik, die es mit der neuen Wirklichkeit aufnimmt. Es ist ein wenig aus der Mode gekommen, diese Negativität der Kraft des Denkens zu beschwören, merkwürdig genug, denn die „intellektuelle Auflösung, ja Zerstörung der gegebenen Tatsachen ist die historische Aufgabe der Philosophie.“ (S. 199) Marcuses Skandal besteht darin, auf diesem Punkt der Negativität zu bestehen. Es ist von entscheidendem Gewicht, wie man die gesellschaftliche Wirk-

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lichkeit denkt. Ohne eine kritische Haltung kann es keine Philosophie, keine Politik geben. Worauf kann man also setzen bei einer Erneuerung der Kritik? 1. Die Kritik baut an erster Stelle auf die tatsächlichen Widersprüche. Nur die kritische Haltung erkennt die Risse und Unwahrheiten – und das historisch Neue. Es bleibt entscheidend, ob man die Welt affirmativ oder kritisch betrachtet. Man muss nur richtig hinsehen, kann und will man es denn. Wenn „die gegebene Gesellschaftsform das oberste Bezugssystem für Theorie und Praxis ist und bleibt“ (S. 126), sieht man nur Grundordentliches, bestenfalls zu korrigierende Dysfunktionen. Beharrt man auf einem kritischen Blick der Fundamente, wird Affirmation zur Ideologie in dem Maße, wie „die Tatsachen isoliert, atomisiert und innerhalb des repressiven Ganzen befestigt“ (S. 126) werden. Natürlich, die materialistische Kritik bleibt der „unmenschliche(n) Existenz derer (verpflichtet), die die menschliche Basis der sozialen Pyramide bilden – die Außenseiter und die Armen, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen, die verfolgten farbigen Rassen, die Insassen von Strafanstalten und Irrenhäusern.“ (S. 73) Wer sollte es sonst tun? Die materialistische Kritik weiß um die sozialen Kosten. Aber Marcuse geht es um mehr. Er sieht in der Negation stets eine „elementare Kraft“, die neue Wirklichkeiten hervorbringt: „Die Tatsache, daß sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn einer neuen Periode markiert.“ (S. 267) Die Negation ist ein produktiver Akt. 2. Marcuse vertraut der Historizität der Kritik. Er wird nicht müde, zu betonen, dass sie eine Denkweise darstellt, die in dreierlei Hinsicht historisch verwurzelt ist. Zum einen, indem sie die Welt „als ein geschichtliches Universum versteht, worin die bestehenden Tatsachen das Werk der geschichtlichen Praxis der Menschen sind.“ (S. 156) Zum zweiten, indem sie auf der Bedeutung einer kritischen Erinnerung besteht. Sie entfaltet eine eigene Kraft, der die jüngste historische Wirklichkeit der Weltkriege und Massenvernichtungen stets präsent ist (S. 194), nicht als rhetorischer Zierrat, sondern als verpflichtende Tatsache der intellektuellen Praxis. Und dies bedeutet zum dritten, dass das Denken selbst Element der geschichtlichen Prozesse ist, die es reflektiert: „Der Stoff des Denkens ist ein geschichtlicher Stoff.“ (S. 227) Wer der Historizität vertraut, verteidigt im Geschichtsprozess gewonnene Erkenntnisse und Begriffe. Am Todestag von Herbert Marcuse, Helmut Dubiel hat dies geschildert (Dubiel 2010), zerreißt Rudi Dutschke eine lammfromme Presseerklärung und sagt nur ein Wort: „Sklavensprache“. Er verfasst umgehend eine neue, die den Dingen ihren materialistischen Namen gibt. Sich systematisch und permanent der Sklavensprache und Sklaventheorie zu verweigern, neue Worte und erfahrungsgesättigte Begriffe zu erfinden, um alte Kategorien zu kämpfen, sie nicht kampflos denen zu überlassen, die Schindluder betreiben: Marcuses Denkanstrengung lässt sich in dieser Gestalt am besten konzentrieren. Ein neues Bedürfnis muss sich in einer neuen theoretischen Sprache artikulieren. Wo keine neue Worte, da keine neue Welt. 3. Die Kritik als Praxis setzt daher auf die „befreienden Potentialitäten“ (S. 234), die der geschichtliche Prozess hervorgebracht hat, auf die realen, aber nicht-einge-

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lösten Möglichkeiten aktueller Befreiung. Freiheit ist das Eintreten für dieses, was noch nicht ist, aber sein könnte, für das, was aus den Widersprüchen der herrschenden Gegenwart zu erlösen ist. Dornrößchen muss geküsst werden. Nur im Dissens entsteht Emanzipation. Freiheit heißt für Marcuse immer Befreiung, Gleichheit heißt Herstellung sozialer Ebenbürtigkeit, Vernunft die ständige Anstrengung, für gesellschaftliche Bedingungen der „Gleichfreiheit“ zu streiten, wie dies jüngst der französische Philosoph Étienne Balibar genannt hat (Balibar 2012). Marcuse argumentiert daher konsequent vom „beispiellosen Reichtum“ (S. 15) her – kein Elendsdiskurs, keine Jeremiade. Diese theoretische Option macht ihn zum Erfinder der postmateriellen Bedürfnisse. Wobei er sich nicht als Schiedsrichter geriert. Er stellt nur die Tatsache fest, dass die Überwindung des Mangels das grundlegende Fundament bildet, die Fragen der Freiheit angemessen zu stellen. Erst dieser historische Moment erlaubt eine Unterscheidung zwischen „wahren und falschen Bedürfnissen“ (S. 25). Die entfesselte Warengesellschaft beantwortet diese Frage täglich im Sinne der konsumistischen Bedürfnisse, eine Antwort, die im Übrigen nicht von den Individuen gegeben wird, sondern durch die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, die ursächlich die Bedürfnisse hervorbringt. Marcuses Leistung besteht darin, die Frage der Kritik der Bedürfnisse gestellt zu haben. Entscheiden wir, nach Maßgabe der vorhandenen Reichtums- und Freiheitsressourcen, was wahre und falsche Bedürfnisse sind. An keiner Stelle gibt Marcuse eine endgültige Antwort auf diese Frage. Er setzt sie nur auf die Agenda und entreißt sie dem systemischen Selbstlauf. Und vielleicht wird man sich ja verständigen können, dass „diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Elend und Ungerechtigkeit verewigen“ (S. 25), nicht ewig sein sollten. Marcuses Kritik besitzt daher auch diese Prise Unerbittlichkeit, die jedem Konsens misstraut. Konsens ist immer das Sich-Abfinden mit dem, was ist. Jedes Denken, das sich in den herrschenden Verhältnissen einrichtet, wird steril und aggressiv. Im Schulterschluss mit der vermeintlichen Realität verschwinden die Fundamentaltatsachen von Ausbeutung und Herrschaft. Wo beides Unthema ist, herrscht Konformismus. Ein reibungsloses Einverständnis im öffentlichen Raum ist für Marcuse Anlass zu größter Sorge. Wo in der Demokratie Ruhe herrscht, ist tiefstes Misstrauen angesagt. 4. Marcuse setzt auf die historische Dialektik der Subjektivierung. Der berühmte Teufelskreis, in dem die Verhältnisse passförmige Menschen hervorbringen, die ihrerseits die Heteronomie reproduzieren, er existiert. Aber er ist immer nur die eine Seite der Medaille. Historische Umbrüche, in denen eine grundlegende Reorganisation von Sozial- und Subjektstrukturen stattfinden, verlaufen nicht nach Plan. Sie bringen eigensinnige Bewusstseins- und Bedürfnishaushalte hervor, die nicht reibungslos ineinander greifen. Die Kritik Marcuse beansprucht daher eine ausgesprochen existenzialistische Note des subjektiven Willens. Wenn die Menschen die Dinge machen, wenn auch (noch nicht) aus freien Stücken, dann ist eine andere Welt möglich, dann kann man „eine Entwicklung einleiten, die die Geschichte freier Menschen von

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der Vorgeschichte des Menschen unterscheidet.“ (S. 62) Marcuse spricht von einem „geschichtlichen Entwurf“, einer „Wahl“, die in bestimmten Situationen die „Möglichkeit einer qualitativ anderen geschichtlichen Praxis“ (S. 231) eröffnet. Ein historisches Ereignis ist möglich. Die Alternative ist stets im Spiel, und Marcuse hat sie in einem seiner letzten Vorträge deutlich ausgesprochen: „Männer und Frauen können zu Computern computerisiert werden, ja – aber sie können sich dem auch verweigern.“ (Marcuse 2009, S. 176) Diese Negation, und hier unterscheidet sich Marcuse grundlegend von allen Lesephilosophen, ist mit einer Entscheidung für die Lebensführung verbunden: „Das können sie nur, wenn sie unter dem Bedürfnis stehen, ihre Lebensweise zu ändern, das Positive zu verneinen, sich ihm zu verweigern.“ (S. 16) Erst der Wille zur Selbstveränderung garantiert die Wahrheit der Kritik. Was könnte also heute eine „Große Weigerung“ (S. 268) sein? In einer Zeit, in der auch die Kunst, Marcuses große Hoffnung, als Zierrat der globalen Reichenwelt und als Paradigma für die immaterielle Arbeit – eine Tendenz, die Marcuse in der „abstoßende(n) Verschmelzung von Ästhetik und Wirklichkeit“ (S. 259) erahnte – kommodifiziert ist? Es existiert keine andere Antwort auf diese Frage nach freien Menschen als die ständige Frage danach, gefiltert durch die historischen Erfahrungen und die Möglichkeiten der geschichtlichen Situation. Daher rührt Marcuses akribische Aufmerksamkeit für neue Arbeits-, Lebensund Ausdrucksweisen. Eine „qualitative Veränderung (. . .), eine neue Richtung des Produktionsprozesses, neue Weisen menschlichen Daseins“ (S. 14) erschienen ihm dringlicher denn je. Er stritt um „alternative Möglichkeiten, die verfügbaren Ressourcen zu entwickeln“ (S. 233), die „von Menschen“ (S. 234) – natürlich, von wem sonst? – zu ergreifen sind, um „eine neue Technik“ (S. 238), die sich der Destruktivität von Natur und Menschen enthält. Darin blieb er materialistischen Grunderkenntnis treu: „Was nicht stimmt, ist die Weise wie die Menschen ihre gesellschaftliche Arbeit organisieren.“ (S. 159) Und heute? Weiß die materialistische Denkungsart so viel besser, wie eine Gesellschaft Freier und Gleicher aussieht? Die staunenswerte Dürre der Zukunftsentwürfe, irgendwo zwischen Technoidiotien und Verhinderung des Schlimmsten angesiedelt, belegt das Gegenteil. Im Vergleich mit der Morgenröte der industriellen Welt, die einen phantastischen Überschuss an Theoriewelten hervorbrachte, leiden wir unter einer endemischen Phantasielosigkeit. Wir wissen verteufelt wenig, wie Menschen ihre Sozialität jenseits der grassierenden Metaphysik der Technologie anders gestalten könnten.

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Nach Marcuse: Die Zukunft des Konsumismus

Bekanntlich macht sich die Dummheit unangreifbar, indem sie ungeheure Ausmaße annimmt. Die zeitgenössischen Arbeitsregime entziehen sich jeder Frage nach einem Ziel, nach einem Sinn. Wachstum? Damit wir Wachstum kreieren. Produktivität? Damit wir noch produktiver werden. Ideen? Damit sie noch schneller zu Innovationen werden. „Wachstumsbeschleunigungsgesetze“ werden verabschiedet und

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„Abwrackprämien“ verschenkt, ohne dass gelacht wird. Die Zerstörung von Gebrauchswerten wird zur Regierungskunst erklärt. Oder ist der Konsumismus gar ein Krieg gegen den Gebrauchswert? Wenn Konsumismus der Name für die konkret-historische Struktur und Dynamik einer Gesellschaftsformation ist, die alles in Warenförmigkeit überführt, dann ist der Konsumismus nicht am Ende, sondern immer am Anfang. Er steht in voller Blüte und ist bester Gesundheit. Es gibt für ihn global noch viel zu tun. Die Ignoranz gegenüber Marcuse erschwert ein Verständnis dieser Tatsache. Sie erzählt zudem vom Fortschreiten der Affirmation und vom Verlust einer kritischen Haltung, die in Marcuse einen exemplarischen Propheten besitzt. Die geistige Größe seiner Studie beweist sich daher nicht nur in ihrer analytischen Tiefenschärfe. Es ist noch anderes zu bewundern: eine in Vergessenheit geratene Haltung der Unbestechlichkeit und des mutigen Zugriffs auf die Widersprüche. Dieses Denken lässt sich wider besseres Wissen nicht abspeisen mit dem Linsengericht der zugerichteten Fakten. Marcuses Studie trägt ein ernster und selbstbewusster Ton, ein Ton der Klarheit und Konsequenz. Es geht um etwas. Es ist dieser intellektuelle Wille, der heute so anachronistisch erscheint und doch nur völlig abhanden gekommen ist. Es sind nicht nur Erkenntnisse, sondern auch Haltungen verschwunden. Marcuse beweist, wie eng beides verschmolzen ist. Man kann es wenden, wie man will: Ohne das Bedürfnis, die Welt zu verändern, sieht man die Veränderungspotentiale der Welt nicht. „Der eindimensionale Mensch“ ist daher von einer enormen prognostischen Kapazität auch in dem, was fehlt und verfehlt werden musste. Marcuse bleibt der Zeitzeuge seines historischen Augenblicks, wenn auch ihr schärfster Kritiker. Seine Studie besitzt eine unvermeidbare Schwäche. Sie ist ein Kind des Kalten Kriegs und des Konsumismus seiner Zeit. Marcuse geht in der Phänomenologie der konsumistischen Matrix der US-Gesellschaft der frühen 60er-Jahre auf. Ihm fehlt eine historische Achse. Marcuse kann sich schwerlich eine Steigerung von Integration und Servilität vorstellen. Tatsächlich intensiviert sich die Verdichtung der sozialen Felder in der konsumistischen Totalität, wie sich ihr Zugriff auf die Subjektivitäten erweitert. Diese Matrix hat eine Geschichte. Marcuses Arbeit ist ein Echolot aus den Anfängen der konsumistischen Matrix. In der Entfaltung der Tendenzen, die ihrem Wachstum Vorschub leisten, ist sie eine hellsichtige Bestandsaufnahme. Aber die Geschichte dieser Matrix ist unabschließbar, sie dauert an. Einige Entwicklungen sind mit Marcuse beschreibbar. 1. Die Massivität der konsumistischen Mobilisierung hat die Tendenzen in Strukturelemente verwandelt. Es hat tatsächlich ein Sprung über die Quantität in die Qualität hinein stattgefunden. Der systemisch-technische Zugriff auf alle Bereiche des Lebens ist zu einer Normalität geworden, die sich jeder grundlegenden Reflexion entzieht und sich jede Infragestellung verbietet. „Mit anderen Worten, die Technik ist zum großen Vehikel der Verdinglichung geworden – der Verdinglichung in ihrer ausgebildetsten und wirksamsten Form.“ (S. 183) Marcuse konnte sich schwerlich Zustände ausmalen, die den heutigen Alltag regieren: dass schon im Mutterleib die Erziehung zur Employability beginnt,

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dass Neuroenhancement die physiologischen Kräfte dauermobilisiert, dass die Wissenschaften produktivistische Agenturen werden, dass die Politik zur Agency der globalen Konzerne und Finanzmärkte wird. Aber er wusste vor der Zeit: „Auf dieser Stufe wird klar, daß etwas mit der Rationalität des Systems selbst nicht stimmen muß.“ (S. 159) Die konsumistische Normalisierung verfügt über eine beständig erweiterbare Palette an Technologien und Instrumenten, an Akteuren und Strategien, die das Leben als Geschäft regulieren. Der Konsumismus ist zur alltäglichen Wirklichkeit wie zur globalen Ideologie geworden. 2. Auf dem Vormarsch ist die soziale Verdichtung von Produktions- und Zirkulationssphäre, sowohl in der Regierung der globalen Produktion wie der Selbstregierung der Subjekte. Die Zuchtmeister der Employability kennen keine Differenz zwischen der Welt der Menschen und der Dinge. Die traditionelle Trennung von Arbeits- und Freizeit ist eine ferne Erinnerung. Der neue Arbeiter ist immer erreichbar, im Realen wie im Imaginären. Schon Marcuse beobachtete die „Auslieferung des Schlafzimmers an die Kommunikation der Massenmedien“ (S. 39). Heute werden qua Bio-Monitoring im Schlaf Daten erhoben, um das Leistungsprofil zu bestimmen und zu optimieren. Auch das Unbewusste muss dem Wachstum dienen. Der neue Arbeiter ist der zeitgenössische Arbeitskraftunternehmer und der arbeitende Kunde, die zwei Seiten einer Medaille. Vor allem die Verschmelzung des Kunden mit dem ökonomischen Getriebe hat Ausmaße erreicht, die auch einer kühnen Phantasie in den 60er-Jahren kaum vorstellbar waren. Scooring, Neurokonsumforschung, Prosuming, Behaviour Scan, Konsumergenome: die Möglichkeiten der Erfassung sind Legion, denn „Ihre Meinung ist uns wichtig!“ Die neuesten Technologien sind wahre Wunder der Selbst-Auslieferung. Digitale Aufzeichnungssysteme rekonstruieren über den Energieverbrauch Tätigkeitsprofile und bestimmen zukünftige Bedürfnisse. Ortungssysteme sondieren Mobilitäten, Tagesabläufe und Sozialkontakte. Und da die Technologie schon da ist, überwachen Self-Trader und die Quantified-Self-Bewegung sich selbst. Man erstellt frohen Herzens Profile zur systemischen Verwendung. Die App und der implementierte Chip ergänzen die protestantische Ethik. Das konsumistische Subjekt hat nicht nur nichts zu verbergen, es will sich ständig optimieren und auf dem Laufenden sein. Das fortschreitende Arrangement der Subjektivität steht auf der Agenda des zeitgenössischen Industrialismus an erster Stelle und bringt eine neue Qualität des Subjekt-Objekt-Verhältnisses hervor. Indem die Verwertungszugriffe bis in die physiologischen Nanostrukturen des Bios und die neurologischen Grundlagen des Unbewussten reichen, konstituiert sich ein Subjekt, das in seiner Wunschpolitik nicht nur der Exekutor dieser Tendenzen ist, sondern als Produzent-Konsument dessen zentraler Adressat (exemplarisch zu diesen Prozessen: Stiegler 2010). Der zeitgenössische Industrialismus herrscht nicht nur, weil er als das einzig Denkbare erscheint. Er herrscht, weil er das Begehren als zentralen Einsatzort seiner Hegemonie einverleibt hat. Die Introjektion ist tatsächlich zur Mimesis geworden, zu einer aktiven Mimesis, die zunehmend das begehrt, was sie in der Rolle des konsumistischen Subjekts fesselt. Im Ergebnis entsteht eine

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Konstellation, in der sich die Reproduktion des biopolitischen Kapitalismus umso reibungsloser vollzieht, als sie auch auf der Basis eines neuen gesellschaftlichen Unbewussten funktioniert. Das Kerngelenk der konsumistischen Kultur, der „Zirkel aus Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt“ (Horkheimer und Adorno 1987, S. 145), lebt in steigerbarem Maße von den Wunschpotentialen der konsumistischen Subjekte. 3. Marcuse hat vor der Zeit die systematische Einbindung der Wissenschaften in das ökonomische Getriebe diagnostiziert. Die Regression der Natur- und Technikwissenschaften zu Innovationsmotoren hätte ihn nicht überrascht, wohl aber die neue Servilität der Humanwissenschaften, der Verlust an kritischer Kraft der Sozial- und Geisteswissenschaften. In der „Gesellschaft der totalen Mobilisierung“ (S. 39) hat der Geist nicht nur zu parieren. Er hat das Menschenmaterial zu präparieren, damit technische Lösungen und zugerichtete Subjektivitäten verschmelzen und Subjektives nicht zu neuen Problemen führt. Heute wird das Verhalten hirntechnisch observiert, psychologisch normalisiert, sozialtechnisch implementiert, medial choreographiert, um den neuen Menschen zu glücklicher Produktivität zu stimmen. Die Verschweißung von Menschenmanagement, Verhaltensökonomie und Konsumentenforschung hat Macht-WissensKomplexe hervorgebracht, in denen der konsumistische Zirkel regiert: Subjektivitäten werden produziert, um den Konsum zu stimulieren, der die Produktion vorantreibt, um den Konsum zu optimieren. Geo- und Social-Engineering bilden einen Block. Der Vorwurf der politischen Naivität greift hier zu kurz. Es existiert kein eigensinniges Bewusstsein in den Wissenschaften, obwohl die humanwissenschaftliche Durchdringung der Lebenswelten umfassende Dimensionen erreicht hat. Sie schreibt sich in das Alltagsverhalten und den Alltagsverstand in einer Weise ein, die ein Entrinnen kaum erlaubt. Sie liefert die Leute einer ständigen Verunsicherung und Unsicherheit aus, einem „Zustand unaufhörlicher Mobilisation“ (S. 38) der Kampagnen und Anrufungen, endlich die Herausforderungen zu sehen: Du bist die Chance und das Problem. Die Leute werden sich selbst und untereinander zu ihren größten Feinden. Denn von der Wertschätzung zur Wertschöpfung ist nicht nur ein kleiner Weg, dieser wird zunehmend zur ultimativen Begegnungsform. Marcuses Kritik des eindimensionalen Denkens hat daher wenig an Überzeugungskraft verloren. Sie ist in der grundlegenden Diagnostik unserer Wirklichkeit weiter als vieles, was danach kam. Aber vielleicht darf man auch nicht zu viel von einer Welt erwarten, in der Lehrstühle zum Human Resources Management wie Pilze aus dem Boden schießen. Natürlich, vieles muss fehlen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Das digitale Dispositiv – das Internet der Dinge, Big Data, Industrie 4.0 – ist gerade auch in seiner subjektkonstituierenden Funktion von immenser Kraft. Die Finanzmärkte als jüngstes Kind der technologischen Gesellschaft wären ein zweites Feld. Hier verifiziert sich eine zentrale These der kritischen Theorie. Die rasende instrumentelle Vernunft hat sich scheinbar autonomisiert. Es herrscht die Selbstläufigkeit eines

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Getriebes, das sich jeder rationalen Kontrolle entzieht. Es ist die klassische Situation des Zauberlehrlings, dem der Meister abhanden gekommen ist. Marcuses Kernthese, dass die Verkettung von Produktivität/Profit und Subjektformierung das Erfolgsgeheimnis des Konsumismus ausmacht, gilt heute mehr denn je. Sein Betriebsgeheimnis, dass unter konsumistischen Verhältnissen die Unterwerfung der Natur die der Menschen einbezieht und der Ausstoß an Waren mit dem Ausschluss von Freiheiten einhergeht, verrät sich täglich zur Kenntlichkeit. Eine neue Kritik der gesellschaftlichen Bedürfnisse erscheint umso dringender, als der globale Konsumismus seine Reproduktion und Legitimation über die permanente Erfindung „innovativster“ Bedürfnisse vollzieht. Niemals wurde mehr Verschleiß und Abfall produziert als heute und dies an den elementaren Bedürfnissen der nach Milliarden zählenden Verdammten dieser Erde vorbei. Hier wäre tatsächliches Wachstum zu wünschen. Das Bestürzende des zeitgenössischen Denkens ist das Verharren in technologischen Dystopien, die diese Verhältnisse fortschreiben. Dagegen plädierte Marcuse lange vor jeder Debatte zur Entschleunigung für technologische Abrüstung, hoffte auf ein „Zur-Ruhe-Kommen der repressiven Produktivität der Vernunft, auf das Ende der Herrschaft im Genuß.“ (S. 181) Im Zeitalter von Employability und Prekarität klingt seine Forderung geradezu phantastisch: „Wäre das Individuum nicht mehr gezwungen, sich auf dem Markt als freies ökonomisches Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von Freiheit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation.“ (S. 22) Marcuses konkrete Utopie wagt man heute kaum in den Mund zu nehmen: „So würde ökonomische Freiheit Freiheit von der Wirtschaft bedeuten – von Kontrolle durch ökonomische Kräfte und Verhältnisse; Freiheit vom täglichen Kampf ums Dasein, davon, sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Politische Freiheit würde die Befreiung der Individuen von der Politik bedeuten, über die sie keine wirksame Kontrolle ausüben. Entsprechend würde geistige Freiheit die Wiederherstellung des individuellen Denkens bedeuten, das jetzt durch Massenkommunikation und -schulung aufgesogen wird, die Abschaffung der „öffentlichen Meinung“ mitsamt ihren Herstellern.“ (S. 24) Man zittert bei der Lektüre dieser Zeilen. Marcuses Studie bündelt sich letztlich in der Frage: Ist der Konsumismus, dieses vorerst letzte Stadium des Industrialismus, das Schicksal der Gattung? Heute scheint er alle Kräfte und jeden Konsens auf seiner Seite zu haben. Die „Ontologie des Profits“ (Alain Badiou) regiert uneingeschränkter denn je. Was bleibt also von der Position, „daß der Mensch mehr sein kann als ein verwertbares Subjekt im Produktionsprozeß der Klassengesellschaft“, die Marcuse in seinem programmatischen Aufsatz „Philosophie und kritische Theorie“ einnimmt? (Marcuse 1971, S. 121) Was bleibt von der These gültig: „Das Leben als Zweck ist qualitativ verschieden vom Leben als Mittel“ (S. 38)? Die materialistische Denkungsart besitzt als Unterpfand nur die historischen Erfahrungen und die Wirklichkeit der Widersprüche. Marcuses Studie endet mit einem nicht verhandelbaren Versprechen. Die kritische Theorie will „jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der Großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.“ (S. 268) Mehr denn je bräuchten wir Herbert Marcuses. Man kann diese

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Menschen nicht hervorzaubern. Aber man kann bezeugen: Diese geistige Arbeit hat es einmal gegeben. Aber vielleicht? Joachim Zelter beginnt seinen Roman „Untertan“ mit dem Zitat: „Daß das menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht werden kann und sollte.“ Zu finden in „Der eindimensionale Menschen“ auf Seite 12.

Literatur Adorno, Th. W. (2003). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Balibar, É. (2012). Gleichfreiheit. Berlin: Suhrkamp. Derrida, J. (2006). Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dubiel, H. (2010). Marcuses Asche. Leviathan, 38, 269–290. Foucault, M. (2004). Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freytag, T. (2008). Der unternommene Mensch. Eindimensionalisierungsprozesse in der gegenwärtigen Gesellschaft. Weilerswist: Velbrück. Horkheimer, M., & Adorno, Th. W. (1987). Dialektik der Aufklärung. In M. Horkheimer (Hrsg.), Gesammelte Schriften (Bd. 5). Frankfurt a. M.: Fischer. Kraushaar, W. (2004). Die Revolte der Lebenstriebe. In H. Marcuse (Hrsg.), Die Studentenbewegung und ihre Folgen (Nachgelassene Schriften, Bd. 4, S. 15–25). Lüneburg: zu Klampen. Marcuse, H. (1967). Der eindimensionale Mensch. Neuwied/Berlin: Luchterhand. Marcuse, H. (1970). Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers. In Kultur und Gesellschaft 2 (107–129). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H. (1971). Philosophie und kritische Theorie. In Kultur und Gesellschaft I (102–127). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H. (1984). Das Individuum in der Great Society (1966). In Schriften (Bd. 8, S. 167–193). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H. (2009). Ökologie und Gesellschaftskritik. In Nachgelassene Schriften (Bd. 6, S. 165–179). Lüneburg: zu Klampen. Montanari, M. (1993). Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München: Beck. Müller, T. B. (2010). Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg. Hamburg: Hamburger Edition. Perec, G. (1965). Die Dinge, Bremen 2001: Manholt Verlag (Paris 1965). Resch, C., & Steinert, H. (2003). Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse. In A. Demirović (Hrsg.), Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Tradition und Perspektiven der Kritischen Theorie (S. 312–339). Stuttgart: Metzler Verlag. Sombart, W. (1906). Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? Tübingen: Mohr. Stiegler, B. (2010). Hypermaterialität und Psychomacht. Zürich: Diaphanes. Zelter, J. (2012). Untertan. Tübingen: Klöpfer und Meyer Verlag.

Die widersprüchliche Einheit von Bewusstsein und Revolte Zur Befreiung des Menschen bei Herbert Marcuse Zvi Tauber

Zusammenfassung

Herbert Marcuse begnügt sich nicht mit einer theoretischen Erschließung des sozio-politischen Seins, sondern ruft rigoros zum qualitativen Wandel des Menschen, seiner Gesellschaft und seiner Welt insgesamt auf – ein Aufruf zur Befreiungsrevolution im Marxschen Sinne. Wie kann man aber praktisch zur Befreiung der Welt aufrufen und entsprechend handeln, wenn man diese Welt wissenschaftlich-philosophisch als „eindimensional“ interpretiert, d. h., als ein sozio-politisches Sein, das nicht nur imstande ist, die gegen es gerichtete Aktivität zu neutralisieren, sondern eine solche Aktivität gar in eine „positive“, das Bestehende affirmierende zu verwandeln? Der Widerspruch lässt sich vermeintlich durch die Deutung der Theorie Marcuses von der Befreiung des Menschen als „utopistisch“ oder als Ausdruck eines „hoffnungslosen Pessimismus“ oder etwa durch die Unterscheidung zwischen zwei widerstreitenden Elementen in Marcuses Persönlichkeit aufheben: zwischen dem Sozialwissenschaftler Marcuse, der die Welt als „eindimensional“ begreift, einerseits und Marcuse, dem Revolutionär, der zur Befreiungsrevolution aufruft, andererseits. Im vorliegenden Artikel wird gegen die Aufhebung des Widerspruchs argumentiert. Demgegenüber wird der Versuch unternommen, den Widerspruch im Sinne der Auffassung des Absurden bei Albert Camus zu verstehen, der zu Folge die Revolte die unmittelbare aus ihr zu ziehende Konsequenz sei.

Dieser Artikel ist zum großen Teil eine überarbeitete Zusammenfassung meines Buches: Befreiung und das „Absurde“: Studien zur Emanzipation des Menschen bei Herbert Marcuse; Gerlingen, Bleicher Verlag, 1994, 2002. Er wurde für dieses Handbuch aus dem Hebräischen Original übersetzt von Moshe Zuckermann. Z. Tauber (*) Philosophy Department, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_75

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Schlüsselwörter

Kritische Theorie, Herbert Marcuse, Historischer Materialismus · Befreiung des Menschen · Marx, die „11. Feuerbach-These“ · Spätkapitalismus · Eindimensionalität · Freiwillige Sklaverei · Albert Camus · Das Absurde

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Einleitung

Der Marxismus weist zwei ineinander verzahnte Ebenen auf: Wissenschaft und Befreiungslehre. Obgleich die Unterscheidung zwischen ihnen recht künstlich ist, mag sie eine gewisse Fokussierung des hier erörterten Themas erbringen. Die eine Ebene enthält eine philosophische Anthropologie und historische Soziologie, welche im Wesentlichen die Frage zu beantworten trachten, was der Mensch im Allgemeinen, was er in den jeweiligen historisch-spezifischen Epochen und was der „gegenwärtige“ Mensch im Besondern sei. Die andere Ebene bietet eine Emanzipationstheorie an, die – anhand der philosophischen Prinzipien und der sozioökonomischen historischen Analyse der ersten Ebene – die Bedingungen aufzuzeigen bestrebt ist, unter denen der Mensch sich selbst von dem der kapitalistischen Besitzgesellschaft geschuldeten repressiven Sein zu befreien vermag. Diese Ebene des Marxismus ist nicht nur deskriptiv und analytisch, sondern auch normativ ausgerichtet; sie beinhaltet das Postulat des gesellschaftlichen Befreiungskampfes. Marx zufolge kann das sowohl philosophische als auch praktische Problem der Befreiung des Menschen seine umfassende Lösung nur in einer wissenschaftlichphilosophisch angeleiteten, emanzipativ-revolutionären Praxis im sozio-politischen Sein finden. So heißt es bereits im ersten kommunistischen Artikel aus seiner Feder: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen [. . .]. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie“. (Marx [1844]/1981, S. 391)

So gesehen, meinte die „11. Feuerbach-These“ – „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ (Marx [1845, 1888]/1981, S. 535) – nicht die Unnützigkeit, mithin Überflüssigkeit einer „Interpretation der Welt“, sondern dass, im Gegensatz zu Auffassungen verschiedener hegelianischer Philosophen, das bloße, wie immer aufgeklärte, wissenschaftlich-philosophische Denken ohne revolutionäre Praxis keine ausreichende Bedingung für die emanzipatorische Veränderung des sozio-politischen Seins darstelle. Vom Standpunkt des wissenschaftlich-philosophischen Denkens hingegen muss die Welt begriffen und interpretiert werden, um sie verändern zu können. Der Marxschen Lehre von der Befreiung des Menschen verpflichtet, fragte Georg Lukács im (1919 entstandenen) ersten Aufsatz der Sammlung „Geschichte und Klassenbewußtsein“, was der „orthodoxe Marxismus“ sei. In seiner Antwort verneinte er prinzipiell jedes Festhalten an spezifischen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen, zu denen Marx in seinen Forschungen gelangt war, als seien

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sie Dogmen der Heiligen Schrift. Diese Schlussfolgerungen können sich historisch als falsch erweisen, daher – hob Lukács hervor – müssen wir sie (unter der möglichen Bedingung der Veralterung) abweisen und statt ihrer neue, von der wissenschaftlichen Forschung erbrachte richtigere Schlussfolgerungen annehmen (Lukács [1923]/1968, S. 52–53). Dies freilich (wie sich seinen Darlegungen, die im Folgenden erklärt werden sollen, entnehmen lässt) unter ungebrochener Treue der Marxschen Befreiungslehre gegenüber, mithin ohne in irgendeiner prinzipiellen Hinsicht aufzuhören, „Marxisten“ zu sein. Die fehlende Übereinstimmung und die Widersprüche zwischen den Schlussfolgerungen, zu denen Marx und Engels in ihren Forschungen gelangt waren (Schlussfolgerungen, die sich im Verlauf der Jahrzehnte „verfestigten“ und zu starren Grundlagen einer marxistischen „Wissenschaft“ gerannen), und der historischen Wirklichkeit, deren Entwicklungen wir im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert verfolgen können, veranlassten gewisse marxistische Denker, diese theoretischen Grundlagen zu verlassen, verändern, korrigieren, erweitern und auf den neusten Stand zu bringen, womit sie denn praktisch verwirklichten, was Lukács (seinerzeit nur prinzipiell) postuliert hatte, namentlich die intellektuelle Pflicht des „orthodoxen Marxisten“ angesichts möglicher Veralterung gewisser Grundlagen der Marxschen Theorie. In diesem Zusammenhang sei hier in erster Linie Denken und Forschung der Vertreter der Frankfurter Schule seit Beginn der 1930er-Jahren hervorgehoben – philosophische und andere wissenschaftlichen Werke und Forschungen von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Franz Neumann, Leo Löwenthal u. a. Gleichwohl wusste sich die Position, die Lukács im Hinblick auf die Frage des „orthodoxen Marxismus“ vertrat, sosehr sie spezifischen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen von Marx die dogmatische Treue prinzipiell verweigerte, umso rigoroser der Marxschen „Methode“ der Ergründung historischer Prozesse verpflichtet. Diese verweise auf eine dialektische Entwicklung, in welcher sich der Mensch selbst – vor dem Hintergrund einer qualitativen Steigerung des Stands der Produktionskräfte – bewusst, ausgerichtet und willentlich vom getriebenen Objekt der Geschichte zum wirklichen Subjekt seiner Lebensrealität, zum aktiven Träger der Geschichte verwandeln soll. Diese marxistische Auffassung des menschlichen Befreiungsprozesses scheint historisch mitnichten veraltet zu sein, obwohl die bestehende Realität ihre positive Verwirklichung nicht beweist. Die Treue dieser „Methode“ gegenüber ist es, Lukács zufolge, die dem „Marxisten“ das Festhalten an seiner grundlegenden Anschauung ermöglicht, und zwar selbst dann, wenn er obsolete spezifische wissenschaftliche Feststellungen in Marxens ursprünglicher Theorie intellektuell negiert (Lukács [1923]/1968). Was ist die Grundlage der Bestimmung von Geschichte in der Marxschen Theorie? Die Grundlage der Determination in der Geschichte manifestiert sich, diesem Denken zufolge, in der naturbehafteten wie gesellschaftlichen Notwendigkeit, Bedürfnisse der menschlichen Existenz zu befriedigen, also in den materiellen Lebensbedingungen der Menschen, d. h., sie befindet sich in der „Basis“ des im Historischen Materialismus so aufgefassten gesellschaftlichen Systems (Marx und Engels [1845]/1981, S. 20–21, 26–27; Marx [1859]/1981, S. 8–9). Die Geschichte

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aber (vor allem die Geschichte der Befriedigung der menschlichen Existenzbedürfnisse) ist bei Marx nicht statisch, sondern dynamisch, ein sich dialektisch entfaltender, fortschreitender Prozess. Der historische Progress zeigt sich prägnant in der Entwicklung der Produktionskräfte, d. h., in der Steigerung der objektivrealen Möglichkeiten der Befriedigung von menschlichen Existenzbedürfnissen. Daraus ergibt sich, dass die Grundlage des Determinismus als solcher sich prinzipiell zunehmend „abschwächt“; die Determinationskraft in der Geschichte verringert sich historisch infolge der Entwicklung der Produktionskräfte, je mehr sich die realen Möglichkeiten, die menschlichen Existenzbedürfnisse zu befriedigen, erweitern, mithin sich die objektive Bedingung zur Befreiung des Menschen erfüllt. Da sich der Mensch durch Bewusstsein, zweckgerichtetes Denken und Willen auszeichnet (und nur in diesem Sinne begreift Marx die Arbeit als Arbeit des Menschen) (Marx [1844]/1968, S. 516–517; Marx ([1867]/1984, S. 192–193), ist auch klar, warum der in der Menschheitsgeschichte wirkende Determinismus nie absolut bzw. verhärtet war. Da aber der Mensch immer materielle Existenzbedürfnisse haben wird, ist andererseits auch klar, dass der Determinismus nie gänzlich überwunden werden kann, auch dann nicht, wenn das „Reich der Freiheit“ eintreten wird, das ja, nach Marx’ eigenen Worten, in jedem Fall auf dem „Reich der Notwendigkeit“ gründet (Marx [1894]/1984, S. 828). Die (relative, mithin dialektische) Aufhebung des Determinismus in der Geschichte, die Verringerung der den Wandel im menschlichen Sein bedingenden Notwendigkeit, kann, so besehen, als eine sich in eine neue Qualität verwandelnde quantitative Entwicklung verstanden werden. Dies darf im Grunde als der wichtigste historische Wandel angesehen werden, seitdem Marx und Engels Mitte des 19. Jahrhunderts das Paradigma des „wissenschaftlichen Sozialismus“ und der verschiedenen sich von ihm ableitenden Postulate aufgebracht haben. Im historischen Hier-und-Jetzt, in welchem die menschlichen Existenzbedürfnisse prinzipiell befriedigt werden und der Entwicklungsprozess, wie dargelegt, aufhört, sich nur unkontrollierbar deterministisch zu gestalten, nimmt der subjektive Faktor der Befreiungsrevolution, d. h. die emanzipativ-revolutionäre Aktivität der Menschen, die sich als eine sich ihrer selbst bewusste, zweckgerichtete und willentlich bestimmte Aktivität zu vollziehen hat, einen entscheidenden Stellenwert ein. Es scheint demnach, dass es unter den fortgeschrittenen historischen Bedingungen keine objektive Garantie „mehr“ für die Befreiung des Menschen gibt. Ernst Bloch sagte in diesem Zusammenhang: „In sich selbst als hoffende Hoffnung durchaus entschieden, muß doch der Ausgang selber erst noch entschieden werden, in offener Geschichte, als dem Feld objektiv-realer Entscheidung. Das ist die Kategorie der Gefahr oder der objektiven Ungarantiertheit auch der vermittelten, der docta spes [gelehrten Hoffnung]; es gibt noch keine unschwankende Situationslosigkeit eines fixes Resultates“.

Dem fügte er noch die Einsicht hinzu: „Optimismus ist daher nur als militanter gerechtfertigt, niemals als ausgemachter“ (Bloch 1973, S. 16–24).

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Herbert Marcuse (1898–1979) ist als einer der kritischen Denker des 20. Jahrhunderts und als einer der bedeutendsten und umstrittensten unter ihnen bekannt. Seine Kritik umfasste das gesamte gesellschaftliche Sein, seine historische Wirklichkeit wie seine ideellen Aspekte – Philosophie, Soziologie, Psychologie und Kunst. Die Quellen seines Denkens sind in den Traditionen der westlichen Kultur im Allgemeinen und ihren philosophischen Traditionen im Besonderen verankert. Marcuses Erörterung des Problems der menschlichen Emanzipation – seines hauptsächlichen intellektuellen Anliegens – durchzieht wie ein Leitfaden sein gesamtes denkerisches Werk, angefangen in den 1920er-Jahren bis hin zu seinen letzten Schriften am Ende seines Lebens. Sie basiert im Wesentlichen auf drei Elementen: Hegels dialektischer Philosophie, dem Marxschen Historischen Materialismus und der Freudschen Metapsychologie. Die (relative) Originalität von Marcuses Erörterung des Problems der menschlichen Emanzipation lässt sich nicht zuletzt an der Synthese erkennen, die er zwischen diesen drei Elementen zu schaffen trachtet: der hegelianischen Deutung des Marxschen Historischen Materialismus und der hegelianisch-marxischen Deutung der Freudschen Trieblehre. Gleichwohl begnügt sich Marcuses intellektuelle Tätigkeit nicht mit einer denkerischen „Interpretation der Welt“, sondern sie ist auch emphatischer Aufruf zur qualitativen Veränderung des Menschen, seiner Gesellschaft und seiner Welt – ein Aufruf zur kommunistischen Befreiungsrevolution im Sinne Marx’. Wie seinerzeit der Vater des „wissenschaftlichen Sozialismus“ bestand auch Marcuse wiederholt darauf, dass das vermeintlich philosophische Problem der Befreiung des Menschen sich einzig in der konkreten Befreiungspraxis wird lösen lassen; zugleich dachte er aber, dass die interpretative, auf einer kritischen Analyse der objektiven Tendenzen der bestehenden Gesellschaft basierenden Theorie der Welt das Wesen der revolutionären Tat zu beleuchten und die Aussicht auf ihren Erfolg zu bestimmen vermag. Marxens „11. Feuerbach-These“ meinte, auch Marcuse zufolge, nicht die Unnützigkeit, mithin Überflüssigkeit einer Interpretation der Welt; im Gegenteil, man müsse die Welt verstehend interpretieren, um sie verändern zu können. Mehr noch: Der Marxschen Methode verpflichtet und der „Kritischen Theorie“ im allgemeinen treu, hob Marcuse seit Beginn seiner Zusammenarbeit mit anderen Vertretern der „Frankfurter Schule“ hervor, daß die theoretisch-revolutionäre Interpretation der Welt die faktischen Tendenzen der bestehenden Realität auf keinen Fall ignorieren dürfe, wenn die revolutionäre Theorie nicht zur puren „idealistischen Philosophie“ regredieren soll; zugleich aber dürfe sie das faktisch Bestehende nicht als letzte Wahrheit heiligen, um nicht zum „zufriedenen Positivismus“ zu gerinnen und ihren revolutionären Charakter zu verlieren (Marcuse [1937]/1979, S. 227–235; Marcuse [1967]/1989, S. 16–17). Die Erörterung der Befreiung des Menschen, wie sie sich Marcuses Schriften vor dem Hintergrund seiner theoretischen Interpretation der Welt (explizit und implizit) entnehmen lässt, hat ihr Besonderes darin, dass sie sich (zumindest unmittelbar) nicht dazu eignet, „operative“ Antworten zu liefern, sondern in erster Linie prinzipielle Antworten beansprucht; d. h., sie beantwortet zunächst nicht die „operative“ Frage, wie der Mensch befreit werden bzw. sich selbst befreien wird, sondern befasst sich zuvor mit der Frage: Wie ist die Befreiung des Menschen möglich?

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Der „eindimensionale“ Mensch, prononcierter Inhalt der marcusianischen Interpretation der Welt, wird von ihm als „freiwilliger Sklave“ begriffen – ein Sklave aus freien Stücken; (Das prinzipielle Problem der Befreiung des freiwilligen Sklaven erscheint schon in der Bibel: Exodus 21 (15); Deuteronomium 15 (16)). Seine Befreiung wird hier als ein prinzipielles Problem gesehen, da die Bedingungen seiner Unterwerfung auch die Negation der inneren Vorbedingung ihrer Negation impliziert; sie beinhalten die Negation des Bewusstseins des „Sklaven“ davon, dass er der Repression unterworfen ist, mithin die Negation seines eigenen Willens zur Freiheit und seines subjektiven Bedürfnisses nach ihr. Meine folgenden Ausführungen zur Marcuses Auffassung der Befreiung des Menschen sind bestrebt, den Konnex zwischen seiner Weltinterpretation und seinem Aufruf, die Welt revolutionär zu verändern, d. h., den Konnex zwischen den beiden Teilen der „11. Feuerbach-These“ in seinem gesamten intellektuellen Werk, mithin das Verhältnis zwischen Marcuse, dem die Gesellschaft theoretisch interpretierenden Sozialwissenschaftler, und Marcuse, dem Sozialrevolutionär. Wie noch zu zeigen sein wird, folgt der dezidierte Aufruf zur revolutionären Veränderung der Welt in Marcuses Denken nicht als eine praktisch-zweckhafte Schlussfolgerung aus seiner Deutung der Welt. Das Verhältnis zwischen dem ersten Teil der „11. These“ und ihrem letzten Teil ist hier nicht von ungefähr als das klassische Verhältnis zwischen den Prämissen des „praktischen Syllogismus“ (im Rahmen eines practical reasoning) und der aus ihm gezogenen Schlussfolgerung, die sich direkt aus den Prämissen ableiten und auf die Praxis verweisen soll, anzusehen. Daher wird der vorliegende Artikel darauf hinauslaufen, Marcuses Aufruf zur Weltveränderung im Hinblick auf die ihm eigene Weltinterpretation als Manifestation des „Absurden“ (in seiner spezifischen Bedeutung bei Albert Camus) zu verstehen. Im Folgenden seien einige prinzipielle Probleme in Marcuses Erörterung der Frage der menschlichen Emanzipation dargelegt. Hervorzuheben ist dabei, dass zusätzlich zu den hier erörterten Problemen der marcusianische Diskurs zwei weitere Bereiche enthält, deren erschöpfende Darlegung gesonderte Aufsätze erfordern würde: zum einen Freuds metapsychologische Erörterung der menschlichen Emanzipation, zum anderen die Erörterung des emanzipatorischen Charakters von Kunst. Diese werden hier fast völlig ignoriert, obgleich sie für unerlässlich zum Verständnis des Problems und seiner umfassenden Tragweite erachtet werden müssen.

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Die Eindimensionalität

Die Auffassung der Eindimensionalität als einer historisch-spezifischen besagt im Wesentlichen, dass in der Gesellschaft des Spätkapitalismus, offenbar im Gegensatz zu anderen früheren Gesellschaften mit einem niedrigeren Entwicklungsstand der Produktionskräfte, das gesellschaftliche Negationspotenzial neutralisiert, diese Gesellschaft somit gegen einen qualitativen Wandel, eine Befreiungsrevolution, „immunisiert“ sei. Diese Auffassung lässt sich prinzipiell auf der Basis der marxistisch modifizierten Hegelschen Dialektik verstehen. Dieser Dialektik zufolge birgt jedes „bestehende“ menschliche (soziale-politische-historische) System – aus der

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Entwicklung seiner immanenten Bedürfnisse heraus – seine eigene Aufhebung in sich, d. h., die aus ihm hervorbrechenden Kräfte, die eine rationaleres, freieres und letztlich menschlicheres Sein konstituiert. Eine solche immanente dialektische Negation erscheint historisch als materielle, ideelle und psychische, objektive und subjektive gesellschaftliche Kräfte, die sich zunächst kraft ihrer Unabdingbarkeit für das bestehende System entwickeln, aber in einer bestimmten Phase ihrer objektiven Entfaltung ihrerseits eigene spezifische Bedürfnisse und Bestrebungen entwickeln, gegen deren Verwirklichung das bestehende System sich stellt, da es diese nicht mehr zu befriedigen vermag, ohne die für seine eigene Existenz unentbehrlichen Interessen zu schädigen; daher wird es von diesen neuen sozialen Kräften als ein repressives System empfunden. Nach Marx sollen diese selbstständigen Bedürfnisse dem sozialen Dasein der Menschen, der realen Subjekte dieser Bedürfnisse, und ihrem Bewusstsein von dieser Lebenswirklichkeit, mithin ihrer repressiven Situation im Rahmen des bestehenden Systems entstammen. Die „Zweidimensionalität“ bzw. die „Vieldimensionalität“ bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem Dualität und widersprüchlichen Antagonismus zwischen den Kräften, die (direkt oder indirekt) für den Erhalt des gesellschaftlichen Systems, und jenen, die (freilich auch als ihm immanent) für dessen Negation kämpfen (Marcuse [1932]/1989, S. 79–80; Marcuse [1936]/1979, S. 64, 68–69; Marcuse [1967]/1989, S. 141 ff., 156–157). Das deutliche historische Beispiel für die gesellschaftliche Erscheinung einer immanenten Negation (im Rahmen der Marxschen Analyse) ist natürlich die Heraufkunft des Bürgertums als emanzipatorische Kraft innerhalb der absolutistischen Ordnung. Die volle und „letzte“ Verwirklichung dieser Befreiungsdialektik soll sich infolge der Herausbildung des Proletariats als „universelle“ Befreiungskraft innerhalb der bürgerlichen Ordnung vollziehen. Die „Eindimensionalität“ bezeichnet also primär den Zustand in der Gesellschaft des Spätkapitalismus, in dem das emanzipatorische Vermögen der immanenten Negation (die allenfalls „an sich“ das bestehende System negiert) neutralisiert ist. Somit hebt sich eine Dimension des Systems auf; jedenfalls verliert sie ihre negative emanzipatorische Wirkung, wodurch das System de facto als eine eindimensionale Wirklichkeit existiert. Marcuse zufolge sind die als negativ, subversiv und revolutionär bekannten historischen Kräfte – hauptsächlich das „Proletariat“ als produktionsmittellose Produzenten – zumindest in ihrem subjektiven Sein ins gesellschaftliche repressive Bestehende integriert worden, und zwar so sehr, dass ihre negative Existenz und die Manifestationen ihrer negierenden Aktivität, welche das gesellschaftlich Bestehende zu unterwandern, zu revolutionieren und zu verändern hätten, es realiter bestärken und sein Fortbestehen fördern. Unter diesen Bedingungen erweisen sich Gesellschaft und Staat des Westens als „tolerant“, zumindest formal demokratisch-liberal, da sie sich im Grunde gegen die materiellen, ideellen und psychischen sozialen Elemente, die ihren Geltungsanspruch und Existenz praktisch zu erschüttern vermöchten, „immunisiert“ haben. Die entwickelte industrielle Gesellschaft hat somit aufgehört, eine antagonistische zu sein; der Mensch hat praktisch aufgehört, sich in prinzipiellen inneren wie äußerlichen Konflikten lebend zu empfinden. Das „System“, der ökonomisch-politische „Apparat“, hat es geschafft, seine innere Negation zu neutralisieren und sie als

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„positiven“ Faktor in sich zu integrieren. Dadurch sind die Chancen, das bestehende gesellschaftliche System zu zerstören, mithin die Chancen, eine freie menschliche Gesellschaft (im Sinne Marcuses) zu konstituieren, gravierend infrage gestellt worden. Dies geschieht in einem historischen Zeitalter, in dem (nach Marcuses Auffassung) naturbehaftete-historische objektive Knappheit und Mangel, welche die menschliche Zivilisation von ihrem Anbeginn gekennzeichnet haben, überwunden worden sind; mithin angesichts der „realen Möglichkeit“ (die nach der Definition der Hegelschen Logik prinzipiell objektiv-empirisch diagnostizierbar ist) (Hegel [1816]/ 1986, S. 208–209), eine freie menschliche Gesellschaft zu errichten, und zwar vor dem Hintergrund der Entstehung „objektiver Bedingungen“ zur Verwirklichung menschlicher Ideale, die bislang wegen naturbehafteter-historischer Knappheit und Mangel in der Geschichte der westlichen Zivilisation für „utopisch“ erachtet worden sind (Marcuse ([1967]/1980, S. 9–10; Marcuse [1967]/1989, S. 264). Nach Marcuse sind die Möglichkeit einer Verwirklichung der menschlichen Freiheit – Verwirklichung des Marxschen „Reichs der Freiheit“ –, zugleich aber auch die Neutralisierung dieser Möglichkeit (zumindest in absehbarer Zukunft) beide historisch objektiv in der Gesellschaft des Spätkapitalismus angelegt (Marcuse [1967]/1989, S. 17). Im Folgenden seien in Kürze einige für den Spätkapitalismus charakteristische „eindimensionale“ Erscheinungen in Erinnerung gebracht: a. Verhinderung der „Explosion“ im klassischen Konflikt zwischen dem jetzigen Entwicklungsstand der „Produktionskräfte“ bis hin zur Schwelle der vollkommenen Automation – ein Entwicklungsniveau, das objektiv die qualitative Erweiterung der Freiheitsverwirklichung ermöglicht – und der historisch-relativ repressiven Form der bestehenden „Produktionsverhältnisse“; Abwendung des Ausbruchs des prognostizierten Konflikts zwischen Kapital und Arbeit. Dieser Eindämmungsprozess erhält den Spätkapitalismus durch ausgeprägte Ausbeutungsmuster der Inbesitznahme des „Mehrwerts“ und seiner Aneignung (Verhinderung seiner Verwendung zur qualitativen Erweiterung der Freiheit); er ermöglicht sich nicht zuletzt dank der ständigen quantitativen Steigerung des (absoluten) Lebensstandards des Proletariats, welche aber begleitet ist von einer ständig sich vergrößernden, im Vergleich zur Steigerung des Lebensstandards und des Wohlstands unproportionalen „relativen Verelendung“; das bedeutet eine maßlose Steigerung der Arbeitsausbeutung der produktionsmittellosen Produzenten bei gleichzeitiger Verhinderung ihrer „absoluten“ Verelendung. Die im Spätkapitalismus vorherrschende Ausbeutung des Menschen erschöpft sich nicht nur im prägnanten Bereich der Produktion, sondern manifestiert sich auch zunehmend in ihrem Korrelat – dem Konsum. Dies vollzieht sich mittels einer raffinierten, seitens ökonomisch-politischen Interessen vorgenommenen manipulativen Infiltration der Bedürfnisse ins Bewusstsein und in die Bereiche des Unbewussten der Massen in der Überflussgesellschaft (im Unterschied zur krassen Lenkung, die dem klassischen Kapitalismus zu eigen war, welche unter den Bedingungen des ständigen Mangels sich auf den Bereich der Produktion selbst konzentrierte, mithin sich primär „nur“ auf die Mittel der Bedürfnisbefriedigung bezog und weniger auf die Bedürfnisse selbst). Die „Ideologie“, eine vor allem mittels

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intensiver kommerzieller Werbung fungierende Industrie der manipulativen Steuerung von Bedürfnissen, verwandelte sich, so besehen, zum integralen Bestandteil der „materiellen Basis“ – der notwendigen Bedingung für die fortgesetzte Verwandlung von Kapital in Arbeit, mithin also die fortwährende Aneignung des „Mehrwerts“ (Marcuse [1967]/1989, S. 11, 17–18, 21 ff., 54–59, 68–73, 236–238, 242–257). b. Eine zumindest subjektive Verbürgerlichung des Proletariats (anstatt des von den Vätern des „wissenschaftlichen Sozialismus“ prophezeiten historischen Prozesses, demzufolge eine breite, sowohl objektive als auch subjektive Proletarisierung der Massen stattfinden sollte). Die Entfremdung nimmt immer mehr einen objektiven abstrakten Charakter an (als psychologische, soziologische und philosophische Kategorie) und erscheint immer weniger als eine konkrete Empfindung von Unbehagen, dem chronischen Gefühl einer Frustration, die dem fundamentalen Mangel an Befriedigung von Bedürfnissen und Bestrebungen entstammt. Somit existiert das Proletariat wieder nur objektiv („an sich“), es fungiert nicht mehr als revolutionäre Klasse („für sich“) und entwickelt sich auch nicht in diese Richtung (Marcuse [1967]/1989, S. 14–16, 29–31, 42–54, 262–264). c. Verringerung bis hin zur völligen Aufhebung des qualitativen politischen Antagonismus in den demokratischen Ländern; die gegnerischen Parteien sind im Grunde keine Träger von prinzipiell unterschiedlichen gesellschaftlichenpolitischen Botschaften (in den USA z. B. sind Republikaner und Demokraten mehr oder minder auf die gleiche Politik ausgerichtet) (Marcuse [1967]/1989, S. 14, 39–42, 133–138). d. Verringerung bis hin zur völligen Aufhebung des politischen Antagonismus im Blocksystem. Nach Marcuse (schon seit Ende der 1940er- und in den 1950erJahren) war der Kampf zwischen den Blöcken nach dem Zweiten Weltkrieg lediglich eine Form der „Koexistenz“ zweier Gegner ähnlicher Qualität in einem nach kapitalistischen Spielregeln fungierenden globalen System. Diese konkurrierende „Koexistenz“, die sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines „Gleichgewichts des Schreckens“ vollzog, ermöglichte es den Systemen, die Muster der Unterdrückung und Ausbeutung zu erhalten – eine krasse, offene, administrative, daher auch weniger effektive Unterdrückung im kommunistischen Block, und demgegenüber eine kaschierte, raffiniert-manipulative, „glatte“ (aber äußerst effektive) Unterdrückung in den Demokratien des Westens. Der Zusammenbruch des kommunistischen Blocks Ende der 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre mag Marcuses Ansicht bestätigen, dass die Sowjetunion letztlich kein negativer Faktor im globalen kapitalistischen System darstellte; die Eindimensionalität, die die Realität des globalen Systems, wenn auch nicht unbedingt sichtbar, charakterisierte, wurde nun allgemein offenbar. Es sei gleichwohl hervorgehoben, dass Marcuse die negative Erscheinung der Sowjetunion und der kommunistischen Parteien keinesfalls geringschätzte, obgleich er wusste, dass es sich „nur“ um eine Erscheinung handelte; zu gewissen Zeiten nach dem Krieg behauptete er sogar, dass die revolutionäre Rhetorik, die sich trotz allem in der Ideologie der kommunistischen Parteien erhielt, und eine mögliche Unterstützung seitens der

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Sowjetunion einen gewissen Hebel zur Umwälzung des Bestehenden bilden könnten. (Marcuse [1967]/1989, S. 11, 59–68). e. Popularisierung, Banalisierung und völlige Kommerzialisierung der Hochkultur, ihre Verwandlung zur „Unterhaltung“, bis hin zur Abschaffung der in ihr objektiv angelegten negativen Botschaften (sei’s thematisch, sei’s in den ästhetischen Formen der unterschiedlichen Kunstwerke) (Marcuse [1967]/1989, S. 76–91; Marcuse [1965]/1984, S. 141–142). f. Massengesellschaft, Vereinheitlichung der Persönlichkeit, Erweiterung des Konformismus und seine Vertiefung durch den Sozialisationsprozess, der sich nun weniger durch partikulare Sozialisationsagenten (intime Familie oder „Vaterfigur“) vermittelt, sondern durch Massenkommunikationsmittel und massenhaft gestaltete öffentliche Erziehung seit frühem Kindesalter unvermittelter wirkt (Marcuse [1967]/1989, S. 30–31, 94–95, 97–102, 254–257). g. Sexuelle Promiskuität auf Kosten eines (nicht notwendigen) Abbaus der negativen Kraft des „Eros“; die Kommerzialisierung der Sexualität und ihre Integration – vor allem durch die Werbeindustrie – in die entfremdete Welt der Arbeit und des Konsums. Es handelt sich dabei, Marcuse zufolge, nicht um den emanzipatorischen Prozess einer Entsublimierung, sondern im Gegenteil – um eine „repressive Entsublimierung“ (Marcuse [1967]/1989, S. 91–98; Marcuse [1965]/1979, S. 85; Marcuse [1969]/1984, S. 249–250). h. Die zunehmende Dominanz „positivistischer“ Tendenzen im Bereich der Philosophie bis hin zur Ausrottung der Bedeutung metaphysischer Erörterung und Werte und Aufhebung der in ihnen enthaltenen transzendenten Negationsinhalte (angemerkt sei allerdings, dass Marcuse in der Kategorie „Positivismus“ verallgemeinernd und nicht immer gerechtfertigt Unterschiedliches, mithin auch nicht prägnanten „Positivismus“, zusammenfasst: nicht nur die Sprachphilosophie à la Wittgenstein, sondern auch die Husserlsche Phänomenologie und den Existenzialismus Heideggers). Einen ähnlichen Prozess durchlaufen auch, seiner Meinung nach, die Sozialwissenschaften und die Psychologie – zunehmende Beherrschung durch affirmative Tendenzen: Behaviorismus, Funktionalismus u. a. Diese „wissenschaftlichen“ Tendenzen ermöglichen scheinbar die Quantifizierung von Qualitäten auch in den Bereichen der Humanwissenschaften, und so ermöglichen sie auch ihre operative Verwendung als Instrument im Prozess ausgeklügelter Repression (Marcuse [1967]/1989, S. 16–17, 32–34, 67–68, 123–138, 139–142, 159–183, 184–213, 215–229, 236, 241–244; Marcuse [1965]/1979, S. 209–232). i. Verschiedene Prozesse einer Verarmung der Sprache und deren Banalisierung, bis hin zu deren Verwandlung in eine „orwellianische Sprache“. Diese Prozesse sind es, die auch die in der natürlichen Sprache angelegten kritischen und transzendenten Botschaften ausrotten (Marcuse [1967]/1989, S. 103–123, 207–209; Marcuse [1965]/1984, S. 145–148; Marcuse [1969]/1984, S. 302–306). Die Kennzeichnung der entwickelten industriellen Gesellschaft als „eindimensional“ erreicht, wie gesagt, ihren ausgereiften Höhepunkt in Marcuses Schriften der 1960er-Jahre, in seinem berühmten Buch „Der eindimensionale Mensch“

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([1967]/1989) und in ca. 90 anderen Texten (Bücher, Artikel, Vorträge und Interviews), unter ihnen: „Das Veralten der Psychoanalyse“ (1963), „Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur“ (1963), „Repressive Toleranz“ (1965, 1968), „Das Individuum in der Great Society“ (1966), „Das Ende der Utopie“ (1967), „Kunst in der eindimensionalen Gesellschaft“ (1967) und anderes mehr. Es sei gleichwohl angemerkt, dass „Eindimensionalität“ als eine spezifisch historische Auffassung bereits 1941 in Marcuses Schriften erscheint, und zwar in der Schrift „Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie“ (1941), also einige Jahre vor der Veröffentlichung zweier der bedeutendsten Werke der Frankfurter Schule: „Eclipse of Reason“ von Horkheimer und „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno. Diese Auffassung findet sich auch in anderen, vor denen der in den 1960er-Jahren erschienenen Schriften Marcuses: in „Triebstruktur und Gesellschaft“ (1955), im „Epilog“ zu „Vernunft und Revolution“ (1954), in „Soviet Marxism“ (1958) sowie in weiteren Schriften. Es ist nicht meine Absicht, hier alle von Marcuse erörterten „eindimensionalen“ Aspekte darzulegen, auch nicht, die vom Denker aufgestellten Diagnosen spätkapitalistischen Seins in Frage zu stellen; es versteht sich von selbst, dass viele seiner Diagnosen, mithin die Eindimensionalitäts-These selbst anfechtbar sind; dies bezeugen Hunderte von Schriften, unter ihnen ganze Bücher, die Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre erschienen sind, und zwar mit dem einen Ziel – der Kritik Marcuses. Die Auffassung der „Eindimensionalität“ lässt sich auch in dieser oder jener Form in den Schriften Horkheimers und Adornos finden, den führenden Denkern der „Schule“, zu denen auch Marcuse zählt; aber im Gegensatz zu Marcuse haben sie die sich anbietende praktische Konsequenz aus ihrem Denken gezogen – das kontemplative Leben. Dies manifestierte sich nicht zuletzt in ihrem indifferenten, wenn nicht gar abweisenden Verhältnis zur „Studentenrevolte“ und der Herausbildung der „Neuen Linken“ in den 1960er-Jahren; Marcuse hingegen begeisterte sich für diese Ereignisse und nahm aktiv an ihnen teil. Wie gesagt, möchte ich hier untersuchen, ob und wie sich die „Eindimensionalitäts“-These mit Marcuses Aufruf zur Verwirklichung eines qualitativen menschlichen Wandels vereinbaren lässt. „Der eindimensionale Mensch“ endet in pessimistischem Ton; die Analyse der entwickelten Industriegesellschaft verspricht nicht die Errichtung einer freien menschlichen Welt, kann sie mithin gar nicht versprechen. Das Argument für eine negativ-revolutionäre Aktivität, die Marcuse am Ende seines Buches aufbringt, ist schon nicht praktisch-zweckgerichtet, sondern eher eine Art Solidaritätsbekundung mit den Opfern des Kampfes für die Freiheit des Menschen, den „Hoffnungslosen“. Zwar drückt sich in Marcuses Worten Hoffnung aus, aber es ist lediglich eine abstrakte Hoffnung, ohne jegliche reale Basis und ohne praktische Zweckbegründung. Offenbar enthält sich Marcuse im „Eindimensionalen Menschen“ wie in anderen Schriften des klaren apodiktischen Urteils über die Zukunft der menschlichen Gesellschaft: So wie der Spätkapitalismus die realen Möglichkeiten zur Zerstörung des Menschen und der Welt oder zur Perpetuierung des bestehenden Zustands in sich birgt, enthält er auch die realen Möglichkeiten zur Errichtung einer freien Welt; wir haben nur keine reale objektive Garantie dafür, dass

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sich dieses emanzipatorische Potenzial tatsächlich verwirklichen werde. Im Gegenteil – die entgegengesetzte Tendenz ist die plausiblere: „Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander – und sogar die eine in der anderen. Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern“. (Marcuse [1967]/1989, S. 17)

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Kritische Analyse – „von außen“

Angesichts des bis jetzt Dargelegten erhebt sich die Frage: Wozu der Aufruf zur Revolution im Sinne eines qualitativen menschlichen Wandels, wenn zugleich die „eindimensionale“ Interpretation angeboten wird? Wie kann man zur Aktivität der Weltveränderung aufrufen, wenn die Welt als veränderungsresistent gedeutet wird? Widerlegt nicht der Revolutionär Marcuse seine eigene „Eindimensionalitäts“-These mit dem schieren Aufruf zur Revolution? Widerlegt und negiert diese These nicht von vornherein die praktische Begründung des Aufrufs zur revolutionären Aktivität? Schwer, sich von der folgenden Argumentation zu lösen: Eins von beiden, entweder stimmt die „Eindimensionalitäts“-These und sie stellte eine adäquate, wahrhaftige Interpretation des gesellschaftlich Bestehenden dar (wie Marcuse selbst wiederholt behauptete), dann gibt es keine Perspektive einer Revolution, und entsprechend ist es zwecklos, zur revolutionären Aktivität aufzurufen; oder aber der Aufruf zur revolutionären Praxis ist in der Tat gerechtfertigt, in welchem Fall Marcuses Interpretation der Welt falsch ist, d. h., sie basiert nicht auf den realen Tendenzen des gegebenen gesellschaftlichen Seins. Der Widerspruch lässt sich anhand Marcuses Auffassung des Marxschen Verhältnisses zur revolutionären Theorie und revolutionären Praxis verstehen (wenn auch nicht unbedingt lösen). Seine grundsätzliche Position zu dieser Frage besagt, dass eine der Marxschen Methode verpflichtete Weltinterpretation selbst dann eine „revolutionäre Theorie“ bleibt, wenn sie sich historisch-spezifisch als unfähig erweist, von der Analyse der in einer Gesellschaft vorwaltenden Tendenzen die Rechtfertigung einer zweckgerichteten revolutionären Praxis abzuleiten. Unter diesem Aspekt behauptet Marcuse (in Aufsätzen, die nach dem „Eindimensionalen Menschen“ erschienen sind, wie etwa „Zur Geschichte der Dialektik“, „Theorie und Praxis“ u. a.): „Die Marxsche Konzeption enthält so die geschichtliche Möglichkeit ihrer eigenen Negation; die Möglichkeit der Erstickung des Klassenbewußtseins und der Niederlage der revolutionären Praxis“. (Marcuse [1966]/1979, S. 226; vgl. auch Marcuse [1975]/1987, S. 149–150)

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Diese scheinbar irritierende Behauptung leitet sich von der Auffassung des historischen Determinismus als einen wirklich „historischen“ ab, d. h., nicht nur als einen überhistorischen, die Geschichte bedingenden metaphysischen oder „natürlichen“ Faktor, sondern als einen immanenten Faktor in ihr, also einen von der historischen Entwicklung mitbestimmten Faktor. Die historische Determination „schwächt“ sich gleichsam ab, je mehr der Mensch – Subjekt der Geschichte – (aufgrund der Erfüllung der „objektiven Bedingungen“ im Entwicklungstand der modernen „Produktionskräfte“) objektiv freier wird. Die scheinbar „notwendige“ Errichtung des Sozialismus in einer fortgeschrittenen historischen Phase wie der des Spätkapitalismus hängt zunehmend vom Wandel des Proletariats zum bewussten, willensgesteuerten und aktiven Träger der Aufhebung des Kapitalismus ab, d. h., er hängt hier bereits von einem freien, sich in der bestehenden Ordnung bildenden Moment ab. Es gibt keine selbstläufig-determinante Garantie, keine materiellobjektive Notwendigkeit dafür, dass das Proletariat sich selbst als Subjekt des Höhepunkts eines historischen Befreiungsprozesses konstituieren werde, denn gemäß dem Paradigma der Freiheit als historischer Selbstbefreiung soll es ja nicht mehr lediglich „objektiver“ Faktor sein. Die innere Negation auf dem Höhepunkt der historischen Entwicklung hat aufgehört, von der Notwendigkeit eines objektiven Faktors herzurühren; ihre effektive Erscheinung bzw. ihr Verschwinden hängen primär vom Sein des Subjekts und von seinen konkreten Entscheidungen ab. Marcuses Auffassung ähnelt in diesem Zusammenhang in vielerlei Hinsicht der Auffassung Ernst Blochs, der in seinen Schriften, einschließlich „Das Prinzip Hoffnung“, auch die mögliche Niederlage der historisch-spezifisch bereits in einer „offenen, unfertigen, taumelnden Welt“ wirkenden „Hoffnung“ hervorhebt. Marcuses Auffassung basiert auch nicht zuletzt auf der Analyse des Marxismus als einer Objekt-Subjekt-Dialektik im Sinne von Georg Lukács Aufsätzen in „Geschichte und Klassenbewußtsein“. Im Allgemeinen lassen sich Marcuses Auffassungen als Ausdruck des sogenannten deutschen „hegelianischen Marxismus“ begreifen. Angemerkt sei hier, dass Marcuses Position keinen Rückfall in einen abstrakten (ahistorischen) subjektivistischen „Existenzialismus“ Sartrescher Couleur darstellt. Freiheit des Menschen (das „pour-soi“ Sartres) ist bei Marcuse kein gegebenes ontisches Attribut des Menschen als solchen, sondern das Resultat einer dialektischen historischen Entwicklung, Ergebnis einer konkreten Entwicklung gemäß einer Objekt-Subjekt-Dialektik. Die „bestimmte Negation“ („determinate negation“), die den notwendigen dialektischen Prozess kennzeichnet, verwandelt sich in der fortgeschrittenen Phase des Spätkapitalismus in eine „bestimmte Wahl“, die sich durch die konkreten Entscheidungen des Subjekts bestimmen soll, aber nicht im philosophisch-ahistorischen Sinne, sondern als „geschichtlicher Entwurf“ („historical project“) (Marcuse [1967]/1989, S. 231–234). Gleichwohl bleibt der Widerspruch, wenigstens als praktischer, bestehen: Wie kann man zur Befreiung der Welt aufrufen und entsprechend handeln, wenn man die Welt als „eindimensional“ interpretiert, d. h., als ein soziales-politisches Sein, das die negierende Aktivität nicht nur zu neutralisieren, sondern (zumindest objektiv) sogar in eine „positive“, affirmative zu verwandeln vermag? Wenn die marcusianische Interpretation der Welt stimmt, muss man sie auch auf die Aktivität Marcuses selbst

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und auf sein revolutionäres Postulat anwenden: vielleicht bedient auch er mit seiner wie immer rigorosen, kompromisslosen, illusionsfreien, intellektuell-kritischen Aktivität (objektiv, entgegen seinen eigenen Absichten und Erklärungen, aber in Übereinstimmung mit seinen Feststellungen) das bestehende Establishment bzw. neutralisiert, zumindest mit seiner negierenden Aktivität das negierende Vermögen der eigenen Aktivität?! Marcuse war sich dieses reflexiven Problems bewusst und thematisierte es sowohl als Problem der Kritischen Theorie im allgemeinen, indem er feststellte (z. B. im „Eindimensionalen Menschen“), dass diese ihre eigene Situation als Situation der von ihr analysierten und erklärten Gesellschaft verstehe (Marcuse [1967]/1989, S. 265), als auch als Problem seiner eigenen Person, indem er offen zugab (z. B. in einem 1968 „L’Express“ gegebenen Interview), dass objektiv auch er selbst Teil des Establishments werden könne. Bekanntlich ist Marcuse Ende der 1960er-Jahre berühmt geworden: Seine Bücher, besonders „Der eindimensionale Mensch“, avancierten zu Bestsellern, und er selbst war ein populärer Gast in Interviews und Podiumsdiskussionen der Medien. In gewissen Kreisen galt er als Idol, „Marx der Studenten“ – „Marxuse“; es bildete sich um ihn (auch hier gegen seine eigenen Absichten und Willen) der Kult eines „Gurus“ mit Anhängerschaft. Sich darauf beziehend gestand er: „. . . sie haben mich im Grund zur verkäuflichen Ware gemacht“ (Marcuse 1968a, S. 29). Zugleich hob er immer wieder hervor, dass sein „persönliches“ praktisches Schicksal eine „schöne Verifikation“ seiner Theorie sei, „daß in dieser Gesellschaft alles und jedes kooptiert, integriert, verdaut werden kann“ (Marcuse 1968b, S. 533). Die große Bekanntheit und Popularität Marcuses waren, so besehen, kein seine Behauptung hinsichtlich der Neutralisierung der Negation widerlegendes Zeugnis, sondern sie bestätigten sie gerade und bezogen sie auch auf ihn selbst (als negativen Faktor); sie bewiesen, dass die praktische Situation, in der er sich befand, sich grundsätzlich nicht vom Schicksal anderer negierender Faktoren unterschied. Es stellt sich heraus, dass die „repressive Toleranz“ de facto auch ihren rigorosesten und negativsten Deuter zu bezwingen vermochte. Wie? Genau indem sie ihn tolerierte, ihn „legitimierte“, und dadurch die negative Effektivität seiner emanzipativen Aktivität in der Tat negierte. Indes, ein noch gravierendes reflexives Problem mag sich erheben, wenn man in Kauf nimmt, dass Marcuses „Eindimensionalitäts“-These u. a. behauptet, dass das bestehende System auch die sich in ihm, innerhalb der „Intelligenz“, bildenden Sozialtheorien ideologisch wie raffiniert-manipulativ bedingt. Es ließe sich durchaus behaupten (wie von vielen Kritikern Marcuses in der Tat getan), dass auch Marcuses Interpretation der „eindimensionalen“ Welt selbst nichts als ein Produkt des ideologisch bedingten eindimensionalen Seins sei. Wie die vorhergehende stimmt anscheinend auch diese Behauptung, die Marcuses wirklichen Absichten und Erklärungen selbstverständlich entgegensteht, mit seinen Feststellungen überein. Gegen diesen Vorwurf (der sich deutlich nach dem Muster des „Lügner-Paradoxes“ formuliert) lässt sich u. a. Marcuses Eingeständnis der Richtigkeit des vorhergehenden reflexiven Vorwurfs anführen. Dass die marcusianische Theorie sich ihres praktischen Schicksals bewusst ist und dieses Schicksal als prinzipiell nicht verschieden vom Schicksal anderer negierender Faktoren im eindimensionalen Sein ansieht, mag als Zeugnis der von Marcuses Weltinterpretation vollzogenen

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theoretischen Überwindung des Rahmen der vom eindimensionalen Sein bewirkten ideologischen Bedingung angeführt werden. So besehen, darf man Marcuses Theorie durchaus als dem eindimensionalen Sein „äußerlich“ begreifen, und sich des von vielen Kritikern erhobenen Vorwurfs entledigen, dass ihre Selbstthematisierung unter diesem Aspekt ihren eigenen Feststellungen hinsichtlich der ideologischen Bedingtheit inadäquat sei. Marcuse schreibt: „Dieser ideologische Charakter der Kritik ergibt sich aus der Tatsache, daß die Analyse gezwungen ist, von einer Position ‚außerhalb‘ der positiven wie der negativen, der produktiven wie der destruktiven Tendenzen in der Gesellschaft auszugehen“. (Marcuse [1967]/ 1989, S. 17)

Gleichwohl muss betont werden, dass dieses „außerhalb“ einen lediglich theoretischen Standpunkt darstellt; das praktische Schicksal dieser negativen Theorie ist gemäß ihrer eigenen Feststellungen besiegelt: sich ins eindimensionale Sein zu integrieren und sich ihm unterzuordnen. Marcuse formuliert dies in einer rhetorischen Frage: „Bedeutet dies, daß die kritische Theorie der Gesellschaft abdankt und das Feld einer empirischen Soziologie überläßt, die, bar jeder theoretischen Führung außer einer methodologischen, den Trugschlüssen einer unangebrachten Konkretheit zum Opfer fällt und so ihren ideologischen Dienst verrichtet, während sie die Ausschaltung aller Werturteile verkündet? Oder bezeugen die dialektischen Begriffe wieder einmal ihre Wahrheit – indem sie ihre Situation als die der Gesellschaft begreifen, die von ihnen analysiert wird?“ (Marcuse [1967]/1989, S. 265)

Wenn wir den Stand der kritischen Gesellschaftstheorie in ihrem Verhältnis zum eindimensionalen Sein und in diesem in eine greifbare (zum hier erörterten Thema durchaus passende) Beschreibung übersetzen, lässt sich behaupten, dass auch die „äußere“ Intelligenz (wie etwa Marcuse) – wie jede Intelligenz und jeder andere Faktor – dem eindimensionalen Sein de facto untergeordnet ist; aber indem sie sich diese reale Unterordnung eingesteht, ist sie sich auch ihrer selbst und ihrer Situation bewusst, befindet sich mithin im Zustand einer „einfachen Sklaverei“; als solche – also im Bewusstsein ihrer selbst – vermag sie auch eine vertrauenswürdige und objektive Quelle der Gesellschaftskritik abzugeben. Demgegenüber ist das soziale Denken, das sich seine Unterordnung nicht eingesteht, als ein Zustand der „freiwilligen Sklaverei“ im eindimensionalen Sein anzusehen, wodurch ihm die Möglichkeit abgeht, eine vertrauenswürdige und objektive Quelle der Gesellschaftskritik abzugeben. So besehen, entwindet sich Marcuse der ideologischen Indoktrination, denen andere (Marcuse zufolge) ausgesetzt sind, aber diese Entwindung ist nur theoretisch, nur als Bewusstsein, nur als „Philosophie“ möglich (und für Marcuse auch notwendig). Die Glaubwürdigkeit der „Eindimensionalitäts“-Theorie wird also von Marcuse mit dem Eingeständnis bekräftigt, dass diese de facto nur als „Theorie“ bestehen kann; ihre Absicht, „Praxis“ zu werden, wird durch ihre prägnanten Inhalte – „ihrer Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft

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aufzuweisen“ – widerlegt (Marcuse [1967]/1989, S. 265). Die kritische Gesellschaftstheorie, bestrebt, die immanenten Tendenzen der Gesellschaft aufzuspüren, die sie als emanzipatorische Tat zu verwirklichen vermöchten, entdeckt die „Eindimensionalität“ als immanente soziale Tendenz und begreift dadurch ihre eigene praktische Situation als nicht verschieden von der der Gesellschaft, die sie in ihrer Kritik anvisiert.

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Befreiung des Menschen – „von innen“

Es wäre logisch gewesen, wirkmächtige negative Faktoren außerhalb des Systems zu suchen, wenn in der Tat behauptet wird, wie es Marcuse in seiner „eindimensionalen“ Weltinterpretation tut, dass die innere Negation im Spätkapitalismus ihrer realen Kraft beraubt sei und sogar für den Forterhalt des Systems eingesetzt werde. Verschiedene Kritiker und Interpreten von Marcuse (Liberale und Rechte wie MacIntyre und Kolakowski, orthodoxe Kommunisten wie Steigerwald und Sozialisten wie Harrington) hoben eine prinzipielle Wende hervor, die der Denker in Bezug auf seine marxistische Position in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre generiert haben soll. Diese Wende, so heißt es, kennzeichnet sich im Wesentlichen durch die Aufgabe der klassischen Marxschen Befreiungstheorie des Menschen, die im Proletariat den Träger des historischen Wandels erblickt, welcher die prägnante negierende Kraft innerhalb des Systems verkörpern soll. Diesen Kritikern und dem allgemeinen, Marcuse anhaftenden öffentlichen Image zufolge hat er statt des mittlerweile etablierten Proletariats soziale-politische Protagonisten „außerhalb des Systems“ als „revolutionäres Subjekt“ adoptiert. Damit sei Marcuse von der den Befreiungsprozess des Menschen belangenden Position des „wissenschaftlichen Sozialismus“ zu den Befreiungsmustern des prämarxistischen „utopistischen Sozialismus“ regrediert und habe sogar die Idee der Erziehungsdiktatur angenommen, Auffassungen, die eine „äußere“ Quelle, „von oben“, für das menschliche Objekt der Befreiung postulieren, solange der Mensch selbst nicht zum Befreiungssubjekt avanciert. Unter diesen „äußeren“ Protagonisten lassen sich jene aufzählen, die in den Wohlstandsländern „outcasts and outsiders“ genannt werden („Das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen“) (Marcuse [1967]/ 1989, S. 267): die der Sozialhilfe bedürftigen Zukurzgekommenen, chronische Arbeitslose, nationale und rassische Minderheiten sowie andere Schichten des Elends und Prekariats, die sich im Hinblick auf ihr eigenes und auf das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein außerhalb des etablierten Seins befinden, de facto auch außerhalb des die westlichen Länder kennzeichnenden demokratischen Prozesses; Mitglieder der „Neuen Linken“; Aktivisten in verschiedenen Protestbewegungen; „Beatniks“, „Hippies“ und andere Gruppen, die sich selbst als Teil der „großen Weigerung“, die Spielregeln des etablierten Systems zu befolgen, sehen; Volksarmeen, Untergrund- und Guerilla-Bewegungen und andere paramilitärische Organisationen, die in den Drittweltländern im Namen deren unterdrückten Bewohner gegen die kolonialistischen Länder und die totalitären Regimes, die als Diener des Neokolonialismus fungieren, kämpfen.

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Im Gegensatz zu den Vorwürfen der Kritiker Marcuses und zum ihm anhaftenden öffentlichen Image kann man ihn m. E. nicht als jemanden sehen, der in seiner Auffassung der Befreiung des Menschen das Marxsche Proletariat zugunsten „äußerer“ negativer Protagonisten aufgegeben habe. Aber nachdem ihm dieses Image anhaftete, halfen Marcuse keine Klärungen und Erklärungen, historische Analysen und logische Erörterungen, die die Vorwürfe gegen ihn zu widerlegen versuchten. In vielen Aufsätzen (u. a. „Political Preface 1966“, „Freiheit und Notwendigkeit. Bemerkungen zu einer Neubestimmung“, „Theorie und Praxis“), in vielen gehaltenen Vorträgen (u. a. Vorträge und Debatten über „Das Ende der Utopie“) und in Interviews (u. a. in „Der Spiegel“ und in „L’Express“ abgedruckte Gespräche) betont Marcuse, dass nichts Wahres sei an der Vorstellung der „äußeren Negation“ als ausreichender Bedingung für eine Befreiungsrevolution. Im Gegensatz zu seinen Kollegen von der Frankfurter Schule unterstützte zwar Marcuse die revoltierenden Studenten, die Protestbewegungen und die „Neue Linke“. Er lobte in der Tat die Befreiungskämpfe in der Dritten Welt und bemerkte (z. B. auf den letzten Seiten des „Eindimensionalen Menschen“), dass die entschiedene Weigerung der „outcasts und outsiders“, nach den etablierten Spielregeln zu handeln, möglicherweise den Beginn des Endes der laufenden historischen Epoche anzeige, aber auf keinen Fall sah er in diesen Kräften einen Ersatz für das Proletariat – für jene, die immanent die materielle Basis des Systems produzieren und reproduzieren, weshalb einzig sie (wenn überhaupt jemand!) „Subjekt der Revolution“ werden können. Die „äußeren“ Gruppen werden in diesem Zusammenhang als „Katalysator“ des Wandels, „Element des Protests“, „Bewußtseinsagenten“ apostrophiert, aber nirgends sieht in ihnen Marcuse die „revolutionäre Klasse“. Mehr noch: Marcuse unterstreicht an vielen Stellen die dialektische Logik à la Hegel und Marx, die seiner Auffassung der Befreiung des Menschen zugrunde liege; diese besagt, dass keine „äußere“ Kraft wirksam werden kann, wenn sie keinem Verlangen, innerer Bereitschaft und objektiver wie subjektiver Resonanz innerhalb des Systems entspricht. Das Problem der Befreiung liegt letztlich im „Innern“, nicht im „Äußeren“; wenn also besagte „äußeren“ Kräfte es nicht schaffen werden, ihre negativen Positionen innerhalb des Systems, im Proletariat bzw. allgemein beim „Volk“, so zu verwurzeln, dass es zu einem „für sich“ avanciert, werden sie auf keinen Fall praktisch wirksam werden können. Sollte es überhaupt „äußere“ Kräfte geben, sind sie nicht imstande, das Problem zu lösen, denn das System selbst ist eindimensional, ein System, welches das Verlangen, die innere Bereitschaft und die objektive wie subjektive Resonanz den emanzipatorischen Botschaften gegenüber, die die „äußeren“ Kräfte nach „innen“ transportieren sollen, in sich besiegt hat. Marcuses theoretisches Argument in der Frage der „äußeren Negation“ (sein reifster Artikel zu diesem Thema: „Zum Begriff der Negation in der Dialektik“, 1966–7) richtet sich, vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Entwicklungen in den 1960er-Jahren, gegen die orthodoxe Tradition des Marxismus und fordert, den Begriff der Emanzipationsbasis auf den historisch-spezifischen neuesten Stand zu bringen und ihn den besonderen Bedingungen des Spätkapitalismus anzupassen; aber nicht dadurch, dass der Emanzipationsbegriff aufhöre, dialektisch zu sein, und eine „utopistische“, „rousseauistische“ Position oder gar die revolutionäre Tathandlung à la Lenin adoptiere, sondern durch die Einsicht darin, dass die oben erwähnten

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„äußeren“ Faktoren ein immanenter Ausdruck des System selbst seien und dieser Einsicht gemäß handeln. Marcuses Forderung stellt auf keinen Fall ein Vorschlag dar, einen „neuen“ bzw. „alten“, undialektischen und nicht-marxistischen Emanzipationsbegriff anzunehmen. Eine weitere Forderung Marcuses, die orthodoxe Auffassung des Marxismus zu aktualisieren – der zu Folge der Sozialismus einen weiteren Entwicklungsprozess durchlaufen muss, eine Entwicklung „von der Wissenschaft zur Utopie“ als umgekehrte, provokant gemeinte Paraphrase auf den Titel des berühmten Aufsatzes von Engels – bezieht sich in erster Linie auf die primäre Bedeutung der subjektiven Faktoren vor dem Hintergrund der historischen Erfüllung der objektiven Bedingungen im Spätkapitalismus (Marcuse [1967]/1980, S. 9–10; Marcuse [1967]/1989, S. 264). Auch in diesem Fall redet Marcuse keiner „utopistischen“, prämarxistischen Position das Wort, sondern „nur“ der Forderung, die Gewichtungen im Marxschen Begriff der Befreiung des Menschen zu aktualisieren. Darin bleibt Marcuse der Marxschen, auf der Objekt-Subjekt-Dialektik basierenden Auffassung der Selbstbefreiung m. E. eher treu als viele seiner orthodoxen Kritiker. Die Aufgabe der permanenten Selbstaktualisierung des Begriffs der Emanzipation aufgrund der Analyse realer historischer Prozesse ist integraler Bestandteil der Marxschen Theorie – unterscheidet sich doch der Marxismus gerade darin von dem im Wesen idealistischen und ahistorischen „Utopismus“. Auch in seiner Forderung, den Marxismus fortwährend zu aktualisieren und den Begriff der menschlichen Befreiung der Realität des Spätkapitalismus anzupassen, erweist sich Marcuse dem Marxismus eher treu als die ihn des „Utopismus“ zeihenden Kritiker. Und dennoch, auch nach der Klärung des Problems der „äußeren Negation“ und der Abweisung der Behauptung, Marcuse habe einer undialektischen Auffassung der Emanzipation das Wort geredet, stellt sich heraus, dass das Problem ungelöst bleibt: Besagte „äußeren“ Gruppen können sich allenfalls als freie gesellschaftliche Entitäten für ihre Mitglieder herausbilden, insofern sie sich „außerhalb“ des etablierten Systems wähnen (als „vereinzelte Kommunen“, „a world of our own“ etc.). In jedem Fall lässt sich offenbar die „äußere Negation“ höchstens als eine der Bedingungen für den Wandel des eindimensionalen Ganzen definieren, aber auf keinen Fall als „hinreichende Bedingung“ für eine Befreiungsrevolution; allenfalls lässt sich hier behaupten, dass unter den „eindimensionalen“ Bedingungen des Spätkapitalismus die „äußere“ Negation (insofern sie überhaupt für „äußerlich“ erachtet werden kann) als eine der notwendigen Bedingungen erscheint. Man kann dies als einen der Beiträge Marcuses zur Aktualisierung der Marxschen Auffassung der menschlichen Emanzipation ansehen, aber auch dieser Beitrag ist keine Garantie für die Verwirklichung des Befreiungsprozesses, und von selbst versteht sich, dass er das hier erörterte Problem nicht zu lösen vermag.

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Auswegloser „Teufelskreis“

Aus den bisherigen Darlegungen geht die eindimensionale Gesellschaft als eine repressive historische Situation hervor, die sich selbst zu verewigen sucht, indem sie das Problem der menschlichen Emanzipation zum ausweglosen „Teufelskreis“ erhebt.

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Dies ist letztlich der herausragendste prinzipielle Aspekt in Marcuses Auffassung. Das allgemeine Muster des „Teufelskreises“ verweist auf die wechselseitige Bedingtheit zwischen dem Selbstbewusstsein des Befreiungsobjekts bzw. -subjekts und seinem Freiheitsbedürfnis einerseits und der Freiheit als realer Wirklichkeit andererseits – der Begriff „Selbstbewusstsein“ wird hier im klassischen Sinne, etwa im Sinne des von Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ gemachten Gebrauchs verwendet, also nicht im Sinne des heute gängigen Sprachgebrauchs. Diesem allgemeinen Muster zufolge sind das Selbstbewusstsein, der Freiheitswille und das subjektive Bedürfnis danach die notwendige Bedingung für die Entstehung eines konkreten, umfassenden (über die objektiven Bedingungen und die Existenz „äußerer“ Randgruppen hinausgehenden) freiheitlichen Seins – ein Bewusstsein, Wille und Bedürfnisse, die sich unter jenen zu bilden hatten, die ihre Objekte sind und daher auch zu Subjekten des radikalen gesellschaftlichen Wandels avancieren sollen, eines Wandels, der letztendlich die Verwirklichung eines freien menschlichen Seins zu zeitigen vermag. Zugleich ist allerdings ein freies menschliches Sein notwendige Bedingung für die Herausbildung eines Selbstbewusstseins, eines Freiheitswillens und des Bedürfnisses danach – oder zumindest doch ein nicht „eindimensionales“ Sein, in welchem sich das Selbstbewusstsein als realer Wille und reales Bedürfnis unter den Objekten der Revolution herausbilden und sie in Subjekte verwandeln kann. In jedem Fall erfordert die Marxsche Auffassung der Befreiung, der sich Marcuse verschwistert weiß, die Selbstbefreiung, mithin die Verwandlung der „Objekte“ der Befreiung in „Subjekte“ ihrer Selbstbefreiung. Unter den gegebenen Umständen der „Eindimensionalität“ ist dies aber offenbar nur unter der Bedingung möglich, dass sie von vornherein frei sind. Es geht hier nicht um das Problem der Befreiung von „einfachen Sklaven“, sondern um das der Befreiung „freiwilliger Sklaven“, jener, die sich ihrer Sklaverei als solcher nicht bewusst sind und ihre Lage nicht als Unfreiheit begreifen – und dies nicht trotz ihres Sklavendaseins, sondern gerade wegen dieses versklavten Daseins. Die letzte sich daraus ableitende Konsequenz ist zirkelförmig – Vorbedingung der Freiheit ist die Freiheit. Die gegenseitige Bedingtheit vom Selbstbewusstsein („Vernunft“) und konkreter Freiheit hat Marcuse bereits in seinem Buch „Vernunft und Revolution“ (1941) als Essenz des Hegelschen Befreiungsdenkens dargelegt (Marcuse [1941, 1954]/1989, S. 170). Aber diese wurde dort noch nicht als ein grundsätzliches Problem aufgefasst, sondern als Beschreibung eines zentralen Merkmals der historischen Befreiungsdialektik; diesem Merkmal zufolge überschreiten die besser entwickelten (freieren) Momente des Selbstbewusstseins und des konkreten Freiheitsniveaus die vorhergehenden Momente, welche ihrerseits auch schon bestimmte Momente des Selbstbewusstseins und der konkreten Freiheit enthalten. So besehen, bildet sich eine gegenseitige Bedingung von Selbstbewusstsein und Freiheit, nur ist das kein prinzipielles Problem. Der „Zirkel“ erscheint auch in Marcuses Kritik des Existenzialismus von Sartre (1948); der existenzialistische Denker wird darin beschuldigt, dass seine Auffassung der Befreiung im Grunde von vornherein, noch vor der Befreiung, eine Freiheit des Menschen voraussetzt, als a priori vorhandene ontische Wirklichkeit (Marcuse [1948]/1984, S. 9, 27).

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Aber je weiter sich bei Marcuse die Weltinterpretation als eindimensionales Sein herausbildete, stellte sich heraus, dass der „Teufelskreis“ keine unangemessene Formulierung einer nicht-zirkulösen (sondern spiralförmigen), den Fortschritt in der Freiheit beschreibenden Dialektik ist, auch nicht irgendein Trugschluss eines dem idealistischen, ahistorischen Denken verschriebenen existenzialistischen Philosophen, sondern eine konkrete menschliche Realität – die der spätkapitalistischen Gesellschaft. Das Befreiungsproblem stellt sich auch dem Historischen Materialismus als ein Zirkelproblem dar. Dies, weil auch dieser Auffassung zufolge die Befreiung des Menschen nicht nur von „objektiven“ Faktoren abhängt, sondern auch vom Vorhandensein eines selbstbewussten „revolutionären Subjekts“; das Vorhandensein des „subjektiven“ Faktors ist auf jeden Fall nicht das „automatische“ Resultat von nur rein objektiven Entwicklungen. Das Problem der Entwicklung des Proletariats von einer Klasse „an sich“ zu einer Klasse „für sich“ verschärft sich gerade in den entwickelten Industriegesellschaften, weil sich in ihnen die „objektiven Bedingungen“ erfüllt und verwirklicht haben, während die „subjektive Bedingung“ nicht nur den objektiven Entwicklungen im Produktionssystem „hinterherhinkt“, sondern sie ist auch ihrer Entwicklungsmöglichkeiten dadurch beraubt worden, dass der „subjektive“ Faktor selbst (einschließlich der bewussten und unbewussten ideologischen Formen) zum integralen Bestandteil der „materiellen Basis“ geronnen ist – als notwendige Bedingung der Forterhaltung des bestehenden Systems. Unter den Bedingungen des materiellen Überflusses (fortwährende „absolute“ Steigerung des Lebensstandards bei gleichzeitiger Steigerung des Prozesses einer „relativen“ materiellen wie geistigen Pauperisierung), wo die verwalteten Bedürfnisse in einer raffiniert-manipulativen Weise eingeschleust und befriedigt werden, lässt sich die wirksame eigenständige Entstehung eines Bedürfnisses nach Befreiung und ein entsprechendes Bewusstsein, geschweige denn deren Universalisierung, nur schwerlich vorstellen. Damit der „Sklave“ sich befreie, muss er sich erst selbst als in „Sklaverei“ lebend erkennen, muss er die Freiheit wollen und sie als Bedürfnis empfinden; aber gerade seine besondere „Sklavensituation“ ist es, die die Bewusstwerdung seiner selbst, seinen Freiheitswillen und sein Bedürfnis nach Freiheit verhindert. Seit dem „Epilog“ (1954) zur zweiten Auflage von „Vernunft und Revolution“ erscheint der „Befreiungszirkel“ in Marcuses Schriften als Merkmal der Befreiung des Menschen in der bestehenden Gesellschaft unserer Zeit und als bedeutender Teil seiner Anschauungen. Im „Eindimensionalen Menschen“ wird der „Teufelskreis“ erneut in voller denkerischer Reife formuliert: „Und ein solcher Umschlag [der Bedingungen, die die repressive Gesellschaft zu verewigen vermögen – Z. T.] ist nicht Sache der Psychologie und Ethik, sondern der Politik in dem Sinne, wie dieser Begriff hier durchweg benutzt wurde: diejenige Praxis, in der die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen entwickelt, bestimmt, aufrechterhalten und verändert werden. Sie ist die Praxis von Individuen, ganz gleich, wie sie organisiert sein mögen. So muß die Frage noch einmal ins Auge gefaßt werden: wie können die verwalteten Individuen – die ihre Verstümmelung zu ihrer eigenen Freiheit und Befriedigung gemacht haben und sie damit auf erweiterter Stufenleiter reproduzieren – sich von sich selbst wie von ihren Herren befreien? Wie ist es auch nur denkbar, daß der circulus vitiosus durchbrochen wird?“ (Marcuse [1967]/1989, S. 261)

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Seit der Ausarbeitung dieser Konzeption widmete Marcuse einen großen Teil seiner intellektuellen Anstrengung den Versuchen, sich dem Zirkelproblem zu „entwinden“, ohne freilich sein Bestehen sowohl auf der denkerischen als auch auf der praktischen Ebene zu ignorieren. Und er gesteht auch seine Ohnmacht als Denker und Mann der Revolution angesichts des „Zirkels“ explizit ein. Während einer Debatte mit Studenten der „Freien Universität“ in Berlin (Juli 1967) wurde Marcuse von einem der Teilnehmer in dieser Sache „unter Druck“ gesetzt. Und so antwortete er: „Sie haben leider die größte Schwierigkeit der Sache hier definiert. Ihr Einwand ist, daß, um die neuen revolutionären Bedürfnisse zu entwickeln, erst einmal die Mechanismen abgeschafft werden müssen, die die alten Bedürfnisse reproduzieren. Um die Mechanismen abzuschaffen, die die alten Bedürfnisse reproduzieren, muß erst einmal das Bedürfnis da sein, die alten Mechanismen abzuschaffen. Genau das ist der Zirkel, der vorliegt, und ich weiß nicht, wie man aus ihm herauskommt“. (Marcuse ([1967]/1980, S. 38)

An anderer Stelle kehrt Marcuse zum selben Problem in noch schärferer Formulierung zurück: „Wir stehen heute vor dem Problem, daß die Umwandlung objektiv notwendig ist, daß aber das Bedürfnis nach dieser Umwandlung gerade bei den Schichten, die klassisch für die Umwandlung definiert waren, eben nicht vorliegt. Erst einmal müssen die Mechanismen, die dieses Bedürfnis ersticken beseitigt werden, was wiederum das Bedürfnis nach ihrer Beseitigung voraussetzt. Das ist eine Dialektik, aus der ich keinen Ausweg gefunden habe“. (Marcuse ([1967]/1980, S. 65)

Im dreizehn Jahre später stattfindenden Rückblick, während einer Podiumsdebatte mit ehemaligen Aktivisten der Protestbewegungen, erinnerte Daniel CohnBendit an diese Aussagen und entschied: „Bei Marcuse selbst gibt es doch ein Problem. In der Diskussion stellt er sich im Grunde genommen irgendwann schachmatt, an einem bestimmten Punkt [. . .], das ist pessimistisch . . .“; „Das ist realistisch . . .“, entgegnete ihm ein anderer Debattenteilnehmer; „Dann ist der Pessimismus eben realistisch . . .“, antwortete ihm der Anführer der Studentenrevolte von 1968 in Paris, woraufhin er folgende Feststellung zu hören bekam: „Wer Sicherheit sucht, wer klare Perspektiven sucht, der sollte nicht Marcuse lesen, der sollte sich an etwas anderes halten“ (Marcuse ([1967]/1980, S. 174). In der Tat findet sich in Marcuses Schriften, in seinem Denken, keine Verheißung, kein „Patent“ zur – zumindest theoretischen – Überwindung des „Teufelskreises“. Die Frage der Befreiung des Menschen ist hier keine rein praktische mehr, sondern eine grundsätzliche, d. h., sie kann sich nicht mehr mit operativen Antworten begnügen, weil die Befreiungsoperation selbst hier infrage gestellt wird (Marcuse 1969, S. 188). Trotz der historischen Spezifität des eindimensionalen Seins im Kontext der entwickelten industriellen Gesellschaften des Spätkapitalismus scheint es, als könne man mit dem „Befreiungszirkel“ (in gewissen Proportionen) frühere historische Epochen charakterisieren, mehr noch – die gesamte transhistorische Ebene der conditio humana. Der Marxschen Auffassung zufolge, der Marcuse sich verschrieben hat, ist die gesamte menschliche Geschichte (die „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“, wie sie

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bei Marx heißt) eine lange Abfolge der Unterdrückung des Menschen; die „Produktionsverhältnisse“ ändern sich zwar: Sklaverei, Feudalismus, „freie“ Lohnarbeit, aber sie erhalten sich in ihrem Wesen die gesamte bisherige Geschichte hindurch – Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen, Entfremdung und Verdinglichung. Die Idee des „freiwilligen Sklaven“ ist uns, wie gesagt, schon aus der Bibel bekannt; auch dort findet sich keine Lösung des Problems, nur seine prinzipielle Verurteilung, die Ächtung der Sklaven, die ihre Freiheit nicht wollen. Diese Idee taucht auch in der westlichen Philosophie seit Platon auf, im „Höhlengleichnis“ und seiner eigentümlichen Moral im siebten Buch der „Politeia“ (Platon 1994, S. 224–226).1 Die Heilige Schrift einerseits und Platon andererseits bieten uns keine wirkliche Lösung für das Problem jener, die ihre Befreiung von selbst nicht wollen; allenfalls zeigen sie uns zweifelhafte Wege, das Problem zu umgehen. Marcuse seinerseits versucht (mit Ausnahme weniger, nicht grundsätzlicher Äußerungen) nicht, das Zirkelproblem zu umgehen, sondern er setzt sich mit ihm auseinander, wobei er sich, wie gezeigt, zu dem Problem aufs deutlichste bekennt. Diese proklamierte Position betont erneut das Gravierende des allgemeinen, in diesem Aufsatz erörterten Problems: Wie lässt sich der Widerspruch verstehen zwischen Marcuse, der die Welt als „eindimensional“ interpretiert und das Problem der menschlichen Befreiung als ausweglosen „Teufelskreis“ darstellt, und Marcuse, der aufs Emphatischste zur Befreiung des Menschen aufruft und sich aktiv dafür einsetzt? Dieses Problem erweist sich noch als wesentlich schwieriger vor dem Hintergrund der von Marcuse vorgenommenen freudianischen Analyse (welche hier, wie gesagt, nicht im Detail vorgestellt werden soll); aus dieser Analyse geht hervor, dass das prinzipielle Problem der Emanzipation des Menschen einschließlich des „Teufelskreises“ (der „psychische Thermidor“ im Kontext der Analyse von Freuds Metapsychologie) im „biologischen“, transhistorischen Sein des Menschen verankert ist, weshalb es scheint, dass kein historischer, ökonomischer oder politischer Wandel – emanzipatorisch wie immer er in seiner Ausrichtung sein mag – das Problem wirklich zu lösen vermag. (Marcuse [1965]/1979, S. 54–74, 81–82; Marcuse [1956]/1980, S. 47; Marcuse et al. 1978, S. 27–28).

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Widersprüchliche Einheit von Bewusstsein und Revolte

Bei Marcuses Erörterung des Problems der menschlichen Emanzipation stehen also beide Teile der „11. Feuerbach-These“ im Widerspruch zueinander. Die Interpretation der Welt widerspricht dem praktischen Grund des Aufrufs zur revolutionären Veränderung der Welt und des Kampfes um diese Veränderung. Das Begreifen dieses Widerspruchs ist vom allgemeinen Begreifen der Lehre Marcuses abhängig. Platon (1994, S. 224–226, 245): Eine ähnliche Situation wie die der „Höhlenbewohner“ Platons, die sich weigern, die Höhle zu verlassen, findet sich in der biblischen Geschichte von den in der Wüste wandernden Israeliten, welche es vorzogen, wieder nach Ägypten (dem „Diensthaus“, „Hause der Sklaverei“) zurückzukehren, statt in das Land Kanaan einzuwandern: Numeri 14 (3–4).

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Im Folgenden seien einige, aus der interpretativen und kritischen Literatur bekannten Erklärungsmöglichkeiten vorgestellt. a. Die Auffassung von Marcuses Befreiungstheorie des Menschen als „utopistisch“ (wie z. B. von Kolakowski, MacIntyre, Harrington und anderen gedeutet). Dieser Deutung der Marcuseschen Lehre zufolge hebt sich vorgeblich der Widerspruch zwischen den beiden Teilen der „11. Feuerbach-These“ auf, denn (entsprechend der Definition von „Utopismus“ bei Marx und Engels) soll ja die Aktivität für die Weltveränderung gar nicht den in der Gesellschaft wirkenden Tendenzen immanent entstammen, daher ist sie nicht durch historisch-spezifische Bedeutungen und Inhalte der Weltinterpretation bedingt. Diese Erklärung „bewältigt“ den Widerspruch, indem sie die Bedeutung eines Teils der „11. Feuerbach-These“ schlicht eliminiert, nämlich die des ersten Teils, der gelehrten Weltinterpretation. Dieser Auffassung zufolge soll der Befreiungsprozess der Gesellschaft „von oben“, „von außen“, in der Form ideologischer Agitation, in der Form einer Erziehungsdiktatur etc. stattfinden. Wie oben gezeigt, hat Marcuse zwar nie eine solche „äußere“ Aktivität abgewiesen und unterstützte sogar sogenannte „äußere“ Gruppen, aber er sah auch in diesen auf keinen Fall eine zureichende Bedingung für die qualitative Veränderung des eindimensionalen Seins und blieb darin Marxens „wissenschaftlichen“, auf Selbstbefreiung ausgerichteten Auffassung treu. b. Die Auffassung des gesamten Denkens Marcuses als „ausweglosen Pessimismus“ (wie von Daniel Cohn-Bendit und anderen aus der ehemaligen „Neuen Linken“ verstanden), mithin die einfache und banalisierende Feststellung, dass es sich dabei ganz und gar nicht um eine Befreiungslehre handle, da sie ja die Möglichkeit ihrer Verwirklichung von vornherein in Abrede stelle. Auch diese Auffassung „bewältigt“ den Widerspruch, indem sie die Bedeutung eines Teils der „11. Feuerbach-These“ negiert – diesmal die des letzten Teils, des revolutionären Aufrufs zur Weltveränderung. Auf jeden Fall vermag diese Auffassung nicht die Tatsache zu erklären, dass Marcuse trotz seiner „eindimensionalen“ Weltdeutung und seines eigenen Bekenntnisses der Ohnmacht angesichts des ausweglosen „Teufelskreises“ nicht aufhörte, die Befreiungsrevolution zu fordern und für sie zu kämpfen. c. Die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen im marcusianischen Gesamtdenken, wie sie Habermas in einem Artikel zum Andenken Marcuses vornimmt: „Psychischer Thermidor und die Wiedergeburt einer rebellischen Subjektivität“ (1981). Unterscheidung zwischen Marcuse, dem Philosophen und Sozialwissenschaftler, dem Interpreten des Spätkapitalismus und Metapsychologen, der, ähnlich wie seine Kollegen Horkheimer und Adorno, letztlich unfähig ist, aus der Analyse der eindimensionalen Gesellschaft und erst recht bei der Grundannahme des „psychischen Thermidors“ die Auferstehung des „revolutionären Subjekts“ abzuleiten und zu beweisen – und Marcuse, dem Revolutionär und rigorosen Humanisten, der beschließt, „lieber inkonsequent als unverantwortlich zu sein“, und entsprechend unentwegt und eindeutig das Recht zur Revolte normativ rechtfertigt (Habermas 1981, S. 334). Gegenüber dem Widerspruch zwischen beiden Teilen

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der „11. Feuerbach-These“ bei Marcuse zeigt diese Auffassung zweierlei „Marcuse“, den einen für den ersten Teil, den anderen für den zweiten. Damit sich der zweite Teil – der Aufruf zur Weltveränderung – verwirkliche, muss der „Revolutionär“ ignorieren, dass er zugleich auch ein „Philosoph“, Interpret der Welt, sei; und damit sich der erste Teil – die adäquate Analyse der Realität – ermögliche, muss der „Philosoph“ ignorieren, dass er zugleich auch ein „Revolutionär“ sei. Der revolutionäre Aufruf Marcuses begreift sich bei Habermas im Wesentlichen als Ausdruck der Überwindung der „wissenschaftlichen“ Ebene durch die „persönliche“. Damit kann aber Habermas m. E. keine einheitliche und umfassende Erklärung des Widerspruchs anbieten. Gegenüber diesen Erklärungsmöglichkeiten möchte ich hier die Möglichkeit aufzeigen, den Widerspruch zwischen Marcuses Weltinterpretation und seinem Aufruf zur Befreiungsevolution im Sinne der Konzeption des „Absurden“ von Albert Camus (in seinem Buch „Der Mythos von Sisyphos“) zu verstehen, einer Konzeption, die Marcuse selbst seinerzeit schätzte und hochhielt (Marcuse [1948]/ 1984, S. 7–9; Marcuse [1968]/1999, S. 68–70). Camus basiert den Begriff des „Absurden“ auf folgender Feststellung: „Im Bereich und auf der Ebene des Verstandes kann ich also sagen, daß das Absurde nicht im Menschen [. . .] und auch nicht in der Welt liegt, sondern in ihrem gemeinsamen und gleichzeitigen Vorhandensein“. (Camus 1959, S. 31)

Der Inhalt dieses das „Absurde“ konstituierenden „gleichzeitigen Vorhandenseins“ bedeutet auf keinen Fall die Annahme des Absurden als Hinnahme der irrationalen Wirklichkeit der Welt und Postulierung dieser Irrationalität als Wesen und letzten Grund der Welt (wie etwa bei Kierkegaard und anderen „Existenzialisten“), denn diese würde Camus zufolge einen „philosophischen Selbstmord“ bzw. einen „Sprung ins Absurde“ bedeuten, somit also auch die illusionär-falsche, entgleitende Aufhebung des Absurden selbst: „Hier wird alles dem Irrationalen geopfert, und wenn das Gebot der Klarheit beiseitegelassen wird, verschwindet das Absurde mit einem seiner Vergleichsbegriffe [nämlich mit der Vernunft, Z. T.]“, (Camus 1959, S. 36) d. h. also, mit der rationalen, humanistischen Forderung einer menschlichen, nicht absurden Welt. Die Verbindung von Mensch und Welt, die das „Absurde“ hervorbringt, ist demnach die Weigerung, das Absurde als wesentliches Charakteristikum der Welt anzuerkennen, bei gleichzeitiger schneidender Gewissheit, dass dies die Realität der Welt sei; das ist die Revolte und die mit ihr einhergehende Forderung der Errichtung einer vernünftigen Welt, obgleich die konkrete Realität offenbar beweist, dass nur das Gegenteil möglich sei. Camus sagt dazu: „Das Absurde hat nur insoweit einen Sinn, als man sich mit ihm nicht einverstanden erklärt“ (So versteht auch Marcuse selbst Camus’ Mythos von Sisyphos. s. Marcuse [1948]/1984, S. 8). Wenn das historisch und sogar das „transhistorisch“ Bestehende, die Entwicklung der menschlichen Zivilisation selbst von Marcuse als absurd aufgefasst werden, indem angesichts der permanenten Steigerung „realer Möglichkeiten“ der Befreiung

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des Menschen sich zugleich Herrschaft und Unterdrückung verfestigen (mithin für ihr Fortbestehen auch die Befreiungsmöglichkeiten selbst vereinnahmen!); und wenn angesichts dieser Einsicht Marcuse sich weigert, sich den Schlussfolgerungen seines eigenen Denkens zu unterwerfen, und weiterhin die „menschliche Klarheit“ fordert, indem er zum revolutionären Kampf um die Befreiung des Menschen aufruft (und zwar selbst dann, wenn es um „den Kampf für das Unmögliche“ geht!), dann nimmt hier der Konnex zwischen Weltinterpretation und Aufruf zur Weltveränderung die prononcierte Bedeutung des „Absurden“ an. Es stellt sich hier die widersprüchliche Einheit von Bewusstsein und Revolte her, welche das „Absurde“ konstituiert. Es handelt sich dabei auf keinen Fall um den Ausdruck eines „credo quia absurdum“, der das Absurde annimmt, sondern um die Charakterisierung der widersprüchlichen Einheit und Spezifität eines revolutionären Denkers, der sich sowohl der Wahrheit als auch der Freiheit des Menschen verpflichtet weiß. Daher interpretiert er die Welt, wie sie ist, als absurde Eindimensionalität, zugleich ruft er aber mit größter Emphase zur Weltveränderung auf, zur Errichtung einer vernünftigen und freien Welt, in welcher seine eigene Weltinterpretation ihre Gültigkeit verlieren würde. Der Widerspruch bleibt bestehen und verkörpert darin in prägnanter Weise das „Absurde“.

7

Schlusswort

Die von Georg Lukács seinerzeit erhobene Frage nach dem „richtigen Marxismus“, dem „orthodoxen“, kann nunmehr mit Bezug auf unser historisches Hier-und-Jetzt erörtert werden und in Begriffen des Absurden (im oben dargelegten Sinne) formuliert werden. Der Kampf um die Befreiung des Menschen ist nicht liquidiert worden, denn auch heute gibt es Erscheinungen des Protests und der Rebellion gegen Unterdrückung und Ausbeutung, sowohl in gewissen nationalen Sphären als auch unter anderen gesellschaftlichen Gruppen, und sogar auf der globalen Ebene. Das Problem besteht aber darin, wie gesagt, dass diese Erscheinungen in eine sisyphische Realität geraten sind, in welcher der humane Kampf zumindest in absehbarer Zukunft aussichtslos ist, und der Kampf selbst mag in letzter Rechnung die moderne Barbarei befördern, die Befestigung des in der Welt herrschenden Besitzsystems. Die Fragen, die ich in diesem Zusammenhang stellen möchte, beziehen sich auf die Bedeutung des Marxschen Kampfes um die Emanzipation des Menschen unter Bedingungen der „Eindimensionalität“, bei denen er sich, wie gesagt, in einer sisyphischen Situation befindet: Zum einen sollte erörtert werden, ob der Kampf um die Befreiung des Menschen trotz der oben beschriebenen Bedingungen doch einen praktischen Wert besitzt, und wenn ja, welchen? Zum anderen – wenn man in der Tat zur (theoretischen) Schlussfolgerung gelangt, dass der Marxsche Kampf um die Befreiung des Menschen in eine absurde Realität gerät, sollte die praktische Bedeutung dieser Schlussfolgerung erörtert

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werden: Was ist unter diesen Bedingungen das Verhältnis zwischen der theoretischen Schlussfolgerung hinsichtlich der Aussichtslosigkeit des Kampfes um die Befreiung des Menschen und der emanzipatorischen Praxis selbst? Oder – in der alten und simplen Formulierung der Revolutionäre – was sollen wir tun? a. Im Unterschied zu dem rein formal-logische Beziehungen anzeigenden „Absurden“ kann man im anstehenden – historisch-gesellschaftlichen, vermeintlich kontingenten – Zusammenhang nicht absolut und a priori behaupten, dass die Praxis des Protests und der Rebellion, selbst unter Bedingungen der „Eindimensionalität“, keine emanzipative Wirkung zeitige. Wenn auch nicht auf der objektiven Ebene als Erlangung des theoretischen Ziels und seiner praktischen Verwirklichung, so doch zumindest partiell, vor allem auf der subjektiven Bewusstseinsebene. Man kann ja trotz allem einen gewissen zweckmäßigen Wert humanistischer Aktivität zeigen, einschließlich der des Protests und der Rebellion: Notstandsaktivität zur Rettung von Hunger- und Epidemieopfern, erste Aufnahme von wehrlosen Flüchtlingen, Aktivität zur Abwehr eines bestimmten ökologischen Schadens, partielle Aufhebung von rassistischer und sexueller Diskriminierung, lokale Behebungen von Ungerechtigkeit etc.; zudem die Steigerung des Bewusstseins der Betroffenen, (objektive) Befestigung und Validierung der (subjektiven) Position des Protestierenden und Rebellierenden etc. Indes, auch eine solche reale Effektivität bezeugt m. E. die Situation des Absurden: Angesichts der als absolut erscheinenden Macht des Spätkapitalismus (etwa seine Stärkung und Ausbreitung nach dem Fall der kommunistischen Regimes Europas infolge der Überwindung der Pseudogegner des „westlichen“ und des „östlichen“ Kapitals) scheint mir jeder Sieg des Marxschen Kampfes um die Befreiung des Menschen (ähnlich wie die allegorische Situation in Camus’ „Die Pest“) einer Ausschöpfung des Meeres mit einem Löffel zu gleichen: Man kann nicht behaupten, dass derjenige, der das Meer auf diese Weise auszuschöpfen trachtet, es nicht auch in der Tat zu einem gewissen Grad tut, aber selbst wenn er die Effektivität seiner Handlung ums Zigfache steigern würde und das Meerwasser etwa mit einem Eimer statt eines Löffels ausschöpfen wollte, wäre auch dies eine absurde, sisyphische Situation. Mehr noch: Wie dargelegt, zeigt sich, Marcuse zufolge, die assimilierende und integrative Kraft der eindimensionalen Gesellschaft in den demokratischen Ländern nicht zuletzt in der praktizierten formalen Toleranz seitens des Staates und sogar seitens der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte. Diese Toleranz wird mit Bezug auf ausscherende Positionen angewendet, selbst wenn diese inhaltlich oppositionell und „negativ“ auftreten, weshalb es oft erscheinen mag, als zeitigten die negierenden Kräfte in der Gesellschaft eine reale Wirkung im bestehenden System. Aber gerade das vermeintlich tolerante und indifferente Verhältnis ihnen gegenüber bezeugt die reale „Immunität“ des bestehenden Systems gegen eine reale Wirkung dieser Positionen, und es gelingt ihm, das ihnen inhärierende negative Potenzial in hohem Maße zu neutralisieren. Unter den Bedingungen der Assimilierung und Integration „negativer“ Faktoren in die „positive“ Realität

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erscheint die Toleranz als repressiv; sie hört auf, ein emanzipatorisches Ziel darzustellen und verkommt zum Mittel einer raffiniert-manipulativen Herrschaft. So besehen, werden auch die verschiedenen Erfolge im Kampf um die Befreiung des Menschen, die im bestehenden repressiven System toleriert werden, durch das System angeeignet und bedienen de facto seinen Fortbestand. b. Das „Absurde“ und „sisyphische Sein“ sind ein theoretischer Begriff und ein darstellendes Bild zu seiner Veranschaulichung. Gesetzt, dass die theoretische marxistische Analyse und die humanistische Sensibilität im Allgemeinen ihr theoretisches Ziel erlangt haben, mithin zur richtigen Einschätzung der Möglichkeiten der menschlichen Befreiung gelangt sind, indem sie die Wahrheit der bestehenden Realität als das Absurde, dessen Bekämpfung aussichtslos ist, erfassen; heißt es dann, dass man angesichts dieser theoretischen Schlussfolgerung einzig an der theoretischen Wahrheit festhalten und die emanzipatorische Praxis ihre Aktivität einstellen sollte? Im Vorwort zu „Der Mensch in der Revolte“ hat Camus sogar die Möglichkeit eines gewissen Lustgewinns an dem durchs Absurde bewirkte Leiden thematisiert. Betrachtet man aber das Wesen des Begriffs des „Absurden“ im Sinne Camus’, erweist sich, dass eine Situation, in der einzig an der theoretischen Schlussfolgerung festgehalten wird, bar jeder Praxis eines Kampfes, der sie zu widerlegen trachtet, eine Situation, in der das bloße Bewusstsein existiert, ohne eine Aktivität des Protestes und der Rebellion gegen seine eigenen Inhalte – in einer solchen Situation wird zwar der innere Widerspruch aufgehoben, mit ihm aber auch die theoretische Schlussfolgerung selbst, das „Absurde“. Das Absurde ist, wie gesagt, eine vom Menschen festgestellte Gewissheit, die er aber nicht akzeptiert, ein Widerspruch in sich selbst. Und was den hier erörterten Zusammenhang anbelangt, lässt sich sagen: Die Wirklichkeit des Spätkapitalismus – in Form der Eindimensionalität und der modernen Barbarei – ist das Absurde „dank“ der Tatsache, dass sie jemand als solche erkennt (als eine repressive Gesellschaft, die die Aussicht auf ihren Untergang in absehbarer Zukunft aufhebt und es auch schafft, sich die Resultate der Aktivität ihrer Gegner gegen deren eigenen Willen anzueignen und für ihren eigenen Fortbestand einzusetzen); im Angesicht dieser Erkenntnis perpetuiert er – ohne jegliche Aussicht auf Erfolg – seine emphatische Revolte gegen sie, setzt mithin de facto den Marxschen Kampf fort, einen prometheisch-sisyphischen Kampf um die Befreiung des Menschen. Entsprechend der Analyse der eindimensionalen Gesellschaft, die den Kapitalismus unserer Zeit kennzeichnet, versteht es sich, dass nicht nur ohne den Marxschen Kampf um die Befreiung des Menschen, sondern auch mit ihm sich die bestehende Realität erhalten könnte – gibt es doch keine vertrauenswürdige Perspektive, die das Gegenteil zu behaupten vermöchte. Aber ohne den Kampf gegen diese repressivausbeuterische Realität, eine Realität der Entfremdung und Verdinglichung, will es scheinen, dass die bestehende „Barbarei“ nicht einmal als solche definiert, mithin nicht als eine Realität des Absurden aufgefasst würde. Unter solchen „nicht-absurden“ Bedingungen, lässt sich denken, dass der Kampf um die Befreiung des

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Menschen seine Bedeutung nicht nur in der Gegenwart und in der absehbaren Zukunft verlieren, sondern ganz und gar aus der Welt verschwinden würde. Die daraus folgende praktische Konsequenz – die Antwort auf die Frage nach dem „richtigen Marxismus“ in unserer Zeit und die Antwort auf die Frage der Praxis angesichts der oben erörterten theoretischen Schlussfolgerungen – ist demnach, den Protest und die Revolte, den Marxschen Kampf um die Befreiung des Menschen nicht aufzugeben. Der Mythos des Sisyphos erhält somit die Bedeutung der Wahrheit, die die Lage des Marxismus heute ausdrückt, dank der Perpetuierung des entschiedenen Kampfes von „Sisyphos“ gegen den hartnäckigen Stein der kapitalistischen Unterdrückung und Ausbeutung – dank der Verstetigung des Marxschen Kampfes um die Befreiung des Menschen. In den Inhalten des sozialen und politischen Denkens Herbert Marcuses und in seinem gleichzeitigen emphatischen Aufruf zur revolutionären Praxis – in Marcuses widersprüchlicher Einheit von Bewusstsein und Revolte – manifestiert sich der sisypische Marxsche Kampf um die Befreiung des Menschen.

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Marcuse, H. ([1968]/1999). Jenseits des eindimensionalen Menschen. In H. Marcuse & v. P. Jansen (Hrsg.), Nachgelassene Schriften (Bd. 1, S. 67–80). Lüneburg: Zu Klampen Verlag. Marcuse, H. (1968a). Defines His New-Left Line. In New York Time Magazine, 27.10.1968, S. 29. Marcuse, H. (1968b). Gibt es noch Christen? Ein Gespräch mit Harvy Wheeler. In Neues Forum (Wien) 15/176–177, S. 533–535. Marcuse, H. (Hrsg.). (1969). Befreiung von der Überflußgesellschaft. In Kursbuch 16 (S. 185–198). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Marcuse, H. (Hrsg.). ([1969]/1984). Versuch über die Befreiung. In Schriften (Bd. 8, S. 237–317). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H. (Hrsg.). ([1975]/1987). Theorie und Praxis. In Schriften (Bd. 9, S. 143–158). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H., Habermas, J., Lubasz, H., & Spengler, T. (1978). Theorie und Politik. In J. Habermas & S. Bovenschen (Hrsg.), Gespräche mit Herbert Marcuse (S. 9–62). Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Marx, K. ([1844]/1968). Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. MEW, 40, 465–588. Marx, K. ([1844]/1981). Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung. In MEW (Bd. 1, S. 378–391). Berlin: Dietz Verlag. Marx, K. ([1845, 1888]/1983). Thesen über Feuerbach. Publiziert von Friedrich Engels. In MEW (Bd. 3, S. 533–535). Berlin: Dietz. Marx, K. ([1859]/1981). Zur Kritik der Politischen Ökonomie – Vorwort. MEW, 13, 7–11. Marx, K. ([1867]/1984). Das Kapital. Bd. 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. In MEW (Bd. 23). Berlin: Dietz. Marx, K. ([1894]/1984). Das Kapital. Bd. 3. Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktionsweise. In von F. Engels (Hrsg.), MEW (Bd. 25). Berlin: Dietz. Marx, K., & Engels, F. ([1845]/1981). Die deutsche Ideologie. MEW, 3, 9–530. Platon. (1994). Politeia. In Platon, Sämtliche Werke (S. 224–226, 245). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag. Tauber, Z. ([1994]/2002). Befreiung und das „Absurde“: Studien zur Emanzipation des Menschen bei Herbert Marcuse. Gerlingen: Bleicher Verlag.

Kritische Intellektualität Susanne Martin

Zusammenfassung

Kritische Intellektualität in der Tradition der älteren kritischen Theorie fußt auf zwei Prämissen: Erstens der Notwendigkeit der Reflexion der eigenen Erkenntnisposition, die als gesellschaftlich privilegierte immer schon Teil an bestehenden Herrschaftsverhältnissen und deren Aufrechterhaltung hat. Zweitens der selbstverständlich gesetzten, befreiungsorientierten Annahme, dass es Ziel kritisch-intellektueller Arbeit sei, für gesellschaftliche Emanzipation einzutreten. Der Beitrag untersucht diese Voraussetzungen als konzeptionelle Grundlagen kritischer Intellektualität im Vergleich mit alternativen (Selbst-)Verständnissen. Im Ergebnis offenbart sich kritische Intellektualität als Denkhaltung und Praxis, die konsequent Widersprüche aufrechthält und unter heute veränderten Bedingungen aktualisiert werden kann. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Intellektuelle · Aufklärung · Kulturindustrie · Politik

S. Martin (*) Institut für Politikwissenschaft, Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_19

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Vorbemerkung

Es ist beinahe ein Allgemeinplatz der Beschäftigung mit dem Intellektuellen,1 dass eine eindeutige, verbindliche Definition dieser Figur nicht existiert. Das ist weniger problematisch als es das wissenschaftliche Streben nach ebensolchen Definitionen suggeriert. Wenn man den „Zeitkern“ von Begriffen und Theorien anerkennt, leuchtet unmittelbar ein, dass sich historisch und gesellschaftlich ändert, wer als Intellektueller gilt und was als seine Funktion oder Aufgabe bestimmt wird. Was also unter einem Intellektuellen verstanden wird, „ist [. . .] niemals von vornherein festgelegt, sondern hängt von spezifischen historischen Konstellationen und Möglichkeitshorizonten ab“ (Kroll und Reitz 2013, S. 11). Daher sind nähere Bestimmungen nur im zeit- und lebensgeschichtlichen Kontext oder Vergleich sinnvoll, auch wenn sie eine begrenzte Reichweite haben mögen.2 Aus diesem Umstand ergeben sich zwangsläufig Grenzen meiner Ausführungen. Ich beabsichtige weder eine Definition oder Theorie des (kritischen) Intellektuellen zu formulieren noch die Vielfalt intellektueller Praxis, die die Sozialgeschichte dieser Figur bereithält, auch nur ansatzweise abzubilden. Verglichen damit ist mein Thema eng umrissen: Ich untersuche das Intellektuellenverständnis der Kritischen Theorie als Modell, und zwar als Modell im Sinne eines konkreten, theoretisch ausgearbeiteten und praktisch vollzogenen Verständnisses von kritischer Intellektualität in der Tradition marxistisch orientierten, aufklärerisch-emanzipatorischen Denkens (vgl. Demirović 2003; Steinert 2007, S. 173–178). Es soll aber nicht starr und autoritativ aufgefasst werden, sondern helfen, andere und neue Verständnisse im Kontrast zu klären. Das Modell dient also dem Vergleich und vor allem der Weiterarbeit, indem es Aspekte vergegenwärtigt, die berücksichtigt werden müssen, um von kritischer Intellektualität in der genannten Tradition sprechen zu können, und indem es zu Korrekturen und Ergänzungen anregt. Auf dieser Grundlage will ich zwei Aspekte herausstellen, die für das Verständnis von kritischer Intellektualität zentral sind und die ich als konzeptionelle Voraussetzungen ausloten werde. Dies ist zum einen die notwendige Reflexion des Widerspruchs der Existenz und Redeposition des kritischen Intellektuellen, der in

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Ich verwende die maskuline Form, weil der Beitrag überwiegend männliche Intellektuelle bzw. deren Selbstverständnis zum Gegenstand hat. Wie in den meisten Analysen zum Thema bleiben auch im Folgenden weibliche Intellektuelle und weibliche Intellektuellenverständnisse ausgeklammert. Ich will daher wenigstens auf weiterführende Literatur hinweisen: Grimm 1994; Vinken 2010 sowie Die Philosophin 19/1999 mit dem Schwerpunktthema Intellektualität und Weiblichkeit. Portraits und programmatische Texte weiblicher Intellektueller finden sich in der dreibändigen Reihe Klassikerinnen feministischer Theorie hrsg. von Gerhard 2008; Wischermann 2010 und Schmidbaur 2013. 2 Einen umfassenden Einblick in die über 100-jährige Begriffs- und Sozialgeschichte des Intellektuellen gibt Bering 2010. Diese offenbart, dass Intellektuelle stets sowohl dem politisch linken als auch rechten Lager entstamm(t)en, dass Formen, Inhalte und Gegenstände intellektueller Interventionen erheblich variier(t)en, dass selbst die Aufgabe der Kritik, die Intellektuellen gemeinhin zugeschrieben wird, ganz unterschiedliche Kritikformen, -gegenstände etc. umfassen kann.

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der kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit nicht wegzudefinieren ist. Die privilegierte soziale Position bedeutet auch einen privilegierten Zugang zu Wissen und Erkenntnis, die Möglichkeit, Distanz zum gesellschaftlichen Lebensprozess einzunehmen – zu kritisieren. Daher ist dieser Rolle die Teilhabe an sozialer Herrschaft immer schon eingeschrieben, auch wenn wie in vielen postmodernen Selbstverständnissen die privilegierte Rede zugunsten einer offenen, demokratischen, pluralistischen Diskussion zurückgewiesen wird. Diese Geste unterliegt dem „falschen Eindruck, dass gesellschaftliche Macht verschwinden würde, wenn Intellektuelle die von ihnen selbst ausgeübte ablehnen“ (Demirović 1993, S. 499). De facto können Intellektuelle aber aus dem angesprochenen Verhältnis nicht heraustreten, den Widerspruch ihrer kritischen Rolle nicht auflösen. Allen voran Adornos intellektuelle Haltung veranschaulicht, wie der Widerspruch systematisch in die eigene Theorie und Praxis einbezogen wird, um gleichzeitig Denken und Kritik zu verteidigen und die gesellschaftlichen Bedingungen, die dies gewährleisten, zu verurteilen. Der zweite Aspekt, der aus dem Intellektuellenverständnis der Kritischen Theorie gewonnen werden kann, ist die selbstverständlich gesetzte, befreiungsorientierte Prämisse, dass es Ziel der kritischen Arbeit sei, für eine auf das gesellschaftliche Ganze gerichtete Emanzipation einzutreten. Das verbindet die Kritische Theorie aufs engste mit Marx, allerdings mit signifikanten Modifikationen, die nicht zuletzt politischen Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rechnung tragen. Angesichts des Scheiterns der Revolution von 1917–19, des siegreichen Nationalsozialismus, der Diktatur Stalins, aber ebenso des fortgeschrittenen und fortschreitenden Kapitalismus, den Horkheimer und Adorno im amerikanischen Exil erfahren, können die hergebrachten Prognosen und Bündnisse nicht mehr ohne weiteres gelten. Die Frage, die sich daher stellt, lautet: Wie ist Befreiung möglich, nachdem die Revolution endgültig versäumt wurde und man im Zustand der Barbarei längst angekommen war? (vgl. Steinert 2007, S. 178 f.) Die Antwort der Kritischen Theorie bezeugt keineswegs den tiefen Pessimismus, der ihr nachhaltig attestiert wird. Wiederum Adorno entwickelt ein kompliziertes Modell kritischer Negation, das die emanzipatorischen Versprechen der Aufklärung bewahrt. Und es ist aus seiner Sicht weiterhin Aufgabe der Intellektuellen, in Theorie und Praxis für diese Versprechen einzutreten. Ich werde in meinem Beitrag diese kursorisch dargestellten Aspekte als konzeptionelle Voraussetzungen kritischer Intellektualität diskutieren, und zwar anhand eines Rekurses auf das Intellektuellenverständnis der Kritischen Theorie im Vergleich mit ausgewählten alternativen Entwürfen. Es scheint sinnvoll, entlang von drei Verhältnisbestimmungen vorzugehen, die systematisch Intellektuellenentwürfe prägen und den Vergleich ermöglichen: a) dem Verhältnis zum Universellen, verstanden als der Anspruch, im Namen universeller Werte zu sprechen, b) dem Verhältnis zur Öffentlichkeit und c) dem Verhältnis zur Praxis. Im Anschluss an das so zumindest grob abgesteckte Theorieumfeld soll auch der gegenwärtige Stellenwert des Intellektuellenverständnisses der Kritischen Theorie geprüft und eine Aktualisierung vorgenommen werden.

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Das Intellektuellenverständnis der Kritischen Theorie im Vergleich

Ohne Frage war es das Zusammenspiel vieler Faktoren, das den Erfolg der Kritischen Theorie nach der Rückkehr aus dem Exil ausmachte: die Attraktion und Überzeugungskraft ihrer Begriffe und Denkmodelle in der postfaschistischen deutschen Nachkriegsgesellschaft, eine geschickte Theorie- und Wissenschaftspolitik weit über den Kontext der Frankfurter Universität hinaus, vor allem Adornos Präsenz und Wirken im öffentlichen Kulturbetrieb, schließlich die Effekte der sich bald einstellenden kulturindustriellen Prominenz. Bemerkenswert ist dennoch, dass dies in einer Haltung gelingt, die weder theorieimmanente noch die der öffentlichen Praxis eingeschriebenen Widersprüche glatt bügelt, sondern sie konsequent aufrechthält. Eine Haltung, die freilich auch damals ausgesprochen nonkonform, also beinahe eine Außenseiterhaltung war, jedenfalls gegen den „Normalzustand“ intellektueller und wissenschaftlicher Arbeit funktionierte. Ich habe sie an anderer Stelle als Form von Intellektualität charakterisiert, die im Widerspruch erfolgt (vgl. Martin 2013); an den genannten Verhältnisbestimmungen lässt sich dies konkretisieren.

2.1

Verhältnis zum Universellen

Seit dem Erscheinen des modernen Intellektuellen während der Dreyfusaffäre in Frankreich ist mit dieser Figur der Anspruch verbunden, im Namen universeller Werte zu sprechen. In der Folge konstituiert sich das Profil des „allgemeinen“ oder „universellen Intellektuellen“, häufig orientiert an seinem historischen Vorbild Émile Zola. Statt an partikularen Interessen orientiert sich der universelle Intellektuelle an Vernunft und Wahrheit, engagiert sich für Humanität und Freiheit und begründet damit eine Rolle, die eng mit der abendländischen Aufklärung verbunden ist. Allerdings muss ein Kurzschluss vermieden werden: „Intellektuelle sind [. . .] nicht dadurch schon allgemein, daß sie einen Anspruch auf Allgemeinheit erheben und sich in bestimmten objektiven Denkformen bewegen.“ (Demirović 1999, S. 28) Stattdessen ist das Verhältnis zwischen dem Intellektuellen und dem Universellen genauer zu bestimmen. Eva Kreisky (2000) zufolge lassen sich auf dieser Grundlage Intellektuellenverständnisse der Moderne von denen der Nachmoderne kategorial unterscheiden: Letztere geben den Universalitätsanspruch auf, während erstere ihn aufrechthalten, wenn auch mit zeitgeschichtlich bedingten Modifikationen und Komplikationen.3 In dieser Unterscheidung kann Jean-Paul Sartres Konzeption als letzter Versuch gelten, den universellen Intellektuellen zu behaupten. Sein Entwurf problematisiert 3

Kreiskys Unterscheidung orientiert meine Auswahl der Entwürfe für den ersten Vergleich (2.1 Verhältnis zum Universellen). Sartre hält kompliziert am universellen Intellektuellen fest, repräsentiert aber bereits einen „Zwischenentwurf“. Postmoderne – Foucault und Lyotard – und postkoloniale – Said – intellektuelle (Selbst-)Verständnisse verabschieden den Anspruch auf Universalität und geben damit ein charakteristisches Merkmal des modernen Intellektuellen auf.

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jedoch zunächst eine falsche bzw. vorschnelle Universalität (Sartre 1975, S. 21 f.) und nimmt damit Schwierigkeiten und Widersprüche traditioneller Verständnisse auf. Nach Sartre repräsentiert der Intellektuelle zwar allgemeingültiges Wissen, dieses muss aber in Konflikt mit der herrschenden Ideologie geraten, die nur scheinbar universalistischen Prinzipien folgt, tatsächlich jedoch den partikularen Interessen der bürgerlichen Klasse entspricht. Der Intellektuelle sei daher gezwungen, „das Allgemeine in den Dienst des Besonderen“ zu stellen (Sartre 1975, S. 24). Da er seiner Klassenlage nach zur Bourgeoisie gehört, erfährt er diesen Konflikt als Widerspruch in der eigenen Person, als „ständige[n] Kampf“ zwischen seinen allgemeingültigen Prinzipien, seinem Anspruch auf Wahrheit einerseits und den Beschränkungen und der Dienstbarmachung dieser Prinzipien zugunsten der bürgerlichen Herrschaft, denen er selbst unterliegt, andererseits (Sartre 1975, S. 24). Der Intellektuelle kann aus Sicht Sartres nur zum „wahren Intellektuellen“ werden, wenn er diesen Widerspruch nicht akzeptiert, sondern ihn durch Radikalität „für sich und infolgedessen für alle“ überwindet (Sartre 1975, S. 45, H.i.O.). Radikalität erweist sich dadurch, dass der Intellektuelle in allen sozialen Konflikten an der Seite der Unterdrückten steht; mit ihnen teilt er den Anspruch auf wahrhafte Universalität. Sartres Entwurf kennt demnach ein letztes und universelles Interesse der Unterdrückten, mit dem der Intellektuelle übereinstimmt und in dessen Namen er agiert. Allerdings meint dies eine zukünftige Universalität: „Das humane Universale muss erst geschaffen werden.“ Wer hingegen „heute schon“ einen universalistischen Standpunkt einnimmt, reproduziere das falsche Allgemeine der herrschenden Ordnung (Sartre 1975, S. 34, H.i.O.). Mit dem Vorbehalt eines erst künftigen Universalismus wird der Intellektuelle schließlich zum „Hüter der grundlegenden Ziele“, derer der Emanzipation, Universalisierung und Humanisierung der Menschen (Sartre 1975, S. 46, H.i.O.).4 Sartres Entwurf nimmt bereits einige der Einwände vorweg, die postmoderne Autoren gegen die Figur des universellen Intellektuellen erheben; in Kreiskys Einteilung lässt er sich am ehesten als „Zwischenentwurf“ verstehen. Es folgt eine radikalere Kritik des Universalitätsanspruchs und seiner Prinzipien, die deren emanzipatorische Funktion, die – auch bei Sartre – selbstverständlich vorausgesetzt war, hinterfragt (bspw. Foucault 1977; Gouldner 1980; Lyotard 1985). Michel Foucault (1977, S. 149) etwa stellt die Verbindung heraus, die Wahrheit und Macht eingehen: „Das Wichtige ist meines Erachtens, dass die Wahrheit weder außerhalb der Macht noch ohne Macht ist [. . .].“ Ihre Koalition bewirkt den Einoder den Ausschluss von Wissensformen, verstanden als die vielfältigen Kämpfe, Verfahren, Techniken und Regeln, inklusive der dominant beteiligten Institutionen, die austragen, welches Wissen als wahr anerkannt und welches unterdrückt oder ausgeschlossen wird. In diesem Verständnis induziert Wahrheit „nicht nur Freiheit, 4

Sartres Vorbehalt interpretiert Kreisky (2000, S. 36, 54) auch als Versuch, politische Vereinnahmung abzuwehren, sich in der Blockbildung des Kalten Krieges „nicht auf die (Gemeinschafts-) Ideologie des Westens einschwören [zu lassen]“. Allerdings mit geringem Erfolg: Ein intellektuelles Grenzgängertum zwischen den ideologischen Lagern sei real „unmöglich“, Parteilichkeit für eine der beiden Seiten [nahezu] unumgänglich“ gewesen.

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sondern auch Kontrolle; sie hat [. . .] eine autoritäre Kehrseite“ (Demirović 1999, S. 17). Für Foucault ist der universelle Intellektuelle daher eine problematische Figur. Sie werde vom „spezifischen Intellektuellen“ abgelöst, der auf der Grundlage spezialisierten Wissens in lokalen Kämpfen agiere. Dessen Rolle bestehe nicht mehr im ideologischen Kampf für die „richtige“ Wahrheit, sondern darin, „eine neue Politik der Wahrheit zu konstituieren“, d. h. die politische, ökonomische und institutionelle Ordnung zu verändern, in der aktuell das Wahre hergestellt und durchgesetzt und vom Falschen geschieden wird (Foucault 1977, S. 146, 151 f.). In ähnlicher Weise argumentiert Jean-François Lyotard (1985). Auch er kritisiert den Machtanspruch, der mit der universellen Rede einhergeht, und argumentiert, dass es ein historisches Subjekt längst nicht mehr gebe, für das der Intellektuelle sprechen könne; ihm sei daher sein „Grabmal“ zu errichten. Wird dies verkannt und weiterhin im Namen universeller Werte agiert, bedeutet dies Lyotard zufolge eine autoritäre und usurpatorische Verallgemeinerung der partikularen Interessen der Intellektuellen. Politische Einmischung sei zwar nicht obsolet geworden, gründe aber statt in einem universellen Standpunkt in der „ethischen und bürgerlichen Verantwortlichkeit“ und beschränke sich auf „defensive und lokale Stellungnahmen“, die „Geschmeidigkeit, Toleranz und ‚Wendigkeit‘“ erforderten (Lyotard 1985, S. 18).5 Anders als Foucaults Entwurf des spezifischen Intellektuellen wurde Lyotards Argumentation jedoch als übereilte Zurückweisung des Intellektuellen kritisiert (u. a. Bourdieu 1991; Demirović 1993; Said 1997). Wichtig ist schließlich die Konzeption von Edward W. Said (1997), der die Rolle des Intellektuellen in der postkolonialen Welt reflektiert und einen Universalismus freilich ebenfalls problematisiert. Spätestens im Zuge der antikolonialen Befreiungskämpfe ist diese eurozentristische Vorstellung erodiert; notwendig müssen auch außereuropäische intellektuelle (Selbst-)Verständnisse und Traditionen ins Blickfeld geraten: „Wenn man heutzutage von Intellektuellen spricht, spricht man genau genommen von nationalen, religiösen, ja sogar kontinentalen Variationen, von denen jede für sich untersucht werden müsste.“ (Said 1997, S. 32) Nicht zuletzt Autoren wie Foucault und Lyotard hätten dem Rechnung getragen und dafür sensibilisiert, dass „die sogenannte objektive Wahrheit“ letztlich auf der Grundlage der gewaltsamen Überlegenheit der Weißen konstruiert werde (Said 1997, S. 99 f.). Dennoch kritisiert er die französischen Philosophen: „Ich hatte freilich von Anfang an den Eindruck, Lyotard und seine Anhänger bekundeten mit dieser Position weit mehr ihr eigenes träges Unvermögen, vielleicht sogar ihre Gleichgültigkeit, als daß sie ein zutreffendes Urteil darüber abgäben, welche – zahllosen – Möglichkeiten dem Intellektuellen trotz der Postmoderne noch verbleiben.“ (Said 1997, S. 24) Said lotet diese Möglichkeiten aus. Weder dürfe die traditionelle Rolle 5 Eine stärkere Verschiebung hin zu Spezialisten und Experten unternimmt Alvin W. Gouldner (1980), der die „technische Intelligenz“ zur neuen Klasse erklärt, die den Fortschritt in einer transformierten, postfordistischen Gesellschaft sichern soll. Sein Entwurf spiegelt vor allem die Euphorie einer möglichen technokratischen Gestaltung von Politik und Gesellschaft, subsumiert daher letztlich den Intellektuellen unter eine Expertokratie, die möglicherweise auch eine herrschaftsbekräftigende Rolle spielen kann (vgl. Kreisky 2000, S. 30; Martin 2013, S. 176).

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in neokonservativer Manier krampfhaft festgehalten werden noch erschöpfe sich die Aufgabe von Intellektuellen in lokalen Kämpfen. Von Intellektuellen mit kolonialer Vergangenheit fordert Said, stets Fragen zu berücksichtigen, die den Kontext der eigenen Befreiungsbewegung überschreiten, etwa Fragen der Gleichheit und Versöhnung der Kulturen. Handlungsanleitend soll die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sein, ihre Standards orientieren aus seiner Sicht die heutige „Wahrheit“, die Intellektuelle unvermindert aussprechen müssten. Deren allgemeine Rolle bestehe darin, lokale und ggf. eigene Leiderfahrungen „als universelle anzusehen, [. . .] das Leiden einer bestimmten Rasse oder Gruppe oder Nation mit dem Leiden anderer in Zusammenhang zu bringen“ (Said 1997, S. 50). Said eröffnet eine Perspektive, die das Muster heterogener Kämpfe fokussiert. Zentral ist die Erfahrung von Leid, die als Ausbeutung „von Arbeitern, Frauen, Kindern, Immigranten und Flüchtlingen“ existiert und die bekämpft werden muss (Said 1997, S. 106). Das Muster herauszustellen, bedeutet für ihn nicht, jeweilige Besonderheiten zu relativieren, stattdessen hilft es, Einsichten und Lehren, die aus einer spezifischen Leiderfahrung gezogen wurden, in anderen Situationen zu berücksichtigen. In dieser Perspektive ist das einzelne Ereignis „Teil einer sich entfaltenden Geschichte“, gegen die der Intellektuelle Einspruch erhebt (Said 1997, S. 108). Über kollektives Leid und sein Fortbestehen gelingt also eine Vermittlung von universellem Anspruch und universeller Aufgabe der Intellektuellen und ihrer notwendigen Beschränkung auf spezifische Kontexte. Das weist durchaus Parallelen zu Adorno auf. Allerdings thematisiert Said nicht, dass die Einsichten und Lehren, die gezogen werden, von den Situationsdeutungen der Intellektuellen abhängen; sie entscheiden, was als allgemein bzw. kollektiv und was als besonders gilt. Er reflektiert also den usurpatorischen Anspruch, den kritische Intellektuelle in ihren Interventionen erheben, nicht mehr. Wie ist im Lichte der bisher dargestellten Konzeptionen das Intellektuellenverständnis der Kritischen Theorie zu beurteilen?

2.1.1 Universell und partikular In ihren Arbeiten, allen voran der Dialektik der Aufklärung, nehmen Horkheimer und Adorno (1944/47) wesentliche Aspekte der späteren postmodernen Kritik vorweg: Aufklärung und ihre Prinzipien können in einem emphatischen Sinn nicht mehr als Orientierung für kritisches Denken fungieren. Ihnen ist ein „rückläufiges Moment“ immanent (Horkheimer und Adorno 1944/47, S. 18); Vernunft ist nicht nur Mittel der Freiheit, sondern auch Instrument von Herrschaft. Schon in Gestalt des Mythos etabliert sie sich als Unterwerfung der Natur, und als bloße Naturbeherrschung entfaltet sie seitdem ihr destruktives Potenzial, das nur in Selbstzerstörung enden kann. Vernunft wird in diesen Überlegungen aber nicht allein gattungsgeschichtlich analysiert, sie hat auch eine Klassendimension, Naturherrschaft lässt sich mithin als Ergebnis von Klassenherrschaft bestimmen: „[V]on jenem Ursprung an, in dem Wissen sich der Natur entgegensetzte, um über sie zu verfügen, [war es] Bestandteil der Verfügungsgewalt derjenigen, die die Natur um gewünschter Wirkungen wegen manipulierten und daraus das Recht ableiteten, die Arbeit der anderen zu kommandieren.“ (Demirović 1999, S. 58) Vernunft und die in ihrem Namen

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agierenden Intellektuellen übernehmen also eine Funktion in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, sie leisten einen Beitrag zur Vollstreckung und Aufrechterhaltung des Partikularen, der mit der (eigenen) privilegierten sozialen Position verbundenen Interessen. Anders als Lyotard beabsichtigen die Autoren der Dialektik der Aufklärung eine kritische Rettung der Vernunft, und auf dieser Grundlage akzentuiert Adorno zunächst die (Herrschafts-)Position des Intellektuellen als Erkenntnisprivileg: Sie verschaffe Distanz zum gesellschaftlichen Lebensprozess und seinen Anforderungen, biete die Möglichkeit, Kritik zu üben bzw. „überhaupt noch [zu] Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins“ (Adorno 1951, S. 28). Widerstand und emanzipatorische Interventionen sind demnach im kritischen Intellektuellen konzentriert. Aber dieser Anspruch wird sogleich reflexiv eingeholt, indem Adorno die soziale Position, die allein den Anspruch rechtfertigt, als Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung kritisiert: „Die eigene Distanz vom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betrieb abwirft.“ (Adorno 1951, S. 27) Das Dilemma lässt sich Adorno zufolge nicht lösen, deshalb stellt er den Widerspruch des kritischen Intellektuellen heraus: Dieser muss die Privilegien, die seine gesellschaftliche Position ihm bietet, nutzen, um sie verurteilen zu können. Nur in diesem widersprüchlichen Gestus scheint die Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft überhaupt noch möglich (vgl. Martin 2013). Das Intellektuellenverständnis Adornos erweitert die bisher dargestellten Konzeptionen um diesen wichtigen Aspekt: dass die herrschaftliche Funktion des Intellektuellen weder zurückgewiesen (Lyotard) noch durch Einsicht überwunden (Sartre) werden kann. Sie muss als Widerspruch der Position und Rolle des kritischen Intellektuellen reflexiv einbezogen werden. Das ist nicht gering zu schätzen, denn Selbstreflexion wirft ein grelles Licht auf den usurpatorischen Anspruch der Intellektuellen und klammert ihn – anders als Said – selbst dann nicht aus, wenn man „[e]inig [ist] mit dem Leiden der Menschen“ (Adorno 1951, S. 27). Die Rettung der Vernunft liegt nach Horkheimer und Adorno in der Selbsterkenntnis der Vernunft, die sich ihrer Partikularität gewahr wird und sie kritisch aufnimmt. In diesem Prozess muss die Rolle des Intellektuellen zuallererst verteidigt werden, und zwar mit dem emanzipatorischen Ziel einer Reorganisation der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in der alle Zugang zu Erkenntnis und Wahrheit haben sollen.

2.2

Verhältnis zur Öffentlichkeit

Nach Said (1997, S. 17 f., H.i.O.) kann es „[s]o etwas wie einen privaten Intellektuellen [nicht geben]“, seine Stellungnahmen seien immer „in der Öffentlichkeit und für eine Öffentlichkeit“. Damit schließt er an das (Selbst-)Verständnis der Intellektuellen während der Dreyfusaffäre an. Der Einspruch Zolas und seiner Mitstreiter gegen die Verurteilung des Hauptmanns, dessen spätere Begnadigung und Rehabilitation waren an eine anhaltend diskutierende Öffentlichkeit gebunden, was nicht zuletzt in der täglichen Berichterstattung des Prozessverlaufs in den

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Zeitungen Ausdruck fand (vgl. Gilcher-Holtey 2007). Auch Jürgen Habermas6 (1987, S. 30) rekurriert zunächst auf die Verhältnisse in Frankreich, wenn er die politische Öffentlichkeit, die sich als Sphäre zwischen Politik und Wissenschaft im 18./19. Jahrhundert herausbildete, als die dem Intellektuellen „vorbehaltene Arena der öffentlichen Meinung“ behauptet. Mit „Argumenten für verletzte Rechte und unterdrückte Wahrheiten, für fällige Neuerungen und verzögerte Fortschritte“ versuche der Intellektuelle auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss zu nehmen (Habermas 1987, S. 29). Eine so verstandene politische Öffentlichkeit hatte aber zu Zeiten in Deutschland keinen Raum, da die traditionelle akademische Intelligenz, die Mandarine, auf der strikten Trennung von Geist und Politik beharrte, wie etwa die einschlägigen Texte Max Webers belegen. Habermas konzipiert die Rolle des Intellektuellen nun ausdrücklich als die eines „Mittlers“ zwischen diesen Bereichen: Er erkenne die Autonomie beider Bereiche an, ohne sie zu fetischisieren. Denn der Intellektuelle engagiere sich für öffentliche Interessen „im Nebenberuf“; er übersetze verbindliche wissenschaftliche Einsichten durch rational argumentierendes Engagement in der Öffentlichkeit in Politik (Habermas 1987, S. 42; Demirović 1992, S. 53). Wichtig ist, dass diese Übersetzungsfunktion gewahrt wird, der Intellektuelle also weder selbst politische Macht zu erringen sucht noch sich vom politischen Betrieb vereinnahmen lässt. Demzufolge konzentrieren sich seine Interventionen darauf, die komplexen Sachprobleme spezifischer Sphären wie der Wissenschaft verständigungsorientiert in den öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess einzubringen, was freilich zugleich demonstrieren soll, dass kommunikative Macht den politischen Prozess zu beeinflussen vermag (vgl. Müller-Doohm 2006, S. 30 ff.). Zuletzt problematisierte Habermas (2008) die Rolle des Intellektuellen in einer durch digitale Kommunikationsmedien massiv veränderten, „entformalisierten“ Öffentlichkeit. Allen voran das Internet, dessen egalitäre und zuweilen subversive Wirkung er begrüßt, schwäche zugleich eine wichtige Errungenschaft traditioneller Öffentlichkeiten. Diese filterten nämlich Mitteilungen und Beiträge und orientierten so die Aufmerksamkeit eines anonymen und zerstreuten Publikums. In der erweiterten Internet-Öffentlichkeit fehle diese Bündelung, Stellungnahmen verpufften, die Beiträge von Intellektuellen verlören die Kraft, einen Fokus zu bilden (vgl. Habermas 2008, S. 81 f.). Eine weitere Ursache für die Krise der traditionellen Intellektuellenrolle liegt Habermas zufolge in deren Entdifferenzierung, der zunehmend schwieriger werdenden Abgrenzung zum Experten. Begünstigt durch das Fernsehen, das den iconic turn, die Wende vom Wort zum Bild beschleunigte, rückten die Sprechenden und damit ihre Selbstdarstellung in den Vordergrund mit der Folge einer „Vermischung von Diskurs und Selbstdarstellung“

6

Ich ziehe Habermas’ (Selbst-)Verständnis für den zweiten Vergleich (2.2 Verhältnis zur Öffentlichkeit) heran, weil es die Orientierung an Verständigung betont; charakteristisch für die intellektuelle Intervention sind demnach Austausch und Dialog in und mit der Öffentlichkeit. Dies lässt sich mit Adornos widersprüchlicher Haltung zur Öffentlichkeit gewinnbringend kontrastieren (vgl. auch Müller-Doohm 2006).

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(Habermas 2008, S. 83).7 Auf dieser Grundlage entscheide aber letztlich Prominenz, verstanden als Sichtbarkeit und Bekanntheit, darüber, wer Themen platzieren und Interpretationen anbieten, also meinungsbildenden Einfluss üben könne. Entsprechend ersetzten mittlerweile Experten den Intellektuellen, etwa Journalisten oder Politiker, die diese Rolle „besser ausfüllen“ (Habermas 2008, S. 82 f.). Doch Habermas gibt den Intellektuellen selbst unter diesen veränderten Voraussetzungen nicht preis, allerdings mutet die wesentliche Fähigkeit, die er ihm jetzt zuschreibt, vergleichsweise bescheiden an: Den Intellektuellen zeichne ein „avantgardistische [r] Spürsinn für Relevanzen“ aus. „Er muss sich zu einem Zeitpunkt über kritische Entwicklungen aufregen können, wenn andere noch beim business as usual sind.“ (Habermas 2008, S. 84, H.i.O.) Es wurde mehrfach gezeigt, dass Habermas die von ihm skizzierte Intellektuellenrolle immer wieder selbst ausfüllt(e) (u. a. Biebricher 2013; Müller-Doohm 2009; Stamm und Zimmermann 2009) und genau diese „unverdrossene Aktivität als ‚öffentlicher Intellektueller‘“ verbindet ihn eng mit der Tradition der Kritischen Theorie, trotz der inhaltlichen Differenzen (Steinert 2007, S. 193 ff., S. 242). Umgekehrt lässt sich an der konkreten Praxis der älteren Vertreter nachweisen, dass sie als Intellektuelle im Sinne Habermas’ agierten.8 Betrachtet man Adornos Rolle in den 1950/60er-Jahren wird deutlich, dass er „zu einem Impulsgeber für die Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung“ wurde, wie etwa sein Beitrag zum Vergangenheits- und Schulddiskurs der Nachkriegszeit illustriert (Müller-Doohm 2006, S. 27 f.). Nicht nur forderte er angesichts der nur zögerlich beginnenden Auseinandersetzung die konsequente Aufarbeitung des Geschehenen, er warnte auch eindringlich vor einem Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie. Diese habe sich noch nicht derart eingebürgert, dass die Menschen sie als ihre eigene Sache, als Ausdruck ihrer Mündigkeit erfahren und entsprechend sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen (vgl. Adorno 1959, S. 559). Mit seinen zahlreichen kritisch-appellierenden Beiträgen hatte Adorno zweifellos großen Anteil daran, dass „ein Selbstverständigungsprozess über das Geschehene und über die Funktion der Demokratie in Gang kommen konnte“ (Müller-Doohm 2006, S. 28). Seine meinungsbildende Rolle in der politischen Öffentlichkeit kann nicht in Abrede gestellt werden, dennoch weist Adornos Selbstverständnis eine weitere, kontrastierende Dimension auf: einen von der Öffentlichkeit demonstrativ abgewandten Gestus.

7

Damit ändert sich auch das (Selbst-)Verständnis des Publikums: Es bestehe nicht mehr aus potenziellen Sprechern und Adressaten, die antworten können, sondern aus Zuschauern, auch dann, wenn es dem Inhalt nach um eine diskursive Veranstaltung wie in den Talkshows gehe (vgl. Habermas 2008, S. 82 f.). 8 Da Habermas (2008, S. 79 f., 1987, S. 46–52) in Deutschland von einer späteren Konstituierung des öffentlichen Intellektuellen ausgeht, nämlich erst nach 1945, können Horkheimer und Adorno als „Prototypen“ seiner Konzeption verstanden werden.

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2.2.1 Öffentlich und einsam Der angesprochene Gestus ist Adornos Versuch, ein möglichst hohes Maß an intellektueller Autonomie zu bewahren. Dass diese so gut wie unmöglich geworden ist, veranschaulicht das Kapitel über Kulturindustrie der Dialektik der Aufklärung: Geistige Produktion, zumal unter Bedingungen der Massenproduktion und des Massenkonsums, folge den Vorgaben kapitalistischer Verwertbarkeit, sie unterliege einer Standardisierung, die unausweichlich in Konformität münde (vgl. Horkheimer und Adorno 1944/47, S. 144–196). Davon seien selbst jene Produkte nicht ausgenommen, die nonkonform oder radikal erscheinen, denn sie „gehorch[en] objektiv [. . .] einer für ihresgleichen reservierten Sparte des Schemas“ (Adorno 1951, S. 235). Auf dieser Grundlage stellt sich intellektuelle Autonomie zuallererst als Ringen um selbige dar, mithin als Balanceakt zwischen Anpassung und Verweigerung. Es muss mit anderen Worten eine Haltung gefunden werden, die sich in der Kulturindustrie gegen die Kulturindustrie bewährt; eine Haltung, die beides zugleich ermöglicht: Agieren in der kulturindustriellen Öffentlichkeit und Kritik der kulturindustriellen Öffentlichkeit. Adornos Haltung wurde als „öffentliche Einsamkeit“ charakterisiert, als eine Variation auf die spezifische Aufführungspraxis des Komponisten Arnold Schönberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien (vgl. Steinert 2003). Schönberg hatte versucht, die Abhängigkeit vom herkömmlichen Konzertbetrieb mit Privatkonzerten zu unterlaufen, die Proben mit Zuhörern glichen. Es waren Aufführungen auf öffentlicher Bühne, aber abgewandt vom Publikum (vgl. Steinert 2003, S. 58–70). Vergleichbar agiert Adorno. Er nutzt die seinerzeit relevanten öffentlichen Medien: Vorträge, Interviews, Rundfunk- und Fernsehauftritte und selbstverständlich Bücher und Aufsätze. Er ist präsent und prominent, auch deshalb können seine Beiträge den skizzierten Einfluss erlangen. Zugleich versucht er, dem bloßen Konsum seiner Arbeit entgegenzuwirken, was in der Konsequenz ebenfalls eine Abwendung vom Publikum verlangt. Letztlich verbindet er die stets geforderte Hingabe an die Sache mit der Weigerung, sich mehr als nötig an einer Leser- oder Zuhörerschaft zu orientieren. Seine Texte veranschaulichen dies: Sie dokumentieren einen Reflexionsprozess, der genau genommen Fragment bleibt, insofern er keine Ergebnisse festschreibt und Widersprüche konsequent aufrechthält – eine permanente Denkbewegung. Sie gelten inhaltlich als voraussetzungsvoll und komplex, sprachlich als kompliziert. Derart komponierte Texte erweisen sich, gemessen an üblichen Aufbereitungs- und Darstellungsweisen, als unzugänglich, sie können sogar kränkend sein, da sie gewohnte Rezeptionsformen unterlaufen. Entscheidend ist, dass dies nicht einen Rückzug aus der Öffentlichkeit, sondern ein spezifisches Verhältnis zur Öffentlichkeit beschreibt,9 eines, das zuallererst die potenziellen Vereinnahmungen, die mit dem öffentlichen Wirken einhergehen, akzentuiert und abzuwehren sucht. Dies verweist noch einmal auf die Unterschiede zu Habermas.

Denn „auch mit dem Rücken zum Publikum zu schreiben, ist eine Haltung zu diesem“, bemerkt Steinert (2003, S. 131) völlig zu Recht.

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Trotz seiner Analyse des Strukturwandels der Öffentlichkeit (1962) und der vor geraumer Zeit konstatierten neuerlichen Veränderungen im Zuge digitaler Medien ist das Vertrauen in eine im Kern funktionierende politische Öffentlichkeit und die Produktivkraft der Kommunikation für Habermas grundlegend.10 Dies orientiert auch sein Verständnis des Intellektuellen als Teilnehmer bzw. Impulsgeber der öffentlichen Meinungsbildung: Der Intellektuelle wendet sich an das Publikum zum Zweck des „Austausch[s]“, um „einander Rede und Antwort [zu] stehen“ und um für seinen rational argumentierenden Einspruch diskursiv Einverständnis zu erzielen (Habermas 2008, S. 83). Demgegenüber ist für Adorno die Analyse und Kritik der Kulturindustrie zentral. Die politische Öffentlichkeit kritisiert er als Fassade, die Orientierung an Verständigung und Kommunikation immer schon als halben Verrat an der Sache (vgl. Müller-Doohm 2006, S. 29). Entsprechend lehnt er Zugeständnisse an das Publikum ab, interpretiert sie gar als „Zersetzung“ geistiger Selbstdisziplin, als „sich Gehenlassen, plumpe Vertraulichkeit, Ungeschliffenheit“, die sich hinter einer angeblichen Verantwortung fürs Publikum verbergen würden: „Meist rationalisiert es sich [. . .] als Humanität, als den Willen, anderen Menschen sich verständlich zu machen, als welterfahrene Verantwortlichkeit.“ Dem könne allein die ungebrochene Strenge „in Sache und Ausdruck“ entgegenwirken (Adorno 1951, S. 30 f.).11 Adornos Verhältnis zur Öffentlichkeit ist damit erkennbar widersprüchlich: öffentlich, unter gekonnter Nutzung der einschlägigen Medien behauptet er einen einsamen, das meint kritisch-verweigernden Gestus.12

2.3

Verhältnis zur Praxis

Für undogmatische marxistische Intellektuelle wurden die revolutionären Ereignisse von 1917–19 und spätestens die politischen Entwicklungen seit den 1930er-Jahren eine enorme Herausforderung. In Russland gelangte Stalin an die Macht; in vielen europäischen Ländern etablierten sich in teilweise bewaffneten Kämpfen, wie dem spanischen Bürgerkrieg, faschistische Regimes. In Deutschland zeichnete sich früh ab, dass die Nationalsozialisten auch in Teilen der Arbeiterschaft Anhänger und

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Die Unterschiede lassen sich auch auf der Grundlage divergierender gesellschaftlich-politischer Erfahrungen verstehen. Während für Adorno der totalitäre NS-Staat, Verfolgung und Vertreibung prägend waren, sind es für Habermas Befreiung und Neubeginn durch eine mögliche und aufzubauende Demokratie (vgl. Steinert 2007, S. 178–181; Müller-Doohm 2006, S. 33). 11 Diese in der Minima Moralia formulierte kompromisslose Haltung gegenüber dem Publikum lässt sich in Adornos Vorträgen aus den 1960er-Jahren mit dem Ziel einer „Erziehung zur Mündigkeit“ nicht ungebrochen nachweisen, dort sind durchaus Zugeständnisse erkennbar. Eine vergleichende Analyse seiner Arbeiten wäre lohnenswert, um diesbezügliche Unterschiede aufzudecken. 12 Er unterstellt damit nicht ein heroisches Sich-entziehen-können oder gar einen idealisierten Außenstandpunkt. Adornos intellektuelle Einsamkeit ist an der Erfahrung der Emigration geschult, einer Leiderfahrung also, die zuallererst Verlust, Isolation, Heimatlosigkeit meint (vgl. Martin 2013; Müller-Doohm 2004).

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Wähler finden (vgl. Fromm 198013); nach Hitlers Machtübernahme wurde die Arbeiterbewegung freilich zerschlagen und gewaltsam integriert. Während Intellektuelle wie Rosa Luxemburg, Karl Kautsky oder Antonio Gramsci ihre theoretische und praktisch-politische Arbeit noch eng an sozialdemokratischen oder kommunistischen Parteien und Zielen orientierten, war dies im Zuge der angesprochenen Entwicklungen kaum mehr möglich. Demgegenüber mussten die „gescheiterte Revolution“ und letztlich der Bruch des traditionellen Bündnisses zwischen kritischen Intellektuellen und Arbeiterschaft reflektiert werden. Viele waren überzeugt, dass die Arbeiter nicht mehr unmittelbar als Adressat der eigenen Theorie gelten konnten. Horkheimer und Adorno prägten bekanntlich die Metapher der „Flaschenpost“, um ihre Theorie und Praxis als adressatenlos und politisch unabhängig zu kennzeichnen. Für den Vergleich scheinen Intellektuelle interessant, die das Scheitern der Revolution in der skizzierten Weise verarbeiteten, allerdings in den sozialen Bewegungen der 1950/60er-Jahre – zumindest zeitweise – einen Adressaten ihrer kritischen Arbeit erblickten und sich entsprechend engagierten. Günther Anders (1979, S. 33 ff., 1983, S. 93) etwa geht noch in der Emigration auf Distanz zur kommunistischen Partei, spricht später von der „Antiquiertheit“ der Arbeiterbewegung und der Unmöglichkeit eines gesamtgesellschaftlichen Umsturzes. Seine gesellschaftstheoretischen Einsichten bieten keinerlei Ansatz für eine befreiende Praxis, im Gegenteil, nach Anders befindet sich die Menschheit nach der Erfindung und dem Abwurf der Atombombe in ihrer Endzeit, einem Stadium, das irreversibel zu ihrer Auslöschung führen wird. Dieser Pessimismus kontrastiert sichtlich mit seinem unermüdlichen Engagement besonders in der ersten AntiAtombewegung. Er beteiligt sich an unzähligen Protestveranstaltungen gegen Krieg und atomare Aufrüstung, formuliert Maximen für widerständiges Handeln und Verhalten, ruft schließlich 1986 angesichts der Katastrophe von Tschernobyl zu Gewalt als Notwehr auf. Analog kritisiert er jene Intellektuellen scharf, die ihre Interventionen auf das akademische Handlungsfeld oder gar Theoriearbeit konzentrieren; sie blieben unverständlich und letztlich wirkungslos (vgl. u. a. Anders 1979; Schubert 1987). Dass sein politisches Engagement in Konflikt steht mit der eigenen Theoriearbeit, registriert er zwar, bedient sich aber eines Kunstgriffs, des so bezeichneten Prinzips Trotz: Als Handelnder dürfe man sich von seinen verzweifelten Überzeugungen nicht beeinflussen lassen, sondern müsse so tun, als ließe sich die unaufhaltsame Entwicklung aufhalten. Damit behauptet Anders einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, der nicht aufzuheben sei, vielmehr erfordere das historisch einmaligen Stadium des Atomzeitalters eine „intellektuelle Schizophrenie“, um praktisch Widerstand leisten zu können (vgl. u. a. Anders 1959).

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Die Untersuchung Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches wurde bereits 1929–1931 am Institut für Sozialforschung durchgeführt. Dass sie nicht zeitnah veröffentlicht wurde, liegt nach Angaben des Herausgebers zum einen daran, dass ein Großteil des Materials bei der Emigration verloren ging, zum zweiten an der Trennung Fromms vom Institut 1939, der die Unterlagen zwar mitnahm, jedoch in der Schublade verschwinden ließ (vgl. Bonß 1980, S. 8).

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Ähnlich großen Einfluss wie Anders in der Anti-Atombewegung erlangt Herbert Marcuse während der Studentenproteste Mitte/Ende der 1960er-Jahre. Zwar verdeutlicht er mehrfach, dass die Studierenden keine revolutionäre Bewegung darstellten, ebenso bezweifelt er die akute Möglichkeit eines gesellschaftlichen Umsturzes. Aber er versteht die internationalen Proteste als Revolte, die eine radikale Weigerung der kapitalistischen Arbeits- und Lebensverhältnisse repräsentierten und eingreifend wirkten und gegen die daher die Machthaber ihre konzentrierte Gegenwehr richten mussten (vgl. Marcuse 1966, 1969). Entsprechend verweigert er die intellektuelle Vorreiterrolle nicht, die ihm die Studierenden bald zuerkennen. Gegenüber Adorno rechtfertigt er diese Rolle, ohne ihre Ambivalenzen zu verschweigen: Er lehne jede unvermittelte Politisierung der Theorie ab und habe nie vom Schreibtisch aus zu Aktionen geraten, an denen er wie Adorno Vieles verurteile. Doch angesichts der massiven Bekämpfung der angestoßenen Veränderungen seitens ihrer Gegner sehe er sich zur Verteidigung und Unterstützung der Proteste veranlasst, gerade weil der Status quo bei weitem unerträglicher sei (vgl. Marcuse an Adorno 04.06.1969, in: Horkheimer 1996, S. 732–735). Über die Frage der Räumung des Instituts für Sozialforschung durch die Polizei im Januar 1969 kommt es schließlich zum Zerwürfnis mit Adorno. Marcuse kritisiert dessen Vorgehen, mahnt an den politischen Gehalt der kritischen Theorie, die sich ihrer aktuellen Rolle nicht versperren dürfe: „[I]ch glaube, daß es Situationen, Momente gibt, in denen die Theorie von der Praxis weitergetrieben wird – Situationen und Momente, in denen die sich von der Praxis fernhaltende Theorie sich selbst untreu wird. Wir können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß diese Studenten von uns (und sicher nicht am wenigsten von Dir) beeinflußt sind.“ (Marcuse an Adorno 05.04.1969, in: Horkheimer 1996, S. 719) In den Briefen werden Differenzen von Marcuse und Adorno klar und offen benannt, und vielfach besteht ohnehin Konsens. Allerdings wehrt sich Adorno gegen eine erpresste Solidarität, zumal als sich die Protestaktionen, wie aus seiner Sicht im Fall der Institutsbesetzung und der Störungen seiner Vorlesungen, gegen die Repräsentanten der kritischen Theorie richten. Mehr als eine kursorische Betrachtung seiner Haltung gegenüber der Studentenbewegung ist im Folgenden nicht möglich; diese soll jedoch Adornos Versuch verdeutlichen, inmitten solidarischen Engagements Distanz und Unabhängigkeit zu bewahren.

2.3.1 Engagiert und unabhängig Unverkennbar unterstützt Adorno viele Forderungen und Errungenschaften der Studierenden und verteidigt sie gegen reaktionäre Stimmen und Stimmungsmache. Aber er wehrt sich zum einen gegen die Vereinnahmung (seitens der Medien), „geistiger Vater“ der Bewegung zu sein, zum anderen bezweifelt er zum gegebenen Zeitpunkt eine gesellschaftsverändernde Wirkung der Proteste. Dass dies verkannt werde, zeige der Aktionismus, das kurzatmige, publicity erheischende Handeln der Protestierenden, das suggeriere, dass es vom Engagement des Einzelnen abhänge, die Verhältnisse zu verändern. Ein solches Verständnis sei nicht nur deshalb repressiv, weil es zum Kollektiv nötige, sondern auch weil es das Primat der Praxis errichte und eine Abkehr von der Theorie forciere. Demgegenüber verteidigt Adorno

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das kritische Denken, das über sich hinausweise: „[. . .] Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken.“ Kritisches Denken und kritische Theorie sind daher aus seiner Sicht mitnichten resignativ, sondern selbst „ein Verhalten, eine Gestalt von Praxis“, die, indem sie die vorherrschende zurückweist, an einer tatsächlich verändernden Praxis festhält (Adorno 1969, S. 798). Im Vergleich mit den Interventionen Marcuses und Anders’ werden die Grenzen von Adornos politischem Engagement deutlich: Er scheut Bewegungspolitik, betont die Unabhängigkeit seiner kritischen Arbeit gegenüber politischen Akteuren und Gruppen. Man kann von einer Abneigung, zumindest einem tiefen Misstrauen gegen Massenbewegungen sprechen, die freilich in der Erfahrung des Nationalsozialismus gründet, aber ebenso in der Bedrängnis, die das liberale Bürgertum bzw. bürgerliche Subjekt von Seiten des Proletariats, des Nationalismus und Antisemitismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfährt. Auch auf dieser Grundlage lässt sich der Vorrang des Einzelnen vor dem Kollektiv, die absolute Bedeutung von Individualität, die Adorno fortwährend herausstellt, interpretieren (vgl. Steinert 2007, S. 179). Seine kritische Arbeit erfolgt spätestens ab den 1950er-Jahren vorrangig im akademischen Kontext als Arbeit des Wissenschaftlers, Hochschullehrers, Institutsdirektors mit dem erläuterten großen öffentlichen Einfluss. Man kann dies, einschließlich der Theorie, als politische Praxis verstehen und damit – im Sinne Gramscis – die organisierende Funktion der intellektuellen Arbeit Adornos hervorheben (vgl. Demirović 1999). Aber das schließt nicht aus, die Anstrengungen zu berücksichtigen, die Adorno in Theorie und Praxis unternahm, um eine solche Funktion zu unterlaufen. Auf die Art bleibt die Gleichzeitigkeit von Engagement und Unabhängigkeit, die seine Praxis und sein Praxisverständnis kennzeichnet, bestehen.

3

Zur Frage der Aktualisierung

Bevor ich abschließend den gegenwärtigen Stellenwert des Intellektuellenverständnisses der Kritischen Theorie diskutiere, fasse ich die unter Punkt 2 vorgenommenen Vergleiche kurz zusammen. Sie sollten zeigen, dass allen voran Adornos Selbstverständnis konsequent und systematisch Widersprüche bewahrt. Es ist gekennzeichnet durch die schwierige theoretische wie praktische Bemühung, die eigene Arbeit und Rolle nicht festzuschreiben bzw. festschreiben zu lassen und dadurch potenzieller Vereinnahmung auszusetzen. Dem korrespondiert notwendig ein Höchstmaß an Selbstreflexion, das ich in Adornos Kritik und zugleich Inanspruchnahme universeller Prinzipien (Abschn. 2.1.1), seiner zu- und zugleich abgewandten Haltung gegenüber der Öffentlichkeit (Abschn. 2.2.1) und seiner engagierten und zugleich Unabhängigkeit bewahrenden politischen Praxis (Abschn. 2.3.1) zu zeigen versucht habe. Adorno repräsentiert im Kreis der betrachteten intellektuellen (Selbst-)Verständnisse ein changierendes, jedoch keinesfalls relativierendes. Denn er hält genau dort an der klassischen Rolle des kritischen Intellektuellen fest, wo es um dessen befreiungsorientierte,

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d. h. auf gesamtgesellschaftliche Emanzipation gerichtete Perspektive und Wirkung geht, was besonders im Vergleich mit poststrukturalistischen und postkolonialen Entwürfen deutlich wird. Unter dieser Prämisse ist der kritische Intellektuelle nach einer Formulierung Heinz Steinerts (2005/2014, S. 39) „für die Gesamtvernunft zuständig“, wie fragwürdig diese durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch geworden sein mag. Adorno nimmt diese Fragwürdigkeit wie kaum ein Theoretiker vor der postmodernen Wende auf, und zugleich bleiben sein Selbstverständnis und seine Arbeit als Intellektueller auf nichts anderes gerichtet als die Rettung der Vernunft (vgl. Horkheimer und Adorno 1944/47). Als Modell verweist das Intellektuellenverständnis der Kritischen Theorie auf Selbstreflexion und befreiungsorientierte Theorie und Praxis; daran können aus meiner Sicht Überlegungen zu zeitgemäßer kritischer Intellektualität anschließen. Steinert (2007) hat in einem Forschungsprogramm exemplarisch dargestellt, wie intellektuelle Selbstreflexion und befreiungsorientierte Arbeit sich in Bezug auf zeitgenössische Phänomene und Probleme realisieren lassen. Sein Ausgangspunkt bildet (erweiterte) Kulturindustrie als heute dominante Herrschaftsform, der sich kritische Intellektuelle zwar nicht entziehen, zu der sie aber durch (Selbst-)Reflexion und (Selbst-)Kritik Distanz gewinnen können. Eine solche Haltung überhaupt einzunehmen und zu pflegen, sei bereits Ausdruck kritisch-emanzipatorischen Denkens und Handelns (vgl. Steinert 2007, S. 223). Dies wird nachvollziehbar, ruft man sich Habermas’ Charakterisierung der gegenwärtigen Öffentlichkeit und des zunehmend an Prominenz, Selbstdarstellung, also kulturindustrieaffinen Attributen orientierten Intellektuellen in Erinnerung. Auch Axel Honneth (2002) problematisiert diesen „normalisierten Intellektuellen“, der die Prozesse und Vorgaben der Öffentlichkeit akzeptiere und seine Interventionen vorrangig an tagespolitischer Relevanz sowie schneller und breiter Zustimmung, um die geworben werden müsse, ausrichte, um sich überhaupt noch Gehör verschaffen zu können. Im Unterschied dazu kennzeichne gesellschaftskritische Arbeit gerade die Nicht-Akzeptanz des öffentlichen Bezugsrahmens, d. h. die Hinterfragung geteilter und eingespielter Selbstverständnisse, Überzeugungen, Praktiken. Nicht schneller Erfolg durch Zustimmung oder politische Umsetzbarkeit, sondern das Erschüttern bzw. „[D]urchlöchern“ eben dieser Selbstverständnisse sei das Ziel kritischer Intervention (Honneth 2002, S. 67). Honneth stellt dem normalisierten Intellektuellen den Gesellschaftskritiker als Sozialphilosoph gegenüber, im Sinne eines breiteren Verständnisses kritischer Intellektualität kann sein Ansatz aber allgemeiner gefasst werden: Unter kapitalistischen Bedingungen erfolgt kritische intellektuelle Arbeit in der Auseinandersetzung zwischen den Vorgaben von Markt und Verwaltung und der Erlangung und dem Erhalt von Autonomie; mit anderen Worten in der Auseinandersetzung zwischen Anpassung an und Widerstand gegen Kulturindustrie. Kritik und Nicht-Mitmachen, Verweigerung von Vereinnahmung, Verteidigung von Autonomie, Kampf um die Kontrolle der eigenen Produktionsmittel wären demzufolge als wichtige Aufgaben kritischer Intellektueller zu nennen. Denn für die Gesamtvernunft zuständig zu sein bedeutet, eine wesentliche Voraussetzung nicht aus dem Blick zu verlieren: dass die Verteidigung der Vernunft oder in den Worten Pierre Bourdieus (1991, S. 50), „daß die Verteidigung des Universellen über die Verteidigung der

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Verteidiger des Universellen läuft“. Folgt man also Bourdieu, lautet die elementare Forderung an kritische intellektuelle Arbeit, dass sie auf die Sicherstellung der gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit des vernünftigen Denkens gerichtet sein muss.14 Auf Emanzipation zielende kritische Intellektualität sieht sich mit einer Vielzahl von Herrschaftsverhältnissen – kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft, Ausbeutung der Natur, patriarchale Verhältnisse, Sexismus, Rassismus –, die nicht ohne weiteres reduzibel sind, und daher mit einer Vielzahl von Emanzipationsperspektiven und -bestrebungen konfrontiert (vgl. Demirović 2011). Wenngleich Überschneidungen vorhanden und Muster erkennbar sind, bleibt umstritten, ob und wie diese Pluralität in einer kritischen Gesellschaftstheorie systematisch gefasst werden kann. Es stellt sich die Frage, ob und wie die Differenz von Herrschaftsverhältnissen und ihr Zusammenhang gesellschaftstheoretisch gedacht werden können, ggf. die Frage nach einer unsystematischen, fragmentarischen Theorie. Für meine abschließenden Überlegungen muss dieser Problemaufriss genügen, hilfreich scheint ein anderer, wenn auch möglicherweise vereinfachender Blickwinkel: Befreiungsorientierte Theorie und Praxis gewinnt ihre Kontur nicht zuletzt im Vergleich mit ordnungspolitischem Denken in der bürgerlichen Philosophie (vgl. Steinert 2003, S. 161–168). Letzteres geht von einem Zustand allgemeiner Freiheit aus, die aber als Hort menschlichen Egoismus gedacht wird (homo homini lupus) und daher sukzessive und soweit wie nötig eingeschränkt werden muss. Friedliches Zusammenleben ist nach diesem Verständnis nur gewährleistet, sofern Freiheit herrschaftlich organisiert und stabilisiert wird. Befreiungsorientiertes Denken hat die umgekehrte Voraussetzung. Es geht von einem Zustand der Herrschaft aus (HerrKnecht), der aufgehoben werden muss, denn nicht Freiheit, sondern Herrschaft verhindert ein menschenwürdiges Zusammenleben. Auf dieser Grundlage kristallisiert sich die wesentliche Intention befreiungsorientierter Theorie und Praxis heraus: die Abschaffung oder zumindest Reduktion von Herrschaft. Daraus lassen sich meines Erachtens nur vergleichsweise zurückhaltende, aber keineswegs irrelevante Forderungen entwickeln: In der dargestellten Tradition sind Kritik und Negation der herrschenden und herrschaftlichen Selbstverständnisse unvermindert Wesensmerkmale kritischer Intellektualität. Solange gesellschaftlicher Fortschritt vorrangig Natur und Menschen ausbeutender Fortschritt bedeutet, ist der kritische Einspruch gegen diesen Prozess nicht gering zu schätzen. Nicht-einverstanden-sein und Nicht-mitmachen-wollen können gegen das Weiter-so vorgebracht

14 Bourdieu (1991, S. 48–58) stellt hierbei den Kampf um Autonomie des kulturellen Feldes gegen den Einfluss und die Abhängigkeit von externen – ökonomischen, politischen, religiösen – Kräften in den Mittelpunkt. Konkret gehe es um die Verteidigung der Herstellungs- und Verbreitungszusammenhänge künstlerischer wie wissenschaftlicher Produkte gegen kommerzielle Interessen, um die Verteidigung der Verfügungsgewalt der Forscherinnen und Forscher über ihre Produktions- und Bewertungsmittel gegen die zunehmende Enteignung durch die wissenschaftliche Administration und um die Eindämmung des Einflusses des Journalismus und seiner Kriterien, wie Lesbarkeit, Aktualität, Neuigkeitswert, auf die wissenschaftliche Produktion.

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werden. Dies ist die Grundhaltung kritischer Intellektualität, von der emanzipatorische Theorie und Praxis ausgeht.

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Kritische Intellektualität

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Austromarxismus und Kritische Theorie Michael R. Krätke

Zusammenfassung

Der Beitrag fokussiert deutliche Verbindungslinien und Parallelen zwischen dem Austromarxismus, wie er u. a. von Max Adler, Otto Bauer, Karl Renner oder Rudolf Hilferding maßgeblich vertreten wurde, und der Kritischen Theorie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Hierzu wird in einem ersten Schritt die Forschungsprogrammatik des Austromarxismus genauer beschrieben und im weiteren Verlauf des Beitrags ausführlicher entfaltet, wie er die Programmatik, die Entwicklung und die konkrete wissenschaftliche Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschung direkt und indirekt beeinflusst hat. Dabei wird einerseits aufgezeigt, dass die auch für die spätere Programmatik bei Max Horkheimer die wichtigsten Fundamente eines interdisziplinären Materialismus bereits in der später als marginal bzw. marxistische Orthodoxie verunglimpften fünfjährigen Institutsführung durch Carl Grünberg angelegt wurden. Die mehrfache Frontstellung gegen den marxistischen Positivismus, gegen die Theorielosigkeit der offiziell „marxistischen“ Sozialdemokratie und den öden Dogmatismus der Kommunistischen Parteien führten Horkheimer dazu, die Grundlinie der Grünbergschen Forschungsprogrammatik fortzusetzen. Argumentiert wird in diesem Zusammenhang also, dass die viel zitierte und gerühmte Forschungsprogrammatik eines interdisziplinären Materialismus, den Horkheimer in seiner Antrittsrede als Institutsdirektor 1931 skizziert keinen starken Bruch – wie vielfach angenommen –, sondern eine sinnvolle Erweiterung der bisherigen Praxis darstellt. Schließlich wird aufgezeigt, dass auch unter Horkheimers Regime das Institut für Sozialforschung keineswegs Fragestellungen der Ökonomie vernachlässigt hat, sondern theoretische und empirische Arbeiten der Ökonomie einen kontinuierlichen Stellenwert innehatten. Im letzten Teil des Beitrags werden mögliche M. R. Krätke (*) Department of Sociology, Lancaster University, Lancaster, Großbritannien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_9

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Verbindungslinien und Anknüpfungspunkte zwischen der Tradition des Austromarxismus als der bis dato elaboriertesten Variante eines offenen Marxismus und der Kritischen Theorie vorgestellt, die eine seriöse theoriehistorische Betrachtung zur Kenntnis nehmen sollte. Schlüsselwörter

Marxismus · Austromarxismus · Positivismus · Gründungsphase des IfS · Carl Grünberg · Otto Bauer · Henryk Grossmann · Felix Weil · Friedrich Pollock · Max Adler · Politische Ökonomie · Kapitalismuskritik

1

Einleitung

Den Austromarxismus gab es schon lange vor der Kritischen Theorie. Diese besondere österreichische Schule des Marxismus entstand in der Wiener sozialistischen Studentenbewegung kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Bis heute ist der Austromarxismus heftig umstritten, seine Leistung und Bedeutung werden ähnlich ambivalent gesehen wie die der Frankfurter Schule.1 Einige der führenden Köpfe der austromarxistischen Schule haben die Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in seiner Frühzeit, namentlich in der Ägide seines ersten Direktors Carl Grünberg, und darüber hinaus stark beeinflusst. Dieser Zusammenhang wird in der neueren Hausgeschichtsschreibung des Frankfurter Instituts gern unterschlagen, wie generell die Bedeutung der Arbeit des Instituts unter Carl Grünbergs Leitung heruntergespielt wird. Nach herrschender Meinung beginnt die wahre Geschichte des Instituts erst mit dem Direktorat Max Horkheimers. Zwischen der austromarxistischen Schule und dem Institut für Sozialforschung (bzw. der späteren Kritischen Theorie) gibt es jedoch deutliche Verbindungen und Parallelen – und mehr als das. Die Austromarxisten hatten als erste, schon 1918/19 versucht, in Wien ein Institut für sozialwissenschaftliche Forschung in der Tradition des wissenschaftlichen Marxismus zu gründen; Karl Kautsky war dafür als Direktor vorgesehen.2 Wäre ihnen das gelungen, wäre die erste institutionelle Heimstätte für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Marx-Engelsschen Erbe in Wien und nicht in Frankfurt zu finden gewesen. Dass der Plan damals am Unwillen der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie scheiterte, die sich weigerten, viel Geld in ein sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut zu stecken, war besonders

Die Bezeichnung „Austromarxismus“ wurde vor dem ersten Weltkrieg von dem US-amerikanischen Sozialisten und Marxisten Louis B. Boudin geprägt. In der Zeit der ersten österreichischen Republik (1918–1934) wurde daraus ein Schimpfwort, oft zum „Austrobolschewismus“ gesteigert. Otto Bauer hat 1927 in einem Leitartikel der Arbeiter-Zeitung, die verschiedenen Bedeutungen des Terminus und seine Wandlungen skizziert (vgl. Bauer [1927a]/1980). 2 Gleichzeitig versuchte Carl Grünberg, seit 1909 ordentlicher Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Wiener Universität, in Wien ein „soziales Museum“ einzurichten, das als Forschungsinstitut gedacht war und als Heimstätte für verschiedene umfangreiche Spezialbibliotheken dienen sollte. 1

Austromarxismus und Kritische Theorie

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misslich. Denn die Austromarxisten wussten, anders als die Mehrzahl der später in Frankfurt Tätigen, um die Begrenztheit dessen, was damals als „Marxismus“ bekannt war. Sie wussten recht genau, wie viel an Unbekanntem und Unentdecktem noch im Marx-Engelsschen Nachlass lag, und sie hofften, diesen Nachlass in ihrem Institut zu erschließen und zu veröffentlichen, eine Arbeit, die das Marx-EngelsInstitut in Moskau unter Leitung David Rjazanovs ab 1920 aufnahm.

2

Die austromarxistische Schule

Die Austromarxisten befassten sich keineswegs nur mit Marxismus und dem, was andere Marxisten schrieben. Wie die Vertreter der späteren Kritischen Theorie nahmen sie von Anfang an die Auseinandersetzung mit anderen, zeitgenössischen Strömungen in den Sozialwissenschaften sehr ernst; sie reagierten ohne Scheu auf die akademische Marx-Kritik, sie interessierten sich für die neuesten Entwicklungen in der akademischen Soziologie, in der Sozialpsychologie, sie befassten sich mit Psychoanalyse, mit Sozialpädagogik, mit Ästhetik und Kunsttheorie.3 Wie die Protagonisten der Kritischen Theorie wollten die Austromarxisten den Marxismus als kritische Sozialwissenschaft, nicht als Glaubens- und Heilslehre betreiben. Sie schätzten daher die empirische Sozialforschung, sie initiierten etliche bis heute zu Recht berühmte Pionierstudien (wie die Studie über die „Arbeitslosen in Marienthal“, deren Hauptautoren, Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld aus dem austromarxistischen Umfeld stammten), sie beteiligten sich daran und förderten sie. Im intellektuellen Umfeld des Austromarxismus blühten empirische Wahlforschung, Konsumforschung, Armutsforschung, Schulforschung usw.4 Als 1923 das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main gegründet wurde (vgl. zur Gründungsgeschichte Dubiel 1978; Jay 1981, Kap. 1; Wiggershaus 1988, Kap. 1; Walter-Busch 2010, Kap. 1) war der Austromarxismus als marxistische Schule, als politische Bewegung zwischen „Bolschewismus und Reformismus“ und als politische Theorie des „marxistischen Zentrums“ in der europäischen Arbeiterbewegung bereits wohletabliert. Allerdings waren die Mitglieder des inneren Kreises der Austromarxisten mit Beginn des ersten Weltkriegs in verschiedene Richtungen gegangen. Die politischen Differenzen zwischen Adler, Bauer, Hilferding und Renner waren keineswegs unüberbrückbar, aber sie führten dazu, dass 3

Anders als die meisten zeitgenössischen Marxisten waren die Austromarxisten an der damals noch nicht akademisch etablierten Soziologie stark interessiert. Als 1907 die „Soziologische Gesellschaft in Wien“ gegründet wurde, waren die Austromarxisten vorneweg dabei. Zusammen mit Ludo Hartmann, Rudolf Eisler, Rudolf Goldscheid gehörten Max Adler und Karl Renner zu den Gründungsmitgliedern. Die Wiener Gesellschaft organisierte regelmäßig Seminare und Vorträge, Eduard Bernstein, Georg Simmel und Joseph Schumpeter und viele andere wurden eingeladen und sprachen dort. 4 Darüber hinaus gab es direkte Verbindungen zwischen den Austromarxisten und vielen innovativen Forschergruppen im damaligen Wien, so zum „Wiener Kreis“ der logischen Positivisten, zu den Psychoanalytikern, zu den Sozialpädagogen usw.

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einige der ursprünglich geplanten gemeinsamen Projekte nicht mehr oder nur noch einzeln weiterverfolgt wurden. Es gab nie eine strikte Arbeitsteilung innerhalb der Gruppe, es gab auch in der Zeit der ersten Republik noch öffentliche, in freundschaftlichem Ton ausgetragene Diskussionen, an denen andere, auch erklärte NichtMarxisten wie z. B. der damals schon berühmte Staatsrechtler Hans Kelsen, ganz selbstverständlich teilnahmen. Als wissenschaftliche Schule, die sich durch die „Besonderheit ihrer wissenschaftlichen Arbeit“ vor anderen auszeichnete (Bauer [1927]/1980, S. 11), blieb der Austromarxismus bis zum zweiten Weltkrieg bestehen. Einige der wichtigsten Protagonisten starben – Max Adler 1937 in Wien, Otto Bauer 1938 im Pariser Exil, Rudolf Hilferding 1941 in Gestapohaft, ebenfalls in Paris.5 Karl Renner, der den Faschismus und den zweiten Weltkrieg überlebte und danach zum zweiten Mal Regierungschef und danach Präsident der zweiten österreichischen Republik wurde, betonte auch in seinen letzten Schriften noch seine Zugehörigkeit zur austromarxistischen Schule und sagte ihr eine glänzende Zukunft voraus (vgl. Renner 1954, S. 45 f.).6 Friedrich Adler, der Sohn Viktor Adlers, der eine glänzende Karriere als Physiker und Wissenschaftstheoretiker ausgeschlagen hatte, um der Internationale als deren Sekretär zu dienen, überlebte; in seinen letzten Jahren arbeitete er an einer Biografie seines Vaters Viktor Adler.7 Die zahlreichen Schüler der Austromarxisten in Österreich, Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld, Albert Lauterbach, Otto Leichter, Karl Polanyi, Hans Zeisel, Julius Braunthal, Edgar Zilsel, Benedikt Kautsky und viele andere haben als Emigranten die Sozialwissenschaften in vielen Ländern, vor allem in den USA nachhaltig geprägt.8 Diese Schule hat die Programmatik, die Entwicklung und die konkrete wissenschaftliche Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschung direkt und indirekt beeinflusst. Sie entstand zuerst als kleiner Freundeskreis von sozialistischen Studenten der Wiener Universität ab 1896. Diese „Wiener Jungmarxisten“ – Max Adler, Otto Bauer, Gustav Eckstein, Rudolf Hilferding, Karl Renner und einige andere –

5

Der brillante Gustav Eckstein war schon 1916 gestorben. Leo Trotzkij hat ihm einen anrührenden Nachruf gewidmet. Wie Trotzkij standen viele russische Sozialisten in der Emigration in freundschaftlicher Beziehung zu den Wiener Jungmarxisten. 6 Das Bild vom „rechten“ Renner, der den marxistischen Torheiten seiner Jugend abgeschworen habe und gegen die Doktrinäre vom Schlage Otto Bauer einen heroischen Kampf führte, ist daher grundfalsch. Es gehört zum Arsenal der innersozialdemokratischen Kämpfe um das austromarxistische Erbe, als Topos des erklärten Anti-Marxismus, der, Arm in Arm mit den Leninisten, den Austromarxismus als verhängnisvollen Irrweg, seine Protagonisten, namentlich Otto Bauer, als Hauptverantwortliche für den Untergang der ersten österreichischen Republik haftbar zu machen sucht (vgl. als locus classicus für diese Geschichtsklitterung Leser 1968). Ein erster Versuch, Renner gerecht zu werden, liegt jetzt mit der Renner-Biographie von Richard Saage vor (vgl. Saage 2016). 7 Friedrich Adler, ein enger Freund Albert Einsteins, war der prominenteste, aber bei weitem nicht der einzige Naturwissenschaftler in den Reihen der Austromarxisten. Von ihm stammt eine der ersten und einflussreichen methodologischen Schriften der Austromarxisten (vgl. Adler 1918). 8 Zu den Schülern Max Adlers, die nach dem zweiten Weltkrieg im internationalen Marxismus eine herausragende Rolle gespielt haben, gehören Leo Kofler, Lucien Goldmann, Roman Rosdolsky und Maximilien Rubel.

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fanden sich 1903 im Verein Zukunft zusammen, der sich der Bildungsarbeit unter der Wiener Arbeiterschaft verschrieb. Sie waren eine Arbeitsgemeinschaft junger linker Intellektueller, die in demselben Wiener Kaffeehaus, dem Café Central, verkehrten, zusammen studierten und diskutierten und sich gemeinsam in der sozialistischen Bildungsarbeit engagierten. Schon im Jahr darauf, 1904, gründeten sie die erste Wiener Arbeiterschule (vgl. Zoitl 1997). Schon sehr früh, als Studenten noch bzw. als frischgebackene Doktoren, begannen sie, in der von Karl Kautsky herausgegebenen Theoriezeitschrift Die Neue Zeit, dem damals wichtigsten Publikationsorgan des Marxismus weltweit, Aufsätze und Rezensionen zu veröffentlichen. Bald schufen sie sich eigene Publikationsorgane, zuerst die Marx-Studien, angekündigt als Blätter zur Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus. Die MarxStudien, herausgegeben von Max Adler und Rudolf Hilferding, erschienen in loser Folge, als Jahrbuch, von 1904 bis 1923. Einige der großen Werke, die das wissenschaftliche Profil der austromarxistischen Schule prägten, wurden zuerst in den Marx-Studien veröffentlicht.9 Ab 1907 erschien die neue Theoriezeitschrift der österreichischen Sozialdemokratie, Der Kampf, die bald schon der Neuen Zeit Konkurrenz machen konnte. Die Austromarxisten waren die mit Abstand produktivste Gruppe unter den deutschsprachigen Marxisten. Ohne Eduard Bernstein zu nennen oder direkt anzugreifen, reagierten sie auf den Revisionismusstreit und die erste manifeste „Krise des Marxismus“. Sie engagierten sich im Kampf der zwei Strömungen, in die die internationale sozialistische Bewegung im ersten Weltkrieg und seit der russischen Revolution von 1917 zerfiel; sie bildeten die Speerspitze des „sozialdemokratischen“ Marxismus in Europa.

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Marxrezeption und Marxkritik im Austromarxismus: Plädoyer für eine empirische Sozialwissenschaft

Die Austromarxisten richteten sich programmatisch gegen jede marxistische Orthodoxie, auch die der Methode. Max Adler und Rudolf Hilferding als Herausgeber plädierten im Vorwort zum ersten Band der Marx-Studien 1904 für die Fortsetzung und Fortentwicklung des unvollendet gebliebenen, fragmentarischen Marxschen Werks in bewusster Verknüpfung mit dem modernen Geistesleben, ihr offener Marxismus, mehr ein Forschungsprogramm als eine Doktrin, sollte die Auseinandersetzung mit der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Arbeit ihrer Zeit

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Insgesamt erschienen fünf Bände (Band 4 bestand aus zwei Teilbänden). Das Jahrbuch und die Theoriezeitschrift Der Kampf (ab 1908) hatten für die austromarxistische Schule eine ähnliche Bedeutung wie die Schriftenreihe und die Zeitschrift für Sozialforschung für das Institut für die Sozialforschung. Nur waren die Austromarxisten keine Forschergruppe in einem wissenschaftlichen Institut, sondern die intellektuellen und politischen Führer einer sozialen und politischen Massenbewegung (vgl. dazu ausführlich: Klein 2010).

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nicht scheuen, sie vielmehr suchen.10 Die Analogien zur späteren Programmatik der Kritischen Theorie, wie sie Max Horkheimer und Herbert Marcuse 1937 in der Zeitschrift für Sozialforschung formuliert haben, sind unübersehbar. Statt sich im Streit um Worte und die rechtgläubige Lesart von Zitaten aufzureiben, statt MarxLektüre im Stil einer dogmatischen Bibel-Exegese zu betreiben, streben die Austromarxisten die Fortentwicklung der Marxschen Einsichten an. Sie wollen an die großen wissenschaftlichen Leistungen von Marx und Engels anknüpfen, deren wissenschaftliche Arbeit fortführen, ihre Vorbilder auch überbieten, indem sie ihre Anstrengungen gerade auf Gegenstände richten, über die Marx und Engels wenig gesagt haben. Die „eigentliche Aufgabe“, die sich die Austromarxisten stellen, ist erstens die Fortbildung der Marxschen Lehre im Einzelnen, und zweitens die Durchführung und Erweiterung des Marx-Engelsschen Forschungsprogramms. Die fruchtbare Marxsche Methode soll auf immer neuen, immer weiteren Arbeitsgebieten angewandt und erprobt werden.11 Die Austromarxisten suchen die Auseinandersetzung mit dem Neokantianismus, mit führenden akademischen Kritikern der Marxschen Theorie wie Stammler, Dilthey, Rickert, Windelband und immer wieder mit Max Weber. Sie streiten sich öffentlich mit den Hauptvertretern der österreichischen Schule der Nationalökonomie, d. h. mit ihren akademischen Lehrern wie Eugen von Böhm-Bawerk und Carl Menger und mit ihren gleichaltrigen Mit-Studenten wie Ludwig von Mises und Joseph Schumpeter. Nach dem posthumen Erscheinen des dritten Bandes des Marxschen Kapital 1894 zur großen Mode. Die Austromarxisten sind die ersten, die auf die vernichtende Marx-Kritik ihres akademischen Lehrers Eugen von Böhm-Bawerk, einem der Gründerväter der österreichischen Grenznutzenschule, antworten: Otto Bauer tut das in berühmten Rededuellen in BöhmBawerks Seminar, das er gemeinsam mit Emil Lederer, Ludwig von Mises, Joseph Schumpeter und vielen anderen besucht. Rudolf Hilferding antwortet Böhm-Bawerk in einem langen Aufsatz im ersten Band der Marx-Studien (vgl. Böhm-Bawerk [1896]/ 1973; Hilferding [1904]/1973). Marx gegen die rasch wachsende Phalanx seiner Kritiker und erklärten Gegner zu verteidigen heißt aber für die Austromarxisten nicht, sein Werk zu glorifizieren. Im Gegenteil, kritische Reflexionen über die Marxsche Methode, das Marx-Engelssche Forschungsprogramm, die Schwächen und Lücken ihrer Theorie, soweit sie veröffentlicht war, gehörten von Anfang an zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Die Austromarxisten waren die ersten Marxisten, die über die Eigenart der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie, über den schwierigen Aufbau des Marxschen Hauptwerks Das Kapital, über den Gang der Marxschen Argumentation, über die Entwicklung dieser Theorie nachgedacht haben. Sie bemühen sich um eine Neuinterpretation der methodologischen Rechtfertigung, die Marx für seine Kritik der Politischen Ökonomie gegeben hatte, sie bestimmen das Verhältnis von Marx zu

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Das Programm wurde ausführlich dargelegt im Vorwort zum ersten Band der Marx-Studien von 1904. Als Verfasser des Vorworts firmierten die Herausgeber Max Adler und Rudolf Hilferding (vgl. Adler und Hilferding 1904). 11 So hat Otto Bauer das Programm der Gruppe 1908 formuliert (vgl. Bauer [1908]/1979, S. 937).

Austromarxismus und Kritische Theorie

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Hegel neu – gegen die zeitgenössische Marx-Kritik gewandt. Marx habe zwar das Hegelsche Verfahren der begrifflichen Entwicklung nachgeahmt, aber er habe diese Methode – die Marx als seine „Entwicklungsmethode“ oder seine „genetische Methode“ bezeichnet hatte – ihres „ontologischen Charakters“ entkleidet; Otto Bauer führt das im Einzelnen an Marx’ Zentralbegriff der „gesellschaftlichen Arbeit“ vor. Marx und Engels hätten zwar versucht, die Geschichte in eine exakte „Gesetzeswissenschaft“ zu verwandeln, aber sie seien deshalb nicht als Hegelianer zu verstehen (vgl. Bauer [1908]/1979, S. 934 ff.). Trotz ihrer oft bekundeten Bewunderung der wissenschaftlichen Arbeit von Marx und Engels geben die Austromarxismus freimütig zu, dass es ungelöste Probleme in der Marxschen Theorie gibt, und zwar nicht wenige.12 Ihnen kommt es im Gegensatz zu den gläubigen Marx-Jüngern nicht in erster Linie darauf an, die vorhandenen Texte oder Manuskripte (von denen zu ihrer Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der größte Teil noch unveröffentlicht sind, wie sie sehr wohl wissen) neu zu lesen und zu interpretieren. Sie wollen vielmehr die Marxschen Probleme mit Marxschen Mitteln, im Marxschen Geist weiter bearbeiten und, wo möglich, auch lösen. Zu dieser kritischen Weiterarbeit mit und an Marx und Engels gehört auch das Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe ihrer Werke. Es sind die Austromarxisten, die den ersten Editionsplan auf den Weg bringen.13 Marx’ Lehre soll uns „kein Schema sein, das uns beherrscht, sondern eine Methode, die wir beherrschen“, so hat Otto Bauer das Credo der austromarxistischen Schule formuliert (Bauer [1908]/1979, S. 938). Marx-Kritik war daher willkommen, kein Tabu in dieser Schule. Die Austromarxisten benannten eine ganze Reihe von Schwächen, Lücken und ungelösten Problemen der Marxschen Theorie. Zum Beispiel die Schwäche der Grundrententheorie bei Marx, die unvollständige Analyse des Wert-Preis Verhältnisses, die sie als die „schwächste Stelle des Marxschen Systems“ bezeichneten, die Geldtheorie, ebenfalls unvollendet, die sie als den „komplizierteste(n) Teil der ganzen politischen Ökonomie“ sahen, und – last not least – die Krisentheorie, dem fehlenden Schlussstein des gesamten Marxschen Theoriegebäudes, an dem sich Otto Bauer von seinem ersten, in der Neuen Zeit veröffentlichten Aufsatz 1905 bis zu seinem letzten, unveröffentlichten Werk von 1934/35 abgearbeitet hat (vgl. Bauer [1905]/1979; Krätke 2008).14 Man braucht sich nur einige der größeren Arbeiten der Austromarxisten anzusehen, um gewahr zu werden, wie sie sich systematisch an den Schwachstellen und Lücken der Marxschen Theorie zu schaffen machten. Rudolf Hilferding gab in seiner Anti-Kritik zu Böhm-Bawerks Marx-Kritik die erste gründliche Darlegung 12

Diese klar ausgesprochene Einsicht unterscheidet sie von allen Spielarten des dogmatischen, doktrinären „Marxismus“, der bis zum heutigen Tag den Zugang zum originären Marxschen (und Engelsschen) Werk erschwert bzw. versperrt. 13 Leider scheiterte das Projekt am Geldmangel. Siehe zum Wiener Editionsplan von 1911 (Langkau 1983). 14 Auch Rudolf Hilferding hat etliche innovative Beiträge zur Fortentwicklung der Marxschen Ökonomiekritik geleistet, die letzten stammen aus den späten 1930er-Jahren. Otto Bauers unveröffentlichtes Manuskript zur Weltwirtschaftskrise wird 2018 zum ersten Mal veröffentlicht.

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einiger Grundbegriffe der Marxschen Werttheorie, gefolgt von einer vorbehaltlosen Erörterung ihrer Probleme (des Transformations- und des Reduktionsproblems), obendrein hatte er noch einen detaillierten Vorschlag zur Bearbeitung des zweiten Problems zu bieten.15 Im gleichen Band erschien Karl Renners bahnbrechende Studie über die „Soziale Funktion der Rechtsinstitute“, die die erste systematische Untersuchung der Formen und Funktionen des Privatrechts, also eines zentralen Teils der juristischen Verkehrsformen im Kapitalismus bot. Obendrein noch eine Analyse der Privateigentumsformen. Renner sah darin sehr klar das Phänomen eines Funktionswandels ohne gleichzeitigen Formwandel, einer Wandlung des Privatrechts, die im Zuge der kapitalistischen Entwicklung eintritt und auf die Dauer zu einem Normenwandel führt. Renner untersuchte die Logik einer historischen Entwicklung, der allmählichen Transformation der in vorkapitalistischen Zeiten entstandenen Privatrechtsinstitute zu dem voll entfalteten Kapitalismus angepassten und angemessenen Privatrechtsformen führte. Seine historisch-soziologische Rechtslehre bot eine starke Alternative zu Hans Kelsens „reiner Rechtslehre“, die zur gleichen Zeit entstand. Im gleichen Band der Marx-Studien erschien auch Max Adlers erste größere Studie zur Wissenschafts- und Erkenntnistheorie: Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft. Es war sein erster Versuch, das, was er in Marx’ und Engels’ Schriften an Wissenschafts- und Erkenntniskritik vorfand, im Zusammenhang darstellen, und zwar in der Absicht, dem spezifischen Marxschen Begriff der Sozialwissenschaft gegen die Metaphysik, gegen die zeitgenössische Lehre von den sogenannten Geisteswissenschaften, aber auch gegen gedankenlose Analogien mit den Naturwissenschaften in Anschlag zu bringen. Max Adler richtet sich in dieser Schrift gegen teleologische Varianten einer heimlichen Geschichtsphilosophie, der viele Marxisten anhängen. Unter dem Einfluss Ernst Machs und Carl Grünbergs, beide empirisch arbeitende und methodisch reflektierte Wissenschaftler, keine Berufsphilosophen, bestimmt er den Marxismus mit allem Nachdruck als empirische Sozialwissenschaft. Diese Position wird von allen Austromarxisten geteilt.16

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Das sogenannte Reduktionsproblem, zu dessen Bearbeitung Hilferding eine wichtige Vorlage lieferte, dreht sich um die Frage, wie und warum „kompliziertere“ oder auch „geschicktere“ Arbeit höheren Wert pro Zeiteinheit produzieren kann oder muss als „einfache“ oder „ungeschickte“ (vgl. zur Geschichte dieses Problems in der marxistischen politischen Ökonomie meine Darstellung in Krätke 1997). 16 Der Dissens zwischen Otto Bauer und Max Adler bestand darin, dass Bauer von Adler verlangte, konsequent zu sein, d. h. auch die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie als historische, empirische Sozialwissenschaft zu betreiben. Andere im Umfeld des Austromarxismus haben das später getan, z. B. Hans Zeisel und Edgar Zilsel, die beide erste Versionen ihrer späteren, bahnbrechenden Arbeiten zu einer historisch und sozialwissenschaftlich informierten Wissenschaftstheorie im Kampf veröffentlichten. Otto Bauer hatte seine in der Gefangenschaft in Sibirien geschriebene Studie über Das Weltbild des Kapitalismus mit der Skizze einer noch zu schaffenden, historischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnistheorie (bzw. Wissenschaftstheorie) beendet (vgl. Bauer [1924]/1976, S. 931 ff.). Max Adler hat seine speziell auf die Sozialwissenschaften zugeschnittene Erkenntnistheorie in seinem letzten grösseren Werk noch einmal detailliert vorgetragen (vgl. Adler 1936).

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Im zweiten Band der Marx-Studien erschien 1907 Otto Bauers große Studie über die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. In dieser bahnbrechenden Pionierarbeit untersuchte Otto Bauer die komplizierten Phänomene der Nationen, ihrer Entstehung und Veränderung, der nationalen Bewegungen und des Nationalismus, der Nationalstaaten und der Reiche (Empires) – und zwar im historischen Kontext der Entstehung und Entwicklung des modernen Kapitalismus, und, noch bemerkenswerter, im Kontext der historischen Transformationen des Staates zum modernen Territorial- und Nationalstaat bzw. zum Empire und Vielvölker- oder Nationalitätenstaat. Die Entstehung und Ausbildung beider Formen des modernen Staats verband er mit der Entstehung eines Staatensystems (mithin der internationalen Politik im modernen Sinn), die wiederum mit der Ausbildung des „Staats nach innen“, mit der Tendenz zur systematischen, professionell und bürokratisch organisierten Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhing. Bis heute nicht ein – geschweige denn überholt ist Bauers Versuch, die Zusammenhänge zwischen nationalen und sozialen Konflikten, von Nationalcharakter und Klassencharakter, von Nationalhass und Klassenkampf, von Assimilation und Fremdenhass zu analysieren.17 Das Buch wandte sich an die österreichische Sozialdemokratie, die wie der Habsburger Vielvölkerstaat vom Streit der Nationalitäten zerrissen wurde. Bauer (wie Karl Renner) hielten eine Nationalitätenpolitik für möglich, die den Zusammenbruch des Nationalitätenstaates und den Rückfall in die nationale Kleinstaaterei verhindern sollte. Der dritte Band der Marx-Studien brachte drei Jahre später, 1910, die Erstveröffentlichung von Rudolf Hilferdings „Das Finanzkapital“ (vgl. Hilferding [1910]/ 1968). Im gleichen Band erschien Tatjana Grigorivicis Studie über die Marxsche Werttheorie, „Die Wertlehre bei Marx und Lassalle“. Im vierten Band, der 1918 und 1922 in zwei Teilbänden herauskam, erschien Max Adlers Aufsatz Die sozialistische Idee der Befreiung bei Karl Marx, und die ausführliche des 1916 verstorbenen Gustav Eckstein über die Marx-Engelssche Konzeption sozialistischer Politik, „Der Marxismus in der Praxis“. Karl Kautsky steuerte eine lange Kritik der Rennerschen Überlegungen zu den jüngsten Strukturveränderungen des Kapitalismus bei unter dem Titel „Kriegsmarxismus“. Im zweiten Halbband erschien 1922 Max Adlers Buch über Die Staatsauffassung des Marxismus, in dem dieser die spezifisch sozialwissenschaftliche (oder soziologische) Staatslehre und Staatskritik von Marx zu erläutern und zu begründen suchte.18 Im fünften und letzten Band erschien Otto

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Selbstverständlich befasste sich Bauer klassentheoretisch wohl informiert und reflektiert mit den herrschenden und beherrschten Nationen, mit den nationalen Minderheiten, mit Mehrheits- und Minderheitskultur, mit dem Sprachenstreit und Kulturkampf, mit Wanderungsbewegungen und Assimilationsprozessen, alles historisch gut unterbaut und dokumentiert am Beispiel der Länder und Völker Mitteleuropas, insbesondere Österreich-Ungarns. Kaum ein Buch in der Tradition des klassischen Marxismus ist so aktuell wie diese Jugendschrift Otto Bauers, kaum eines ist so vergessen. 18 Mit diesem Buch griff Adler in eine der großen Debatten der Austromarxisten ein, die Debatte um die politische und Staatstheorie des Marxismus, die Anfang der 1920er mit Verve geführt wurde. Die Umwälzungen am Ende des ersten Weltkriegs, die neuen politischen Formationen, die daraus entstanden, hatten diese Debatte notwendig gemacht.

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Leichters Studie über Die Wirtschaftsrechnung in der sozialistischen Gesellschaft, eine wichtige, systematische Arbeit, ein Nachtrag zur Sozialisierungsdebatte in Österreich, in der die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer rationalen Wirtschaftsrechnung in einer sozialistischen Ökonomie die zentrale Rolle spielte.19 Die großen, herausragenden Monografien, in denen Neuland betreten wurde, erschienen in den Marx-Studien, die laufenden politisch-theoretischen Debatten wurden seit 1908 im Kampf geführt, gelegentlich auch in den Spalten der Arbeiter-Zeitung, wo sie die größtmögliche Zahl von Mitgliedern und Anhängern der österreichischen Sozialdemokratie erreichten. Hilferdings Studie über die „jüngste Phase der kapitalistischen Entwicklung“ wurde sofort enthusiastisch begrüßt. Karl Kautsky pries sie in der Neuen Zeit als die bisher einzige genuine Fortsetzung des Marxschen Kapital, Otto Bauer rühmte das Buch im Kampf wegen der vielen theoretischen Fortschritte und neuen Einsichten, die es enthielt – obwohl er die Darstellungsweise kritisierte (vgl. Bauer [1910]/ 1980). Hilferding hatte mit seinem Buch die Analyse des Kapitalismus nach der Grossen Depression von 1873–1895 ein großes Stück voran gebracht. Während des ersten Weltkriegs prägte er den Begriff „organisierter Kapitalismus“, mit dem er die durch die staatliche Kontrolle, Lenkung und Planung modifizierte Struktur des Kriegskapitalismus zu fassen suchte (vgl. Hilferding 1915). Otto Bauer ging darüber hinaus, konzentrierte sich auf den Nachkriegskapitalismus und analysierte als erster systematisch die Veränderung der materiellen Grundlagen, die neuen Technologien, die neue Arbeitsorganisation und Betriebsweise, die dank der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ zu einer Form permanenter Rationalisierung führte (vgl. Otto Bauer [1931]/1976). Darauf folgte die Analyse der Weltwirtschaftskrise und ihrer sozialen und politischen Folgen, in zwei Büchern, Zwischen zwei Weltkriegen, das 1936 in Prag erschien, und einem noch unveröffentlichten Manuskript von 1934/35 (vgl. Bauer [1931]/1976; Krätke 2008, 2019). Die Austromarxisten verfolgten das Ziel, aus der Marx-Engelsschen Theorie eine systematische, empirische und historische Sozialwissenschaft zu machen, ganz im Sinn des Forschungsprogramms der Gründerväter. Sie waren nicht die einzigen, aber ihr Versuch war der bei weitem gründlichste, konsistenteste und innovativste. Otto Bauer sah in der „sozialen Formenlehre“, im Anschluss an Marx’ Lehre der ökonomischen Formen (z. B. der Wertform) und über sie hinausgehend, den Kern des Programms der neuen Sozialwissenschaft, die als „kausale Gesetzeswissenschaft von der gesellschaftlichen Entwicklung“ nur mittels systematischer Forschung voran gebracht werden könne (vgl. Bauer [1937]/1980, S. 755).20 Trotz der Arbeitsteilung,

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Diese Debatte wurde von 1918 bis 1923 hauptsächlich im Kampf geführt. Zahlreiche NichtMarxisten waren beteiligt, Otto Neurath, Karl Polanyi und viele andere schrieben dazu. 20 Bis auf Max Adler und zeitweilig Karl Renner hatten die Austromarxisten, eingespannt in die politische Tagesarbeit wie sie waren, einige Mühe, diese Arbeit mit vollem Einsatz zu machen. Was sie dennoch leisteten, auch unter den schweren Bedingungen der Emigration nach 1934, bleibt erstaunlich. Der Plan eines Wiener Instituts für marxistische Forschungen, wie oben erwähnt, scheiterte; nur das Wiener Museum für Gesellschaftsgeschichte konnte in den 1920er-Jahren realisiert werden.

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die zwischen ihnen bestand, kamen die Protagonisten der Schule immer wieder auf ein zentrales Thema zurück, das ihnen gemeinsam am Herzen lag: Die Frage, ob und wie entwickelter Kapitalismus und politische Demokratie kompatibel seien bzw. kompatibel gemacht werden konnten, beschäftigte sie unablässig. Die Analyse der „Kapitalsherrschaft in der Demokratie“, der Wandlungen der Demokratie unter dem Einfluss wechselnder Konstellationen der „Klassenkräfte“ führte zur ersten demokratietheoretischen Debatte in der Geschichte des Marxismus, angestoßen durch Otto Bauers Analyse der „Österreichischen Revolution“ von 1923 (vgl. Bauer [1923]/1976).21

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Das Frankfurter Institut für Sozialforschung in der Ära Carl Grünberg

1922 fand im thüringischen Ilmenau die 1. Marxistische Arbeitswoche statt, maßgeblich initiiert und organisiert von Felix Weil und Karl Korsch (vgl. dazu: Migdal 1981, S. 31 ff.; Gangl 1987, S. 69 ff.). Diskutiert wurde über offene Probleme und mögliche weitere Entwicklung im Marxismus, nicht zuletzt auch über mögliche institutionalisierte Formen marxistischer Forschung, in klarer Abgrenzung gegen die bereits etablierten Formen des parteioffiziellen Marxismus in SPD und KPD. Alle Beteiligten waren frustriert über den chaotischen Verlauf der Sozialisierungsdebatte, der größten öffentlich geführten Debatte über Probleme der Umgestaltung der bürgerlichen in eine sozialistische Gesellschaft, die es in Deutschland und Österreich je gegeben hatte. Sie war nach einer Weile, trotz der Vielzahl der Teilnehmer, trotz einer Flut von Beiträgen und zahlreichen neuen Ideen ergebnislos im Sande verlaufen (vgl. zu dieser Debatte Novy 1978). Als Antwort auf diesen enttäuschenden Verlauf wurde die Idee eines besonderen Instituts geboren, in dem die systematische Erforschung aller sozialwissenschaftlichen Probleme mit langem Atem betrieben werden konnte. Felix Weil, der über Probleme der Sozialisierung in Frankfurt promoviert hatte (vgl. Weil 1921), war die treibende Kraft hinter der Idee, in Frankfurt ein Institut für Sozialforschung zu gründen, das der marxistisch inspirierten Forschung, letzten Endes der Verwirklichung und Weiterentwicklung des Marx-Engelsschen Forschungsprogramms dienen sollte. Dabei sollte die empirische Erforschung sozialer Probleme, wie im Austromarxismus, eine zentrale Rolle spielen. Gedacht war an ein parteiunabhängiges Institut, angebunden an die noch junge Frankfurter Universität, dank privater Geldgeber weitgehend unabhängig von staatlicher Kontrolle. Dort sollte, einzigartig in Deutschland und der Welt, nicht nur der Sozialismus und Marxismus erforscht, sondern das von Marx und Engels skizzierte, nur in Teilen eingelöste Forschungsprogramm zum ersten Mal systematisch verfolgt werden. Für den Posten des Direktors war Kurt Albert Gerlach vorgesehen, der aber starb, kurz nachdem er seine Vorstellungen von der künftigen Institutsarbeit in seinem für die Universität Frankfurt verfassten Gründungsmemorandum dargelegt hatte. In Gerlachs Memorandum wurde als Aufgabe des Instituts die Erforschung des sozia21

Vgl. dazu die Beiträge in Fisahn et al. 2017.

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len Lebens in seinem vollen Umfang, der „Wechselwirkungen zwischen der wirtschaftlichen Grundlage, den politisch-juristischen Faktoren, bis zu den letzten Verästelungen des geistigen Lebens“ (Gerlach und Weil 1922, zit. nach Migdal 1981, S. 42). Diese Programmatik ähnelt der der Austromarxisten, die den Marxismus nicht als abgeschlossene Doktrin, sondern als Forschungsprogramm sahen, das zum großen Teil noch einzulösen war. Nach dem überraschenden Tod Gerlachs bestellte Felix Weil Carl Grünberg zum ersten Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Grünberg war damals Professor für an der Universität Wien, weithin bekannt als Herausgeber des seit 1910 erscheinenden Archivs für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung (kurz Grünberg-Archiv).22 Diese Zeitschrift brachte Grünberg mit, sie wurde praktisch zur ersten Zeitschrift des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Mit Grünbergs Ernennung und Übersiedlung von Wien nach Frankfurt, mit der Eröffnung des Instituts kurz darauf, ermöglicht durch eine großzügige Stiftung der Familie Weil, wurde Felix Weils Traum wahr. Der Traum, dem „Marxismus eine von jeder außerwissenschaftlichen Einmischung freie akademische Heimstätte“ zu geben (Weil 1929 in seinem Memorandum an den Minister für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung, zit. nach Migdal 1981, S. 38). Felix Weil war selbst auch an historischen und vergleichenden Studien zur Arbeiterbewegung interessiert, wie seine Studie über die Arbeiterbewegung in Argentinien zeigt (vgl. Weil 1923). Grünberg war zwar nicht der „geistige Vater des Austromarxismus“, wohl aber der Lehrer vieler Austromarxisten.23 Er teilte die Auffassungen seiner Schüler, unter deren Einfluss er sich dem Forschungsprogramm des „historischen Materialismus“ angenähert hatte. Daher war mit Grünbergs Antreten als Direktor die spezifisch austromarxistische Konzeption des Marxismus als Sozialwissenschaft, und zwar als „kausale Gesetzeswissenschaft“ am Frankfurter Institut für Sozialforschung präsent, ja dominant.24

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Zuvor schon war Grünberg bekannt als Herausgeber, zusammen mit Stephan Bauer und Ludo Moritz Hartmann, der Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, die von 1893 bis 1900 erschien. 23 Grünberg war ursprünglich Kathedersozialist und Marxismus-Kritiker. Der Marxismus, so Carl Grünberg 1907, lasse sich „gerade in seinen Hauptlehren ... wissenschaftlich nicht halten“. Er hatte sich, belehrt durch seine Schüler und die „seitherige Entwicklung“, zum Marx-Anhänger gewandelt. Er war und blieb geprägt von der Tradition der jüngeren Historischen Schule samt deren Betonung von exakter historischer Forschung, basiert auf Quellen- und Faktenkenntnis. Wie der alte Marx, war Grünberg ein unverbesserlicher Faktenhuber. Keine schlechte Eigenschaft für einen Sozialwissenschaftler. 24 Carl Grünberg holte 1925 Henryk Grossmann nach Frankfurt als seinen Assistenten. Dessen unbestreitbare Qualitäten als Statistiker und empirisch-historischer Forscher hatten ihn schon viele Jahre zuvor überzeugt und er hatte ihn nach Wien geholt. Grossmann schrieb eine Geschichte der österreichischen Handelspolitik in Galizien, die 1914 in einer von Grünberg herausgegebenen Reihe als Buch veröffentlicht wurde (Grossmann 1914). Kaum hatte Grünberg sein Amt als Institutsdirektor angetreten, begann er, seine ehemaligen Schüler und Kollegen wie Otto Bauer, Friedrich Adler und Max Adler zu Vorträgen nach Frankfurt einzuladen. Die Mitglieder und Studenten des Instituts hatten also in seiner ersten Phase die Gelegenheit, die Protagonisten der austromarxistischen Schule direkt zu sehen und zu sprechen. Otto Bauer, Max Adler und Rudolf Hilferding waren auch in Berlin gelegentlich zu hören, Max Adler nahm regelmäßig an den deutschen Soziologentagen teil.

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Traditionell wird in der von den Anhängern der späteren Kritischen Theorie dominierten Geschichtsschreibung des Instituts die erste Phase des Instituts unter Carl Grünbergs Leitung vernachlässigt bzw. mit Verachtung gestraft. Nur zu gern werden die Forschungsarbeiten des Instituts in der Anfangsphase ignoriert bzw. heruntergespielt. Für die Bewunderer der späteren „Frankfurter Schule“ zählt in erster Linie die Nachkriegsgeschichte des Instituts, die Anfangsjahre gelten als uninteressant, Grünbergs Arbeit wird gern und völlig unzutreffend mit dem Etikett „orthodox-marxistisch“ abgetan (z. B. Korte 2006, S. 137 f.). Bei den in der Regel unkritischen Verehrern der Kritischen Theorie spielt die Arroganz akademischer Philosophen und theoretisierender Soziologen gegenüber einem Mann wie Grünberg mit seiner Betonung gediegener wirtschafts- und sozialhistorischer Forschung eine Rolle. Grünberg, der „Meister der realgeschichtlichen Betrachtung des Gesellschaftslebens“, wie ihn Max Adler rühmte (Adler 1932, S. 1), sah die Aufgabe des Instituts darin, empirische und historische Sozialforschung im weitesten Sinne, ohne thematische oder methodische Verengungen zu betreiben und zu ermöglichen. Grünberg hatte eine klare Vorstellung von den Bedingungen kontinuierlicher sozialhistorischer Forschung. In seinen ersten Jahren als Institutsdirektor legte er den Nachdruck auf den Aufbau und die ständige Erweiterung der Institutsbibliothek. Er hatte seine eigene Bibliothek mitgebracht, weitere Bibliotheken angekauft und entfaltete eine rege Sammlungstätigkeit. Als Grünberg antrat, waren die Institutsbestände bescheiden. Als Grünberg wenige Jahre später durch einen Schlaganfall arbeitsunfähig wurde, war die Institutsbibliothek von anfangs 14.000 auf fast 40.000 Bände und 400 Zeitungen und Zeitschriften angewachsen. Grünberg kannte den Wert von Archiven, gern hätte er den Marx-Engelsschen Nachlass für das Institut erworben. Als sich die Gelegenheit bot, bemühte sich Grünberg um die Kooperation mit dem Moskauer Marx-Engels-Institut, das unter David Rjazanovs Leitung zum Zentrum der internationalen Marxforschung wurde (vgl. Hecker 2000). Grünberg wandte sich gegen alle Versuche, „aus der materialistischen Geschichtsauffassung ein philosophisches System“ zu machen. Wie seine austromarxistischen Schüler hielt er nichts von den Bemühungen, den philosophischen Materialismus à la Lenin (oder eine Spielart davon) als die verbindliche Philosophie des Marxismus zu inthronisieren. Wie Max Adler und Otto Bauer sah er die materialistische Geschichtsauffassung als Forschungsprogramm, das unabhängig von einer bestimmten Philosophie Bestand hatte. War er deshalb ein positivistischer Marxist wie Karl Renner, der offen für einen „induktiven“ Marxismus eintrat? Es scheint so, denn auch Grünbergs Credo war ausgesprochen antimetaphysisch: Überwindung der Phrase durch „realistische Betrachtung“, und das hieß nichts anderes als empirische, historische Forschung. Grünberg folgte der Begründung seines ehemaligen Schülers Max Adler, der inzwischen zum außerordentlichen Professor für Soziologie und Sozialphilosophie an der Wiener Universität ernannt worden war. Die materialistische Geschichtsauffassung ist ein sozialwissenschaftliches und historisches Forschungsprogramm, sie braucht kein und ist kein philosophisches System, sie hat mit dem „Materialismus“ als Philosophie nichts zu tun. Die Bezeichnung „materialistisch“ ist historisch zu verstehen, aber schlecht gewählt, da sie nur Missverständnisse erzeugen kann. Der Marxismus, so

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hat es Otto Bauer pointiert formuliert – auch im Blick auf die im Zeichen des „Leninismus“ vollzogene Kanonisierung des Marxismus bzw. seine Verwandlung in eine Staatsreligion-, ist keine und braucht keine bestimmte Weltanschauung, keine bestimmte Philosophie zur Begründung, er ist mit vielen Philosophien bzw. Erkenntnistheorien kompatibel, mit dem Neukantianismus wie mit dem logischen Positivismus des Wiener Kreises. Otto Bauer bemühte die historische Analogie mit dem Entstehungsprozess der modernen Naturwissenschaften, dem schließlich siegreichen Emanzipationskampf der Naturforscher gegen die Herrschaftsansprüche von Theologie und Philosophie. Für den modernen Marxismus der austromarxistischen Schule beanspruchte er eine ähnliche Leistung: Die Austromarxisten hätten die neue Sozialwissenschaft von jeder Verknüpfung mit einem philosophischen System befreit. In ihrer Lesart sei die Marx-Engelssche Geschichtsauffassung und Ökonomie von den verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen unabhängig und mit verschiedenen Philosophien bzw. Weltanschauungen vereinbar (vgl. Bauer 1908, S. 932 f.; Bauer 1927b, S. 492 f.). Diese antimetaphysische und positivistische Haltung der Austromarxisten formulierte Carl Grünberg 1924 in seiner Frankfurter Antrittsrede als Direktor des Instituts für Sozialforschung, in direkter Anlehnung an Max Adler so: Der „philosophische und der historische Materialismus haben begrifflich nichts miteinander zu tun“ (Grünberg 1924, S. 10 f.). Gerade so sah das Max Adler, auf den Grünberg in dieser Rede auch explizit verwies. Die materialistische Geschichtsauffassung, so Grünberg, hat nicht Abstrakta, sondern die „gegebene konkrete Welt in ihrem Werden und Wandel“ zum Gegenstand. „Sie geht von Tatsachen aus und nicht von Postulaten. Sie ist nicht statischer, sondern dynamischer Natur“. Sie ist „eine Theorie organischer Entwicklung, ihre Forschungsmethode ist eminent induktiv; ihre Resultate beanspruchen keine Geltung in Raum und Zeit schlechthin, sondern nur relative, jeweils geschichtlich bedingte Bedeutung“ (Grünberg 1924, S. 10 f.). Im Zentrum stehe nicht die „sozialistische Zukunftsgesellschaft“, über deren Formen und Entwicklungstendenzen man schlechterdings wissenschaftlich nichts sagen könne, sondern das „wirtschaftliche Entwicklungsgesetz . . . speziell der kapitalistischen Epoche“ sei es, was es zu erforschen gelte (Grünberg 1924, S. 10 f.). Carl Grünbergs Forschungsprogramm und Wissenschaftskonzept waren dem der Austromarxisten sehr nahe. In seiner Abschiedsrede im Mai 1924 pries Otto Bauer seinen alten Lehrer: Er habe sie, die Jungmarxisten erst den „ganzen Ernst wissenschaftlicher Arbeit“, er habe sie „den Respekt vor den Tatsachen gelehrt“. Aber „freilich vor Tatsachen, zwischen die er sie das geistige Band zu knüpfen lehrte durch die große Konzeption der Marxschen Geschichtsauffassung“ (Bauer [1924]/1979, S. 603). Kein Wunder, dass in der Ära Grünberg einige der Protagonisten des Austromarxisten zu den gern gesehenen und oft gehörten Gästen am Institut gehörten; Otto Bauer, Max Adler und Friedrich Adler vor allem wurden häufiger zu Vorträgen und Seminaren am Institut eingeladen, sie sprachen über aktuelle Themen und Streitfragen der marxistischen Theorie. Otto Bauer sprach über Rationalisierung und lange Wellen, aber auch über Demokratietheorie, Max Adler stellte seine Lesart der Marxschen Geschichtsauffassung und Methodologie vor. Die Austromarxisten waren also am Institut für Sozial-

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forschung präsent, auch wenn sie nicht direkt in die Forschungsarbeit des Instituts eingebunden waren und auch nicht sein konnten.25 Für die Institutsarbeit in der Ära Grünberg war die Zusammenarbeit mit dem Moskauer Marx-EngelsInstitut wichtig, die Kontakte waren leicht zu knüpfen, denn die Direktoren Grünberg und Rjazanov kannten und schätzten sich seit langem. Etliche jüngere Mitarbeiter des Frankfurter Instituts wechselten nach Moskau, angezogen von den Arbeitsbedingungen, die Rjazanov bieten konnte. Allerdings ging es hier in erster Linie um Marx-Philologie, denn das Moskauer Institut sah die erste vollständige Edition aller Werke von Marx und Engels als seine Hauptaufgabe (vgl. Hecker 2000). Man wird im Blick auf diese unleugbaren Verbindungen zum Austromarxismus den Entstehungszusammenhang der Kritischen Theorie im Frankfurter Institut für Sozialforschung anders und weit differenzierter sehen müssen als bisher üblich. Nicht nur Autoren wie Karl Korsch und Georg Lukacz, die man heute im so genannten „westlichen Marxismus“ zu verorten beliebt, sondern eben auch die vermeintlich „traditionellen“, de facto aber höchst unorthodoxen Köpfe der austromarxistischen Schule haben eine Rolle gespielt, die bis heute weit unterschätzt wird. Die Austromarxisten gehörten zwar zum „Marxismus der II. Internationale“, sie blieben Karl Kautsky eng verbunden, dem sie allerdings weit kritischer gegenüberstanden als etwa der Kautskyaner Lenin. Sie verehrten Kautsky als Lehrer, teilten manche seiner Ansichten, kritisierten ihn aber auch ohne Scheu. Kautsky seinerseits stimmte seinen bewunderten Schülern oft zu und ehrte sie durch umfangreiche Kritiken ihrer Arbeiten. Seit der Oktoberrevolution stritten Kautsky, Bauer, Adler, Hilferding und Renner über den Charakter und die Zukunftsaussichten des bolschewistischen Experiments in Russland bzw. der Sowjetunion.26 Grünberg war durchaus an Ideengeschichte interessiert, hatte aber als Sozialhistoriker in der Tradition der jüngeren Historischen Schule eine ganz eigene Vorstel-

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An die Präsenz der Austromarxisten erinnerte sich Wolfgang Abendroth, damals Student in Frankfurt, noch lebhaft: „Er [Grünberg] war Austro-Marxist und machte keinen Hehl daraus. Er sorgte dafür, daβ sich an diesem Institut alle Welt treffen konnte: Man lernte Otto Bauer kennen, Friedrich Adler und Max Adler, viele russische Wissenschaftler“ (Abendroth 1976, S. 67). 26 Das ganze Konstrukt eines „westlichen Marxismus“ entsprang dem Bemühen der Neomarxisten der 1970er-Jahre, sich eine Ehrengarde von prominenten „anti-revisionistischen“ Vorvätern zuzulegen. Nur im Gegensatz zum Aufstieg der Partei- und Staatsideologie des Marxismus-Leninismus hat es einen gewissen Sinn, allerdings um den Preis, dass zahlreiche (sowjet-)russische, polnische oder sonst wie „östlich“ zu verortende marxistische Gelehrte, von den zahlreichen Schulen des japanischen Marxismus ganz zu schweigen, ausgeschlossen werden. Die japanischen und chinesischen Marxisten waren von den westeuropäischen Debatten weit stärker beeinflusst als vom spezifisch russischen Leninismus. Wie man es auch dreht und wendet, die Rede vom „westlichen Marxismus“ bleibt schlechte Geographie, keine Sozialwissenschaft. Die Behauptung angelsächsischer Autoren wie Anderson oder Arnason, „westliche Marxisten“ seien an politischer Ökonomie gründlich desinteressiert gewesen, ist unhaltbar; allerdings gehören derlei Legenden zum Traditionsgepäck des Neomarxismus.

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lung davon: Keine Ideengeschichte ohne Realgeschichte. Die Breite der Forschungsgebiete, die Grünberg bearbeitete, und die Breite seiner Forschungsinteressen war erstaunlich. Er hatte zur Agrargeschichte und historischen Agrarsoziologie gearbeitet, zum Beispiel die Geschichte der Bauernbefreiung im 19. Jahrhundert studiert. In seiner Zeitschrift, als Grünberg-Archiv allen Sozialwissenschaftlern der Zeit ein Begriff, hatte er einen zentralen Arbeitsschwerpunkt gesetzt: die Geschichte der Arbeiterbewegung im modernen Kapitalismus, und zwar einschließlich der Geschichte der sozialistischen Ideen. Selbstverständlich gehörte das Studium der Entstehung und Entwicklung des „wissenschaftlichen Sozialismus“ in all seinen Varianten (mit der Marx-Engelsschen Konzeption im Zentrum) zu diesem Programm. Seine Durchführung verlangte nach einer Verbindung von „realistischer“ oder „realhistorischer“ Forschung und Ideengeschichte. In diesen Untersuchungen sollte „die gegebene konkrete Welt in ihrem Werden und Wandel“, das „wirkliche soziale Geschehen, das gesellschaftliche Leben in seiner unaufhörlichen, stets erneuten Umwälzung“ begriffen werden. Der Fokus sei auf die historische Genese jedes sozialen Phänomens in seinem jeweiligen historischen Kontext, d. h. im Zusammenhang mit den Veränderungen der Gesellschaft als Ganzer zu richten. Als Redakteur und Herausgeber seines Archivs wie als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung stand Grünberg für einen offenen, pluralen Marxismus, der verschiedene, zersplitterte Forschungen und Forschungsansätze, selbstverständlich auch nicht-marxistische, zu einer Sozialgeschichte der sozialen Bewegungen und ihrer Theorien zusammenbringen sollte. Diese Bewegungen, vor allem, aber nicht allein die Arbeiterbewegung, wie ihre vielfältigen Ideen und Theorien sollten in ihrer Abhängigkeit von und in ihrer Wirkung auf die Veränderungen der bürgerlichen Gesellschaft untersucht werden. In seiner Frankfurter Antrittsrede setzte Grünberg 1924 jedoch einen Kontrapunkt, den man nicht vergessen sollte. Er forderte eine klare Festlegung auf „Einheitlichkeit in der Problemstellung und Problembearbeitung“, und zwar „von vornherein“. In diesem Rahmen einer einheitlichen Problemstellung sollte als „Lösungsmethode die marxistische“ gelehrt und praktiziert werden. Gut austromarxistisch betonte Grünberg allerdings sofort wieder den großen Unterschied zwischen der „Vermittlung einer Arbeitsmethode“ und der „Aufzwingung von Resultaten“, wie sie dogmatischen Denkweisen eigen ist. Marxismus, wie er ihn verstand, war eben keine abgeschlossene Doktrin, sondern ein Forschungsprogramm und eine Forschungsmethode, die auf Kritik, Selbstkritik und Selbstkorrektur beruhte und für neue Einsichten, mithin auch für die Revision von tradierten Auffassungen offen bleiben sollte. Grünberg hat mehrfach versucht zu erläutern, was er unter marxistischer Forschungsmethode verstand, sehr zum Verdruss der marxistischen Philosophen, da er die viel gerühmte Dialektik eher selten bzw. gar nicht in den Mund nahm. Grünberg bestand darauf, dass es keine überhistorischen allgemeinen Gesetze, sondern nur historisch veränderliche Fakten und deren Zusammenhänge in einem jeweils spezifischen historischen Kontext geben könne. Wie die Austromarxisten legte Grünberg auf Schulenbildung keinen Wert. Jeder und jede konnte mit der marxistischen Methode zu anderen Ergebnissen kommen, diese Methode war selbst interpretierbar und veränderbar, wie Marx und Engels konnten auch die Marxisten in

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Sachen Methode dazu lernen.27 Grünberg liebte das Basis-Überbau Schema nicht, auch andere „marxistische“ Formeln waren ihm zuwider. Wie die Austromarxisten hielt er nichts davon, sich auf immer und ewig an den oft metaphorischen, nicht selten höchst missverständlichen, nur innerhalb eines spezifischen historischen Kontextes sinnvollen Ausdrucksweisen der Gründerväter fest zu klammern. Er, wie die Austromarxisten, verstand unter der materialistischen Geschichtsauffassung ein lebendiges Forschungsprogramm, das empirisch überprüfbar, also widerlegbar, korrigierbar, veränderbar war und bleiben sollte. Diese Art von sozialwissenschaftlichem Marxismus stand klar gegen jede Form von ahistorischem, rein deduktivem, idealistischem Systemdenken, in dem das Spielen mit Worten und Begriffen die Oberhand hatte – sehr im Geiste von Karl Marx, der bekanntlich „alle Systeme verwarf“ und sich heftig gegen die Unterstellung wehrte, er habe ein „sozialistisches System“ aufgestellt. Selbst Alfred Schmidt, der Grünberg und seine Ära eher für vernachlässigbar hielt, hat Grünberg das Verdienst zuerkannt, die spätere Kritische Theorie dank seiner speziellen Ausrichtung auf eine kritische, historische Sozialwissenschaft vor einer schlimmen Sackgasse bewahrt zu haben. Dank Grünberg, so Schmidt, bliebe die Kritische Theorie frei von „der leeren Tiefe sich philosophisch gebender Marx-Interpretationen [. . .], wie sie seit den frühen dreißiger Jahren allenthalben aufkamen“ (Schmidt 1980, S. 8*).28 Grünberg wollte und propagierte Interdisziplinarität, er verstand sie als Überwindung der strikten Separierung der akademischen Disziplinen und fortschreitenden Zersplitterung der Einzelwissenschaften in Subdisziplinen. Ihm schwebte eine Reform der Sozialwissenschaften an Haupt und Gliedern, ein Neubeginn in großem Stil vor. Die systematische Erforschung des Marxismus, seiner Grundbegriffe, seiner Methoden, seiner Hauptlehren, seiner ungelösten Probleme sollte der neuen interdisziplinären Sozialwissenschaft den Weg bereiten. Es ging nicht nur darum, im Sinne des oft propagierten, aber selten praktizierten Pluralismus dem Marxismus als kritischer, empirischer Sozialwissenschaft eine institutionelle Heimstätte zu geben, wie sie die übrigen politisch-theoretischen Strömungen des bürgerlichen Zeitalters, vom Liberalismus bis zum Staatssozialismus bereits in der ein oder anderen Form besaßen. Gefördert werden sollte die sozialwissenschaftliche Schule, deren vielversprechendes Programm bisher kaum ernsthaft verfolgt, stattdessen von dogmatischen Parteizwisten blockiert worden war. Wiederum nicht um der historischen Gerechtigkeit oder, im Sinne des Pluralismus, um der Chancengleichheit willen,

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Man muss sich dabei in Erinnerung rufen, daβ ein Groβteil der Manuskripte und Notizbüchern von Marx’ Hand, in denen der verschlungene Forschungs- und Lernprozess von Marx (und Engels) dokumentiert wird, damals noch unveröffentlicht und weithin unbekannt waren. 28 Schmidts Behauptung, dass Grünbergs wissenschaftliche Intentionen und Verfahrensweisen die spätere Arbeit des Instituts nicht „spezifisch beeinflusst“ haben, scheint mir übertrieben (Schmidt 1980, S. 7*). Es sei denn, man wollte unter spezifischem Einfluss eine Schulenbildung im Institut verstehen. Dagegen spricht, dass Horkheimers Programmatik keinen wirklichen Bruch mit dem Gerlachschen Gründungsmanifest oder Grünbergs 1924 Forschungsprogramm und -praxis darstellte (siehe dazu unten).

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sondern weil dies Programm durch und durch interdisziplinär war und eine neue Art von Sozialwissenschaften erforderte.29 In der Ära Grünberg und unter seiner direkten Leitung wurden am Institut für Sozialforschung sechs große Forschungskomplexe etabliert. Am Ende dieser Ära haben Friedrich Pollock und Felix Weil die Forschungsschwerpunkte am Institut für den zuständigen Minister bzw. für die Frankfurter Universitätsöffentlichkeit in zwei Memoranden dargestellt. Den ausführlichsten Tätigkeitsbericht verfasste Felix Weil in Zusammenarbeit mit Pollock, der wenig später eine kürzere Fassung vorlegte.30 Weil nannte sechs Forschungsschwerpunkte: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Historischer Materialismus und die philosophischen Grundlagen des Marxismus. Theoretische Nationalökonomie. Fragen der wirtschaftlichen Organisation einer sozialistischen Gesellschaft. Die Lage der arbeitenden Klassen in Vergangenheit und Gegenwart. Marxistische Soziologie. Geschichte der sozialistischen Lehrmeinungen und Parteien.

Zu jedem einzelnen Forschungsschwerpunkt nannte Weil die durchgeführten, laufenden und geplanten Projekte (und deren Bearbeiter) und die entsprechenden Publikationen: Zum ersten Punkt verwies er auf „Untersuchungen über Einzelfragen der materialistischen Geschichtsauffassung“ und „einzelne für die Marxsche Theorie wichtige Kapital aus der Geschichte des deutschen Idealismus“, zum zweiten nannte er die Arbeiten von Sternberg und Grossmann als Beiträge zur Weiterentwicklung der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie. Zum dritten verwies er aufs Pollocks im gleichen Jahr erschienene Arbeit (siehe unten). Zum vierten, dem Thema, das Grünberg besonders am Herzen lag, verwies er auf eine Studie über die amerikanische Arbeiterbewegung und auf die gerade begonnene empirische Studie über die geistige und materielle Lage der Arbeiter und Angestellten in Deutschland, die unter der Leitung Erich Fromms stand. Unter Soziologie erwähnte er Wittfogels laufende Studien zur Wirtschaft und Gesellschaft Chinas. Zum sechsten Punkt nannte er die Dissertation von Kurt Mandelbaum und Karl Friedrich Brockschmidt zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, die am Institut betreut wurden. Am Schluss bekräf-

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Grünberg wie den Austromarxisten war sehr klar, dass Marx’ und Engels’ Forschungsprogramm in einem vordisziplinären Zeitalter entstanden war und daher in keine der inzwischen etablierten akademischen Disziplinen hineingezwängt werden konnte. Da Soziologie wie Philosophie sich zu neuen akademischen Teildisziplinen gemausert hatten, das Versprechen einer sozialwissenschaftlichen Synthese mit Hilfe einer neuen „Integrationswissenschaft“ wenig glaubhaft schien, blieb nur der Ausweg einer interdisziplinären Forschungspraxis. Die konnte entweder zu neuen Interdisziplinen kreuz und quer zur bisherigen disziplinären Struktur oder zur Transdisziplinarität, zu einer neuen „Einheit der Sozialwissenschaften“ führen. 30 Felix Weils Memorandum an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 01.11.1929 befindet sich im Frankfurter Universitätsarchiv unter den Kuratoriumsakten 3/30 – 17 Institut für Sozialforschung. Das Memorandum wurde mehrfach vorgestellt, so bei Kluke 1972, S. 413 ff., Migdal 1981, S. 108 ff., Buckmiller 1988, S. 174 ff.

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tigte Weil, auch in Zukunft werde man am Institut „die Bemühungen um die Anwendung und Weiterbildung der Marxschen Theorie folgerichtig fortführen“. Felix Weil erwähnte in seinem Bericht die Kooperation zwischen dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und dem Moskauer Marx-Engels-Institut kaum, er wollte den Ruf parteipolitischer Neutralität des Instituts nicht gefährden. Jedoch war diese Zusammenarbeit für die Anfangsjahre des Frankfurter Instituts wichtig. Die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Marxforschung war unumstritten, im Grünberg-Archiv wurden etliche Beiträge Rjazanovs veröffentlicht, in denen der Leiter des ersten MEGA-Projekts neue Funde und Einsichten aus der Arbeit mit dem Marxschen und Engelsschen Nachlass vorstellte. Friedrich Pollock beschränkte sich in seinem Memorandum für die Frankfurter Universität 1930 auf drei Forschungsschwerpunkte, die die Handschrift Grünbergs trugen: „Ausgedehnte Studien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Untersuchungen über besondere Probleme der marxistischen Theorie, Arbeiten über die theoretischen und praktischen Probleme Sowjetrußlands“ (Pollock 1930, S. 352). Auf all den oben genannten Gebieten wurde im Institut für Sozialforschung gearbeitet. Die antiphilosophische Position der Austromarxisten war im Institut für Sozialforschung zwar bekannt und präsent, aber alles andere als unumstritten. Grünberg veröffentlichte 1923 in seinem Archiv Karl Korschs Aufsatz zu „Marxismus und Philosophie“, der heftige Debatten im Institut auslöste. Wolfgang Abendroth berichtete darüber in seinen Erinnerungen. Es gab im Institut für Sozialforschung kaum Meinungsverschiedenheiten über die zentrale Bedeutung der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie. Grünberg förderte und unterstützte Arbeiten zur marxistischen politischen Ökonomie. Mehrere Institutsarbeiter waren Ökonomen und befassten sich mit der Marxschen Ökonomiekritik, darunter die beiden Assistenten Grünbergs, Pollock und Grossmann. Pollock hatte 1923 an der Frankfurter Universität mit einer bemerkenswerten Arbeit über die Marxsche Geldtheorie promoviert.31 Henryk Grossmann arbeitete an einer Neuinterpretation der Marxschen Akkumulations- und Krisentheorie, inspiriert durch die jüngsten Forschungen im Moskauer Marx-Engels-Institut, die er gut kannte. Sein schärfster Widersacher, Fritz Sternberg, war bis 1923 Assistent an der Frankfurter Universität, etablierte sich dann als freier Schriftsteller und Forscher. Er hatte persönliche Kontakte zum Institut, war aber nie Institutsmitarbeiter. Die Polemik zwischen Sternberg und Grossmann entbrannte 1926 in aller Schärfe, als Sternberg seine große Studie „Der Imperialismus“ herausbrachte, die er als Kritik und Fortsetzung von Rosa Luxemburgs „Akkumulation des Kapitals“ verstand. Grossmann attackierte ihn heftig, Sternberg erwiderte und revanchierte sich drei Jahre später mit einer vernichtenden Kritik des Grossmannschen Buchs (siehe unten). Dank der hervorragenden Kontakte des Instituts und Grünbergs persönlich nach Moskau konnte Friedrich Pollock 1927/28 einige Monate in der Sowjetunion verbringen. Auf der Grundlage des Materials, das er während dieses Aufenthalts ge-

31 Vgl. Pollock 1923. Es war auch Pollock, der 1926 eine ausführliche Anti-Kritik zu Werner Sombarts endgültiger Abrechnung mit dem Marxismus schrieb (Pollock 1926).

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sammelt hatte, entstand seine Studie über „Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion“. Sie erschien 1929 als Band II in der Schriftenreihe des Instituts, kurz nach Grossmanns Arbeit.32 In der bisherigen Geschichtsschreibung des Instituts wird diese Arbeit in der Regel nur erwähnt, weil sich Pollock damit habilitieren konnte. Sie hat aber abgesehen von diesem merkwürdigen akademischen Ritual einen eigenen Wert als einer der ersten Versuche, den planwirtschaftlichen Experimenten in der Sowjetunion sachlich gerecht zu werden. Die Erforschung der Lage der arbeitenden Klassen in Vergangenheit und Zukunft lag dem Sozialhistoriker Grünberg besonders am Herzen. Im Grünberg Archiv erschienen dazu regelmäßig Beiträge. Grünberg war an den entsprechenden Forschungen im Institut in der Anfangsphase beteiligt. Die Anlage der empirischen Arbeiten entsprach durchaus dem, was zur gleichen Zeit in Österreich, angeregt und unterstützt durch Otto Bauer, vom einem jungen Forscherteam begonnen wurde: Die zu Recht berühmte Studie über Die Arbeitslosen von Marienthal von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel. Mit seinen austromarxistischen Freunden teilte Grünberg das Interesse an der jungen Soziologie. Zusammen mit Max Adler und Karl Renner hatte er zu den Gründern der Wiener „soziologischen Gesellschaft“ gehört. Es passte zu Grünbergs sozial- und wirtschaftshistorisch geprägter Auffassung von Sozialwissenschaft – die sozialen Tatsachen kennen und erkennen, ihre Zusammenhänge finden und nachweisen –, dass er Karl August Wittfogel als Mitarbeiter ans Institut holte. Wittfogel, ein heute vergessener Pionier marxistischer Wirtschaftsgeografie und Wirtschaftsgeschichtsschreibung, hatte auch Sinologie studiert. Am Institut begann er an einer gross angelegten Studie über die Wirtschaft und Gesellschaft Chinas zu arbeiten. Der erste Teil davon, der gut marxistisch die „Produktivkräfte, Produktions- und Zirkulationsprozess“ in der chinesischen Ökonomie zum Gegenstand hatte, erschien 1931 als dritter Band der Schriftenreihe des Instituts (Wittfogel 1931). Wittfogel, der wie Grünberg die Wirtschaftsgeschichte als die eigentliche Grundlage jeder Sozialwissenschaft betrachtete, gehörte auch in der Ägide Horkheimer zu den wichtigen Mitarbeitern des Instituts. Carl Grünberg selbst schrieb in seiner Frankfurter Zeit einige bemerkenswerte Aufsätze. Ende der 1920er-Jahre steuerte er zusammen Henryk Grossmann eine ganze Reihe von Artikeln zur Neuauflage (der vierten) des viel gelesenen Wörterbuchs der Volkswirtschaft bei: Grünberg schrieb eine ganze Reihe biografischer Artikel für das Wörterbuch, unter anderem den über Friedrich Engels und Karl Marx. Von ihm stammten die Artikel über den Chartismus, über die Pariser Kommune; einige der größeren Artikel, über Christlichen und religiösen Sozialismus, über Sozialdemokratische und kommunistische Parteien und über Sozialismus

Vgl. Pollock 1929. Die Schriftenreihe des Instituts hieβ offiziell „Schriften des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main, herausgegeben von Carl Grünberg“. Nach der bestgeglaubten Legende interessierten sich die „westlichen Marxisten“ (als deren wichtigste Vertreter einige Protagonisten der Frankfurter Schule gesehen werden) nicht für politische Ökonomie. Dass die ersten Buchpublikationen, mit denen das Institut für Sozialforschung hervortrat, gewichtige Bücher zur politischen Ökonomie und nicht zur Philosophie waren, wird geflissentlich übersehen.

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schrieb bzw. überarbeitete er zusammen mit Grossmann. Nach Grünbergs Schlaganfall hatte Grossmann viel Spielraum, um die Artikel in seinem Sinn zu ergänzen (vgl. Grossmann und Grünberg 1971). In der Planung für die Schriftenreihe des Instituts, die Grünbergs Handschrift trägt und in Teilen Grünbergs engeren Forschungsinteressen entsprach, wird deutlich, wie er sich die Publikationsstrategie des Instituts vorstellte: Auf den Band III, Wittfogels Studie über China, sollte als Band IV ein Sammelband mit Studien zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie folgen; vermutlich war an Kurt Mandelbaum und andere Doktoranden des Instituts als Autoren gedacht. Geplant war als Band VI eine Abhandlung Max Horkheimers über die „Krise des Marxismus“. Darauf sollte als Band VII „Der Leninismus“ folgen, verfasst von Biehahn. Als Band VIII „Der Austromarxismus“ von Katz, als Band IX wieder eine Studie zur jüngsten Geschichte des Kapitalismus, zur „Entwicklung des Trustkapitals seit 1914“. Als Band X wurde eine Studie von Löwenthal über die „Soziologie des Kleinbürgers“ angekündigt, als Band XI Julian Gumperz’ Arbeit über „Die Lage der nordamerikanischen Arbeiter“. Als Band XII eine Untersuchung von Kurt Mandelbaum über „Die Stellung der politischen Parteien zum Proletariat seit Beginn des 19. Jahrhunderts“ (vgl. Buckmiller 1988, S. 182). Alles in allem ein gut austromarxistisches Programm. Leider wurde von den folgenden, angekündigten Bänden nach dem Band III nichts mehr realisiert, weder in der Ägide Grünberg noch unter seinem Nachfolger. Auch Horkheimers Studie zur „Krise des Marxismus“ wurde offenbar nie geschrieben.33 In der Ägide Grünberg und danach waren austromarxistische Positionen und Beiträge am Institut für Sozialforschung wohl gelitten. Jedoch legte Grünbergs Assistent, Henryk Grossmann 1929 in seinem Buch Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems – zugleich eine Krisentheorie eine wütende Kritik des bisherigen Marxismus vor. Das Buch war unter Grünbergs Direktorat entstanden, es wurde als erster Band der neuen Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung publiziert, sein Erscheinen zeigte, wie sehr das Institut unter Grünbergs Leitung an einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie interessiert war. Grossmann war von Grünberg nach Wien geholt worden, hatte lange Jahre dort gelebt, kannte die meisten der Austromarxisten persönlich. In seinem Buch griff er Rosa Luxemburg und Fritz Sternberg heftig an und kritisierte Otto Bauer und Rudolf Hilferding nicht weniger scharf als „Neo-Harmoniker“. Den Ausdruck hatte Rosa Luxemburg in der Polemik gegen ihre Kritiker 1915 geprägt.34 Kaum verhüllt wurden die Austromarxisten von Grossmann als Revisionisten gebrandmarkt. Die-

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Die schon erwähnten Dissertationen von Mandelbaum und Brockschmidt wurden allerdings 1926 und 1927, also noch in der Ägide Grünberg, erfolgreich abgeschlossen, aber nicht mehr in der Schriftenreihe veröffentlicht. Über Katz’ Arbeit zum Austromarxismus oder Biehahn Studie zum Leninismus ist nichts weiter bekannt. 34 Gemeint war, dass die Austromarxisten in der Diskussion der Marxschen Reproduktionsschemata eine Art „Gleichgewicht“, ja sogar einen möglichen „gleichgewichtigen“ Akkumulationspfad zu skizzieren versucht hatten. Das war genau Marx’ Absicht, er hatte die Sache nur nicht zu Ende geführt, wie Rosa Luxemburg ganz richtig bemerkte.

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sem Verdikt verfielen alle, die nicht wie er selbst an das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ als Universalschlüssel zur Erklärung aller kapitalistischen Phänomene glauben wollten. Grossmann behauptete in seinem Buch, er allein habe die wahre Marxsche Methode und entscheidende Teile der Marxschen Theorie wiederentdeckt und sei daher der erste, der von sich behaupten könne, den „revolutionären“ Kern des „wahren“ Marxismus von allen Verfälschungen gereinigt zu haben.35 Das war genau der Stil der Debatte, den Grünberg hatte vermeiden wollen; das Institut sollte eine Stätte für offene wissenschaftliche Debatten sein, wo durchdachte Argumente, Fakten, sorgfältig konstruierte Gedankenexperimente, empirische Sozialforschung zählten, nicht persönliche Invektiven und pseudosoziologische Zuschreibungen, wie sie die Leninisten pflegten.36 Grossmann behauptete gegen die Austromarxisten und ihren in der Tat offenen – d. h. für neue Tatsachen und neue Einsichten empfänglichen – Marxismus, er habe als einziger die wahre Marxsche Methode rekonstruiert und sei deshalb auch der einzige, der entscheidende Teile der Marxschen Theorie in ihrer vollen Bedeutung zu würdigen wüsste.37 Über die Schwierigkeiten, die spezifisch Marxsche „Entwicklungsmethode“ (oder „genetische Methode“, wie die genuin Marxschen Ausdrücke lauten) zu fassen, ging er leichtfüßig hinweg. Er reduzierte sie auf ein Annäherungsverfahren und stellte sie sich als Folge von hochabstrakter Modellanalyse mit anschließender, schrittweiser empirischer Überprüfung vor. Marx lockere im Kapital nur seine Annahmen Stück für Stück und nähere sich so der empirischen Realität. Gleichwohl war Grossmann überzeugt, Marx’ Theorie sei ein geschlossenes theoretisches System. Statt sich wie die Austromarxisten mit der historischen Erklärung der empirischen Strukturveränderungen des Kapitalismus abzumühen, könne man all diese „Oberflächenphänomene“ ganz einfach aus ein und derselben theoretischen Struktur, dem „Wertgesetz“ (und seinen im Kapital nach Grossmanns Lesart nur entfalteten Implikationen) ableiten – und damit eindeutig und vollständig erklären.

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Es sind genau diese starken Behauptungen Grossmanns, die die Neue Linke in Deutschland und anderswo schon in den 1960er-Jahren faszinierte. Sie glaubte ihm aufs Wort, wie auch die heutigen Anhänger Grossmanns vor allem in der Englisch sprechenden Welt. 36 Friedrich Pollock, der eine Menge von der Sache verstand, hatte die Publikation von Grossmanns Buch mit einigen Bauchschmerzen und Bedenken passieren lassen, immerhin ging es um die erste Buchpublikation des Instituts, mit der man Flagge zeigen wollte. Aus Loyalität gegenüber Grünberg, dessen Assistent Grossmann noch immer war, hielt er aber seine Kritik zurück, wie er später in einem Privatbrief an Max Horkheimer eingestand. Grossmann hatte einen zweiten Band angekündigt, in dem er etliche der in seinem Buch offen gebliebenen, bzw. per Behauptung erledigten Probleme untersuchen wollte. Dass dieser nie erschien, hängt wahrscheinlich auch mit der durchaus skeptischen Aufnahme seines Buchs im Institut (nicht nur durch Pollock) zusammen. Bis zu seinem Tode kämpfte Grossmann mit diversen Anti-Kritiken, die entsprechenden Manuskripte befinden sich heute in seinem Nachlass in Warschau. 37 Das galt insbesondere für das „Zusammenbruchsgesetz“, das er Marx zuschrieb. Grossmann lebte in dem Wahn, es müsse sich in den Marxschen Manuskripten doch eine ausformulierte Fassung dieses „Gesetzes“ finden lassen. Nachgeforscht hat er nicht, obwohl das leicht möglich gewesen wäre.

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Grossmann hielt sich viel darauf zugute, als erster die Marxsche Methode in ihrer Eigenart erkannt zu haben – ein impliziter, heftiger Vorwurf gegen seinen Chef und Förderer Carl Grünberg und die übrigen Austromarxisten, denen Marx’ Forschungsmethode bzw. seine Art der Darstellung im Kapital nie zum Problem geworden sei. Die austromarxistischen Debatten zu diesem Problem, insbesondere Max Adlers und Otto Bauers Beiträge, nahm er nicht zur Kenntnis. Zu seinem Schaden, er hätte einiges lernen können. Zum Beispiel über die Nähe der Marxschen Methode zur Methode der mathematischen Naturwissenschaften oder seine positivistische Schlagseite, die den Austromarxisten im Gegensatz zu den Protagonisten der späteren Kritischen Theorie durchaus gefiel. Zum Beispiel über historische Kontingenz und die Bedeutung der tagtäglichen Klassenkämpfe bei der Durchsetzung der Tendenzen und scheinbaren „Naturgesetze“ des Kapitalismus. Was in Grossmanns extrem deterministischer und noch extremer ökonomistischer Version von Ableitungsmarxismus auf die bloße Beschleunigung bzw. Verlangsamung eines ohnehin naturgesetzlich ablaufenden Prozesses zusammenschrumpfte (der letzten Endes unvermeidlich zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen müsse), das war in der Sicht der Austromarxisten ein hochkomplexes Gemisch von Tendenzen und Gegentendenzen, die allesamt politisch beeinflusst und beeinflussbar waren und blieben. Grossmanns Lesart des Marxschen Kapital war jedenfalls mit Grünbergs austromarxistisch geprägtem Forschungsprogramm des Instituts schwerlich zu vereinbaren.38 Grossmanns steilste Behauptungen, er habe endlich das „Gesetz“ des kapitalistischen Zusammenbruchs wiederentdeckt und damit als erster gezeigt, worauf Marx im Kapital eigentlich hinauswollte, blieben nicht unwidersprochen. Ebenso wie seine Behauptung, die Marxsche Krisentheorie sei nichts anderes als die Theorie des tendenziellen Falls der Profitrate, jede Krise also nur ein durch besondere Umstände hinausgeschobener Zusammenbruch des Kapitalismus. Tatsächlich kritisierten so gut wie alle marxistischen Ökonomen der Zeit sein Buch in Grund und Boden. Nicht nur Fritz Sternberg, der sich besonders herausgefordert fühlte, antwortete mit einer ausführlichen Kritik. Auch Helene Bauer, Otto Bauers Frau, mit Natalie Moszkowska die wichtigste politische Ökonomin der Austromarxisten, kritisierte Grossmanns Zusammenbruchstheorie in einem langen Artikel im Kampf.39

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Dennoch kam es nicht zum Bruch, vermutlich weil Grünberg schon zu krank war, um Grossmanns Buch noch zur Kenntnis nehmen zu können. Zur Festschrift für Grünberg 1932 steuerte Grossmann noch einen Aufsatz bei, die letzte Verbeugung vor seinem Förderer und Chef. 39 Vgl. Helene Bauer 1929. Helene Bauer hatte auch Sternbergs Imperialismus Buch im Kampf kritisiert. In beiden Fällen darf man annehmen, dass Otto Bauer weitgehend mit den Ansichten seiner Frau übereinstimmte. Den besten Überblick über die Grossmann-Debatte der Zeit geben Howard und King (1989).

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Das Institut für Sozialforschung unter Max Horkheimers Leitung

Als Carl Grünberg im Januar 1928 einen schweren Schlaganfall erlitt, von dem er sich nicht wieder erholte, war das noch nicht das Ende der Ära Grünberg. Friedrich Pollock führte als geschäftsführender Direktor die Arbeit weiter bis Max Horkheimer 1931 die Nachfolge Grünbergs antrat. Pollock führte die Arbeit weiter, ganz in Grünbergs Sinn. Er war aber politisch zu exponiert, um als Direktor des Instituts akzeptabel zu sein. Max Horkheimer hatte schon zu Grünbergs Zeiten gelegentlich an den Arbeiten des Instituts teilgenommen; er war als wichtigster Mitarbeiter für den ersten Forschungsschwerpunkt, die Probleme der materialistischen Geschichtsauffassung, vor allem für Studien zur Ideologietheorie, fest eingeplant. Im letzten Jahrgang des Grünberg-Archivs veröffentlichte er dazu einen Aufsatz (vgl. Horkheimer 1930). Zum siebzigsten Geburtstag Carl Grünbergs erschien 1932 eine umfangreiche Festschrift, mit Beiträgen führender Austromarxisten (Max Adler, Paul Szende, Käthe und Otto Leichter), der Institutsmitarbeiter Pollock, Horkheimer, Grossmann und Wittfogel neben vielen anderen (vgl. Festschrift 1932). Als Max Horkheimer 1931 zum Nachfolger Carl Grünbergs berufen wurde, war er noch ein relativ unbekannter Privatdozent der Philosophie. Als Direktor eines Forschungsinstituts mit einem umfangreichen Programm, das weiter über seine Spezialität, die Sozialphilosophie, hinausging, musste er sich, anders als Carl Grünberg, noch beweisen. Es hätte daher nahe gelegen, sich programmatisch stark von seinem Vorgänger abzusetzen. Was Horkheimer allerdings nicht tat. Horkheimers Antrittsrede wird in der Geschichtsschreibung des Instituts für Sozialforschung gemeinhin als Beginn einer neuen Ära gesehen, die alles Vorhergehende weit in den Schatten stellte. Dabei sind die Parallelen zwischen Horkheimers und Grünbergs Programm unübersehbar, so dass man durchaus von einer Kontinuität der am Institut unter Grünberg und Horkheimer betriebenen Forschungen sprechen kann. Statt Grünbergs Programm ad acta zu legen, erweiterte Horkheimer es um einige Elemente, denen weder Grünberg noch die Austromarxisten widersprochen hätten. Die Aufgabe des Instituts sei es, die Zusammenhänge zwischen „dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten“ zu untersuchen. Das war eine klare Frontstellung gegen die notorische Ausblendung bzw. Übersimplifizierung dieser Zusammenhänge in den dogmatischen Varianten des Marxismus, die die Austromarxisten durchaus teilten. Horkheimer stellte keineswegs einen fix und fertigen Theorieentwurf voran, vielmehr sollten Theorie und empirische Forschung sich wechselseitig durchdringen und befruchten, in der Absicht, die „aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Gegenstand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch das Allgemeine nicht aus den Augen zu verlieren“. Auch mit dieser Positionsbestimmung konnte Horkheimer bei den Austromarxisten keinen Widerspruch hervorrufen. Dass Horkheimer wie Grünberg die zentrale Rolle interdisziplinärer Forschung betonte und ankündigte, „auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchungen zu organisieren,

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zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen“ (so in seiner Antrittsrede 1931 und erneut bei der Wiedereröffnung des Instituts 1951), lag ganz auf der austromarxistischen Linie. Allerdings rettete sich Horkheimer, der sich als gelernter Philosoph in den Sozialwissenschaften noch keineswegs sattelfest fühlte, immer wieder in Formulierungen, die ihm als Philosophen vertraut waren. Eine Übersetzungsleistung, die bei den nachgeborenen Bewunderern der Kritischen Theorie den falschen Eindruck erweckt hat, es handele sich um ein primär sozialphilosophisches Programm. Richtig, Horkheimer sprach als akademischer Sozialphilosoph, der sich keine Kompetenz als Historiker oder historischer Soziologe anmaßen, aber der Philosophie und Psychologie eine weit zentralere, wichtigere Rolle als integraler Teil des Forschungsprogramms des Instituts zuweisen wollte. Im Vergleich zu seinem Vorgänger wollte Horkheimer eine deutliche Akzentverschiebung einleiten, weg von der Sozialgeschichte, hin zur Sozialphilosophie und Sozialpsychologie. Aber es konnte keine Rede davon sein, dass Horkheimer ein abruptes Ende der von Grünberg angeregten und mit organisierten Forschungen am Institut vollzog oder vollziehen wollte. Selbst Henryk Grossmann, dessen Version eines erzdogmatischen, überpolitisierten und übertrieben deterministischen Marxismus Horkheimer kaum gefallen konnte, blieb am Institut.40 Wie Grünberg plädierte Horkheimer für Interdisziplinarität als Leitlinie der Forschungspraxis. Aber er gab der interdisziplinären Forschungsarbeit ein klares Ziel: die Rekonstruktion des gesellschaftlichen Ganzen (Horkheimer 1930). In der Zeitschrift für Sozialforschung, die in der Ägide Horkheimer zum Flaggschiff des Instituts wurde, nachdem Grünbergs Archiv 1930 wegen der Krankheit seines Herausgebers eingegangen war, entwickelte er diese Konzeption weiter. In einer Reihe von programmatischen Aufsätzen, die seither das Gesicht der Kritischen Theorie prägen, bemühte er sich, das in seiner Antrittsrede umrissene Forschungsprogramm zu präzisieren. Anders als Grünberg formulierte Horkheimer einen Führungsanspruch für die Sozialphilosophie, die er als umfassende Gesellschaftstheorie, aber ihrem Gegenstand angemessen, auf den modernen Kapitalismus und die hoch entwickelte bürgerliche Gesellschaft bezogen, ganz im Sinne der Hegelschen Tradition als „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ verstand. Die kritische Gesellschaftstheorie dürfe sich nie von den konkreten ökonomischen, soziologischen und historischen Analysen loslösen, sie habe jedoch die Aufgabe zu verhindern, dass namentlich die Ökonomie (aber auch die Soziologie) zu einer bornierten, reinen Fachwissenschaft herunterkäme und die ökonomischen Begriffe

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Die Trennung von Grossmann erfolgte erst viele Jahre später, im US-amerikanischen Exil. In den ersten Jahren der Ägide Horkheimer orientierte sich Grossmann um auf sozialhistorische Arbeiten über die Entstehung des bürgerlichen Weltbildes und der modernen Wissenschaft (vgl. Grossmann 1935). Ironischerweise passte diese Grossmannsche Arbeit über die Entstehung der modernen Naturwissenschaften im Kontext der frühen Manufakturperiode des Kapitalismus viel besser in Grünbergs Forschungsprogramm als seine Studien zur Marxschen Ökonomie. Abgesehen von der Enttäuschung über die allseits unfreundliche Aufnahme seines Buchs spielte bei Grossmann auch ein politisches Motiv mit. Er sollte die Arbeit Franz Borkenaus, eines abtrünnigen Kommunisten, kritisieren.

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wieder zu „entleertem, beziehungslosem Detailwerk“ verkommen könnten (Horkheimer 1937b, S. 630). Das war ein unüberhörbarer Anklang an die Marxsche Kritik der Beiträgen Politischen Ökonomie, und derartige Anklänge finden sich auch in späteren Beiträgen Horkheimers. In seiner Kritik an den zu Dogmen erstarrten, gegen jede Kritik immunisierten Lehrsätzen einer vermeintlichen marxistischen Orthodoxie ging Horkheimer in den 1930er-Jahren in die gleiche Richtung wie die Austromarxisten. Allerdings war inzwischen in der Sowjetunion und in den Parteien und Bewegungen, die der Komintern verbunden waren, diese Orthodoxie tatsächlich zu einem umfassenden System von Lehrsätzen ausgebaut worden, das als Marxismus-Leninismus mit Alleinvertretungsanspruch gegenüber allen als „Abweichungen“ gescholtenen Ketzereien vertreten und innerhalb des jeweiligen Machtbereichs auch durchgesetzt wurde (vgl. Labica 1999).41 Wie die Austromarxisten (und wie die Gründerväter Marx und Engels) betont Horkheimer in seinen programmatischen Aufsätzen die Notwendigkeit der empirischen Forschung, der „Tatsachenerkenntnis“, die ihm sogar als eines der beiden konstituierenden Momente der „dialektischen Methode“ gilt. Er lässt keinen Zweifel an der Notwendigkeit konkreter empirischer und historischer Forschung für das, was er, anders als die Austromarxisten, ganz ungeniert als „materialistische“ Theorie bezeichnet.42 In Horkheimers Vorstellung behielt die „materialistische“ Gesellschaftstheorie den Vorrang und die entscheidende Bedeutung in der Forschungspraxis – „im Gegensatz zur bloßen Faktensammlung“ (die allerdings Grünberg nie propagiert hatte und die Austromarxisten erst Recht nicht).43 Die mehrfache Frontstellung gegen den marxistischen Positivismus, gegen die Theorielosigkeit der offiziell „marxistischen“ Sozialdemokratie und den öden Dogmatismus der Kommunistischen Parteien führte ihn – absichtsvoll oder nicht – dazu, die Grundlinie der Grünbergschen Forschungsprogrammatik fortzusetzen: Es 41 In der Theoriezeitschrift der Komintern, Unter dem Banner des Marxismus, die auch in einer deutschsprachigen Ausgabe verbreitet wurde, waren Generalabrechnungen mit den Austromarxisten an der Tagesordnung (vgl. für viele Thalheimer 1925/26, 1928). 42 Was den Vorrang sozialphilosophischer Überlegungen und insbesondere die Bedeutung des philosophischen Materialismus angeht, gab es einen deutlichen Dissens zwischen Horkheimer und vor allem Max Adlers zahlreichen Versuchen, die „materialistische Geschichtsauffassung“ ohne Bezug auf einen philosophischen Materialismus zu begründen. Adler umfangreichster Versuch einer Gesamtdarstellung, in zwei Bänden 1930 und 1931 veröffentlicht (weitere Teile erschienen posthum, in den 1960er-Jahren), paradoxerweise „Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung“ betitelt, fand keine gute Aufnahme. Auch nicht am Frankfurter Institut. Horkheimers einzige explizite und sehr kritische Auseinandersetzung mit Max Adlers Philosophie in der Zeitschrift für Sozialforschung stammt aus dem Jahre 1933 (vgl. Horkheimer 1933). Ausführlich hat sich nur Herbert Marcuse mit Adlers Sozialphilosophie befasst und ihn heftig kritisiert (vgl. Marcuse 1930). 43 Grünberg hatte sich in der Tat stark auf den Aufbau der Infrastruktur eines Forschungsinstituts konzentriert. Als er nach Frankfurt kam, dachte er, wenigstens acht Jahre Zeit zu haben bis zu seinem vertragsgemäßen Ausscheiden als Direktor im Jahre 1932. Daher betrieb er Bibliotheksaufbau und Materialsammlung mit Vorrang, auch um seinen künftigen Doktoranden und Mitarbeitern die Minimalbedingungen für produktives Arbeiten bieten zu können. Horkheimer hatte dank Grünbergs Vorarbeit diese Sorgen nicht mehr.

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geht um Kenntnis und Erkenntnis von Tatsachen und ihrer Zusammenhänge, soziale Tatsachen müssen nicht nur gekannt und anerkannt, sondern in ihrem historischen Entstehungs- und Entwicklungskontext erklärt werden. Horkheimer wendet sich ausdrücklich (in gut Marxscher Tradition, gegen die falschen Freunde des Marxismus) gegen universale Geschichtskonstruktionen, gegen Schemata, die auf alles und nichts passen; implizit, ohne ihn zu nennen, nimmt er sich auch Henryk Grossmann als den einzigen Vertreter einer steilen marxistischen Orthodoxie im Institut zur Brust. Wie die Austromarxisten besteht er auf einer „offenen Struktur“ der Theorie, die so zu bauen ist, dass sie prinzipiell erweiterbar, für Aus- und Umbauten empfänglich bleibt. Er wendet sich gegen reine Begriffskonstruktionen und -deduktionen – eine Spitze gegen den in der deutschen philosophischen Tradition stets virulenten Hegelianismus. Die kritische Theorie die ihm vorschwebt, soll neue Phänomene aufnehmen, sich der stets wandelbaren sozialen Realität anpassen können soll, ohne den Zusammenhang des Ganzen aus dem Auge zu verlieren. In diesem Sinn sagt Horkheimer, sei die „kritische Ökonomie philosophisch geblieben“ und so müsse sie bleiben. Die kritische Ökonomie (Horkheimers Kurzformel für Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie) müsse wie die materialistische Geschichtsauffassung sich ihrer historischen Bedingtheit bewusst sein und bleiben. Von einer Abkehr von der Marxschen Ökonomiekritik kann in den 1930er-Jahren keine Rede sein, Horkheimer ist derlei nicht anzulasten. Eher werden die weit traditioneller orientierten, gelernten Schulphilosophen Adorno und Marcuse in der Atmosphäre des Instituts dazu bekehrt, die Marxsche Ökonomiekritik ernst zu nehmen. Wie Horkheimer 1932 schreibt, hat Marx in seinen ökonomischen Schriften die „gegenwärtige Gesellschaftsform . . . erfasst“ und eine Theorie des historischen Verlaufs der modernen Gesellschaft skizziert. Marx’ Kritik, die sehr spezielle Darstellungsweise der ökonomischen Kategorien im Kapital gilt ihm geradezu als exemplarische Form der Kritik. Diese Darstellungsweise (die Marx mit zahlreichen, keineswegs eindeutigen Formulierung umschrieben und an der er unablässig weiter gearbeitet hatte) sei es, die die (Rück-)Verwandlung der „materialistischen Ökonomik“ in eine bornierte, von Geschichte, Gesellschaft und Politik gereinigte Fachund Einzelwissenschaft wie in der (neoklassischen) Ökonomie verhindere.44 Horkheimer betont die Offenheit einer kritischen Ökonomie im Anschluss an Marx, sie könne nie beanspruchen, die abschließende Sicht der Totalität zu geben, sondern

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Man muss sich vergegenwärtigen, dass die neoklassische Ökonomie damals, zu Anfang der 1930er-Jahre, noch keineswegs die akademische Ökonomie dominierte, jedenfalls nicht in Deutschland. Die deutschen Ökonomen sind historisch Spätbekehrte, daher heute umso wütendere Anhänger der reinen neoklassischen Lehre. Zu Horkheimers Zeiten gab es noch zahlreiche Vertreter der jüngeren Historischen Schule auf den Lehrstühlen für Nationalökonomie an deutschen Universitäten. In Frankfurt lehrte Franz Oppenheimer, alles andere als ein Neoklassiker, der junge Adolph Löwe übernahm nach Grünbergs Erkrankung dessen Lehrstuhl für politische Ökonomie an der Frankfurter Universität, der an das Institut für Sozialforschung gekoppelt war. Auch Löwe, ein Schulfreund Max Horkheimers, verstand sich nicht als Neoklassiker, hielt aber sehr viel von empirisch-statistischer Wirtschaftsforschung.

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müsse in ihrer Begrifflichkeit erweiterbar und veränderbar bleiben, da auch diese Totalität – die kapitalistische Weltökonomie und die bürgerliche Gesellschaft – sich ständig verändere. Marx’ Ökonomiekritik enthalte „Instruktionen zu weiteren Untersuchungen . . ., deren Ergebnis auf sie selbst zurückwirkt“ (Horkheimer 1932, S. 134). Das hätten die Austromarxisten allesamt unterschreiben können.45 Horkheimer war wie sein Vorgänger und wie die Austromarxisten insgesamt skeptisch gegenüber der angeblichen Naturnotwendigkeit des Geschichtsverlaufs, der unweigerlich zum Zusammenbruch des Kapitalismus und zu einer Revolution bzw. zum Sozialismus führen müsse. Es war möglich, an einer sozialistischen Perspektive im weitesten Sinn festzuhalten, den Kapitalismus nicht als Ende der Geschichte zu betrachten und ein Jenseits des Kapitalismus für möglich zu halten, ohne durchaus verschiedene Bahnen der kapitalistischen Entwicklung und zukünftige Formen des Kapitalismus auszuschließen. Den orthodoxen Marxisten und insbesondere den Marxisten-Leninisten konnte das nicht gefallen. Aber die Austromarxisten, voran Bauer und Renner, dachten ebenso. Bauer hielt es für seine Pflicht als Sozialwissenschaftler in der Marxschen Tradition, die jüngsten Veränderungen des Kapitalismus, angefangen bei den neuesten Technologien und den damit einhergehenden Veränderungen der kapitalistischen Betriebsweise, in industriellen Produktionsbetrieben und darüber hinaus, im Detail zu studieren, um die Richtung bzw. Richtungswechsel der kapitalistischen Entwicklung bestimmen zu können. Also analysierte er mitten in der größten Krise, die die kapitalistische Weltwirtschaft bis dato erlebt hatte, die widersprüchlichen Tendenzen der Rationalisierung, Mechanisierung und Automation in der Nachkriegsperiode (vgl. Bauer [1931]/1976). Die Grenzen der kapitalistischen Rationalität, die immanente Irrationalität dieser Prozesse, von Bauer als „Fehlrationalisierung“ bezeichnet und als Verschwendung und Vergeudung von Ressourcen kritisiert, sprach für eine Perspektive jenseits des Kapitalismus – auch ohne Zusammenbruch. Gegen die Legende, im Institut für Sozialforschung sei unter Horkheimers Leitung jede ökonomische Forschung und Theoriebildung eingestellt worden, spricht die Tatsache, dass einige der Mitglieder des Instituts, allen voran Friedrich Pollock, sich sehr wohl und intensiv um das Verständnis der Transformationen des Kapitalismus bemühten, die durch die grosse Weltwirtschaftskrise und Depression der 1930er-Jahre angestoßen wurde. Natürlich waren die Philosophen des Instituts, Horkheimer, Adorno, Marcuse, nicht selbst in der Lage, derartige Untersuchungen durchzuführen oder zu leiten. Aber die enorme Wichtigkeit dieser Arbeit verstanden sie sofort. In den Forschungen zu den sozialen und politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise und zum Aufstieg des Faschismus in Europa, die unter Horkheimers Leitung am Institut für Sozialforschung bzw. indessen Umfeld begonnen und deren Ergebnisse in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht wurden, finden wir eine deutliche Parallele zur Arbeit von Otto Bauer und Rudolf Hilferding. Pollock formulierte 1933 als erster die Aufgabe, eine „soziologische Analyse der neuen Staatsform“ zu liefern, eine Arbeit, der er sich in den Jahren der Emigration

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Allein dieser Satz zeugt von einer weit aufgeweckteren Marx-Lektüre des jungen Horkheimer als sie bei den meisten der heutigen Anhänger der Kritischen Theorie zu finden ist.

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widmete. Schon früh, Anfang der 1930er-Jahre, als viele Marxisten von der Endund Systemkrise des Kapitalismus schwärmten, verstand Pollock, dass trotz der ungeahnten Wucht der Weltwirtschaftskrise, die alle kapitalistischen Länder erfasst hatte, mit einem schlichten Zusammenbruch des kapitalistischen Systems nicht zu rechnen sei. Denn der Kapitalismus habe „eine ungeahnte Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit bewiesen“ (Pollock [1933]/1980, S. 345). In seinen Bemerkungen zur Wirtschaftskrise spricht Pollock schon 1933 von einer „kapitalistischen Planwirtschaft“. Nicht der Kapitalismus gehe zu Ende, „sondern nur seine liberale Phase“ (Pollock [1933]/1980, S. 349, 350).46 Der Grund für die erstaunliche Widerstandskraft der kapitalistischen Ökonomie mitten in der bis dato größten und schwersten Weltwirtschaftskrise meinte Pollock unter anderem in der erheblich aktiveren Rolle des Staates zu finden, der in der Krisenzeit, entgegen der noch stets herrschenden Doktrin, immer stärker als „Interventionsstaat“ fungierte. Pollock ging so weit, den Übergang zu einem „Staatskapitalismus“ zu behaupten. Eine dauerhafte Modifikation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch ständige, erweiterte und systematische Staatsintervention sei auf dem Weg, das Ende des liberalen Staates, damit auch das Ende des Liberalismus als herrschender politisch-ökonomischer Doktrin der bürgerlichen Gesellschaft seien gekommen. Eine durchaus treffende Prognose, Ende der 1930er-Jahre, nach der Großen Depression, war der Liberalismus fürs erste erledigt. Der ultra-orthodoxe Henryk Grossmann, längst zum gläubigen Kommunisten konvertiert, verstand nichts; Pollock und die übrigen Ökonomen am Institut, die wie Gerhard Meyer und Kurt Mandelbaum vom Leninismus nichts und vom Austromarxismus viel hielten, waren sehr viel besser imstande, die Weltwirtschaftskrise und deren ökonomische, soziale und politische Folgen zu analysieren. Auch sie sahen eine Art von „Systemkrise“, einen Epochenbruch in der kapitalistischen Entwicklung. Sie schrieben der großen Krise, der zweiten in der Geschichte des Kapitalismus nach der Langen Depression der Jahre 1873–1875, eine besondere geschichtliche Bedeutung zu. Auch darin stimmten sie mit den Austromarxisten überein. Ganz wie Otto Bauer das zwischen 1933 und 1936 in verschiedenen Anläufen versuchte, bemühen sich die Ökonomen des Instituts darum, die besondere Schwere und Länge der Großen Krise zu erklären. Sie sahen und betonten die Strukturveränderungen, die raschen Verschiebungen im Verhältnis zwischen Staat und Markt, die wieder einmal zeigten, wie anpassungsfähig und wandelbar die

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Als Pollock dies schrieb, war in der radikalen Linken, nicht nur in Deutschland, das Gerede von der Todeskrise, vom nahen Ende des Kapitalismus beliebt und weit verbreitet. Der Kapitalismus sei am Ende, hieß es, er sei als sterbendes System zu betrachten, das all seine Möglichkeiten bereits erschöpft habe, selbst weiterer technischer Fortschritt sei ausgeschlossen. Das war die sovielte gedankenlose Wiederholung des Kardinalfehlers von Lenin und einer Reihe anderer Enthusiasten, die schon lange vor dem Ersten Weltkrieg zu sehen meinten, dass der Kapitalismus endgültig an seine Grenzen gestoßen sei, nicht mehr weiter und daher leicht umgestoßen werden könne, selbst mit einem Coup in einem Land wie Russland, das sich noch an der Peripherie der kapitalistischen Entwicklung befand. Der Urheber dieser Untergangsprophezeiungen war übrigens kein Marxist, sondern der britische Liberale John A. Hobson.

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ökonomische Struktur des Kapitalismus war, welche politischen Revolutionen eine kapitalistische Ökonomie aushalten könne. Pollocks Arbeiten zum neuen „Staatskapitalismus“ (Pollock 1932, 1933), die Studien zur Theorie und Praxis einer Planwirtschaft in der Sowjetunion und in den faschistischen Staaten (Meyer 1933; Meyer und Mandelbaum 1934; Mandelbaum 1935), die Arbeiten zu den Anfängen einer keynesianischen Krisenpolitik und deren theoretischer Begründung (z. B. Meyer 1935; Weil 1936) passten allesamt sehr gut zu Horkheimers Programm einer interdisziplinären Sozialforschung auf der Höhe der Probleme der Zeit. Vor allem der Aufsatz von Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer zur Theorie der Planwirtschaft ist wichtig, weil damit die lange geplanten, oft angekündigten und lautstark gewünschten Forschungen des Instituts zur Theorie des Sozialismus, zu den möglichen Formen einer nachkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wieder aufgenommen wurden. Seit Pollocks Pionierarbeit von 1929 war da nicht mehr viel geschehen, anders als bei den Austromarxisten, die unverdrossen an diesem Thema weiterarbeiteten und vor allem die Entwicklung in der Sowjetunion genau verfolgten. Mandelbaum und Meyer vertraten in ihrem Beitrag einen „modifizierten Marktsozialismus“, damals wie heute Anathema für vermeintlich orthodoxe Marxisten. Sie hielten eine reine Planwirtschaft für bloßes Modelldenken, ein hübsches Gedankenexperiment, mehr nicht. Anders als viele, die Planung damals wie heute als ein vornehmlich technisches Problem sahen bzw. sehen, das durch mehr und bessere Informationsverarbeitung, sprich Rechenkapazität zu lösen sei, betonten sie die immanenten politischen Probleme einer Planökonomie, die viele, vielleicht zu viele ökonomische Entscheidungen der Privatsphäre und der Alltagsroutine entzieht und sie auf paradoxe Weise politisiert. Und die daher auch fehlgehen und Krisen eigener Art hervorbringen kann. Max Horkheimer ist von diesen Arbeiten Pollocks und anderer Institutsmitarbeiter stark beeinflusst worden. Er wurde in der Überzeugung bestärkt, dass die Erkenntnis des Ganzen der gegenwärtigen Gesellschaft nicht rein sozialphilosophisch möglich sei, nicht ohne das Studium der Tendenzen, die in der kapitalistischen Realität zum Staatseingriff, zur Planung, zur Regulierung, zur institutionellen Reform trieben. Bereits 1934 sprach Horkheimer von einem neuen „kapitalistischen Etatismus“, der die direkte Konsequenz der Krise des liberalen Kapitalismus sei und eine „ungeheure Steigerung der Machtsphäre des Staates“ zur Folge habe (Horkheimer 1934, S. 229). Gerade in der frühen Ära Horkheimer, in den 1930er-Jahren, gibt es deutliche Übereinstimmungen zwischen den Arbeiten des Instituts und den Studien und Positionen der Austromarxisten, vor allem Otto Bauers und Rudolf Hilferdings. Beide bemühten sich, die Konsequenzen aus der unbestreitbaren Tatsache zu ziehen, dass ihr forschungsleitendes Konzept eines „organisierten Kapitalismus“ nicht mehr trug, beide bemühten sich intensiv darum, die neue Rolle eines autoritären, faschistischen Staats und die daraus folgenden Veränderungen des Kapitalismus auf den Begriff zu bringen. Ihre Emigrationsarbeiten, zum Teil posthum veröffentlicht, spielten in der Arbeit des Instituts für Sozialforschung keine nachweisbare Rolle mehr. Aber die Übereinstimmung zwischen den Auffassungen Pollocks und anderer am Institut zum neuen „Etatismus“ oder „Staatskapitalismus“ und den Studien von Bauer und Hilferding darüber bleibt. Otto Bauer versuchte in Zwischen zwei Welt-

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kriegen? die verschiedenen Krisen und Krisenphänomene, die Weltwirtschaftskrise des Kapitalismus, die Krisen des liberalen Staates bzw. der Demokratien und die Krisen der sozialistischen Arbeiterbewegung im Zusammenhang zu erfassen (Bauer [1936]/1976). Rudolf Hilferding hielt die jüngsten Strukturveränderungen, vor allem im Verhältnis von Staat und kapitalistischer Ökonomie, für so gravierend, dass er meinte, die Grundthesen der materialistischen Geschichtsauffassung gründlich überdenken zu müssen. Seine unvollendete Arbeit Das historische Problem wurde erst posthum veröffentlicht (vgl. Hilferding [1941]/1951). Horkheimer brachte neue Leute ans Institut, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, beide Philosophen, beide breit interessiert, beide von Haus aus keine Marxisten. Beide haben sich im Institut, dank ihrer Arbeit für das Institut gewandelt. Zu dogmatischen Marxisten wie Grossmann waren und blieben sie auf Distanz.47 Aber ihr Kommen bedeutete keine Wende der Ausrichtung des Instituts und war von Horkheimer auch nicht so gedacht. Es kann keine Rede davon sein, dass Horkheimer die Grünberg-Ära einfach ad acta legen wollte, im Gegenteil. Er setzt sie fort, mit anderen Akzenten. Das Institut wird durch die neuen Leute bereichert und verändert, es bleibt aber eine Heimstätte für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk von Marx und Engels und seine Mitarbeiter verfolgen ein Forschungsprogramm, das Grünberg und den Austromarxisten implizit, der Sache nach, verpflichtet bleibt.

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Fazit

Es war Max Horkheimer, der 1937 die Warnung ausgesprochen hat, die seine Schüler und Verehrer bis heute in den Wind zu schlagen pflegen: Kritik der ökonomischen Ideologie, Kritik des Ökonomismus sei notwendig, aber „die Kritik am Ökonomismus liegt nicht in der Abkehr von ökonomischer Analyse, sondern darin, auf ihre Vollständigkeit . . . zu dringen“ (Horkheimer 1937b, S. 630). Dazu hat Horkheimer als Herausgeber der Zeitschrift für Sozialforschung einiges getan, indem er sie öffnete und offen hielt für Beiträge zur aktuellen Kritik der (un)politischen Ökonomie: Die kamen auch, von Pollock, von Meyer und Mandelbaum, Felix Weil und vielen anderen. Richard Löwenthal hat in der Zeitschrift für Sozialforschung 1937 einen exzellenten Aufsatz über Alfred Marshalls neoklassische Ökonomie veröffentlicht, in dem einige der unvermeidlichen Aporien dieser Variante unpolitischer Ökonomie zum ersten Mal glasklar aufgezeigt wurden (vgl. Sering 1937). Erich Baumann lieferte schon eine erste Kritik der Keynesschen General Theory of Employment, Interest and Money als eines aller Ehren werten, aber zum Scheitern verdammten Versuchs, die liberale Ökonomie zu revidieren (vgl. Baumann 1936).

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Herbert Marcuse war einer der ersten, der die Bedeutung der 1932 zum ersten Mal veröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 aus dem Marxschen Nachlass erkannte. Er würdigte sie in einem langen Beitrag in der Gesellschaft, der Theoriezeitschrift der SPD, deren Chefredakteur kein anderer war als der alte Austromarxist Rudolf Hilferding (vgl. Marcuse 1932).

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Es kann keine Rede davon sein, dass sich das Institut für Sozialforschung unter Horkheimers Leitung von der Kritik der Politischen Ökonomie verabschiedet hätte. Allerdings fühlte sich Horkheimer von der nicht programmatischen aber faktischen Nähe der Austromarxisten zu den Positivisten des Wiener Kreises eher herausgefordert als angezogen. Otto Neurath, der schon die Brücken zwischen den Philosophen des Wiener Kreises und den Austromarxisten geschlagen hatte, versuchte das auch mit dem Frankfurter Institut – und scheiterte. Horkheimer reagierte höchst unwirsch auf die Anti-Metaphysik der Wiener (vgl. Horkheimer 1937a) und gestattete Neurath keine Entgegnung in der Zeitschrift (vgl. dazu insgesamt Dahms 1994). Auch Max Adlers Versuch, den philosophischen vom historischen Materialismus streng zu scheiden (dem Grünberg folgte) konnte Horkheimer nichts abgewinnen. Er hielt am Materialismus fest und wandte das, was er Materialismus nannte gegen alle positivistischen Strömungen. An dieser speziellen Lesart des Materialismus, für Horkheimer dem Inhalt nach gleichbedeutend mit der „ökonomischen Theorie der Gesellschaft“ (d. h. der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie) (Horkheimer 1933, S. 33), lag es, dass er für Max Adlers Sozialphilosophie nichts übrig hatte. Dazu kam, dass Max Adler mit Hegel nicht viel anfangen konnte und wollte, anders als Otto Bauer. Der aber galt nicht als Philosoph. In der Nachkriegsgeschichte des Instituts spielten die Austromarxisten und ihre zahlreichen Pionierarbeiten keine Rolle mehr. Sie waren gestorben – Max Adler 1937 in der inneren Emigration, Otto Bauer 1938 und Rudolf Hilferding 1941 im Exil. In Österreich selbst wurde der Austromarxismus aus der offiziellen Geschichte der sozialdemokratischen Partei und der ersten Republik zwar nicht verbannt, aber in die Ecke gestellt. In der neuen Theoriezeitschrift der SPÖ, der Zukunft (die die Tradition des Kampf fortsetzen sollte) wurde nach 1945 noch einige Jahre lang um das Erbe der Austromarxisten gestritten. Erst nach und nach wurden die längst vergriffenen Bücher von Otto Bauer und Max Adler neu veröffentlicht, erste Sammelbände mit Reden und Aufsätzen erschienen, einiges wurde aus ihren Nachlässen in den 1950er- und 1960er-Jahren zum ersten Mal veröffentlicht. Karl Renners nachgelassene soziologische Arbeiten machten in Deutschland, zumal bei den Frankfurter kritischen Theoretikern wenig Eindruck.48 Rudolf Hilferdings nachgelassene Arbeit aus dem Exil, Das historische Problem, wurde zwar 1954 zum ersten Mal publiziert, hatte aber auf die Marxismus-Diskussion in der Bundesrepublik keinen Einfluss. Dennoch ist die Erinnerung an diese einmalig produktive und innovative Schule in der Geschichte des Marxismus auch in Deutschland und selbst im Umfeld der Frankfurter Schule nie ganz verschwunden. Jürgen Habermas hat, seinem Habilitationsvater Wolfgang Abendroth folgend, die Austromarxisten des Öfteren angeführt als das herausragende historische Beispiel für einen offenen, sozialwissenschaftlich satisfaktionsfähigen Marxismus. Wann immer er auf das marxistische Erbe zu sprechen kam, nannte er die Austromarxisten, namentlich Otto Bauer und Karl Renner. Von ihnen habe der sozialdemokratische Reformismus

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Dazu gehörten Renners Versuch einer Reformulierung der Soziologie und, im Anschluss an Otto Bauer, einer erneuten Rekonstruktion des Weltbilds der Moderne (Renner 1952, 1954).

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„wichtige Anstöße“ erhalten, für sie gilt seine Kritik der Beschränktheiten des klassischen Marxismus ausdrücklich nicht (vgl. Habermas 1990, S. 228). In Wien hat er 2006 öffentlich den Austromarxisten, Max Adler, Otto Bauer, Karl Renner und Rudolf Hilferding seinen Dank abgestattet. Bei ihnen, so Habermas, fand er „drei Dinge, die ich als Adornos Assistent in Frankfurt vermisste: erstens die selbstverständliche Verbindung der Theorie mit der politischen Praxis, zweitens die uneingeschüchterte Öffnung der marxistischen Gesellschaftstheorie für Einsichten der akademischen Wissenschaft . . . und drittens – und vor allem – die vorbehaltlose Identifizierung mit den Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaates ohne Preisgabe von radikalreformistischen Zielsetzungen, die weit über den status quo hinauswiesen“ (Habermas 2008, S. 78).49 Einige mögliche Verbindungslinien und Anknüpfungspunkte zwischen der Tradition des Austromarxismus als der bis dato elaboriertesten Variante eines offenen Marxismus und der Kritischen Theorie lassen sich skizzieren: Auf das Scheitern der Revolutionsversuche im Westen reagieren die Austromarxisten erfinderisch und klug: Seit ihren Studien über die fragile Herrschaftsstruktur der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie wissen sie, dass es beim Kampf um die Macht zunächst um den Aufbau von Hegemonie, einer geistig-moralischen Führerschaft und Dominanz geht. Daher das starke Interesse der Austromarxisten an Kultur, Bildung, am öffentlichen Raum, an Symbolischer Macht. Die Begrifflichkeit, die heute Antonio Gramsci zugeschrieben wird, ist in der sozialistischen Bewegung Mitteleuropas, sicher bei den Austromarxisten stets präsent, lange vor Gramsci. Allerdings ist für die Austromarxisten ein erfolgreicher Kampf um die Hegemonie nur unter den Bedingungen einer entwickelten Demokratie, mit allen individuellen und kollektiven Freiheitsrechten, erfolgreich zu führen. In der Staatstheorie und insbesondere in der Analyse der Formen und Entwicklungstendenzen der politischen Demokratie sind die Austromarxisten allem voraus und überlegen, was im Marxismus gemeinhin als politische Theorie angeboten wird. Die staatstheoretischen Arbeiten von Max Adler, Otto Bauer, Karl Renner und anderen sind weit gehaltvoller als alles, was zeitgenössische oder spätere Marxisten dazu zu sagen hatten. Daher die Faszination Hermann Hellers, daher die Bewunderung der Staats- und Rechtstheoretiker im Institut für Sozialforschung. Für Franz Neumann etwa waren Otto Bauer und Karl Renner die marxistischen Autoren, die er am häufigsten zitierte und auf deren Thesen er sich fortdauernd bezog. Als politische Ökonomen, als innovative ökonomische Theoretiker und als empirische Wirtschaftsforscher sind die Austromarxisten den Ökonomen des Instituts mehr als ebenbürtig. Ihre Analysen der Transformationen des Kapitalismus seit dem Ende der ersten Langen Depression 1895, während des ersten Weltkriegs und in der 49

Ausführlicher hat sich Habermas vor allem mit Max Adlers Versuchen zur philosophischen Begründung der materialistischen Geschichtsauffassung befasst. Anders als Horkheimer konnte Habermas dem Adlerschen Sozialapriori durchaus etwas abgewinnen (vgl. Habermas 1983). Die kurzlebige Wiederentdeckung des Austromarxismus in Italien und in der Bundesrepublik (vgl. Abendroth 1982) hat allerdings kaum zu einer ernsthaften Beschäftigung mit dem theoretischen Erbe dieser „Reformisten“ und „Revisionisten“ geführt (vgl. Krätke 1997).

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Nachkriegszeit, ihre Analysen der Weltwirtschaftskrise, ihrer Ursachen, ihres Verlaufs und ihrer ökonomischen, sozialen und politischen Folgen sind bis heute unübertroffen in der marxistischen Tradition. Trotz ihrer Antiphilosophie bieten die Austromarxisten viel: Von Max Adlers integraler Sozialphilosophie, zu Bauers Ansatz zu einer historischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie bis zur interdisziplinären Sozialforschung, die sie programmatisch und forschungspraktisch betreiben. Wie Horkheimer folgten sie dem Konzept eines aufgeklärten, philosophisch und sozialwissenschaftlich auf der Höhe der Zeit argumentierenden Marxismus. Dessen zentrales Forschungsprogramm, die materialistische Geschichtsauffassung lässt sich in vielfacher Weise reformulieren, zuspitzen, erweitern. Nach dem Ende der kurzen Ära Grünberg, die alles in allem knapp fünf Jahre währte, war es mit dem zuvor regen Austausch zwischen den Austromarxisten und dem Frankfurter Institut bald vorbei. Eine formelle Kooperation hatte es nie gegeben und die wachsende Distanz ist aus den historischen Umständen leicht zu erklären: Die Austromarxisten hatten kein Institut, eins zu gründen, war ihnen nicht gelungen; ihre Stützpunkte in der akademischen Welt waren viel zu wenige, um dauerhaften Einfluss zu gewinnen. Sie waren Parteiintellektuelle, wenn auch ernsthafte Wissenschaftler. Aber das eben im Nebenberuf oder unter den Bedingungen der Emigration, und in der Regel auf sich allein gestellt, in einem losen Korrespondenzzusammenhang mit wenigen Gleichgesinnten. Das Institut für Sozialforschung war und blieb eine akademische Institution, die vorhandenen Geldmittel erlaubten es, auch in der Emigration wieder neue Heim- und Wirkungsstätten im Universitätssystem zu finden. Als Teil des akademischen Betriebs mussten die Mitarbeiter des Instituts zumindest den Schein politischer Neutralität wahren, auch wenn das nicht alle taten. Die Kooperation über die Zeitschrift für Sozialforschung wäre möglich gewesen. Otto Bauer wurde immerhin von den akademischen Philosophen des erlauchten Wiener Kreises ernst genug genommen, um ihn einzuladen, dort Vorträge zu halten und Beiträge für die Zeitschrift Erkenntnis zu schreiben.50 Aber sehr intensiv konnte ein solcher Austausch nicht werden, die Austromarxisten hatten mit dem Kampf und der Arbeiter-Zeitung ihre eigenen, wohl etablierten Publikationsorgane, die sich nicht an ein akademisches Publikum, sondern an das Massenpublikum der sozialistischen Arbeiterbewegung richteten.

Literatur Abendroth, W. (1976). Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Abendroth, W. (1982). Die Bedeutung von Otto Bauer und Antonio Gramsci für die Diskussion der Eurolinken. In D. Albers et al. (Hrsg.), Kapitalistische Krise und Strategie der Eurolinken. Berlin: Argument.

Vgl. zu den engen Kontakten zwischen den Austromarxisten und dem „Wiener Kreis“, die über Otto Neurath liefen: Sandner 2014.

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Adornos Utopik Das Verhältnis von Freud und Adorno, Psychoanalyse und Kritischer Theorie Gunzelin Schmid Noerr

Zusammenfassung

Adornos Rezeption der Freud‘schen Theorie diente in erster Linie der Konzeption seiner eigenen philosophischen Deutungskunst. In dieser Perspektive entschied er, was er von der Psychoanalyse aufnahm und was seiner Kritik verfiel. Sie fungierte für ihn vor allem als Instrumentarium der Entlarvung einer universellen Verblendungszusammenhangs. Deshalb favorisierte er Freuds sogenannte erste Topik mit der Unterscheidung der beiden psychischen Systeme „Unbewusst“ und „Vorbewusst-Bewusst“ und der als Repressionsverhältnis gedachten Dualität von Lust- und Realitätsprinzip. Und deshalb behielt für ihn auch das Modell der Katharsis, des Abreagierens eingeklemmter Affekte, seine Attraktion. Freuds Topik des Unbewussten verschmolz bei ihm mit der Utopie einer nicht reglementierten Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu einer „Utopik“. Schlüsselwörter

Adorno · Freud · Psychoanalyse · Utopie · Philosophie als Deutung

Adornos Stellung zu Freud ist zutiefst ambivalent. Immer wieder weist er in seinen Schriften auf die Psychoanalyse als unverzichtbares Instrumentarium zum Begreifen der Wirklichkeit hin, aber immer wieder finden sich in seinen Schriften auch Äußerungen, die man, wenn man sie isoliert läse, nur einem Verächter der Psychoanalyse zuschreiben könnte. Der diesbezüglich vielleicht bekannteste Satz stammt aus den Minima Moralia und lautet: „An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen.“ (Adorno 1980, S. 54) Das ist maßlos übertrieben oder auch untertrieben. Karl Kraus könnte hier Pate gestanden haben mit der nicht weniger bissigen G. Schmid Noerr (*) Fachbereich Sozialwesen, ehem. Hochschule Niederrhein Mönchengladbach, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_3

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Sentenz „Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.“ (Kraus 1913, S. 21) Die Psychoanalyse ist, so behauptet Adorno in paradoxer Verschachtelung, nirgendwo wahr, ausgenommen dort, wo sie nicht wahr, weil übertrieben ist. Was ist damit gemeint? Sie übertreibt zum Beispiel, wenn sie menschliche Aggression aus einem ahistorischen, biologisch verankerten Todestrieb ableitet. Aber genau in der Übertreibung wäre ihr Wahrheitsgehalt zu suchen. Weniger paradox verdichtet, könnte man mit Horkheimer von einer richtigen „objektiven Zielsetzung“ (Horkheimer 1996, S. 373) der empirisch fragwürdigen metapsychologischen Begriffe sprechen, die darin bestand, Tiefenstrukturen der gesellschaftlichen Formation und Deformation innerer Natur zu erfassen. Dies ist eine der Grundfiguren der Freud-Kritik in der Kritischen Theorie. Um das Verhältnis von Freud und Adorno, Psychoanalyse und Kritischer Theorie der Gesellschaft genauer in den Blick zu bekommen, empfiehlt es sich, mindestens drei Ebenen zu unterscheiden, nämlich die Ebene (1) der Theorie, (2) der Praxis, und (3) der Anwendung in der empirischen Sozialforschung: (1) Auf der Ebene der Theorie wären weitere Unterscheidungen zu treffen z. B. zwischen Neurosenlehre und Kulturtheorie, zwischen früherer und späterer Triebtheorie bei Freud, zwischen den Ansätzen Freuds und denen seiner Nachfolger, insbesondere der sogenannten psychoanalytischen Revisionisten und der Ich-Psychologie. Schematisch lässt sich hier festhalten, dass die Psychoanalyse für Adorno einem der wichtigsten Bündnispartner der kritischen Aufklärung, aber auch selbst, und schon bei Freud, einer Dialektik der Aufklärung unterliegt. Adornos Sympathien galten vor allem dem frühen Freud und seiner Theorie der Sexual- und Selbsterhaltungstriebe, die gesellschaftlich gehemmt werden, und dadurch zu psychopathologischen Reaktionen führen. Problematisch erschien ihm demgegenüber die Instanzenlehre. Im Diktum, dass, wo Es war, Ich werden solle, sah er zumindest die Tendenz der Anpassung an das schlechte Bestehende und einen Verrat an der radikal kritischen Intention der frühen Sexualtheorie. Fromm oder Horney, die diesen Weg weiter beschritten hatten, wurden deshalb scharf angegriffen. (2) Auf der Ebene der Praxis finden sich Adornos am stärksten polemische Einwände. Kaum übertrieben ist es, mit Richard Klein zu resümieren: „Was immer den Repräsentanten der kritischen Theorie erster Generation zur Psychoanalyse eingefallen ist und welche Verdienste sie sich um deren kulturelle Anerkennung erworben haben, in ihrem Denken hat psychoanalytische Praxis keinen Ort, er wird ihr nicht zugestanden, er ist dort nicht vorgesehen.“ (Klein 2007, S. 75). Allerdings hielt Adorno an der ursprünglichen Intention der Psychoanalyse fest, „die Menschen, indem sie ihre verdrängten Triebe ihnen bewusst macht, zu befreien, jedenfalls inwendig zu befreien und den Druck von ihnen zu nehmen, der in ihnen selber die Fortsetzung des äußeren, gesellschaftlichen Drucks bedeutet.“ (Adorno in: Adorno et al. 1989, S. 131 f.) Aber Adorno meinte, dieser Impuls sei in der psychoanalytischen Praxis als Heilbehandlung inzwischen weitgehend erloschen. Dafür machte er schon bei Freud selbst die Lehre von der Übertragung verantwortlich, in der, so Adorno,

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„das Subjekt willentlich unheilvoll [eine] Durchstreichung seiner selbst vollzieht“ (Adorno 1980, S. 68). (3) Auf der Ebene der Anwendung in der empirischen Sozialforschung, insbesondere bei seinen Studien zum Autoritären Charakter und beim Gruppenexperiment, wies die Psychoanalyse den Weg zur Formulierung von Untersuchungskategorien und Typologien. So diente die F-Skala zur Erfassung und Messung einer Persönlichkeitsschicht unterhalb bewusster Meinungen und Überzeugungen. Diese bildeten zusammen mit der jeweiligen bewussten Weltanschauung ganzheitliche Persönlichkeitsstrukturen und -typen. Adorno und seine jeweiligen Mitarbeiter verwendeten hier allerdings Kategorien, die dem geschichtsphilosophischen Konzept des Antisemitismus aus der Dialektik der Aufklärung nur wenig entsprach. „Prinzipiell war der Ansatz zwar freudianisch“, urteilt Martin Jay, „doch war dem analytischen Rahmen ein gewisses Maß an Ich-Psychologie hinzugefügt [. . .]. Ähnlich schien auch die Verwendung der Charaktertypologie [. . .] auf den ersten Blick Adornos Kritik an Fromms Typologie zu widersprechen. Durch die Beschreibung integrierter Charaktertypen schienen er und seine Kollegen von jenem Beharren auf Nichtidentität abzulassen, das ein zentraler Grundsatz der kritischen Theorie war.“ (Jay 1976, S. 270) Auf allen drei Ebenen kann man bei Adorno überzeugende Urteile über die Psychoanalyse finden, scharfsinnige dialektische Einsichten von bleibendem Wert, aber auch erstaunliche blinde Flecken und Fehlurteile. Am Ende ist auch festzustellen, dass über manches die historische Entwicklung hinweggegangen ist, weil die theoretische Diskussion seither ein viel differenzierteres Bild ergeben hat. Ein Beispiel für dieses Veralten einer Polemik ist der Grundvorwurf gegenüber der therapeutischen Praxis, diese betreibe mit dem Ziel der Wiederherstellung von Arbeits- und Genussfähigkeit nur eine Art von Entmündigung, eine bequeme Anpassung an gesellschaftliche Unrechtsverhältnisse. Eine solche scheinradikale Kritik bleibt steril, wenn sie sich nicht auf eine konkrete Untersuchung von Therapieverläufen einlässt, also empirisch schlicht unbewiesen bleibt. Sie hält die unüberbrückbare Spannung zwischen gesellschaftlichen Zwängen und individuellen Freiheitsspielräumen theoretisch nicht aus. Auch berücksichtigt sie nicht, dass ein produktiver, nicht paranoischer gesellschaftlicher Protest oder Widerstand ohne jene „Ich-Stärken“ der allzu misstrauisch beargwöhnten Arbeits- und vor allem Genussfähigkeit kaum denkbar wäre. Ähnlich veraltet ist auch der sich an Fromm entzündende Streit um das Problem der „Strenge“ oder „Güte“ des Analytikers bzw. der klassischen oder nicht klassischen Behandlungsmethode (vgl. Schmid Noerr 2007, S. 22 ff.). „In der Analyse weiß man aber heute“, so beurteilt Jochen Schade die Diskussionslage, „dass die Patienten mehr bekommen müssen als Deutungen, die [ihnen ihr] Unglück bewusst machen, sondern [. . .] eine korrektive emotionale [. . .] Beziehungserfahrung, die Erfahrung des holding und des containing, zentrale Ansätze der Bionschen Theorie, die nicht leicht als unehrliche Betrugsmanöver der Analytiker zu denunzieren sind. Im Gegensatz zu dem von Adorno pejorativ benutzten Begriff der „Güte“ sind die oben stehenden Haltungen theoretisch gut begründet und mit einer präzisen Darstel-

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lung ihrer Ausübung und Nützlichkeit versehen. Der Analytiker ist von einer abständigen Beobachterposition in die Rolle eines [. . .] aktiven und engagierten Teilnehmers einer menschlichen Begegnung gerückt, eine Bewegungsrichtung, die Adorno wohl auf Grund eines tiefen Misstrauens in das produktive Potenzial menschlicher Beziehungen nicht gefallen hätte.“ (Schade 2007, S. 137 f.) Tatsächlich wandte sich Adorno nicht gegen eine psychoanalytische Therapie überhaupt, sondern gegen eine, die vor allem auf soziale Anpassung abzielte. Im Kontrast dazu skizzierte er eine eigene, das Freudsche Vorbild verschärfendes Modell einer reinen Einsichtstherapie: „[. . .] so müßte eine kathartische Methode, die nicht an der gelungenen Anpassung und dem ökonomischen Erfolg ihr Maß findet, darauf ausgehen, die Menschen zum Bewußtsein des Unglücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen, zu bringen, und ihnen die Scheinbefriedigungen zu nehmen, kraft derer in ihnen die abscheuliche Ordnung nochmals am Leben sich erhält, wie wenn sie sie nicht von außen bereits fest genug in der Gewalt hätte. Erst in dem Überdruß am falschen Genuß, dem Widerwillen gegens Angebot, der Ahnung von der Unzulänglichkeit des Glücks, selbst wo es noch eines ist, geschweige denn dort, wo man es durch die Aufgabe des vermeintlich krankhaften Widerstands gegen sein positives Surrogat erkauft, würde der Gedanke von dem aufgehen, was man erfahren könnte.“ (Adorno 1980, S. 38) Wie jedoch – so wäre hier einzuwenden – hätte in einer solchen Psychoanalyse der Gedanke an eine mögliche Erfahrung ungeschmälerten Glücks aufkommen können, wenn nichts in der therapeutischen Beziehung ihr entgegenkommen sollte? Die Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem auszuhalten, hätte statt dessen bedeutet, die Aufgabe, individuelles Glück zu ermöglichen beziehungsweise Unglück zu reduzieren, der Therapie zu belassen, dagegen aber die Einsicht in die Unzulänglichkeit und Begrenztheit des Glücks dem philosophischen Nachdenken zuzumuten. Bei aller Fragwürdigkeit von Adornos Entwurf einer alternativen Psychoanalyse stellt dieser doch den entscheidenden Schlüssel für die Verteilung von Zustimmung und Ablehnung Adornos hinsichtlich der Psychoanalyse dar. Denn es fällt ja unmittelbar auf, dass das, was Adorno hier der analytischen Therapie aufbürden wollte, mit seiner eigenen Auffassung von Philosophie verschmolz. „Verständlich“ – so formuliert Klein die entscheidende Prämisse von Adornos kritischer PsychoanalyseRezeption – „wird die Ausblendung von bzw. der reduktionistische Umgang mit psychoanalytischer Praxis bei Adorno erst im Kontext seiner Nähe zur Psychoanalyse. Das klingt paradox: Wie kann man der Psychoanalyse nahe stehen, wenn man den Kern der psychoanalytischen Erfahrung, den Prozess der Therapie von sich fernhält wie der Teufel das Weihwasser? Aber man kann, und durch just diesen Widersinn ist die Position der kritischen Theorie erster Generation gegenüber der Psychoanalyse definiert: Annähern und Ausweichen, Seelenverwandtschaft und Beziehungslosigkeit, Intimität und Ignoranz verrichten insbesondere bei Adorno ihr Werk.“ (Klein 2007, S. 76 f.) Es gibt eine grundlegende Analogie zwischen Psychoanalyse und Adornoscher Philosophie, die Klein an den Kategorien der Erinnerung und des Negativismus erläutert. Erinnerung hat als Eingedenken die Funktion der Vergegenwärtigung des Misslingens der gesellschaftlichen Rationalisierung und derer, die ihre Opfer

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wurden. In den Minima Moralia unternahm Adorno einen solchen Versuch einer Selbst- und Sozioanalyse, um aus Erinnerungsfragmenten eines „beschädigten Lebens“ die Möglichkeiten eines „richtigen Lebens“ zusammenzusetzen. „Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen.“ (Adorno 1980, S. 13) Damit ist zugleich das Motiv des Negativismus ausgedrückt, dem zufolge das Gute nicht im direkten Zugriff, sondern nur durch die Abarbeitung des Schlechten umkreisend zu erfahren ist. So sind auch Gesundheit und Krankheit für Freud keine positiv identifizierbaren Gegensätze, vielmehr ist das Normale erst vom Abweichenden her zu verstehen. Erinnerung und methodischer Negativismus sind nicht Theoriestücke, die Adorno als solche von Freud übernahm, sondern bezeichnen das Verfahren der Erkenntnisbildung. Damit kommt neben den drei anfangs genannten Ebenen der Beziehung Adorno-Freud (der theoretischen, der praktischen und der empirischforschungsbezogenen) eine vierte Ebene in den Blick, nämlich (4) die Ebene der kritischen Identifikation mit Freud oder (weniger psychologisch ausgedrückt) der Inkorporation seines Denkens in die Philosophie. Und dies scheint mir die eigentlich tragende Ebene zu sein, von der aus die Rezeption der Psychoanalyse auf den drei anderen letztlich erst nachvollziehbar wird. Um dies zu erläutern, ist allerdings ein Blick auf Adornos Frühschriften erforderlich, von denen aus die ursprüngliche Funktion der Psychoanalyse für seine philosophische Methodologie deutlich wird. Das früheste ausführliche Zeugnis von Adornos Rezeption der Psychoanalyse ist seine Abhandlung Der Begriff des Unbewussten in der transzendentalen Seelenlehre. Adorno verfasste sie 1926–27, geplant war sie als Habilitationsschrift, wurde dann aber von seinem Lehrer Hans Cornelius nicht gutgeheißen, von Adorno zurückgezogen und blieb zu Lebzeiten unveröffentlicht. In den ersten zwei (von drei) Kapiteln untersucht Adorno hier aus der Sicht des transzendentalen Idealismus erkenntniskritisch-allgemein den Begriff des Unbewussten, um dann erst im dritten Kapitel auf die Psychoanalyse einzugehen. Es geht ihm dabei, unter ausdrücklicher Absehung therapeutischer und biologischer Dimensionen, um den Nachweis, dass die psychoanalytische Erkenntnis des Unbewussten mit den Prämissen des transzendentalen Idealismus vereinbar sei. „Die Grundthese aller psychoanalytischen Praxis ist: dass die Heilung aller Neurosen gleichbedeutend ist mit der vollständigen Erkenntnis des Sinns ihrer Symptome durch den Kranken.“ Ihr ist wesentlich, „dass sie [. . .] niemals bei affektiven Tatbeständen stehen bleibt, sondern unerbittlich auf die Erkenntnis von deren Sinn [. . .] dringt.“ (Adorno 1973a, S. 236) Die Abhandlung über den Begriff des Unbewußten ist zwar noch ein Stück Schulphilosophie, das insgesamt mit Adornos späteren Denken unvereinbar ist, aber dies betrifft eher den idealistischen „Standpunkt“, während die Sichtweise auf die Psychoanalyse im wesentlichen dieselbe blieb. Adorno betonte hier wie später nachdrücklich die kognitive Seite des psychoanalytischen Prozesses, blendete aber die interaktive und emotionale Seite, also die Übertragung, aus. Auch ging er schon

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in den ‚Schlussbetrachtungen‘ seiner Arbeit zur Ideologiekritik über, indem er den psychoanalytischen Begriff des Unbewussten mit dem anderer damaliger psychologischer und philosophischer Strömungen kontrastierte. Freuds großes Verdienst war für ihn die „Entzauberung des Unbewußten“: „Darum schlagen wir die Bedeutung der Psychoanalyse so hoch an, [. . .] weil ihre Erkenntnis auf die Auflösung der unbewussten Tatbestände selbst gerichtet ist und damit eine scharfe Waffe darstellt gegen jegliche Triebmetaphysik und Vergottung bloßen dumpfen, organischen Lebens.“ (Adorno 1973a, S. 320) Adornos Ablösung von Cornelius ging einher mit seiner Neuorientierung an Walter Benjamin, mit dem er seit 1923 befreundet war. Nachdem er 1931 bei Paul Tillich mit seiner Schrift über Kiekegaard habilitiert wurde, hielt er 1931 seine Antrittsvorlesung als Privatdozent über Die Aktualität der Philosophie. Im Rückblick liest sich dieser Vortrag wie der programmatische Entwurf einer Methodologie der dann später folgenden materialen Arbeiten Adornos. Stillschweigend übernahm er grundlegende Kategorien aus der ‚Erkenntniskritischen Vorrede‘ von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels (1980), vor allem die Idee einer konfigurativen Sprache. Ein zentraler Gedanke Benjamins war die schroffe Entgegensetzung von einerseits wissenschaftlicher, induktiv oder deduktiv erworbener „Erkenntnis“ und andererseits philosophischer „Wahrheit“. Bei der Erläuterung dessen, was Benjamin unter Wahrheit verstand, bezog er sich affirmativ auf die Platonische Ideenlehre und verwendete zu ihrer Plausibilisierung eine astrologische Metapher: „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt [. . .]: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. [. . .] Die Ideen sind ewige Konstellationen, und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfasst werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich.“ „Die Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein.“ (Benjamin 1980, S. 214–16) Mit dem Begriff der „Intentionslosigkeit“ – der Gegenbegriff der „Intentionalität“ des Bewusstseins bezeichnete das grundlegende erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Konzept der Husserlschen Phänomenologie – sollte die Wahrheit der Ideen der Verfügungsmacht des erkennenden Subjekts entzogen werden. Zugleich offenbarte sie sich aber mittels Konfigurationen, in denen die dinglichen Elemente aufeinander bezogen sein sollten. Die Herkunft dieser Konzeption von Wahrheit ist nicht nur idealistischer, sondern auch theologischer Art, insofern Benjamin hier vom jüdischen Messianismus beeinflusst war. Dieser war der Ausdruck einer allgegenwärtigen Erfahrung des Bedrohtseins und der gesellschaftlichen Zerrissenheit, wobei diese auf ihrem eigenen geschichtlichen Schauplatz überwunden werden konnte und musste. Im Rekurs auf Gershom Scholem charakterisiert Rolf Wiggershaus dieses Denken durch „eine dialektisch verschlungene Spannung zwischen restaurativen und utopischen Momenten. Das ganz Neue ist das Uralte, aber das noch nie so dagewesene Uralte, auf das der Strahl der Utopie gefallen ist. In spannungsvoller Kombination traten außerdem die beiden Momente der Apokalyptik und der Utopie auf. Die Übergangslosigkeit zwischen Geschichte und Erlösung wurde unterstrichen und der Vorstellungskraft entzogen durch die Annahme, im katastrophischen Untergang der Geschichte werde die Wiederherstellung aller Dinge an ihren rechten Ort erfolgen.“

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(Wiggershaus 1987, S. 29) Zerrissenheit und Versöhnung werden hier durch eine „Topik“ erklärt. Die Topik, die Lehre von der Verortung, gehörte seit Aristoteles zur philosophischen Terminologie. Begriffe und Argumentationen haben demnach bestimmte „Orte“ im Gefüge des Wissens, auf die wir uns beziehen, wenn wir sie sinnvoll anwenden. Eine messianische Topik der Vernunft verortete nun aber nicht nur den kommunikativ oder praktisch geteilten Sinn, sondern den durch die Zerrissenheit der Welt entstellten, seines wahren Ortes beraubten Sinn. Adorno orientierte sich in seiner Antrittsvorlesung an dieser Wahrheitstheorie, wobei er Benjamin namentlich nur eher beiläufig erwähnte, was diesen, als er das Typoskript zu Gesicht bekam, durchaus verstimmte (vgl. Müller-Doohm 2003, S. 224). Dass er seinen Mentor kaum erwähnte, mochte damit zu tun haben, dass ihm der Benjaminsche Idealismus, bei allen Anleihen daran, doch nicht geheuer war. Zwar übernahm er den astrologischen Begriff der „Konstellation“, aber verwendete ihn deutlich diesseitiger als Benjamin. So wurde aus der Sternbild-Metapher mit der Formulierung „wechselnde Versuchsanordnungen“ (GS 1, S. 335) eine LaborMetapher, und damit wurde auch der Graben zwischen Wissenschaft und Philosophie überbrückt, wenn auch eine entscheidende Differenz blieb: „Philosophie unterscheidet sich von Wissenschaft nicht, wie die banale Meinung heute noch annimmt, durch einen höheren Grad von Allgemeinheit. Weder durch Abstraktheit der Kategorien noch durch die Beschaffenheit des Materials sondert sie sich von Wissenschaften. Die Differenz liegt vielmehr zentral darin, dass die Einzelwissenschaft ihre Befunde, jedenfalls ihre letzten und tiefsten Befunde als unauflöslich und in sich ruhend hinnimmt, während Philosophie den ersten Befund bereits, der ihr begegnet, als Zeichen auffasst, das zu enträtseln ihr obliegt. Schlicht gesagt: die Idee der Wissenschaft ist Forschung, die der Philosophie Deutung. Dabei bleibt das große, vielleicht das immerwährende Paradoxon: daß Philosophie stets und stets und mit dem Anspruch auf Wahrheit deutend verfahren muß, ohne jemals einen gewissen Schlüssel der Deutung zu besitzen; daß ihr mehr nicht gegeben sind als flüchtige, verschwindende Hinweise in den Rätselfiguren des Seienden und ihren wunderlichen Verschlingungen.“ (Adorno 1973b, S. 334) Adorno brachte das „aus Ideen gebildete intentionslose Sein“ (Benjamin 1980, S. 216), das die Philosophie zu „deuten“ hatte, ausdrücklich in Zusammenhang mit „jener Art von Denken, die die Vorstellung des Intentionalen, des Bedeutenden von der Wirklichkeit am strengsten abwehrt: dem Materialismus. Deutung des Intentionslosen durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung des Wirklichen kraft solcher Deutung: das ist das Programm jeder echten materialistischen Erkenntnis.“ (Adorno 1973b, S. 336). Adorno greift hier auf den bei Benjamin aus der Philosophie verbannten, der wissenschaftlichen Empirie zugeordneten Begriff „Erkenntnis“ zurück und erläutert in diesem Zusammenhang ihr Vorgehen zum einen mit Freuds Hinwendung zum scheinbar intentionslosen „Abhub der Erscheinungswelt“ (Freud 1982, S. 51; bei Adorno zit. 1973b, S. 336), zum anderen mit Marx’ Begriff der Warenform, der kein ökonomischer im engeren Sinn war, sondern der „gleich einer Lichtquelle die Gestalt einer Wirklichkeit freilegte“ (Adorno 1973b, S. 337), nämlich (im Anschluss an den frühen Lukács) das verdinglichte Bewusstsein im Kapitalismus auf den Begriff brachte.

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Freud und Marx also waren es, die Adorno ermöglichten, Benjamins Erkenntnistheorie ins Materialistische zu wenden – Wiggershaus (1987, S. 28) verwendet dafür den treffenden Begriff eines „messianischen Materialismus“ –, wobei Marx für das Anwendungsfeld und Ziel der gesellschaftlichen Diagnose und Freud für den Weg der Erfahrung und dialektischen Erkenntnis stand. Der zentrale Begriff der „Deutung“ in Adornos Antrittsvorlesung, der so bei Benjamin nicht vorkommt, verweist darauf – und das wurde bisher zu wenig beachtet –, dass sein Modell der Erkenntnis, über den jüdischen Messianismus hinaus, wesentlich der Freudschen Psychoanalyse verpflichtet ist. Laplanche und Pontalis bezeichnen die „Deutung“ latenter Inhalte als „das Charakteristikum der Psychoanalyse“, als „die Handlungsweise par excellence des Analytikers“ (Laplanche und Pontalis 1973, S. 118). Dass Adorno sich in seiner Antrittsvorlesung tatsächlich auf das psychoanalytische Modell der Deutung bezog und nicht auf eines aus der Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, lässt sich an den wesentlichen Merkmalen seines in der Antrittsvorlesung explizierten Philosophieverständnisses zeigen: (a) Adorno hob als Paradoxie hervor, dass die Philosophie deutet, ohne über einen Deutungsschlüssel zu verfügen. In der Traumdeutung wies Freud die wissenschaftlichen Theorien ab, die den Traum nur als physisches Phänomen behandeln, und knüpfte an die antiken „Chiffriermethoden“ an, die die Inhaltsdimension der Träume berücksichtigt hatten. Aber im Unterschied zu diesen griff Freud bei der Dechiffrierung nicht auf einen feststehenden „Traumschlüssel“ zurück. An dessen Stelle trat die freie Assoziation und damit die subjektive Struktur in ihrer lebensgeschichtlichen Ganzheit. Freud wie Adorno verfuhren nach der paradoxen Methode einer Entschlüsselung ohne Schlüssel. (b) Adorno betonte, dass „die Idee der Deutung keineswegs mit dem Problem eines ‚Sinnes‘ zusammen[fällt], mit dem sie meist verwirrt wird.“ (Adorno 1973b, S. 334). Das heißt, die Deutung offenbart keinen höheren, rechtfertigenden, etwa religiösen Sinn der zerrissenen Welt, keine ideale Geisteswelt, sondern jene „dämonischen Gewalten“, die sinnhaftes Handeln gefährden, und die durch Erkenntnis gebannt werden. In diesem Sinn war auch bei Freud vom „Sinn“ der Symptome die Rede. Die durch Deutung erschlossenen unbewussten Wünsche erklären den Sinn scheinbar sinnloser Symptome oder Träume, aber dies ist der immanente Sinn eines Leidenszusammenhangs, der durch die Psychoanalyse aufzulösen ist. (c) Die Kategorie der „Intentionslosigkeit“ im Erkenntnisprozess bezog sich bei Adorno sowohl auf die Seite des Objekts als auch auf die des Subjekts. Das Objekt der Erkenntnis, die Wirklichkeit, sollte nicht mit subjektivem Sinn überformt werden, sondern gerade in ihrer Rationalitätsferne in den Blick kommen. Dafür bedurfte es aber einer kontrollierten Einstellung des deutenden Subjekts. Freuds Begriff des Unbewussten war für Adorno paradigmatisch für eine solche intentionslose Wirklichkeit, insofern es zur Intentionalität des Bewusstseins in ein dialektisches Verhältnis zu bringen war. „Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie

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zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte.“ (Adorno 1980, S. 66) Die intentionslose, unrationalisierte Lust war für Adorno weit mehr als rohe Natur, vielmehr geradezu Legitimation aller zivilisatorischen Bändigung von Natur. (d) Wie in der Psychoanalyse der Traum nicht von vorn herein als bedeutungsvolle Ganzheit analysiert wird, sondern seine einzelnen Segmente getrennt von einander auf den Lebenszusammenhang zu beziehen sind – und dasselbe gilt entsprechend für unterschiedliche Träume oder Symptome –, konzipierte Adorno die philosophische Deutung als eine Reihe „wechselnder Versuchsanordnungen“, die so lange durchzuführen sind, „bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet“ (Adorno 1973b, S. 335). Die einzelnen Schritte einer Deutung müssen sich gleichsam aneinander abarbeiten, bis sich daraus eine übergreifende Konstruktion ergibt. (e) Deren Wahrheitsgehalt ließ sich nicht in Form einer empirischen Überprüfung einer theoretischen Hypothese ermitteln, sondern sollte sich als plötzlich aufblitzende Evidenz zeigen, die das bisher Gedachte in ein neues Licht rückt. Dass dabei die anfänglich motivierende Frage verschwindet, verweist auf einen lebenspraktischen Anteil der philosophischen Erkenntnis. „Die Deutung der vorgefundenen Wirklichkeit und ihre Aufhebung sind auf einander bezogen. Nicht zwar wird im Begriff die Wirklichkeit aufgehoben; aber aus der Konstruktion der Figur des Wirklichen folgt allemal prompt die Forderung nach ihrer realen Veränderung.“ (Adorno 1973b, S. 338) Auch im psychoanalytischen Kontext erweist sich die Wahrheit der Konstruktion, kurzfristig nicht durch die Zustimmung oder Zurückweisung seitens des Analysanden, sondern durch ihre Fruchtbarkeit bei der Erzeugung neuen Erinnerungsmaterials, und langfristig, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, an der Auflösung der Leidens. Adornos Psychoanalyse-Rezeption, so lässt sich zusammenfassen, diente der Formulierung und Schärfung seiner eigenen unerbittlichen philosophischen Deutungskunst. Die Psychoanalyse war für Adorno in erster Linie als Instrumentarium der Entlarvung eines universellen Verblendungszusammenhangs von Wert. Deshalb favorisierte er Freuds sogenannte erste Topik mit der Unterscheidung der beiden Systeme „Unbewusst“ und „Vorbewusst-Bewusst“ und der als Repressionsverhältnis gedachten Dualität von Lust- und Realitätsprinzip. Und deshalb behielt für Adorno auch das frühe Breuer-Freudsche Modell der Katharsis, des Abreagierens eingeklemmter Affekte mittels Erinnerung und Versprachlichung des traumatischen Vorgangs, zeitlebens seine Attraktion. Dieses Bild des heilenden Namen-Gebens musste aber durch Freuds zweite Topik der Instanzen von Es, Ich und Über-Ich und noch mehr durch das Konzept der Übertragung gestört werden, durch das die Patienten in der Sicht Adornos aufs Bestehende vereidigt werden, und durch das ihnen „Lust und Himmel gleichermaßen verekelt wird“ (Adorno 1980, S. 67), das heißt körperlich Intentionsloses und geistig-intentional Überschießendes gleichermaßen verkümmern. Freuds frühe Topik des Unbewussten verschmolz bei Adorno mit der Utopie einer nicht reglementierten und deformierten Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu

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einer Utopik. Deren Bedeutung war bilderlos, indem Adorno darauf beharrte, dass jedes mögliche konkrete Bild der befreiten Menschheit noch allzu viel an Verstümmelung enthalten musste, die mit ihm doch überwinden werden sollten. Diese Utopik war vor allem der virtuelle Ort einer Erkenntnis, nach der „alle Dinge so zu betrachten [wären], wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“, und durch die „die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird“ (Adorno 1980, S. 281). Dabei hatte der hedonistische Anspruch vor allem die Funktion eines Regulativs, um die Idee der Freiheit nicht idealistisch-abstrakt zu verdünnen. Auf die Glückmöglichkeiten hier und jetzt brauchte und durfte Adornos Utopik der Erkenntnis keine Rücksicht nehmen. Das unterschied sie von ihrem Inspirationsquell, dem Freudschen Bemühen um die Minderung des neurotischen zum alltäglichen Unglück.

Literatur Adorno, T. W. (Hrsg.). (1973a). Der Begriff des Unbewussten in der transzendentalen Seelenlehre. In Gesammelte Schriften [GS] Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (Hrsg.). (1973b). Die Aktualität der Philosophie. In GS Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1980). Minima Moralia. GS Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W., Horkheimer, M., & Kogon, E. (1989). Die verwaltete Welt oder: Die Krisis des Individuums. In M. Horkheimer (Hrsg.), Gesammelte Schriften Bd. 13. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Benjamin, W. (Hrsg.). (1980). Ursprung des deutschen Trauerspiels. In Gesammelte Schriften Bd. I,1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (Hrsg.). (1982). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In Studienausgabe Bd. I. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Horkheimer, M. (Hrsg.). (1996). Brief an Löwenthal vom 30.10.42. In Gesammelte Schriften Bd. 17. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Jay, M. (1976). Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Klein, R. (2007). Gemischte Gefühle. Adorno, die kritische Theorie und die psychoanalytische Praxis. In O. von Decker & C. Türcke (Hrsg.), Kritische Theorie – psychoanalytische Praxis. Gießen: Psychosozial 2007. Kraus, K. (1913). Die Fackel, 15. Jg., Nr. 376–377 vom 30.05.1913. Nachdruck: München: Kösel 1995. Laplanche, J., & Pontalis, J.-B. (1973). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Müller-Doohm, S. (2003). Adorno. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schade, J. (2007). Adornos Analysekritik im Lichte moderner psychoanalytischer Problemstellungen. In Kritische Theorie – psychoanalytische Praxis [siehe Klein]. Schmid Noerr, G. (2007). Zwischen Sozialpsychologie und Ethik – Erich Fromm und die „Frankfurter Schule“. In Kritische Theorie – psychoanalytische Praxis [siehe Klein]. Wiggershaus, R. (1987). Theodor W. Adorno. München: Beck.

Kritische Psychologie und ihr Verhältnis zur kritischen Theorie Morus Markard

Zusammenfassung

Kritische Psychologie wird als Prozess der Aufhebung ihrer anfänglichen Kritik bürgerlicher Psychologie in einer marxistischen Subjektwissenschaft dargestellt. Mit der Konzeption und einigen Resultaten der historisch-empirischen Rekonstruktion des Verhältnisses von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte werden auch Bezüge zur kritischen Theorie bzw. zur Psychoanalyse diskutiert. Die zentrale kritisch-psychologische Kategorie „restriktiver“ bzw. „verallgemeinerter Handlungsfähigkeit“ soll die Widersprüchlichkeit individueller Existenz in der kapitalistischen Gesellschaft zwischen Anpassung und Widerstand analysierbar machen. „Begründungsdiskurs“ bedeutet dabei, die subjektiven Funktionalitäten der Lebensbewältigung so aufzuschlüsseln, dass gesellschaftliche Irrationalitäten nicht den Einzelnen in die Schuhe geschoben und emanzipatorische Möglichkeiten sichtbar werden. Theoretische und methodische Konsequenzen und Probleme einer so verstandenen „Psychologie vom Standpunkt des Subjekts“ werden diskutiert. Schlüsselwörter

Kritische Psychologie · Kritische Theorie · Restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit · Begründungsdiskurs · Irrationalität · Gesellschaftliche Natur · Psychologie vom Standpunkt des Subjekts

M. Markard (*) Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_37

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(Terminologische) Vorbemerkung

Die (Selbst-) Bezeichnung „Kritische Psychologie“ (oder critical psychology) ist insofern uneindeutig, als darunter eine Vielzahl von Arbeitsrichtungen in der Psychologie subsumiert wird, die von gemeindepsychologischen über psychoanalytische, kulturpsychologische, feministische bis zu „poststrukturalistischen“ Richtungen reichen (vgl. Billig 2006; Teo 2014). Ihr kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, sich nicht dem experimentell-statistisch orientierten Mainstream der Psychologie zuzurechnen und sich unter irgendeinem Aspekt mit dem gesellschaftlichen Status quo auseinanderzusetzen. Die hier zu verhandelnde (auch als German critical psychology apostrophierte, vgl. Reimer und Markard 2014) Kritische Psychologie, wie sie von Klaus Holzkamp und seinem Arbeitszusammenhang seit den 70erJahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt wurde, unterscheidet sich von den genannten psychologischen Ansätzen vor allem durch ihren dezidierten Bezug auf den Marxismus bzw. marxistisches Denken. Ihr großes „K“ verdankt sich einer (ursprünglich wohl ironisch intendierten, dann aber sachlich-allgemein übernommenen) Zuschreibung seitens derjenigen kritischen Psychologinnen und Psychologen, die (durchaus auch unter – temporärem – Bezug auf Marx) die Kritik an der vorfindlichen akademischen Psychologie nicht in Richtung auf eine eigene Konzeption überschreiten wollten, sondern im Eifer der theoretischen Gefechte eben darin ein Abstumpfen oder gar Niederlegen der Waffe der Kritik sahen (etwa Rexilius 1987). Bevor die ab Kap. 2 beginnende Darstellung der Kritischen Psychologie deren Entwicklung von einer Kritik der Psychologie zur marxistischen Subjektwissenschaft nachzeichnen und dabei positive, kritische wie fehlende Bezüge zu kritischen Theorie aufzeigen bzw. deutlich werden lassen soll, ist zu skizzieren, wie das Grundproblem jedweder Variante der „durch und durch problematischen Wissenschaft Psychologie“ (Holzkamp 1983b, S. 164), das Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Reproduktion, nämlich, unter Bezug auf Horkheimers Bestimmung kritischen Denkens verstanden werden kann. Dieses sei nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Missstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewussten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, dass irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere. Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat. Während es zum Individuum in der Regel hinzugehört, dass es . . . seine Befriedigung und seine Ehre darin findet, die mit seinem Platz in der Gesellschaft verknüpften Aufgaben nach Kräften zu lösen, und bei aller energischen Kritik, die etwa im einzelnen angebracht sein sollte, tüchtig das Seine zu tun, ermangelt jenes kritische Verhalten durchaus des Vertrauens in die Richtschnur, die das gesellschaftliche Leben, wie es sich nun einmal vollzieht, jedem an die Hand gibt. (Horkheimer 1937, S. 180 f.)

Entsprechend hielt es Holzkamp (1983a, S. 25) für eine „in der bürgerlichen Gesellschaft strukturell niemals endgültig lösbare Aufgabe, eine radikal gesellschaftskritische Position mit einer berufsqualifizierenden [psychologischen, M. M.]

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Ausbildung im üblichen Sinne [. . .] zu verbinden, trotz der „unabweisbaren Forderungen der Studenten, sie auf eine radikal demokratische, fortschrittliche, und dennoch unter den gegebenen kapitalistischen Bedingungen ‚mögliche‘ (d. h. individuell existenzsichernde) Berufspraxis vorzubereiten“. Dass es, mit dem berühmten Wort Adornos (1951, S. 42) „kein richtiges Leben im falschen“ gibt, heißt allerdings nicht, dass es überhaupt nicht Richtiges gibt, so dass, was praktisch möglich ist, in empirischer, kritisch-psychologischer Praxisforschung zu ermitteln ist (vgl. etwa Markard und Ausbildungsprojekt . . . 2000), ohne dass das kritische Denken der Kritischen Psychologie pragmatisch ermäßigt wird. Dessen Grundlagen sollen im Folgenden dargestellt werden.

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Gesellschaftstheoretische Implikation der methodologischen Kritik an variablen-psychologischer Experimentalforschung

Die Kritische Psychologie entstand sozusagen parallel zum Positivismusstreit in der Soziologie (Adorno et al. 1969) und ausgelöst durch die um das Problem der Wertfreiheit kreisende Psychologie- und Gesellschaftskritik von (nicht nur Berliner) Studierenden, von der sich Klaus Holzkamp – etablierter Experimentalforscher und -methodologe – so beeindrucken ließ, dass er die bis dahin konstruktivistischen Grundlagen (1964, 1968) seiner Arbeit, mit denen er die Objektivitätsansprüche der Experimentalpsychologie schon relativiert hatte, überdachte und sich wissenschaftlich neu orientierte. Ausgangspunkt war die Kluft zwischen nomothetischer Theorie und (notwendig) einzelfallbezogener Praxis, damit die praktische Relevanz des Faches, welche wiederum für Holzkamp dadurch eine gesellschaftlich-politische Dimension gewann, dass er die methodische Anordnung des Experiments auf Herrschaftsverhältnisse bezog. Die experimentelle Anordnung, so Holzkamp, erzeugt einen kommunikativen Mangelzustand: Das Verhältnis von Versuchsleiter/in und Versuchsperson (VP) wird so reglementiert, dass eine dialogische oder symmetrisch gleichberechtigte Beziehung von vornherein unterbunden wird. Es ist die Versuchsleitung, die die Bedingungen des Experiments, seinen Ablauf und die Variationsmöglichkeiten der VP-Reaktionen festsetzt. Holzkamp (1972a) sah darin die „Idee einer Art ‚Norm-Vp‘“, die sich an die experimentelle Situationen wie an undurchschaute „Umweltbedingungen“ anpasst. (S. 59). Diese Idee setzte er folgendermaßen zu menschlichen Möglichkeiten ins Verhältnis: Wenn man Lebewesen, die eine Geschichte haben, die [. . .] in freiem, symmetrischen Dialog vernünftig ihre Interessen vertreten können, als „Menschen“ bezeichnet, wenn man andererseits Lebewesen, die in einer fremden, naturhaften Umgebung stehen, die keine „Geschichte“ haben, die auf bestimmte Stimuli lediglich mit festgelegten begrenzten Verhaltensweisen reagieren können, „Organismen“ nennen will, so kann man feststellen, dass im Konzept der Norm-Vp restriktive Bestimmungen enthalten sind, durch welche Individuen [. . .] im Experiment dazu gebracht werden sollen, sich wie „Organismen“ zu verhalten. (Holzkamp 1972a, S. 61)

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Deswegen könne in der experimentellen Anordnung nur erfasst werden, wie Menschen unter ihnen vorgegebenen, fremdgesetzten Bedingungen (re)agieren, nicht aber, dass Menschen sich auch zu Bedingungen verhalten können, dass sie in sie eingreifen, sie verändern können. Anders formuliert: Das Verhältnis von „objektiver“ Bestimmtheit (durch gesellschaftliche Verhältnisse) und „subjektiver Bestimmung“ (als Einflussmöglichkeit) (Holzkamp 1977a, S. 57) wird um die subjektive Bestimmung verkürzt. Soweit diese methodisch durchgesetzte Verkürzung menschlichen Handelns auf bloßes Reagieren theoretisch nicht berücksichtigt werde, liege der Psychologie eine implizite „organismische Anthropologie“ zugrunde (Holzkamp a. a. O., S. 70): die Vorstellung der unmittelbaren Determination durch fremdgesetzte Bedingungen im „Postulat der Unmittelbarkeit“ (Usnadse; vgl. Leontjew 1982, S. 77). Die Formulierung des „Konzepts“ bzw. der „Idee“ der Norm-Vp verweist allerdings darauf, dass Holzkamp der darin enthaltenen Determinationsvorstellung kein empirisches Korrelat bzw. keine empirische Geltung zuweist – im Unterschied zu einer Einlassung Adornos, in der die Vorstellung der organismische Reduktion für die Sache selbst genommen wird: Dort, wo die Menschen unter dem Druck der Verhältnisse in der Tat auf die „Reaktionsweise von Lurchen“ (hier verweist Adorno auf die „Dialektik der Aufklärung“, M. M.) heruntergebracht werden, wie als Zwangskonsumenten von Massenmedien und anderen reglementierten Freuden, passt die Meinungsforschung, über welche sich der ausgelaugte Humanismus entrüstet, besser auf sie als etwa eine „verstehende“ Soziologie: denn das Substrat des Verstehens, das in sich einstimmige und sinnhafte menschliche Verhalten, ist in den Subjekten selbst schon durch bloßes Reagieren ersetzt. (1957, S. 202 f., Herv. M. M.)

Ähnlich argumentiert F. Haug: Das Menschenbild des Behaviorismus sei „zynisch“ und entspreche zugleich „massenhaft tatsächlichem Verhalten bzw. seinen Änderungen“ (Haug 2003, S. 134). Die Frage ist aber die, unter welchen Bedingungen der Anschein entsteht, dass sich Menschen so verhalten, als unterlägen sie Reiz-ReaktionsGesetzen (vgl. Maiers 2004, S. 127; Markard 2004, S. 54). Die Verfehltheit des behavioristischen Universalanspruchs der unmittelbaren Reizdeterminiertheit von Verhalten zeigen im Übrigen auch schon tierexperimentelle Untersuchungen etwa an Waschbären, die, darauf konditioniert, Münzen in Sparschweine zu stecken, damit begannen, diese Münzen in artspezifischem ‚Waschverhalten‘ aneinander zu reiben, bzw. an Schweinen, die, darauf konditioniert, Münzen in Behälter fallen zu lassen, die Münzen stattdessen vergruben (vgl. Holzkamp 1993, S. 42 ff.). Insofern ist, genau genommen, Holzkamps Analyse der „organismischen Anthropologie“ gegenüber der kausalistischen Reiz-Reaktions-Vorstellung noch zu „hoch“ angesiedelt, auch wenn sie die Unterschreitung der spezifischen Geschichtlichkeit des Menschen in der experimentellen Anordnung zutreffend artikuliert. Wie dem auch sei: Auf jeden Fall wird das erwähnte Verhältnis von „objektiver Bestimmtheit“ und „subjektiver Bestimmung“ verfehlt. Entscheidend ist, dass Holzkamp seinen kritischen methodologischen Befund erstens auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse bezog und – unter Bezug auf Habermas’ (1965) Kritik des „technisches Erkenntnisinteresses“ – zwischen „technischer“ und „emanzipatori-

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scher Relevanz“ psychologischer Forschung unterschied: Gegenüber dem technischen bzw. Herrschaftsinteresse an der Kontrolle gesellschaftlicher Prozesse sei „emanzipatorisch relevant eine Forschung, sofern sie zur Selbstaufklärung des Menschen über seine gesellschaftlichen und sozialen Abhängigkeiten“ (1970a, S. 37) und zur Befreiung davon beitrage. Zweitens bezog er seinen Befund auf Marx’ 6. Feuerbachthese, wonach nicht nur die „Norm-Vp“, sondern generell die Vorstellung vom „abstrakt-isoliert menschlichen Individuum“ das „Ergebnis einer Abstraktion von der konkreten historisch-gesellschaftlichen Lage des Menschen“ sei. Das Individuum „unbefragt als das ‚Konkrete‘“ zu bestimmen, sei „charakteristisch für die bestehende Psychologie“, und eben diese, aus der „bürgerlichen Ideologie des ‚Individuums“ und der ‚Persönlichkeit‘“ resultierende, „Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit menschlicher Verhältnisse“ zu überwinden, sei die „entscheidende Voraussetzung für die Konzeption einer kritisch-emanzipatorischen Psychologie“ (1970b, S. 108, Herv. getilgt, M. M.).

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Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie und deren Grenzen bei der differenziellen Beurteilung des Erkenntnisgehalts psychologischer Theorien

Damit stand die zwar nicht psychologische, wohl aber psychologisch relevante bzw. relevant gewordene Frage nach der Bestimmung der menschlichen bzw. gesellschaftliche Verhältnisse und infolgedessen auch die Frage nach dem Verhältnis gesellschaftlicher und individueller Reproduktion auf der Tagesordnung, deren Beantwortung, salopp formuliert, zunächst in der Rezeption der marxschen Kritik der politischen Ökonomie lag, mit der sich Holzkamp u. a. in einem studentisch organisierten Seminar vertraut machte (zu den institutionellen Umständen dieser Entwicklung vgl. Holzkamp 1972b; Markard 2009, S. 61 ff.). Wie immer diese Rezeption aussah, wurde deutlich, dass die damit verbundene Kritikperspektive keine spezifisch psychologische ist, sondern sich einer gesellschaftstheoretischen Sichtweise verdankt, in der die individuelle Reproduktion nachgeordnetes, wenn nicht verschwindendes Moment ist. Oder, mit Adorno formuliert: Die „Gesellschaft ist keine von Menschen unmittelbar, sondern die Beziehungen zwischen diesen haben sich verselbstständigt, treten allen Einzelnen übermächtig entgegen und dulden die psychologischen Regungen kaum eben als Störungen des Getriebes, die womöglich integriert werden“ (Adorno 1966, S. 89). Die Auflösung der Psychologie in die Vorstellung menschlicher Subjektivität als eines bloßen Schnittpunkts ökonomischer Bedingungen wurde von Holzkamp 1977 unter Bezug auf die 1. Feuerbachthese Marx’ zurückgewiesen. Diese Auffassung habe den „‚Hauptmangel‘“, dass in ihr „‚der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv‘. Ich wiederhole Marx’ Formulierung: ‚nicht subjektiv‘!“ (1977a, S. 56) Wenn Subjektivität nur als unselbstständiges Moment von der Gesellschaftstheorie aus gefasst werde, verschwinde die individuelle Reproduktion als Gegenstand bzw. sie werde nur insoweit interessant, wie

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von den vielen Einzelnen insgesamt gesellschaftliche Erfordernisse realisiert werden. Dies als genuin psychologische Ebene zu sehen, sei eine ökonomistische Vorstellung, die auf eine „pseudomarxistische Milieutheorie“ hinauslaufe, in deren Bann – analog der experimentellen Anordnung – Menschen immer nur als bedingt und bewirkt, kaum aber als bewirkend und Bedingungen verändernd begriffen werden könnten (S. 59). Die – bis dahin in der Psychologie vernachlässigte – Analyse gesellschaftlicher Lebensverhältnisse ist somit eine notwendige, aber keineswegs schon hinreichende Voraussetzung für eine emanzipatorisch intendierte Psychologie, die sich weder als „Konkurrenzunternehmen außerhalb der bestehenden Psychologie“ noch als „ein psychologisches Erkenntnisbemühen außer Konkurrenz“ versteht, sondern als Beitrag zur Klärung objektiv gegebener Kernprobleme [. . .], deren Grund und Lösungsrichtung in der traditionellen Psychologie nicht zureichend erkannt sind“ (Maiers 1979, S. 47). In kritisch-theoretischer Perspektive hätte es nun nahe gelegen, sich zu diesem Zweck auf die Psychoanalyse zu beziehen, als „die einzige“ psychologische Arbeitsrichtung, „die im Ernst den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität nachforscht“ (Adorno 1955, S. 42), womit die Psychoanalyse mit ernst zu nehmender Psychologie überhaupt gleichgesetzt wird (dazu auch Krovoza 2010, S. 18). Dies war und ist aber keine kritisch-psychologische Option, wie ich weiter unten darlegen werde. In meiner historisch-systematischen Darstellung ist deswegen nun zunächst darauf zu verweisen, dass, wenn tatsächlich die Kritik der Psychologie in Richtung auf eine eigenständige Konzeption überschritten werden sollte, die Frage stand, nach welchen Kriterien dies möglich werden könnte, wenn die Kritik der politischen Ökonomie diese ja nicht bieten, sondern immer wieder nur zur Wiederentdeckungen der „‚Bürgerlichkeit‘ der bürgerlichen Psychologie“ führen kann (Holzkamp 1976, S. 249, Herv. getilgt). Die Antwort war die historische Rekonstruktion des Psychischen selber, womit gleichzeitig die bis dahin geführten „Kontroversen zwischen der kritischen (sic) Psychologie und Vertretern des positivistischen ‚kritischen Rationalismus‘ auf eine neue Grundlage gestellt werden“ und die „positivistische Form des inhaltsentleerten, verselbstständigt-‚wissenschaftstheoretischen‘ Räsonierens“, in die sich die kritische Psychologie selber habe drängen lassen, überwunden werden sollte (Holzkamp 1973, S. 16 f.). Holzkamps Monografie „Sinnliche Erkenntnis“, aus der diese Zitate stammen, war die Probe aufs Exempel. Das Ziel, die Psychologie von Grund auf zu erneuern (und damit) Kriterien für die differenzielle Beurteilung des Erkenntnisgehalts psychologischer Theorien und Konzepte (und damit im Übrigen auch der Psychoanalyse) zu gewinnen, statt allein die problematische Funktion vorfindlicher Psychologie zu kritisieren, wurde zu einem entscheidenden Differenzpunkt zwischen unterschiedlichen Richtungen der Kritik (in) der Psychologie. Dem damit erhobenen paradigmatischen Anspruch der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1983a, S. 31), dessen Einlösungsversuch im Folgenden dargestellt werden soll, korrespondiert es, dass unter Bezug auf sie durchaus unterschiedliche therapeutische Ansätze (Knebel 2015) und empirische Projekte bzw. Herangehensweisen (vgl. Allespach und Held 2015) artikuliert und realisiert werden.

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Historisch-empirische Gewinnung psychologischer Begriffe

4.1

Zum Verhältnis der Rekonstruktion der Psychologie und der des Psychischen

Das Programm war also, verschiedene Ansätze und Befunde der Psychologie in einer kritischen Psychologie aufzuheben, bzw. im Sinne einer „Einheit von Kritik und Weiterentwicklung“ psychologischer Konzepte (Holzkamp 1976, S. 253) zu „positiven Ergebnissen über die empirische Subjektivität des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft“ (248) und damit zu einer emanzipatorisch intendierten Psychologie als Teil eines gesellschaftlichen Befreiungsprojekts zu kommen. Wenn man davon ausgeht, dass sich ein Zugang zur Einlösung dieses Programms mit einer historischen Rekonstruktion der betreffenden Fragen und Probleme gewinnen lässt, bieten sich zwei Möglichkeiten: entweder in einer wissenschaftsbezogenen Analyse der Frage nachzugehen, wie es dazu kam, dass im 19. Jh. die „empirische Subjektivität“ auf eine Weise problematisch wurde, dass es zur Entstehung der Einzelwissenschaft „Psychologie“ kam (Holzkamp 1973, S. 46); oder in einer gegenstandsbezogenen Analyse die Entstehung des Psychischen selbst über das TierMensch-Übergangsfeld bis hin zu den psychischen Aspekten der Existenz in kapitalistischen Verhältnissen zu rekonstruieren. Während die erste Variante v. a. in der Arbeit von Jaeger und Staeuble (1978) repräsentiert ist, favorisierte die Kritische Psychologie die zweite Variante. Beide Prioritätensetzungen bergen indes Probleme. So wurde von Jaeger und Staeuble (1978, S. 11 ff.) gegenüber dem gegenstandsbezogenen Ansatz geltend gemacht, dass es nicht ausgemacht sei, dass die Psychologie per se einen definierbaren Gegenstand habe, weil dieser ja von vornherein in den psychologischen Konzepten schon theorieförmig vorliege. Als Beispiel führen sie das Konzept der „Persönlichkeit“ an, das erst mit der „‚Freisetzung‘ der einzelnen Menschen aus einem ihre Lebensformen von Geburt an bestimmenden Lebenszusammenhang“ habe entstehen können. Ihr Ansatz bezog sich insofern auf die Kritik der politischen Ökonomie, als der Kapitalismus bestimmte „Individualitätsformen“ (Sève 1972; vgl. zur inhaltlichen Auseinandersetzung Holzkamp-Osterkamp 1976, S. 150 ff.) hervorbringe, d. h. die „objektive Logik der Aktivität dieses oder jenes konkreten Individuums, soweit es seine Aktivitäten unter den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen entfaltet und soweit diese Aktivität in diesen Grenzen betrachtet wird“ (Jaeger und Staeuble 1978, S. 267). An der sèveschen Bestimmung der Individualitätsformen wird allerdings deutlich, dass mit Begriffen, die sich einer „Herleitung“ „aus den gesellschaftlichen Verhältnissen“ (Jaeger und Staeuble 1978, S. 28) verdanken, eine genuin psychologische Ebene nicht erreicht werden kann. Diese Begriffe repräsentieren vielmehr die Ebene von Anforderungsstrukturen, zu denen sich die Einzelnen verhalten können und müssen. Es ist die psychologisch wesentliche Differenz zwischen Individualitätsformen und konkreten Lebensäußerungen der Menschen, die die Grenze der wissenschaftsbezogenen Analyse ausmacht. Außerdem bedarf auch die wissen-

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M. Markard

schaftsbezogene Analyse eines mit ihr nicht zu gewinnenden Gegenstandsverständnisses (wenn man etwa fragt, was es denn sei, was sich historisch als Persönlichkeit formiere) – ganz zu schweigen davon, dass die Naturgrundlage menschlicher Existenz ausgespart bleibt (vgl. Maiers 1979, S. 92 ff.). Deswegen ist die Gewinnung eines Kritik-Maßstabes, von dem aus – fachspezifisch – differenzielle psychologische Analysen möglich werden, mit einer wissenschaftsbezogenen Rekonstruktion (allein) nicht möglich. Der Umstand, dass in der Psychologiegeschichte grundlegende Kontroversen (vgl. Galliker 2016) inhaltlich unerledigt blieben, ist mit der bis in das 19. Jahrhundert zurück gehenden Auseinandersetzung um die Natur- bzw. Geisteswissenschaftlichkeit oder Sozialwissenschaftlichkeit der Psychologie vermittelt. Die windelbandsche Unterscheidung zwischen „nomothetischen“ und „idiographischen“ Wissenschaften findet sich deswegen innerhalb der Psychologie (als Dualismus von ‚erklärender‘ und ‚verstehender‘ Psychologie), weil in deren Gegenstand sich Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte niederschlagen: Wir sind natürliche Organismen, leben in konkret-historischen Gesellschaften und wir sind individuelle Subjekte, so dass Natürlichkeit und Gesellschaftlichkeit individueller Existenz zur Debatte stehen müssen, statt dass sie dualistisch auseinander gerissen werden. Im genannten Dualismus stehen sozusagen vor-paradigmatisch inhaltliche Aspekte des Gegenstandes der Psychologie neben- und gegeneinander – so dass die Überwindung dieses Dualismus und der damit verbundenen „Beliebigkeit“ der Begriffsbildung (Holzkamp 1977b) tatsächlich eine „Grundlegung“ der Psychologie (Holzkamp 1983a) erfordert.

Bei der gegenstandsbezogenen Analyse ist allerdings das Problem in Rechnung zu stellen bzw. jeweils zu analysieren, ob und inwieweit die unbestrittene Theoretizität der Begriffe, von denen aus auch die Rekonstruktion des Psychischen ihren Ausgang nehmen muss, die Rekonstruktion selber und deren Resultat form(ier)t (Fries 2011). Insofern sind letztlich die „wissenschaftsbezogene und die gegenstandsbezogene historische Analyse nicht unabhängig voneinander“. Bei einer „vollständigen historischen Analyse“ müssten die betreffenden psychologischen Konzepte „‚im Schnittpunkt‘“ beider „Entwicklungszüge“ begriffen werden (Holzkamp 1973, S. 47).

4.2

Zur historisch-empirischen Rekonstruktion des Psychischen

4.2.1 Zielsetzung und Verfahren Mit der Rekonstruktion des Psychischen als der Basis, psychologische Begriffsbildung jenseits bloßen Definierens oder Operationalisierens historisch-empirisch diskutierbar zu machen, sollte sowohl Anthropomorphisierungen tierischen Verhaltens als auch Biologisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse bzw. menschlichen Handelns und Erlebens, also biologistischen Konzeptionen, die gesellschaftliche Zustände unter Rekurs auf biologische Funktionalitäten meinen erklären zu können (vgl. Lux und Vogelsang 2000; Maiers 2002) und damit historisch spezifische Ausdrucksformen des Psychischen universalisieren, der Boden entzogen werden. Andererseits ging es um die Kritik an Positionen wie der des Symbolischen Interaktionismus, die sich um das Problem der menschlichen Natur nicht scheren und insoweit biologistischen

Kritische Psychologie und ihr Verhältnis zur kritischen Theorie

487

Auffassungen nur eine abstrakte Negation entgegen zu setzen haben. Schließlich führte die Rekonstruktion des Psychischen zu einer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und ihrer spezifischen Variante der Behauptung einer anti-gesellschaftliche Triebnatur des Menschen (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1976, S. 196 ff.), wonach menschliche Vergesellschaftung ein Kampf gegen die menschliche Natur sein muss (vgl. Abschn. 4.3). Holzkamp und sein Arbeitszusammenhang schlossen an die Kulturhistorische Schule, insbesondere an A. N. Leontjews Arbeiten an, kritisierten daran aber, dass die gesellschaftlichen Widersprüche der Sowjetunion – dem historisch-empirischen Herangehen zum Trotz – ausgeblendet worden seien (Holzkamp und Schurig 1973, S. XLVI). Wenn Holzkamp der DDR (1983a, S. 382) eine „systembedingte Konvergenz zwischen allgemeinen und individuellen Interessen“ attestierte, scheint hier allerdings eine ähnliche Widerspruchseliminierung auf, sei sie nun geschichtsphilosophischer Erwartung oder eher pragmatisch einer Hoffnung auf Publiziertwerden geschuldet. Die allgemeine Überlegung, dass man über Gegenwärtiges mehr erfährt, wenn man dessen Geschichte kennt, wurde auf die Dimensionen des Psychischen wie „Emotionen“, „Kognitionen“ etc. bezogen – aber nicht nur im Mensch-WeltZusammenhang, sondern auch in dessen naturgeschichtlicher Grundlage. Die historische Rekonstruktion des Psychischen soll also die widersprüchliche Einheit von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte in ihren wesentlichen Dimensionen aufschließen. Das Psychische, so die Annahme, „hat objektive Charakteristika als be-sondere Ausprägungsform des naturgeschichtlichgeschichtlichen Prozesses, die sich erst unter spezifischen, historisch ‚späten‘ Bedingungen als ‚Bewusstsein‘, subjektive ‚Erfahrung‘ o. ä. qualifizieren“ Holzkamp 1984a, S. 13, Herv. getilgt, M. M.) Der Grundgedanke der – logischhistorischen – Rekonstruktion des Psychischen ist es damit, genetisch Früheres als begrifflich Allgemeineres („begrifflich-genetische Isomorphie“, a. a. O., S, 15) zu bestimmen. Zum Beispiel ist das einfache Reiz-Reaktions-Lernen eine Weise, sich der Umwelt anzupassen, die sich „früh“, also in vormenschlichen Organismen, herausbildete, die Menschen also mit vielen Arten teilen. Bedeutungsvermitteltes Lernen dagegen entsteht später und ist spezifisch bzw. wesentlich für den Menschen. Diese müssen die Bedeutung eines Bremslichtes nicht über eine Serie von Auffahrunfällen lernen, sondern sie ist ihnen verbal zu vermitteln. Dass Menschen auf dem Spezifitätsniveau „Bedeutungsvermitteltheit“ lernen können, heißt indes nicht, dass ihnen das genetisch frühere Reiz-Reaktions-Lernen nicht mehr zur Verfügung stünde, wenn sie sich etwa in für sie undurchschaubaren Situationen orientieren müssen. So kann ein Angler den potenziellen Ertrag seiner Aktivitäten i. d. R. nur durch Versuch und Irrtum herausfinden. Wie und mit welchen inhaltlichen und methodologischen Problemen diese Rekonstruktion von der als Grundform des Psychischen bestimmten Sensibilität (Unterscheidung von stoffwechselneutralen und ‐relevanten Umweltgegebenheiten) unter den globalen Gesichtspunkten Orientierung/Bedeutungsstrukturen, Emotionalität/Bedarfsstrukturen und Kommunikation/Sozialstrukturen zur Spezifik mensch-

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M. Markard

licher Existenz realisiert wurde, kann hier natürlich nicht im Einzelnen nachvollzogen werden (vgl. dazu Markard 2009, S. 106 ff.).

4.2.2

Gesellschaftliche Natur des Menschen und gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz Die „funktional-historische“ Analyse noch biologischer Evolutionsprozesse jedenfalls zielte auf Widersprüche in Organismus-Umwelt-Konstellationen, in deren Lösung neue Entwicklungsqualitäten (wie etwa artspezifische individuelle Lernund Entwicklungsfähigkeiten gegenüber Festgelegtheiten) repräsentiert sind. Das hier interessierende wesentliche Resultat ist aber die „gesellschaftliche Natur“ des Menschen als Ermöglichungsgrundlage individueller Vergesellschaftung. „Natur“ deswegen, weil sich die Entwicklung der Möglichkeit zu Schaffung von Lebensbedingungen noch im Banne der Naturgeschichte vollzog: „Die Entstehung des besonderen Naturverhältnisses des Menschen, der Arbeit [. . .,] bestimmte keineswegs die Lebensbedingungen der Frühmenschen vollständig, sondern diese bleiben in ihrer Gesamtheit der Verhaltensaktivität noch Naturwesen.“ (Schurig 1976, S. 254) Weiter zu klären ist allerdings die von Lux (2012) eingeleitete Vermittlung des in phylogenetischer Rekonstruktion gewonnenen Konzepts der gesellschaftlichen Natur mit systembiologisch orientierten neueren Gen-Modellen, die einerseits nicht mehr von einfachen Beziehungen zwischen DNA und biologischer Funktion ausgehen, andererseits „Gesellschaft“ aber nur als „Umwelt“ modellieren können. Perspektive ist es, über die „Reformulierung der ‚gesellschaftlichen Natur‘ als Qualität des individuellen Entwicklungssystems der Gattung ‚Mensch‘, eingebettet in das umfassendere System des Mensch-Welt-Verhältnisses“, die „komplexen Wechselwirkungen epigenetischer und genetischer Prozesse in die subjektwissenschaftliche Theoriebildung zu integrieren“ (Lux 2011, S. 99).

Die Gesellschaftlichkeit bzw. „gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit“ menschlicher Existenz (mit deren Realisierung der Geltungsbereich der funktional-historischen Analyse überschritten wird) sieht Holzkamp (1983a, S. 193) im Erreichen einer „arbeitsteiligen Struktur“, die mit der „Durchbrechung der Unmittelbarkeit des Zusammenhangs zwischen der Schaffung von Lebensmitteln/-bedingungen und deren Gebrauch/Nutzung durch das jeweils gleiche Individuum“ einhergehe. Der Einzelne ist zwar einerseits an der Schaffung verallgemeinerter gesellschaftlicher Lebensmöglichkeiten beteiligt, und er erhält und entwickelt andererseits seine individuelle Existenz durch Realisierung der so geschaffenen gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten, der Zusammenhang zwischen diesen beiden Momenten ist aber nicht direkt vom jeweils Betroffenen hergestellt, sondern ist gesamtgesellschaftlich vermittelt; es hängt von dem Grad und der Art der Organisation der arbeitsteiligen gesellschaftlichen Verhältnisse ab, wie die Form des individuellen Beitrags zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung und die Möglichkeiten zur individuellen Existenzsicherung und -entwicklung miteinander in Beziehung stehen. Die damit skizzierte ‚Unmittelbarkeits-Durchbrechung‘ und gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der Schaffung und der Nutzung von Lebensmitteln/-bedingungen durch die arbeitsteilige Organisation der gesellschaftlichen Produktion/Reproduktion kann [. . .] als objektives gesamtgesellschaftliches Grundverhältnis des Individuums im gesellschaftlichen Mensch-Welt-Zusammenhang betrachtet werden. (Holzkamp 1983a, S. 193)

Kritische Psychologie und ihr Verhältnis zur kritischen Theorie

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Für das historische Verfahren erfordert diese Entwicklung einen „neuen Interpretationsrahmen“ (S. 190). Das funktional-historische Verfahren ist nämlich daran gebunden, dass das wesentliche Moment, der Träger der Entwicklung, die genomische Veränderung der Organismen (mit den Mechanismen der Mutation und Selektion) ist. Deren Dominanz wird durch die der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung abgelöst. Hat in der phylogenetisch dominierten Entwicklung das Überleben bzw. Sterben des Einzelorganismus im Verhältnis zur Erhaltung der Art keinen eigenständigen Stellenwert, kehrt sich das Verhältnis von Individuum und Art um: „Indem die Individuen beginnen, in gemeinschaftlicher Umweltverfügung ihre Lebensmittel und Lebensbedingungen selbst zu produzieren, ist hier die Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewusst angestrebte Ziel“ (Holzkamp 1983a, S. 190) – wobei auch hier in Rechnung zu stellen ist, dass es, wie eben zitiert, „von dem Grad und der Art der Organisation der arbeitsteiligen gesellschaftlichen Verhältnisse“ abhängt, inwieweit dies – etwa je nach Klassenlage, Geschlecht oder ethnischer Kategorisierung – realisiert werden kann. Als allgemeine psychische Implikation oder Qualität der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz hebt Holzkamp (1984a, S. 39) zum einen die „Möglichkeitsbeziehung“ heraus, also den Umstand, dass ein Individuum Handlungsanforderungen realisieren, aber auch anders handeln bzw. sich den Anforderungen entziehen oder sich ihnen verweigern, auf jeden Fall also sich zu ihnen verhalten kann. Dabei soll in dem Maße, in dem gesellschaftliche Verhältnisse Herrschaftsverhältnisse sind, der Begriff der „doppelten Möglichkeit“ (Holzkamp 1983a, S. 352) die grundsätzliche Alternative von, salopp formuliert, Anpassung und Widerstand zum Ausdruck bringen. Zum anderen bedeutet der erwähnte „neue Interpretationsrahmen“, dass in eben diesem Rahmen getroffene Aussagen über psychische Spezifika des Menschen keine fixen Definitionen mehr sein können, sondern als „Richtungsbestimmungen“ (Holzkamp 1983a, S. 195) aufgefasst werden müssen, die nur unter Bezug auf konkrete gesellschaftlich-historische Entwicklungen weiter formuliert werden können. Auch hoch entwickelte Tiere, insbesondere Primaten, verfügen zwar über erhebliche Möglichkeiten zu lernen, die sie auch realisieren müssen, um ihre artspezifische Existenzweise zu realisieren. Diese Lernprozesse resultieren aber grosso modo im immer wieder selben Ergebnis (bei vergleichsweise breitem Verhaltensrepertoire), während beim Menschen die je mögliche Entwicklung die gesellschaftlich-historische Dimension einschließt, seine Entwicklungsmöglichkeiten also historisch offen und unabschließbar sind.

Des Weiteren ist – erneut – zu bedenken, dass ökonomische Strukturen bzw. gesellschaftliche Verhältnisse kein genuin psychischer Tatbestand, aber eben von erheblicher psychologischer Bedeutung sind: sie müssen – interdisziplinär – gesellschaftstheoretisch begriffen und in der Psychologie als gesellschaftstheoretische Bezugsebene in Theorie und Praxis einbezogen werden. Grundsätzlich scheint mir diese Anlage des – (auch hier, s. u.) weiter zu konkretisierenden – Verhältnisses von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion Adornos Bedenken, dass die Trennung von Soziologie und Psychologie „unrichtig

490

M. Markard

und richtig zugleich“ ist (Adorno 1955, S. 57), Rechnung zu tragen: Wie in kritischtheoretischer Vorstellung soll sich in kritisch-psychologischer Perspektive gesellschaftliche Objektivität nicht am „Resultat“, sondern am „Prozess“ erweisen, und die Psychologie soll, indem die das „Interesse des Subjekts“ eben nicht „isoliert, ‚abstrakt‘“ wahrnimmt, nicht vom „gesellschaftlichen Produktionsprozess“ absehen (Adorno 1955, S. 57 f.). Bevor ich dies aus dem Blickwinkel der Kritischen Psychologie ausführe, erscheint es mir sinnvoll, bezüglich der Naturgrundlage der Spezifik menschlicher Existenz bzw. des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft einige Unterschiede der Kritischen Psychologie zu kritischen Theorie aufzuzeigen, die sich daraus ergeben, dass für die kritische Theorie, wie in Abschn. 3 erwähnt, die Psychoanalyse die letztlich einzig ernst zu nehmende Psychologie ist.

4.3

Exkurs zum Verhältnis der Kritische Psychologie und der kritischen Theorie zu freudschen Psychoanalyse: Natur und Gesellschaft

Das in kritisch-psychologischer Perspektive zentrale Problem ist die von Lichtman (1990) als „undialektisch“ charakterisierte freudsche Entgegensetzung von Triebnatur und (versagender) Gesellschaft, deren „Unhaltbarkeit“ Holzkamp-Osterkamp (1976, 196 ff.) historisch-empirisch belegte. Die Bedeutung der Frage liegt darin, dass mit der Annahme einer anti-gesellschaftlichen Triebnatur die emanzipatorische Perspektive einer befreiten oder sozialistischen Gesellschaft kaum denkbar ist, weil diese eben als mit einer menschlichen Natur unvereinbar erscheint, welche wiederum so verstanden wird, dass die grundsätzlich mehr oder weniger repressiv kontrolliert werden muss. Warum nun Adorno gerade im triebtheoretisch begründeten Insistieren auf der Unvereinbarkeit menschlicher Trieb-, d. h. Lebens- und Glücksansprüche, mit dem (universalisierten) gesellschaftlichen Status quo Freuds wissenschaftliche „Größe“ sah, ergibt sich aus seiner Auseinandersetzung mit der durch Horney und andere repräsentierten Ich-psychologischen Tendenz, in der Psychoanalyse den Gegensatz von Trieb und Gesellschaft zu ermäßigen: Diese „Aufweichung“ der triebtheoretischen Fundierung der Psychoanalyse bedeute deren „Kastrierung“ (Adorno 1952, S. 25). Die wissenschaftliche Leistung Freuds bestehe dagegen gerade darin, die Unvereinbarkeit menschlicher Lebens- und Glücksansprüche mit den Reproduktionszwängen (in) der bürgerlichen Gesellschaft gezeigt und auf dieser Unvereinbarkeit bestanden zu haben: „Die Größe Freuds besteht wie die aller radikalen bürgerlichen Denker darin, dass er solche Widersprüche unaufgelöst stehen lässt und es verschmäht, systematische Harmonie zu prätendieren“ (Adorno 1952, S. 40). Dem tüchtigen Individuum zu seinem letzten Endes widerspruchseliminierenden Platz in der bürgerlichen Gesellschaft zu verhelfen, sei eine „Revision“ der Psychoanalyse, wohingegen Freuds „unversöhnlicher Pessimismus die Wahrheit bezeugt über die Verhältnisse, von denen er nicht spricht“ (Adorno 1952, S. 36). Und weil Adorno mit Freud die Vorstellung

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491

einer asozialen menschlichen Triebnatur teilt, sah er in dessen Pessimismus auch die Wahrheit der Psychoanalyse auf den Begriff gebracht. Bemerkenswert ist nun, dass Holzkamp trotz der kritisch-psychologischen Kritik des Triebmodells Freud gegen den Vorwurf der „biologistischen Anthropologisierung der Antagonismen zwischen Triebansprüchen und Gesellschaftlichkeit“ insofern in Schutz nahm, als sich nämlich gerade darin „die ganze Bedeutung Freuds als großem, unbestechlichen, bürgerlichen Wissenschaftler [manifestiert]“ habe (Holzkamp 1984b, S. 36). Die Kritische Psychologie führt allerdings im Unterschied zu Freud (und Adorno) die in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen bestehenden psychologischen Probleme nicht auf die Unvereinbarkeit der menschlichen Natur mit dieser Gesellschaft zurück, sondern sie will psychische Probleme – ohne Rekurs auf eine antigesellschaftliche Triebnatur – als mit gesellschaftlichen Widersprüchen vermittelt analysieren. Die Kritische Psychologie hält, wie skizziert, dem Gegensatz von Triebnatur und Gesellschaftlichkeit auf der Basis ihrer historischen Analysen entgegen, dass der Mensch von Natur aus gar nicht un- oder antigesellschaftlich ist (allerdings auch nicht prosozial o. ä.). Die mit der gesellschaftlichen Natur des Menschen gegebene Potenz zu individueller Vergesellschaftung bedeutet danach subjektiv Bedürfnis wie Möglichkeit, Verfügung über Lebensumstände gewinnen und handlungsfähig werden zu können. „Die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen liegenden Bedürfnisse“, so Holzkamp, „realisieren sich also hier in der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d. h. sie treten in Erscheinung als subjektive Erfahrung der Einschränkung der Handlungsfähigkeit, was gleichbedeutend ist mit der subjektiven Notwendigkeit der Überwindung dieser Einschränkung“ (Holzkamp 1983a, S. 241). Wenn diese subjektiven Notwendigkeiten in problematischen Formen in Erscheinung treten, dann gilt es nicht, nach Ursachen dafür in der menschlichen Natur zu suchen, sondern nach den Lebensumständen, in denen derartige Verhaltensweisen funktional sind. Allerdings sind Freuds persönlichkeitstheoretische Konzeptionen der Abwehrvorgänge, der Angst und des Unbewussten mit historisch bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen zu vermitteln und kritisch-psychologisch zu reinterpretieren. In Freuds „Prämissen von der genuinen Unvereinbarkeit subjektiver Lebensansprüche mit gesellschaftlichen Anforderungen“ sieht Holzkamp mehr als eine „falsche Universalisierung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse“, sie brächten auch „bestimmte Aspekte der subjektiven Situation der Menschen unter diesen Verhältnissen [. . .] differenziert und schonungslos“ auf den Begriff (Holzkamp 1984b, S. 33). Diese Argumentation basiert auf Holzkamp-Osterkamps (1976) deutlicher Differenzierung zwischen der Triebtheorie und reinterpretierbaren psychodynamischen Konzepte der Psychoanalyse (HolzkampOsterkamp 1976, Kap. 5.3, S. 254 ff.), die nämlich nach der „Herauslösung aus ihren inadäquaten triebtheoretischen Verflechtungen“ einen „weiterführenden Erkenntnisgehalt“ böten (S. 191). Holzkamp resümiert, dass mit der Psychoanalyse einerseits die „Entwicklung einer psychologischen Subjektwissenschaft“ begann, „in welcher die Befindlichkeit, Welt und Selbstsicht des Menschen, sein Leiden, seine Konflikte und Ängste, seine Schuldgefühle, seine Gebrochenheit und Verletzlichkeit [. . .] in ihrer vollen subjektiven Wirklichkeit zur Grundlage wissenschaftlicher Analysen und Verall-

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M. Markard

gemeinerungen genommen wurden“. Allerdings müssten eben „von dem neuen kategorialen Niveau, das dabei erreicht ist“, die inhaltlichen „gravierenden Fehler und Schwächen der Psychoanalyse“ unterschieden werden (Holzkamp 1984b, S. 32). So hat Aumann (2003) im Zuge ihrer Untersuchung des freudschen Umgangs mit Geschlechterverhältnissen, die nicht auf (unterdrückte) Sexualität zu reduzieren seien, an Fallanalysen Freuds gezeigt, wie sich die sexuell konnotierten „Symptome“ von Frauen im Zusammenhang von struktureller und biografisch (immer wieder) erfahrener Gewalt bzw. Behinderung von Lebensansprüchen hin explizieren und reinterpretieren lassen.

4.4

Psychische Implikationen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz, das Zentralkonzept „Handlungsfähigkeit“ und der subjektwissenschaftliche Charakter der Kritischen Psychologie

Wie gesagt, markiert das Konzept der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz die Dominanz gesellschaftlicher gegenüber phylogenetischer Entwicklung. Gegenüber konkret-historischen Gesellschaften ist es allgemein, so dass – methodologisch – die Frage nach den entsprechenden psychischen Charakteristika die Frage nach den allgemeinen psychischen Implikationen dieser spezifisch menschlichen Lebensgewinnung ist: Welche Charakteristika des Psychischen können und müssen angenommen werden, um diese Lebensgewinnung verständlich werden zu lassen, die mit der in Abschn. 4.2 erwähnten „(doppelten) Möglichkeit“ verbunden sind? Weltgegebenheiten können nicht mehr als – aktivitätsdeterminierende – Reize gefasst, sondern müssen als „Bedeutungen“ verstanden werden. Bedeutungen meinen „den Bezug jedes einzelnen Menschen zum gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhang, wie er in den umgreifenden Bedeutungsstrukturen gegeben ist, indem nur durch die Handlungsumsetzung von gleichzeitig gesamtgesellschaftlich verflochtenen Bedeutungen die jeweils individuelle Existenz erhalten bzw. entwickelt werden kann“ (Holzkamp 1983a, S. 230, Herv. entf., M. M.). Dem gesellschaftstheoretischen Konzept der Lebensbedingungen wird auf gleicher Allgemeinheitsebene das psychologische Konzept der Handlungsgründe zugeordnet (statt des Begriffspaars „Reiz“/„Reaktion“). Für psychologische Auseinandersetzungen ist im Übrigen die Differenzierung von Bedeutungen und Bedeutungsstrukturen insofern relevant, als damit die Verkürztheit der Vorstellung, schon die Berücksichtigung von „Situationen“ sei – gegenüber einer situationsentbundenen nomothetischen Herangehensweise – der Schlüssel zu einer adäquaten Erfassung menschlichen Erlebens und Handelns. Es gilt nämlich, Situationen als in übergreifende Strukturen eingebunden aufzuschlüsseln (Markard 2009, S. 162). „Psychologische Zentralkategorie“ (Markard 2009, S. 20) ist „Handlungsfähigkeit als gesamtgesellschaftliche vermittelte Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen“ (Markard 2009, S. 239), deren Bedürfnisgrundlage im vorigen Abschnitt schon skizziert wurde. Bemerkenswert ist, wie Holzkamp diese Bedürftigkeit von Marx’ Bestimmung von Arbeit als „erstem Lebensbedürfnis“ (Marx 1875, S. 21) abhebt bzw. sie „aller Missdeutungen entheben will“ (Holzkamp 1983a, S. 243):

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493

Nicht die „Arbeit“ als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern „Arbeit“ nur soweit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess erlaubt, ihn also „handlungsfähig“ macht. Mithin ist nicht „Arbeit“, sondern „Handlungsfähigkeit“ das erste menschliche Lebensbedürfnis – dies deswegen, weil Handlungsfähigkeit die allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins ist, und Handlungsunfähigkeit die allgemeinste Qualität menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung.

Daran lässt sich die Klärung der oft missverstandenen Unterscheidung zwischen „produktiven“ und „sinnlich-vitalen“ (d. h. stoffwechselbezogenen/sexuellen) Bedürfnissen bei Holzkamp-Osterkamp (1976, S. 17 ff.) anschließen. „Produktive“ Bedürfnisse bedeuten nicht ein Bedürfnis nach Arbeit, sondern einen „Aspekt menschlicher Bedürfnis-Verhältnisse“ (Holzkamp 1983a, S. 242), den Holzkamp am Beispiel des Hungers erläutert (Holzkamp 1983a, S. 246 f.): Hunger ist nicht bloß als eine (sinnlich-vitale) Bedürfnis-Spannung, sondern auch dadurch bestimmt, inwieweit das Individuum diesem Hunger sozusagen ausgeliefert ist oder inwieweit es über die Quellen der Bedürfnisbefriedigung verfügen kann, was wiederum ein Aspekt seiner Handlungsfähigkeit ist. Die Möglichkeitsbeziehung des Menschen zur Welt impliziert, dass sein Handeln, Denken, Empfinden immer auch Realisierung gesellschaftlicher Bedeutungen ist, unbeschadet dessen, wie verkürzt und mystifiziert (personalisierend, naturalisierend) darin gesellschaftliche Bedingungen wahrgenommen werden. Schon daraus folgt, dass kritisch-psychologische Forschung transdisziplinär sich verstehen, gesellschaftstheoretische Erkenntnisse (und Kontroversen) berücksichtigen muss. Die Lebensbedingungen gewinnen psychologische Relevanz eben als Bedeutungen, d. h. als Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen. Diese werden für die Einzelnen zu Prämissen, wenn sie sich zu den Bedingungen verhalten müssen. Die Unterscheidung von Bedingungen, Bedeutungen und Prämissen ist deshalb wesentlich, weil sich damit das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Lebensbedingen so fassen lässt, dass der Einzelne weder durch die Bedingungen determiniert erscheint, noch seine Handlungsgründe als beliebig erscheinen. Der Umstand, dass verschiedene Menschen objektive Umstände verschieden erfahren, ist unter der genannten Voraussetzungen des Verhältnisses von Bedingungen, Bedeutungen, Prämissen und Gründen nicht bloß ein empirischer Befund, sondern begrifflich schon vorausgesetzt. „Die unterschiedlichen, widersprüchlichen Erscheinungsformen des Psychischen ergeben sich somit allein aus der Unterschiedlichkeit bzw. Widersprüchlichkeit der ‚Prämissen‘, auf denen der jeweils individuelle Begründungszusammenhang beruht, und mit Bezug auf welche er subjektiv ‚funktional‘ ist.“ (Holzkamp 1983a, S. 352). Damit sind die allgemeinen Bestimmungen skizziert, mit denen sich die Kritische Psychologie nicht nur als Individualwissenschaft, sondern psychologische Subjektwissenschaft versteht, die Holzkamp schon in einer frühen Formulierung folgendermaßen auf den „Marxismus“ bezog: Wie dieser „in der Art und Weise, wie er das Verhältnis zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung des historischen Prozesses“ herausarbeite, „historische Subjektwissenschaft par excellence“ sei, so ziele Kritische Psychologie als „‚besondere Subjektwissenschaft‘“

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auf die „Entwicklung der subjekthaft-aktiven Komponente, also der Selbstbestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit“ (Holzkamp 1977a, S. 64; Herv. entfernt, M. M.). Im kritisch-psychologischen Verständnis ist der Mensch also „als solcher ‚Subjekt‘, er kann nicht ‚subjektlos‘ und gleichzeitig ‚Mensch‘ sein. Die relativierende Rede von Arten und Graden der ‚Subjekthaftigkeit‘, ‚Subjektivität‘ etc. ist also selbst wieder zu relativieren aufgrund der Einsicht, dass die Spezifik des Menschen als ‚Subjekt‘ unreduzierbar und uneliminierbar“ ist (Holzkamp 1983a, S. 355, Herv. getilgt, M. M.). Dies ist auch deshalb hervorzuheben, weil „Subjekt“, „Subjektivität“ hier nicht für eine spezifische Konzeption in Diskursen um „Subjektivität“ und deren (etwa persönlichkeitsspezifische) Eigenarten oder Konstitutionsbedingungen oder -verläufe stehen, sondern für das – allgemein menschliche – Spezifikum der Gattung, sich zu sich und der Welt verhalten und in die Welt eingreifen zu können (vgl. auch Maiers 1996, S. 168 und S. 183). Die „psychologische Zentralkategorie“ der Kritischen Psychologie ist eben nicht Subjektivität, sondern „Handlungsfähigkeit“.

5

Kapitalistische Lebensverhältnisse und „restriktive“ vs. „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“

5.1

Grundlagen und methodologische Probleme

Das im vorigen Abschnitt skizzierte allgemeine Konzept der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz mit seinen psychischen Implikationen kann sich nur in konkret-historischen Gesellschaften analytisch bewähren und muss entsprechend konkretisiert werden – naheliegender Weise auf „unsere“ kapitalistischen Verhältnisse. Entsprechend ist die „entfremdete Form“ (Holzkamp 1983a, S. 306) zu berücksichtigen, die der gesellschaftliche Systemcharakter im Kapitalismus (u. a. mit der Ersetzung vorher individueller Abhängigkeitsbeziehungen durch den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx 1867, S. 765)) annimmt, in dem die Masse der Produzierenden gravierend am kollektiven Einfluss auf Produktion und Reproduktion gehindert ist. So, wie „Arbeit“ ein allgemeines Charakteristikum menschlicher Lebensgewinnung ist, die in der Lohnarbeit eine spezifische Form annimmt, sind auch psychische Charakteristika der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz historisch zu konkretisieren. Diese in ihrer besonderen Form zu begreifen, setzt aber eben voraus, jenes Allgemeine herauszuarbeiten, das es erlaubt, zu begreifen, was eigentlich es gesellschaftlich und psychologisch ist, das da formbestimmt wird. Die „doppelte Möglichkeit“ von Anpassung und Widerstand (s. o.) ist insofern „menschliche Universalität“ und „historische Relativität“ (Holzkamp 1983a, S. 352), deren formspezifische Ausprägung mit dem Begriffspaar „restriktive“ vs. „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ analysiert werden soll. Mit dem Begriff der restriktiven Handlungsfähigkeit wird auf der Frage beharrt, warum und wie Individuen sich trotz potenzieller Selbst- bzw. Fremdschädigung mit Verhältnissen arrangieren. Demgegenüber markiert „verallgemeinerte Handlungs-

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fähigkeit“ das überschüssige, das utopische Potenzial kritisch-psychologischen Denkens, ohne das eine emanzipatorische Perspektive nicht zu haben ist – allerdings ohne diese auch schon „auszupinseln“ (Adorno). Nur so hat die Rede von „verallgemeinerter Handlungsfähigkeit“ Sinn. „‚Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit‘ ist [. . .] die Alternative, die immer dann hervortritt, wenn mir der restriktiv-selbstschädigende Charakter einer Begründungsfigur deutlich wird“ (Holzkamp 1990, S. 39). Anders formuliert: Die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit kann es nicht geben (Holzkamp 1990, S. 37 ff.), sondern es geht um die Beteiligung am Ringen um die Möglichkeiten menschlicher Emanzipation und an den Kämpfe darum bzw. um die dabei auftretenden psychologischen Fragen: Einerseits um die Frage, welche Anforderungen an die Menschen gestellt werden (ohne deswegen schon anzunehmen, man wisse, wie sie damit umgehen), und zum anderen empirisch zu untersuchen, wie sie tatsächlich damit umgehen, wobei „Lebensführung“ (Holzkamp 1996) den prozessualen Aspekt von Handlungsfähigkeit akzentuiert. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Konzeption der „verallgemeinerten“ Handlungsfähigkeit immer wieder als „erweiterte“ Handlungsfähigkeit rezipiert wird, womit allerdings das Analytische dieser Kategorie verloren geht: Denn was je konkret erweitert werden kann, sind empirisch vorfindliche Handlungsmöglichkeiten und ‐räume, während die Kategorie verallgemeinerten Handlungsfähigkeit das analytische Regulativ für die Unabschließbarkeit des Projekts menschlicher „Emanzipation“ ist. Eben dies ist immer wieder neu zu untersuchen – sowohl in der alltäglichen Praxis, in der psychologischen Berufspraxis (als Spezialfall von Alltagspraxis), in theoretischer Arbeit und in methodischen Überlegungen (eine Vorstellung, mit der im Übrigen auch der Warnung Adornos vor dem „Auftrumpfenden“ (1951, S. 206) des Emanzipationsgedankens Rechnung getragen wird). Die bisher angeführten Begriffe sind als „kategoriale“ Bestimmungen konzipiert, d. h. als Grundbegriffe, auf deren Grundlage Theorien/Hypothesen über empirisch hier und jetzt ablaufende psychologische Prozesse formuliert werden. Da die Frage der empirischen Geltung von Theorien grundsätzlich nicht die der Grundbegriffe berührt, ist eine in der Kritischen Psychologie durchaus strittige Frage (vgl. Markard 2009, S. 180 ff.), wie weit formationsspezifische psychische Phänomene „kategorial“ bestimmt werden können, wie weit also die Kategorien „restriktive“ und „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ ausformuliert werden können. Das dahinter stehende Problem ist die Skylla einer kategorialen Festschreibung sich ja verändernder gesellschaftlicher Verhältnis (etwa Fordismus, Neoliberalismus) und die Charybdis des (etwa postmodernen) Verlusts von Herrschaftskritik (vgl. Fries 2016). Die Basis für kategoriale Ausformulierungen bei Holzkamp waren (1) die psychischen Implikationen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz, (2) gesellschaftstheoretische Bestimmungen der allgemeinen Eigenarten der kapitalistischen Gesellschaft, (3) Daten über „Erleben und Verhalten“ in der kapitalistischen Gesellschaft (unterschiedlicher Ausprägung, wenn wir bei diesen Daten nicht nur an wissenschaftliche Daten, sondern auch an Belletristik und historische Schilderungen denken), (4) vorfindliche psychologische Konzepte/Theorien und (5) personale Lebenserfahrungen (Markard 2009, S. 180).

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Ohne die (offene) Kontroverse um die kategoriale Ausformulierbarkeit des Begriffspaars „restriktive“/„verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ hier nachzeichnen zu können, bin ich (Markard 2009, S. 180) der Auffassung, dass diese Bestimmungen ihre potenziell kritische Funktion nicht durch ihren „kategorialen“ Charakter gewinnen, sondern dann und so lange, wie ihre kategoriale Basis (doppelte Möglichkeit) und ihr gesellschaftstheoretischer Bezug Bestand haben bzw. aktuell sind. Sie können als Leit-Hypothesen aufgefasst werden, für die die Bestimmungen der gesamtgesellschaftlich vermittelten individuellen Existenz zusammen mit marxistischen gesellschaftstheoretischen Begriffen und Konzepten die kategoriale Basis bilden. (Faktisch trägt Holzkamp dem Rechnung, wenn er immer wieder auf die Notwendigkeit einzeltheoretischer Konkretisierungen seiner Überlegungen verweist, 1983a, S. 367, 369, 379 f., 382, 384, 386). Zentral ist, dass (1) immer nach den konkreten, kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen gefragt wird, sie nicht entwichtigt werden, und dass (2) die herrschaftskritische Perspektive auch dann nicht aufgegeben wird, wenn sie auf den ersten (empirischen) Blick nicht aufscheint. Dass dies nicht zu einer dogmatischen Haltung verkommt, muss dadurch gewährleistet werden, dass die genannten historisch-empirischen und gesellschaftstheoretischen Fundierungen nicht veralten. In eben diesem Sinne sollen im Folgenden Konkretisierungen des Begriffspaars „restriktive“/„verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ bzw. damit in Verbindung stehende – z. T. mit kritisch-theoretischen Vorstellungen kollidierende – psychologische Überlegungen skizziert werden.

5.2

Funktionsaspekte „restriktiver“ vs. „verallgemeinerter Handlungsfähigkeit“

Die herrschaftskritisch zentrale und mit der Kategorie der restriktiven Handlungsfähigkeit oben schon aufgeworfene Frage, warum und wie Individuen sich trotz potenzieller Selbst- bzw. Fremdschädigung mit schlechten Verhältnissen arrangieren, legt nahe, dass zumindest selbstfeindliche Arrangements den betreffenden Menschen nicht bewusst sein können, dass sie also „Verdrängung, Verleugnung, Dissoziation, Mystifizierung“ (a. a. O., S. 279) implizieren, und dass alternative Möglichkeiten ausgeklammert werden, was in den psychologischen Funktionsaspekten der Handlungsfähigkeit, „Kognition“ und „Emotion/Motivation“ und in interpersonalen Beziehungen zum Ausdruck kommen muss. Die – entsprechend der Kategorie Handlungsfähigkeit – jeweils als „restriktiv“ bzw. „verallgemeinert“ konzipierten analytischen Pole der Funktionsaspekte bzw. interpersonalen Beziehungen sind terminologisiert als „Deuten vs. Begreifen“, „emotionale Innerlichkeit vs. (verallgemeinerte) Emotion“, „innerer Zwang vs. Motivation“ und „Instrumentalverhältnisse vs. Subjektbeziehungen“ als interpersonelle Verhältnisse zwischen Konkurrenzbestimmtheit und kollektiver Verfügungserweiterung. Ich kann diese Konzepte hier nicht im Einzelnen ausführen, sondern sie nur in ihren wesentlichen Charakteristika skizzieren, wobei in all diesen Dimensionen die „kategorial veranlasste, aber im Konkreten empirisch offene“ (Markard 2009, S. 194) Fragestellung die nach den potenziell selbstschädigenden Implikationen restriktiver Lebensbewältigung ist, die

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sich im Rahmen von Arrangements mit den herrschenden Verhältnissen bewegt (zur Auseinandersetzung um das Selbstfeindschaftskonzept vgl. Markard 2009, S. 193 ff.). Zentrale Bestimmung des „Deutens“ ist es, dass – im Modus des Personalisierens – alle lebenspraktischen Probleme kognitiv so repräsentiert sind, als ob sie als allein aus der unmittelbaren Lebenslage entstünden und auch dort gelöst werden könnten. Die kognitive Verfehlung der gesellschaftlichen Vermitteltheit bzw. die Ausblendung kapitalistischer Widersprüche hat Haug als ein Denken in den spontanen Formen der „Pseudonatürlichkeit des Gesellschaftlichen“ (Haug 1977, S. 87) bezeichnet. Begünstigt durch unspezifische Wahrnehmungsmechanismen wie „Übergeneralisierungen, Überverdeutlichungen, Kontrastierungen, Übervereinfachungen, Komplettierungen“ ist es im Banne deutenden und anschaulichen Denkens nicht möglich, „den sinnlichen Evidenzen und in ihnen liegenden Strukturierungsprinzipien quasi ‚Widerstand zu leisten‘“ (Holzkamp 1983a, S. 388; vgl. auch 1973, S. 313 ff. und S. 336 ff.). Deuten ist quasi ex negativo definiert, wenn man sich die Spezifik des Begreifens ansieht, die nicht darin liegt, dass es das „Deuten“ ausschließt, sondern dass es das „Deuten“ gleichzeitig in sich aufhebt und übersteigt: Während in bloß ‚deutendem‘ Denken die Bedeutungen/Denkformen der Lebenspraxis in Universalisierung der ‚Unmittelbarkeit‘ für das Ganze genommen werden, wird in begreifender Wirklichkeitserfassung die Lebenspraxis, indem sie einerseits ‚deutend‘ vollzogen wird, andererseits auf die darin liegenden Verweisungen auf die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz hin durchdrungen und überschritten. Ich schwimme also in begreifendem Denken nicht, wie beim Deuten, in der „Pseudokonkretheit“ der bürgerlichen Alltagsrealität wie ein „Fisch im Wasser“, sondern erfasse sie im unmittelbaren Lebensvollzug in ihrer Bestimmtheit durch die antagonistischen bürgerlichen Klassenverhältnisse.“ (Holzkamp 1983a, S. 395)

Die Spannung restriktiver Emotionalität (Innerlichkeit) wird darin gesehen, dass sie durch einen „essentiellen Widerspruch zwischen kognitiver und emotionaler Weltbegegnung und Realitätsbeziehung“ (Holzkamp 1983a, S. 403) charakterisiert ist. Ihr zentrales Moment ist die Verdrängung „gefährlicher“, da Widerständigkeit begünstigender Emotionen (Holzkamp-Osterkamp 1976, S. 293) von den Lebensbedingungen, deren Bewertung sie ja eigentlich sind. Die mit dieser Trennung erzeugte – als besondere Tiefe der Gefühle mystifizierte – Innerlichkeit, verbunden mit der gängigen Dichotomisierung von Verstand (Kopf) und Gefühl (Bauch), korrespondiert insoweit mit Angst als permanenter Hintergrundsqualität (Holzkamp 1983a, S. 403), wie restriktive Arrangements letztlich unsicher sind. In davon bestimmten interpersonalen Beziehungen („Instrumentalbeziehungen“) werden Emotionen zur Ware, sie werden „‚kompensatorisch‘ verrechnet“ (Holzkamp 1983a, S. 408) – mit „Dankbarkeit“, Schuldgefühlen, Gekränktheiten (vgl. auch Marx’ Formulierung vom „liebenswürdigsten Schein“, mit dem andere „geprellt“ werden (1844, S. 547)). Beispiele für entsprechende Analysen sind die von Ottomeyer (1976) über „Empathie“, im „kapitalistischen“ (S. 197 ff.) und im „spätkapitalistischen Reproduktionsprozess“ (S. 218 ff.). 1983 veröffentlichte Hochschild ihre Analysen über Gefühlsmanagement (exemplarisch von Stewardessen).

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Gemeinsam ist diesen – unterschiedlichen kategorialen Bezügen entstammenden – Analysen die Frage nach den psychischen Kosten des „liebenswürdigsten Scheins“, die Frage danach, ob und wie Gefühle beruflich und privat demonstriert oder verborgen, auf jeden Fall kontrolliert werden sollen/müssen, und inwieweit die Menschen die entsprechenden Ambivalenzen (auf deren gesellschaftliche Dimensionen hin) begreifen (Kaindl 2008; vgl. auch Markard 2009, Kap. 11). Wie in der kritischen Theorie ist wesentlich am kritisch-psychologischem Emotionskonzept die Historizität der Emotionen – wie im Übrigen auch der Bedürfnisse, die nur vor dem Hintergrund ihrer Historisierung als „wahr“ oder „falsch“ charakterisiert werden können (Marcuse 1967). Das Problem dieser Charakterisierung liegt im Doppelgesicht der Historisierung von Bedürfnissen: Mit der Destruktion der Ontologisierung vorfindlicher Bedürfnisse wird auch deren nicht bloß abstrakt-moralische, sondern auf konkrete Verhältnisse bezogene Kritik möglich. Die Potenz dieser Kritik wird aber in dem Maße verschenkt, in dem die Hinterfragung und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Denunziation und Zensur darin erzeugter Bedürfnisse und der bedürftigen Menschen wird. Es ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass nach Marcuse „in letzter Instanz [. . .] die Frage, was wahre und was falsche [Bedürfnisse, M. M.] sind, von den Individuen selbst beantwortet werden [muss], das heißt sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu geben“, was ihnen allerdings in der „fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ mit ihrem „Konsumzwang“ etc. kaum möglich sei (Marcuse 1967, S. 26 f.). In der analytischen Perspektive der – restriktivfunktionalen – Handlungsfähigkeit müsste es darum gehen, die Widersprüchlichkeit eigener Bedürftigkeit – nicht-normativ – zu hinterfragen (Markard 1999). Im Unterschied zum „Begreifen“ als Gegenpol zum „Deuten“ sind „verallgemeinerte“ Emotionen über ihre allgemein erkenntnisleitende Funktion hinaus m. E. kaum zu konkretisieren, bzw. – sozusagen im Vergleich zu Kognition in umgekehrter Richtung – bloß ex negativo zu charakterisieren, wenn eher heroische und normativ emphatische Bestimmungen, wonach Emotionen „im Kampf um die Erweiterung der allgemeinen Lebensbedingungen aufgehoben“ seien und „entsprechend der Spannweite der Ziele Kraft und Ausdauer gewinnen“, vermieden werden sollen (Holzkamp-Osterkamp 1980, S. 102). Motivation bzw. die motivierte Verfolgung eines Ziels impliziert drei Aspekte (Holzkamp 1983a, S. 411 ff.): einen Zusammenhang zwischen der Realisierung eines Ziels und eigener Lebensqualität, Denkformen, die diesen Zusammenhang abbilden können, und die Möglichkeit des Individuums, dies zu erfassen. Subjekt relevant werden diese Aspekte, wenn der Zusammenhang zwischen Zielverfolgung oder -realisierung nicht besteht oder fraglich ist – mit den beiden Möglichkeiten, dass das Individuum unter äußerem oder – psychologisch relevanter – verinnerlichtem oder „innerem Zwang“ handelt, sich sozusagen freiwillig unterwirft, und die repressive Herkunft (des „stummen“ Zwangs) unkenntlich, aber emotional wirksam ist. Es liegt auf der Hand, dass damit Leistungsanforderungen hinterfragt und – avant la lettre – jene subjektiven Probleme thematisiert werden, die später mit neoliberalen Subjektanforderungen in Verbindung gebracht worden sind. Grundsätzlich sollen mit der Alternative „restriktiv – verallgemeinert“ keine Personen, Eigenschaften, Typen oder Merkmale diagnostiziert (Markard und Kaindl

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2014; vgl. auch Abschn. 6), sondern Handlungsalternativen analysiert werden, durchaus in Übereinstimmung damit, dass „Handlungsfähigkeit“ und nicht „Subjekt“ die „Zentralkategorie“ der Kritischen Psychologie ist (vgl. Abschn. 4.4). Damit soll u. a. das allen Überlegungen zur Subjektkonstitution inhärente Problem vermieden werden, aus gesellschaftstheoretischen Analysen entsprechende Subjekte zu konstruieren. „Es sind dies aber bloß Homunculi, Kunstfiguren, soweit der subjektwissenschaftliche Umstand verfehlt wird, dass gesellschaftliche Zustände zwar bestimmte Verhaltensweisen nahelegen, aber eben nicht determinieren.“ (Markard 2009, S. 151; zur hier nicht darzustellenden kindlichen Entwicklung vgl. Holzkamp 1983a, Kap. 8, und Markard 2013). Damit wird auch die personalisierende Tendenz vermieden, Handlungsweisen von Menschen als durch deren Eigenschaften oder – umfassender – deren Persönlichkeit bestimmt zu deuten (Holzkamp 1985). Adorno hat sich mit diesem Problem u. a. in seiner Beschäftigung mit Typologisierungen befasst und dabei festgestellt: „Weil die Welt, in der wir leben, genormt ist und ‚typisierte‘ Menschen ‚produziert‘, haben wir Anlass, nach psychologischen Typen zu suchen.“ (Adorno 1973, S. 307) In kritisch-psychologischer Perspektive wäre, wie im folgenden Abschnitt entwickelt wird, was als Persönlichkeitstypen erscheint oder konstruiert wird, weiter auf spezifische Prämissen-GründeZusammenhänge hin zu analysieren (vgl. Geffers 2008).

6

Begründungsdiskurs als Theoriesprache der (Kritischen) Psychologie

Dass, wie zu Beginn des Abschn. 5.2 dargelegt, selbstfeindliche Arrangements nicht bewusst sein können, basiert auf einer Annahme, die Holzkamp das „einzige materiale Apriori der Individualwissenschaft“ nennt, nämlich, „dass der Mensch sich nicht bewusst schaden kann“. ‚Ich‘ kann mit meiner „Handlung zwar im Widerspruch zu meinen objektiven Lebensinteressen stehen, nicht aber im Widerspruch zu meinen menschlichen Bedürfnissen und Lebensinteressen, wie ich sie als meine Situation erfahre“ (1983a, S. 350; vgl. zu den Debatten darum Markard 2009, S. 195 f.). Diese (strittige, vgl. Markard 2009, 195 f.) Annahme ist in der Tat unverzichtbar für die Kritische Psychologie. Denn wenn gedanklich zugelassen wird, dass sich Menschen bewusst schaden können, bricht die Konstruktion restriktiver Handlungsfähigkeit in sich zusammen, die ja zur Voraussetzung hat, dass man in Verfolgung seiner Interessen gleichzeitig seine Lebensqualität zersetzt, sich selbst zu Feind wird etc. Könnte man dies bewusst tun, wäre die für restriktive Handlungsfähigkeit konstitutive Widersprüchlichkeit dahin. (Markard 2009, S. 196)

Damit scheidet aber auch „Irrationalität“ als Erklärung für selbstfeindliche Arrangements aus, weil damit die Intention, die subjektive Funktionalität dieser Arrangements zu verstehen, also die Frage nach entsprechenden Prämissen-Gründe-Zusammenhängen, suspendiert wird. Vor diesem Hintergrund ist das Verdikt der Irrationalität ein Hinweis auf die Erkenntnislage oder ‐motivation derer, die das Verdikt aussprechen,

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nämlich das Vorhaben aufzugeben, andere verstehen zu wollen oder zu können. (Dies schließt übrigens keineswegs aus, gesellschaftliche Verhältnisse als irrational zu charakterisieren – denn diese werden ja nicht psychologisch „verstanden“ (Markard 2009, S. 189)), sondern am Maßstab eines, rationalen, vernünftigen menschlichen Zusammenlebens erklärt. Der Ansatz, Handlungen als in Prämissen (also nicht in frei flottierend) begründet und damit intersubjektiv verständlich nachvollziehbar machen, macht den „Begründungsdiskurs“ aus, den Holzkamp als für die Psychologie konstitutiv ansieht (und der die in Abschn. 4.1 angeführte Alternative zwischen Nomothetik und Idiographik aufheben soll). Wir haben es, so Holzkamp (1996, S. 64) beim Begründungsdiskurs weder mit einer „Methode“ noch mit einer „Theorie“ zu tun, [. . .] sondern eben mit einer bestimmten Diskursform intersubjektiven Umgangs, die zentral durch den Nexus zwischen Bedeutungen, Begründungen, und Handlungsintentionen/Handlungen spezifiziert ist – einerlei, auf welche Weise, wie „richtig“ oder „falsch“, die einzelnen Instanzen dabei inhaltlich gefüllt sind. Entsprechend liegt die einzige Möglichkeit, den Begründungsdiskurs in seiner Besonderheit zu qualifizieren, darin, ihn vom Bedingtheitsdiskurs, dessen Nexus nicht als Bedeutungs-/Begründungszusammenhang, sondern als „Ursache-Wirkungs-Zusammenhang“ spezifiziert ist, abzuheben. Es geht hier nicht um die Realitätsprüfung von Theorien, sondern um die Qualifizierung spezifischer wissenschaftlicher Sprachmodi.

Die Pointe, dem Begründungsdiskurs in der Psychologie Geltung zu verschaffen, ist nun aber die, dass dieser sich auch in nomothetisch formulierten Theorien findet: Wenn die Beziehung zwischen dem Wenn- und dem Dann-Teil einer Hypothese oder Theorie sinnvermittelt ist, handelt es sich – aller nomothetischen Rhetorik zum Trotz – nicht um eine Bedingungs-Ereignis-Konstellation, sondern um einen Prämissen-Gründe-Zusammenhang. Dies lässt sich über die Frage klären, ob es möglich ist, zwischen den Wenn- und den Dann-Teil einer psychologischen Aussage ein „subjektiv vernünftigerweise“ oder „subjektiv funktionalerweise“ einzusetzen (Holzkamp 1986). Das sei an einem Beispiel aus der „Selbstergänzungstheorie“ erläutert: Wenn Menschen „eine Bedrohung eines wertgeschätzten Aspekts ihrer Selbstkonzepte erfahren, werden sie motiviert, nach zusätzlicher Anerkennung für diese Teil ihres Selbst zu suchen“ (Aronson et al. 2004, S. 212). Das hier zwangslos einzufügende „vernünftigerweise“ steht nicht für ein externes Rationalitätskriterium, sondern allein für subjektive Begründetheit und Funktionalität. Inwieweit subjektive Begründetheit auch externen Rationalitätskriterien entspricht oder nicht (etwa bei spieltheoretischen Fragestellungen), ist für den Begründungsdiskurs eine nachgeordnete Frage: Dass menschliches Handeln in Prämissen begründet ist, hängt nicht davon ab, ob es auch nach subjekt-externen Kriterien rational ist. Zentral ist die subjektive Sinnstiftung zwischen dem Wenn- und dem Dann-Teil der Zusammenhangsaussage. Dabei müssen diese Sinnstiftungen bzw. PrämissenGründe-Zusammenhänge nicht bewusst sein; wohl aber sind sie bewusstseinsfähig. Mehr noch: Der Begriff des Unbewussten (vgl. Küpper 2016) macht nur im Begründungsdiskurs Sinn: Lackmus-Papier färbt sich gewiss nicht bewusst rot oder

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blau, allerdings auch nicht unbewusst, sondern eben bedingt. (Die Grenzen des Begründungs-Diskurses scheinen auf, wenn wir uns physiologienahen Bereichen nähern. So ist der etwa Zusammenhang von Alter und Gedächtnisleistung offenkundig nicht subjektiv funktional.) Unter der Voraussetzung, dass in nomothetisch gemeinten Theorien Prämissen-Gründe-Zusammenhänge enthalten sind, kann der Begründungsdiskurs nicht in eine hermeneutische Exklave abgeschoben werden, sondern er zieht sich durch die gesamte Psychologie. Methodologisch ist daran weiter bedeutsam, dass es sich bei einem PrämissenGründe-Zusammenhang um eine i. w. S. definitorische Bestimmung ‚vernünftigen‘ Verhaltens handelt. Insofern sind – formal gesehen – Prämissen-GründeZusammenhänge „implikativ“ und damit einer empirischen Prüfung weder bedürftig noch fähig. Ein Prämissen-Gründe-Zusammenhang steht als subjektive Sinnstiftung zwischen Bedingungen, Bedeutungen, Prämissen und Handlungsintentionen nicht in theoretischer Konkurrenz zu anderen Sinnstiftungen, die sich entsprechend gegenseitig weder bestätigen noch widerlegen können. Wenn, um auf die Selbstergänzungstheorie zurückzukommen, jemand bei Bedrohung eines wertgeschätzten Teil seines Selbst meint, diesen Teil seines Selbst überschätzt zu haben, widerlegt das den eben angegebenen Sinnzusammenhang nicht. Das Beispiel zeigt, dass nomologische Geltungsansprüche hier im wahrsten Sinne sinnlos sind. Grundsätzlich haben bei Prämissen-Gründe-Zusammenhängen empirische Daten nicht die Funktion, den betreffenden Zusammenhang zu prüfen; sie können ihn nur veranschaulichen bzw. konkretisieren. Derartige Aussagen sind durch beliebig viele Fälle weder zu beweisen noch zu widerlegen. Außerdem können damit keine Bestimmungen zur Häufigkeit bzw. Verbreitung der in ihnen behandelten Phänomene vorgenommen werden – was sie mit nomothetischen Aussagen gemeinsam haben: Gesetzmäßigkeiten sagen ja nichts über die Verbreitung der in ihnen verhandelten Zusammenhänge. (Aussagen über die Verbreitung von Phänomenen oder Zusammenhängen erfordern repräsentative Erhebungen, deren Resultate bezüglich i. e. S. psychologischer Fragestellungen allerdings nur Ausgangspunkt weiterer Bemühungen sein können.) Einzelfälle können zueinander ins Verhältnis gesetzt, aber nicht gegeneinander „verrechnet“ werden. Subjektwissenschaftlich gilt: Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt. Es sind die individuellen Spezifikationen, die interessieren, nicht die Nivellierungen des Durchschnitts. Die einzelnen, subjektiven Fälle sind keine Abweichungen, sondern der Gedanke der Abweichung weicht selbst ab vom Gedanken der Subjektivität. Subjektwissenschaftlicher Geltung und Verallgemeinerung bezieht sich also auf praktische Lebensvollzüge der Individuen in historisch-konkreten Konstellationen, auf subjektive Möglichkeitsräume oder Handlungsmöglichkeiten – nicht auf (Persönlichkeits-) Merkmale. Holzkamp (1983a, S. 545) hat dazu den Begriff „Möglichkeitsverallgemeinerung“ vorgeschlagen, in der die subjektive Befindlichkeit bzw. (begrenzte) Handlungsmöglichkeit als „Verhältnis zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und meiner besonderen Weise ihrer Realisierung“ (Holzkamp 1983a. S. 548; vgl. auch Markard 2009, S. 263 ff.).

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Kritische Psychologie und ihr Verhältnis zur kritischen Theorie

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Bruderschaft der Kritik: Adorno und Foucault Ulrich Brieler

Zusammenfassung

Adorno und Foucault verbindet der Wille zur Kritik. Sie wissen: Mündigkeit, das zentrale Ziel jeder philosophischen Anstrengung, ist ohne eine kritische Haltung zur Welt undenkbar. Im Zentrum der Kritik stehen daher die Schranken, die Mündigkeit sabotieren: Autorität und Apparate, Herrschaft und Sachzwänge, Selbstunterwerfung und freiwillige Knechtschaft. Das Verständnis der philosophischen Praxis als Kritik führt Adorno und Foucault in dichteste Nähe zu den Emanzipationsbewegungen ihrer Zeit. Diesen gegenüber beharren sie auf dem Eigensinn und der Autonomie einer geistigen Praxis, die stets auch sich selbst befragen muss, will sie der Sache treu bleiben, die ihr Anliegen ist: der Bestärkung der Kritik-Aktivität. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Aktualität · Antiautorität · Befreiung · Haltung · Historizität · Mündigkeit · Normativität · Theorie-Praxis · Totalität

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Einleitung „Die wahre Kritik analysiert daher nicht die Antworten, sondern die Fragen.“ (Marx 1985, S. 379)

Theodor W. Adorno schätzte das Radio als Instrument öffentlicher Rede, eine heute nahezu vergessene Form der geistigen Intervention (Schwarz 2011). Nicht wenige der wichtigsten kleineren Arbeiten Adornos wie „Erziehung nach Auschwitz“ oder „Engagement“ sind zunächst im Radio vorgetragen worden, ganz zu schweigen von U. Brieler (*) Institut für Philosophie, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_14

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zahlreichen Diskussionen und Interviews. Es ist ein solcher schmaler Text, den Adorno am 25. Juni 1969 im Süddeutschen Rundfunk vorträgt. Wenige Wochen später, in ihrer Ausgabe vom 27. Juli 1969, wird die „Zeit“ diesen Text mit dem Titel „Kritik“ (Adorno 2003e, S. 786 ff.) veröffentlichen. Am 3. August 1969 stirbt Adorno. „Kritik“ ist einer seiner letzten Texte, wenn nicht der zuletzt komponierte. Es gibt keinen Grund, diese Tatsache überzubewerten. Allein in der Interpretation drängt sich ihr Gewicht auf. Neun Jahre später, es ist der 27. Mai 1978, hält Michel Foucault einen Vortrag vor der Société française de Philosophie. Zur Erstveröffentlichung des Textes, 1990 im Periodikum der Société, erhält er von den Herausgebern die Überschrift „Was ist Kritik?“ (Foucault 1992). Foucault selbst deutet einen derartigen Titel in seinen ersten Worten an, hält ihn aber in der Schwebe, betont den Charakter der Problematisierung, des Befragens dessen, was sich als Praxis der Kritik artikuliert. Es ist Foucault nicht selbstverständlich, was Kritik ist, ebenso wie Adorno Kritik für eine alles andere als gängige geistige Münze hält. Konformität ist die Regel, Kritik die Ausnahme, daher das zu Erklärende dieses ungewöhnlichen Phänomens. Beide erfassen Kritik als eine geistige Praxis, die es zunächst zu verstehen, dann zu betreiben gilt. Foucault spricht von der „sonderbaren Kritik-Aktivität“ (Foucault 1992, S. 19), Adorno von dem dialektischen Rätsel der „neuzeitlichen Emanzipation des kritischen Geistes und seiner gleichzeitigen Dämpfung“ (Adorno 2003e, S. 787). Beide zielen auf einen Raum, der durch die Arbeit der Kritik entsteht und existiert: ohne Kritik keine Öffentlichkeit, keine Öffentlichkeit ohne Kritik. Denn „Kritik ist aller Demokratie wesentlich. (. . .) Sie wird durch Kritik geradezu definiert“ (Adorno 2003e, S. 785), sie ist „für die moderne Zivilisation typisch“ (Foucault 1992, S. 8). Wo die philosophische Kritik systematisch ihren disziplinären Raum überschreitet, Foucault sieht dies exemplarisch in Kants „Was ist Aufklärung?“ in Szene gesetzt, geschieht dies in Gestalt von „Appell-Effekten an die Öffentlichkeit“ (Foucault 1992, S. 16). Kritik existiert also „nur in einem Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst“ (Foucault 1992, S. 8 f.). Sie arbeitet an der „öffentlichen Meinung – dem wichtigsten Medium aller politisch wirksamen Kritik“ (Adorno 2003e, S. 787). Als eine besondere Form geistiger Praxis zielt Kritik auf eine öffentliche Wirkung, die sie weder vorhersehen noch diktieren kann. Kritik ist erdverbunden wie vogelfrei. Es ist kein Zufall, dass Foucault in seinem Vortrag vom 27. Mai 1978 erstmals öffentlich über seine Beziehungen zur Kritischen Theorie nachdenkt. Er spricht von einer „bemerkenswerten Nachbarschaft zu den Arbeiten der Frankfurter Schule“ (Foucault 1992, S. 22), von einer „Position der Brüderlichkeit gegenüber der Frankfurter Schule“ (Foucault 1992, S. 25 f.). Diese überraschenden Eingeständnisse markieren ein Terrain von Nähe und Abstand, das im Anspruch, Kritik zu üben, seine innigste Übereinstimmung findet, so wie Differenzen erscheinen, konkretisiert sich die Kritik zu einer spezifischen geistigen Praxis.

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Definition der Kritik

Kritik ist eine geistige Arbeit, die getan werden muss. Ohne kritische Praxis existiert keine Kritik, ohne Kritiker keine kritische Praxis. Das Lamento, es gäbe keine Kritik, ist daher zunächst eine Beobachtung: Es gibt keine Kritiker, die diese Arbeit tun,

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niemand, der Nein sagt. Denn am Anfang der Kritik steht dieses Nein. Das Kritisierte, was ist, soll nicht mehr sein. Kritik ist die geistige Praxis des Nein-Sagens. Wo Adorno von Kritik spricht, erscheinen Bilder des Ungehorsams und der Unbotmäßigkeit: Nicht-Mitmachen, Gegen-den-Strom-schwimmen, der-Sand-imGetriebe-sein, das-Einverständnis-aufkündigen. Die gesamte Arbeit Adornos ist auf die Möglichkeit des Bruchs mit einem geistlosen Funktionieren ausgerichtet. Adornos Werk, fixiert in der Vokabel der „negativen Dialektik“, spricht einen Generalverdacht gegen das fraglos Gegebene und Akzeptierte, das bewusstlos Angepasste und Opportune aus. Kritik ist der Akt der Trennung zwischen dem Gegebenen und dem Durchdachten, ist Resistenz. „Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt“ (Adorno 2003e, S. 785). Ziel von Kritik ist Mündigkeit. Der Mitläufer ist der Mitmacher, der Mündige, sein Gegenpart, ist der Opponent. „Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet; der nicht bevormundet wird. Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt“ (Adorno 2003e, S. 785). Foucault beginnt seinen Vortrag von 1978 mit einer schnellen, vorläufigen Definition der „Aktivitäten, die den Namen Kritik tragen“. Sie besitzen eine „Gemeinsamkeit“: „eine bestimmte Art zu denken, zu sagen, zu handeln, auch ein bestimmtes Verhältnis zu dem, was existiert, zu dem, was man weiß, zu dem, was man macht, ein Verhältnis zur Gesellschaft, zur Kultur, zu den anderen auch – etwas, was man die Haltung der Kritik nennen könnte“ (Foucault 1992, S. 8). Die kritische Denkungsart ist also zunächst ein reflektierter Weltbezug, nicht mehr. Sie ist alles andere als ein Besitz oder eine exklusive Kompetenz. In dieser Erstaufnahme fungiert Kritik als ein Apriori für Jedermann, kein Privileg von Experten. Wohl aber kann die kritische Haltung von bestimmten Leuten angenommen und praktiziert werden, mit Konsequenzen, die das gesamte Vorhaben der Kritik grundieren. Denn die Kritik schafft eine Konstellation, auf die man sich einlässt, eine Haltung, die man einnimmt. Der Kritiker versteckt sich nicht, er macht sich mit seiner Kritik öffentlich identifizierbar. Foucault gibt der Entstehung der modernen Kritik einen präzisen historischen Ort. Er platziert sie in die Sattelzeit des 15. und 16. Jahrhunderts, die durch das Doppelereignis von reformatorischer Rebellion und Geburt des frühneuzeitlichen Staates charakterisiert ist. Beide Phänomene erzeugen eine „wirkliche Explosion der Menschenregierungskunst“ (Foucault 1992, S. 10). Die Entfaltung von Individualgewissen, um die eigene Seele zu führen, und von Staatsapparaten, um Menschen kontinuierlich politisch zu führen, bringt die Frage nach dem richtigen Regieren hervor. Exakt hier sieht Foucault den Ursprungsherd der Kritik. Denn „in jener großen Unruhe“ entsteht, „was ich die kritische Haltung nenne. Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen“ (Foucault 1992, S. 11 f.). Die Kritik ist eine Reaktion auf eine Zumutung, die nicht hinzunehmen

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ist. Foucault begreift sie als „eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden“ (Foucault 1992, S. 12). Diese Kritik ist ein praktischer Akt und im höchsten Maße reflektiert. Foucault nennt diese Doppelfigur die „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit“ (Foucault 1992, S. 15). Die neuzeitliche Kritik ist ein historisches Ereignis wie eine gesellschaftliche Praxis, die man lernt und die Anforderungen stellt. Um jedes anarchistische Missverständnis zu vermeiden, spitzt Foucault seine erste Formulierung zu. „Ich wollte sagen: >Nicht so, nicht dermaßen, nicht um diesen Preis regiert zu werden Mündigkeit < nicht in einem phrasenhaften Sinn und selber genauso hohl verwenden will (. . .), dann muß man zunächst einmal wirklich wohl die unbeschreiblichen Schwierigkeiten sehen, die in dieser Einrichtung der Welt der Mündigkeit entgegenstehen“ (Adorno 1971a, S. 144). Diese Schwierigkeiten wiegen schwerer als die von Kant benannten charakterlichen Hindernisse der Faulheit und Feigheit. Auch Foucault knüpft an den Autor der drei „Kritiken“ an. Kants Frage nach den Grenzen der Erkenntnis verlagerten die politische Dimension der Kritik ins Epistemische, beides ist „gegeneinander verschoben“ (Foucault 1992, S. 18). In zwei programmatischen Arbeiten, „Was ist Kritik?“ und „Was ist Aufklärung?“ (Foucault 2005b), versucht Foucault eine erneute Verschiebung. Er repolitisiert Kant, um von der Frage nach den Grenzen der Vernunft zur eigentlichen Frage der Aufklärung, der Mündigkeit, zurückzukehren, d. h. „die Frage der Erkenntnis im Hinblick auf die Herrschaft aufzuwerfen (. . .) aufgrund eines entschiedenen Willens nicht regiert zu werden“ (Foucault 1992, S. 41). Dieser Wille zur Herrschaftskritik immunisiert gegen moralistische Versuchungen. Kritik ist keine Wertehuberei. Adorno wird nicht müde, die Gefahr zu betonen, „der idealistischen Phrase (zu) verfallen“, an „ewige Werte zu appellieren“ und „edles existenzielles Gerede“ (Adorno 2003i, S. 675 f., 679) an die Stelle einer Kritik wirklicher Verhältnisse zu setzen. Kritik ist immer konkret und dies schließt für Adorno zwingend die Kritik der Alibi-Kritiker mit ein. „Ehemals zeichneten sie wie Kant und Hume die Briefe mit ‚untertänigster Knecht‘ und unterminierten die Grundlagen von Thron und Altar. Heute nennen sie Regierungshäupter mit Vorna-

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men und sind mit jeder künstlerischen Regung dem Urteil ihrer illiteraten Prinzipale untertan“ (Adorno und Horkheimer 1987, S. 158). Diese kritischen Kritiker als „Persönlichkeitsphilosophen“ (Adorno und Horkheimer 1987, S. 156) und „Bildungsfreunde“ (Adorno und Horkheimer 1987, S. 152) trifft beständig Adornos Abneigung. Sie ereifern sich für die Persönlichkeit gegen die Vermassung, für die Exklusivität einer hohen Kultur, vor deren blutigen Bedingungen sie die Augen verschließen. Die Kritik ist nie gefeit vor dem Pakt mit dem Gegner und „seit Machiavelli und Hobbes steht die Vernunft jedem zu Diensten“ (Adorno und Horkheimer 1987, S. 110). Der „deutsche Innerlichkeitsapostel“ (Adorno und Horkheimer 1987, S. 228), heute unzählbar geworden, ist die besondere Spielart einer Kritik, die im Wertehimmel beklagt, was sie in der Wirklichkeit als alternativlos betreibt. Die Genealogie der Kritik bringt stets neue Figuren hervor: den „angestellten Philosophen“ (Adorno 2003a, S. 83) und seinen wasserdichten Standpunkt, den feinen Dichterfürsten mit seiner Überheblichkeit den Leuten gegenüber, den Bohème in seiner artifiziellen Pose. Adorno und Foucault favorisieren den Kritiker des Alltäglichen, der im Bodensatz der gesellschaftlichen Verhältnisse die geschichtliche Substanz der Welt findet. Sie treffen sich in der Abneigung gegen jede moralisierende Gestalt der Kritik. Selbst in Foucaults Spätwerk, wo diese Gefahr greifbar scheint, bleibt sein Begriff der Ethik präzisen Praktiken verbunden, die sich moralischer Zurichtung entziehen.

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Kritik als Haltung

Kritik ist mit einer Entscheidung verbunden. Diese Bindung bürgt und verpflichtet die kritische Aussage. Kritik ist daher nicht delegierbar. Der Kritiker muss für sie einstehen. Foucaults Reise in die Antike dient dem Ziel, diese lebenspraktische Grundlage der Kritik als eine „individuelle und zugleich kollektive Haltung“ (Foucault 1992, S. 41) aufzuzeigen. Seine Sympathie gilt erkennbar den Kynikern, den antiken Kritikern par excellence, die mit der Praxis des Wahrsprechens, der parrhesia, eine Lebensform in die Welt bringen, in der die Wahrheit ihre Legitimation aus der Negation der Konventionen zieht. Das alltägliche Leben ist die Kritik der falschen Existenz in einer falschen Welt. Die Aufforderung, anders zu leben, beweist sich in der öffentlichen Existenzführung. Jeder kann es sehen, jeder beurteilen. Der zentrale Beitrag der Kyniker innerhalb einer Genealogie der Kritik besteht darin, das eigene Leben zum Zentrum eines philosophischen und politischen Projekts zu machen. Man will sich nicht verstecken. Die Wahrheit der Kritik dokumentiert sich in der öffentlichen Existenz. „Das Leben der Kyniker ist ein kämpferisches Leben, das beides will: sich selbst und die Welt zu verändern“ (Hardt 2010, S. 158). Das Erbe der Kyniker treten die Revolutionäre und avantgardistischen Künstler des 19. Jahrhunderts an, deren Existenzweise der gelebte Bruch mit den Werten und Konventionen der herrschenden Wahrheitsregime ist. Haltung ist für Foucault der entscheidende Begriff. Es geht um die „permanente Reaktivierung einer Haltung (. . .), das heißt eines philosophischen ethos, das

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man als permanente Kritik unseres geschichtlichen Seins charakterisieren könnte“ (Foucault 2005b, S. 699). Man muss Kritik als „eine Haltung, als ein ethos, als ein philosophisches Leben begreifen, bei dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich historische Analyse der uns gesetzten Grenzen und Probe auf ihre mögliche Überschreitung ist“ (Foucault 2005b, S. 707). Kritik sucht daher nicht nach Universalien, sondern wird „eine historische Untersuchung, welche die Ereignisse durchläuft, die uns dazu veranlasst haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen, zu konstituieren und zu erkennen“ (Foucault 2005b, S. 702). Kritik hat also ihren Preis, nicht in Heller und Pfennig, wohl aber in den Konsequenzen, die der Kritiker auf sich nimmt. Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin auch nicht um. Kritiker sind dagegen diejenigen, die sagen, was sie tun, und tun, was sie sagen. Kritik wird so in doppelter Weise widerständig. Sie aktualisiert den stets wiederkehrenden Moment der Entscheidung gegen all „das Institutionelle, Erlaubte, Eingebaute“ (Adorno 2003a, S. 201). Und sie legt ein Veto ein gegen die Verlängerung einer untragbar gewordenen Gegenwart, plädiert für die Überschreitung des Vorgegebenen. Kritik existiert nur, wenn kritisiert wird. Wenn die Kritik eine Haltung ist, die man qua reflektierter Entscheidung einnehmen kann, dann ist das Auftauchen des Kritikers ein Ereignis. Aber sie basiert auf einem erlernbaren Vermögen, d. h. auf Mündigkeit: Fundament, Ziel und Rückgrat der Kritik. Adorno und Foucault teilen die Überzeugung, dass Mündigkeit keine anthropologische Naturanlage, keine spontane gesellschaftliche Gegebenheit, keine durch politische Institutionen auf immer garantierte Kompetenz ist. Man muss „Mündigkeit nicht als eine statische, sondern ganz konsequent als eine dynamische Kategorie, als ein Werdendes und nicht als ein Sein“ (Adorno 1971a, S. 144) begreifen. Mündigkeit gewinnt ihr Vermögen in der Praxis des Widerstehens gegen Autoritäten. Sie ist daher stets in Gefahr, bleibt ein gefährlicher und risikobehafteter Akt, steht auf des Messers Schneide und kann der politischen Entschiedenheit nicht entgehen. Gerade hierin liegt für Foucault die Attraktion des antiken Wahrsprechens, der ersten systematischen Erprobung von Mündigkeit. Denn „parrhesia ist eine verbale Tätigkeit, bei der der Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit ausdrückt und sein Leben aufs Spiel setzt, weil er das Wahrsprechen als eine Pflicht anerkennt, um anderen Menschen (so wie sich selber) zu helfen oder sie zu verbessern. Bei parrhesia gebraucht der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit anstelle von Überredung, die Wahrheit anstelle von Falschheit oder Schweigen, das Risiko des Todes anstelle von Leben und Sicherheit, die Kritik anstelle von Schmeichelei und die Pflicht anstelle von Eigennutz und Gleichgültigkeit“ (Foucault 1996, S. 19). Die Garantie für Mündigkeit ist ihre Praxis. Kritik konzentriert die Gründe, die Mündigkeit verhindern. Man will „aus seiner Unmündigkeit heraustreten“ (Foucault 1992, S. 41) und deren Grundübel ist die „beflissene Anpassung ans je Geltende“ (Adorno 2003h, S. 484), die kritiklose Hinnahme des Zustands der Welt. Kritik ist für Adorno ein kreativer Akt, der stets aufs Neue die Grundkonstellation reaktiviert, in der sich Mündigkeit aus der Autorität entfesselt und damit das Denken beginnt. Denn „Denken und geistige Erfahrungen machen, würde ich sagen, ist ein und dasselbe“ (Adorno 1971b, S. 116).

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Da „Herrschaft“ (Adorno) und „Herrschaftszustände“ (Foucault) dem nüchternen Blick nicht entgehen, ist Kritik die immer neue Suche nach Ausdrucks- und Legitimationsformen jenseits der globalen Tatsache der Unmündigkeit. Dem zirkulären Modus der gleichzeitigen Suche und Begründung von Kritikfähigkeit entgeht diese geistige Figur nicht. Alle Probleme und Aporien der Kritik erwachsen dieser Grundkonstellation. Sie sind der kritischen Praxis inhärent, unausweichlich. Kritik hat sich ständig im Blick auf die Probleme zu erneuern, die sie identifiziert. Foucault ist dies nach dem Auslaufen der revolutionären Bewegungen der 60erJahre ein besonderes Anliegen (Brieler 2008). Statt sich in der neuen Unübersichtlichkeit und so komplizierten Komplexität zu verlieren, gilt es, neue Formen der Kritik zu entwickeln. „Wir müssen wieder ganz von vorne anfangen und uns fragen, worauf wir die Kritik unserer Gesellschaft in einer Situation stützen können, in der die bisherige implizite oder explizite Grundlage unserer Kritik weggebrochen ist“ (Foucault 2003e, S. 514). Wer Mündigkeit erlernt und behauptet, befindet sich daher im Zwist mit allen, die mächtig sind oder sein wollen. Er steht in Distanz zu den Funktionären des Wissens und der Politik, wie immer ihr Name sein mag: ein geistiges Überlebensprinzip, eine politische Notwendigkeit. Der Kritiker sitzt oft und ungewollt zwischen allen Stühlen und Lagern. Er macht es keinem gerecht, platziert sich etwas abseits vom Getümmel, aber geistig mittendrin, mit guter Sicht und heißem Herzen, aber ohne sich mit einem Lager gemein zu machen. Kritik heißt Sich-Einlassen und Distanzieren. Es gibt Dinge, die alle Kritik verdienen, aber kein Subjekt und keine Sache darf sich der Kritik entziehen. Aus der Verpflichtung auf eine Überzeugung resultiert für den Denkenden keine Kritiklosigkeit, sondern ein Maximum an kritischer Anspannung. Adornos „Kritik“-Text bebt von diesem Impuls der intellektuellen Selbstständigkeit, die nichts weniger als Weltabgewandtheit ist. Die Autonomie existiert und legitimiert sich im mündigen Urteil zu den Dingen der Welt. Sie „ist“ dadurch, dass sie Stellung bezieht und die Welt aus einem kritischen Winkel beobachtet. Und durch diese Stellungnahme dient sie denjenigen, die der praktischen Kritik an den herrschenden Zuständen zuneigen, so überaus mehr, als wenn sie sich fraternisieren würde. Die kritische Haltung weiß daher immer um die anderen. Kritik will denen das Wort geben, die sprachlos sind: „Meine Kritik hat das Ziel, es anderen zu ermöglichen zu sprechen, ohne dem Recht zu sprechen, das sie haben, Grenzen zu setzen“ (Foucault 2002a, S. 1016). Sie suspendiert die unausgesprochene „Aberkennung des kritischen Rechts denen gegenüber, die keine Position innehaben“ (Adorno 2003e, S. 789). Kritik und Autonomie verlangen so einander. „Das Denken ist die Freiheit gegenüber dem, was man tut, die Bewegung, durch die man sich davon loslöst“ (Foucault 2005l, S. 732). Foucaults analytischer Focus ist folgerichtig „die Art und Weise, wie die Individuen, frei in ihren Kämpfen, in ihren Konfrontationen, in ihren Projekten sich als Subjekte ihrer Praktiken konstituieren oder im Gegenteil die Praktiken zurückweisen, die man ihnen vorgibt“ (Foucault 2005e, S. 854). Denn Kritik ist parteiisch und ungerecht. Adorno und Foucault verschweigen diese Ambition nicht. Kritik versteht sich als ein Element der Kräfteverhältnisse, in die sie eingreift. Max Horkheimer hat diese agonistische Haltung des Kritikers präzise

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fixiert: „Sein Beruf ist der Kampf, zu dem sein Denken gehört, nicht das Denken als etwas Selbständiges, davon zu Trennendes“ (Horkheimer 1988, S. 190). Foucault affirmiert diese Position: „Die Kritik hat nicht die Prämisse eines Denkens zu sein, das abschließend erklärt: Und das gilt es jetzt zu tun. Sie muss ein Instrument sein für diejenigen, die kämpfen, Widerstand leisten und das, was ist, nicht mehr wollen“ (Foucault 2005d, S. 41). Kritik ist Kampf und nicht Diskurs. Wo dieser auf Synthese sinnt, sucht Kritik die Trennschärfe, wo dieser versöhnen will, sucht Kritik die Zuspitzung, wo dieser auf Konsens zielt, sucht Kritik die Kampfposition. Der Kritiker ist daher eine gefährliche wie gefährdete Figur. Im Widerspruch ist es unendlich schwer, ein neues, ein kritisches Wort in die Welt zu bringen. Adorno und Foucault ist hier nichts fremder als Lagermentalität, nichts abwegiger als Gefolgschaftstreue. Mit den Protestbewegungen ihrer Zeit sympathisierten sie. Aber sie beharrten auf ihrem eigenständigen Urteil. Wer Kritik übt, darf sich nicht erpressbar machen, indem er sich mit Haut und Haaren einer Sache verschreibt – und sei es auch die richtige. Kritik schafft Verwicklungen für den, der sie ernst nimmt. Man kann sich nicht heraushalten. Auch sich selbst nicht. Die kritische Aktivität macht etwas aus dem Subjekt der Kritik. Er wird zum Objekt der Analyse, auch der eigenen, er verzichtet auf Selbstimmunisierung und Exterritorialität. Adornos bekundete „Ohnmacht“, die der Kritiker zu einem „Moment, dessen macht, was er denkt und vielleicht auch, was er tut“ (Adorno 1971a, S. 147), ist nur ein Modus des kritischen Selbstbezugs. Foucaults Akzent auf die „kritische Arbeit des Denkens an sich selbst“ (Foucault 1989, S. 15) benennt ein letztes Moment der kritischen Haltung: durch die Kritik im Denken ein anderer zu werden.

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Objekte der Kritik

Kritik zielt auf präzise Objekte. Sie hat an erster Stelle Mechanismen im Blick, die Autonomie als Grundlage von Mündigkeit verheeren, im Großen wie im Kleinen. Kritik greift diese Muster der Unmündigkeit an der Wurzel, da, wo der Herr dominiert und Selbstunterwerfung regiert, findet sie ihre exklusiven Gegenstände. Emanzipation und Modernisierung erscheinen in dieser Perspektive als ein umkämpfter Prozess herrschaftlicher Subjektivierung. Wo Freiheitschancen wachsen, bleibt die Bedrohung der (Selbst)Unterwerfung doch gegeben. In der Diagnose der Verflechtung von Herrschaft und Subjektwerdung finden Adorno und Foucault zueinander. Denn „je anonymer und funktioneller die Macht wird, umso mehr werden die dieser Macht Unterworfenen individualisiert (. . .) Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer > ideologischen < Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der > Disziplin < produziert worden ist“ (Foucault 1977a, S. 248 ff.). Adorno und Foucault teilen die Überzeugung, dass die alltäglichen Prozesse der Vergesellschaftung, die unterhalb, wenn auch in Korrespondenz zur ökonomischen, politischen und juridischen Sphäre stattfinden, dem Subjekt tiefste Prägungen antun.

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Foucaults Formulierung „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“ (Foucault 1977a, S. 285) könnte in der „Dialektik der Aufklärung“ stehen. Gemeinsam ist ein Denkvorhaben, das in den unscheinbaren Formen des gesellschaftlichen Umgangs ebenso grundlegende Einsichten über die Strukturen tatsächlicher Herrschaft findet wie in den amtlichen Verfassungen und opulenten Philosophien. Adorno und Foucault führen nicht ständig die Kritik der politischen Ökonomie im Munde, um darüber zu vergessen, dass sich das Unrecht durch und vermittels der Subjekte vollzieht. Nackte, auch personale Herrschaft existiert, dies bleibt festzuhalten: „Die objektive Tendenz des Systems wird immer vom bewußten Willen derer verdoppelt, gestempelt, legitimiert, die darüber verfügen“ (Adorno 2003b, S. 387). Aber sie ist nicht das letzte Geheimnis moderner Unmündigkeit. Kritik muss tiefer schürfen. Sie muss die historischen Apriori der Normalitäten problematisieren, die hegemonialen Wahrheiten in ihren Verflechtungen mit dem Gesellschaftsgetriebe: „Was man in Frage stellen muss, ist die vorhandene Form der Rationalität. Die Kritik der Macht (. . .) kann sich nicht auf die Institution (. . .) beschränken“ (Foucault 2005f, S. 197 f.). Die Rolle der Philosophie besteht nicht nur darin, „die Missbräuche der Macht der politischen Rationalität zu überwachen“ (Foucault 2005c, S. 166), sondern sie in ihrer subjektgestaltenden Kraft zu kritisieren und damit zu fragen: „Wie kommt es, dass die Rationalisierung zur Raserei der Macht führt?“ (Foucault 1992, S. 24). Im Dreieck von Subjektivität, Macht-Herrschaft und Rationalität findet Kritik ihr zentrales Objektfeld. Diese Optik teilt die Absage an jede Idee eines Wesen des Menschen, einer invarianten Anthropologie. Adornos „Wendung aufs Subjekt“ (Adorno 2003i, S. 90) und Foucaults „Genealogie des Subjekts“ (Foucault 2005m, S. 210) stellen die Doppelfrage: Wie wird man so und wie wappnet man sich dagegen? Beide sezieren in kritischer Absicht die gesellschaftliche MenschenMachung. „Ein aufklärendes Potenzial dürfte allein schon in der Fragestellung liegen, wie man so wurde. Denn es gehört zu dem unheilvollen Bewußtseins- und Unbewußtseinszustand, daß man sein So-Sein – daß man so und nicht anders ist – fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes hält und nicht für ein Gewordenes“ (Adorno 2003i, S. 99). Der kritische Blick Adornos und Foucaults betrachtet Subjektivierung und Herrschaftskonstitution als einen koextensiven Prozess, der erkennbaren Mustern folgt. „Herrschaft wandert in die Menschen ein. Sie müssen nicht, wie Liberale kraft ihrer Marktvorstellungen zu denken geneigt sind, ‚beeinflußt‘ werden. (. . .) Entmenschlichung ist keine Macht von außen, keine wie immer geartete Propaganda, kein Ausgeschlossensein von Kultur. Sie ist gerade die Immanenz der Unterdrückung im System“ (Adorno 2003b, S. 390 f.). Am Beispiel der „Musterung“ (Adorno 2003a, S. 149 ff.) hat Adorno diesen Mechanismus als Paradebeispiel einer dialektischen Subjektivierung erläutert. Der Einzelne wird objektiviert, indem er einem allgemeinen Muster der Gebräuchlichkeit, hier der militärischen Produktivität, unterworfen wird; und er wird subjektiviert, indem er über seine Lebensdaten als ein singulärer Effekt der objektiven Ansprüche identifizierbar wird. Jeder bekommt seine Markierung, sein herrschaftli-

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ches Tattoo. Und die Musterung als Matrix der Menschenerfassung geht ihren ungeplanten Gang über die Personalpolitik der Unternehmen in die Vernichtungslager des unwerten Lebens. Adornos Kritik gilt den Subjektgestalten der Unmündigkeit. Er polemisiert gegen den „Pseudorealismus“, fordert die „Kritik dieses überwertigen Realismus“ (Adorno 1971b, S. 110), vor allem die des obsessesiven Realisten: „Er will um jeden Preis angebliche, wenn auch wahnhafte Realpolitik betreiben. Er denkt und wünscht sich nicht eine Sekunde lang die Welt anders, als sie ist, besessen vom Willen of doing things, Dinge zu tun, gleichgültig gegen den Inhalt solchen Tuns“ (Adorno 2003i, S. 683). Diese Subjektgestalten der Konformität verändern ihre Kleidung. Ihre Erscheinungen aber behalten eine Gestalt der Mimikry, sich gegenüber der Herrschaft klein zu machen, ihr Rädchen und Schräubchen sein zu wollen. Diese Konformität greift durch und deformiert Subjektivität: „Viele haben in Wirklichkeit resigniert, ehe sie auch nur anfangen, und sind dann sich selbst so wenig gut wie dem Geist“ (Adorno 2003h, S. 489). Sie bringt aber auch Subjektivität hervor, wie Foucault in seiner weitsichtigen Vorlesung zur neoliberalen Menschenführung belegt. Seine Analytik der Theorie des Humankapitals lässt nicht nur enge Berührungspunkte mit jenem Menschenschlag erkennen, den Adorno als obsessiven Realisten markiert hatte. Der „Unternehmer seiner selbst“ (Foucault 2004, S. 214), der die ökonomische Rationalität zum Sozialmuster verallgemeinert, ist dessen jüngste historische Gestalt. Adornos subjektkritischer Blick skizziert einen Sozialcharakter, der Mündigkeit dementiert, da er dessen wichtigste Vermögen nicht besitzt: Erfahrungsfähigkeit und Herrschaftsresistenz. So finden sich beim „Typus des verdinglichten Bewußtseins“, der sich und die anderen den Dingen gleich macht, ebenso „Züge von Unansprechbarkeit“ und die „Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen“ (Adorno 2003i, S. 97 f.), wie „die Bereitschaft, mit der Macht es zu halten und äußerlich dem, was stärker ist, sich als Norm zu beugen“ (Adorno 2003i, S. 93). Adorno konnte diesen Typus in den 60er-Jahren noch als deviante Figur beschreiben. Im Zeitalter der grassierenden Human Resources Lehrstühle ist er die erwünschte Durchschnittsgestalt der zeitgenössischen Menscheningenieure. „Wollte man in einem Satz zusammendrängen, worauf eigentlich die Ideologie der Massenkultur hinausläuft, man müßte sie als Parodie des Satzes: ‚Werde was du bist‘ darstellen: als überhöhende Verdoppelung und Rechtfertigung des ohnehin bestehenden Zustandes, unter Einbeziehung aller Transzendenz und aller Kritik. (. . .) Vorweg erfahren die Einzelnen sich selber als Schachfiguren und beruhigen sich dabei“ (Adorno 2003c, S. 476 f.). Indem die Menschen sich immer weniger als tatsächliche Individuen, also als Unteilbare und Unverwechselbare, mit einer vollen Lebensgeschichte begegnen, sondern als Agenten flexibler Systemzwänge, erstickt ihre Sozialität zur Sache. Dieser subjektkritische Blick verliert sein Fundament nie aus den Augen. Was Adorno die wachsende „organische Zusammensetzung des Menschen“ (Adorno 2003a, S. 261) nennt, die Selbstpräparierung der Menschen zur verwertbaren Masse, hat Foucault als Geschäftsprinzip beschrieben: den Gleichklang von „Akkumulation der Menschen und Akkumulation des Kapitals“ (Foucault 1977a, S. 283). Sein

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bekannter Appell „Verliebt euch nicht in die Macht“ (Foucault 2003a, S. 180) ist beileibe nicht nur eine Absage an jede autoritäre Anmaßung. Er ist zugleich eine Aufforderung, den Subjektivierungsprozessen höchste Aufmerksamkeit zuzubilligen. In der Ära der „Ichlosigkeit“ (Adorno 2003a, S. 73) stellt sich diese Anforderung mit besonderer Dringlichkeit. An dieser Stelle baut Foucault eine deutliche Differenz zu Adorno auf. Gegen den gespaltenen Vernunftbegriff der „Dialektik der Aufklärung“ reklamiert er die Analytik von Rationalitätstypen, die nach eigensinnigen Rhythmen soziale Felder und Subjekte strukturieren. Hieraus erwächst sein Interesse am liberalen Denken. Für Adorno ist der Liberalismus unwahr, weil er systematisch die Bedingungen außer Acht lässt, die seine Freiheitsversprechen dementieren: Freiheit als Privileg, Subjektivierung unter systematischer Verkennung der systemischen Zwängen. Für Foucault ist der Liberalismus eine rationale Praxis, da er Technologien der Menschenführung erfindet, die freiwillige Unterwerfung provozieren: Freiheit als Machtspiel, Subjektivierung als Element der systemischen Zwänge. Nähe und Differenz einer kritischen Subjekttheorie kondensieren sich als zwei in eins. Adorno akzentuiert das Konforme, das Übermächtige der Apparate, Foucault deren Rohstoff, die historischen Kräfte der Menschen. Der gemeinsame Gegenstand ihrer Kritik bleibt die Verfasstheit der Subjekte. Foucaults Genealogie akzentuiert dabei zunehmend das Moment der Selbstregierung als einer problematischen Vergesellschaftung. Zum einen führt dies zu einer Neubewertung individueller und damit kritischer Handlungsräume: „Macht kann nur über > freie Subjekte < ausgeübt werden, insofern sie > frei < sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen“ (Foucault 2005g, S. 287). Zum anderen zum Versuch, die aktuellen Vollzüge von Subjektivierung historisch präziser zu begründen. Die Studien zur Bio-Macht und zur Gouvernementalität versuchen, das Verhältnis von Subjektivität und Staat neu zu bedenken. Es sind staatskritische Untersuchungen, da sie den modernen Staat als eine „Matrix der Individualisierung“ (Foucault 2005g, S. 278) begreifen, der Subjektivitäten hervorbringt und formt, reguliert und normalisiert. Als Geschichte der Gegenwart entfalten sie einen diagnostischen Blick auf die Krisenanfälligkeit dieser Subjektivierungen. Je politisch umkämpfter der Wille zur Mündigkeit, um so problematischer die systemische Einfassung. Der kritische Blick verortet hier das Krisenhafte aktueller Subjektivierung: „Mir scheint in der Tat, dass sich hinter der gegenwärtigen ökonomischen Krise und den großen Gegensätzen und Konflikten, die zwischen reichen und armen Nationen (industrialisierten und nichtindustrialisierten Ländern) absehbar werden, eine Krise der Regierung abzeichnet. Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung. (. . .) Sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt worden, natürlich nicht von denen, die die Führung innehaben, die regieren, selbst wenn sie nicht umhinkönnen, die Schwierigkeiten zur Kenntnis zu nehmen. Wir stehen vielleicht am Beginn einer großen krisenhaften Neueinschätzung des Problems der Regierung“ (Foucault 2005h, S. 116 f.). In der Krise dieser Regierung findet heutige Kritik ihr eigentliches Aufgabenfeld.

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Aufgaben der Kritik

Kritik betreibt Widerständigkeit. Wenn Mündigkeit Voraussetzung und Ambition jeder kritischen Praxis ist, dann arbeitet sie systematisch an der Demontage von Autorität. Foucault nennt dieses Ziel „Entunterwerfung“ (Foucault 1992, S. 15), Adorno an ungezählten Stellen „Widerstand“. Ihr Denken artikuliert sich in der Ausformulierung dieses Anspruchs, so wenn Foucault behauptet: „Auf ihrer kritischen Seite (. . .) ist die Philosophie das, was alle Erscheinungen der Herrschaft, auf welcher Ebene und in welcher Form auch immer sie sich darstellen, immer wieder politisch, ökonomisch, sexuell, institutionell usw. in Frage stellt“ (Foucault 2005a, S. 902). Und Adorno ergänzt: „Philosophie, die dem genügt, was sie sein will (. . .), hat ihren Lebensnerv am Widerstand gegen die gängige Übung und das, dem sie dient, gegen die Rechtfertigung dessen, was nun einmal ist“ (Adorno 2003l, S. 460 f.). Die Diagnose heißt: Mündigkeit muss hergestellt, erkämpft und behauptet werden. Sie ist kein Gnadenbrot der Freiheit, des Staates und am allerwenigsten versteht sie sich von selbst. Mündigkeit existiert im Widerstehen gegen die Anmaßungen der Autorität und diese Praxis des Ausgangs aus der selbst- und fremdverschuldeten Unmündigkeit heißt Kritik. Wenn Adorno formuliert: „Das Individuum (. . .) überlebt heute nur als Kraftzentrum des Widerstandes“ (Adorno 1971b, S. 118), dann beschreibt dies eine ständige Aufgabe. Denn Mündigkeit kann „gar nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden (. . .), weil sie an allen, aber wirklich an allen Stellen unseres Lebens überhaupt erst herzustellen wäre, daß also die einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit darin besteht, daß die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, daß die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist“ (Adorno 1971a, S. 145). Das Unbehagen Adornos und Foucaults gegen jeden Essentialismus erklärt sich aus dieser Einsicht. Es gibt keine letzte Instanz, die Mündigkeit garantiert. In einer Welt durchdringender Herrschaft hält allein der kritische Blick einen Anspruch aufrecht, den diese Wirklichkeit verrät. „Denkende Subjektivität ist aber gerade, was nicht in den von oben her heteronom gestellten Aufgabenkreis sich einordnen lässt“ (Adorno 2003a, S. 143). Daher steht die „Aufgabe, Widerstand zu kräftigen, als Anpassung zu verstärken“ (Adorno 1971b, S. 110). Adorno und Foucault radikalisieren den Gedanken der Verteidigung des kritischen Subjekts in scheinbar unterschiedliche Richtungen. Adorno versucht, Erkämpftes zu bewahren: da „in der gegenwärtigen Phase der geschichtlichen Bewegung deren überwältigende Objektivität einzig erst in der Auflösung des Subjekts besteht, ohne daß ein neues schon aus ihr entsprungen wäre, stützt die individuelle Erfahrung notwendig sich auf das alte Subjekt, das historisch verurteilte, das für sich noch ist, aber nicht mehr an sich“ (Adorno 2003a, S. 14). Foucault greift entschiedener nach vorne, reaktualisiert aber in der Forderung nach einer mündigen Selbstführung im Kern die These vom Individuum als widerständigem Kraftzentrum: „Ich denke, dass es nur einen einzigen praktischen Ausgang für diese Idee des Selbst gibt, der nicht vorweg gegeben ist: Wir müssen aus uns selbst ein Kunstwerk machen“ (Foucault 2005i, S. 474). Kritik muss die heterogenen Prozesse

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kenntlich machen, die Mündigkeit systematisch unterminieren, um kritische Subjektivität zu generieren. Kritik besitzt daher fraglos einen Anspruch. Man kritisiert nicht um der Kritik willen. Es geht um Auswege und Rettungen. Aber Kritik ist eine zirkuläre Bewegung. Nur wenn man die Welt für kritikwürdig hält, entdeckt man Kritisierbares. Erst im Akt der Kritik entziffert sich die „Möglichkeit des Besseren“ (Adorno 2003a, S. 26). Für wen alles in Ordnung ist, der kann Kritik nur in Kategorien der Nestbeschmutzung denken. Selbstverständlich steht der Kritiker auf einem Grund und Boden: im Widerspruch. Das ist sein normatives Fundament. „Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau“ (Adorno 1996, S. 261). Kritik muss sich daher „an die anfälligen Stellen der verhärteten Realität (. . .) heften, an die, wo die Brüche nach außen kommen“ (Adorno 2003k, S. 767). Wo die vielen Ja sagen, sagt Kritik Nein. Kritisches Denken steht konsequenterweise unter Begründungszwang. Wenn einer Ja sagt zu dem, was ist, versteht sich das von selbst. Wer Nein sagt, hat dies zu begründen. Kritik problematisiert zunächst diesen Zwangsmechanismus: „Stets wieder findet man dem Wort Kritik (. . .) das Wort konstruktiv beigesellt. Unterstellt wird, daß nur der Kritik üben könne, der etwas Besseres anstelle des Kritisierten vorzuschlagen habe. (. . .) Durch die Auflage des Positiven wird Kritik von vornherein gezähmt und um ihre Vehemenz gebracht“ (Adorno 2003e, S. 792). Adorno nennt diese „Anrufung des Positiven“ ein „antikritisches Schema“ (Adorno 2003e, S. 788), das Kritik verhindert, beschneidet. „Kritik, so wird immer wieder vorgebetet, soll verantwortlich sein“ (Adorno 2003e, S. 788). Diese reduktive Gestalt der Kritik sichert Affirmation und schließt die Reihen: „Die heute noch auf ihr Ethos und ihre Menschlichkeit pochen, lauern nur darauf, die zu verfolgen, die nach ihren Spielregeln verurteilt werden (. . .) In Deutschland läuft vielfach das Engagement auf Geblök hinaus, auf das, was alle sagen, oder wenigstens latent alle gerne hören möchten“ (Adorno 2003f, S. 429). Adorno und Foucault werden nicht müde, sich dieser Normativitätsfalle zu entziehen. Beim Herrn hat man sich nicht normativ auszuweisen, wenn man auf eine Existenz in Mündigkeit hinzielt. Beide wollen „Ohne Leitbild“ (Adorno 2003j) agieren, so Adornos Forderung gegenüber einer normativen Ästhetik. Gegen die Vertreter der „aufgewärmten Ewigkeitswerte“ und der „anbefohlenen Norm“ (Adorno 2003j, S. 293 f.) setzen sie auf ein historisches Apriori des Kritischen. Sie kennen die Genealogie der Moral und die Verfasstheit der Werte in ihrer rechtlichen Gestalt. Aber deren Anrufung bleibt Schall und Rauch, werden diese Ansprüche nicht an aktuellen Problemen und in den tatsächlichen Kämpfen erprobt, auch und gerade gegen die geltenden Normen. Kritik akzeptiert nicht fraglos, was sich als Normalität in Recht und Politik, Kultur und Religion gibt. Sie formiert den Geist als Waffe der Antiautorität. Die Kritik entsteht nicht nur historisch aus resistenten Akten. Foucault nennt die Bibel-, die Rechts- und Autoritätskritik als Ausgangsherde der kritischen Bewegung (Foucault 1992, S. 12 ff.). Sie ist im Kern antiautoritär, da im „Spiel zwischen Regierungsintensivierung und Kritik“ (Foucault 1992, S. 14) ihr Ort, ihr Einsatz, ihre Ziele permanent zu befragen sind. Radikal historisch und im Kontext ihres Auftau-

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chens wirksam muss sie sich ständig selbstkritisch in Frage stellen und erneuern. Das Fundament der Kritik bleibt die Instabilität der Verhältnisse, die sie befragt. Kritik ist die Problematisierung der Normativität im Moment ihres Fragwürdigwerdens. Normativität entsteht dabei zunächst über Verfahren einer „immanenten Kritik“ (Adorno 1971a, S. 146), die das Bestehende am eigenen Anspruch misst. Aber Adornos Kritikvorstellung geht weit darüber hinaus. Für ihn ist der Ausgangspunkt jeder streitbaren Normativität das Leiden, und seine die Not wendende Kehrseite, die „Abschaffung des Leidens“ (Adorno 1975, S. 203) in einem gelungenen Leben. „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt“ (Adorno 1975, S. 29). Hier findet sich als zentralem Bezugspunkt die Brücke zur „Idee einer künftigen Gesellschaft als einer Gemeinschaft freier Menschen, wie sie (. . .) möglich ist“ (Horkheimer 1988, S. 185). Freiheit erscheint als eine Perspektive, kein anbefohlener Auftrag, „kein Ideal“, sondern eine gewählte „Verpflichtung“ (Adorno 1971c, S. 47 f.). Bei Foucault ist der Boden der Kritik impliziter. Er ist eine Problematisierung der Tatbestände, die nach Kritik schreien, als Denunziation des Nicht-Tolerablen, des Kritikwürdigen: „Ich sehe lediglich das Unerträgliche“ (Foucault 2002d, S. 250). Foucault geht die Frage der Normativität stärker agonistisch an. Jede Norm ist Resultat eines Kampfes um ihre Geltung. Kritik entsteht in den Kämpfen um die Schaffung von Normativitäten, begleitet sie, forciert sie, denkt sie nach, transzendiert sie. Noch in seiner alternativen Erklärung der Rechte der Menschen betont er: „Wer hat uns also beauftragt? Niemand. Und genau das macht unser Recht aus“ (Foucault 2005n, S. 874). Und er schließt: „Der Wille der Individuen muss sich in eine Wirklichkeit eintragen, für die die Regierungen sich das Monopol sichern wollten, dieses Monopol, das man ihnen Schritt für Schritt jeden Tag aufs Neue entreißen muss“ (Foucault 2005n, S. 874 f.). Mit dieser Haltung legitimieren Foucault wie Adorno die Kritikfähigkeit eines jeden. Es ist die „ausdrückliche Anerkennung des kritischen Rechts denen gegenüber, die keine Position innehaben“ (Adorno 2003e, S. 789), selbst der infamen Leute: „Wir möchten den Inhaftierten die Möglichkeit geben, ganz buchstäblich das Wort zu ergreifen“ (Foucault 2002d, S. 249). Adorno und Foucault treffen sich in der Überzeugung, dass das, was ist, nicht natürlich ist, und das, was kommt, der Kontingenz der Ereignisse und Kämpfe ausgeliefert ist. Kritik ist die geistige Praxis, die Normativität hervorbringt: durch Problematisierung, Verwerfung und Neuschöpfung. Sie ist eine Praxis der grundlegenden Infragestellung. Es muss nicht so sein und so bleiben: das ist der genealogische Imperativ der Kritik. „Philosophisches Ideal wäre, dass die Rechenschaft über das, was man tut, überflüssig wird, indem man es tut“ (Adorno 1975, S. 58).

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Methoden der Kritik

Kritik befragt das Ganze und die Teilchen. Adornos antihegelianischer Affekt, das berühmte „Das Ganze ist das Unwahre“ (Adorno 2003a, S. 55), verliert sich nicht im Kleingedruckten. Er drängt zum Gedanken, wie das alles zu denken ist. Nichts ist

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Adorno ferner als empirisches Fliegenbeinzählen, nichts näher als eine Analytik, die das Bestimmte vom Bestimmenden trennt, ohne seinen Eigenwert aufzuheben. Daher heißt es: „Kritik liquidiert aber nicht einfach das System“ (Adorno 1975, S. 35), sie untersucht seine Wirkungsweisen. In jedem Phänomen, in jedem Detail sind die Elemente zu entfalten, die das alles zusammenhalten. Über die „offene Bestimmung der Einzelelemente“ und die „Mikroanalyse der einzelnen Kategorien“ (Adorno 1975, S. 35) findet sich die engste Nähe zu Foucault, bei ihrem gemeinsamen Versuch, dem langen Schatten Hegels zu entkommen. In der Frage der Gesellschaft scheinen sich die Geister Adornos und Foucaults zu scheiden. Aber nichts ist weniger stichhaltig. Beiden ist Gesellschaft nicht nur unentrinnbarer Erkenntnisraum, sondern stets auch Zwangszusammenhang, ein „Gewaltverhältnis und nicht rational durch die Individuen vermittelt“ (Demirović 2003, S. 21). Adorno hat dieses prekäre Verhältnis stets betont, wie Foucault die Kritik an der expressiven Totalität. Aber dabei bleibt er nicht stehen. Mit der Genealogie entwickelt Foucault einen alternativen Weg der gesellschaftsgeschichtlichen Analytik: from the bottom to the top. Die Mikrophysik der Macht-Analytik vergisst nicht die Souveränität der Staatsapparate, sie reformuliert das Beziehungsnetz. Die Analytik der Disziplinarindividualität vergisst nicht die politische Ökonomie der Produktionsweise. Sie verleiht ihr eine subjektgeschichtliche Dimension. Foucaults Zugriff will die gesellschaftlichen Vernetzungen und Kausalbeziehungen jeweils in ihrer Historizität verfassen. Das Ganze, die Disziplinaroder die Normalisierungsgesellschaft, bildet ein dynamisches Ganzes, dessen Elemente sich kontingent organisieren. Daher verwirft Foucault das Wort Dialektik, das für ihn der geschichtlichen Plastizität der Objekte nicht gerecht wird. Er votiert für eine „historisch-philosophische Praktik“ (Foucault 1992, S. 26 ff.), in der sich die vermeintlichen Universalien (die Macht, der Staat, das Individuum usw.) der historischen Probe stellen, wie die empirischen Untersuchungen von den philosophischen Fragen (die Wahrheit, das Subjekt usw.) grundiert bleiben. Adornos Beharren auf der Dialektik ist keine bloß methodische Entscheidung. Sie wird durch den Gegenstand selbst präpariert, die Realität der gesellschaftlichen Widersprüche. Dies immunisiert ihn gegen eine Handhabe der Dialektik, die Foucault im Auge hat: die affirmative. Für Adorno geht die Negation nicht in eine neue, höhere Positivität über, die in the long run alles zum happy end führt. Adorno vertraut sich der Negativität an, bricht die Identität von Sein und Denken, überlässt das Denken den Widersprüchen, denen es sich verdankt und die es zu erkunden gilt. Die negative Dialektik erkennt die Welt als so kontingent wie gestaltbar an. Denn „das spezifisch Materialistische (konvergiert) mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis“ (Adorno 1975, S. 203). Der Grund der Dinge liegt im Bodensatz. Aufs Ganze zu gehen, heißt geschichtliche Situationen zu identifizieren und begriffliche Instrumente daraufhin anzulegen, die diesem Anspruch nach kritischer Weltveränderung genügen. Adorno wählt hierfür den Begriff der Konstellation, den Walter Benjamin in seinem „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, ein Adorno wohlbekannter Text, bekannt gemacht hat „Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt. (. . .) Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, dass er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlver-

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wahrter Kassenschänke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer sondern eine Nummernkombination“ (Adorno 1975, S. 165 f.). Diese Denkweise erfordert ein äußerstes Maß an Wahrnehmungssensibilität und begrifflicher Feinjustierung, bei strenger Beachtung der kontingenten Koppelungen der Arbeits-, Herrschafts- und Subjektverhältnisse. Adorno verliert nie den „Vorrang des Objekts“ (Adorno 2003k, S. 766) und die „konkrete Einsicht ins Negative“ (Adorno 2003a, S. 267) aus dem Auge. Das Ganze bleibt für ihn unverzichtbar wie problematisch. Schon in den ersten Worten seiner Antrittsvorlesung artikuliert sich dieses kritische Bewusstsein: „Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anfang an auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: Daß es möglich ist, in der Kraft des Denkens die Totalität der Wirklichkeit zu ergreifen. Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich selbst in der Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt; allein polemisch bietet sie dem Erkennenden als ganze Wirklichkeit sich dar, während sie nur in Spuren und Trümmern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten.“ (Adorno 2003m, S. 325). Der polemische Weg ist für Adorno der methodische Versuch, Kritik in der Historizität zu verankern wie Historizität für die Kritik zu reklamieren. Was Adorno das „Denken in Konstellationen“ nennt, ist für Foucault die Analytik von Dispositiven und die Betonung des Ereignisses. Bildet ein Dispositiv die Möglichkeitsbedingung für ein Phänomen, das historische Netzwerk seiner Existenz, so fixiert das Ereignis als „absolute Singularität“ (Foucault 1992, S. 36) den Augenblick seines Auftauchens. In der kritischen Geschichte, die Genealogie heißt, sind dies die entscheidenden Vokabeln, die Foucault in „Was ist Kritik?“ als methodisches Besteck entsprechend schärft. Problematisierung steht bei ihm am Anfang: die Verwandlung von Tatsachen in Probleme, von Normalitäten in Novitäten, von Sein in Werden. Foucault misstraut dem Augenscheinlichen. Die Problematisierung reflektiert das Selbstverständliche, weil im Auge der Kritik nichts selbstverständlich bleibt. Foucault geht dabei von „Tatsachen, Praktiken und Denkweisen (aus), die der Politik Probleme zu stellen scheinen“ (Foucault 2005l, S. 727). Diese „Ausarbeitung einer Gegebenheit zu einer Frage und diese Umwandlung einer Gesamtheit an Hemmnissen und Schwierigkeiten in Probleme, worauf die verschiedenartigen Lösungen eine Antwort zu bringen versuchen, konstituieren den Punkt einer Problematisierung und die spezifische Arbeit des Denkens“ (Foucault 2005l, S. 733). Kritik erscheint hier als eine Kunst der reflektierten Verfremdung: „Kritik heißt herauszufinden, auf welchen Erkenntnissen, Gewohnheiten und erworbenen, aber nicht reflektierten Denkweisen die akzeptierte Praxis beruht“ (Foucault 2005j, S. 221). Kritik findet sich daher stets mit der Problematisierung des hegemonialen Wissens konfrontiert und will den „Nexus von Macht-Wissen“ (Foucault 1992, S. 33) erfassen. Im Gegenzug wird das „disqualifizierte Wissen“, das „‚Wissen der Leute‘“, das „lokale Wissen“ (Foucault 1999, S. 16) als diskursiv ebenbürtig behandelt. Auch der Dienstbote und die Köchin denken. „Selbst in den dümmsten Institutionen und in stummen Gewohnheiten gibt es ein wenig Denken. Kritik ist der Versuch, dieses Denken aufzustöbern und zu verändern. Sie zeigt, dass die Dinge nicht so selbst-

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verständlich sind, wie man meint, damit sie nicht mehr so selbstverständlich hingenommen werden. (. . .) Unter solchen Bedingungen ist Kritik (und radikale Kritik) absolut unerlässlich für Veränderungen“ (Foucault 2005j, S. 222). Jede Schubladenform des Denkens sind Adorno wie Foucault daher zutiefst fremd. Kritik wird nicht „departementalisiert“ (Adorno, 2003d, S. 789). Entweder man lässt die ganze Welt in sein Denken hinein – mit all ihrem Schmutz und Dreck, ihrer Schönheit und ihrem Glanz – oder man lässt es. Entweder man bedient sich aller humanwissenschaftlicher Wissensfelder oder bleibt befangener Experte. Adorno und Foucault sind zwei Partisanen im Feld der Menschenwissenschaften. Was für den einen im Werkzeugkasten der Kritik negative Dialektik, Vorrang des Objekts und Denken in Konstellationen heißt, findet sich bei dem anderen als historisch-philosophische Praktik, Dispositiv und Problematisierung. Bei allen Differenzen im Detail bleibt die gemeinsame Ambition, in kritischer Absicht die Teile und das Ganze zu erfassen.

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Kritik und Praxis

Kritik will Wirkung und weiß um ihre Effekte. Kritik „ist Instrument, Mittel zu einer Zukunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen noch sein wird“ (Foucault 1992, S. 8 f.). Das Denken in seiner kritischen Gestalt ist selbst eine spezifische Praxis, auch die Anstrengung der Kritik bleibt dem Theorie-Praxis-Verhältnis verpflichtet. Kritik weiß um die Risiken, die Anfälligkeiten, die Frustrationen, die aus dieser schwierigen Beziehung erwachsen. Adorno wusste dies in besonderer Weise. Er reagiert auf diese Konstellation mit einer Doppelstrategie. Er verweigert sich jeder Kumpanei, dem „Opiat der Kollektivität“ (Adorno 2003k, S. 779) und hält gleichzeitig Solidarität im Denken. Nur dadurch wird Kritik praktisch. Mike Davis hat in seiner Sozialgeschichte von Los Angeles auf diese bewusste Abstinenz aufmerksam gemacht: „Adorno und Horkheimer zeigten weder sichtbares Interesse am Aufruhr in den örtlichen Flugzeugfabriken während des Krieges, noch waren sie geneigt, das lebhafte Nachtleben im Central-Avenue-ghetto in Los Angeles zu genießen“ (Davis 1994, S. 69). Allein die „Proletarisierung der Intelligenz durch Hollywood“ (Davis 1994, S. 72) wird wahrgenommen, da partiell selbst erlitten. Und Adorno protokolliert die Bedrängungen, der sich Kritik aussetzt. In „Resignation“, einem seiner letzten Texte, sortiert er die Argumente eines dummen Theorie-Praxis-Dualismus, keines dialektischen. Diese Erkenntnisse sind von bleibendem Wert, denn die beschriebene Konstellation dauert an: im Furor der Praxisbesoffenheit – „Distanz von Praxis ist allen anrüchig“ (Adorno 2003d, S. 794) –, im Zwang zur Kollektivität – „Man soll mitmachen. Wer nur denkt, sich selbst herausnimmt, sei schwach, feige, virtuell ein Verräter“ (Adorno 2003d, S. 795), im grundlegenden Verdacht der „repressive(n) Intoleranz gegen den Gedanken, dem nicht sogleich die Anweisung zu Aktionen beigesellt ist“ (Adorno 2003d, S. 795). „Pseudo-Aktivität“ ist das Wort, das Adorno hier und in seinem Aufsatz „Marginalien zu Theorie und Praxis“ (Adorno 2003k) ständig im Mund führt, geht es um

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die Disziplinierung des Denkens zugunsten der politischen Aktion. Das Denken als kritische Arbeit beharrt dagegen auf einer praktischen Funktion, die tiefer reicht als jeder geistlose Aktionismus. Kritisches Denken liefert keine Gebrauchsanweisung, sonst wäre es „die geistige Reproduktion dessen, was ist“ (Adorno 2003d, S. 798). Als „Widerwille (. . .) sich abspeisen zu lassen“, als „Kraft zum Widerstand“ hält es an der Möglichkeit eines Besseren ebenso fest, wie es im Denken dessen Spurenelemente entwickelt: „Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert.“ (Adorno 2003d, S. 798). So dass am Ende die Karten vertauscht sind: „Offenes Denken weist über sich hinaus. Seinerseits ein Verhalten, eine Gestalt von Praxis, ist es der verändernden verwandter als eines, das um der Praxis willen pariert“ (Adorno 2003d, S. 798). Im zeitgeschichtlichen Moment, in dem Adorno den Radiovortrag „Resignation“ am 9. Februar 1969 für den Sender Freies Berlin spricht, ist es ebenso der Widerspruch zwischen der objektiven Situation und der Überspanntheit der rebellischen Aktivisten, wie die Behauptung von Grundsätzlichem: die Verteidigung der Kritik als einer eigensinnigen geistigen Praxis gegen jeden „Konkretismus“ (Adorno 2003k, S. 768), gegen das „Prinzip der einseitigen Solidarität“, das die Kritik zum falschen Einverständnis zwingen will (Adorno an Günter Grass, Brief vom 19.6.1969, in: Müller-Doohm 2003, S. 699). Kritik entsteht in reflektierter Distanz zur Realpolitik, zum Aktivismus, um mündig zu sein. Sie entfaltet ihre Energie gerade dort, wo „der Gesellschaftsvertrag mit der Realität gekündigt wird“ (Adorno 2003f, S. 412). Es ist der Moment ihrer radikaler Autonomie, der ihre Eigenschaften zur ganzen Geltung kommen lässt. Kritik muss auf Erkenntnisoffenheit bestehen, denn nur ein „Denken (. . .) dem nicht vorgeschrieben wird, was herauskommen soll“ (Adorno 2003d, S. 796), kann seine volle Kraft entfalten. Allein „unbeirrtes Denken“ garantiert „ungeschmälerte Einsicht“ (Adorno 2003d, S. 796 f.). Die Autonomie ist der Preis der Freiheit, der auf der Kritik lastet. Der Kritiker Adorno wusste die liberale Freiheit zu schätzen. Diese Lektion hatte ihm der Nationalsozialismus eingebleut. Aber er unterhielt ein illusionsloses Verhältnis zur liberalen Demokratie. Er verteidigte sie als einen großen Fortschritt der Geschichte, wusste aber um ihre systemischen Defizite und ihre besondere deutsche Gefährdung. Er respektierte sie, indem er sie kritisierte. Darüber vergaß er nicht die autoritäre Verfasstheit der industriellen Gesellschaftsformation, auch in ihrer liberalen Gestalt. Sein kritischer Blick war illusionslos, er zielte auf die grundierenden Bedingungen gesellschaftlicher Heteronomie und charakterlicher Disposition: „Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute“ (Adorno 2003i, S. 674). Wer dem eigenen Denken ein „polemisches Apriori“ (Adorno 2003f, S. 410) unterlegt, kommt um politische Bedrängungen nicht herum. Dann wirkt Kritik. Dennoch ist wenig schwerer zu tilgen als Adornos angeblicher Defätismus. Da mag es auch in der „Negativen Dialektik“ heißen: „Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles“ (Adorno 1975, S. 391). Allein die „Obsession mit dem Kritisierten“ (Adorno 2003k, S. 795) lässt dies erkennen. Ein ähnliches Schwerver-

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stehen trifft den vorgeblich unpolitischen Foucault: „Ihre Frage ist: Warum habe ich so ein starkes Interesse an der Politik? Um eine ganz einfache Antwort darauf zu geben, würde ich sagen: Warum sollte ich kein solches Interesse haben? Welche Blindheit, welche Taubheit, welches Gewicht einer Ideologie könnten die Macht haben, mich an meinem Interesse für das zweifellos entscheidendste Thema unserer Existenz hindern, d. h. an der Gesellschaft, in der wir leben, an den wirtschaftlichen Beziehungen, innerhalb deren sie funktioniert“ (Foucault 2002b, S. 614). Wer das Denken so einsetzt, setzt sich außerakademischen Anrufungen aus. Er macht sich angreifbar und er will es. Adorno und Foucault haben sich permanent mit den kritischen Avantgarden ihrer intellektuellen Felder auseinandergesetzt, den politischen, den wissenschaftlichen, den künstlerischen, vor allem mit denen, für die sich der Anspruch der Kritik nicht auf ein exklusives Terrain beschränkte. Ihre außerordentliche Nähe zu den avancierten und radikalen Befreiungsbewegungen ihrer Zeit basiert in einem Begriff von Kritik, der ans Limit geht. Die „absolute Macht, das Leben zu verändern“ (Foucault 2001, S. 717), wie Foucault aus Anlass des Todes von André Breton bemerkt, liegt in jenen Grenzerfahrungen, die einen wesentlichen Bezugspunkt der Kritik darstellen. Man muss in der Kritik geistig da sein, wo die Widersprüche sich artikulieren und die Chancen ihrer Bearbeitung die größten sind. Kritik im Sinne Foucaults beinhaltet daher stets die Dimension des Möglichen, des Erwünschten und des Gewollten. Vielleicht muss man noch stärker formulieren: des heute Un-Möglichen und Un-Denkbaren. Und wie sein Denken voranschreitet, so prononciert Foucault diese Dimension als Mut, im Akt der Kritik die eigene Lebensführung zur Disposition zu stellen. Denn die „Arbeit von uns selbst an uns selbst, insofern wir freie Wesen sind“, erschöpft sich nicht in der Frage, wer wir sind, sondern ist immer auch eine „historisch-praktische Erprobung der Grenzen, die wir überschreiten können“ (Foucault 2005b, S. 703 f.), dessen, was wir sein können und wollen. Diese „Arbeit entlang unserer Grenzen“ (Foucault 2005b, S. 707) erfordert eine „historisch-kritische Haltung auch eine experimentelle Haltung“, will sie beides sein, eine „historische Untersuchung“ der Probleme, die uns bedrängen, und eine „an der Realität und der Aktualität“ (Foucault 2005b, S. 703) zu erprobende Lebensweise, ihnen zu begegnen. Kritik hat immer ein überschüssiges Moment, nicht als sicherer Unterpfand, sondern als Skizze von Möglichkeiten, die der widerspenstigen Gegenwart innewohnen. Adornos Sehnsucht nach einem Subjekt, das mit ganzem Recht Ich sagen kann, wie Foucaults Optimismus einer Ästhetik der Existenz artikulieren diesen Pfand. Dies verbindet ihre immanente wie überbordende Form der Kritik, das zu erkunden, was möglich, aber nicht wirklich ist: eine transzendierende Gestalt der Kritik. „Womit negative Dialektik ihre verhärteten Gegenstände durchdringt, ist die Möglichkeit, um die ihre Wirklichkeit betrogen hat und die doch aus einem jeden blickt“ (Adorno 1975, S. 62). Kritik wird daher stets von dieser Möglichkeit getrieben. Sie ist bereits der Griff zum Rettungsring. Wer das Übel sieht und an-greift, ist im Begriff, es zu beseitigen – bei glücklichen Umständen. „Kritik ist deshalb nach Theodor W. Adorno kein bloßes Schriftgut, kein Rechthaben in Form von Büchern gegenüber anderen Bü-

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chern, sondern konsequente aktive Reparaturarbeit. Kritik setzt Produktion gegen falsche Produktion voraus und findet nicht nur in den Akten der Geistesgeschichte statt“ (Kluge 2012, S. 70). Kritik ist so immer auch Erfindung aus der Wirklichkeit. „Versuchen wir nun, gemeinsam neue Modi der Kritik, neue Modi der Infragestellung zu erarbeiten, etwas anderes zu versuchen. Das also ist mein Verhältnis zu Theorie und Praxis“ (Foucault 2005f, S. 927). Deshalb braucht Kritik Abstand von Autorität. Um eine praktische Wirkung zu entfalten, muss sie sich jeder Instrumentalisierung, jeder Parteinahme enthalten, auch jeder Selbstüberschätzung entsagen. Die Kritik wirkt praktisch als Kritik, indem sie dem Erfahrungsprimat und den mündigen Erkenntnissen treu bleibt, die sich aus der Praxis des kritischen Denkens ergeben. Foucaults Parrhesiast ist der Prototyp dieser Haltung: erfahrungsoffen, freimütig und mutig. Zu sagen „Freiheit ist Praxis“ (Foucault 2005k, S. 330), artikuliert den Anspruch dieser kritischen Lebensweise. Auch Adorno hat sich sich gegen jede Indienstnahme verwehrt. Kritisches Denken darf nicht zu einer Handlungsagenda verstümmelt werden, so sein Credo. Und damit sind die Karten zwischen Theorie und Praxis vertauscht. In der Theorie unnachgiebig zu bleiben, schafft jene Distanz, in der die Wirkung der Kritik einsetzen kann. „Demgegenüber ist der kompromißlos kritisch Denkende, der weder sein Bewußtsein überschreibt noch zum Handeln sich terrorisieren läßt, in Wahrheit der, welcher nicht abläßt“ (Adorno 2003d, S. 798). Der beharrliche Kritiker wird so zum eigentlichen Praktiker. Adornos „Eingriffe“, so sein Wort für das Praxisziel der geistigen Interventionen, sind umfassend. Er mischt sich in philosophische, literarische, musikalische, wissenschaftliche und politische Aufbrüche des 20. Jahrhunderts ein, und stets handelt es sich um kritische Infragestellungen symbolischer Welten und Hegemonien. Seine bekannte Verteidigung des avancierten Kunstwerks illustriert diesen Versuch, den kritischen Impuls wachzuhalten, ohne sich der Parole oder der Propaganda auszuliefern: „Noch im sublimiertesten Kunstwerk verbirgt sich ein Es soll anders sein“ (Adorno 2003f, S. 429). Diese Kritik will „dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt“ (Adorno 2003f, S. 413). Foucaults Interventionen reflektieren auf diese gegenkulturellen Erfahrungen und problematisieren sie. Dennoch taucht hier eine Differenz zu Adorno auf, vielleicht eine Frage des Temperaments und der biografischen Erfahrung. Mike Davis hat auf die Ignoranz Adornos gegenüber dem subversiven Jazz aufmerksam gemacht, der sich vor seiner Haustür in Los Angeles abspielte. Was heißt, Adorno blieb ein absichtsvoll distanzierter Beobachter, während sich der Foucault nach 1968 ins Handgemenge stürzte. Seine kritischen Aktivitäten in den Basisinitiativen zum Gefängnis oder zum Gesundheitswesen, seine Analysen der iranischen Revolution, seine Unterstützung der polnischen Solidarność, seine Studien zum Neoliberalismus oder zum französischen Sozialstaat machten Foucault zum teilnehmenden Beobachter. Zwei Momente markieren für Foucault den Kritikgehalt der Epoche nach 1968: die Problematisierung der sozialen Existenz und die Politisierung der Subjektivität. „Aber ist nicht genau das ein Kennzeichen der aktuellen politischen Bewegungen: die Entdeckung, dass die alltäglichsten Dinge des Lebens – die Art zu essen, sich zu

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ernähren, die Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, die Art zu lieben, die Art, wie die Sexualität unterdrückt wird, gesellschaftliche Zwänge, das Verbot der Abtreibung – politisch sind? Das alles zum Gegenstand einer politischen Aktion zu machen, darin besteht heute die Politik. Deshalb bestimmt sich der politische oder nichtpolitische Charakter einer Aktion nicht mehr allein durch das Ziel dieser Aktion, sondern durch die Art und Weise, wie Dinge, Probleme, Besorgnisse und Leiden, die die europäische politische Tradition des 19. Jahrhunderts als der politischen Aktion unwürdig verbannt hatte, politisiert werden“ (Foucault 2002c, S. 533). Foucault tut alles, diesen erweiterten Begriff des Politischen zu propagieren. In dieser Umwertung einer traditionellen Politik gewinnt die kritische Arbeit einen neuen Stellenwert. Foucault stellt klar, „dass die politische Landschaft der letzten 20 Jahre nicht so fundamental erneuert worden wäre, wenn es nicht eine intellektuelle Arbeit über die Probleme gegeben hätte, die nicht als politisch erschienen und deren Analyse gezeigt hat, an welchem Punkt sie in Verbindung zur Politik standen. Es war gerade eines der fruchtbarsten Resultate dieser Arbeit, dass diese famose Kategorie des ‚Politischen‘, von der man uns bis zum Überdruss an der Universität erzählte hatte, beseitigt worden ist. (. . .) Die Verbindung der Bewegungen des Denkens mit der Analyse der Institutionen und der Problematisierung des Alltagslebens, des Persönlichen, des Individuellen, eben dies brachte die Schranke zum Bersten, die Kategorien wie ‚die Politik‘ oder ‚das Politische‘ bildeten. Diese Verbindung ist es, die einer Bewegung die Kraft verleiht, Ideen, Institutionen und das Bild, das man von sich selbst und den anderen hat, zu verändern“ (Foucault 1985, S. 61). Foucault konzentriert die kritische Haltung auf ein verdichtetes Verhältnis von Denken und Praxis – „Verwendet die politische Praxis als einen Intensifikator des Denkens und die Analyse als einen Multiplikator der Interventionsformen und -bereiche der politischen Aktion“ (Foucault 2003a, S. 179) – und auf einen souveränen Abstand zu den Institutionen und Versuchungen der Herrschaft. Gegen die „Verarmung (und) Austrocknung der politischen Einbildungskraft“ plädiert er für die Entwicklung neuer Vorstellungen des Politischen, neuer Assoziationsformen, neuer Verbindungen geistiger und politischer Praktiken, die der Neuerfindung der Politik im 18. und 19. Jahrhundert von Locke über Rousseau bis zu den utopischen Sozialisten angemessen ist: „Wir können uns über die gegenwärtige Armseligkeit nur wundern“ (Foucault 2002d, S. 753). Foucault zielt auf einen kritischen Denkstil, der um so politischer ist, je weniger er das Spiel der traditionellen Politik bedient. Das Politische ist kein Geschäft von Spezialisten. Denn Politik umreißt den Raum und den Stoff sozialer Praktiken, also ein Feld und eine Potenzialität, in dem über die Möglichkeit und die Angelegenheiten freier Menschen entschieden wird. In diesem Sinne ist das Private politisch. Aber diese Option bedeutet, wie auch bei Adorno, keinesfalls das Politische zu privatisieren, zu psychologisieren, zu moralisieren. Wenn Foucault von einer „individuellen, moralischen Sorge“ (Foucault 2003c, S. 431), spricht, dann hat er nichts weniger im Sinn als Tugendkataloge und Hauspostillen im Interesse konformer Lebensführungen. Er zielt gerade auf die Problematisierung der Bedingungen, die uns zu einem gesellschaftlichen Wesen machen, das im Verhältnis zu sich selbst und

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den anderen mit Recht ein Subjekt genannt werden kann. In dieser Perspektive ist die Ethik eine „Seinsweise des Subjekts und eine bestimmte, für die anderen sichtbare Weise des Handelns“, die „durch und durch politisch ist“ (Foucault 2005a, S. 882). Die Absage an traditionelle Politikmodelle und die Konstruktion einer kritischen Haltung bilden zwei Seiten einer Medaille. Gegen die „Bürokraten der Revolution und die Funktionäre der Wahrheit“ plädiert er für eine „Lebenskunst“ (Foucault 2003a, S. 178 f.), die sich der nach 1968 erkämpften Haltungen, Erkenntnisse und Ansprüche selbstbewusst versichert. Man muss den großen Apparaten der Politik das Monopol des Politischen nehmen, um sie den Subjekten und ihren Assoziationen zu übertragen. Man muss das Feld des Politischen erweitern, um die neuen Kämpfe um den Körper, die Ökologie, die Lebensweise anzuerkennen und neue „Erfahrungen“, ein für Foucault und Adorno entscheidender Begriff, zu ermöglichen. Adorno und Foucault nehmen die kritische Haltung als fundamental. Sie ist keine Masche, keine Pose. Sie ist für das Subjekt, den Gegenstand, die Methode und das Ziel des Denkens grundlegend. Kritik ist nicht alles, aber ohne kritische Haltung ist alles andere unkritisch, konformistisch. Adorno und Foucault gehören zum stets großen Kreis der Leute, denen die Welt nicht gefällt, wie sie ist. Dieses NichtEinverständnis bleibt die Grundlage jeder wirklichen Kritik. Kritik bei Adorno wie Foucault entwirft keine Agenda. Sie skizziert Möglichkeitsräume in Distanz zu Autorität, die Mündigkeit sabotiert. Adorno und Foucault verbindet ein kritischer Impuls, der konsequent an einem emanzipatorischen und geschichtlich umkämpften Begehren festhält. Für beide ist der Mensch nicht fertig, sondern in der Mache, beide begreifen Gesellschaft als ein umkämpftes Terrain. Daraus erwächst die „Position der Brüderlichkeit“ (Foucault 1992, S. 25), eine Bruderschaft in der Kritik.

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Rezeption

In der kaum überschaubaren Literatur zu Adorno finden sich erstaunlich wenige Bezugnahmen auf die Haltung und die Arbeitsweise der Kritik. Die Feststellung vom „weitgehend unkritische(n) Umgang mit dem Stichwort der Kritik“ (Bonß 2003, S. 366) innerhalb der Kritischen Theorie gilt für Adorno in besonderer Weise. Allein Alex Demirović hat in seinem großen Buch zur Archäologie der Frankfurter Schule in der frühen Bundesrepublik die fundamentale Dimension der Kritik herausgestellt. Die intellektuellen Wissenspraktiken Adornos werden hier als kritische Interventionen innerhalb der akademischen Welt und in die politische Öffentlichkeit hinein verstanden. Der geistige Kampf um Vernunft und Wahrheit erscheint als „eine im spezifischen Sinn politische Praxis“ (Demirović 1999, S. 9), die der Kritik verpflichtet ist. Der nonkonformistische Intellektuelle ist eben der, der die Verhältnisse ebenso problematisiert wie seine eigene Stellung als Kritiker (vgl. hierzu auch den Beitrag von Susanne Martin im Handbuch). Der Begriff der kritischen Haltung erfährt dadurch eine besondere Aufwertung. Er soll „die Erkenntnis und Erfahrung der gesellschaftlichen Widersprüche ermöglichen, aber auch zu der Einsicht führen, dass es notwendig ist, in einer widersprüchlichen Gesellschaft die Widersprüche zu

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ertragen.“ Er ist „eine körperliche, habituelle Form des Ertragens von und des Lebens in Widersprüchen“ (Demirović 1999, S. 423). Adorno betreibt damit eine „Wahrheitspolitik“ im Sinne Foucaults, die sich der sozialen Dimensionen der Durchsetzung von Vernunftansprüchen überaus bewusst bleibt, ohne die „Verbindlichkeit eines Wahrheitsethos“ (Demirović 1999, S. 17) preiszugeben. Demirović’ Studie bleibt eine Ausnahme. Obwohl das Wort Kritik in der Rezeption ständig im Mund geführt wird, existiert kaum eine Arbeit, die sich der Kritik als einer spezifischen geistigen Praxis annimmt. Selbst im Adorno-Handbuch findet sich ein solcher Versuch nur versteckt im Artikel „Methode“ und schrumpft dort auf die Stichwörter „Gesellschaftskritik“ und „Selbstkritik“ (Ritsert 2011). Anderen Ortes finden sich Elemente wie Erkenntnis- und Ideologiekritik positiv benannt (Bonacker 2008) oder negativ als „Anthropologieferne“ und „überzogene Gesellschaftskritik“ (Heidbrink 2004, S. 108) ins Visier genommen. Diese erstaunliche Lücke hat mit dem generellen Urteil zu tun, dass die Erben der Kritischen Theorie über die Gründerväter aussprechen. Es sei „gar keine Frage, dass die erste Generation der Frankfurter Schule an der Umsetzung dieses extrem anspruchsvollen Kritikprogramms gescheitert ist“ (Honneth 2000, S. 735). Eine „einseitige Orientierung am Handlungstyp der Arbeit“ ermangele die „Komponente der moralischen Gültigkeit“ (Honneth 2000, S. 735). Die aktuellen Wiederbelebungsversuche der kritischen Ambition finden daher vornehmlich in Gestalt einer Beglaubigung normativer Ansprüche westlicher Gesellschaften statt, also als Bestätigung zugleich immanenter und historisch gewachsener Handlungsnormen (Honneth 2011). Hierfür ist Adorno wenig hilfreich. Dafür wird er umso wichtiger, wenn heute grundsätzlich die Frage „Was ist Kritik?“ (Jaeggi und Wesche 2009) neu gestellt wird und Kritik als Praxis und als Erfindung von Normativität rekonstruiert wird. Dass das kritische Moment hierbei in den letzten Jahren erkennbar Fahrt aufgenommen hat, verdankt sich auch dieser neuen Adorno-Lektüre. Für Foucault verhält es sich nicht wesentlich anders. Es ist bezeichnend, dass unter den Grundbegriffen in einem „Foucault-Lexikon“ (Ruoff 2007) das Wort „Kritik“ nicht auffindbar ist, und wo es Beachtung findet, wird es recht schnell abgetan (Schneider 2008). Wenn Foucaults Werk nicht vollständig in einer Facette seiner Arbeiten untergeht, etwa als Diskurstheoretiker (Buhren 2007), so herrscht eine weitgehende Entpolitisierung Foucaults vor, die es unmöglich macht, seine kritische Praxis angemessen zu würdigen. Dieser Verkennung der grundlegenden Bedeutung der Kritik in Foucaults Denken entgehen zwei Arbeiten. Die eine Ausnahme bildet Martin Saars große Studie „Genealogie der Kritik“ (Saar 2007). Saars Zugriff verifiziert nicht nur die Tatsache, dass das kritische Moment als Problematisierung der Wissens- und Lebensformen ein konstitutiver Baustein des gesamten Werkes darstellt. Er entwickelt zudem, mit Rückgriff auf Foucaults Kronzeugen Nietzsche, die Genealogie als eine besondere Gestalt der Kritik, in der jene normativen Begründungen problematisiert werden, die sich als universell und ahistorisch verkleiden. Die andere Ausnahme stellt Judith Butler dar, die Foucaults Essay „Was ist Kritik?“ einer eingehenden Lektüre unterzieht (Butler 2009). Ihr Titel ist Programm. Sie reflektiert auf einen Begriff der „Tugend“, der zweierlei im Auge hat: den Einsatz

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des Subjekts, das sich in der „kritischen Praxis, die durch und durch selbsttransformativ ist“ (Butler 2009, S. 232), verändert und den Moment des Brüchigwerdens des Wissens, den „Riss im Gewebe unseres epistemologischen Netzes“ (Butler 2009, S. 226), in dem sich die Grenzerfahrung ankündigt. Sich beidem auszusetzen, der Möglichkeit der Selbstveränderung und der Kontingenz des historischen Augenblicks, markiert eine kritische Haltung, eine Tugend im Sinne Foucaults. Diese auffällige Ignoranz gegenüber der Kritik als einer spezifischen geistigen Praxis beginnt sich aktuell möglicherweise aufzulösen. Samuel Salzborn hat in einer Art Zustandsbericht der Kritischen Theorie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert eine doppelte Diagnose gestellt. Er konstatiert zum einen eine Revitalisierung der Kritik in dem, was er „Trampelpfade“ (Salzborn 2015, S. 23) nennt und meint damit sektorale Kritikanstrengungen in sozialen Wissensfeldern (dem Feminismus, der politischen Psychologie, neuen Zeitschriftenprojekten) und zu unterschiedlichen Gegenständen (dem Antisemitismus, der Rechts- und der Demokratietheorie). Hier hat sich der Impuls zur Kritik pluralisiert. Er konstatiert zum anderen einen wieder entdeckten „Highway“ innerhalb der jüngsten Generation des Instituts für Sozialforschung, die einen verstärkten Willen zur Reflexion der Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung auszeichne. Hier sieht er eine „Reaktualisierung einer Kritik moderner, kapitalistischer Vergesellschaftung“ am Werk, wenn auch „bisher noch nicht konkret ausformuliert“ (Salzborn 2015, S. 21 f.). Tatsächlich lässt sich die kleine Renaissance einer Diskussion beobachten, die seit der Rezeption der Studien zum autoritären Charakter in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts obsolet schien: die Sezierung zeitgenössischer Subjektivität. Sie wird unter den theoretischen Vokabeln der „Entfremdung“ (Jaeggi 2005) und der „Verdinglichung“ (Honneth 2005) geführt, nimmt also Bezug auf begriffliche Orientierungen, die schwerlich ohne ein kritisches Verhältnis zur Aktualität im Munde geführt werden können. Axel Honneth und Rahel Jaeggi konturieren ihre Studien über eine doppelte Bewegung. Sie spalten ihre Ambition weitgehend von einer Kritik der politischen Ökonomie ab und konzentrieren sich im Gegenzug auf soziale Systeme und Praktiken, die Selbstverhältnisse zeitgenössischer Subjekte betreffen. Man trennt sich daher auf der einen Seite von den historischen Stichwortgebern. Der Begriff der „Verdinglichung“, der „wie ein philosophisch unverarbeiteter Brocken“ (Honneth 2005, S. 12) den Ideenhaushalt der Kritischen Theorie prägt, wird seiner gesellschaftstheoretischen Wucht entkleidet. Eine „Kritik der Verdinglichung (darf) von vornherein nicht so totalisierend wie Lukács verfahren“, sie muss eine „handlungstheoretische Umformulierung“ (Honneth 2005, S. 28) erfahren. Honneth hat dieses Programm für die Sphären der persönlichen Beziehungen, des ökonomischen Marktes und der demokratischen Willensbildung als „Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit“ erprobt (Honneth 2011). Auf der anderen Seite wird die Entfremdungskategorie subjekttheoretisch limitiert. Sie erscheint als eine „Beeinträchtigung unseres Wollens (. . .), die aus der Verunmöglichung der Aneignung, des Sich-zu-eigen-Machens des eigenen Selbsts oder der Welt resultiert“ (Jaeggi 2005, S. 10). Die Ausformulierung eines derartigen Programms resultiert in einer „Kritik der Lebensformen“ (Jaeggi 2014), die das als problematisch ausweist, was sich schneller Funktionalität entzieht. Zwar besitzt der Begriff der „Lebensformen“ einen

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dynamischen, er ist stets in Lernprozessen neu zu erproben, wie antiautoritären Eigensinn, der Staat hat hier wenig bis nichts zu suchen. Dennoch drängt sich die Frage auf, wie dieser Kritiktyp ein Selbstbewusstsein entwickeln kann, das sich grundlegend von den systemischen Forderungen nach Anpassung an scheinbar objektive Zwänge abhebt. Eine Erinnerung an Adornos Beobachtung, das ein Mehr an Individualisierung ein Weniger an Individualität hervorbringt, könnte hier hilfreich sein. Die Summe dieser kritischen Versuche beleuchtet so eine merkwürdige Konstellation. In einem historischen Moment, in dem sich die instrumentelle Rationalität dessen, was sich „die Märkte“ nennt, zu einer jeden Widerspruch ausschließenden Herrschaftskenntlichkeit erhebt, verharrt der Gegenstand der Kritik in den sozialen Lebens- und subjektiven Innenwelten, die dieser Tatsache ausgesetzt sind. Vielleicht ist die Zeit einer erneuten Reflexion gekommen, ob die Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung nicht antagonistischer sind als behauptet oder erwünscht. Und statt vom Ganzen einer Gesellschaftsformation abzulassen, sich auf eine neue globale Totalität einzulassen, deren Dynamik stärker in die Dispositionen von Mündigkeit reicht, als Adorno und Horkheimer es nur denken konnten. Um von dem größten Unrecht zu schweigen, dass Menschen mehr denn je in Abhängigkeit ihr Arbeitsvermögen verkaufen müssen, ein Makel, der die Geburt der Kritischen Theorie grundlegend markiert. Eine Wiederbelebung der kritischen Dimension im Werk Foucaults erscheint aus zwei Gründen noch schwieriger als bei Adorno. Paradoxerweise ist dieses Urteil zunächst der enormen Reichweite geschuldet, die Foucaults Werk in den Humanwissenschaften gewonnen hat. Es erscheint heute als eine Fundgrube geistiger Aneignung (oder Diebstahls) vielfältiger Art, ganz im Sinne der von Foucault erkannten „taktischen Polyvalenz der Diskurse“ (Foucault 1977b, S. 122). Jeder nimmt, was passt: von biopolitischen Analysen zu den Gouvernementalitätsstudien, von Genderzu Körpertheorien, von Staatsableitungen bis zur Indienstnahme der Technologien des Selbst durch fragwürdige Managementtheorien. In diesem selektiven Zugriff zerbricht die sachliche Bezüglichkeit des Werkes, wie der kritische Impuls, der dem Œuvre Kohärenz verleiht. Kritik wird zur Methodik, zur begrifflichen Anleihe, die nicht selten Gegenstand und Ziel der theoretischen Anstrengung Foucaults unterschlägt. Obwohl die Publikation der Vorlesungen Foucaults am Collège de France und seiner „Schriften“ belegen, wie intensiv seine Denkarbeit in die politischen Horizonte seiner Zeit verwurzelt ist, dem Trend zum Klassiker und damit zur falschen Entpolitisierung kann sich das Werk zunehmend weniger entziehen. Ein zweiter Grund tritt hinzu, der mit Foucaults Selbstzuschreibung zu tun hat. Wie kein zweiter Theoretiker seiner Generation hat er, vor allem in seinem Spätwerk, systematisch den Grund geistiger Arbeit befragt und damit das Ethos desjenigen, der sie betreibt. Seine Problematisierung der Technologien des Selbst – am Rande: in einem zeitgeschichtlichen Moment, in dem ein Sozialist namens François Mitterand 1981 mit dem Slogan „Das Leben verändern“ französischer Staatspräsident wird – bindet die Gründungsmomente der philosophischen Reflexion nicht nur in die gesellschaftlichen Arenen ihrer Zeit zurück, den griechischen Stadtstaat und das imperiale Rom. Die Frage des Wahr-Sprechens ist also stets historisch konkret. In systematischer Hinsicht belastet dieser Zugriff das Denken zudem mit der Frage

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der Selbstkonstitution, d. h. mit der Suche nach Figuren eines gelingenden Lebens in einer problematischen Welt. Diese Selbstsorge hat nichts mit Innerlichkeit und asozialer Egozentrik, nichts mit dem „zeitgenössischen Selbstkult“ (Foucault, 2005o, S. 767) zu tun. Sie ist eine kritische Selbstbefragung gegenüber den Ansprüchen der Welt und im Auge der Anderen. Es existiert kein kritisches Verhalten ohne ein kritisches Verhältnis zum Selbst. Stellt man in Rechnung, dass Foucault für die Moderne seit Descartes den Verlust dieses Bezugs konstatiert, wird das Unzeitgemäße seines Anspruchs deutlich: „Die Verbindung zwischen dem Zugang zur Wahrheit und der Arbeit einer Selbstausarbeitung durch sich ist im alten Denken und im ästhetischen Denken wesentlich. Ich denke, dass Descartes damit gebrochen hat (. . .) Die Beziehung zu sich braucht nicht länger eine asketische zu sein, um in einer Beziehung zur Wahrheit zustehen. (. . .) Mit Descartes wird die unmittelbare Evidenz hinreichend“ (Foucault 2005o, S. 775). Damit etabliert sich ein anderes Wissenssubjekt, dessen Problematisierung erkennbar Foucaults Anliegen ist. In einer äußerst minutiösen Analyse der Beziehung der Parrhesia zur Kritik hat Frieder Vogelmann die Konsequenzen einer derartigen Ambition umrissen (Vogelmann 2012). Sie beruht nicht im Geringsten auf dem Mut, sich in der Befragung der Konventionen und Normativitäten in Gefahr zu begeben, wie auf dem Risiko, sich im Akt der Grenzüberschreitung angreifbar zu machen. Kritik bleibt ein gefährdeter wie gefährlicher geistiger Akt. Wenn dieses Urteil für die politische Philosophie gilt, dann ebenso für eine Neubestimmung des politischen Subjekts, vielleicht eines neuen politischen Subjekts.

Literatur Adorno, T. W. (1971a). Erziehung zur Mündigkeit. In T. W. Adorno (Hrsg.), Erziehung zur Mündigkeit (S. 133–147). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1971b). Erziehung – wozu? In T. W. Adorno (Hrsg.), Erziehung zur Mündigkeit (S. 105–119). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1971c). Philosophie und Lehrer. In T. W. Adorno (Hrsg.), Erziehung zur Mündigkeit (S. 29–49). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1975). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1996). Probleme der Moralphilosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003a). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003b). Reflexionen zur Klassentheorie. In T. W. Adorno (Hrsg.), Gesammelte Schriften (Bd. 8, S. 373–391). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003c). Beitrag zur Ideologienlehre. In T. W. Adorno (Hrsg.), Gesammelte Schriften (Bd. 8, S. 457–477). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003d). Resignation. In T. W. Adorno (Hrsg.), Gesammelte Schriften (Bd. 10.2, S. 794–799). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003e). Kritik. In T. W. Adorno (Hrsg.), Gesammelte Schriften (Bd. 10.2, S. 785–793). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003f). Engagement. In T. W. Adorno (Hrsg.), Gesammelte Schriften (Bd. 11, S. 409–430). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Die relative Eigengesetzlichkeit der Kultur Die Kritische Theorie und Antonio Gramsci Jens Kastner

Zusammenfassung

Bei aller Schwierigkeit, solch unterschiedliche Gegenstandsbereiche wie das Schaffen des kommunistischen Parteitheoretikers Antonio Gramsci und des als Kritische Theorie bezeichneten Forschungs- und Theoriezusammenhangs zu vergleichen, lassen sich grob zwei Gemeinsamkeiten konstatieren: ein gemeinsamer Ausgangspunkt und, damit zusammenhängend, eine inhaltliche Schwerpunktsetzung. Ausgangspunkt war das Scheitern der ArbeiterInnenbewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Damit verbunden erschienen einige Grundannahmen marxistischer Theorie fraglich und erneuerungsbedürftig, was zur gemeinsamen Schwerpunktsetzung führte, der Auseinandersetzung mit Kultur. In der Auseinandersetzung mit Kultur suchten Gramsci wie auch die VertreterInnen der Kritischen Theorie die Antworten auf die Frage nach dem Ausbleiben der Revolution und dem Scheitern der ArbeiterInnenbewegung. Kultur wurde dabei in einem sehr weit gehenden Verständnis untersucht, nämlich als Konglomerat von Ideen und Vorstellungen, von Denk- und Wahrnehmungsweisen und praxisrelevanten, unbewussten Strukturen. Erst in zweiter Hinsicht trat Kultur im engeren Sinne – als Kunst, Literatur, Musik, Theater, etc. – in den Fokus sowohl Gramscis als auch der Kritischen Theorie. Grundlage all dessen war die Ablehnung eines ökonomistischen Reduktionismus. Sowohl die Beschäftigung mit den besagten künstlerischen Ausdrucks-

J. Kastner (*) Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften, Akademie der Bildenden Künste Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_15

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formen als auch mit neuen Formen (im weiteren Sinne kulturell vermittelter) Herrschaft, dem Fordismus bzw. der Kulturindustrie, teilten Gramsci und die Kritische Theorie. Neben den Gemeinsamkeiten gibt es allerdings auch einen zentralen Unterschied: Das Vertrauen in die Arbeiterklasse als zentraler Akteurin des linken Projekts und der Geschichte ist bei Gramsci weitgehend intakt, bei der Kritischen Theorie gebrochen. Diese wesentliche Differenz zeigt sich etwa in unterschiedlichen Gewichtungen der Wirkungsweisen und Effekte von Ideologie sowie auch in dem Glauben an das Populare der Kultur. Schlüsselwörter

Antonio Gramsci · Kritische Theorie · Kulturtheorie · Hegemonie · Faschismustheorie · Fordismus · Kulturindustriethese

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Einleitung. „Lebenspraxis der Gesellschaft“ (Horkheimer)

In den vergleichsweise wenigen Fällen, in denen das Denken und Handeln der Vertreter der Kritischen Theorie bzw. des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und jenes von Antonio Gramsci aufeinander bezogen wurden, geschah dies eher abgrenzend. Paradigmatisch differenziert – und urteilt – vielleicht Perry Anderson in seiner zum Klassiker gewordenen Studie „Über den westlichen Marxismus“ (1978). Hier gilt der kommunistische Parteistratege Gramsci als eine der letzten Stationen auf dem Weg des Marxismus durch das 20. Jahrhundert, an dem dieser „unter den Massen noch zu Hause war.“ (Anderson 1978, S. 54) Vergleichbare Bedeutung komme nur noch Karl Korsch und Georg Lukacs zu, die späteren Vertreter und Vertreterinnen – wobei Anderson ausschließlich Männer rezipiert – des westlichen Marxismus hätten sich zunehmend akademisiert und diese Einbettung in den „Massen“ nicht mehr herstellen können. So auch die Kritische Theorie, der Anderson gar eine zunehmende „Entpolitisierung“ (Anderson 1978, S. 57) nachsagt. Die meisten westlichen MarxistInnen hätten entweder als mehr oder weniger dissidente Mitglieder der jeweiligen Kommunistischen Partei, oder als Intellektuelle außerhalb der Partei aber in kritischem Bezug zu ihr gewirkt. Rechnet Anderson zur zweiten Gruppe noch Herbert Marcuse, wird Theodor W. Adorno eine dritte, eine Ausnahmeposition zugewiesen: sich nämlich vom „politischen Diskurs“ (Anderson 1978, S. 71) überhaupt abgewendet zu haben. Andersons Verständnis des Politischen, das sich hier offenbar allein auf die Entscheidungen und Entwicklungen innerhalb der staatlichen Sphäre bzw. in den Staatsapparaten bezieht, ist dabei nicht das einzig Irritierende. Es ist allen voran der Fokus auf das Verhältnis zu den Massen, das zur Messlatte für die Theorie wird, der letztlich auch den starken Gegensatz zwischen Gramsci und den Vertretern der Kritischen Theorie erst schafft. Ohne dass Anderson in dieser Sache unbedingt Unrecht hätte, so kommen doch darüber hinaus eine

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Reihe von Gemeinsamkeiten zum Vorschein, sobald andere Kriterien angelegt werden.1 Ganz allgemein ist zunächst Thomas Barfuss und Peter Jehle zuzustimmen, dass es „[z]u zahlreichen Thesen und Einsichten der Kritischen Theorie [. . .] interessante Anknüpfungspunkte bei Gramsci [. . .]“ (Barfuss und Jehle 2014, S. 155) gibt. Diese bedürften allerdings der Vermittlung, man müsse sich „die Mühe machen, zwischen den beiden Ansätzen zu ‚übersetzen‘“ (ebd.). Dies soll im Folgenden anhand einiger Themenbereiche geschehen. Gramsci und die Kritische Theorie teilen, grob gesagt, einen gemeinsamen Ausgangspunkt und, damit zusammenhängend, eine inhaltliche Schwerpunktsetzung. Der historische Ausgangspunkt, an dem Gramsci wie auch die Vertreter der Kritischen Theorie mit ihren Marxismen ansetzten, bestand in der im „Westen“, also den am weitesten fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ausgebliebenen Revolution.2 Zwar gibt es bei Gramsci als Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens im Gegensatz zu den parteiskeptischen bis -fernen Vertretern der Kritischen Theorie durchaus die positive Bezugnahme auf die Oktoberrevolution. Unabhängig davon steht aber auch beim italienischen Parteitheoretiker die Frage im Vordergrund seiner Auseinandersetzungen, warum die Revolution in Russland und, anders als die Logik der geschichtlichen Entwicklung des Klassengegensatzes als konfrontative Zuspitzung hätte annehmen lassen müssen, nicht im Westen stattgefunden hat und was es daraus für Schlüsse zu ziehen galt. Dies war auch der Ausgangspunkt einer Kritischen Theorie, die sich als parteiunabhängiges sozialwissenschaftlich-philosophisches Projekt formierte, geprägt durch „das Scheitern der Revolution

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Es ist, und dieser Hinweis sei nicht als kokette Geste aufgefasst, ein nahezu unmögliches Unterfangen, „die“ Kritische Theorie mit „dem“ Gramsci zu vergleichen. Es versteht sich von selbst, dass bei einem solchen Versuch gewisse Verallgemeinerungen und auch Verflachungen unumgänglich sind, da die Kritische Theorie bekanntermaßen ein relativ heterogenes Feld von Theorieproduktionen von verschiedenen ProtagonistInnen über mehrere Jahrzehnte beschreibt, und auch bei Antonio Gramsci gibt es selbstverständlich nicht nur eine gültige Lesweise, sondern im Laufe der Jahre extrem unterschiedliche, interpretatorische Ansätze. Zugleich aber sind einige Parallelen doch so drängend – formal äußert sich das vielleicht paradigmatisch in der Benennung des Gramsci-nahen Berliner „Institut(s) für kritische Theorie“ (http://www.inkrit.de/) –, dass eine vergleichende Lektüre trotz aller Bedenken fruchtbare Erkenntnisse verspricht. Hinsichtlich der Kritischen Theorie beschränke ich mich im Folgenden auf Autoren der ersten Generation, wohl wissend, dass es eine zweite Generation gab (vgl. Acikgöz 2015) und darüber hinaus verschiedentlich am Anspruch festgehalten wird, dass es sich bei der Kritischen Theorie um ein unabgeschlossenes Projekt handelt (vgl. etwa Martin et al. 2015). 2 Dass „das verborgene Kennzeichen des westlichen Marxismus“ darin bestehe, wie Anderson (1978, S. 68) schreibt, dass er „das Produkt einer Niederlage ist“, ist allerdings keine notwendige Schlussfolgerung aus dieser Feststellung. Sie ist nur aus einer bestimmten Sichtweise zu ziehen, die erstens konkret die Entwicklung im „Osten“ auch nach der Oktoberrevolution als „Sieg“ aufzufassen bereit ist – was weder Gramsci noch die Kritische Theorie taten –, und die zweitens allgemein davon ausgeht, dass die Umwälzung der Verhältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist, auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu vollziehen sei, nämlich über die marxistischleninistische Vorstellung der Eroberung der Staatsmacht – eine Vorstellung, die weder die Vertreter der Kritischen Theorie noch Gramsci unbedingt teilten.

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von 1918/19, die Zustimmung, die ein Teil der Arbeiterschaft Hitler entgegenbrachte, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung durch den Nationalsozialismus, [. . .] [den] stalinistische[n] Terror und die Erfahrung, daß die amerikanischen Gewerkschaften im New Deal ihre Autonomie gegenüber den Unternehmen weitgehend aufgaben“ (Demirović 1999, S. 29). Dieses Scheitern der ArbeiterInnenbewegung, aber auch für sich genommen die in ihrer Zukunftsprognostik gescheiterte materialistische Theorie, warf vollends neue Fragen auf. Denn die Kräfteverschiebungen und Integrationsmechanismen, die zum Ausbleiben der Revolution geführt hatten, waren schließlich nicht allein auf „falsche“ Entscheidungen der Führungen der Arbeiterparteien zurückzuführen, sondern auf eine Vielzahl von sozialen, politischen, ökonomischen wie kulturellen Entwicklungen, die die marxistische Theorie nicht hatte antizipieren können. So entstand das, was Anderson als Gemeinsamkeit des „westlichen Marxismus“ ausmacht, die Beschäftigung mit „Strukturen des Überbaus“ (Anderson 1978, S. 111). Nach Anderson gipfelte diese neue Schwerpunktsetzung schließlich in der Auseinandersetzung mit Bereichen, die am weitesten von der ökonomischen Basis entfernt waren. Also nicht einmal Staat und Recht, nein, so Anderson unverhohlen abschätzig, vielmehr „stand im Mittelpunkt seiner [des westlichen Marxismus; J. K.] Aufmerksamkeit die Kultur“ (Anderson 1978, S. 112). Das ist nun einerseits treffend, andererseits doch vollkommen falsch. Es ist zwar richtig, dass Kultur in den Fokus der Betrachtung von Theoretikern wie Gramsci und Horkheimer, Adorno, Marcuse und Benjamin rückt, aber sie tut dies in einem anderen Sinne bzw. in einem anderen Verständnis, als Anderson es unterstellt. Es handelt sich dabei um eine bis heute in den Sozial- und Politikwissenschaften virulente Verwechselung von Gegenstandsbereichen: Anderson versteht unter Kultur im Wesentlichen jenen gesellschaftlichen, funktional differenzierten Teilbereich, dem Praktiken wie Musikhören und Theatermachen angehören und in dem man sich der Kunst oder dem Tanz widmet. Kultur im Verständnis Gramscis wie auch der Kritischen Theorie zielt aber auf etwas ganz anderes – was im Übrigen auch erklärt, wie Marxistinnen und Marxisten auf die Idee kommen, sich fortan mit ihr anstatt mit der politischen Ökonomie zu beschäftigen. In der Auseinandersetzung mit Kultur suchten Gramsci wie auch die VertreterInnen der Kritischen Theorie die Antworten auf die Frage nach dem Ausbleiben der Revolution und dem Scheitern der ArbeiterInnenbewegung. Kultur wird dabei in einem sehr weit gehenden Verständnis untersucht, nämlich als Konglomerat von Ideen und Vorstellungen, von Denk- und Wahrnehmungsweisen und praxisrelevanten, unbewussten Strukturen. Max Horkheimer spricht von Kultur nicht nur als einer „Glaubens- und Vorstellungswelt“ (Horkheimer 1988, S. 350), mit deren Hilfe die gesellschaftliche Arbeit bewältigt werde, sondern fasst mit dem Begriff auch die „Lebenspraxis der Gesellschaft“ (Horkheimer 1988, S. 341).3 Die spezifischen

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Gerhard Schweppenhäuser sieht in diesem Kulturkonzept, das Lebens- und Vorstellungswelten umfasst, zu Recht eine „Antizipation des Kulturbegriffs der Cultural Studies“ (Schweppenhäuser 2013b, S. 37).

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Praktiken und Strukturen, die ebenfalls als Kultur bezeichnet werden und die Produktion, Rezeption und Distribution von Kunstwerken, Theateraufführungen, Musik und Literatur betreffen, sind nur ein kleiner Teil jener Lebenspraxis.4 Dass diese beiden Bereiche – Kultur im spezifischen und Kultur im allgemeinen Sinne – in den Schriften Gramscis und der Kritischen Theorie immer wieder aufeinander bezogen wurden, hat vielleicht auch zu dem Anderson’schen Missverständnis geführt. Die theoretische Schwerpunktverschiebung fand aber nicht von der Frage, „wie funktioniert die politische Ökonomie?“ zur Frage „wie funktionieren der moderne Film, die moderne Literatur und Kunst“ statt. Als sozialtheoretisch relevant wurden vielmehr Fragen angesehen wie die, warum die ArbeiterInnen lieber ins Kino als auf die Straße gingen, warum also der Konsum nicht selbst produzierter, kultureller Güter reizvoller erschien als das Eintreten für die eigenen Rechte oder gar das Umstürzen der Verhältnisse. Methodisch und inhaltlich geht es darum, wie Ullrich Bauer u. a. in Bezug auf die Kritische Theorie ausführen, über die Vermittlungsarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen (in erster Linie Philosophie, Soziologie, Ökonomie und Psychologie) die marxistisch-materialistische Theorie zu erweitern, „insbesondere um die subjektiven und kulturell beeinflussten Prozesse der Anpassung und Unterwerfung an Herrschaft zu verstehen“ (Bauer et al. 2014, S. 14). Es ging der Kritischen Theorie darum, mittels der Verknüpfung von transdisziplinärer Gesellschaftstheorie und Empirie zu begreifen, „warum abhängige Menschen die sozialen Bedingungen ihrer Abhängigkeit festigen, anstatt den Versuch zu machen, sie umzuwälzen“ (Schweppenhäuser 2013a, S. 17). Die Gramsci und der Kritischen Theorie gemeinsame, inhaltliche Schwerpunktsetzung besteht also darin, die „Strukturen des Überbaus“ nicht nur zu fokussieren, sondern damit einhergehend letztlich auch eine theoretische Neukonzeptualisierung des Verhältnisses von Basis und Überbau vorzunehmen, die Behauptung einer „relativen Autonomie“ des Kulturellen zu begründen und den Ökonomismus zurückzuweisen.5 4

Die Rezeption der im engeren Sinne kunsttheoretischen Schriften von AutorInnen der Kritischen Theorie, etwa Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1974a [1936]) oder Adornos „Ästhetische Theorie“, ist selbstverständlich unüberschaubar und hat sich u. a. auch in der viel rezipierten Avantgarde-Theorie Peter Bürgers (1974) niedergeschlagen. Zur Rezeption der Kritischen Theorie in der Kunstgeschichte vgl. auch Berndt et al. 1992. Wie in anderen Bereichen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften hat der Einfluss der Kritischen Theorie (im deutschsprachigen Raum) mit den frühen 1990er-Jahren und dem universitären Aufstieg der poststrukturalistischen Ansätze (ohne dass damit eine direkte und vor allem unilineare Kausalbeziehung behauptet sei) stark abgenommen. Nichtsdestotrotz arbeiten selbstverständlich auch namhafte Kunsthistoriker wie etwa Benjamin H. D. Buchloh auf Grundlage der Kritischen Theorie (vgl. Buchloh 2001). 5 Die These vom gemeinsamen Ausgangspunkt im Erkenntnisinteresse lässt sich m. E. auch dann vertreten, wenn die Beschäftigung mit Kultur nicht von Anfang an, sondern, wie Martin Jay meint, im Institut für Sozialforschung erst ab 1930 explizit Ausdruck fand: „Wenn das Institut sich in seinen ersten Jahren vornehmlich der Analyse der sozioökonomischen Basis der bürgerlichen Gesellschaft widmete, so galt in den Jahren nach 1930 sein Hauptinteresse deren kulturellem Überbau. Tatsächlich [. . .] wurde die traditionelle marxistische Formel hinsichtlich des Verhältnisses von Basis und Überbau in Frage gestellt“ (Jay 1981, S. 40).

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Gemeinsamkeiten. Ökonomismus als „primitiver Infantilismus“ (Gramsci) – Kulturkritik

„Der (als wesentliches Postulat des historischen Materialismus dargestellte) Anspruch“, schreibt Gramsci in den Gefängnisheften, „jede Schwankung der Politik und der Ideologie als einen unmittelbaren Ausdruck der Struktur hinzustellen und darzulegen, muß theoretisch als primitiver Infantilismus bekämpft werden, oder praktisch muß er bekämpft werden mit dem authentischen Zeugnis von Marx [...]“ (Gramsci 1992, GH 7, § 24, S. 878). Die Ablehnung des Ökonomismus findet sich auch explizit bei Adorno, und zwar in direktem Zusammenhang mit seiner theoretischen Hinwendung zur Kultur, genauer: zur Kulturkritik. Nach einer gründlichen Abrechnung mit den affirmativen Aspekten von Kulturkritik hält Adorno an dieser fest und beschreibt sie schließlich als integralen Bestandteil des Projekts einer kritischen Theorie: Die „dialektische Theorie, will sie nicht dem Ökonomismus verfallen und einer Gesinnung, welche glaubt, die Veränderung der Welt erschöpfe sich in der Steigerung der Produktion, [hat] die Verpflichtung, die Kulturkritik in sich aufzunehmen, die wahr ist, indem sie die Unwahrheit zum Bewußtsein ihrer selbst bringt“ (Adorno 1976 [1949], S. 21). Bevor nun auf den Anspruch der Kritik – und damit der Veränderung respektive Umwälzung der Kultur – eingegangen wird, soll noch einmal deutlich gemacht werden, worauf sich die Ablehnung des Ökonomismus gründet. Ohne die Prägung durch die Produktionsverhältnisse und konkret durch die Arbeit zu leugnen, spricht etwa Horkheimer in dem schon zitierten Aufsatz „Autorität und Familie“ (Horkheimer 1988a [1936]) der Kultur eine „relative Eigengesetzlichkeit“ (Horkheimer 1988a, S. 348) zu. Das bedeutet, dass die ökonomischen Entwicklungen die Belange der Kultur nicht vollständig determinieren, sondern dass sich diese nach eigenen Logiken entfalten (die wiederum nie ganz unabhängig sind, deshalb die Betonung ihres relationalen Charakters). Die so verstandene kulturelle Dimension des Sozialen umfasst bei Horkheimer bereits sowohl institutionelle soziale Gefüge als auch psychische Zustände der Individuen, Kultur wird also verstanden „als eine Reihe von Einrichtungen und als bestimmte Charaktere der Menschen“ (Horkheimer 1988a, S. 349). Hinsichtlich der Frage gesellschaftlicher Veränderungen bilden die kulturellen Verflechtungen aus Gewohnheiten und Denkweisen, religiösen Vorstellungen und künstlerischen Praktiken „jeweils dynamische Faktoren beim Aufrechterhalten oder Sprengen einer bestimmten Gesellschaftsform“ (Horkheimer 1988a, S. 344). Auch bei Gramsci gibt es diese Betonung der relativen Eigengesetzlichkeit sowie die Auffassung, dass Kultur sowohl institutionelle Arrangements als auch individuelle Bewusstseins- und Haltungsfragen betrifft. Gegen die kunsthistorische Idealisierung des Künstler-Individuums betont Gramsci etwa die historisch gewachsenen, sozialen Kontexte inklusive solcher Institutionen wie literarischer Zirkel, die entscheidend für die künstlerische Produktion seien. Gramsci hebt hervor, dass „kein Individuum und auch kein Künstler, und keine ihrer Tätigkeiten, außerhalb der Gesellschaft, einer bestimmten Gesellschaft gedacht werden kann“ (Gramsci 1996, GH 14, § 28, S. 1653). Zugleich weist er aber auch das idealisti-

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sche Verständnis von Kultur zurück, dass die Einzelnen bloß als EmpfängerInnen von Werten und Werken konzipiert. Kultur sei „etwas ganz anderes“ als diese Konzeption des passiv Aufzunehmenden, sie sei „Organisation, Disziplin des eigenen Ichs, Besitz der eigenen Persönlichkeit, Eroberung eines höheren Bewusstseins, mit dessen Hilfe es gelingt, den eigenen geschichtlichen Wert zu begreifen“ (Gramsci 1967, S. 21). Es ist bedeutsam, darauf hinzuweisen, dass in dieser strikten Abwendung vom Ökonomismus – ohne selbstverständlich ökonomische Aspekte in der Analyse kapitalistischer Produktionsweisen vollends auszublenden – nicht nur eine Abkehr vom klassischen Marxismus-Leninismus, sondern implizit auch eine starke Differenz zu Marx selbst proklamiert wird. Insofern ist die Rede von einer Erneuerung des Marxismus tatsächlich angebracht. Marx schreibt in seiner Tirade gegen die idealistische Geschichtsauffassung in der Deutschen Ideologie, „daß nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte auch der Religion, der Philosophie und sonstigen Theorie ist.“ (Marx 2004 [1845/46], S. 438) Die Idealisten würden die Praxis immer aus der Idee heraus erklären und Bewusstseinformen als Resultate von geistiger Kritik auffassen. Demgegenüber müsse aber die materialistische Geschichtsauffassung vom „materiellen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens“ (ebd.) ausgehen. Dann werde deutlich, dass nur durch „den praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse“ (ebd.) die Denkweisen sich ändern könnten. Diese Entgegensetzung von Kritik und Revolution geht also mit einer deutlichen (theoretischen wie politischen) Geringschätzung für die erstere einher. Es sei schließlich „ganz gleichgültig für die praktische Entwicklung, ob die Idee dieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen ist“ (Marx 2004 [1845/46], S. 439). Es ist nicht gewagt zu behaupten, dass sowohl Gramsci als auch die Kritische Theorie sich in ihrem gesamten Schaffen gegen genau diese Form des Materialismus richteten. Kritik ist ihnen nicht effektloser Gegensatz zur Revolution, sondern, wenn nicht ihre alleinige Voraussetzung (wie im Idealismus), so doch ihr integraler Bestandteil. Als wenn er sich gegen jene Marx-Passage aus der Deutschen Ideologie richten würde, schreibt etwa Gramsci: „Jede neue Komödie Voltaires, jedes neue Pamphlet war wie ein Funke, der längs der von Staat zu Staat, von Land zu Land gespannten Drähte übersprang und Zustimmende und Ablehnende überall und zu gleicher Zeit fand. Die Bajonette der napoleonischen Armeen fanden bereits den Weg von einem unsichtbaren Heer von Büchern und Broschüren geebnet, die von Paris seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgeschwärmt waren und Menschen und Institutionen für die notwendigen Erneuerungen vorbereitet hatten“ (Gramsci 1967, S. 22). Politische und ökonomische Umwälzungen finden demnach zwar nicht durch die Ideen, künstlerische Arbeiten und Literatur statt, sie werden aber von ihnen vorbereitet und gegebenenfalls erst ermöglicht, treffen durch sie auf fruchtbaren Boden. Horkheimer beschreibt in „Traditionelle und kritische Theorie“ programmatisch die „Theorie als Moment einer auf neue gesellschaftliche Formen abzielenden Praxis“ (Horkheimer 1992 [1937], S. 233), betrachtet die Entwicklung von Ideen, Wahrheit

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und Vernunft also – wie Gramsci – keinesfalls als nachrangiges Problem gegenüber materiellen Veränderungen. Wenn Horkheimer daran anschließend den Beruf des Kritischen Theoretikers als „Kampf“ beschreibt, „zu dem sein Denken gehört“ und davor warnt, das Denken als „etwas Selbstständiges, davon zu Trennendes“ (Horkheimer 1992 [1937], S. 233) zu betrachten, kann durchaus behauptet werden, dass die Theorie hier nicht nur als eine bestimmte gesellschaftliche Praxis, sondern auch als Einsatz für verändernde Praxis begriffen wird. Das Denken kann und darf demnach auch nicht als etwas außerhalb von Kultur stattfindendes begriffen werden, sondern es ist immer Teil der Kultur, um deren Veränderung es geht. „Der dialektische Kritiker an der Kultur“, schreibt Adorno, gegen die Vorstellung eines Außenstandpunktes der Kritik gerichtet, „muß an dieser teilhaben und nicht teilhaben“ (Adorno 1976 [1949], S. 29). Bei Gramsci ist es nicht weniger offensichtlich, dass das eigene Schaffen als Teil eines Kampfes um eine neue Kultur verstanden wird. Eine Kunstkritik, die seiner „Philosophie der Praxis“ entspreche, müsse, so Gramsci, die Kritik der Handlungsformen und Weltauffassungen mit der Kritik der einzelnen Kunstwerke verknüpfen. In ihr, so schreibt er über eine solche Literaturkritik, müssten „der Kampf für eine neue Kultur, das heißt für einen neuen Humanismus, die Kritik der Gewohnheit, der Gefühle und der Auffassung von der Welt mit der ästhetischen oder rein künstlerischen Kritik im leidenschaftlichen Überschwang, sei es auch in Gestalt des Sarkasmus, miteinander verschmelzen“ (Gramsci 1999, GH 23, § 3, S. 2108). Sowohl bei Gramsci als auch bei den Vertretern der frühen Kritischen Theorie kann die Auseinandersetzung mit Kultur als stets doppelt motiviert begriffen werden, als analytisches Mittel, um zum Verständnis der gesellschaftlichen Gegenwart beizutragen und als interventionistisches Werkzeug, um in diese einzugreifen. Dem Kampf für eine neue Kultur stand dabei vor allem das Bemühen um ein (kulturtheoretisches) Begreifen der gesellschaftlichen Gegenwart, insbesondere des Faschismus bzw. Nationalsozialismus gegenüber (bzw. ging damit einher). Die Verknüpfung zwischen analytischer und interventionistischer Dimension wurde dabei sowohl bei Gramsci als auch im Rahmen der Kritischen Theorie sehr strategisch betrieben. Dies lässt sich als formale Gemeinsamkeit sicherlich – neben den inhaltlichen – ebenso festhalten, auch wenn sich die Strategien jeweils stark unterschieden, nicht zuletzt, weil sie von den verschiedenen Bedingungen der jeweiligen Wissensproduktion abhängig waren, d. h. Gefängnis/Partei vs. Exil/Wissenschaft: Während Gramsci aus dem Gefängnis heraus im Rahmen seiner Partei-Tätigkeit agiert, arbeiteten die Frankfurter ab den späten 1930er im Exil und stets im Rahmen wissenschaftlicher Forschung. 1936 hatte Horkheimer in einem Brief an Henryk Grossmann geschrieben, die Aufgabe der Zeitschrift für Sozialforschung bestünde darin, „die Theorie in einem unabhängigen Geist weiterzutreiben“ und dies erfordere zu jener Zeit „gebieterisch eine strikte Enthaltung in der Tonart“ und verbiete vor allem „die großzügige Verwendung politischer Kategorien und Anspielungen“ (zit. n. Wiggershaus 2013, S. 134). Als politische Enthaltsamkeit darf diese Haltung allerdings nicht interpretiert werden, daran lässt Horkheimer später keinen Zweifel:

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„Wo Philosophie keine praktische Funktion ausübt, verliert sie auch ihre Kraft.“ (Horkheimer 1981, S. 102).6 Es mag überraschen, aber Gramscis Haltung hinsichtlich der möglichen, direkten politischen Effekte seines Schaffens unterscheidet sich gar nicht so sehr von der Horkheimers. Seine Situation im Gefängnis reflektierend, die ein Eingreifen in das politische Tagesgeschehen ohnehin kaum möglich machte, legte Gramsci seine Arbeit schon 1927 eher auf langfristige Ziele hin an – „man müsste etwas tun für ewig“ (zit. n. Lauggas 2012, S. 11) –, und orientierte sich damit einerseits, so Ingo Lauggas (2012, S. 11), „weg vom aktivistisch-journalistischen Alltagsgeschäft.“ Andererseits strebte Gramsci aber doch unverhohlen einen Kampf um eine neue Kultur ein, „das heißt für ein neues moralisches Leben“ (Gramsci 1999, GH 23 § 6, S. 2111). Im Kontext dieses Kampfes um Kultur in einem solch weiten Sinne des Begriffes stellt Gramsci sich sehr konkrete Fragen, wie etwa danach, wie man „den melodramatischen Geschmack des kleinen Mannes in Italien bekämpfen [könne], wenn dieser sich der Literatur, besonders aber der Dichtung nähert?“ (GH 14, §{19}, S. 1644). Fragen wie diese sind in ihrer Konkretheit und politischen Anwendungsbezogenheit bei Adorno oder Horkheimer kaum denkbar.

2.1

„teilhaben und nicht teilhaben“ (Adorno) und „Kampf für eine neue Kultur“ (Gramsci) – Ideologiekritik und Kunst

Inhaltlich geht es aber auch der Kritischen Theorie selbstverständlich um die Denkweisen der Menschen, die sich in alltäglichen Praktiken wie etwa dem Konsum von Kultur (im engeren Sinne) äußern, und um die Frage, wie sie sich verändern lassen. Dies führte unweigerlich zu einer Auseinandersetzung mit der Problematik der Ideologie (vgl. zum Ideologiebegriff auch den Beitrag von Rehmann im Handbuch). Janne Mende weist zu Recht darauf hin, dass sowohl Gramsci als auch die Kritische Theorie die gängigen Verkürzungen von Ideologie als objektivistisches Ableitungsverhältnis und/oder als subjektivistische Rechtfertigungsargumentation vermeiden (vgl. Mende 2009, S. 122 ff.). Während Gramsci in seiner Ideologiekritik jedoch an dem Versuch festhält, den Alltagsverstand als potenziell ideologiefrei oder zumindest als Quelle für anderes Denken zu retten, also „das Übergewicht des Ideologischen im senso comune zurückzudrängen und die realistischen und experimentierfreudigen Seiten zu stärken“ (Rehmann 2008, S. 90), gibt es diesen positiven 6

Alex Demirović wendet Gramscis Hegemonietheorie auf die Vertreter der Kritischen Theorie selbst an und betont, es sei die Regel in der Darstellung der Kritischen Theorie, die von ihren Akteuren betriebene „zivilgesellschaftliche Praxis zur Erlangung kultureller Hegemonie zu übersehen“ (Demirović 1999, S. 28). Auch Rolf Wiggershaus betont etwa in diesem Sinne das „diplomatische Geschick“ (Wiggershaus 2013, S. 187), mit dem Max Horkheimer nach dem Krieg sich für die Rückkehr des Instituts für Sozialforschung nach Frankfurt einsetzte. Darin ließe sich durchaus ein Argument gegen Andersons Entpolitisierungsthese sehen – auch wenn der Inhalt der Politik sicherlich zur Debatte steht, es also eine offene Frage ist, ob der Kampf um Hegemonie immer per se ein Klassenkampf ist.

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Glauben bei der Kritischen Theorie nicht (oder nur sehr bedingt). Während der Kritischen Theorie von den AnhängerInnen des gramscianischen Ansatzes (wie Jan Rehmann) vorgeworfen wird, ihr Ideologiebegriff oszilliere „zwischen positivistischer Reproduktion des Gegebenen und Manipulation“ (Rehmann 2008, S. 32) und könne befreiende Momente gar nicht benennen, wird aus Sicht einer adornitischen Perspektive (wie bei Mende) an Gramsci die „Vernachlässigung des Ressentiments“ (Mende 2009, S. 125) bemängelt.7 Adorno erklärt in „Kulturkritik und Gesellschaft“ [1949], die „herkömmliche transzendente Kritik der Ideologie ist veraltet“ (Adorno 1976 [1949], S. 29). Dem setzt er eine dialektische Kulturkritik entgegen, die bei der Klage über die „Verfilzung von Kultur mit dem Kommerz“ (Adorno 1976 [1949], S. 17) nicht stehen bleibt, sondern die Kritik der Kultur „bis zur Aufhebung des Begriffs der Kultur selbst steigert.“ (Adorno 1976 [1949], S. 22) Dieser Versuch einer erneuerten Ideologiekritik als dialektische Kulturkritik war auch innerhalb der Kritischen Theorie nicht unumstritten. So reagierte Max Horkheimer einige Jahre später auf den Aufsatz Adornos damit, die Notwendigkeit einer solchen Ideologiekritik zu verneinen und fordert die Rückbesinnung auf die wirklichen Aufgaben der Kulturkritik: „Kulturkritik muß sich hüten, daß sie nicht selber durch Denunziation der Kultur als Ablenkung von den Themen wegführt, die dem Gedanken noch geblieben sind: von den krassen Unterschieden der Macht, die niemand wahrnimmt, weil sie offenkundig sind, vom Elend hinter den Mauern der Zucht- und Irrenhäuser, von radikal materiellen Bestimmungsgründen der Politik, gerade dort, wo sie besonders edel sich gibt.“ (Horkheimer 1981 [1960], S. 107) Dieser Appell kommt wieder jenem Anspruch Gramscis nahe, die „Bedeutung der Ideologien“ im Kontext des „Stellungskrieges“ und der Hegemonie zu beurteilen (vgl. Gramsci 1996, GH 13, § 7, S. 1545), also Ideologie weniger als theoretisches, denn als politisches Problem aufzufassen. Die Auseinandersetzung um Kultur- und Ideologiekritik lässt sich zudem als Indiz dafür lesen, dass die „Kulturindustrie“ in ihren Effekten selbst von Horkheimer und Adorno letztlich nicht dermaßen total – entmündigend, manipulativ, Konformität erzeugend, Differenzen einebnend, passiv machend, imperialistisch (vgl. erläuternd Steinert 1998) – verstanden worden war, wie ihre Schilderung in der Dialektik der Aufklärung oft ausgelegt wurde (vgl. zur ausführlichen Auseinandersetzung mit der Kulturindustriethese die Beiträge im Teil 7 des Handbuchs). Darin hatten sie die „Kulturindustrie“ als das Aufeinandertreffen von fordistisch hergestellter Massenware auf ebenso fabrizierte und für den Konsum hergerichtete „Pseudoindividualität“ beschrieben, in der allein die Beschaffenheit der kulturellen Produkte bereits das Entstehen kritischer Haltungen verhindert. Sollten sie aber dennoch aufkommen, werden sie gleich kassiert: „Was widersteht darf überleben nur, indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz zur Kulturindustrie registriert, gehört es 7

Mende (2009) leistet im Übrigen eine der wenigen direkten Gegenüberstellungen der Ansätze von Gramsci und Adorno. Sie nimmt Adorno und die ältere Kritische Theorie zum Maßstab, an dem sie Gramscis Beitrag zur (Theorie der) Dialektik misst; ein Maßstab, an dem Gramsci nach Mende allerdings in allen zentralen Punkten der Debatte – Ideologie, Basis–Überbau und Subjekt/Objekt – scheitert.

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schon dazu wie der Bodenreformer zum Kapitalismus.“ (Horkheimer und Adorno 1990 [1947], S. 140).8 Horkheimers Hinweis auf das reale „Elend“ und die Notwendigkeit, sich mit ihm zu befassen, muss letztlich als auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass sich eine solche Auseinandersetzung lohnt, dass das systematische Nachdenken (und Schreiben) über das Elend also auch Effekte zeitigen kann, die zu seiner Auflösung beitragen. Auch dass Adorno sich später an die Ausarbeitung einer „Ästhetischen Theorie“ (Adorno 1973 [1970]) macht, kann nicht anders interpretiert werden denn als Restglauben an die Möglichkeit gesellschaftlichen Wandels zum Emanzipatorischen hin. Er lässt sich auch am Umgang mit ganz konkreten Begrifflichkeiten festmachen: So stellt etwa Ruth Sonderegger am Beispiel des Mimesis-Begriffes fest, er habe im Rahmen der Dialektik der Aufklärung auf den „Aspekt des Sich-gleich-Machens und passiven Sich-Überlassens“ (Sonderegger 2011, S. 417) abgehoben. In der „Ästhetischen Theorie“ hingegen steht Mimesis „für eine Öffnung auf das hin, was jede Aneignung, ja jede Kalkulation übersteigt“ (Sonderegger 2011, S. 417) – was also gerade der instrumentell gewordenen Vernunft entkommt (und auch entkommen kann). „Der soziale Gehalt von Kunstwerken“, schreibt Adorno in seinen „Thesen zur Kunstsoziologie“ (Adorno 1970 [1967], S. 97) gegen die Vorstellung eines stets affirmativen Kunsterlebnisses, „liegt zuweilen [. . .] gerade im Protest gegen soziale Rezeption“. Gramscis Gefängnishefte sind voll von Auseinandersetzungen mit konkreten Romanen, mit Dante und anderen klassischen Werken der italienischen Literatur, aber auch mit Trivialromanen und Populärkultur bis hin zum Film.9 Der zu Grunde liegende Gedanke, dass die Produktion und Rezeption von Kunst auf die Kultur im weiteren Sinne einwirkt, ist an vielen Stellen offensichtlich. In den Vorstellungen davon, inwiefern und wie konkret diese Wirkung sich entfaltet, differieren Gramsci und die Kritische Theorie wieder erheblich – allein dadurch, dass sie die Fragen auf verschiedenen Ebenen behandelt haben, eher theoretisch oder eher politisch. Auf die oben erwähnte Frage nach der Bekämpfung des melodramatischen Geschmacks des kleinen Mannes gibt Gramsci eine Antwort, die sowohl in der Direktheit, aber auch in ihrem Inhalt von Adorno, Horkheimer oder Benjamin niemals gegeben worden wäre: „Man bekämpft diesen Geschmack hauptsächlich auf zweierlei Art: mit unerbittlicher Kritik daran sowie dadurch, daß Gedichtbände verbreitet werden, die nicht in ‚erhabener‘ Sprache geschrieben oder in solche übersetzt sind und in denen die ausgedrückten Gefühle nicht rhetorisch oder melodramatisch sind.“

8

Heinz Steinert (1998) hat sieben verschiedene inhaltliche Bereiche unterschieden, mit denen sich das Kap. ▶ Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug beschäftigt: Die industrielle Produktion kultureller Waren, Neugestaltung der Freizeit, Amusement als Disziplin und Disziplinierung, Vereinnahmung und Glücksversprechen des Kapitalismus, Autoritarismus, Propaganda und Individualität sowie Kultur als Reklame. 9 Vor dem Hintergrund der Analyse von Gramscis Diskussionen kultureller Werke spricht Ingo Lauggas plausibel von einer „Ästhetischen Theorie bei Gramsci“ (Lauggas 2013, S. 194), ohne die letztlich auch die Hegemonietheorie nicht zu verstehen sei. In Gramscis Auseinandersetzung mit dem Film und dessen Effekt der Zerstreuung sieht Lauggas zudem „die Rede von ‚Kulturindustrie‘ vorweggenommen“ (Lauggas 2013, S. 118), vgl. dazu auch Kastner (2008).

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(Gramsci 1996, GH 14 § 19, S. 1645) Der hier zum Ausdruck kommende und bei Gramsci durchgängig vorhandene Gedanke an die Notwendigkeit der Anlehnung an den „popularen“, also an den unteren Klassen orientierten Geschmack (bzw. an die Entwicklung eines neuen popularen Geschmacks), liegt der Kritischen Theorie völlig fern.10 Adorno wendet sich gleichermaßen gegen künstlerische Arbeiten, die das „Verdikt des gesellschaftlich Gleichgültigen“ (Adorno 1973 [1970], S. 368) verkörpern wie gegen solche, „die gesellschaftlich eindeutig, diskursiv urteilen“ (ebd.) und dadurch schließlich die Kunst selbst negieren würden. Trotz dieser Differenz in der Frage nach der (für Emanzipation) angemessenen Beschaffenheit von Kunstwerken, ist doch zunächst wieder der verbindende Aspekte in der Auseinandersetzung mit Kunst (bzw. mit Kulturproduktion im engeren Sinne) hervorzuheben: Gramsci wie auch die Kritische Theorie setzen sich sowohl von bürgerlichen, auf ideell-geistige Entwicklungen bzw. Prozesse ausgerichteten, als auch von orthodox marxistischen Kunst-Verständnissen ab (für die Kritische Theorie vgl. Jay 1981, S. 209 ff.; für Gramsci vgl. Lauggas 2013, S. 148 ff.). Einerseits kann demnach kein kunstschaffendes Individuum „außerhalb der Gesellschaft, außerhalb einer bestimmten Gesellschaft gedacht werden“ (Gramsci Heft 14, § {28}, S. 1653). Andererseits dient die Kunst auch nicht bloß der herrschenden Klasse oder gibt nur ihre Ansichten wieder, sondern es existiert stets eine (analytisch schließlich genauer zu bestimmende) „Ungewißheit über das ästhetische Wozu“ (Adorno 1973 [1970], S. 10).

2.2

„daß sie Widerstand verlernen“ (Horkheimer) – Neue Herrschaftsformen

Neben dem Beharren auf der Notwendigkeit einer neuen Kultur und der Frage, welche Rolle die Kunst dabei spielt und spielen soll (und bei aller Unterschiedlichkeit der Beantwortung dieser Frage), galt die Analyse der Kultur auch jeweils einem angemessenen Verständnis der kapitalistischen Gegenwart. Wie im Hinblick auf die Kunst kann an dieser Stelle selbstverständlich nur angedeutet und nicht ausgeführt werden, inwiefern Übereinstimmungen zwischen Gramsci und der Kritischen Theorie in ihren jeweiligen Analysen des Spätkapitalismus bzw. Fordismus und des Faschismus bzw. Nationalsozialismus bestanden haben. Grundlegend ist jedenfalls jeweils der Gedanke, dass die neue Organisation der Arbeit auch Auswirkungen auf die Lebensweise der Menschen hat, also auch kulturtheoretisch relevant ist. Gramsci und die Kritische Theorie teilen diesen Grundgedanken, gehen ihm jedoch in unterschiedlicher Intensität und mit verschiedenen Methoden nach. Der Auseinandersetzung mit den „neuen“, nicht-faschistischen Herrschaftsformen kommt insofern auch eine bedeutende Rolle zu – bei Gramsci wie auch im 10

Dieser Glaube spiegelt sich letztlich noch in der Unterscheidung zwischen Kultur und dem Kulturellen, die Wolfgang F. Haug (2011) in Anlehnung an Gramsci vornimmt. In der Politik des Kulturellen drehe es sich dementsprechend darum, den „Tendenzen einer neuen Lebensweise, einer neuen Kultur Artikulationsmöglichkeiten bereitzustellen.“ (Haug 2011, S. 147).

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Rahmen der Kritischen Theorie –, weil das Interesse in beiden Fällen sich insbesondere auf solche Formen der Herrschaft bezieht, die nicht in erster Linie auf Repression und Gewalt basieren. Sicherlich sind auch die Debatten um Faschismus und Nationalsozialismus als zentral zu betrachten. Inhaltlich waren dabei schon im Kontext der Frankfurter Schule die „Unterschiede größer als die Gemeinsamkeiten“ (Jay 1981, S. 197), was einen Vergleich mit den Thesen Gramscis an dieser Stelle kaum möglich macht.11 Nicht zuletzt deshalb sei hier der Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeiten in Bezug auf Fordismus bzw. Spätkapitalismus gelegt. Selbstverständlich hat Gramsci kaum ahnen können, dass das von ihm in den frühen 1930er-Jahren erstellte „Porträt einer geschichtlichen Dynamik“ (Barfuss und Jehle 2014, S. 135), basierend auf dem Studium des Fordismus US-amerikanischer Prägung dermaßen hegemonial in der Nachkriegsordnung der westlichen Industrieländer werden würde. Obwohl Gramsci, anders als viele exilierte Frankfurter, nie in den USA war, maß er der spezifisch US-amerikanischen Konstellation, Arbeits- und Lebensweise zu gestalten, besondere Bedeutung zu. Gramsci beobachtete sehr genau, inwiefern das Funktionieren der neuen (fordistischen) Produktionsbedingungen von der Erneuerung politischer und moralischer Vorstellungen und Praktiken abhing: „In Amerika hat die Rationalisierung die Notwendigkeit hervorgebracht, einen neuen Menschentyp auszuarbeiten, der dem neuen Typus der Arbeit und des Produktionsprozesses konform ist.“ (Gramsci 1999, GH 22, § 2, S. 2069) Gramsci spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Schaffung einer neuen Ethik“ (Gramsci 1999, GH 22, § 3, S. 2073). Nicht nur die Arbeit, sondern auch die Reproduktion unterliegt nach Gramscis Beobachtungen verstärkter Kontrolle. So sei etwa hervorzuheben, „wie die Industriellen (besonders Ford) sich für die Sexualbeziehungen ihrer Belegschaften und überhaupt für die allgemeine Systematisierung ihrer Familien interessiert haben“ (ebd.). So gehen insgesamt die Verbesserungen der unmittelbaren Lebensumstände immer mit der Subsumption unter das Kapitalverhältnis einher, die Entwertung traditioneller Sozialmilieus mit Kämpfen um neue Konsum- und Verhaltensmuster – Kämpfe um Hegemonie, die Gramsci an verschiedenen Stellen beschreibt (vgl. zusammenfassend Candeias 2007, S. 23 ff.). Die kulturtheoretischen Ausführungen von Adorno, Horkheimer und auch Marcuse orientierten sich ohne Zweifel auch stark am US-amerikanischen Modell. Es dürfte als Konsens gelten, dass die These von der „Selbstzerstörung der Aufklärung“ (Wiggershaus 1988 [2008], S. 370) aus der Dialektik der Aufklärung vor dem Hintergrund von Erfahrung und Analyse der US-amerikanischen Kulturindustrie – eine Wortschöp-

11

Zur Analyse des Nationalsozialismus der Frankfurter vgl. Jay 1981, S. 175 ff. und Wiggershaus 2008 [1988], S. 314 ff.; obwohl in seiner historischen wie politischen Position geradezu prädestiniert zum Faschismustheoretiker, hat Gramsci zur Faschismustheorie relativ wenig Substanzielles beigetragen, was u. a. sicherlich auf seine Produktionsbedingungen, also die Haft unter einer faschistischen Regierung, zurückzuführen ist; in Richard Saages Klassiker Faschismustheorien (Saage 1977) jedenfalls taucht Gramsci nicht einmal auf, in der Neufassung des Buches 30 Jahre später rangiert er immerhin neben August Thalheimer und Leo Trotzki und als Vorläufer von Nicos Poulantzas als Vertreter des Bonapartismus-Modells „in den faschismustheoretischen Diskursen oppositioneller Kommunisten“ (Saage 2007, S. 55).

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fung, die im Übrigen schon Gramscis Fokus auf den Zusammenhang von Lebens- und Produktionsbedingungen enthält – entwickelt worden ist. Die Ausführungen zur Kulturindustrie richten sich zwar einerseits am faschistischen Propagandaapparat aus (indem etwa die Bedeutung des Radios für den Nationalsozialismus betont wird), sind andererseits aber klar an den kulturellen Produktionen US-amerikanischer Prägung, insbesondere dem Hollywood-Film orientiert. Nach Adorno und Horkheimer sind es die stereotypen und schablonenhaften Charaktere dieser Filme, die als „Vorbilder für die Menschen“ fungieren, „die sich selbst zu dem machen sollen, wozu das System sie bricht.“ (Horkheimer undAdorno 1990 [1947], S. 162) Auch Marcuses Einsicht aus Der eindimensionale Mensch, dass „soziale Kontrolle [. . .] in den neuen Bedürfnissen verankert [ist], die sie [die Gesellschaft, JK] hervorgebracht hat“ (Marcuse 1970 [1967], S. 29), ist Ergebnis von Untersuchungen am Beispiel der gesellschaftlichen Situation in den USA der 1950er- und 60er-Jahre. Horkheimer und Adorno sehen die Kulturindustrie als Steigerung jener Versagungen hinsichtlich des Begehrens, die jede Zivilisation auferlegt. „Gerade weil er nie passieren darf“, spitzen sie zu, „dreht sich alles um den Koitus.“ (Horkheimer und Adorno 1990 [1947], S. 149) Der Bezug auf Sexualität dient dabei vor allem als Beispiel für die beschriebene, allgemeine kulturelle Dynamik, nicht aber zur Thematisierung von Geschlechterverhältnissen als Dimensionen von Herrschaft. In diesem Ausblenden von Geschlecht als Dimension sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz besteht eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der Kritischen Theorie und Gramsci.12 Dieser hatte etwa im Kontext seiner Auseinandersetzung mit den „subalternen gesellschaftlichen Gruppen“ deren ethnische und geschlechtliche Differenzen zur herrschenden Klasse durchaus festgestellt, hatte die Beschäftigung damit allerdings nicht für politisch relevant gehalten. In Bezug auf Frauen meinte Gramsci, ihr gesellschaftlicher Ausschluss, der „Maskulinismus“, könne nur „in einem bestimmten Sinn mit der Klassenherrschaft verglichen werden, er hat daher mehr Bedeutung für die Geschichte der Sitten als für die politische und Sozialgeschichte.“ (Gramsci 1999, GH 25, § 4, S. 2193).13

Dass wir, wie Frigga Haug meint, bei Gramsci „eine exemplarische Analyse von Geschlechterverhältnissen als Produktionsverhältnissen in seinen Notizen zum Fordismus“ (Haug 2015, S. 330) finden, bloß weil er Sexualität im Kontext der zitierten Schaffung eines neuen Menschentyps behandelt, scheint mir eine sehr wohlwollende Interpretation zu sein. 13 Nichtsdestotrotz sind die feministischen und frauenbewegten Anschlüsse an Gramsci und die Kritische Theorie vielfältig. In Bezug auf Gramsci sind hier sicherlich die Arbeiten von Frigga Haug hervorzuheben, die in der Zeitschrift DAS ARGUMENT seit Jahrzehnten, wenn man so will, Feminismus auf gramscianischer Grundlage betreibt. Zuletzt betonte aber auch Stefanie Wöhl, es ließe sich insbesondere „mit Gramsci die Trennung in eine öffentliche und eine private Sphäre als herrschaftsförmige Konstruktion kritisieren.“ (Wöhl 2007, S. 71) Hinsichtlich der Kritischen Theorie hatte Regina Becker-Schmidt einige grundlegende feministische Klärungen vorgenommen (Becker-Schmidt 1989), im Kontext der Postmoderne-Debatte zu Beginn der 1990er-Jahre wurden poststrukturalistische Positionen häufig als Angriffe auf die Kritische Theorie als Grundlage des Feminismus gelesenen (vgl. etwa die Beiträge in Knapp 1998). Nancy Fraser fühlte sich in diesem Zusammenhang genötigt klarzustellen, „daß die Feministinnen nicht zwischen der Kritischen Theorie und dem Poststrukturalismus wählen müssen.“ (Fraser 1993, S. 60). 12

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3

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Unterschiede. „konsequent gewordene Widerstandslosigkeit“ (Horkheimer und Adorno) vs. „wirkliche Volksrevolution“ (Gramsci)

In den unterschiedlichen Gewichtungen der Wirkungsweisen und Effekte von Ideologie sowie auch in dem Glauben an das Populare der Kultur spiegelt sich selbstverständlich jene Differenz, die die Ansätze von Gramsci und der Kritischen Theorie bei allen Gemeinsamkeiten so fundamental unterscheidet wie keine andere: die Frage nach dem Vertrauen in die Arbeiterklasse als zentraler Akteurin des linken Projekts und der Geschichte. Während Gramscis Schaffen, wie etwa Benjamin Opratko betont, sowohl an der Reproduktion und Regulation der kapitalistischen Gesellschaftsformationen als auch an der „strategische[n] Orientierung der ArbeiterInnenbewegung“ (Opratko 2012, S. 25) ausgerichtet blieb, galt die Arbeiterbewegung der Kritischen Theorie „nicht mehr unmittelbar als Adressat der eigenen Theorie, sondern wurde zum Gegenstand empirischer Untersuchungen und gesellschaftstheoretischer Kritik“ (Demirović 1999, S. 29). Ausdrücklich und programmatisch hatte Horkheimer diese Distanz zur Arbeiterbewegung bereits in „Traditionelle und kritische Theorie“ formuliert: „Der Theoretiker, dessen Geschäft darin besteht, eine Entwicklung zu beschleunigen, die zur Gesellschaft ohne Unrecht führen soll, kann sich, wie dargelegt, im Gegensatz zu Ansichten befinden, die beim Proletariat gerade vorherrschen. Ohne die Möglichkeit dieses Konflikts bedürfte es keiner Theorie; [. . .]“ (Horkheimer 1992 [1937], S. 238). Zwar wurde der Enttäuschung über die Integration der ArbeiterInnenklasse mal mehr und mal weniger Ausdruck verliehen, grundsätzlich lässt sich aber wohl sagen, dass auch die verschiedenen Strömungen innerhalb des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in der Analyse dieser Einbindung, insbesondere durch die Erfahrung des Nationalsozialismus, übereinstimmten. Rolf Wiggershaus fasst die – in diesem Punkt konsensuale – Position Franz Neumanns wie folgt zusammen: „ Die Arbeiterklasse, durch ihre bürokratische Organisation und eine von Privatmonopolen diktierte standardisierte Massenkultur ihrer Spontaneität weitgehend beraubt, war eine leichte Beute der Nationalsozialisten geworden.“ (Wiggershaus 2008 [1988], S. 323)14 Das Hauptaugenmerk der Faschismusanalyse wurde dementsprechend auch auf die Frage gerichtet, wie die ArbeiterInnenklasse zu dieser leichten Beute werden konnte, wozu im Verständnis der Frankfurter Schule sozialpsychologische Methoden unabdingbar waren. Der „autoritäre Charakter“, als Begriff von Erich Fromm geprägt, rückte damit in den Mittelpunkt der Studien zu Faschismus und Nationalsozialismus. Auch wenn Horkheimers berühmtes Diktum aus „Die Juden in Europa“ (1988b [1939]), wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom Faschismus schweigen, zunächst anderes vermuten lässt, besteht in der Hinwendung

14

Laut Jay (1981, S. 182) befand sich die faschismusanalytische Arbeit von Neuman ebenso wie die Ansätze von Arkadij Gurland und Otto Kirchheimer insgesamt allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu jenen von Max Horkheimer und Friedrich Pollock.

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zu sozialpsychologischen Erklärungsversuchen eine deutliche Abkehr von ökonomistischen Modellen – was wiederum mit einer theoretischen Distanz zu den dominanten parteikommunistischen Faschismus-Konzeptionen einherging, die den Faschismus in erster Linie als Durchsetzung der reaktionärsten Kräfte des Finanzkapitals auffassten. Spätestens mit ihrer Analyse von Faschismus bzw. Nationalsozialismus nahm die Kritische Theorie auch Abstand vom Fortschrittsglauben, der die Positionen der (kommunistischen wie sozialistischen) Partei-Linken noch fundamental auszeichnete. Vielleicht am deutlichsten richtete sich zunächst Walter Benjamin in „Über den Begriff der Geschichte“ gegen die Vorstellung eines „Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte“ (Benjamin 1974b [1940], S. 701), in dessen Kontext sogar die Fabrikarbeit von der Sozialdemokratie als „politische Leistung“ (Benjamin 1974 [1940], S. 699) betrachtet werden musste. Die „Kritik an der Vorstellung des Fortschritts“ (Benjamin 1974 [1940], S. 699) bildet aber selbstverständlich auch die Grundlage der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Nicht nur geschichtsphilosophisch, sondern auch empirisch wird hier der Abschied von der Verknüpfung des Proletariats mit dem Fortschritt verkündet: Selbst im Aufmucken gegen die kulturindustriellen Erzeugnisse zeige sich bloß noch „die konsequent gewordene Widerstandslosigkeit“ (Horkheimer und Adorno 1990 [1947], S. 153) des Publikums. Gramsci hielt im Gegensatz zur Kritischen Theorie an der positiven Bezugnahme auf das Proletariat und auf dessen historisch-progressive Funktion auch angesichts des Faschismus fest. Noch vor seiner Haft schrieb er 1924 in dem Artikel „Die italienische Krise“: „Der Faschismus hat nur die proletarische Revolution verzögert, er hat sie nicht unmöglich gemacht: er hat dazu beigetragen, den Boden für die proletarische Revolution vorzubereiten, sie wird nach dem faschistischen Experiment eine wirkliche Volksrevolution sein“ (Gramsci 1924). Gramsci betont einerseits, dass es „kein Wesen des Faschismus“ (ebd.) gebe, da sich seine Merkmale in gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen verändern würden. Andererseits sieht er aber „Charakteristikum des Faschismus“ darin, dass „es ihm gelungen ist, eine Massenorganisation des Kleinbürgertums zu bilden“ (Gramsci 1924). Für die Sozialpsychologie des Kleinbürgers/der Kleinbürgerin, die ins Zentrum der Frankfurter Schule rückt, hat Gramsci jedoch kaum Interesse. Die Verbindung von Psychologie und Gesellschaftstheorie, die für die Frankfurter Kritische Theorie kennzeichnend (vgl. hierzu ausführlich die Beiträge von Dahmer und Schmid Noerr in diesem Handbuch) und für Gramsci bestenfalls ein Randanliegen ist, könnte dementsprechend auch als ein weiterer, die beiden Ansätze trennender Aspekt beschrieben werden.15

Barfuss und Jehle behaupten allerdings etwas zu apodiktisch: „Auch wenn es eine solche Verknüpfung von Freud und Befreiung auf der Linken zweifellos gegeben hat, so jedenfalls nicht bei Gramsci.“ (Barfuss and Jehle 2014, S. 153) Zwar hat Gramsci in der Tat keine systematische Verknüpfung von Marx und Freud angestrebt, greift hin und wieder aber doch auf dessen Arbeiten zurück. So schreibt er etwa über die Populärliteratur und den Feuilletonroman, dass sie das „Phantasieren des Mannes aus dem Volk“ begünstigen und dass dieses Phantasieren dem gleichkomme, was „Freud und die Psychoanalytiker über das Träumen mit offenen Augen behaupten.“ (Gramsci 1992, GH 6, § 134, S. 813–814). 15

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Politisch-strategisch leitet Gramsci aus seiner Faschismus-Analyse ab, dass die „Phase, die wir durchlaufen, [. . .] nicht die des direkten Kampfes um die Macht [sei], sondern eine Übergangsphase zum Kampf um die Macht, eine Phase also der Agitation, der Propaganda, der Organisation“ (Gramsci 1924). Als Leninist hielt er an der Einheitsfrontpolitik fest, die auch Mitte der 1920er-Jahre noch die offizielle Position der Komintern war.16

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Fazit: „etwas für ewig tun“ (Gramsci) und „Flaschenpost“ (Horkheimer und Adorno) – Zur Wirkungsgeschichte

Die gescheiterten Revolutionen im Westen nach dem Ersten Weltkrieg waren die gemeinsamen Ausgangspunkte für die erneuernden Interventionen in die marxistische Theorie sowohl für Gramsci als auch für die Kritische Theorie. In den analytischen Fokus gerieten die Etablierungen neuer Herrschaftsformen, die sich auf Privatleben und Psyche der Subjekte in den kapitalistischen Klassengesellschaften ausdehnten und in denen die Erklärung für das Ausbleiben der Revolution gesucht (und gefunden) wurde. Während allerdings die Vertreter der Kritischen Theorie den Glauben an die Rationalität des historischen Fortschritts (bzw. den Fortschritt der Rationalität) ebenso aufgaben wie jenen an ihr Subjekt, die ArbeiterInnenklasse, besteht dieser Glauben bei Gramsci fort. Sowohl die Fragestellungen als auch die jeweilige Grundhaltung zum Prozess gesellschaftlicher Transformationen und ihrer TrägerInnen waren in beiden Fällen extrem folgenreich für die sozialwissenschaftlich-politische Theorie als auch für die emanzipatorische politische Praxis. Allerdings ist zwar Demirovićs Hinweis auf die „zivilgesellschaftliche Praxis“ (Demirović 1999, S. 28) der Kritischen Theorie sicherlich nicht von der Hand zu weisen, sie hat ihren Zenit einer allgemeinen Einschätzung nach jedoch bereits in den Protestbewegungen von 1968 gehabt (vgl. ausführlich Kraushaar 1998). In den folgenden Jahren war die Kritische Theorie der Frankfurter Schule doch in erster Linien ein akademisches Projekt, bis ihre Thesen ab den 1990er-Jahren langsam selbst aus den sozial-, politik- und kulturwissenschaftlichen Lehrplänen heraus fielen (bzw. gestrichen wurden). 16

Ab 1928 richtete die Komintern ihre Politik an der von Stalin vertretenen und von Grigori Sinowjew schon 1924 aufgestellten, sogenannten Sozialfaschismus-These aus, nach der bürgerliche Demokratie und Faschismus als zwei politische Ausprägungen des Kapitalismus zu verstehen seien. Demzufolge wurde die Sozialdemokratie als Feindin des Kommunismus betrachtet. Auch wenn Gramsci bis zu seiner Verhaftung Ende 1926 noch die Politik der KPdSU öffentlich unterstützte (vgl. Gramsci 1926), kann davon ausgegangen werden, dass er als an politischen Bündnissen arbeitender Hegemonietheoretiker die Sozialfaschismus-These nicht geteilt hat. In den Gefängnisheften notiert er 1932: „Wenn die Einheit zweier Kräfte notwendig ist, um eine dritte zu besiegen, ist der Rückgriff auf die Waffen und den Zwang (vorausgesetzt, man verfügt darüber) eine rein methodologische Hypothese, und die einzige konkrete Möglichkeit ist der Kompromiß, da die Gewalt gegen die Feinde eingesetzt werden kann [. . .]“ (Gramsci 1996, GH 13, § 23, S. 1587). Ich danke Ingo Pohn-Lauggas für Recherchehilfe und Diskussion zu Gramscis Auffassung vom Faschismus.

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Gramsci hingegen erlebte nicht nur in Italien – als ständiger Bezugspunkt innerhalb der KPI, aber auch nach deren Umbenennung 1991 innerhalb der Linken insgesamt – eine recht dauerhafte, wenn auch konjunkturell unterschiedliche Rezeption. Auch in Lateinamerika dienten die Diskussionen um Hegemonie und Zivilgesellschaft häufig als Grundlage der Neuorganisierung der Linken während der und nach den Militärdiktaturen der 1970er-Jahre. Evelina Dagnino etwa fasst diesen Einfluss wie folgt zusammen: „[T]he work of Gramsci served as vehicle, a catalyst, and a pretext for a renovating discussion within the Left that included several other influences and that helped to consolidate an alternative set of conceptions to traditional Marxism“ (Dagnino 1998, S. 37).17 Zudem erlebte Gramsci – nicht zuletzt angestoßen durch die Arbeiten des einflussreichen Cultural Studies-Theoretikers Stuart Hall – eine Renaissance im Rahmen kulturwissenschaftlicher Forschung und Theorie. Stuart Hall betont in seinem Aufsatz zu Gramscis Rolle bei der Erneuerung des Marxismus, „wie Gramsci neue Dimensionen von Macht und Politik in den Vordergrund rückt, neue Bereiche, in denen Kämpfe stattfinden und Antagonismen herrschen: das Ethische, das Kulturelle, die Moral“ (Hall 1989, S. 77). Die Cultural Studies galten wegen ihrer Betonung individueller Handlungsfähigkeit bzw. -macht (agency) lange Zeit als Gegenmodell zur Strukturbetonung der Kritischen Theorie – eine Entgegensetzung, die das Ausbleiben einer Vermittlung zwischen den theoretischen Ansätzen von Gramsci und denjenigen der AutorInnen um die Frankfurter Schule noch verlängerte.

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Die Gramsci-Rezeption in Lateinamerika begann bereits, vermittelt über den peruanischen Kommunisten José-Carlos Mariátegui, in den 1920er-Jahren. Sie erlebte einen erneuten Aufschwung durch die Arbeiten des argentinischen Sozialtheoretikers Ernesto Laclau, dessen – häufig gemeinsam mit Chantal Mouffe verfassten – Schriften seit Hegemonie und radikale Demokratie (vgl. Laclau und Mouffe 1991 [1985]) bis in die Gegenwart in der Linken ebenso wie im akademischen Diskurs der Kulturwissenschaften extrem einflussreich sind. Allerdings sind die Einschnitte, die Laclau/Mouffe an den Grundlagen der gramscianischen Hegemonietheorie vornehmen ähnlich radikal wie jene von Jürgen Habermas bezogen auf die Ansätze aus der ersten Generation der Kritischen Theorie, dass an dieser Stelle nicht weiter auf sie eingegangen werden kann.

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Systemtheoretische Differenzierungstheorie als kritische Gesellschaftstheorie Albert Scherr

Zusammenfassung

Der Beitrag argumentiert, dass die immer noch einflussreiche Annahme eines unüberbrückbaren Gegensatzes von kritischen Gesellschaftstheorien in den Traditionslinien des westlichen Marxismus und der sog. Frankfurter Schule einerseits, soziologischen System- und Differenzierungstheorien andererseits nicht tragfähig ist. Aufgezeigt wird, dass die neuere System- und Differenzierungstheorie Luhmannscher Prägung als Weiterentwicklung der Marxschen Kapitalismustheorie verstanden werden kann. Von entscheidender Bedeutung dafür ist ein Verständnis der Gesellschaft als Zusammenwirken verselbständigter Teilsysteme, als deren paradigmatisches Vorbild Marx Darstellung des Reproduktionsprozesses der kapitalistischen Ökonomie verstanden werden kann. Der vorliegende Beitrag schließt an Arbeiten zu einer solchen Luhmann-Lektüre an, die deren Einordnung als affirmative, unkritische oder anti-kritische Theorie, die auf Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichtet ist sowie offenkundige Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung ignoriert, begründet zurückweisen.

Schlüsselwörter

Gesellschaftstheorie · Differenzierung · Realabstraktion · Kritik · Kritische Systemtheorie

A. Scherr (*) Institut für Soziologie, Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_41

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Einleitung

Für kritische Theorien in den Traditionslinien der Marxschen Kapitalismusanalyse ist der Gesellschaftsbegriff von zentraler Bedeutung (vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Ludwig in diesem Band). Denn Kritik wird hier als Gesellschaftskritik gefasst, die darauf zielt, die Struktur und Dynamik der Gesamtgesellschaft als Bedingungszusammenhang von sozialen Ungleichheiten, illegitimen Machtund Herrschaftsverhältnissen sowie Begrenzungen der individuellen Autonomie zu analysieren. Ein klassischer Ausgangspunkt hierfür ist Hegels Bestimmung der gesellschaftlichen Ursachen von Armut: Kennzeichnend für die „bürgerliche Gesellschaft“ ist Hegel zufolge einerseits „die Anhäufung der Reichtümer“, andererseits aber „die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an dieser Arbeit gebundenen Klasse“ (Hegel 1821, § 243). Trotz der Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums ist die bürgerliche Gesellschaft, so Hegels Diagnose, nicht in der Lage, die Armut zu beseitigen (Hegel 1821, § 245). Daran anschließend zielt die Marxsche Kapitalismustheorie auf eine Analyse der Struktur und Dynamik der kapitalistischen Ökonomie, die als zentraler Bedingungszusammenhang der Ungleichheitsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen wird. In ihrer Fortführung und Weiterentwicklung zielt die frühe kritische Theorie der Frankfurter Schule auf eine umfassend angelegte Gesellschaftskritik, oder genauer formuliert: auf eine umfassend angelegte Kritik der kapitalistischen Ökonomie und ihrer weitreichenden Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft.1 Paradigmatisch wird bei Max Horkheimer formuliert: „Es gibt nur ein menschliches Verhalten, dass die Gesellschaft selbst zum Gegenstand hat. Es ist nicht nur darauf ausgerichtet, irgendwelche Missstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft“ (Horkheimer 1937/1977, S. 539). Zur Erläuterung fügt Horkheimer hinzu, dass dieses menschliche Verhalten als „das ‚kritische‘“ zu qualifizieren sei und dies im Sinne der „dialektischen Kritik der politischen Ökonomie“ (Horkheimer 1937/1977, S. 540), also der Marxschen Theorie. Zum Gegenstand der Kritik wird damit die Grundstruktur der Gesellschaft erklärt; dies in der Verbindung mit der These, dass sich zentrale gesellschaftliche Probleme nur durch eine Veränderung dieser Grundstruktur lösen lassen. Kritik zielt damit auf einen theoretischen Beitrag zur Veränderung struktureller Merkmale der bürgerlichen bzw. der kapitalistischen Gesellschaft. In der kritischen Theorie der Frankfurter Schule wird dabei die Kapitalismusanalyse erweitert: In den Blick genommen werden insbesondere die Folgen der Entstehung der sog. Kulturindustrie (s. hierzu ausführlich Schweppenhäuser sowie die übrigen Beiträge im dritten Abschnitt dieses Handbuchs).

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In der Dialektik der Aufklärung wird dann jedoch eine andere Perspektive eingenommen, die einer grundlegenden geschichtsphilosophischen Kritik des Rationalismus der Natur- und Menschenbeherrschung; s. dazu Jay 1973, S. 297 ff.

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Die system- und differenzierungstheoretische Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns (Luhmann 1997a) ist zweifellos nicht den Traditionslinien des westlichen Marxismus und der Frankfurter Schule zuzuordnen. Sie ist im vorliegenden Zusammenhang – einem Handbuch Kritische Theorie – jedoch deshalb relevant, weil sie einen anspruchsvollen Versuch darstellt, die Gesellschaftstheorien der soziologischen Klassik weiterzuentwickeln – und dies unter ausdrücklichem Bezug auch auf die Marxsche Kapitalismustheorie (s. u.). Seit der Anfang der 1970er-Jahre zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann geführten Debatte (Habermas und Luhmann 1971) wird Luhmanns Gesellschaftstheorie jedoch gewöhnlich als ein Gegenprogramm zur kritischen Gesellschaftstheorie interpretiert, und Luhmann selbst hat sich verschiedentlich auch selbst explizit von der Programmatik kritischer Theorie distanziert. Gleichwohl sollen hier Perspektiven einer solchen Luhmann-Lektüre aufgezeigt werden, die danach fragt, was die Theorie der funktional differenzierten Gesellschaft zur Weiterentwicklung kritischer Gesellschaftstheorie beitragen kann. Der vorliegende Beitrag schließt damit an Überlegungen zu einer solchen Luhmann-Lektüre an, die deren Einordnung als affirmative, unkritische oder anti-kritische Theorie, die auf Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichtet ist sowie offenkundige Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung ignoriert, zurückweist (s. dazu auch Moeller 2012 sowie die Beiträge in Amstutz und Fischer-Lescarno 2013 und Scherr 2015). Argumentiert wird, dass soziologische System- und Differenzierungstheorie einen wichtigen Beitrag zur Analyse gesellschaftlicher Strukturen in kritischer Absicht leisten kann. Ausgehend von einer Auseinandersetzung damit, wie das Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Kritik bei Luhmann konzipiert ist, wird argumentiert, dass eine Beschreibung der modernen Gesellschaften als funktional differenzierte – und nicht als gesamtgesellschaftlich kapitalistische – theoretische Mittel auch für Kapitalismuskritik bereitstellt. Die Perspektive dieser Kritik besteht, wie zu zeigen sein wird, in Argumenten gegen eine Form der Entdifferenzierung, die auf eine umfassende Durchsetzung der Prinzipien, die kapitalistische Produktion und Reproduktion kennzeichnen, auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche hinauslaufen würde. Dagegen ist für Luhmann eine aufs Ganze zielende Gesellschaftskritik, die in der Logik seiner Theorie als Ablehnung der Struktur funktionaler Differenzierung zu fassen wäre, keine erreichbare und auch keine anstrebenswerte Perspektive. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Luhmanns Theorie nicht als kritische interpretierbar ist. Und darin ist auch keineswegs eine grundlegende Differenz zur kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu sehen. Denn bereits die späte kritische Theorie Adornos geht davon aus, dass Theorie ihren Ort unter der Bedingung zu bestimmen hat, dass „die Veränderung der Welt mißlang“ und eine umfassend gesellschaftsverändernde Praxis „auf unabsehbare Zeit vertagt“ ist (Adorno 1997a, S. 15).

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Gesellschaftstheoretische Grundannahmen

Im Sinne einer ersten Annäherung an den Gesellschaftsbegriff der Luhmannschen Theorie lässt sich feststellen: Luhmann kennzeichnet seine Gesellschaftstheorie explizit als Weiterentwicklung der Marxschen Programmatik. Dabei wird die Marx-

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sche Bestimmung der gesellschaftlichen Grundstruktur als Klassenstruktur jedoch durch die Annahme ersetzt, dass nicht die Ungleichheitsverhältnisse, sondern die Differenzierungsformen das basale Unterscheidungsmerkmal von Gesellschaften sind: Eine „soziologische Theorie hätte die Korrelationen zwischen Gesellschaftsstrukturen und Semantiken zu formulieren. Bekanntlich verwendete Marx zu diesem Zweck das Konzept der Klassenstrukturen und konstruierte eine Typologie sich wandelnder Produktionsweisen, die historische Ideologien generieren. Man könnte dieses Konzept erweitern, indem man Klasse durch Differenzierungsform ersetzte.“ (Luhmann 2001, S. 288) Begründet wird dies mit der Annahme, dass in der Gegenwartsgesellschaft die Gesellschaftsstruktur nicht mehr mit der Sozialstruktur zusammenfällt, weshalb eine ungleichheitstheoretisch fundiertes Verständnis der Gesellschaftsstruktur der Komplexität der modernen Gesellschaft nicht gerecht wird. Das Fortbestehen gravierender Ungleichheiten wird damit keineswegs bestritten (s. u.), aber angenommen, dass eine Charakterisierung der Gesellschaft als Klassengesellschaft ihrer Struktur und Dynamik nicht angemessen beschreibt. Darauf wird im Folgenden noch näher eingegangen. Für eine Annäherung an den Gesellschaftsbegriff der Luhmannschen Systemtheorie ist zunächst ein Vergleich zu Adornos Bestimmungen des Gesellschaftsbegriffs (Adorno 1997b) instruktiv. Dabei fallen Ähnlichkeiten auf: • Gesellschaft, so Adorno (1997b, S. 9) „ist wesentlich Prozess“; auch Luhmann (2005, S. 55) bestimmt Gesellschaft prozessual, als eine „operative Einheit“ (s. Nassehi 2006, S. 406) für die gilt, dass „die Gesellschaft das . . ., was die Gesellschaft produziert“ ist. • Ein zentrales Merkmal von Gesellschaftlichkeit besteht nach Adorno (1997b, S. 9) im „Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen“; dem korrespondiert bei Luhmann ein Gesellschaftsverständnis, mit dem Gesellschaft als ein „sich selbst aus eigenen Produkten reproduzierendes System“ (Luhmann 2002, S. 16) und als ein eigengesetzliches System gefasst wird, das nicht an menschlicher Vernunft und menschlichen Bedürfnissen ausgerichtet ist. • Die gängige Annahme, dass „die Gesellschaft eine von Menschen, daß sie menschlich sei“, wird von Adorno (1997b, S. 9) zurückgewiesen; bei Luhmann werden Menschen nicht als Bestandteil von Gesellschaft konzeptualisiert, sondern theoretisch in der Umwelt sozialer Systeme situiert – und dies ist in dezidierter Kritik humanistischer Gesellschaftsbegriffe (Luhmann 1995c). Der Verweis auf solche Ähnlichkeiten – es ist hier bewusst nicht von Übereinstimmungen die Rede – hat zweifellos auch seine Grenzen: Ein Verständnis von Gesellschaft als ein „totale[r] Zusammenhang“ (Adorno 1997b, S. 14, vgl. zum Totalitätsbegriff den Beitrag von Freytag in diesem Handbuch), in der alle gezwungen sind, sich im Interesse ihrer Selbsterhaltung „dem Tauschgesetz“ (Adorno 1997b, S. 14) zu unterwerfen, stimmt mit Luhmanns Verständnis der Gesellschaft als Gleichzeitigkeit heterogener sozialer Teilsysteme (s. dazu Fuchs 1992, S. 67 ff.;

Systemtheoretische Differenzierungstheorie als kritische . . .

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Nassehi 2006, S. 375 ff.) nicht überein. Denn an die Stelle des Versuchs, ein singuläres zentrales Bestimmungsmoment aufzuzeigen, tritt bei Luhmann, wie im Weiteren noch auszuführen sein wird, ein Verständnis der Gesellschaft, deren Einheit gerade in der Unterschiedlichkeit ihrer Teilbereiche besteht. Ausgangsproblematik der Luhmannschen Gesellschaftstheorie ist paradoxe Bestimmung der Gesellschaft als „einer Einheit, die aus einer Vielheit besteht“ (Luhmann 1975, S. 235). Dies kann man als eine Radikalisierung der dialektischen Anlage der Marxschen Gesellschaftstheorie interpretieren, während die späte kritische Theorie Adornos dagegen eher zur Annahme einer sich sich geschlossenen gesellschaftlichen Totalität tendiert. Entscheidender ist hier jedoch eine Übereinstimmung, die darin begründet ist, dass sowohl die kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule als auch Luhmanns Systemtheorie der funktional differenzierten Gesellschaft von einem Gesellschaftsbegriff ausgeht, der auf emergente und eigendynamische, gegenüber dem Willen und Bewusstsein menschlicher Individuen verselbständigte Strukturbildungen hinweist. Zudem ist für beide Theorielinien die Annahme zentral, dass die Strukturen der Gesamtgesellschaft hoch folgenreich sind für die Entwicklungen in ihren Teilbereichen sowie für die Lebensführung aller Individuen (s. dazu Nassehi 2015; Scherr 2015; Schimank 2015). Deshalb ist für die Luhmannsche Systemtheorie der Gesellschaftsbegriff ebenso wenig verzichtbar wie für kritische Theorien in den Traditionslinien des westlichen Marxismus und der Frankfurter Schule. Sie unterscheiden sich nicht in Hinblick auf die Frage, ob eine gesellschaftstheoretische Fundierung sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung erforderlich ist. Dagegen sind ihre inhaltlichen Annahmen darüber, was die Struktur der modernen Gesellschaft zentral kennzeichnet, unterschiedlich. Auch darauf wird im Weiteren noch näher einzugehen sein. Zunächst lässt sich feststellen: Luhmann schließt an die Tradition soziologischer Differenzierungstheorien, für die klassisch Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber stehen, an. Basales Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft ist demnach ein Primat der funktionalen Ausdifferenzierung von Teilsystemen (s. Luhmann 1977, S. 595 ff.). Diese Grundannahme ermöglicht eine Berücksichtigung kapitalismustheoretischer Analysen im Sinne einer Charakterisierung der modernen Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie (s. Scherr 2008; Schimank 2015). Ausgeschlossen ist damit jedoch ein Verständnis der Gesellschaft als insgesamt kapitalistisch strukturierte, also als kapitalistische Gesellschaft. Aufgrund ihrer gesellschaftstheoretischen Grundannahmen richtet sich das Interesse der Theorie vielmehr darauf, was die Struktur funktionaler Differenzierung kennzeichnet und was die Folgen dieser Struktur sind.

3

Theorie als Kritik

Kritik als Beschreibung von Sachverhalten und Entwicklungen, die als problematisch und veränderungsbedürftig markiert werden, wird durch die Sozialwissenschaften, politische Akteure und die Massenmedien kontinuierlich vorgetragen. Das Ausmaß

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der sozialen Ungleichheiten, die psychosozialen Belastungen durch Arbeitsintensivierung, der anhaltende Prozess der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, die immer noch nicht überwundenen Asymmetrien in den Geschlechterverhältnissen oder der Umgang mit Flüchtlingen sind, um nur einige prominente Beispiele zu nennen, anhaltend Gegenstand von Kritik. In unterschiedlichen Formen (etwa: Nicht-Regierungs-Organisationen, linke Parteien, kritische Forschungsgruppen, nationale, EU-europäische und UN-basierte Berichterstattung, Medien) ist solche Kritik auch institutionell verankert und insofern etablierter Bestandteil der Gesellschaft. Eine Gemeinsamkeit der älteren Kritischen Theorie mit der Luhmannschen Gesellschaftstheorie ist darauf bezogen zentral darin zu sehen, dass sie sich nicht auf eine Form der Analyse beschränkt, die Diskrepanzen zwischen gesellschaftlich akzeptierten Norm- und Wertvorstellungen einerseits, empirisch beschreibbaren Sachverhalten andererseits benennt (s. dazu programmatisch Horkheimer 1968; Luhmann 1993a). Der Anspruch richtet sich vielmehr darauf, die Ursachen problematisierbarer Zustände gesellschaftstheoretisch zu betrachten, also danach zu fragen, ob und wie deren Entstehung und Aufrechterhaltung in den Grundstrukturen der Gesellschaft verankert ist. Die Bedeutung der Marxschen Theorie wird von Luhmann entsprechend ausdrücklich darin gesehen, dass Fragen nach den gesellschaftsstrukturellen Ursachen gestellt und Erklärungen nicht „auf krude Annahmen über den Einfluss kleiner Klüngel oder herrschender Klassen“ (Luhmann 1993a, S. 10) beschränkt werden. Deshalb sind die Kritische Theorie ebenso wie die Luhmannsche Systemtheorie – im Unterschied zu Varianten der empirischen Beschreibung sozialer Probleme – darauf verwiesen, eine Theorie der Gesellschaft zu entwickeln, die sich Aussagen über die Struktur und Dynamik der Gesamtgesellschaft zutraut und diese als Referenzrahmen für die Analyse einzelner Sachverhalte beansprucht. Zudem ist eine weitere Übereinstimmung darin zu sehen, dass Luhmann – und dies auch in expliziter Referenz auf die Kritik der politischen Ökonomie – eine handlungstheoretische Fundierung der Gesellschaftstheorie ablehnt (s. Luhmann 1992, S. 19 ff.). Gerade aufgrund dieser basalen Übereinstimmung hat sich zwischen Varianten Kritischer Theorie und Luhmannscher Systemtheorie ein Verhältnis der Gegnerschaft und der Konkurrenz entwickelt. Denn mit der Entwicklung der Luhmannschen Theorie ist eine umfassende, über Zeitdiagnostik hinausgehende soziologische Gesellschaftstheorie entstanden, die nicht im Sinne der gängigen Kritik an Parsons (s. etwa Haug1984, S. 128 ff.) als affirmative, auf Bestandserhaltung ausgerichtete Theorie abgelehnt werden kann. Auf den diesbezüglichen Einwand reagiert Luhmann bereits in seiner Diskussion mit Habermas, indem er die Alternative „Kritik oder Apologie“ selbst problematisiert: Die Tragfähigkeit einer Orientierung an den Unterscheidungen „rechts bzw. links, konservativ bzw. sozialrevolutionär und Apologie bzw. Kritik“ (Luhmann 1971, S. 399) wird mit dem Argument in Frage gestellt, dass die gesellschaftliche Veränderungsdynamik dazu geführt habe, „dass konservative Kräfte sich noch als Opportunisten halten können, während die Linke in der Bewahrung ihrer immer noch nicht erfüllten Ideale konservativ wird“ (Luhmann 1971, S. 399). Dieser polemischen Bemerkung liegt die Einschätzung zu Grunde, dass Gesellschaftskritik sich in einer Situation vorfindet, in der sie in die Defensive gedrängt ist, in der keine realistischen Aussichten auf eine umfassende

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Gesellschaftsveränderung aufgezeigt werden können. Zudem besteht Luhmanns grundlegender Verdacht gegenüber kritischer Theorie, den er wiederkehrend reformuliert hat (s. etwa Luhmann 1992 und 1993a), darin, dass ihre Kritik den Folgeproblemen, die aus der Struktur und Dynamik moderner Gesellschaften und der Eigendynamik ihrer Funktionssysteme – also nicht ‚nur‘ aus der Ökonomie, sondern auch aus staatlicher Politik, wissenschaftlichen Technologien, positivem Recht, massenmedialer Kommunikation, schulischer Erziehung usw.2 – resultieren, nicht gerecht wird. Dies ermöglicht eine Luhmann-Lektüre, die nach deren Potenzialen für eine Radikalisierung der Gesellschaftskritik fragt, im Sinne einer Kritik, die nicht allein den Kapitalismus, sondern umfassender die Strukturen der Moderne in den Blick nimmt (s. dazu Nassehi 2015; Scherr 2015). Programmatisch fasst Nassehi (2015, S. 71f.) die Perspektive einer solchen Lesart wie folgt: „Marx hatte . . . die These vom tendenziellen Fall der Profitrate entwickelt und in der Struktur der Grenzenlosigkeit des Systems auch den Keim seiner Selbstzerstörung entdeckt – das ist letztlich die Grundlage aller linken Kritik des Kapitalismus geblieben: dass sich der Kapitalismus selbst verzehrt und an seinen Erfolgen zugrunde gehen wird. Dass der Kapitalismus sich historisch als kreativer erwiesen hat, als man es erwartet hatte, ist freilich bekannt – an der Diagnose der Grenzenlosigkeit der Akkumulation freilich darf durchaus festgehalten werden – und zyklische Finanzkrisen sind durchaus Ausdruck der Krisenhaftigkeit dieses Modells, zugleich aber auch Ausdruck seiner internen Resilienz, die auch dazu führt, dass ökonomischer Erfolg keineswegs Strukturprobleme der Gesellschaft löst wie etwa eine gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen, eine flächendeckende Distribution von Gütern oder die Stabilität von Währungen. Man muss kein Marxist sein, um dies sehen zu können. Vielleicht sollte man auch kein Marxist sein, um das zu sehen, denn dann sieht man noch mehr, nämlich dass auch andere Funktionssysteme der modernen Gesellschaft in ganz ähnlicher Weise über keine internen Stoppregeln verfügen und so zu Optionssteigerungen in der Lage sind, die zu krisenhaften Entwicklungen führen.“

Eine kritische Betrachtung der funktional differenzierten Gesellschaft ist bei Luhmann auch ganz explizit zu finden. Ausgehend von einer prinzipiellen Skepsis gegenüber der Annahme, dass die Erwartungen, die an das Projekt der Moderne geknüpft waren – mehr „Wohlstand, mehr Freiheit, weniger Zwang, mehr Chancen für individuelle Selbstverwirklichung“ (Luhmann 1995a, S. 26) – noch tragfähig sind, werden Folgeprobleme der Moderne thematisiert, insbesondere die ökologische Problematik sowie die Problematik der Exklusion, d. h. des Ausschlusses großer Bevölkerungsgruppen von den Leistungen der Teilsysteme und Organisationen, von denen die Lebensführung von Einzelnen und Familien im Prozess der Modernisierung abhängig geworden ist (s. etwa Luhmann 1986, 1993a, 1995b, 1997b): „We have to come to terms, once and for all, with a society without human happiness and, of course, without taste, without solidarity, without similarity of living conditions. It makes no sense to insist on these aspirations, to revitalize or to supplement the list by renewing old

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Die jeweilige Problembeschreibung für die Funktionssysteme kann hier nicht im Einzelnen erläutert werden; s. dazu als Übersicht die Beiträge in Scherr (2015).

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names such as civil society or community. (. . .) We may well recognize the hardships and the injustice of stratification, but this is no longer the main problem of society. (. . .) If we look at the huge masses of starving people, deprived of all necessities for a decent human life, without access to any of the function systems, or if we consider all the human bodies, struggling to survive the next day, neither ‚exploitation‘ nor ‚suppression‘ – terms that refer again to stratification – are adequate descriptions. (. . .) The predominant relation is no longer a hierarchical one, but one of inclusion and exclusion; and this relates not to stratification but to functional differentiation“ (Luhmann 2015, S. 42).

Dieser Einschätzung entsprechend richtet sich Luhmanns Kritik des Klassenbegriffs dezidiert nicht gegen die Annahme der Existenz von Klassen und auch nicht gegen die Möglichkeit, soziale Ungleichheiten klassentheoretisch zu beschreiben, sondern nur gegen die Annahme, dass mit Klassenverhältnissen und Klassenkonflikten die zentrale Problematik moderner Gesellschaften beschrieben ist: „Niemand wird bestreiten, dass es Kapital und Arbeit ‚gibt‘ (. . .) Niemand wird fortbestehende Verteilungsprobleme bestreiten. Niemand wird bestreiten, dass Arbeiter eine organisierte Vertretung ihrer Interessen benötigen. Nur die relative Prominenz dieses Problembereichs in der Beschreibung unseres Gesellschaftssystems steht zur Diskussion“ (Luhmann 1994a, S. 171).

Luhmann bestreitet also keineswegs die Legitimität und die Notwendigkeit einer Gesellschaftstheorie, die darauf ausgerichtet ist, gesellschaftsstrukturell bedingte Problemlagen zu analysieren und erhebt für die eigene Theorie den Anspruch, dies mit besseren Mitteln tun zu können, als Varianten kritischer Theorie in den Traditionslinien des Marxismus und der Frankfurter Schule.3 Entsprechend distanziert sich Luhmann vom Projekt der Kritischen Theorie mit der Behauptung, dass diese eine nicht mehr tragfähige Grundlage der Kritik für sich reklamiert. Insbesondere das folgende Argument zielt in das Zentrum des Selbstverständnisses kritischer Theorie: „Die Systemtheorie hat sich von Vernunft und Herrschaft emanzipiert. Für sie ist Vernunft kein Kriterium und Herrschaftsfreiheit eine schlichte Selbstverständlichkeit des Denkens, die weder postuliert noch idealisiert werden muss. Vernunft und Herrschaft sind für sie weder im Sinne der alteuropäischen Lehrtradition kongruent gesetzte, noch im Sinne der dagegen reagierenden Aufklärungstradition kontradiktorische Begriffe; sie sind überhaupt keine brauchbaren Begriffe mehr. (. . .) Deshalb trifft eine Kritik der Systemtheorie, die ihr Herrschaftskonformität vorwirft, ihre Denkebene nicht“ (Luhmann 1971, S. 402).

Mit dieser, zunächst spezifisch gegen Habermasʼ Variante der Kritischen Theorie – nicht zuletzt sein Konzept der prozeduralen Rationalität und das Konzept der herr-

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Diese stellt er zudem unter den Verdacht, hinter das von Marx erreichte Niveau theoretischer Reflexivität zurückzufallen (Luhmann 1993a, S. 7 f.), dies allerdings, von Habermas abgesehen, ohne eine sachhaltige Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Varianten kritischer Theorie.

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schaftsfreien Kommunikation – gerichteten Formulierung,4 geht Luhmann in Distanz zu zwei Grundannahmen, die auch in der klassischen kritischen Theorie, so etwa bei Horkheimer (1968), von zentraler Bedeutung sind: Er wendet sich erstens dezidiert, und dies auch im weiteren Verlauf seiner Theorieentwicklung, sowohl gegen eine Gesellschaftstheorie, die gesellschaftliche Verhältnisse zentral als Herrschaftsverhältnisse betrachtet (s. etwa Luhmann 1975). Dem wird eine Perspektive entgegengesetzt, die den in sich widersprüchlichen Charakter gesellschaftlicher Strukturbildungen als Ermöglichung und zugleich auch als Begrenzung individueller Möglichkeiten betont. Zweitens wendet sich Luhmann gegen die Annahme, dass sozialwissenschaftliche Analyse die Position einer objektiven Vernunft im Verhältnis zu als unvernünftig qualifizierbaren Verhältnissen einnehmen kann (s. etwa Luhmann 1990, 1993b). Hierin kann zweifellos eine prinzipielle Abgrenzung zur klassischen Programmatik Kritischer Theorie5 gesehen werden und daraus die Konsequenz einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von kritischer Theorie und Systemtheorie ziehen (s. etwa Habermas 1971, S. 221 ff.; Narr 2001),6 eine Konsequenz, die Luhmann selbst mit seinen wiederkehrenden Abgrenzungen gegen Kritische Theorie, insbesondere gegen Habermas, auch selbst anbietet. Dagegen soll im Folgenden zunächst knapp gezeigt werden, dass die Luhmannsche Ablehnung des Herrschaftsbegriffs spezifisch auf einen handlungs- und akteurstheoretisch gefassten Herrschaftsbegriffs zielt sowie, ebenso wie seine spezifische Distanzierung von einem emanzipatorisch beanspruchbaren Vernunftbegriff, keine Setzung darstellt, sondern gesellschaftstheoretisch begründet ist. Vor diesem Hintergrund wird dann auf das spezifische Kritikpotenzial der Gesellschaftstheorie Luhmanns eingegangen.

4

Selbstkritische Vernunft und Kritik

Für Luhmanns Theorieprogramm ist eine spezifische Verschränkung von Gesellschaftstheorie und Erkenntnistheorie von zentraler Bedeutung (s. Luhmann 1990): Im Unterschied zur klassischen Sozialphilosophie und Soziologie wird ein wechselseitiges Fundierungsverhältnis angenommen (Luhmann 1990, S. 616 ff.). Das heißt vor allem: Wissenschaft wird nicht als Artikulation einer gesellschaftsexternen Rationalität betrachtet, sondern als ein gesellschaftsimmanenter Teilbereich in den Blick genommen, dessen Erkenntnismöglichkeiten und dessen Funktion nur auf der Grundlage von Annahmen über die Struktur der Gesellschaft bestimmt werden können. Wissenschaftliche Wissensproduktion wird entsprechend nicht als Vollzug einer objektiven Vernunft, sondern als Kommunikation innerhalb eines ausdifferenDas zentrale soziologische Argument lautet: „Dominanz ist auch in Diskussionssystemen strukturell bedingt und daher im Prinzip unvermeidlich.“ (Luhmann 1971, S. 332). 5 Zumindest in den Fassungen, die sie vor der Dialektik der Aufklärung angenommen hat. 6 Demirović (2001, S. 18) weist diesbezüglich jedoch zutreffend darauf hin, dass „auch viele Theoretiker im Feld der kritischen Gesellschaftstheorie selbst“ erhebliche Zweifel an der Möglichkeit einer Inanspruchnahme einer aufgeklärten Vernunft als Mittel von Emanzipation formuliert haben, nicht zuletzt Foucault. 4

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zierten Funktionssystems charakterisiert, das darauf spezialisiert ist, mit der Unterscheidung von – nach wissenschaftsinternen Kriterien – wahrem und unwahrem Wissen zu operieren und das in Disziplinen ausdifferenziert ist, die je eigene Wahrheiten produzieren. Wissenschaftliche Wissensproduktion ist so betrachtet nur eine Form der gesellschaftlichen Erzeugung von Wissen unter anderen; denn ersichtlich wird auch in anderen Kontexten – wie Religion, Politik, Pädagogik, Ökonomie – Wissen erzeugt und mit Wissen operiert, dessen Geltungskriterium jedoch nicht, jedenfalls nicht zentral, das ihrer wissenschaftlichen Begründbarkeit ist. Damit ist nicht behauptet, dass in Teilbereichen wie Politik, Religion, Medien usw. auf eine Bezugnahme auf das Wissen verzichtet wird, das die Wissenschaften als gültiges Wissen betrachten, aber angenommen, dass die Wissenschaften unter Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht die Position einer Autorität in Anspruch nehmen können, die gesamtgesellschaftlich verbindlich über die Gültigkeit von Wissensbeständen entscheidet. Und dies aus zwei Gründen: Erstens ist hierin eine Folge der Ausdifferenzierung von Teilsystemen zu sehen, in denen je eigene Akzeptanzbedingungen gelten; politisch kommt es etwa auf die Akzeptanzbeschaffung für Behauptungen und Entscheidungen an, wofür deren Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Annahmen ersichtlich nur ein nachrangiges Kriterium ist: „Der Wissenschaftler mag Wahrheiten anbieten – aber was hilft es, wenn dies vorgängig als rechtmäßig oder unrechtmäßig, als politisch förderungswürdig oder als nur ‚privat‘, als ökonomisch auswertbar bzw. nicht auswertbar beurteilt wird; oder wenn die Religion ihm sagt, dass er auf diese Weise die Welt Gottes nie zu sehen bekommen wird.“ (Luhmann 1990, S. 631). Zweitens ist moderne Wissenschaft selbst nicht mehr in der Lage, für sich selbst, also wissenschaftstheoretisch begründet, die Position einer fraglos gültigen Wahrheit zu beanspruchen. Denn jeweilige wissenschaftliche Theorien und Forschungsprogramme erzeugen ihre je eigenen Wahrheiten, die gewöhnlich zu Kontroversen mit anderen Wahrheiten führen, die sich, jedenfalls in den Sozialwissenschaften, vielfach nicht auflösen lassen, sondern die sich, in Abhängigkeit von paradigmatischen Vorannahmen, fortschreiben. Wissenschaftliche Kommunikation ist darauf bezogen durch die Annahme gekennzeichnet, dass in solchen Kontroversen „letztlich die Wahrheit entscheidet und die vermutet man natürlich auf der eigenen Seite“ (Luhmann 1990, S. 626). Genau diese Präferenz für die überlegene Wahrheitsfähigkeit der eigenen Theorie ist in Folge des wissenschaftstheoretischen Wissens um die Beobachterrelativität, die Theorie- und Methodenabhängigkeit wissenschaftlichen Wissens jedoch selbst nicht wissenschaftlich begründbar (s. Luhmann 1990, S. 68 ff.). Dies führt, auch wissenschaftsintern, zu einer „faktisch zunehmenden Erosion der Autorität des Wissens“ (Luhmann 1990, S. 632). Insbesondere dann, wenn es um mehr geht als bloße Tatsachenfeststellungen auf der Grundlage konsensueller Gegenstandsdefinitionen, ist die Pluralität wissenschaftlicher Erkenntnisperspektiven nicht hintergehbar. Die paradoxe Situierung wissenschaftlicher Wissensproduktion – sie muss für sich Wahrheitsfähigkeit als Geltungskriterium beanspruchen und stellt ihre eigene Wahrheitsfähigkeit zugleich mit wissenschaftlichen Mitteln in Frage – führt bei

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Luhmann keineswegs zu einer prinzipiellen Skepsis gegenüber Wissenschaft und wissenschaftlicher Rationalität, jedoch zu einer Preisgabe des Vernunftbegriffs im Sinne der alteuropäischen Tradition: „All dies führt zu der Schlußfolgerung, dass die Wissenschaft zwar heute mehr denn je ein Monopol auf ihre Funktion geltend machen kann. Sie ist durch kein anderes Funktionssystem ersetzbar. Es gibt keine anderen Adressen für sicheres Wissen. Aber eben das muss die Wissenschaft mit erhöhter (. . .) Unsicherheit, mit komplexeren und dezentrierteren Beobachtungsverhältnissen bezahlen. Sie kann auf Anfragen nicht mehr antworten: so ist es, so macht es! Sie kann daher nicht im Rahmen des Richtigen und Vernünftigen verlangen, dass ihr Wissen übernommen und angewandt wird. Trotzdem behält sie ihr Funktionsmonopol“ (Luhmann 1990, S. 634).

Mit diesen gesellschafts- und erkenntnistheoretischen Einschränkungen des Geltungsanspruchs wissenschaftlichen Wissens verändert sich die Lage der Kritik: Der Standpunkt einer objektiven Vernunft, die allgemeine Gültigkeit für sich beanspruchen kann, ist nicht mehr begründbar. Damit ist zwar die Möglichkeit von Diskursen, die auf die Begründungen von Maßstäben einer universellen Moral zielen (s. zuletzt etwa Pogge 2011; Sandkühler 2013) nicht prinzipiell bestritten, aber – und dies mit empirischer Evidenz – behauptet, dass diese bestenfalls pragmatische Verständigungsprozesse ermöglichen können, keineswegs aber Einigungen über das, was gesellschaftlich (moralisch, politisch, religiös, ökonomisch, rechtlich) eindeutig als Gebot der objektiven Vernunft gelten muss, und darüber, wer mandatiert ist, dies zu entscheiden. Demnach kann keine Theorie – auch keine kritische Theorie – für sich selbst noch den Standpunkt der objektiven Vernunft zu reklamieren.7 Die Position einer Autorität, die über eine exklusive richtige Analyse verfügt oder gar die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu entscheiden hat, wird ihr kritischer Theorie Luhmann zufolge nicht nur aufgrund der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse verweigert, ein darauf gerichteter Anspruch ist seiner soziologischen Erkenntnistheorie zufolge auch theoretisch nicht mehr begründbar. Kann vor diesem Hintergrund noch eine Perspektive der wissenschaftlichen Kritik beansprucht werden, die über den gewöhnlichen Auftrag von Wissenschaft, also wissenschaftsinterne Kritik an anderen Theorien, die unzureichende Begründungen, Inkonsistenzen und unzureichende empirische Fundierung aufzeigt, hinausgeht? Luhmann bietet diesbezüglich für die gesellschaftliche Leistung der Soziologie als „Reflexionswissenschaft“ (Luhmann 1993a, S. 18) das Konzept einer therapeutischen (1990, S. 648 ff.) bzw. parodierenden (Luhmann 1993b, S. 22 ff.) Gesellschaftsbeschreibung an. Diese zielt darauf, Kontingenzen aufzudecken, vermeintliche Alternativlosigkeiten in Frage zu stellen und damit Entscheidungen zu ermöglichen. Die dazu geeignete Form besteht Luhmann zufolge darin, „BeobachZwar konstatiert Horkheimer (1968, S. 546), dass „auch die Situation des Proletariats . . . in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis bildet“. Dies führt dort aber nicht zur Infragestellung der Möglichkeit einer Kritischen Theorie, die für sich beanspruchen kann, die ideologischen Beschränkungen traditioneller Theorie zu überwinden.

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tungsmöglichkeiten freizusetzen, die nicht an die im Alltag oder in den Funktionssystemen eingeübten Beschränkungen gebunden sind“ (Luhmann 1993b, S. 24). Das heißt: Indem die Soziologie Gesellschaft und ihre Teilbereiche anders beschreibt, als dies im common sense sowie der politischen, rechtlichen, medialen, pädagogischen oder religiösen Kommunikation üblich ist, etabliert sie Denkmöglichkeiten, die nicht an die Legitimationserfordernisse der Teilsysteme und die Interessen der Akteure gebunden sind; sie eröffnet damit Reflexionsmöglichkeiten und ermöglicht den Blick auf Alternativen zu den eingespielten Strukturen und Praktiken. Eine so verstandene Reflexionswissenschaft nimmt für sich zwar gute Gründe dafür in Anspruch, in Distanz zu den legitimierenden Selbstbeschreibungen der Funktionssysteme sowie zu gängigen Denkgewohnheiten und Entscheidungsroutinen zu gehen. Sie ersetzt aber den Gestus einer Belehrung durch Vernunft, durch richtiges Wissen und richtige Moral durch den bescheideneren Gestus eines alternativen Denkangebots, das eingespielte Gewissheiten irritieren kann. Beansprucht wird die Position einer „selbstkritische(n)“ und „ironischen“ Vernunft (Luhmann 1993b, S. 46), d. h. einer Vernunft, welche die Grenzen ihrer eigenen Geltungsansprüche ebenso berücksichtigt wie die Grenzen ihrer Einwirkungschancen. Damit ist zwar keineswegs die für ein Verständnis von Wissenschaft als Aufklärung zentrale „Unterscheidung zwischen dem Erkannten und dem bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen“ (Adorno 1997c, S. 785) in Frage gestellt. Zweifellos wird damit aber eine bescheidene Position reklamiert, die erheblich hinter die wissenschaftlichen und politischen Selbstansprüche zurückgeht, die kritische Theorien in der Hegel-Marxschen-Tradition im Sinne einer theoretischen Anwaltschaft der objektiven Vernunft für sich reklamiert haben (s. dazu Ritsert 1988, S. 89 ff.; Vobruba 2009, S. 61 ff.). Ob kritische Theorien jedoch gegenwärtig noch in der Lage sind, weitergehende Perspektiven der Kritik theoretisch auszuweisen, ist fraglich. Erforderlich wäre es dazu, aufzuzeigen, dass weder das erkenntnistheoretische Argument beobachterrelativer Wissenschaft, noch das gesellschaftstheoretische Argument funktionssystemspezifischer Verwendung wissenschaftlichen Wissens haltbar ist.8

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Herrschaft und Macht

Den in der Auseinandersetzung mit Habermas deklarierten Verzicht auf den Begriff Herrschaft (s. o.) hat Luhmann nicht konsequent durchgehalten (s. etwa Luhmann 1997a, S. 467 f.), jedoch seine Distanzierung von einem handlungstheoretisch gefassten Macht- und Herrschaftsbegriff im Sinne Max Webers. Dass es Herrschaft – als „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ – ebenso als soziales Phänomen gibt wie Macht – im Sinne einer „Chance innerhalb einer sozialen Beziehung auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1922/1970, S. 28) –, wird bei Luhmann nicht in Frage gestellt, aber als 8

S. zur einschlägigen Diskussion die Beiträge in Forst et al. 2009.

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eine für die Analyse der Machtverhältnisse unter Bedingungen funktionaler Differenzierung unzureichende Bestimmung verstanden. Denn grundlegend ist hier, und gerade dies veranlasst die These einer deutlichen Homologie der Theoriekonstruktionen bei Marx und Luhmann (s. Stichweh 1999, S. 207) bzw. als „Erbin des Marxschen Denkens“ (Nassehi 2008, S. 35),9 dass die Situation der Individuen in der modernen Gesellschaft zentral nicht aus personalen Macht- und Herrschaftsbeziehungen zwischen Individuen und sozialen Gruppen resultiert, sondern aus ihrer Abhängigkeit von eigengesetzlichen und eigendynamischen sozialen Strukturen. Der Marxschen Annahme der Verselbständigung des kapitalistischen Reproduktionsprozesses gegenüber dem Willen und Bewusstsein der Individuen korrespondiert bei Luhmann die Annahme eines selbstreferenziellen Operierens der Funktionssysteme. Während Marx die Bedeutung von Individuen im Prozess der Kapitalreproduktion darin sieht, dass sie als „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ (Marx 1890/1972, S. 16) fungieren und als Einzelne nicht verantwortlich zu machen sind für Verhältnisse, die sie in ihrer ökonomischen Funktion hervorbringen, rückt Luhmann den selektiven Einbezug der „Form Person“ in soziale Systeme und damit „Erwartungsdisziplin und Einschränkung des Verhaltensrepertoires“ als soziale Anforderungen (Luhmann 1995c, S. 142 ff.) in den Blick. Vor diesem Hintergrund wird Macht bei Luhmann als ein Kommunikationsmedium (1975, S. 4 ff.) und als „Systemmacht“ (2013, S. 86) bestimmt. Damit werden die sozialen Formen von Macht und die sozialen Bedingungen zum Gegenstand der Analyse in denen sich Machtbeziehungen etablieren. Dabei wird – ähnlich wie bei Michel Foucault (vgl. zum Foucaultschen Kritik- und Machtbegriff auch den Beitrag von Brieler in diesem Handbuch) – davon ausgegangen, dass Macht omnipräsent, eine „lebensweltliche Universalie menschlicher Existenz“ (Luhmann 1975, 90) ist, da die Möglichkeit, dass Menschen sich „an der Möglichkeit wechselseitiger Benachteiligung orientieren und sich dadurch beeinflussen“ (Luhmann 1975, 90), in allen sozialen Beziehungen gegeben sei. Zwar akzentuiert Luhmann den engen Zusammenhang von Macht und physischer Gewalt (Luhmann 1975, S. 59 ff.), er schränkt die Möglichkeit von Macht jedoch nicht auf die Androhung oder Anwendung physischer Gewalt ein. Vor diesem Hintergrund wird der soziale Ort von Macht nicht allein in dem auf Machtausübung spezialisierten Teilsystem der Politik gesehen und auch nicht an die Voraussetzung des möglichen Rückgriffs auf das Drohpotenzial der legitimen physischen Gewalt gebunden. Kommunikation im Medium der Macht, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Einflussnahme unter asymmetrischen Bedingungen, ist Luhmann zufolge auch in anderen Kontexten relevant: Ein entscheidendes gesellschaftliches Problem bildet stellt deshalb das Volumen gesellschaftlicher Macht dar, das außerhalb jeden Bezugs zum politischen Systems entsteht und verbleibt, so als „Macht in der Familie“, als „Macht der Priester“, als „Macht der Wirtschaft“ und „Macht des Eigentümers“ sowie als „im Erziehungssystem ausgeübte Macht“ (Luhmann 1975, S. 92). Als problematisch betrachtet

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Dabei wird jedoch eine zentrale Differenz bislang kaum diskutiert: Marx geht vom Begriff der Arbeit als sozialtheoretischen Grundbegriff aus, Luhmann dagegen vom Kommunikationsbegriff.

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wird diesbezüglich erstens die Grenze „der Politisierbarkeit von Macht“ sowie zweitens die Grenzen, die aus der Omnipräsenz von Macht für die Möglichkeiten der funktionalen Spezialisierung von Teilsystemen resultieren (Luhmann 1975, S. 93). Denn die Möglichkeiten rationaler Wissenschaft, wirtschaftlich effizienter Produktion oder persönlicher Liebe sind durch Potenziale des Rückgriffs auf Macht bedroht. Luhmanns Überlegungen zur Machtsoziologie – die hier nicht ausführlicher entfaltet werden können – münden nicht in eine Fundamentalkritik von Machtund Herrschaft und auch nicht in die Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Denn der weit gefasste Machtbegriff schließt – auch dies ähnlich wie bei Foucault – eine generelle Überwindung von Macht aus. Denkbar ist auf dieser Grundlage nicht mehr als die Klärung von Bedingungen, unter denen die Chancen der Machtausübung in unterschiedlichen sozialen Teilbereichen weniger ungleich verteilt sind, und unter denen funktionale Spezialisierungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen nicht durch Machtbeziehungen, etwa durch psychische und psychische Gewalt im Bereich der Familie, politische und wirtschaftliche Einflussnahme auf rechtliche Entscheidungen, politische und wirtschaftliche Steuerung wissenschaftlicher Forschung, korrumpiert werden. Damit ist nun jedoch zweifellos eine kritische Perspektive für Theoriebildung und Forschung im Sinne einer solchen Machtkritik aufgezeigt, die auf die Beobachtung problematischer Machtwirkungen und die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Einschränkung zielt. Zudem bietet Luhmann eine instruktive Perspektive an, indem er die These formuliert, dass die „Kausalität der Macht“ in der „Neutralisierung des Willens, nicht unbedingt in der Brechung des Willens der Machtunterworfenen“ (Luhmann 1975, S. 11) besteht. Soziale Strukturbildungen, nicht zuletzt politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse, sind demnach daraufhin zu untersuchen, ob bzw. wie es ihnen gelingt, sich von der Zustimmung und dem Einverständnis der Machtunterworfenen unabhängig zu machen. Luhmann selbst hat dies ausschließlich für Organisationen etwas näher ausgeführt (Luhmann 2000, S. 390 ff.). Der Blick auf Macht als Neutralisierung des Willens der Machtunterworfenen ermöglicht darüber hinausgehend eine Ergänzung der ideologiekritischen Analyse der Naturalisierung von Machtverhältnissen sowie der diskursanalytischen Analyse der Formierung des Willens in Machtverhältnissen: Ideologiekritik zielt auf die Aufdeckung der Verschleierung gesellschaftlicher Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse sowie die repressive Unterdrückung von Bedürfnissen und Interessen (vgl. zur Ideologiekritik umfassender Rehmann in diesem Handbuch); Foucaults Diskursanalyse richtet den Fokus auf die gesellschaftliche Formierung von Subjekten, ihrer Bedürfnisse und ihres Willens (Foucault 1977; ausführlicher hierzu Brieler in diesem Handbuch). Luhmanns Machtbegriff fordert ergänzend dazu auf, soziale Strukturbildung in den Blick zu nehmen, die dazu führen, dass Bedürfnisse und Interessen weder unterdrückt noch beeinflusst werden müssen, sondern durch gesellschaftliche Funktionssysteme und Organisationen ignoriert werden können.

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Kapitalismus als Realabstraktion und Selbstreferenz

In der Grundannahme, dass auf einen die Theoriebildung und Forschung fundierenden Gesellschaftsbegriff nicht verzichtet werden kann, stimmen die Kritische Theorie und die differenzierungstheoretische Systemtheorie, wie gezeigt (s. o.), überein. Dies gilt jedoch keineswegs für die jeweilige Bestimmung der Grundmerkmale der Gesellschaftsformation: Während Varianten kritischer Theorien Gesellschaftstheorie vor allem10 als Kapitalismustheorien angelegt sind, ist für Luhmann eine differenzierungstheoretische Beschreibung der Grundstruktur der modernen Gesellschaft zentral. Diese schließt an differenzierungstheoretische Konzepte der klassischen Soziologie an, nimmt aber an entscheidenden Stellen auch Bezug auf die Marxsche Kapitalismustheorie. Insbesondere gegen Durkheims Akzentuierung der moralischen Quellen gesellschaftlichen Zusammenhangs, die in die Theoriearchitektur bei Parsons eingeht, bezieht sich Luhmann (1977, S. 31 f.) auf Marx: Mit Marx und gegen Durkheim wird argumentiert, dass unter Bedingungen einer ausdifferenzierten (Geld-)Ökonomie, d. h. aufgrund „der Vermittlung praktisch aller relevanten Arbeit durch Geld“ (Luhmann 1977, S. 32), die gesellschaftliche Reichweite moralgebundenen Handelns strukturell begrenzt ist. Marxʼ Theorie des Kapitalismus wird bei Luhmann als Analyse der Ausdifferenzierung eines gesellschaftlichen Teilsystems interpretiert und dabei als Fall einer Theorie gewürdigt, die paradigmatisch die Etablierung der selbstreferenziellen Struktur und Dynamik aufzeigt: Luhmann (1992, S. 24 f.) sieht den entscheidenden Gewinn der Marxschen Analyse gegenüber „Wirtschaftstheorien des Normalzuschnitts“ darin, dass der kapitalistische Reproduktionsprozess konsequent als ein soziales Verhältnis bestimmt wird, das „nicht auf einer extrasozialen Objektivität beruht, sondern auf sich selbst“. Dies stimmt mit einer Marx-Interpretation überein, die akzentuiert, dass Lohnarbeit und Kapital, aber auch ökonomisch relevante Bedürfnisse und ökonomische Interessen keine vorgängigen, sondern genuin gesellschaftliche Sachverhalte sind, die mit der Etablierung des kapitalistischen Reproduktionsprozesses hervorgebracht werden und nur in diesem Prozess als Bestandteil der Selbstverwertung des Wertes existieren können (s. etwa Arnason 1976, S. 192 ff.). Explizit verweist Luhmann (1992, S. 23) darauf, dass ein „nicht marxistisch verstandener Marx als Ausgangspunkt“ für die eigene Theoriebildung von hoher Bedeutung ist. Begründet wird dies über die These der Ähnlichkeit zwischen der Marxschen Analyse der Wertbewegung und der systemtheoretischen Analyse der Selbstreferenzialität sozialer Systeme hinaus mit dem Argument, dass die Marxsche

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In der Dialektik der Aufklärung wird darüber hinausgehend eine prinzipielle Kritik rationaler Natur- und Menschenbeherrschung entwickelt, die sich zumindest nicht direkt aus der Marxschen Kapitalismustheorie ableiten lässt, sondern Motive der Weberschen Analyse des Rationalismus der Moderne aufgreift; daran anschließend hat insbesondere Zygmunt Bauman (1992 und 1993) eine Kritik der Moderne unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Durchsetzung eine rationalen Ordnung entwickelt.

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Theorie Prozesse der Realabstraktion11 in den Blick rückt (vgl. zur Marx’schen Werttheorie und ihren Weiterentwicklungen den Beitrag von Kößler/Wienold in diesem Handbuch): Eine wichtige Einsicht bei Marx liegt Luhmann zufolge in der Einsicht, dass ökonomischen Prozessen unter Bedingungen des Kapitalismus ein „funktionsnotwendiges ‚Absehen von‘“ (Luhmann 1992, S. 20) zu Grunde liegt: „Offensichtlich wird dabei“ – im kapitalistischen Reproduktionsprozess – „davon abgesehen, dass Materialien und Menschen in ganz verschiedenem Sinne ‚arbeiten‘. Offensichtlich ist auch, dass dabei nicht zählt, was Arbeit für die Arbeitenden selbst bedeutet.“ Die gesellschaftliche Realabstraktion schließt Luhmann zufolge zudem ein „Absehen von individualpsychologischen und ökologischen Auswirkungen“ (Luhmann 1992, S. 21) ein.12 Damit ist Luhmanns Theorie nicht nur für solche Varianten der Kapitalismuskritik anschlussfähig, die auf die destruktiven Folgewirkungen dieser strukturell verankerten Abstraktion hinweisen (s. u.). Zudem sind erhebliche Parallelen in der Theoriearchitektur zwischen einerseits einer solchen Kapitalismustheorie zu konstatieren, welche die Struktur und die Folgen einer verselbstständigten, selbstbezüglichen und eigendynamischen Wertbewegung akzentuiert, in der der Wert „sich selbst verwertet“ und deshalb als „Subjekt eines Prozess“, als „übergreifendes“ und sogar als „automatisches Subjekt“ charakterisiert werden kann (Marx 1890/ 1972, S. 169), und andererseits einer Systemtheorie, die soziale Systeme als selbstbezügliche Prozesse beschreibt. Dies gilt auch deshalb, weil Luhmann – auch hierin Marx vergleichbar – explizit Bestimmungen der klassischen Subjektphilosophie (Fichte, Hegel) aufgreift, diese jedoch nicht exklusiv als Eigenschaften menschlicher Subjekte fasst, sondern für die Bestimmung der Eigenschaften sozialer Systeme verwendet. Luhmann (1993b, S. 53) formuliert diesbezüglich, dass bislang „niemand auf die Idee gekommen zu sein scheint“, subjekttheoretische Bestimmungen „von ‚Subjekt‘ auf das ‚Sozialsystem Gesellschaft‘ zu übertragen“ (Luhmann 1993b, S. 53). Dagegen wäre in einer an Marx anschließenden Perspektive einzuwenden, dass die Hegel-Marxsche Theorietradition dies insofern vorwegnimmt, wie hier die Analyse der Selbstbewegung des Geistes bei Hegel und die der Selbstverwertung des Wertes bei Marx auf einen Subjektbegriff Bezug nehmen, und damit genau diese Gedankenbewegung vollziehen (s. dazu Schmied-Kowarzik 1981, S. 229 ff.; Vogel 1983, S. 68 ff.; Ritsert 1988). Wie Uwe Schimank (2008) gezeigt hat, ist eine Rekonstruktion der Marxschen Kapitalismustheorie möglich, welche die Etablierung des Kapitalismus als Wirtschaftsform als Bedingungen bzw. als Modus der Ausdifferenzierung der Ökonomie in der modernen Gesellschaft interpretiert. Schimank argumentiert, dass 11

Luhmann verwendet diesen Begriff nicht, der meiner Kenntnis nach auch bei Marx nicht vorkommt, sondern im Marxismus systematisch bei Sohn-Rethel (1978) verwendet wird. 12 Auf diese entscheidende Parallele der Theoriekonstruktion bei Marx und Luhmann hat bereits Türk (1995, S. 166 ff.) hingewiesen. Türk bestimmt Realabstraktionen – im Unterschied zu gedanklichen Abstraktionen – in instruktiver Weise als „faktische gesellschaftliche Verhältnisse und Vermittlungsformen, an denen man scheitern kann“ (Türk 1995, S. 169).

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die Durchsetzung von zentralen Merkmalen der kapitalistischen Ökonomie (Tauschwertorientierung, Gewinnstreben, Verwandlung von Natur und menschlicher Arbeit in Waren - hinzuzufügen ist: Geld als Kommunikationsmedium; Selbstreferenz der erweiterten Reproduktion G – G‘) - die Bedingungen etabliert, die eine Ausdifferenzierung der Ökonomie als eigenständiges Teilsystem ermöglichen. Daraus folgert er (Schimank 2008, S. 3), dass eine funktional ausdifferenzierte Wirtschaft notwendig eine kapitalistische Wirtschaft sei, d. h.: erst die Strukturmerkmale des Kapitalismus ermöglichen eine Ausdifferenzierung und Verselbstständigung der Ökonomie (s. dazu auch Schimank 2015). Zudem zeigt Schimank (2009) auf, dass die Abhängigkeit aller übrigen Funktionssysteme und ihrer Organisationen von der Ökonomie zu einem Ökonomisierungs- und Kommodifizierungsdruck sowie zu einer „intersystemischen Zentralität der Wirtschaft“ (Schimank 2009, S. 330) führen kann. Dies ist jedoch nicht mit der Annahme einer generellen Vorherrschaft der Ökonomie gleichzusetzen: „Aus diesem Tatbestand ist freilich kein gesamtgesellschaftlicher Primat der Wirtschaft ableitbar. Denn die anderen Teilsysteme – man denke nur an Politik, Recht, Wissenschaft oder Bildung – sind mit ihrer Leistungsproduktion ebenso unersetzbar; nicht zuletzt ist die Wirtschaft ebenso existenziell abhängig von diesen wie diese von ihr.“ (Schimank, S. 330) Die differenzierungstheoretische Gesellschaftstheorie kann schon aufgrund ihrer Zurückweisung der Annahme eines Primats der Ökonomie und der daraus abzuleitenden Konsequenz, dass Gesellschaftsanalyse nicht zureichend auf Grundlage von Kapitalismustheorie betrieben werden kann, nicht als direkte Fortführung und Weiterentwicklung der Marxschen Kapitalismustheorie, nicht als „Erbin des Marxschen Denkens“ (Nassehi 2008, S. 35), jedenfalls nicht als direkte Erbin, verstanden werden. Sie grenzt sich zudem von zentralen Annahmen der Marxschen Kapitalismustheorie – jedenfalls einflussreicher Lesarten dieser Theorie – ab (s. etwa Luhmann 1992, S. 19 ff.) Dies betrifft dezidiert die (neo-)marxistische Verbindung einer konflikttheoretisch gefassten Klassentheorie mit der Erwartung der Entstehung einer nicht mehr kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft: Luhmann bestreitet – und dies zweifellos in Übereinstimmung mit der klassischen späten kritischen Theorie der Frankfurter Schule (s. etwa Horkheimer 1968, S. 546 f.) –, dass Klassenkonflikte zwischen Lohnarbeit und Kapital noch als antagonistische Konflikte verstanden werden können (Luhmann 1994a, S. 151 ff.). Die Erklärungskraft des Klassenbegriffs ist seines Erachtens zudem auf die Entstehung von vor allem ökonomischen Verteilungsungleichheiten begrenzt (Luhmann 1985) und Chancen auf einen „Weg zurück zu menschlicheren Verhältnissen“ sind für Luhmann nicht auszumachen (Luhmann 1992, S. 25). Ob, und in welcher Hinsicht damit unüberbrückbare Differenzen zu Marx und/oder zur Kritischen Theorie markiert sind, kann hier nicht näher diskutiert werden. Denn dies würde es erfordern, zunächst in Bezug auf die genannten und weiteren Annahmen von Marx bzw. des Marxismus (etwa: Arbeitswerttheorie, Theorem des tendenziellen Falls des Profitrate) zu prüfen, ob es sich um unverzichtbare Kernbestände sowie um tragfähige und zeitgemäße Annahmen kritische Theorie handelt, was ersichtlich kontrovers ist. Stattdessen soll im Weiteren gezeigt werden, dass und wie auf der Grundlage der Theorie funktionaler Differenzierung Kapitalismuskritik formuliert wird.

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Funktionale Differenzierung und Kapitalismuskritik

Grundlegend für soziologische Differenzierungstheorien ist die Annahme, dass die konstitutiven und regulativen Regeln (in der Theoriesprache Webers: die Kulturwertideen, in der Theoriesprache Luhmanns: die Codes und Programme), die unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche kennzeichnen, und die es ermöglichen, zu unterscheiden, was jeweils als Ereignis in der Ökonomie, in der Politik, im Recht, in der Erziehung, in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Religion, im Sport, in Familien oder in den Massenmedien gilt, nicht aufeinander oder auf ein singuläres externes Prinzip reduzierbar sind. Diese Ausgangsannahme ist schwer bestreitbar, und sie schließt keineswegs die Annahme ein, dass die ausdifferenzierten Teilbereiche deshalb auch voneinander unabhängig seien. Vielmehr akzentuiert die Luhmannsche Differenzierungstheorie, dass Differenzierung Ausdifferenzierung innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhanges ist und mit einer gesteigerten wechselseitigen Abhängigkeit einhergeht: Da die Differenzierung von Funktionssystemen mittels einer – historisch gewordenen, ungeplanten – Spezialisierung auf je bestimmte Funktionen und Leistungen erfolgt, kann keines der Teilsysteme ein anderes ersetzen, und muss Leistungen in Anspruch nehmen, die andere Funktionssysteme erbringen (Luhmann 1986, S. 207 ff.; Luhmann 1997a, S. 595 ff.). Angenommen wird eine „sehr unübersichtliche“, nicht auf ein singuläres Prinzip rückführbare Gestalt der „Leistungsverhältnisse zwischen Systemen“ (Luhmann 1997a, S. 759). Folglich besteht die gesellschaftstheoretische Forschungsperspektive der Differenzierungstheorie einerseits darin, die Art und Weise, wie die Teilsysteme operieren, was ihre Funktion, ihre Codes, ihre Programme sind, zu untersuchen; andererseits darin, die wechselseitigen Auswirkungen der Teilsysteme, die füreinander Umwelten sind, sowie die Leistungen, die sie füreinander erbringen, zu analysieren. Bob Jessop (2009, S. 160) fasst die gesellschaftspolitische Pointe dieses Differenzierungskonzepts treffend wie folgt zusammen: „Moderne Gesellschaften sind derart differenziert und polyzentrisch, dass weder ein einzelnes System noch ein zentraler Entscheidungskörper, auch nicht eine herrschende Klasse jemals die diversen Interaktionen, Organisationen und Institutionen koordinieren und ein kohärentes Gesamtkonzept sicherstellen könnten. Wenn ein autopoietisches System erst mal entstanden ist, dann antwortet es auf Probleme nur nach Maßgabe seines eigenen Codes.“13

Luhmann hat in seinen Analysen der Funktionssysteme – man könnte sagen: dialektisch – sowohl die Leistungssteigerung betont, die durch funktionale Differenzierung möglich wird, als auch auf die problematischen Folgewirkungen der Operationsweise der jeweiligen Teilsysteme hingewiesen: Einerseits wird der

13

Der Einwand, dass der Staat eine übergeordnete Agentur der herrschaftlichen Kontrolle der Gesellschaft darstellt (s. Demirović 2011, S. 524), trifft die Theorie Luhmanns nicht, da diese auf der Ebene der Weltgesellschaft formuliert ist und auf dieser Ebene keine Staatlichkeit etabliert ist, die eine herrschaftliche Ordnung der Weltunordnung gewährleistet.

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„spektakuläre Erfolg der Funktionssysteme in ihren jeweils eigenen Terminologien“ (Luhmann 2005, S. 276) betont und auf eine daraus resultierende „Selbstrechtfertigungslogik der Funktionssysteme“ verwiesen, die als eine „mit empirischen Daten stützbare Sache“ (Luhmann 2005, S. 276) bewertet wird. Luhmann akzentuiert dabei die aus seiner Sicht schwer bestreitbaren Vorzüge einer demokratisch verfassten Politik, einer Ökonomie, die eine enorme Steigerung der Produktion ermöglicht hat sowie eines ausdifferenzierten Rechtssystems. Dies verbindet sich andererseits mit einer zweifachen Perspektive der Problematisierung: Thematisiert werden erstens funktionssysteminterne Problematiken, so etwa die Diskrepanz zwischen den Gleichheitserwartungen und den Ungleichheiten, die im Erziehungssystem erzeugt werden (s. Luhmann und Schorr 1979, S. 233 ff.), oder die sozialen Folgen der im Wirtschaftssystem erzeugten Ungleichheiten (Luhmann 1994a, S. 260 ff.). Zweitens wird das Prinzip der funktionalen Differenzierung selbst als ein problemerzeugendes in den Blick gerückt. Für Luhmann sind „die vielen problematischen Folgen der funktionalen Differenzierung und der unkorrigierbaren operativen Autonomie der Teilsysteme“ (Luhmann 1997a, S. 801) nicht zu bestreiten. Zentral sind dabei zwei Gesichtspunkte: Zum einen Unzuständigkeit und die Immunisierung aller Funktionssysteme gegenüber gesamtgesellschaftlich folgenreichen Entwicklungen, vor gegenüber den destruktiven ökologischen Auswirkungen der Dynamik und Wachstumsimperative der Teilsysteme (s. Luhmann 1986); zum anderen der Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen vom Zugang zu den Leistungen der Funktionssysteme bei gleichzeitiger Abhängigkeit von diesen Leistungen (s. Luhmann 1986, 1997a, S. 630 ff.) sowie „das Versagen der Weltwirtschaft vor dem Problem der gerechten Verteilung des Wohlstands“ (Luhmann 1997a, S. 801). Luhmanns Theorie unterscheidet sich damit von der Kapitalismuskritik zentral in der Verschiebung der Zurechnungsebene der Problemerzeugung: Nicht die Ökonomie wird als zentraler oder gar exklusiver Erzeugungszusammenhang gesellschaftlicher Probleme betrachtet, sondern die Struktur der funktionalen Differenzierung und die in sie eingelassene Eigendynamik der Funktionssysteme, die ihren je eigenen Imperativen folgen. Als kennzeichnend für die funktional differenzierte Gesellschaft gilt in der Folge die „Diskrepanz von Erwartungen und Realitäten“ (Luhmann 1997a, S. 630), die in dieser Gesellschaft hervorgebracht werden. Am deutlichsten formuliert wird die Perspektive einer solchen Kritik funktionaler Differenzierung – einer Kritik, die jedoch keine Alternative zum kritisierten Zustand angeben kann – in Bezug auf die Exklusionsproblematik: „Mit der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems ist die Regelung des Verhältnisses von Inklusion und Exklusion an die Funktionssysteme übergegangen, und es gibt keine Zentralinstanz mehr (so gern sich die Politik in dieser Funktion sieht), die die Teilsysteme in dieser Hinsicht beaufsichtigt. Ob und wieviel Geld dem Einzelnen zur Verfügung steht, wird im Wirtschaftssystem entschieden. Welche Rechtsansprüche man mit Aussicht auf Erfolg geltend machen kann, entscheidet das Rechtssystem. Was als Kunstwerk gilt, wird im Kunstsystem entschieden und das Religionssystem gibt Bedingungen vor, unter denen sich der einzelne als religiös verstehen kann. (. . ..) Sie (Exklusionsprobleme, A. S.) sind direkte Folgen der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems . . .“ (Luhmann 1997a, S. 631).

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Folgt man diesen Überlegungen zur Problematik funktionaler Differenzierung, dann ist eine Kritik der kapitalistischen Ökonomie nicht mit einer umfassenden Gesellschaftskritik gleichzusetzen, sondern nur eine Kritik der im kapitalistischen Wirtschaftssystem erzeugten Teilprobleme. So betrachtet wäre es zu einfach und auch verharmlosend, allein die kapitalistische Ökonomie als kritikbedürftig in den Blick zu nehmen und nicht auch die Folgeprobleme z. B. national staatlich verfasster Politik, wissenschaftlich ermöglichter Naturbeherrschung, massenmedialer Kommunikation oder des positiven Rechts. Sozialwissenschaftliche Kritik ist vor diesem Hintergrund zudem aufgefordert, Analysen zu generieren, die Alternativen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen denkbar machen. Eine aufs Ganze, auf die Kernstruktur funktionaler Differenzierung zielende Kritik wäre Luhmann zu Folge jedoch aussichtslos, sofern kein Umbau zu einer zentral und umfassend, etwa politisch oder religiös gesteuerten Gesellschaft als anstrebenswert betrachtet wird: „Für funktionale Differenzierung gibt es keine Alternative – es sei denn, man wollte auf eine segmentäre Differenzierung . . . oder eine politbürokratische Hierarchisierung der Gesellschaft zurück“ (Luhmann 1986a, S. 76). Schließt man diese Alternativen aus, dann ist eine auf’s Ganze zielende Kritik der Gesellschaftsstruktur zwar durchaus möglich, kann aber keine prinzipielle Alternativen zur kritisierten Struktur aufzeigen. Die Theorie funktionaler Differenzierung lässt zwar durchaus unterschiedliche Formen der Gestaltung des Verhältnisses der Beziehungen zwischen Teilsystemen als Denkoption zu, etwa zwischen Politik, Recht und Ökonomie. Sie schließt dezidiert nicht aus, dass z. B. durch politische Entscheidungen die rechtlichen Bedingungen wirtschaftlicher Entscheidungen verändert werden. Was sie jedoch als anstrebenswerte Alternative ausschließt, ist ein direkter Zugriff, etwa von Politik auf Wirtschaft in der Form der politischen Festlegung von Produktmengen, Preisen, oder von Politik auf Recht in der Form, das Gesetzestexte durch Politik (und nicht durch Juristen) ausgelegt und Politiker über das Vorliegen einer Straftat und das Strafmaß entscheiden. Die Aufhebung der Ausdifferenzierung einer Markt- und Geldökonomie als gesellschaftliches Teilsystem wird damit zwar nicht zu einer praktischen Unmöglichkeit erklärt, aber als eine nicht anstrebenswerte Form der Entdifferenzierung eingeordnet. In Anschluss an Uwe Schimank (2008 und 2015) sowie Bob Jessop (2009; vgl. hierzu auch den Beitrag von Jessop in diesem Handbuch) lässt sich vor diesem Hintergrund gleichwohl eine Perspektive der systemtheoretischen Kapitalismuskritik begründen. Schimank und Jessop argumentieren, dass sich – anders als Luhmann annimmt – unter Bedingungen funktionaler Differenzierung durchaus eine gesamtgesellschaftlich zentrale Rolle der kapitalistischen Ökonomie aufzeigen lässt. Begründet wird dies bei Schimank (2008 und 2009) mit dem Argument, dass alle Teilsysteme und ihre Organisationen auf Geld angewiesen und damit in stärkerer Weise vom Wirtschaftssystem abhängig sind, als von anderen Teilsystemen. Jessop (2008) akzentuiert die Herausbildung einer ökologischen Dominanz der Ökonomie als innergesellschaftlicher Umwelt der anderen Teilsysteme. Dies legt eine Perspektive der Kapitalismuskritik nahe, die analysiert, welche Auswirkungen diese Abhängigkeit auf die jeweiligen Funktionssysteme hat, also auf Politik, Wissenschaft, Kunst, Erziehung usw. Die Perspektive einer solchen Kapitalismuskritik liegt jedoch

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nicht in der Überwindung der kapitalistischen Ökonomie, sondern in der Einschränkung der ökonomischen Abhängigkeiten bzw. der Eingrenzung der ökonomischen Einflüsse. Ihr Credo wäre, pointiert formuliert, die Verteidigung der relativen Autonomie der Funktionssysteme gegen ihre Unterwerfung unter die Prinzipien der kapitalistischen Ökonomie. Eine solche Kritik setzt aber voraus, dass gute Gründe angenommen werden, funktionale Differenzierung nicht nur als einen gegebenen Sachverhalt zu betrachten, sondern auch als eine Form der Differenzierung, die verteidigungswürdig bzw. anstrebenswert ist. Dies kann man in Frage stellen, aber was wäre die anstrebenswerte Alternative? Mit dieser Fragestellung ist eine meines Erachtens zentrale Herausforderung an Versuche formuliert, die theoretischen Traditionslinien des westlichen Marxismus und der Kritischen Theorie weiterzuentwickeln: Kritik an Entwicklungen, die zu einer strukturellen und ideologischen Dominanz des „Ökonomismus als Weltanschauung“ (Soeffner 2010, S. 48) führen, lässt sich, wie gezeigt, auch mit den Mittel der Theorie funktionaler Differenzierung entwickeln. Dies führt dort aber zu einer Variante von Gesellschaftskritik, deren Perspektive nicht auf die Überwindung der Grundmerkmale der kapitalistischen Ökonomie zielt, sondern auf die einer Einschränkung ihrer gesamtgesellschaftlichen Reichweite. Gegenüber einer solchen Kritik – die man reformistisch oder sozialdemokratisch nennen kann – steht eine sich als umfassende Gesellschaftskritik verstehende Kapitalismuskritik vor der Herausforderung aufzuzeigen, welche Alternativen zu einer funktional differenzierten Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie aus ihrer Sicht anstrebenswert und möglich sind. Gelingt dies nicht – und in diese Richtung weisende überzeugende Entwürfe liegen meiner Kenntnis nach gegenwärtig nicht vor –, dann führt die als Kapitalismuskritik angelegte Gesellschaftskritik zu einer moralischen Kritik, die keine politisierbaren gesellschaftlichen Alternativen aufzeigen kann. Entscheidend für eine Kritik der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung wäre so betrachtet der Nachweis, dass ein emanzipatorisches Gesellschaftsprojekt möglich ist, das die Struktur einer funktional differenzierten Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie überwindet – und dies nicht als Regression in totalitäre Machtverhältnisse, sondern im Sinne eines emanzipatorischen Projekts.

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„Erwünschte Vorzüge im Existenzkampf des Individuums“: Die sozialpsychologischen Elemente der Kritischen Theorie des Antisemitismus Marc Grimm

Zusammenfassung

Nach einem Überblick über die Forschungsprojekte des Instituts für Sozialforschung zum Antisemitismus entfaltet der Beitrag schrittweise die verschiedenen Dimensionen einer Kritischen Theorie des Antisemitismus. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Sozialpsychologie des antijüdischen Ressentiments. Die anhand zentraler Begriffe wie Projektion, Personalisierung und Stereotypisierung geleistete Rezeption und Rekonstruktion wird ergänzt durch eine Aktualisierung: Zum einen wird die Aktualität des Autoritären Charakters diskutiert, zum anderen wird gezeigt, dass die Kritische Theorie des Antisemitismus bereits das begriffliche Instrumentarium bereithält, mit dem neuere Ausprägungen, etwa ein gegen den Staat Israel gerichteter Entlastungsantisemitismus, kritisiert werden können. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Antisemitismus · Autoritärer · Charakter · Leo Löwenthal · Sozialpsychologie

As true as it is that one can understand antisemitism only from our society, as true it appears to me to become that by now society itself can be properly understood only through antisemitism. (Horkheimer 1941)

Schon 1939 hat das Institut für Sozialforschung ein Forschungsprojekt zum Antisemitismus in Amerika konzipiert, aber erst 1943 konnte das Projekt durch die Zusage der Finanzierung durch den American Jewish Congress (AJC) durchgeführt werden. 1950 wurde das fünfbändige Werk unter dem Titel Studies in

M. Grimm (*) Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_74

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Prejudice1 veröffentlicht. Der AJC wollte mit den Studien einen Beitrag zum war effort der USA leisten und interessierte sich dafür, ob der Antisemitismus, wie er in Deutschland und Europa auftrat, auch in den USA hegemonial werden könnte. Der AJC versprach sich von den Studien den Nachweis, dass es sich bei Antisemitismus um eine „miserable anti-democratic and anti-American manifestation“ (AJC zitiert nach Wiggershaus 2001, S. 396) handelt, die nie nur gegen Juden gerichtet ist, sondern immer mit antidemokratischem und damit antiamerikanischem Denken einhergeht. Nach einjähriger Forschung legte das Institut 1944 den bis heute unveröffentlichten vierbändigen Bericht Studies in Antisemitism: A Report to the American Jewish Committee vor, der in Ansätzen einige der späteren Ergebnisse beinhaltete (vgl. Wiggershaus 2001, S. 205). Ebenfalls unveröffentlicht und bis heute kaum wahrgenommen ist ein Forschungsprojekt, das vom Institut 1943/44 im Auftrag des Jewish Labor Committee (JLC) zum Antisemitismus in der amerikanischen Arbeiterschaft durchgeführt wurde. Zur Publikation des vierbändigen, 1300 Seiten umfassenden Berichts kam es u. a. nicht, weil die Studies in prejudice methodisch ausgereifter waren als Anti-Semitism within American Labor. A Report to the Jewish Labor Committee. Drei der fünf Bände der Studies in Prejudice sind psychoanalytisch ausgerichtet: Band 1: The Authoritarian Personality von Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford; Band 2: Dynamics of Prejudice: A Psychological and Sociological Study of Veterans von Bruno Bettelheim und Morris Janowitz und Band 3: Antisemitism and Emotional Disorder: A Psychoanalytic Interpretation von Nathan W. Ackerman und Marie Jahoda. Paul Massings Studie Rehearsal for Destruction (Band 4) ist ein historischer Bericht über den Antisemitismus in Deutschland und Band 5, Prophets of Deceit von Leo Löwenthal und Norbert Guterman, analysiert die Reden faschistischer Agitatoren (vgl. Jay 1976, S. 278 ff. und Wiggershaus 2001, S. 390 ff.). Die 40er-Jahre sind für die Geschichte des Instituts für Sozialforschung von besonderer Bedeutung, weil wichtige empirische Arbeiten in dieser Zeit abgefasst werden. Zugleich erschienen zentrale Theoriearbeiten der Kritischen Theorie, gerade auch der Haupttheoretiker Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Die Aphorismen der 1951 veröffentlichten Minima Moralia wurden Mitte bis Ende der 40er-Jahre verfasst, gleiches gilt für Horkheimers Eclipse of Reason und die 1944 erstmals publizierte Dialektik der Aufklärung.2 Die empirischen Arbeiten stehen in einem offenkundig widersprüchlichen Verhältnis zu den theoretischen Schriften. Das im Forschungsprogramm des Instituts formulierte Ziel, eine Vermittlung von Theorie und Empirie zu erreichen, muss für die Studien über Autorität und Familie als gescheitert betrachtet werden. Der theoretische Teil in den Studien bezieht sich in keiner Weise auf die empirischen Ergebnisse und der empirische Teil lässt die theoretischen Ausführungen unbeachtet.

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Online einzusehen unter: http://www.ajcarchives.org/main.php?GroupingId=1380. 1942 waren alle Kapitel der Dialektik der Aufklärung fertiggestellt, mit Ausnahme des Kapitels Elemente des Antisemitismus, das erstmals in der Ausgabe 1947 aufgenommen wurde und in der Erstveröffentlichung 1944 fehlte (vgl. Wiggershaus 2001, S. 362).

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Zudem hielt das Institut gegen das Forschungsprogramm an der Trennung von Theorie und Empirie fest. Das geplante gemeinsame Werk von Horkheimer und Adorno brachte Horkheimer nicht mit den empirischen Projekten des Instituts zusammen – selbst nicht, als Adorno vorschlug das gemeinsame Buch über den Antisemitismus zu schreiben. Besonders erstaunlich ist, dass in der Dialektik der Aufklärung der Anspruch, dialogische Vernunft und rationale Naturbeherrschung zu vermitteln, verworfen wird. Die Naturbeherrschung, die zuvor als Möglichkeit der emanzipatorischen Produktivkraftsteigerung begriffen wurde, wird dort ihres emanzipatorischen Gehalts entkleidet und als Motor der Reproduktion des Bestehenden begriffen (vgl. Stapelfeldt 2004, S. 172 f.). Zur gleichen Zeit, als diese Einsicht formuliert wurde, entstand mit The Authoritarian Personality der zentrale empirische und mit den „Elementen des Antisemitismus“ in der Dialektik der Aufklärung der zentrale theoretische Teil der Kritik des Antisemitismus, ohne dass beide explizit aufeinander verweisen. Im Gegenteil: Die Elemente des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung kommen ohne einen Verweis auf die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen oder deren Forschungsmethodik aus, während The Authoritarian Personality eine ausführliche theoretische Fundierung fehlt, weil diese, wie Adorno anmerkt, „auf nichts weniger als auf eine Theorie der modernen Gesellschaft als Ganzer hinauslaufen“ (Adorno 1973, S. 109) und damit den Rahmen der Studie sprengen würde. Wiggershaus bemerkt treffend, dass nicht zu sagen ist, „ob die Philosophischen Fragmente das theoretische Sprungbrett für das Antisemitismus-Projekt bildeten oder ob das Antisemitismus-Projekt einen riesigen, mehr oder weniger disparat dastehenden empirischen Exkurs zu den Philosophischen Fragmenten bildete“ (Wiggershaus 2001, S. 397; kursiv. i. Orig.).

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Das Antisemitismusprojekt des Institut für Sozialforschung

The Authoritarian Personality, Band 1 der Studies in Prejudice, war das Gemeinschaftswerk von T. W. Adorno, Else Frenkel-Brunswick, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford. Es wurde bis zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung, die erst 1973, nach Adornos Tod erschien, in Deutschland kaum rezipiert. Auch die Übersetzung änderte daran erst einmal nichts. Ludwig von Friedeburg, der Adorno als Leiter des Instituts für Sozialforschung folgte, sprach der Studie im Vorwort der deutschen Übersetzung jegliche Aktualität ab und bescheinigte ihr ob „ihrer historisch bedingten Fragestellung und ihrer schichtenspezifischen Beschränkung“ (von Friedeburg 1973, S. XI) bloß dokumentarischen Wert. In den USA hingegen avancierte die Studie zum Standardwerk und löste, trotz Kritik an Methodik und fehlender Repräsentativität, eine wahre Flut von Untersuchungen aus, die sich methodisch und thematisch an The Authoritarian Personality orientierten (vgl. Werz 2001, S. 55 f.). Methodisch war die Studie eine Weiterentwicklung der 1944 fertiggestellten und unveröffentlicht gebliebenen Studies in Antisemitism: A Report to the America Jewish Committee. The Authoritarian Personality sollte anfangs den Antisemitismus in den USA untersuchen. Als die Konstruktion der Skalen ergab, dass der Antise-

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mitismus niemals isoliert, sondern immer in Kombination mit anderen autoritären Charakterdispositionen auftritt und dies erlaubt, von einem autoritären Syndrom zu sprechen, wurde der Anspruch der Studie ausgeweitet: Die Studie sollte das faschistische Potenzial der USA messen und damit beantworten, ob das, was in Europa von Deutschland ausgehend geschehen war, in den USA auch möglich wäre. Methodisch innovativ war die Studie, weil sie Charakterdispositionen nicht unmittelbar abfragte, sondern diese über indirekte Fragen ermittelte. Damit reagierte das Institut auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der US-Gesellschaft in den 40er- und 50er-Jahren. Nicht zuletzt die Durchsetzung der Kulturindustrie hatte dazu geführt, dass sich Meinungen und Einstellungen von Individuen in Bevölkerungsgruppen immer mehr anglichen. Der soziologische Begriff der Mittelschichtsgesellschaft mag diese Entwicklung durchaus treffend bezeichnen (vgl. Werz 2001, S. 47). Die objektive Vereinheitlichung machte daher, wie Adorno ausführt, es methodisch überhaupt erst möglich, Individuen in Gruppen einzuteilen und zu kategorisieren (vgl. Adorno 1973, S. 307 ff.). Die Methodik, so Adornos Argument, folgt dem realen Untergang des Individuums in einer Welt, in der bürokratische Apparate das Individuum verwalten und ihm die Autonomie und damit die notwendige Voraussetzung zur Individuierung nehmen. Zugleich wurden vor dem Hintergrund von Auschwitz offener Rassismus, Antisemitismus und offene faschistische Agitation immer weniger gesellschaftlich akzeptiert (vgl. Werz 2001, S. 52). Der Psychologe Allen L. Edwards machte 1941 in einer Untersuchung die Beobachtung, „daß Studenten ihre Aussagen rückgängig machten, wenn diese Aussagen als faschistisch etikettiert wurden“, und sprach deshalb von „unlabeled fascist attitudes“ (Wiggershaus 2001, S. 392 f.). Wollte die Forschung nicht annehmen, dass Rassismus und Antisemitismus mit der unmittelbaren sprachlichen Artikulation verschwanden, und sich nicht auf die bloße Messung von physischer Gewalt beschränken, musste sie auf die Erkenntnisse der Psychoanalyse zurückgreifen, mit deren Hilfe Ressentiments als Ausdruck der inneren Konflikte der Individuen aufgeklärt werden sollten. Aus diesem Grund waren The Authoritarian Personality und zwei weitere Studien der Studies in Prejudice psychoanalytisch angelegt. Wie die früheren Schriften der Kritischen Theorie, vor allem die Studien über Autorität und Familie und die Dialektik der Aufklärung, retrospektiv als Vorarbeiten zu The Authoritarian Personality begriffen werden können und nur in diesem Kontext angemessen zu verstehen sind, so knüpft das Gruppenexperiment (vgl. Pollock 1955), das im Jahr 1950 die Einstellungen der Deutschen zu politischen und wirtschaftlichen Fragen untersuchte, an den losen Zusammenhang an, den diese Schriften bilden und spinnt diesen weiter. Dieses Kontinuum der Auseinandersetzung mit Nationalismus, Autoritarismus, Antisemitismus und dem Umgang mit der Shoa wird in diesem Beitrag als Kritische Theorie des Antisemitismus bezeichnet. Besonderes Augenmerk findet die Frage, wie Antisemitismus die psychischen Bedürfnisse der Subjekte bedient. Zentrale Motive einer solcherart Kritischen Theorie des Antisemitismus werden im Folgenden (vgl. Abschn. 2, 3, 4 und 5) anhand der Arbeiten verschiedener Mitglieder der Frankfurter Schule der ersten Generation vorgestellt und diskutiert. In Abschn. 6 wird das Verhältnis von Schuldabwehr und Schuldbekenntnis näher

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untersucht. Hier wird argumentiert, dass die Kritische Theorie des Antisemitismus bereits das begriffliche Instrumentarium bereithält, mit dem neuere Ausprägungen des Antisemitismus, etwa ein gegen den Staat Israel gerichteter Entlastungsantisemitismus, kritisiert werden können. In Abschn. 7 wird abschließend diskutiert, ob das Theorem des Autoritären Charakters auch für die Analyse aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse Erklärungskraft besitzt.

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Antisemitismus als Quelle psychosozialen Gewinns

„Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihre Gelüste sind ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 177), heißt es in der ersten These der Elemente des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung. Die Formulierung vom „Bild des Juden“ verweist darauf, dass es dem Antisemiten nicht um das Verhalten real existierender Juden geht, sondern um das Bild des Juden, das der Antisemit sich schafft. Antisemitismus wird hier maßgeblich als an den Juden festgemachte Projektionen uneingestandener, abgespaltener Selbstanteile im Prozess der Subjektwerdung verstanden. Juden personifizieren Isolation und Kälte moderner Gesellschaften, die Auflösung tradierter regionaler und familiärer Bindungen und erzwungene Mobilität, die Funktionalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen, kurz: die als negativ wahrgenommenen Aspekte moderner Vergesellschaftung. Zudem werden auf sie die Anteile der Subjektkonstitution projiziert, die im Prozess der Subjektwerdung abgespalten werden müssen: u. a. Sexualität aus Gründen des Lustgewinns, gleichgeschlechtliche Lust, Faulheit, Gewalttätigkeit. Diese Abspaltungen bzw. Projektionen sind im Verständnis der Kritischen Theorie notwendig für die Subjektwerdung und sind mit der modernen Wertvergesellschaftung vermittelt. Da auf der Grundlage der warenproduzierenden Gesellschaft die Subjekte ihren Sehnsüchten entsagen müssen, um als Subjekte, als souveräne Verkäufer ihrer Arbeitskraft auftreten zu können, zieht Hass auf sich, was an den entsagten Trieb erinnert. Bestimmte Triebe müssen abgewehrt werden und eines „der Abwehrmittel besteht in Projektionen, also darin, an anderen etwas zu sehen, dessen man sich selbst nicht bewusst werden möchte“ (Fenichel 1993, S. 45). Antisemitismus erscheint also einerseits in Form von Gewalt, Hass und der Abwesenheit von Empathie, anderseits geht diesem aber die Bewunderung3 logisch voraus. Während das Subjekt gezwungen ist, sich selbst Gewalt anzutun, seinen Bedürfnissen und Trieben zu entsagen und doch niemals die Garantie bekommt, dass die Zurichtung für Markt und Gesellschaft belohnt wird, scheinen die Juden „sich in einer so turbulenten Welt, wo andere [. . .] nur vorsichtig und häufig blind umher3

Hitler war begeistert von der in den Protokollen der Weisen von Zion beschriebenen jüdischen Weltverschwörung (vgl. Geisel 1992, S. 13). Er sprach davon „dass die Juden in allem das Gegenteil der Deutschen und ihnen doch so ähnlich wie zwei Brüder sich nur sein können“ seien (Horkheimer GS 6, S. 168). Es könne aber nicht zwei auserwählte Völker geben, sondern nur eines, das deutsche (Horkheimer GS 6, S. 171).

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tasten können, recht eigentlich heimisch zu fühlen“ (Löwenthal GS 3, S. 86). Während die Juden einerseits dem Antisemiten Feinde der Gemeinschaft sind, sind sie zugleich selbst die ideale Gemeinschaft, verkörpert durch die jüdische Familie und den jüdischen Zusammenhalt, mit dem die Juden der Auflösung tradierter Bindungen zu trotzen scheinen (Löwenthal GS 3, S. 207). Die den Juden zugeschriebenen Charakterzüge der Liberalität, des Gemeinschaftssinns, der Dynamik und Innovation, der Ausdrucksfähigkeit und Schlauheit „werden als hassenswert dargestellt“, sind aber, wie Leo Löwenthal treffend bemerkt, „erwünschte Vorzüge im Existenzkampf des Individuums“ (Löwenthal GS 3, S. 95), die der Antisemit dem Juden neidet. Im Antisemitismus findet Widersprüchliches zusammen: Der Hass auf die unverstandenen Prozesse der Moderne, die Projektion abgespaltener Selbstanteile im Prozess der Subjektkonstitution, die Sehnsucht nach regressiver Gemeinschaft und Bindung sowie der Neid auf diejenigen, die die Mittel besitzen, um sich in der unübersichtlichen Moderne zurechtzufinden. Der Antisemitismus ist der irrationale Kitt, der diese autoritären Dispositionen zusammenhält und die Widersprüche zu einem in sich schlüssigen System verbindet, in der der Jude als Verfolgter und als Privilegierter gehasst wird; in der er als mittelloser Flüchtling wegen seiner Armut und als Kapitalist wegen seines Reichtums, als mächtig und einflussreich und als bewusst- und hilflos, als fromm und atheistisch, modern und archaisch, verachtet wird. Der Jude wird gehasst, weil er sich absondert und sich vermischt, weil er hinter dem Kommunismus steht wie hinter dem Plutokratismus (Löwenthal GS 3, S. 95, 56). Die Juden sind dem Antisemiten das Unheil der Moderne, weil sie das Glück verkörpern, das die Subjektkonstitution verwehrt. Dies ist das zentrale Element, das den Antisemitismus an sich als eliminatorisch ausweist4: „Den Juden, mit dieser Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 177). Dem Antisemiten scheint, als ließen sich mit den Juden die Kränkungen und Entsagungen vernichten, die dem modernen Subjekt zugemutet werden. Wo immer der Gedanke an das Glück erscheint, „zieht [der Jude – M. G.] die Zerstörungslust der Zivilisierten auf sich, die den schmerzlichen Prozess der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten. Denen, die Natur krampfhaft beherrschen, spiegelt die gequälte aufreizend den Schein von ohnmächtigem Glück wieder“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 181). Als Zeichen von Glück ziehen die „lüsterEs sei noch einmal Leo Löwenthal zitiert, der formuliert: „Die Juden sind ein Symbol für die Utopie einer Harmonie, die längst als eine Täuschung zu betrachten ist. [. . .]. In einer Zeit, in der das Überleben immer mehr zum einzigen Wert wird und in der man nur mit Konformismus sich dieses Überlebens versichern kann, erscheint das Überleben der Juden als eine unerträgliche Herausforderung. Hat sich die Menschheit jahrhundertelang mit den Juden abgefunden, so kann sie sich das jetzt nicht mehr länger leisten; sie müssen liquidiert werden, weil sie Verdammte sind: in dieser Welt ist kein Platz für Individuen. Letzten Endes verspricht man sich von der Ausrottung der Juden offenbar nicht einmal so sehr materiellen Gewinn; die Tatsache, dass im modernen Leben individuelles Glück eine Ausnahme zu werden scheint, lässt vielmehr das bloße Bestehen einer Gruppe, deren Angehörige dieses Glück anscheinend weiterhin zu genießen vermögen, als Affront und Drohung empfinden“ (Löwenthal GS 3, S. 96 f.).

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nen Bankiers, die den Bolschewismus finanzieren“ den Hass genauso auf sich, wie das „Bild des Intellektuellen“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 181). Erstere, weil sie als Lüstlinge die Freiheit der Sexualität genießen, der das Subjekt entsagen muss, und sie zudem als Bankiers Personifikationen der Zirkulationssphäre sind, die, scheinbar ohne dafür etwas zu leisten, zu Geld kommen. Letzterer, weil er „zu denken [scheint], was die anderen sich nicht gönnen, und (. . .) nicht den Schweiß von Mühsal und Körperkraft“ vergießt (Adorno und Horkheimer 2006, S. 181). Der psychologische Gewinn für die Subjekte besteht im Versprechen, dass mit der Vernichtung der abgespaltenen und auf die Juden projizierten Triebe die Subjekte von den Zumutungen des Daseins als Subjekte erlöst werden. Entgegen ökonomischer und politischer Rationalisierungen des Antisemitismus insistieren Adorno und Horkheimer darauf, dass die „mit Herrschaft verknüpfte Rationalität [. . .] selbst auf dem Grunde des Leidens“ liegt (Adorno und Horkheimer 2006, S. 179). Glück, das in der Rücknahme der (irrationalen, gesellschaftlich nicht notwendigen) Abspaltungen ins Subjekt besteht, in der Abschaffung von Herrschaft, bleibt „Lüge [. . .], solange es Klassen gibt“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 181). Obgleich mit den Elementen des Antisemitismus die ökonomistischen Erklärungsansätze überwunden sind, finden sich dort noch einige Ausführungen, die im offenen Widerspruch zum Primat der sozialpsychologischen und historisch-ökonomischen Erklärungsansätze stehen: „Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 180). Auf die Juden bezogen ist der Verweis auf deren Schutzlosigkeit, die sie zum Opfer von Pogromen machte, richtig. Warum aber gerade die Juden auffallen, ist damit noch nicht beantwortet, es liegt darin aber ein Verweis auf den selbstreferenziellen Charakter des modernen Antisemitismus. So allgemein, wie die These formuliert, lässt sich der Antisemitismus aber nicht fassen. Historisch sind weder Protestanten noch Katholiken Opfer eines auf sie gerichteten Hasses gewesen, der zu ihrer systematischen Tötung trieb. Vor allem aber sollte der auf diverse Gruppen gerichtete Hass nicht mit dem Antisemitismus gleichgesetzt werden. Vielmehr ist angebracht, die jeweiligen Unterschiede zu benennen. Vagabunden mögen als Faulenzer den Hass der Subjekte auf sich ziehen, die Faulheit sich selbst nicht gönnen dürfen. Sie gelten jedoch weder wie die Juden als faul und gierig, noch als Agenten von Kommunismus und Kapitalismus. Die Spezifik des Antisemitismus ist gerade dessen Widersprüchlichkeit. Wird von der Spezifik des Antisemitismus abstrahiert und werden alle Gruppen, die ausgegrenzt sind oder wurden, als prospektive Opfer des Antisemitismus ausgegeben, dann wird damit notwendig auch von den „autoritätsgebundenen Voraussetzungen [. . .] eine antisemitische Ideologie zu übernehmen und zu verinnerlichen“ abstrahiert (Rensmann 2004, S. 98). Die Frage der Spezifik „aggressive[r] und projektive[r] Psychodynamik, die gesellschaftlichen, bewusstseinsstrukturellen und subjektiven Bedingungen und die politisch-sozialen Verarbeitungsformen sowie die Frage der vorstrukturierenden, inkorporierten kollektiven Selbstbilder und Wahrnehmungsstrukturen oder andere

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zentrale psychosoziale Aspekte werden aus der Analyse ausgeschlossen oder allenfalls zu bloßen ‚Nebenaspekten‘ reduziert“ (Rensmann 2004, S. 98 f.). Auffällig ist auch, dass Adorno und Horkheimer einerseits auf der zweckmäßigen Zwecklosigkeit des Antisemitismus beharren, andererseits aber dessen intentionalen Gebrauch durch die Herrschenden betonen. Die antisemitische Tat wird, weil sie keine außer ihr liegenden Zwecke verfolgt, „wirklich autonomer Selbstzweck, sie bemäntelt die eigene Zwecklosigkeit“ (Rensmann 2004, S. 181). Matthias Küntzel kritisiert, „dass [. . .] von einer Einsicht in die Eigenmächtigkeit der antisemitischen Ideologie [. . .] auch in diesem Text [der Dialektik der Aufklärung – M. G.] keine Rede sein“ kann (Küntzel 1999, S. 149). Denn – und darin ist Küntzel zuzustimmen – die Elemente des Antisemitismus halten, obwohl dies in Widerspruch zur Sozialpsychologie des Antisemitismus steht, an der Dichotomie von Herrschern und Beherrschten hinsichtlich der Prädisposition für Antisemitismus fest, etwa wenn sie formulieren, dass der Antisemitismus „als Ablenkung, billiges Korruptionsmittel, terroristisches Exempel verwandt“ wird (Adorno und Horkheimer 2006, S. 179). Der Antisemitismus aber kann herrschaftsfunktional sein und war es als Kernideologie des Nationalsozialismus. Dass er als Herrschaftsmittel bloß verwandt wurde, der Antisemitismus den Herrschenden jedoch äußerlich war, steht im Widerspruch zur sozialpsychologischen Kritik des Antisemitismus und ist zudem empirisch nicht haltbar.

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Die pathische Projektion

Der Antisemitismus ist einerseits mit der Konstitution von Gesellschaft vermittelt, anderseits wird er als Teil der Phylogenese begriffen. Für die Kritik ist daher sowohl die konkret-gesellschaftliche und historisch-spezifische Subjektivität als auch die Genese der Subjektform überhaupt zentral, die als Genese der Dialektik von Mimikry und Autonomie in den Fokus rückt. Mimikry, die Nachahmung der Umwelt um des Überlebens will, wird zivilisiert durch die Mimesis, die bewusste Angleichung an die Umwelt. An die Stelle der Nachahmung tritt die Kontrolle über die Natur und damit einhergehend die des Ich. „Gesellschaftliche und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden und bewahrt sie davor, sich wieder aufgehen zu lassen im Auf und Nieder der umgebenden Natur. [. . .] In der Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 190). An die Stelle kontrollierter Mimesis tritt die Reflexion. Mit der scheinbar vollständigen Beherrschung von Natur schlägt diese zurück in Natur. Gesellschaft wird zur zweiten Natur. An die Stelle der Mimikry der ersten Natur tritt die der zweiten, in der „durch Automatisierung der geistigen Prozesse, durch ihre Umwandlung in blinde Abläufe“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 190) die Beherrschung der Natur zurückschlägt in die Beherrschung der Subjekte durch die Gesellschaft. Mit der Disziplinierung des Subjekts und der Abspaltung der für das tägliche Dasein als Subjekt unbrauchbaren Qualitäten und Affekte der u. a. Einfühlsamkeit, Faulheit, Zärtlichkeit ziehen diejenigen, die diese Charakteristika scheinbar nicht ablegen

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müssen und sich also selbst keine Gewalt antun müssen, „die ausdrücken, wonach alle süchtig sind“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 192), den Hass auf sich. Dieser Hass ist der seelische Treibstoff des Antisemitismus. Das oben schon ausgeführte psychologische Motiv, wonach der Antisemit am Juden hasst, was er sich selbst nicht als Wunsch eingestehen kann und sich versagen muss und der mit dem Juden an diese Entsagung erinnert wird, ist im Verständnis der Kritischen Theorie im Prozess der Subjektwerdung angelegt. Der Antisemitismus ist in diesem Verständnis der Sündenfall der Zivilisation, der Menschheitsgeschichte von Beginn eingeschrieben. Der Antisemit versagt sich nicht nur, was er den Juden als Ziel unterstellt, er strebt diese Ziele selbst an und ahmt den versagten Trieb nach, „wenn außer Zweifel steht, dass er seiner Ausrottung gilt“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 193). Im Faschismus und dessen Ritualen wird dieser mimetische Trieb bedient und die „Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft“, die sich im Leid an der Verdrängung und Abspaltung von Trieben und Wünschen ausdrückt, wird „unmittelbar der Herrschaft nutzbar“ gemacht (Adorno und Horkheimer 2006, S. 194). Die Reflexion fällt aus, an ihre Stelle tritt die „unbedingte Identifikation mit der versagenden Instanz“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 193), die eine Homogenisierung der Ingroup bewirkt und eine Abgrenzung nach außen benötigt. Die entsagten Regungen werden am Juden als Gegenprinzip festgemacht; auf sie fällt der reflexionslose Hass der „konformierenden Idiosynkrasien“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 194). Rationalisiert wird diese in den Zuschreibungen an die Juden, die wiederum den Wunschtraum der Antisemiten ausdrücken: „Verbrechen, Kindermorde und sadistische Exzesse, [. . .] Volksvergiftung und internationale Verschwörung“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 195).5 Rationalisiert wird zweifach: Damit der Antisemitismus seine Ursache im Verhalten der Juden finden kann, wird ihnen zum einen unterstellt, was nicht zur Triebstruktur des Kapitalismus passt. Zum anderen richten die Antisemiten den Juden zu, „bis er dem Bilde gleicht“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 195), wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten. Der Jude wird in der Realität zu dem, was er in der Vorstellung der Antisemiten schon immer war. Einerseits wird damit der reale Jude dem Bild des Juden gleichgemacht, anderseits wird das Bild aus projizierten Selbstanteilen gewonnen. Genauer: „Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 196). Adorno und Horkheimer begreifen Projektion als notwendigen Teil von Erkenntnis, weil in ihr Subjekt und Objekt vermittelt sind. Das Fremde, die Außenwelt wird mit Eigenem besetzt und erklärt. In dieser Vermittlung zwischen Außenwelt und Subjekt und in der Reflexion darauf, dass beide nicht unabhängig existieren und sich weder

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Dass die Deutschen sich anschickten, das zu sein, was sie auf die Juden projizierten, das Bild des Juden damit der Spiegel der Deutschen war, hat Eike Geisel pointiert formuliert: „Aus der Vorstellung vom wandernden Juden wurde der marschierende Deutsche, aus den jüdischen Familienbanden die Volksgemeinschaft, aus der Diaspora das Volk ohne Raum, aus dem Kosmopolitismus die deutsche Weltherrschaft“ (Geisel 1998, S. 57).

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die gegenständliche Welt idealistisch im Gedanken auflöst, noch sich die Spannung von Subjekt und Objekt einseitig zur Seite des Objekts hin auflösen lässt, wie dies im Positivismus der Fall ist, vollzieht sich Projektion (vgl. Jay 1979, S. 450). Als reflektierte Projektion nimmt sie die Projektion in die Erkenntnis mit auf (vgl. Adorno und Horkheimer 2006, S. 198). Wesentlich für den Antisemitismus ist demnach nicht die Projektion, sondern die durch den Ausfall der Reflexion gekennzeichnete pathische Projektion. Im Gegensatz zur Mimesis, die sich dem Gegenstand anschmiegt und ihn re-interpretiert, macht die pathische Projektion „die Umwelt sich ähnlich, [. . .] versetzt das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 196). Durch den Ausfall der Reflexion projiziert das Subjekt ohne Beschränkung Eigenes auf die Außenwelt, die dadurch ihre Eigenständigkeit verliert und zum Verfügungsmaterial wird. Unter Rückgriff auf die Psychoanalyse begreifen Adorno und Horkheimer die uneingestandenen, abgespaltenen Triebe als Basis pathischer Reaktion: „Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionslüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktionen auf solch Äußere loszuwerden, sei es in der Fantasie durch die Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 201). Durch die tendenzielle Ausschaltung der Zirkulationssphäre im Spätkapitalismus und der damit einhergehenden tendenziellen Integration des freien Unternehmers und des doppelt freien Lohnarbeiters in den Staat verändert sich auch deren Subjektivität. Die immer relative Freiheit des Subjekts weicht der Integration der Subjekte in Großverbände, Rackets und Banden. Damit vergeht auch die Vermittlung von Individualinteresse und gesellschaftlichem Wohl. Der Triebkonflikt, der in solcher Vermittlung immer mit ausgetragen wird, die Frage welche Triebe nicht oder nur zu einem bestimmten Grad befriedigt werden können, wird nicht mehr ausgetragen. „Trotz und wegen der offensichtlichen Schlechtigkeit der Herrschaft ist diese so übermächtig geworden, dass jeder Einzelne in seiner Ohnmacht sein Schicksal nur durch blinde Fügsamkeit beschwören kann“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 208). Die Schuld an der Verallgemeinerung und Abstraktion von Herrschaft wird am Bild des Juden festgemacht, das die Züge trägt, „denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muss: des Glücks ohne Macht, des Lohns ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 209). Die sozialpsychologische Dimension der Kritik des Antisemitismus der Kritischen Theorie vereint die konkret-gesellschaftliche Subjektivität mit der Genese der Subjektivität. Der Antisemitismus ist damit eine konkret historische autoritäre Reaktionsform auf die Durchsetzung abstrakt-bürgerlicher Vermittlungsprozesse. Zugleich begreifen Horkheimer und Adorno ihn in der Dialektik der Aufklärung als Sündenfall der Menschheit: An sich ist er schon in der Genese der Subjektivität vorhanden, die nach Abspaltung und Projektion verlangt. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen sozialpsychologischen Bestimmung des Antisemitismus werden im Folgenden weitere Elemente und Dimension des Antisemitismus in die Betrachtung einbezogen.

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Stereotypie, Personalisierung und die sozioökonomischen Grundlagen des modernen Antisemitismus

Die Stereotypie wurde als Ausdruck von Erfahrungsarmut bestimmt und das Bild des Juden als Ausdruck dieser Stereotypie sozialpsychologisch analysiert. Im Folgenden wird eines der zentralen antisemitischen Stereotype näher betrachtet: die Identifikation der Juden mit der Zirkulationssphäre des Kapitals. Die pathische Projektion, bei der das Subjekt die Dialektik von Subjekt und Objekt kündigt, zeichnet sich dadurch aus, dass das Subjekt darin als absolut gesetzt ist (vgl. Adorno GS 10.2, S. 743 ff.), es die Umwelt mit Subjektivem unmittelbar besetzt und nur zu sehen vermag, was es selbst auf die Objekte projiziert. Von Adorno und Horkheimer wird die pathische Projektion als wesentliches Merkmal des modernen Antisemitismus begriffen. Die Fähigkeit, Erfahrung überhaupt zu machen, Objektives als vielfach gesellschaftlich Bestimmtes und Vermitteltes, als gleichsam Besonderes und Allgemeines wahrzunehmen, geht damit verloren. An die Stelle der unvoreingenommenen Erfahrung tritt Stereotypie, die jede Erfahrung verunmöglicht und den Blick auf die Realität vor jeder Erfahrung prägt und in diese setzt, was schon bekannt ist (vgl. Adorno 1973, S. 189 f.). Die Wirklichkeit verschließt sich dem Subjekt und die Welt der Stereotypen wird zum selbstreferenziellen System. Die Stereotypie ist dabei zugleich Ausdruck und Reaktion auf die reale Standardisierung der Welt.6 Einher mit ihr geht ihr Gegenteil: die Personalisierung. Während die Stereotypie dem Nichtidentischen, dem Besonderen mit Ordnungsbegriffen zu Leibe rückt, „flüchtet die Personalisierung vor der wirklichen Abstraktheit, [. . .] vor der ‚Verdinglichung‘ einer gesellschaftlichen Realität, die durch Eigentumsverhältnisse bestimmt ist, und in der die Menschen gleichsam bloße Anhängsel sind“ (Adorno 1973, S. 191). Stereotypie und Personalisierung sind widerstrebende und zugleich sich ergänzende Formen verkehrter Wahrnehmung. Sie stiften Ordnung im Chaos und Beruhigung inmitten einer Welt, die als zunehmend unübersichtlich, kalt und unpersönlich wahrgenommen wird. Fassbar wird die Unübersichtlichkeit und Abstraktheit im Bild des Juden: Es nimmt eine besondere Stellung ein, weil es hoch stereotypisiert ist, die widersprüchlichsten Projektion vereint und zugleich widersprüchlichste soziale Verhältnisse personalisiert. Zu den zentralen antisemitischen Stereotypen zählt das des Juden als Verkörperung von Reichtum und Händlergeist, das sich aus der Personalisierung des sozialen Prozesses der Akkumulation von Kapital speist. Die Kritische Theorie analysiert diese Identifikation als Verkehrung, als notwendig falschen Schein. „Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“ (Adorno 1973, S. 182). Während die Abhängigkeitsverhältnisse im Feudalismus unmittelbar sind, der Lehnsherr unmittelbare Verfügungsgewalt über seine Vasallen hat, ist Herrschaft im Kapitalismus abstrakt und nicht

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Die sozioökonomische Grundlage dieser Entwicklung ist das Ende des Liberalismus und der mit ihm korrespondierenden Subjektivität des freien Unternehmers hin zum staatsinterventionistischen Kapitalismus der Großkonzerne und Kartelle, der sich ab den 1930er-Jahren in den kapitalistischen Zentren durchzusetzen begann.

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mehr an konkrete Personen gebunden, sondern über Wert und Recht vermittelt. Die Frage ist daher, wie diese abstrakte Herrschaft den Subjekten begegnet. Im Anschluss an Marx formulieren Adorno und Horkheimer, dass Herrschaft in Form der Ausbeutung den Menschen erst in der Zirkulationssphäre gegenübertritt, denn „erst im Verhältnis des Lohns zu den Preisen [. . .] drückt sich aus, was den Arbeitern vorenthalten wird“ (Adorno 1973, S. 182). Diese Verortung der Ausbeutung in der Zirkulationssphäre des Kapitals verschleiert den wahren „Ursprung des Mehrwerts“ (Adorno 1973, S. 183): „Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein“ (Adorno 1973, S. 183). Woher dieser Schein rührt und wieso er als notwendig beschrieben wird, erschließt sich erst vor dem Hintergrund eines an Marx orientierten Begriffs von Ideologie.

4.1

Exkurs zu Ideologie und Fetisch bei Marx

Marx’ Interesse im ersten Band des Kapitals gilt dem inneren Band, den Vermittlungsprozessen moderner Gesellschaften. Der Schlüssel zum Verständnis der Marxschen Ideologiekritik liegt in der Wertformanalyse und der Kritik des Fetisches. Marx beginnt seine Analyse moderner kapitalistischer Gesellschaft im ersten Band des Kapital mit der Analyse der Elementarform kapitalistischer Produktion: der Ware. Genauer: mit der Warenform, also mit der sozialen Form, in denen Produkte menschlicher Arbeit im Kapitalismus gefasst sind. Die Ware, so Marx, hat einerseits einen konkreten Gebrauchswert. Der Gebrauchswert eines Produkts ist, weil er je ein konkretes Bedürfnis befriedigt, für jeden Menschen individuell. Andererseits hat die Ware Wert, weil Produkte überhaupt nur dann getauscht werden können, wenn sie qualitativ gleichgesetzt werden (vgl. Marx MEW 23, S. 73). Diese qualitative Gleichheit verschiedenster Gebrauchswerte, die den Waren innezuwohnen scheinen, ist bei Marx der Wert. „Eine Ware“ heißt es im Kapital „ist auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ (Marx MEW 23, S. 85). In der Analyse der Wertform X Ware A = Y Ware B kommt Marx auf diese theologischen Mucken zu sprechen: Im Austausch der Ware A mit der Ware B stellt sich der Tauschwert, der abstrakte Wert von Ware A, im konkreten Gebrauchswert von Ware B dar. X mal Ware A sind so viel wert wie Y mal Ware B. Das heißt, es scheint, als wäre der Wert wie die Stofflichkeit eine Eigenschaft der Ware B, obwohl es sich um eine soziale Beziehung zweier Produkte handelt, die außerhalb dieses Vergleichs nicht existieren dürfte. Wenn Adorno und Horkheimer von Schein sprechen, dann meinen sie genau dies: dass es so aussieht, als wäre der Wert dem Produkt eigen, obwohl es sich dabei um eine gesellschaftliche Eigenschaft handelt. Diese Verkehrung, diese theologische Mucke, die den Menschen „die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst“ (Marx MEW 23, S. 86) zurückspiegelt, nennt Marx den Fetisch. Genauer: Den Warenfetisch. Diesem Fetisch, der die Warenform als Natureigenschaft von Produkten erscheinen lässt, ist durch

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Erkenntnis allein nicht beizukommen, weil diesem materielle Gewalt zukommt. So wie der König König ist, weil sich seine Untertanen zu ihm als König verhalten, erhält der Fetisch durch seine gesellschaftliche Wirklichkeit tatsächliche Gewalt über das Leben der Menschen. Der Fetisch ist also insofern falsches Bewusstsein, weil er die inneren Bewegungsgesetze kapitalistischer Vergesellschaftung verkehrt. Und der Fetisch ist zudem ein notwendig falsches Bewusstsein, weil auch die Aufklärung über den Fetisch die Menschen nicht unmittelbar vom Vollzug fetischisierter gesellschaftlicher Praxis befreien kann. Eben deshalb spricht Marx davon, dass diese Kategorien „gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse“ im Kapitalismus sind (Marx MEW 23, S. 90). Denn tatsächlich erscheinen den Produzenten „die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d. h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“ (Marx MEW 23, S. 87; Hervorh. M. G.) Das heißt, dass „das fetischisierte Bewusstsein (. . .) zugleich ein falscher Ausdruck der inneren Bewegungsgesetze kapitalistischer Warenproduktion und eine richtige Wiedergabe eines falschen Zustandes“ ist (Grigat 2007, S. 55). Marx analysiert, dass der Mehrwert in der Zirkulationssphäre realisiert, aber ausschließlich in der Produktionssphäre produziert wird. Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung Adornos und Horkheimers zu verstehen, dass die Zirkulationssphäre nur scheinbar der Ort der Ausbeutung ist. Dass gerade die Juden als Personifikation der Zirkulationssphäre auftreten, wird in der Dialektik der Aufklärung über den historischen Exkurs auf die Rolle der Juden als „Kolonisatoren des Fortschritts“ erklärt (Adorno und Horkheimer 2006, S. 184; ebenso: Löwenthal GS 3, S. 184). Von den den Christen vorbehaltenen Zünften ausgeschlossen und auf die den Christen verbotene Zinsnahme verwiesen, wurden die Juden in die Sphäre der Zirkulation gezwungen. „Sie trugen kapitalistische Existenzformen in die Lande und zogen den Haß derer auf sich, die unter jenen zu leiden hatten“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 184). Die Verkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird in der deutschen Sprache nochmals bestätigt. Der Unternehmer „kalkulierte, disponierte, kaufte und verkaufte“ und „raffte [. . .] nicht bloß am Markt sondern an der Quelle“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 182), im Sprachgebrauch jedoch wird er als Produzent bezeichnet. Diejenigen, die Arbeitskraft nehmen bzw. kaufen, werden Arbeitgeber genannt und diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, Arbeitnehmer. Die Ausbeutung wird so in die Sphäre der Zirkulation geschoben. Sie materialisiert sich dort in der Möglichkeit und Begrenztheit des Warenkaufs. Den Subjekten tritt die Ausbeutung also in der Zirkulationssphäre des Kapitals gegenüber, nicht in der Produktion, wo der Mehrwert produziert wird. Die Ausbeutung bürdet der Antisemitismus den Juden auf, die so zum „Sündenbock [. . .] [im] umfassenden Sinn“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 183) werden. Lars Rensmann verweist darauf, dass der „Haß auf die Juden als Vermittler [. . .] entgegen simplifizierenden Ablenkungstheoremen“, die Antisemitismus als Ablenkung der Herrschenden von ihren wahren Zielen und damit bloß instrumentell begreifen, „ohne einen verinnerlichten Arbeits- und Produktivkraftfetisch als Bindeglied nicht“ auskommt (Rensmann

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2001, S. 121). Diesen Fetisch hat das Institut für Sozialforschung schon frühzeitig mit den Studien zu Arbeitern und Angestellten in der Weimarer Republik erfasst. Leo Löwenthals Studie Vorurteilsbilder. Antisemitismus unter amerikanischen Arbeitern bestätigt diese Analyse: Den Arbeitern scheint, so Löwenthal, als wäre nur körperliche Arbeit gesellschaftlich nützlich. Löwenthal begreift die sozioökonomische Erklärung des Antisemitismus nicht nur als Fortsetzung und Stereotypisierung tradierter, historisch durchaus korrekter Identifizierung der Juden als Mittler (vgl. Löwenthal 1990b, S. 184), sondern vermittelt die sozioökonomische Erklärung mit der sozialpsychologischen: „Ein Arbeiter darf in seiner Arbeit nicht nachlassen, er würde zum Parasiten, wenn er es täte. Nur ein Jude kann in seiner Arbeit nachlässig sein. Der Jude fungiert gewissermaßen als Warntafel, die dem Arbeiter die tatsächlichen und moralischen Gefahren vor Augen führt, sollte er in seiner Leitungsfähigkeit absinken“ (Löwenthal 1990b, S. 189). Weil sie kaum Möglichkeiten haben den Zumutungen körperlicher Arbeit zu entfliehen, sind die Arbeiter stolz auf ihre Arbeit. Löwenthal bestätigt so die Analyse von Horkheimer und Adorno, der nach der Arbeiter erst in der Zirkulationssphäre Ausbeutung zu spüren bekommt. Der Kaufmann, der die Ware kauft und sich für deren Gebrauchswert nur insofern interessiert, als dieser Mittel zum Zweck der Realisierung des Wertes ist, „erscheint als parasitärer Vermittler zwischen dem arbeitenden Menschen und seinen Reproduktionsmitteln“ (Löwenthal GS 3, S. 183 f.). Der Kaufmann erscheint als personifizierte Schranke, die den Arbeiter von Gebrauchswerten trennt. Die Preise der Waren und der Gewinn des Kaufmanns erscheinen als Grund der Entbehrungen, die die Arbeiter auf sich nehmen müssen. Rensmann kritisiert, dass Adorno und Horkheimer „die Identifikation von Juden als Exponenten der Zirkulation und des zirkulativen Kapitals allzu weitgehend selbst übernehmen“ (Rensmann 2001, S. 122). Diese Kritik ist insofern fraglich, als die Juden in die Zirkulationssphäre gezwungen wurden und ganz real „Kolonisatoren des Fortschritts“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 184) waren (vgl. Rürup 1975). Mit dem Verweis auf die historische Vermittlerfunktion von Juden sind weder alle Juden mit dieser Funktion identifiziert, noch ist damit die Verfolgung der Juden als Exponenten der Zirkulation gerechtfertigt. Die gesellschaftlichen Veränderungen und die negativen Folgen, die der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus für bestimmte gesellschaftliche Gruppen mit sich brachte, werden im Antisemitismus auf die Juden projiziert. Die Verallgemeinerung der Warenproduktion und -zirkulation und historisch damit einhergehend die Befreiung der Juden aus der Zirkulationssphäre markieren nicht das Ende der Identifikation der Juden mit dem Kapital, sondern hob diese auf eine neue Ebene: „Die Ausweitung der Zirkulation personalisiert die antisemitische Reaktion: ‚Die Juden machen sich breit, sie sind überall‘“ (Claussen 2005, S. 58). Die Juden wurden in die Zirkulationssphäre gezwungen und durch deren Verallgemeinerung aus dieser befreit. Den Antisemiten erscheint die Durchsetzung des Wertgesetzes als Verschleierung personaler Herrschaft, die überall dort entdeckt wird, wo nach Recht, Gesetz und den Regeln der Kapitals Arbeitskraft ausgebeutet wird. Unverstanden bleibt, dass die Wertverwertung zwar des Kapitalisten und des Händlers bedarf, beide aber nur Charaktermasken, Personifikationen gesellschaftlicher Prozesse sind und Ausbeutung daher nicht dem individuellen Willen als vielmehr dem Verwertungsimperativ des Kapitals geschuldet ist.

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Massenpsychologie und Antisemitismus

Der psychoanalytischen Kritik des Antisemitismus entsprechend wünscht der Antisemit sich insgeheim nichts mehr als zu sein wie der Jude, den er sich ersinnt: Er neidet ihm die Tradition, die intakten familiären Bindungen, die Orientierungsfähigkeit in einer unübersichtlichen Welt, das Verständnis und die Kontrolle der unverstandenen Wertvergesellschaftung. Im Bild des Juden wird dem Antisemiten die Moderne greifbar.7 Es wird greifbar, was dem unmittelbaren Zugriff entzogen ist: Macht, Herrschaft, Orientierung, Stabilität, Tradition. Antisemitismus ist ein stereotypisierter, autoritärer Zugriff auf die Welt, in dem die Juden als „das Gespenst der Macht“ spuken (Löwenthal GS 3, S. 203). Vor diesem Gespenst sucht der Antisemit Zuflucht, die er im (nationalen) Kollektiv findet. Ganz maßgeblich rekurriert die Kritische Theorie in ihrer Kritik an der Unterordnung und Selbstaufgabe des Subjekts im Kollektiv auf die Freudsche Massenpsychologie. Freud hatte in dem 1921 erschienenen Massenpsychologie und Ich-Analyse „den notwendigen Schritt von der Individual- zur Kollektivpsychologie, zur Analyse des Individuums als Glied der Massen“ (Marcuse 1970, S. 90) gemacht. Als besondere Kennzeichen der Individuen in der Masse hatte er deren intellektuelle Regression sowie die Zunahme der Affektivität ausgemacht (vgl. Freud GW 13, S. 88). In der Masse sind die Individuen libidinös verbunden, ihr Über-Ich ist im Führer der Masse entäußert. Durch die Identifikation der Individuen untereinander und mit dem Führer wird die Libido zum Kitt, der die Masse zusammenhält. Die Impulse der Masse mögen verschieden sein, „jedenfalls aber sind sie so gebieterisch, dass nicht das persönliche, nicht einmal das Interesse der Selbsterhaltung zur Geltung kommt“ (Freud GW 13, S. 82). Durch die Identifikation der Individuen miteinander und mit dem Führer8 werden sie zu Gleichen. Die Masse treibt daher stets zur Homogenisierung. Sie duldet keine Abweichung und keine störende Individualität (vgl. Freud GW 13, S. 107). Die Kritische Theorie schließt gleichermaßen an die Freudsche Massenpsychologie an,9 wie sie diese kritisiert (vgl. Adorno GS 8, S. 30 ff. und Marcuse 1970, S. 85) und über sie hinausgeht. Die Kritik an Kollektiven und der Bildung von Massen ist eingebettet in die Kritik moderner Gesellschaft, die in der Herrschaft einer verselbstständigten Gesellschaft über die Individuen resultiert. Gesellschaft wird zur unveränderbaren, fetischisierten zweiten Natur; verworfen wird, was nicht

Wie Adorno in The Authoritarian Personality anmerkt: „[G]reifbar [. . .], aber auch nicht zu greifbar, damit die eigene Wirklichkeit es nicht zunichtemacht“ (Adorno 1973, S. 108). 8 Die Identifikation mit dem Führer lässt die Masse an dessen Macht teilhaben: Sie erfährt durch eine kollektive Aufwertung, sie besetzt sich selbst libidinös. Auch Adorno verweist auf die „essential role of narcissism in regard of the identifications which are at play at the formation of fascist groups“ (Adorno GS 8, S. 418). 9 So kann Adornos Kritik am Zwang zur Identifizierung, sei es in den philosophischen oder in den pädagogischen Schriften, als Weiterführung der Freudschen Massenpsychologie gelesen werden. Nicht erst die Konstitution einer Masse unter dem Vorzeichen einer menschenverachtenden Idee, sondern „schon“, dass die Individuen überhaupt sich zu Massen hingezogen fühlten, galt Freud wie Adorno als Problem, weil mündige Subjekte sich dadurch selbst entmündigen und aufgeben (vgl. u. a. Adorno GS 20.1, S. 375). 7

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den Imperativen der Wertvergesellschaftung gehorcht: die vernünftige Einrichtung des menschlichen Zusammenlebens. Zugelassen wird nur, „was durch Einheit sich erfassen lässt. [. . .] Die Vielheit der Gestalten wird auf die Lage und Anordnungen, die Geschichte aufs Faktum, die Dinge auf Materie abgezogen“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 13). Das identifizierende Denken,10 das Emotion und Ratio, Subjekt und Objekt zerreißt und der Abstraktion des Tauschprinzips, das von den konkreter Arbeiten und konkreten Gebrauchswerten absieht, macht Aufklärung „Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. [. . .] [S]ie schneidet das Inkommensurable weg. Nicht bloß werden im Gedanken die Qualitäten aufgelöst, sondern die Menschen zur realen Konformität gezwungen“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 13, 19). Die Vereinheitlichung und Entindividuierung der Subjekte in der Masse ist in einem weiteren Sinne Teil des Zivilisationsprozesses. Denn dieser selbst trägt die totalitären Elemente in sich, die im Nationalsozialismus zu sich gekommen sind: Der Anspruch, die Welt vollends zu kontrollieren, alle Vermittlungsprozesse, Markt, Recht, Geist zu kassieren und damit zugleich auch die Möglichkeit ein starkes Ich auszubilden. Im Prozess der Identifizierung der Individuen miteinander gibt das Individuum seine Selbstbestimmung auf und zergeht (vgl. Adorno GS 10.2, S. 683). Die IchSchwäche der Individuen, welche die Masse und damit die Identifizierung mit Anderen zum Zwecke der Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse attraktiv macht, ist sowohl eine unreflektierte Tendenz des Zivilisationsprozesses als auch Ausdruck der spezifischen sozioökonomischen Entwicklung des Kapitalismus. Sie ist der ideale Nährboden für Autoritäre, die zum Zweck der Selbstaufwertung die Identifikation mit der Macht suchen und im Juden – und das ist das zentrale Moment, das Kollektivkonstitution und Antisemitismus verbindet – den Antipol finden, den jede Kollektivbildung braucht. Die Juden sind im Gegensatz zu rassifizierten Minderheiten11 für die Antisemiten „die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 177). Eine besondere Rolle kommt den Juden im Kontext der Konstitution der deutschen Nation zu:12. Sie werden zum Negativ der ethnisierten, als ursprünglich und harmonisch gedachten Ingroup. Juden sind wurzellose

Die identifizierende Denkform belehnt „grenzenlos die Außenwelt mit der Starre [. . .], die im herrschaftlich Subjektivierten selbst ist. Diese Projektion mündet am Ende im ‚Größen- und Verfolgungswahn‘, bei dem die Welt bloße Gelegenheit für den Wahn ist [. . .]. An dieser gesellschaftlichen Verdinglichung zergeht das Subjekt selbst: das Denken, das nur noch identifiziert und systematisiert, ist eins mit der Paranoia, die alles Unheil willkürlich fixiert, zuletzt im Imago der ‚jüdischen Weltverschwörung‘. Gewalt zieht auf sich, was nicht erfasst, getauscht und beherrscht werden kann, wer vermeintlich abweicht von der Norm“ (Rensmann 2001, S. 110). 11 Der maßgebliche Unterschied von Antisemitismus und Rassismus besteht darin, dass das Objekt des Rassismus mit Natur, der Jude hingegen mit der Moderne identifiziert wird. Der Rassifizierte erscheint als der Andere, der Jude als das Gegenteil des Eigenen (vgl. Bruhn 1994). 12 Die Verbindung ist verstärkt in den Fokus der Antisemitismusforschung gerückt (vgl. Holz 2004). Einen Überblick bietet der Tagungsband Die Konstruktion der Juden gegen die Nation von Alter/ Bärsch/Berghoff (1999). Hervorzuheben sind insbesondere die darin enthaltenen Aufsätze von Biefang (1999) und von der Dunk (1999). 10

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Stellvertreter des Internationalismus und erscheinen als Störenfriede einer ursprünglichen Harmonie. Antisemitismus und Nationalismus lassen sich damit als Elemente eines tickets verstehen, die einander bedingen. Der Antisemitismus funktioniert „für den Antisemiten nur in der Masse von Gleichgesinnten [. . .], weil er die kollektiv-narzisstische Aufwertung in der Gemeinschaft braucht. [. . .] Der psychische Gewinn stellt sich also erst in der Masse ein“ (Radonić 2004, S. 85). Und erst die Existenz einer Gegenrasse erlaubt im Vergleich mit dieser die Überhöhung der eigenen Nation und die narzisstische Teilhabe an deren vorgestellter oder realer Macht.

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Schuldabwehr und Schuldbekenntnis

Die Elemente des Antisemitismus sind in der Erstveröffentlichung der Dialektik der Aufklärung von 1944 noch nicht enthalten und finden sich erst in der 1947 veröffentlichten Ausgabe. Die siebte und letzte These der Elemente des Antisemitismus fokussiert das Fortleben des Antisemitismus nach der Niederlage des Nationalsozialismus. Ihr erster Satz formuliert paradigmatisch für den Post-Holocaust-Antisemitismus: „Aber es gibt keine Antisemiten mehr“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 209). Das aber ist die Abgrenzung auf die vorangegangenen sechs Thesen, die Semantik ein Einspruch gegen jene, die mit dem offenen Antisemitismus den Antisemitismus überhaupt als erledigt ansahen. Adorno und Horkheimer thematisieren damit das Fortleben des Antisemitismus in einer Gesellschaft, in der Antisemitismus nur scheinbar zum Tabu geworden war. Mitnichten meinen die Autoren, wie Martin Jay schreibt, dass damit das „Ende des Judenhasses [. . .] nach Hitlers Niederlage“ (Jay 1979, S. 452) ernsthaft eingetreten sei. Jay missversteht die als Einwand formulierte Frage nach dem Formwechsel des Antisemitismus als Verkündung dessen Endes.13 Die Frage, in welcher Form der Antisemitismus fortbestand, wird in der Literatur verschieden beantwortet. Werner Bergmann und Rainer Erb haben in ihrem viel rezipierten Aufsatz Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung dargestellt, dass offener Antisemitismus im postnationalsozialistischen Deutschland nicht toleriert wurde, und hatten im Hinblick auf den Antisemitismus von „Kommunikationsverbot“, „Kommunikationssperre“ und „Kommu13

Es verwundert daher auch nicht, dass Jay sich über Adornos und Horkheimers Ausführungen zum Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Antisemitismus lustig macht. Dass diese das Ende des Antisemitismus von der Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft abhängig machen, veranlasst Jay zur Aussage: „Kurz, wenn Utopia einmal erreicht wäre, würde sich der Antisemitismus von selbst erledigen“ (Jay 1979, S. 452). Ob Jay die Verbindung von bürgerlicher Gesellschaft und Antisemitismus nicht versteht oder sie nicht teilt, bleibt unklar, weil er seine Einwände nicht ausführt und es dabei belässt, den utopischen Gedanken, das Ende des Antisemitismus, wie gleichsam die Autoren der Dialektik der Aufklärung der Lächerlichkeit preiszugeben. Claussen kritisiert zurecht, dass Jay in dem betreffenden Essay „die Gedanken Horkheimers und Adornos mit einer besserwisserischen Arroganz [verzerrt], die jeden Konjunktiv einer theoretischen Aussage in einen Indikativ verkehrt, als ob Horkheimer und Adorno als Propheten zu bewerten wären, die natürlich weit fehlten, wie der Realist von heute weiß“ (Claussen 2005, S. 223).

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nikationslatenz“ gesprochen (vgl. Bergman und Erb 1986, S. 229). Während Antisemitismus auf der Ebene persönlicher Einstellungen noch zu finden sei, so die These von Bergmann und Erb, ist er im öffentlichen Raum kaum mehr anzutreffen. Ein näherer Blick auf den Post-Holocaust-Antisemitismus zeigt jedoch, dass die Einschätzungen von Erb und Bergmann differenziert werden müssen. Seine besondere Qualität gewann der Antisemitismus nach 1945 in Deutschland dadurch, dass die Shoa die positive Bezugnahme auf die deutsche Nation zu verunmöglichen schien. Die Juden galten als rachsüchtig, weil sie allein durch ihre Existenz der positiven Bezugnahme auf die Familie, die dörfliche und nationale Gemeinschaft im Weg standen. Schon die Erinnerung an die vormalige Existenz der Juden und damit an die deutsche Schuld verwehrte die Selbstaufwertung im Kollektiv. Um den positiven Bezug auf die deutsche Nation wieder möglich zu machen, mussten also entweder die übrig gebliebenen Juden und die Erinnerung an diese verschwinden oder die Schuld der Deutschen musste gemindert werden. Die Abwehr von Schuld war so nicht nur Ausdruck mangelnder Fähigkeit zum Affekt, sondern war Ausdruck von Antisemitismus, weil die Abwehr von Schuld immer auch die Relativierung der Schrecken der Shoa bedeutete. Diese Form der Erinnerungs- und Schuldabwehr hat die Kritische Theorie unter dem Begriff des sekundären Antisemitismus14 analysiert (vgl. Schönbach 1961). Dieser Antisemitismus, der auch als Schuldabwehr-Antisemitismus bezeichnet werden kann, wurde empirisch in der Studie Gruppenexperiment nachgewiesen, die 1950 durchgeführt und 1955 publiziert wurde (vgl. Pollock 1955). Ziel dieser ersten empirischen Studie nach der Rückkehr des Instituts aus den USA war die Ermittlung von Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Westdeutschen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen (vgl. Adorno GS 9.2, S. 131). Von besonderem Interesse ist, dass die Studie zeigte, dass mit dem Identifikationsbedürfnis mit der Nation auch die Bereitschaft wächst, Schuld zu leugnen15 (Adorno GS 9.2, S. 188). Dies bestätigt die sozialpsychologische Erkenntnis, wonach gerade die Ich-Schwachen die Identifikation und die kollektive Aufwertung in der Nation suchen und demnach diese auch an vorderster Front verteidigen. Obwohl im Nachkriegsdeutschland sich das private und öffentliche Gedenken, das sich auch in Soldatendenkmälern und Gedenktagen manifestierte, auf die, eigenen Opfer‘ konzentrierte, also jene, die vormals der Volksgemeinschaft zugehörten, wich die Wahrnehmung der Deutschen von dieser Empirie stark ab. Unterstellt wurde, dass in Deutschland nur der Opfer der Anderen, nicht aber der eigenen gedacht werde (Adorno GS 9.2, S. 163). Wie bei der Konstitution der deutschen Nation kommt den Juden in dieser dichotomen Trennung von In- und Outgroup eine besondere Rolle zu. Nicht nur, dass die Opfer der Shoa nicht als Teil der Ingroup wahrgenommen wurden. Sondern auf die in Deutschland noch lebenden Juden, die mehrheitlich Displaced Persons (DPs) waren, richtete sich – wenig

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Adorno verweist darauf, dass der Institutsmitarbeiter Peter Schönbach diesen Begriff geprägt hat (vgl. Adorno GS 20.1, S. 362). 15 Zur qualitativen Interpretation der Gruppengespräche, die sich der Leugnung und Abwehr von Schuld widmen: Adorno GS 9.2, S. 173 ff.

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latent, wie gegen Bergmann und Erb eingewendet werden muss, vielmehr offen und offensiv – der Antisemitismus. Julia Schulze-Wessel hat in ihrer Arbeit über den Antisemitismus in der Nachkriegsgesellschaft am Beispiel der Polizei herausgearbeitet, dass der auf Bergmann und Erb zurückgehende Befund einer Kommunikationslatenz des Antisemitismus nach Kriegsende nicht stichhaltig ist. Vielmehr sticht die Kontinuität antisemitischer Schemata ins Auge: Die Trennung in gute und schlechte Juden, in unsere guten Juden, die mehrheitlich nicht mehr zurückgekehrt sind; und die schlechten Juden also solche, die sich nach Kriegsende in Deutschland aufhielten und dort nicht willkommen waren (vgl. Schulze-Wessel 1999, S. 186; ausführlich: Stern 1991, S. 65 ff.). Die DPs wurden mit antisemitischen Stereotypen belegt, und so waren es in der Nachkriegszeit wieder die Juden, die als Negativ der Nation erschienen, ohne jedoch, dass diese als Juden bezeichnet wurden (vgl. Schulze-Wessel 1999, S. 184 ff.). Der moderne Antisemitismus ist demnach nach 1945 nur insofern latent gewesen, als dessen Opfer nicht als Juden, sondern als DPs bezeichnet wurden. Wie die Auswertung der Gespräche des Gruppenexperiments zeigt, hat antisemitische Schuldabwehr viele Gesichter: Sie reicht von der Übernahme nationalsozialistischer Propagandabegriffe über mildere Ausdrücke und euphemistische Umschreibungen für Deportation und Massenmord (vgl. Adorno GS 10.2, S. 556) sowie der Definition von Schuld als persönliches Problem derer, die Schuld fühlen (Adorno GS 9.2, S. 180), bis zur Auslagerung der Schuld auf einen kleinen Kreis von Verantwortlichen (Adorno GS 9.2, S. 182 ff.). Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Kollektivschuldthese. In besonderer, fast idealtypisch zu nennender Weise offenbart sich am gesellschaftlichen Umgang mit ihr die psychologische Motivation der Schuldabwehr. Im Gruppenexperiment bildete die Kollektivschuldthese insofern eine Ausnahme, als sich in den Diskussionen kein Teilnehmer fand, der sie vertreten wollte. Vielmehr lehnten in der Diskussion, ohne dass konkret benannt wurde, was Kollektivschuld bedeuten und wen sie umfassen könnte, alle GruppendiskussionsteilnehmerInnen die Kollektivschuldthese ab. Adorno betont, dass durchweg „die Versuche des Individuums, gegen die kollektive Schuld anzugehen, weit stärker affektiv besetzt [waren] als die, der individuellen Schuld auszuweichen“ (Adorno GS 9.2, S. 188). Auch Günther Anders hat mehrmals darauf verwiesen, dass der Begriff der Kollektivschuld nur deshalb die Suche nach adäquaten Begriffen überlebt hat, weil „die Exnazis“ sie so sehr benötigen, dass sie diese hätten erfinden müssen, gäbe es sie nicht. „Ihr Argument lautet: ‚Da es keine Kollektivschuld gibt, sind wir kollektiv nicht schuldig, kann keiner von uns schuldig sein‘“ (Anders 1997, S. 196 f.; ähnlich: Anders 1988, S. 81 ff.). Die Kollektivschuldthese stand für die Ungerechtigkeit, Überheblichkeit und Willkür der Sieger, gegen die das nachkriegsdeutsche Kollektiv sich formieren konnte. Hier lässt sich nun der Bogen von der Kollektivschuldthese zum sekundären Antisemitismus schlagen. Der sekundäre Antisemitismus kommt in dieser Form in zweifacher Hinsicht der Rehabilitierung der durch Auschwitz beschädigten Identitäten zugute: Einerseits in der Abwehr von Schuld, die der Versuch ist, die positive Identifikation mit der Nation zu bewahren. Andererseits ist die Abwehr selbst identitätsstiftend, als sie kollektiv geschieht. Sie bedient die Sehnsucht nach Identifikation und lässt die Verfolger zu Verfolgten werden, die sich vor der Rache der Juden und der Willkür der Alliierten verteidigen müssen (vgl. Adorno GS 20.1, S. 368).

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Neben der Schuldabwehr lassen sich weitere Formen des Umgangs mit der Vergangenheit identifizieren. In der Interpretation der Gesprächsprotokolle des Gruppenexperiments kommt Adorno zur Einschätzung, dass Schuld kaum offen geleugnet wurde (vgl. Adorno GS 9.2, S. 192, 209). Vielmehr, so Adorno, wurden ausgehend vom Eingeständnis deutscher Schuld Wege der Relativierung, Projektion und Rationalisierung gesucht. Diesem Ergebnis des Gruppenexperiments stehen empirische Untersuchungen entgegen, die zur gleichen Zeit durchgeführt wurden, so die Erhebungen des Office of the High Commissioner Germany der US Army. Diese kommt zur Einschätzung, dass „eine Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung [. . .] nicht nur eine allgemeine Schuld für die Missetaten des Dritten Reiches ab[lehnt], sondern auch jegliche allgemeine Verantwortung der Deutschen, das Unrecht [. . .] zu vergelten“ (HICOG 1951 zitiert nach Stern 1991, S. 329). Das Eingeständnis von Schuld und dessen Abwehr stehen augenscheinlich in Widerspruch, der sich jedoch auflösen lässt. Bekenntnis und Abwehr von Schuld werden in unterschiedlichen Zusammenhängen und Situationen bevorzugt, beide aber haben die gleiche Stoßrichtung: Sie dienten der Rehabilitierung des Kollektivs. Die Einordnung ins Kollektiv erlaubt die kollektive narzisstische Aufwertung. Diese Sehnsucht bestand auch nach 1945 und fand ihren Ausdruck in zwei nur scheinbar widersprüchlichen Formen der Kollektivbildung: Die Abwehr von Schuld ist der Versuch den positiven Bezug auf die nationale Tradition ungebrochen zu bewahren. Das Schuldbekenntnis hingegen war „ein famoses Verfahren das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten. [. . .] Selbst noch das ‚Ich‘ stand für das ‚Wir‘. Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte“ (Horkheimer GS 6, S. 404). So dienen Abwehr und Bekenntnis in der kollektiven Form gleichermaßen der nationalen Gemeinschaftsbildung in der Bundesrepublik. Erinnerungsabwehr war bis zum Wandel der Erinnerungspolitik in den 1980erJahren die dominante Form des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in Deutschland. Sie ging einher mit der Forderung die Vergangenheit ruhen zu lassen, einen Schlussstrich zu ziehen, den Nationalsozialismus zu historisieren. Diese Sehnsucht freilich muss die Erinnerung an Auschwitz als lästig empfinden. Nicht zuletzt die Zustimmung zu Martin Walsers Rede in der Paulskirche mag verdeutlichen, wie aktuell die vom Institut für Sozialforschung in den 1950er-Jahren analysierten Abwehr- und Projektionsmechanismen noch sind.16 Der sekundäre Antisemitismus ist als psychosoziale Abwehr von Fakten und Emotionen, die als Bedrohung kollektiver Identitätsbilder wahrgenommen werden, eine historisch-spezifische Adaption des modernen, über Deutschland hinausreichenden Bildes der Juden als Negativ nationaler Konstitutions- und Selbstvergewisserungsprozesse. Er integriert zentrale Motive des modernen Antisemitismus, indem die Bilder 16

Der zeitliche Abstand zum Nationalsozialismus lässt die Forderung nach einem Schlussstrich unter das Kapitel Nationalsozialismus nicht vernünftiger werden. Vielmehr hat sie sich nie auf die tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bezogen und bedient sich sinnfreier Argumente, wie dem von Franz-Josef Strauß: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen“ (Strauß in Die Zeit 07.10.1988).

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jüdischer Rachsucht, Geldgier und Manipulation der Schuldabwehr nutzbar gemacht werden: Als reale und eingebildete Mahner an Verfolgung und Deportation sind die Juden auf Rache aus, als Verkörperung von Geist und Vermittlung kontrollieren sie Presse und Fernsehen und machen ihre Rachsucht auf diesem Wege geltend. Nicht zuletzt, so die antisemitische Vorstellung, ist die als Rache wahrgenommene Erinnerung an Auschwitz Ausdruck jüdischer Geldgier, weil diese zur Bereicherung genutzt wird. Damit erscheint die Abwehr von Schuld und Erinnerung zugleich als hehre Handlung, weil sie sich der diktierten und verordneten Erinnerung nicht beugt (vgl. Rensmann 2004, S. 173 ff.). Das Bild des profitheischenden, rachsüchtigen jüdischen Mahners macht dabei in ganz besonderer Weise Israel als Agitationsziel attraktiv. Der Verweis auf die jüdische, hier: israelische Brutalität, trägt zur Relativierung der deutschen Schuld bei. Wenn die Juden zu Tätern werden, entlastet dies die Deutschen in zweifacher Weise. Wenn gezeigt werden kann, dass die Juden den Palästinensern antun, was die Deutschen den Juden angetan haben, dann relativiert dies die deutschen Verbrechen. Deutsche und Juden werden in dieser Logik im ersten Schritt beide zu Tätervölkern. Der wesentliche Unterschied besteht dann aber darin, dass die Deutschen aus ihren Taten gelernt und ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben, während die Juden bis heute die Palästinenser unterdrücken. Die Möglichkeit der Schuldentlastung, die in diesen Bildern steckt, ist einer der Aspekte, über welchen das anhaltende obsessive Interesse der Deutschen am Israel-PalästinaKonflikt erklärt werden kann. Nach Auschwitz war offener Antisemitismus nicht verschwunden, wurde aber nicht offen gegen Juden, sondern gegen die DPs artikuliert. Die DPs wurden (ob sie nun jüdisch waren oder nicht) zum Ersatzobjekt des Antisemitismus. Der jüdische Staat hingegen ist kein Ersatzobjekt, sondern er erweitert das Bild des Juden, das der Antisemit sich macht, um das des jüdischen Staates.17 Schon die Staatsgründungsbestrebungen finden in den Protokollen der Weisen von Zion als internationale Verschwörung des Judentums gegen das zaristische Russland ihren Wiederhall. Dieses Bild wird im Antizionismus universalisiert:18. Der Antizionismus überträgt antisemitische Stereotype auf Israel. Israel gilt ihm als Inbegriff von Künstlichkeit und Basis des Weltjudentums. Als künstlicher,

17

Der Antizionismus ist nicht so neu wie gelegentlich angenommen: Neben den Protokollen der Weisen von Zion, die als Gründungsdokument des Antizionismus gelten können, kommentierte der nationalsozialistische Chefideologe Alfred Rosenberg im Völkischen Beobachter regelmäßig die Situation in Palästina. 18 Ablehnend standen dem Zionismus in dessen Frühzeit auch mehrheitlich die bürgerlichen und die sozialistischen Juden gegenüber. Erstere, weil sie als Bürger ihrer jeweiligen Länder die Idee eines eigenen jüdischen Staates absurd fanden und die Bestrebungen Theodor Herzls als der vollständigen Assimilation hinderlich erachteten. Letztere, weil die sozialistische Revolution die universelle Emanzipation der Menschheit besorgen und damit die bloß partielle Emanzipation der Juden auf Basis von Staat und Kapital überflüssig machen sollte. Da das bürgerliche Versprechen auf Freiheit und Gleichheit weder die Juden vor antisemitischen Pogromen schützen noch die Shoa verhindert konnte und die sozialistischen Bewegungen – vom nicht mehr real existierenden im Osten zu schweigen – gescheitert sind, war der Antizionismus innerhalb des Judentums nach der Shoa marginal. Dass sich dies in den vergangen zwei Jahrzehnten geändert hat, muss gesondert untersucht werden.

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gewalttätiger Unterdrückerstaat ist Israel damit auf internationaler Ebene, was der Jude auf nationaler ist: Negativ des Eigenen,19 „Jude unter den Staaten“, wie Léon Poliakov prägnant formuliert hat. Auf Israel wird projiziert, was Staaten dem fetischistischen Bewusstsein nach nicht sein dürfen, jedem Staat aber qua seiner Form eigen ist: u. a. die Gewalt des Staatsgründungprozesses, die Exklusivität der Staatsangehörigkeit, die Künstlichkeit und Beliebigkeit der Grenzziehung und die Homogenisierung der Bevölkerung durch den Staat. Der Antizionismus tritt politisch korrekt auf, weil er nicht offen Israel als jüdischen Staat angreift, sondern auf reale Momente wie z. B. die Vertreibung der arabischen Bevölkerung im Unabhängigkeitskrieg rekurriert und diese für die Ziele des Antizionismus in Beschlag nimmt. Der Bezug auf reale Momente und die scheinbare moralische Integrität verweisen wiederum zurück auf den Antisemitismus: Das Wieder erstarken des Antisemitismus ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass der Antizionismus die Juden zu Tätern macht und darüber vermittelt Antisemitismus wieder hoffähig gemacht hat. Der Antizionismus ist also weniger die neue Form des Antisemitismus als vielmehr eine weitere Variante des Antisemitismus.

7

Zur Aktualität des autoritären Charakters

Im Folgenden wird die Frage zu beantworten sein, ob die Erkenntnisse von The Authoritarian Personality und damit auch die Kritische Theorie des Antisemitismus den Antisemitismus in seinen heutigen Ausprägungen angemessen erklären können. Der in den Studies in Prejudice, vor allem in The Authoritarian Personality beschriebene autoritäre Charakter, der als Normaltyp moderner westlicher Gesellschaften zu verstehen ist, wurde nicht nur breit rezipiert, sondern auch vielfach kritisiert. Neben der methodischen Kritik und der Kritik an der fehlenden Repräsentativität der Ergebnisse entspann sich die Kritik vor allem an der Frage nach der Aktualität. Die diagnostizierten gesellschaftlichen Veränderungen ließen die Kritiker20 die Aktualität der in den Studies in Prejudice beschriebenen Subjektivität in Zweifel ziehen. Der Begriff des Spätkapitalismus sollte der Veränderung des Kapitalismus Rechnung tragen und stellte die Organisationsform des Kapitals am Ende der liberalen Ära in den Mittelpunkt. Breit diskutiert wurde der Formwandel erstmals in einer Vortragsreihe an der Columbia University, in der das Wesen des Nationalsozialismus 19

Max Horkheimer hat schon in den frühen 60ern den Antizionismus als modernisierte Form des Antisemitismus begriffen und zum Gegenstand der Kritik gemacht: „Kein Machtstaat, sondern die Hoffnung auf Gerechtigkeit am Ende der Welt hieß Judentum. Die Juden waren ein Volk und das Gegenteil, der Vorwurf aller Völker. Das jüdische Volk, an dem das Unrecht aller Völker zur Anklage geworden ist, die Individuen, an deren Worten und Gebärden das Negative des Bestehenden sich selber reflektiert, sind nun selber positiv geworden“ (Horkheimer GS 6, S. 369). Die UNO und die arabischen Staaten, die Israel auslöschen wollten, waren Horkheimer dementsprechend keine Verbündeten im Kampf für die befreite Gesellschaft (vgl. Horkheimer GS 6, S. 240 ff.). 20 Dazu Weyand 2001, S. 57.

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im Verhältnis zur liberalen Ära entlang der Fragen nach den Veränderungen im Verhältnis von Recht, Ökonomie, Staat und Gesellschaft diskutiert wurde.21 Obgleich die Diskussion den Nationalsozialismus fokussierte und daher die spezifisch deutsche Antwort auf die kapitalistische Krise der 20er- und 30er-Jahre zum Gegenstand hatte, weißt sie doch über diese hinaus. Denn dass es staatlicher Intervention in die Ökonomie und deren Steuerung bedürfe, setzte sich in der 30er- und 40er-Jahren als Paradigma in allen westlich kapitalistischen Staaten durch (vgl. Gerber 2006, S. 52). Während in der liberalen Ära, in der Staat und Gesellschaft und Staat und Ökonomie getrennte Sphären waren und sich jenseits der Rechtsgarantie und Gesetze, die den physischen Erhalt der ArbeiterInnen sichern sollten, staatliche Eingriffe in die Ökonomie auf ein Minimum beschränkten, weitete sich in Folge der Krise Ende des 19. Jh. und nach dem ersten Weltkrieg die Eingriffe des Staates massiv aus. Ab 1870 wurden Schutzzölle Bestandteil der Wirtschaftspolitik der entwickelten Länder und in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts setzten sich im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise weltweit Staatsinterventionen als Paradigma der Krisenbewältigung und technokratischen Systemsteuerung durch. Damit änderte sich sowohl das Verhältnis von Staat und Gesellschaft als auch die Organisationsform des Kapitals. „Der Staat verwandelte sich vom liberalen ‚Nachtwächterstaat‘ über den Patron des ‚organisierten Kapitalismus‘ in einen gigantischen Konflikt- und Krisenmanager“ (Gerber 2006, S. 53). In Folge wurde die Produktion nationalisiert, der freie Binnenmarkt abgeschafft und dieser vom Staat verwaltet und reglementiert. Mit der Ausbreitung des Staates übernahm dieser die Funktion der Planung, Exekution und Verwaltung des Kapitals und also auch der Ware Arbeitskraft. In Adornos erstmals 1969 erschienenen Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? stehen – im Anschluss an die schon in der Faschismusdiskussion gewonnenen Einsichten – die Veränderungen zwischen der liberalen Periode und der postliberalen im Fokus. Vor allem aber fokussiert Adorno dort die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Konstitution von Subjektivität. Mit der Zunahme staatlicher Intervention und der Verwaltung und Steuerung bürgerlichen Lebens, der Durchsetzung der Großkonzerne, kurz: der Zunahme der Ohnmacht der Individuierten gegenüber Gesellschaft und Staat, verlieren die Subjekte zunehmend die Fähigkeit der Vermittlung zwischen den Anforderungen der Realität und dem Ich, das wiederum selbst Triebe (Es) und Gewissen (Über-Ich) vermittelt und synthetisiert.22 Die Subjekte, die bei Marx noch Anhängsel der Maschine sind und als solche die Anforderungen maschineller Arbeit triebökonomisch mit dem Ich vermitteln müssen, werden in der postliberalen Periode der staatlich gesicherten Monopole und Großkonzerne „bis in ihre intimsten Regungen genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu

21

Dokumentiert ist die Vortragreihe bei Dubiel und Söllner (1984): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939–1942. 22 Der aus dieser Analyse folgende Widerspruch, dass nur ein Individuum, das nicht Ich-schwach ist, diesen Sachverhalt reflektieren kann, ist bei Adorno durch die dialektische Bestimmung des Ich aufgehoben. Ausführlich dazu: Weyand 2001, S. 139 ff.

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modeln“ (Adorno 1997, S. 157). Der Zusammenhang von moderner kapitalistischer Gesellschaft und Subjektwerdung23 wird in der siebten These der Elemente des Antisemitismus ausführlich diskutiert, weil der Verfall von Subjektivität die Voraussetzung für den modernen Antisemitismus überhaupt ist. Aufgrund der Zentralität des Arguments sei hier eine längere Passage zitiert: „Es [das Individuum – M. G.] war entstanden als Kraftzelle ökonomischer Aktivität. Von der Bevormundung auf früheren Wirtschaftsstufen emanzipiert, sorgte es für sich allein: als Proletarier durch Verdingung über den Arbeitsmarkt und fortwährende Anpassung an neue technische Bedingungen, als Unternehmer durch unermüdliche Verwirklichung des Idealtyps homo oeconomicus. Die Psychoanalyse hat den inneren Kleinbetrieb, der so zustande kam, als komplizierte Dynamik von Unbewusstem und Bewusstem, von Es, Ich und Über-Ich dargestellt. In Auseinandersetzung mit dem Über-Ich, der gesellschaftlichen Kontrollinstanz im Individuum, hält das Ich die Triebe in den Grenzen der Selbsterhaltung. Die Reibungsflächen sind groß und die Neurosen, die faux frais solcher Triebökonomie, unvermeidlich. Dennoch hat die umständliche seelische Apparatur das einigermaßen freie Zusammenspiel der Subjekte ermöglicht, in dem die Marktwirtschaft bestand. [. . .] Gehörte im Liberalismus Individuation eines Teils der Bevölkerung zur Anpassung der Gesamtgesellschaft an den Stand der Technik, so fordert heute das Funktionieren der wirtschaftlichen Apparatur die durch Individuation unbehinderte Direktion von Massen“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 212 f.). Im Ende der liberalen Periode, dem Ende eines von Staatseingriffen weitgehend freien Marktes sahen Horkheimer und Adorno nicht den notwendig progressiven Fortgang der Geschichte, die aus sich heraus zum Kommunismus treibt. Vielmehr galt ihnen die tendenzielle Ausschaltung der Vermittlung – der freie Markt, der Dialog, die Ratio, das Ich, der Geist, die in der Kritischen Theorie nach Marx die Möglichkeit der Transzendenz der bürgerlichen Gesellschaft barg – als Schritt zur Abschaffung der Möglichkeit einer richtigen Gesellschaft. Die Gleichgültigkeit gegenüber den besonderen Qualitäten und Bedürfnissen der Menschen, die schon in der Durchsetzung des Wertgesetzes angelegt ist,24 kommt in der Verschmelzung von Staat und Gesellschaft zu sich. Das von der Kulturindustrie und den Sozialisationsinstanzen geprägte Denken ersetzt den freien Gedanken, die Differenz zwischen dem Ich und der Realität, stellt an die Stelle der „Erfahrung [. . .] das Klischee, anstelle der in jener tätigen Fantasie fleißige Rezeption. [. . .] Schema, Stereotypie [ersetzen] die kategoriale Arbeit“ (Adorno und Horkheimer 2006, S. 211). Der ökonomische Wandel lässt die Autorität des Vaters irrational werden. Als Mittler des Realitätsprinzips und Verkörperung von Autonomie wird der Vater mit dem sozialen Verlust seiner (Teil-)Autonomie und der Durchsetzung von Groß-

23

Im emphatischen Sinn lässt sich nicht mehr von Subjekten sprechen, weil die Menschen sich den role-models der Kulturindustrie angleichen (vgl. Grimm 2009, S. 64 f.). 24 Im Warentausch wird zum Zwecke der Realisierung des Tauschwerts vom konkreten Gebrauchswert der Ware abstrahiert. Der Gebrauchswert ist Mittel zum Zweck der Realisierung des Tauschwertes. Welches Bedürfnis die Ware befriedigt, ist dabei unerheblich.

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konzernen entmachtet. Die Familie verliert damit ihre Stellung als zentraler Ort der Reproduktion. Die personal-familiäre Weitergabe von Wissen weicht der abstrakten Vermittlung über Institutionen und die familiäre Autorität des Vaters tritt in offenen Widerspruch zu seiner gesellschaftlichen Ohnmacht. An die Stelle der Autorität des Vaters treten äußere Autoritäten: Jugendorganisationen, kulturindustrielle Helden und anonyme Großorganisationen. „Die gesellschaftlich notwendigen Zwänge und das gesellschaftlich notwendige Verhalten werden nicht mehr erlernt – und verinnerlicht – in dem langen Kampf mit dem Vater – das Ichideal wird vielmehr dazu gebraucht, auf das Ich direkt und ‚von außen‘ einzuwirken, ehe noch das Ich tatsächlich sich als das persönliche und relativ autonome Subjekt der Vermittlung zwischen dem eigenen Selbst und den anderen herausgebildet hat“ (Marcuse 1970, S. 89; Hervor. i. Orig.). Das Über-Ich wird kein Teil der Persönlichkeit, sondern bleibt dem Subjekt notwendig äußerlich, weil die Autoritäten, an denen es sich ausbildet, keine unmittelbare persönliche Beziehung zulassen. Sie treten ihm als gesellschaftliche Macht nun unmittelbar gegenüber – der Vater als Mittler wird damit ausgeschaltet. Während die Auseinandersetzung mit dem Vater schmerzhaft ist, weil das Ich sich in der Auseinandersetzung an Entsagung und Triebverzicht schult, bildet sich zugleich ein starkes Ich, weil die Autorität des Vaters als Über-Ich internalisiert wird. Ist die Integration des Über-Ich verwehrt, kann sich kein starkes Ich ausbilden. Das Ich ist schwach, sein Über-Ich bleibt externalisiert. Jan Weyand beschreibt diese Veränderung als „Tendenz zur [. . .] Verflüssigung des Charakters [. . .] [die] Resultat wie subjektive Voraussetzung des Fortschritts der Vergesellschaftung [ist]. An die Stelle des Individuums tritt die Funktion“ (Weyand 2001, S. 141). Weyand spricht im Anschluss an diese Ausführungen von der Tendenz zu einem charakterlosen Charakter,25 also einem Sozialcharakter, der sich nicht durch ein integriertes Über-Ich und damit eine feste Charakterstruktur auszeichnet, sondern

25

Frank Böckelmann kommt zu einer ähnlich Einschätzung, macht die Differenz von autoritärem und post-autoritärem Charakter zudem an dem begrifflichen Wandel psychoanalytischer Kategorien fest: „Das Kind, ob es sich, um zu bestehen, noch identifizieren muss oder nicht, konstituiert über die Bezugspersonen seiner verschiedenen Entwicklungsphasen eine neue Form größter Ich-Schwäche, die nicht mehr wie in der autoritären, sadomasochistischen Psyche ein eingeklemmtes, bedrohtes Ich meint, sondern ein zerfließendes, diffuses, grenzenloses Ich, das eben darum nur noch die eigenen Interessen im Auge behalten kann, wobei das egoistische Interesse mit dem der Konsumgesellschaft identisch ist“ (Böckelmann 1987, S. 54). Böckelmanns 1966 erstmals im situationistischen „Anschlag“ (Ausgabe 3/1966) veröffentlichte Studie thematisierte die Subjektkonstitution unter besonderer Berücksichtigung der Unterdrückung der Sexualität, noch vor der „sexuellen Revolte“ der 68er und der Aufklärungs- bzw. Sexfilmwelle, die sich dieser anschloss. Im Anschluss an Freud, der einerseits die Unterdrückung der Sexualität als Beschädigung der Individuen begriff, anderseits an der Notwendigkeit der Triebunterdrückung festhielt (vgl. Adorno GS 8, S. 35), weist Böckelmann den Verfall der gesellschaftlichen Repression von Sexualität und den Übergang einer puritanischen zu einer hedonistischen Konsumkultur und Subjektkonstitution nicht als Befreiung aus, sondern diagnostiziert als deren Resultat „das infantil-narzißtische Ich“ (Adorno GS 8, S. 55). So beachtlich und lesenswert Böckelmanns Studie heute noch ist, so beachtenswert ist, dass Böckelmann heute selbst von jenen nicht rezipiert wird, die sich in der Tradition Kritischer Theorie verorten. So z. B. Eichler 2009 und Weyand 2001.

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flexibel ist und sich in die ihm angetragene Funktion fügen kann26 (vgl. Weyand 2001, S. 141). Die gesellschaftliche Tendenz begünstigt demnach eine Charakterstruktur, die in The Authoritarian Personality als manipulativer Typ beschrieben ist.27 Psychologisch unterscheidet sie sich vom klassischen autoritären „durch das Nebeneinander von extremem Narzissmus und einer gewissen Hohlheit und Oberflächlichkeit“ (Adorno 1973, S. 336). „Alles Technische, alle Dinge, die als ‚Werkzeuge‘ benutzt werden können, sind mit Libido beladen. Die Hauptsache ist, dass ‚etwas getan‘ wird, Nebensache aber, was getan wird“ (Adorno 1973, S. 335). Während Marcuse ein Veralten der Psychoanalyse feststellt und diese damit als angemessenes Analyseinstrument verwirft (vgl. Marcuse 1970), hält Adorno an der Psychoanalyse fest, spricht aber dem Narzissmus nun größeres Gewicht zu als dem Autoritarismus und versucht diesem Umstand mit dem Begriff des narzisstischen Charakters gerecht zu werden. Widersprüchlich in Adornos Ausführungen ist, dass der Übergang vom Primat des autoritären Charakters zum narzisstischen einmal in die 20er- und später in die 50er-Jahre gelegt wird (vgl. Weyand 2001, S. 130). Die Diskussion der Aktualität des Autoritären Charakters muss die dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungen und Tendenzen mit einbeziehen. Die Charaktereigenschaften des Rebellen, die Fromm in den Studien über Autorität und Familie beschreibt, scheinen die Charakterstruktur des Neoliberalismus vorwegzunehmen (vgl. Stapelfeldt 2004, S. 186), weil die Ohnmacht des Einzelnen in der industrialisierten kapitalistischen Gesellschaft verallgemeinert ist (vgl. Adorno GS 8, S. 48). Charakterzüge, die erst zu einem späteren Zeitpunkt dominant werden, können sich frühzeitig abzeichnen. Zugleich können Tendenzen sich überlagern, können Typen national und schichtspezifisch variieren und überhaupt können diese nur sinnvoll im Kontext eines spezifisch gesellschaftlich-kulturellen Klimas diskutiert werden. Während der Sozialcharakter in den Studien zu Autorität und Familie und in The Authoritarian Personality maßgeblich Produkt familiärer Sozialisation ist, wurde mit dem erstmals 1955 erschienenen Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie der Narzissmus zentral (vgl. Adorno GS 8, S. 72 f.). Der Einfluss der familialen Sozialisation auf den Sozialcharakter tritt damit in den Hintergrund. Aus dieser Entwicklung erklärt sich einerseits, warum Veränderungen der Familienstruktur und der Verfall väterlicher Autorität das Konzept des autoritären Charakters nicht überflüssig machen. Denn Adorno erklärt den beschädigten Narzissmus nicht aus der familiären Situation, sondern gesellschaftlich (vgl. Adorno GS 8, S. 72). Das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft muss Triebenergien zunehmend auf sich selbst lenken. Gleichzeitig schwindet die Fähigkeit Beziehungen zu anderen Menschen zu unterhalten. Die eigene Person wird libidinös besetzt und zugleich

26

Weyand verweist darauf, dass die Diagnose der Verflüssigung von Charakterstrukturen nicht umstritten ist, sondern z. B. auch von Habermas geteilt wird. Strittig aber sind die Konsequenzen, die daraus folgen. 27 Vgl. dazu auch die Ausführungen in „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“ (Adorno GS 20.1), insbesondere S. 371 ff.

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wird dieser Narzissmus fortwährend durch die Ohnmacht, die das Individuum im Alltag und Umgang mit seiner Umwelt erfährt, gekränkt (vgl. Weyand 2001, S. 129). Dieser Zustand individueller Ohnmacht lässt sich nur kollektiv bewältigen. Die Masse ist als Angebot zu verstehen, das die Ohnmacht zur Macht werden lässt, das Individuum zum Teil des „wir“. Narzisstische Beschädigung und kollektive narzisstische Befriedigung bilden in dieser Gestalt die konstitutive Einheit des autoritären Charakters. Es lässt sich argumentieren, dass die vormalige Erklärung des Narzissmus (vgl. Adorno 1973) als Ambivalenzkonflikt zwischen „autoritärer Aggression und autoritärer Unterwürfigkeit“ sich nun darstellt „als Einheit von narzisstischer Beschädigung und narzisstischer Befriedigung“ (Weyand 2001, S. 134). Weyand folgert: „Was Adorno als zwei Formen psychischer Beschädigung begreift, drückt eine fundamentale libidinöse Konstellation aus“28 (Weyand 2001, S. 134). Von dieser sozialpsychologischen Analyse ausgehend ließe sich nun aufzeigen wie mit dem Wandel des fordistischen Akkumulationsregimes und den damit korrespondierenden Veränderungen der Anforderungen, die an die Lohnarbeiter gestellt werden (vgl. Boltanski und Chiapello 2003; Dörre 2002), die klassisch narzisstische Konstellation, die den autoritären Charakter prägt, dem postautoritären weicht.29 Wichtig ist festzuhalten, dass die kapitalistische Subjektivität grundsätzlich durch eine narzisstische Konstellation geprägt ist und der klassisch autoritäre Charakter eine Ausprägung dieser ist.30 Für die Kritik des Antisemitismus ist von besonderer Bedeutung, dass die narzisstische Kränkung immer zu ihrer kollektiven Befriedi28

Während Weyand in der Fokussierung auf den Narzissmus einen immanenten Fortschritt der Erkenntnis sieht, die das Konzept Autoritärer Charakter aber gleichsam nicht überflüssig macht (Weyand 2001, S. 134), betont Lutz Eichler, dass die narzisstische Konstellation sowohl die gesamte kapitalistische Epoche kennzeichne als auch einen konkreten Akkumulationstyp (vgl. Eichler 2009, S. 99). 29 Vgl. hierzu den hervorragenden Essay von Eichler: Dialektik der flexiblen Subjektivität (2009), insbesondere: S. 102 ff. 30 Die Aktualität autoritärer oder narzisstischer Charakterstrukturen empirisch zu untermauern ist müßig. Wie bereits gezeigt, überlagern sich die autoritäre und die postautoritäre Ausformung der narzisstischen Konstellation. Die Autoritarismusforschung geht hier sehr unterschiedliche Wege. Detlev Österreich scheitert schon an der Rezeption der klassischen Autoritarismusforschung, wenn er meint, dass die Idee des Konzepts der autoritären Charakterstruktur war, „den deutschen Faschismus quasi (!) persönlichkeitspsychologisch zu erklären“ (Oesterreich 1998, S. 57). An anderer Stelle anthropologisiert Österreich autoritäre Unterwürfigkeit als „universelles menschliches Verhalten“ (Oesterreich 1997, S. 259), um zu der Einsicht zu kommen, dass „autoritäre Persönlichkeiten kein Spezifikum autoritärer oder totalitärer Gesellschaften sind“, sondern entstehen, „wenn lebensgeschichtlich große Verunsicherungen erzeugt werden“ (Oesterreich 1997, S. 270). Dass der von Österreich vertretene und von ihm als Aktualisierung der klassischen Forschung verstandene Ansatz mit dieser kaum mehr als den Namen teilt, muss hier nicht ausgeführt werden (Zur Kritik der Deprivationstheorien vgl. Rensmann 2004, S. 97 f.). Während Seipel und Rippl das klassische Konstrukt des Autoritären Charakters empirisch bestätigt finden (Seipel und Rippl 1999, S. 198), legen Decker und Brähler das Konzept unter Verweis auf methodische Mängel, das „psychoanalytische Entwicklungsmodell, die Ausprägung als Persönlichkeitseigenschaft, (. . .) die politische Relevanz (. . .) [und] die Annahmen zur Sozialisationserfahrung“ (Decker und Brähler 2000, S. 31) ad acta.

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gung treibt.31 Jenseits der konkreten Ausprägung des Syndroms und den konkreten Lösungen der narzisstischen Konstellation begünstigt die gesellschaftliche Tendenz die Nicht-Integration des Über-Ich. Die damit einhergehende Tendenz zum charakterlosen Charakter (Weyand), zur Momentpersönlichkeit (Mitscherling) ist geprägt durch Ohnmacht (narzisstische Kränkung) und Allmacht (narzisstische Befriedigung). Diese Charakterstruktur bietet unmittelbar Anschluss an Projektionen, Personifikationen, kollektivitäts- und identitätsstiftende Konstruktionen: Sie ist die schlechte Konstante, die Schnittmenge des fordistisch Autoritären und des postfordistisch Charakterlosen.

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Einer Determination ist damit nicht das Wort geredet. Ein starkes Ich kann diese Situation reflektieren und kann die Kränkung als gesellschaftlich vermittelte erkennen (vgl. Eichler 2009, S. 100). An der als übermächtig empfundenen Realität, für die das Individuum sich und seine Arbeitskraft zurichtet, und die sozialpsychologisch gesprochen die narzisstische Kränkung überhaupt erst hervorruft, ändert dies unmittelbar nichts. Mittelbar aber ist die Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse die Voraussetzung für deren Aufhebung.

„Erwünschte Vorzüge im Existenzkampf des Individuums“: Die . . .

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Teil III Methodologien und Methoden Kritischer Theorie

Zur Legitimität der Dogmatik Peter Bulthaup

Der vorliegende Text ist eine Erstveröffentlichung aus dem Peter-Bulthaup-Archiv (www.peterbulthaup-archiv.de). Die zu Grunde gelegten Materialien können in den Digitalen Sammlungen der digitalen Bibliothek der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek unter den Signaturen ‚Noviss. 455, MAP-015‘ und ‚Noviss. 455, RBL-082‘ online aufgerufen werden. Das Konvolut MAP-015 enthält sechs Stücke: UNT-026 enthält den ersten Entwurf (S. 5–15) sowie den Beginn der ersten Reinschrift (S. 1 f.). UNT-255 ist ein frühes Typoskript mit geringen handschriftlichen Korrekturen sowie dem handschriftlichen Vermerk „Bewerbung Frankfurt“ im Titel. UNT-028 ist das gleiche Typoskript mit einigen zusätzlichen Korrekturen, UNT-027 ist noch einmal das gleiche Typoskript, jedoch mit erheblichen weiteren Korrekturen. UNT-157 ist ein späteres Typoskript, in das vorangehende Korrekturen eingeflossen sind und das weitere enthält. Die erste handschriftliche Reinschrift, auf die alle Typoskripte zurückgehen dürften, findet sich in RBL-082, S. 27r-37v. Hierbei handelt es sich um einen Ringblock, der verschiedene weitere Vortragsmanuskripte enthält und auf dem Deckblatt u. a. den Vermerk trägt „Vortrag für Hearing in Frankfurt/Die Legitimität der Dogmatik“. UNT-254 schließlich ist das Deckblatt eines ursprünglich von Bulthaup angelegten Konvoluts und trägt den Vermerk „Thesen und Vorträge für Hearings in Bremen[,] Darmstadt[,] Frankfurt“. Die Anordnung des Textes in RBL-082 legt eine Datierung jedenfalls vor 1976 nahe. Da Bulthaup sich in Frankfurt vor 1976 mindestens fünf Mal beworben hat (danach noch mindestens drei weitere Male) und da die Korrespondenz nicht vollständig erhalten ist, fällt eine genauere Datierung schwer. Der vorliegenden Textfassung liegt das Typoskript UNT-157 zu Grunde. Im Unterschied zu allen früheren Fassungen fehlt hier der Untertitel „Zur Charakteristik des arbeitsteiligen Wissenschaftsprozesses. Auf der Grundlage der früheren Fassungen (und bei offensichtlichen Fehlern) erfolgten einige formale Korrekturen. Inhaltlich signifikante Varianten der Vorfassungen werden in Fußnoten angegeben, da UNT-157 zwar als Fassung letzter Hand zu betrachten ist, aber keine publizierte Fassung existiert. Vielmehr wurden die früheren Typoskripte öffentlich vorgetragen. Die Fußnoten sind sämtlich Herausgeberanmerkungen. Die angegebenen Varianten sind nicht auf philologische Vollständigkeit angelegt, sondern sollen lediglich Hilfsmittel sein, philosophische Hintergründe zu erkennen, die in der extrem komprimierten Darstellung des Typoskripts implizit geworden sind. Zudem stammt das Typoskript nicht von Bulthaup selbst, wurde lediglich durchgesehen, wobei offensichtlich Fehler unbemerkt blieben. Für eine genauere und modellhafte Analyse der hier vertretenen Thesen vgl. Peter Bulthaup, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, Frankfurt am Main 1973 bzw. 2Lüneburg 1996. Editorische Bearbeitung: Michael Städtler. P. Bulthaup (*) Peter Bulthaup Archiv, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_27

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Die Dogmatik ist in Verruf geraten. Heute genügt es schon, eine Behauptung als dogmatisch zu charakterisieren, um die weitere Diskussion über ihren Wahrheitsgehalt abzubrechen. Ist das dogmatische Verfahren – vorläufig – dadurch zu bestimmen, daß nach ihm aus angenommenen, bloß behaupteten Sätzen Folgerungen gezogen und diese dann als Erkenntnis einer wie immer auch zu bestimmenden Wirklichkeit ausgegeben werden, so behauptet der Dogmatiker mehr zu wissen als er wissen kann. Das muß aber jeder Wissenschaftler auch tun. Er muß sogar mehr wissen als er als empirisches Subjekt aus Erfahrung wissen kann, um überhaupt einen Sachverhalt, der Gegenstand seiner Wissenschaft ist, objektivieren zu können, denn wollte er das zur Objektivierung des Sachverhalts vorauszusetzende Wissen nach irgendeinem Bestätigungsverfahren selbst überprüfen, so müßten dazu in den einigermaßen fortgeschrittenen Disziplinen immer schon objektivierte Sachverhalte in Gestalt von Instrumenten benutzt werden. Das Bestätigungsverfahren setzt also ein Wissen voraus, das seinerseits erst überprüft werden müßte und so fort bis zur jedesmal zu liefernden Begründung des gesamten, dieser einzelnen Untersuchung vorausgehenden Wissenschaftsprozesses.1 Nur für den Fall, daß die Arbeiten der einzelnen Wissenschaftler ausschließlich kritisch aufeinander bezogen wären, könnten alle Arbeiten ein gleichermaßen unmittelbares Verhältnis zum Gegenstandsbereich haben. Doch hätte das zur Folge, daß diese Wissenschaft ewig auf dem Stand ihrer kritischen Grundlegung verharrte. Sind dagegen die Arbeiten einzelner Wissenschaftler wesentlich affirmativ aufeinander bezogen, dann werden die Resultate früherer Arbeiten zu notwendigen Bedingungen der folgenden, in die sie als Instrumente oder als materiale Spezifikation der Randbedingungen eingehen. Das hat die zunehmende Entfernung von unmittelbar gegebenen Gegenstandsbereichen zur Folge oder das systematische Hervorbringen eines Gegenstandsbereichs durch die Wissenschaft selbst. So sind z. B. die Substanzen, deren Reaktionen in der Chemie untersucht werden, von eben dieser Wissenschaft hervorgebracht. Daß der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft eine naturale Basis hat und nicht aus dem Nichts gezaubert werden kann – obwohl auch das in der Hochenergiephysik schon geschieht2 – erlaubt den Rückschluß, daß der Gegenstandsbereich durch Transfor-

UNT-026 enthält hier eine Variante einer späteren Textpassage: „Da der Wissenschaftsprozeß, dessen Resultate in die weitere Forschung eingegangen sind, arbeitsteilig ist, wird das empirische Subjekt, das Wissenschaft treibt, systematisch überfordert, wenn ihm die Überprüfung der ihm durch die Wissenschaft schon vorgegebenen Bedingungen seines Tuns abverlangt werden [sic!]. Das für die jeweilige Forschung vorzugebende Wissen ist dem Wissenschaft treibenden Subjekt gegeben in Gestalt von dogmatischen Behauptungen über objektivierbare Sachverhalte, und die Versicherung der prinzipiellen Überprüfbarkeit dieser Sachverhalte ist ebenfalls nur dogmatisch behauptet, denn sie ist von dem einzelnen Wissenschaft treibenden Subjekt nicht einzulösen. Dogmatik ist die notwendige Erscheinungsform der Resultate jeder kollektiv und arbeitsteilig betriebenen Wissenschaft.“ 2 UNT-026: „[durchgestrichen] Dazu ändert sich der Gegenstandsbereich selbst, wenn die der Untersuchung vorgegebenen Gegenstände zunehmend selbst schon Resultate des technischen Reproduktionsprozesses sind, in den schon von der Wissenschaft objektivierte Sachverhalte eingehen, eine Tendenz, die in der systematischen Produktion des Untersuchungsgegenstandes in der Hochenergiephysik terminiert.“ 1

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mationen aus einer naturalen Basis entstanden ist, aber dieser Schluß ist spekulativ. Er begründet nicht die Annahme, daß sich die Aussagen einer Wissenschaft über ihren Gegenstandsbereich transformieren lassen in Aussagen über die naturale empirische Basis dieses Gegenstandsbereichs. Die affirmative Beziehung der Arbeiten einzelner Wissenschaftler aufeinander bestimmt den genetisch-historischen Zusammenhang der Resultate einer Wissenschaft. Brächte diese Wissenschaft ihre Sachverhalte systematisch hervor, wären also die Sachverhalte eindeutig bestimmt durch die zu ihrer Objektivierung verwendeten Instrumente, dann begründete der genetisch-historische Zusammenhang zugleich den systematischen. Unter dieser idealistischen Prämisse, das Hervorgebrachte sei nur die Objektivation des Hervorbringenden, folgt aus dem genetisch-historischen Zusammenhang der Resultate deren Widerspruchsfreiheit. Wird jedoch zugestanden, daß schon vorhandene Objektivierungen nur ein Moment des zu objektivierenden Sachverhalts sind und die naturale Basis das dazu komplementäre, und wird weiterhin zugestanden, daß die naturale Basis nicht vorweg als ein widerspruchsfrei darzustellender Gegenstandsbereich aufgefaßt werden kann, dann erscheinen systematische Einheit und Widerspruchsfreiheit als zusätzliche Forderungen, denen die Darstellung objektivierter Sachverhalte zu genügen habe. Systematische Einheit der Darstellung objektivierter Sachverhalte soll heißen, daß sich die Darstellungen einzelner Sachverhalte aus einer beschränkten Anzahl logisch verträglicher Gesetze und den für die einzelnen Sachverhalte jeweils spezifischen Randbedingungen konstruieren lassen. Die systematische Einheit der Darstellung der Sachverhalte sagt nichts über den Zusammenhang der Sachverhalte, vielmehr setzt die Objektivierung der Sachverhalte voraus, daß diese jeweils aus dem Zusammenhang isoliert wurden. Stammt die systematische Einheit der Darstellung nicht aus den objektivierten Sachverhalten, so ist in ihr doch die Bedingung enthalten, unter der jene stehen: Sie müssen kompatibel sein, auch wenn sie in keinem unmittelbar genetischen Zusammenhang stehen. Die systematische Einheit der Darstellung ist die Garantie des arbeitsteiligen Forschungsprozesses, die es erlaubt, die Resultate der Arbeiten einzelner Wissenschaftler systematisch aufeinander zu beziehen; z. B. die Resultate der Arbeiten verschiedener Forscher zum Instrumentarium einer neuen Arbeit zusammenzufassen. Die Gesetze, aus denen mit Hilfe der spezifizierenden Randbedingungen die Darstellungen jeweils einzelner objektivierter Sachverhalte zu konstruieren sind, enthalten Begriffe, die selbst keine Sachverhalte darstellen, sondern die systematische Einheit der Darstellung garantieren. Diese Begriffe bestimmen die Struktur des Wissens und damit die allgemeinen Bedingungen, unter denen die Sachverhalte stehen, und nicht die Struktur der Sachverhalte selbst. Sie können darum auch nicht an einzelnen Sachverhalten überprüft werden. Die Begriffe Materie, Energie, Atom, Feld3 entstammen nicht nur der Spekulation, sondern ihnen ist durch alle Veränderungen, die diese Begriffe in der Naturwissenschaft durchmachten, ein spekulatives Moment anhaften geblieben, oder dieses spekulative Moment hat sich in ihrer Geschichte wieder hergestellt. So schien zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Atom-

Alle früheren Fassungen: „- letzterer ist in dem der res extensa des Descartes vorgebildet -“.

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begriff zu zerfallen in eine beziehungslose Vielfalt von Atomsorten. Die Relationen der Atomsorten zueinander in der Chemie, die Reaktionen der Elemente miteinander,4 schienen rein empirischer Natur zu sein. Erst die Spekulation, die Atome selbst bestünden aus identischen ersten Teilchen, den Protonen, und die Verschiedenheit der Atomsorten sei auf die Verschiedenheit der Zahl von Protonen in den Atomen zurückzuführen, begründete die einheitliche Systematik der Atomsorten, das periodische System der Elemente, und vollendete damit die Systematik der chemischen Substanzen und Reaktionen. Am Atombegriff läßt sich der Doppelcharakter theoretischer Begriffe erläutern. Als Prinzip der systematischen Einheit der Darstellung der Sachverhalte der Chemie ist der Atombegriff ein reines Ordnungsprinzip, denn die einzelnen objektivierten Sachverhalte lassen sich allesamt auch mit empirischen Begriffen, etwa den Trivialnamen der Substanzen, also in einer Beobachtungssprache bezeichnen. Doch für den Prozeß der Objektivierung von Sachverhalten ist der Atombegriff in weiten Bereichen der Chemie konstitutiv gewesen. Konstitutionsanalyse und Totalsynthese organischer Verbindungen sind ohne ihn nicht denkbar. Gäbe es nur die Darstellung von Sachverhalten in der Beobachtungssprache und Erfahrungsregeln, dann müßten die Wissenschaftler nach dem trial and error Verfahren operieren, wie es schon die Alchemisten taten. Da Konstitutionsanalyse und Totalsynthese Kombinationen von Operationen mit empirischen Substanzen sind, läßt sich der Einwand, diese Kombination von Operationen wäre auch nach dem trial and error Verfahren zu finden gewesen, nicht apodiktisch widerlegen, nur wäre bei Stichhaltigkeit des Einwands mit den Resultaten der Kombination von Operationen, die die Konstitutionsanalyse beschreiben, nichts anzufangen, denn die Konstitutionsanalyse geht auf die Aufklärung der Konfiguration der Atome in Molekülen; sie ist also nur unter der Voraussetzung des Atombegriffs sinnvoll. Faktisch regelt auch das Resultat der Konstitutionsanalyse5 die Kombination der Operationen bei der Totalsynthese, wenngleich sie diese auch nicht vollständig determiniert, so daß für das trial and error Verfahren ein gewisser Spielraum bleibt. In der Forschungspraxis ist also das Verhältnis von Hypothese und Bestätigung genau invers zu dem, das die Wissenschaftstheorie von ihr zeichnet. Im Forschungsprozeß, dem der Atombegriff nach herrschender wissenschaftstheoretischer Lehre bloß hypothetisch vorangestellt sein soll, korrespondiert ihm in sofern eine Wirklichkeit, als er konstitutiv für die objektivierten empirischen Sachverhalte wird. Im Resultat des Forschungsprozesses, in objektivierten Sachverhalten, die dann auch als Resultat empirischer Operationen mit empirischen Substanzen rein in der Beobachtungssprache zu fassen sind, wird der Atombegriff hypothetisch, eine mögliche Interpretation des ansonsten als empirisch darzustellenden Prozesses. Weder aus den Resultaten der Wissenschaft noch aus den methodisch geregelten Verfahren, mit denen sie reproduziert werden können, läßt sich begründen,6 daß den theoretischen Begriffen eine Realität korrespon-

In allen früheren Fassungen steht eine Parenthese, abgetrennt durch Kommata: „in der Chemie: die Reaktionen der Elemente miteinander“. 5 Alle früheren Fassungen: „Konfigurationsanalyse“. 6 UNT-026: „[über der Zeile] sondern nur behaupten“. 4

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diert. Nur im Prozeß der Entwicklung der methodisch geregelten Verfahren sind die theoretischen Begriffe für die Resultate konstitutiv. Die Begründung der Behauptung, den theoretischen Begriffen korrespondiere eine Realität, kann dann nur durch den Rekurs auf den historisch gewordenen Wissenschaftsprozeß geliefert werden. Diese Begründung läßt sich verstärken, wenn die Resultate der Wissenschaft so in den arbeitsteiligen Reproduktionsprozeß der Gesellschaft eingegangen sind, daß sie als Bedingungen der aktuellen Reproduktion der Gesellschaft auch die Bedingungen der Reproduktion eines jeden Einzelnen sind. Damit ist die sinnkritische Analyse systematisch auf die Reflexion von Geschichte und Produktion verwiesen, denn wollte ein Wissenschaftler die Hypothese, daß chemische Substanzen aus Atomen und Molekülen bestehen, dadurch bestätigen, daß er selbst die Konstitutionsanalyse und die Totalsynthese einer bis dahin noch nicht identifizierten7 Substanz liefert, so gingen in diese Bestätigung Resultate des historisch gewordenen Wissenschaftsprozesses und des arbeitsteiligen Produktionsprozesses ein, und die Forderung, auch diese Resultate dadurch empirisch zu überprüfen, daß der Wissenschaftler sie neu hervorbringt, würde das empirische Wissenschaft treibende Subjekt systematisch überfordern. Um die Bedingungen seiner eigenen Tätigkeit überhaupt begreifen zu können, muß das empirische Subjekt in der Reflexion virtuell sich aufwerfen zum Subjekt des gesamten Wissenschaftsprozesses, einem wissenschaftlichen Gesamtarbeiter, dem dann die den theoretischen Begriffen korrespondierende Realität als konstitutives Element seiner Wirklichkeit gegeben wäre. Die Darstellung dieser Wirklichkeit, das erscheinende Wissen, ist in theoretischen Begriffen, in der Chemie den Formeln und Reaktionsgleichungen, gegeben, die jedoch für empirische Subjekte an deren empirische Wirklichkeit angeschlossen werden müssen. Texte, die ausschließlich in der Theoriesprache geschrieben wären,8 blieben absolut unverständlich. Das spricht gegen die Möglichkeit einer reinen Dogmatik. Andererseits ist das dem einzelnen Wissenschaft treibenden Subjekt für die jeweilige partikulare Forschung vorzugebende Wissen in der Theoriesprache, mithin dogmatisch, gegeben, und die Versicherung der prinzipiellen Interpretierbarkeit jedes Terms der Theoriesprache ist ebenfalls eine dogmatische Behauptung, die nur von dem virtuellen wissenschaftlichen Gesamtarbeiter eingelöst werden könnte. Doch dessen Wirklichkeit ist eine andere als die des empirischen Wissenschaft treibenden Subjekts. Dogmatik ist so die Erscheinungsform der kollektiv und arbeitsteilig betriebenen und historisch gewordenen Wissenschaft.9 Die Homomorphie von scholastischer und naturwissenschaftlicher Methode ist darum nicht zufällig. Zur Bearbeitung einer bestimmten Frage muß zuerst das Problem dadurch spezifiziert werden, daß es in die Begriffe der tradierten Theorie gefaßt wird, daß z. B. nach der Konfiguration der Atome in den Molekülen einer unbekannten Substanz gefragt wird. Zu dieser Spezifizierung des Problems sind die

UNT-026: „analysierten“. Alle früheren Fassungen enthalten in Parenthese: „etwa mathematische Texte, die nur aus einer Folge von Formeln und Gleichungen bestehen“. 9 Hier folgt in UNT-026 erneut die in Anmerkung 3 wiedergegebene Passage. 7 8

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sententiae auctorum unerläßlich. Soweit das Problem theoretisch zu lösen ist, folgt die Konstruktion der Lösung der Methode sic et non, aus der automatisch die concordantia catholica, die widerspruchsfreie Einordnung der Lösung des Problems in das System der schon akzeptierten Sätze, folgt. Die Resultate empirischer Untersuchungen unterstehen zunächst nur der Bedingung der Reproduzierbarkeit. Meistens lassen sie sich in das System widerspruchsfreier Sätze einordnen. Hat aber ein Wissenschaftler Glück, findet er einen Effekt, der schon anerkannten Sätzen zu widersprechen scheint, dann bekommt der Effekt die Funktion des Einwandes heidnischer Autoren,10 der die Erweiterung der Theorie zur Wiederherstellung der concordantia erfordert. An dieser Stelle hat die Analogie ihre Grenze, denn die Sätze heidnischer Autoren waren zu verurteilen, der durch objektivierende Verfahren erhärtete Effekt ist nicht wegzudiskutieren. Er entbindet das konstruktive Potential der Theorie, und die erweiterte Theorie wiederum ermöglicht die Bestimmung11 neuer Gegenstandsbereiche. Die scholastische wie die naturwissenschaftliche Methode dienen der Sicherung überlieferten Wissens und der Wahrung der Widerspruchsfreiheit. Doch die naturwissenschaftliche Methode sichert darüberhinaus die Produktion provokativer Effekte, durch die die statische Forderung nach Widerspruchsfreiheit selbst zu einem Moment der Dynamik des Wissenschaftsprozesses wird, in dem sich die Widerspruchsfreiheit unter sprunghafter Erweiterung der Theorie immer wieder herstellt. Die entscheidende Differenz von scholastischer Metaphysik und Naturwissenschaft aber liegt darin, daß in der Naturwissenschaft ontologischer und nomologischer Zusammenhang streng getrennt sind. Die Objektivierung von Sachverhalten in den Naturwissenschaften gelingt nur unter der Bedingung ihrer Isolierung aus dem universalen Zusammenhang der empirischen Gegenstände. Daß die Darstellung der gegeneinander isolierten Sachverhalte gleichwohl ein zusammenhängendes System von Sätzen bildet, bezeichnet die Seite der Selbständigkeit des virtuellen Subjekts des Wissenschaftsprozesses gegenüber seinem Gegenstandsbereich und dessen naturaler Basis. Das spekulative Moment der theoretischen Begriffe resultiert aus dieser Selbständigkeit. Subsistierte das virtuelle Subjekt der Wissenschaft12 in sich, so könnte es die spekulativen Begriffe frei aus sich produzieren, nur wären dann diese Begriffe empirischen Subjekten ganz und gar unverständlich. Kommt dem virtuellen Subjekt aber Realität nur zu in der Auseinandersetzung empirischer Subjekte mit der naturalen Basis des Gegenstandsbereichs, dann korrespondiert auch den spekulativen Begriffen nur soweit eine Realität, als sie konstitutiv wurden für den Gegenstandsbereich durch die Organisierung der Kombination von Operationen empirischer Subjekte mit empirischen Gegenständen. Die theoretischen Begriffe sind dann als Bezeichnungen empirisch nicht unmittelbar zugänglicher Gegenstandsklassen und als Prinzipien der systematischen Darstellung objektivierter Sach-

In allen früheren Fassungen steht statt „heidnischer Autoren“ in Parenthese: „z. B. heidnischer Autoren“. 11 Alle früheren Fassungen: „Hervorbringung“. Erst in UNT-157 wird dies handschriftlich geändert. 12 Alle früheren Fassungen: „des Wissenschaftsprozesses“. 10

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verhalte zugleich aufzufassen. Naturwissenschaftler verständigen sich untereinander als naive Realisten, erkenntnistheoretisch überfragt reagieren sie als strenge Nominalisten. Die Amphibolie der aus der Reflexion gewonnenen13 Begriffe hat so ein fundamentum in re. Sie läßt14 sich verstehen im Zusammenhang einer Theorie gesellschaftlicher Arbeit, die als Analyse der historischen Konstituierung der Gegenstände der Erfahrung den Bereich empirischer Erfahrung einzelner Subjekte notwendig überschritte und die darum methodisch auf Reflexion angewiesen wäre. Diese Theorie muß, um ihren Gegenstand nicht zu verfehlen, sich bewußt dem Vorwurf aussetzen, dogmatisch zu sein.

UNT-026: „entstandenen“. Alle früheren Fassungen: „ließe“. Es entspricht Adornos Stil, Aufsätze mit einer Kadenz im Konjunktiv enden zu lassen. Vermutlich hat Bulthaup diese Anlehnung hier ändern wollen, hat aber inkonsequent die übrigen Konjunktive des Satzes stehen lassen.

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Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der Gesellschaft Personen und Programme Hauke Brunkhorst

Zusammenfassung

Es wird die These vertreten, dass die frühe Kritische Theorie an Lukacs anschließt und ihre Zentralreferenz an der Paradigmenkonkurrenz von Historischem Materialismus und bürgerlichen Wissenschaft organisiert. Die abstrakte Negation der Wissenschaft als bürgerliche Wissenschaft ist ein wesentlicher Aspekt der Krise der Kritischen Theorie, der Habermas heute durch das Grundschema System und Lebenswelt entkommen möchte. Die Geschichte der Kritischen Theorie wird im Hinblick auf Brüche in der Theorieentwicklung analysiert. Es wird dabei die Frage angesprochen, inwieweit es sich bei der Kritischen Theorie um ein entwickeltes sozialwissenschaftliches Paradigma handelt bzw. ob ein Paradigmawechsel stattgefunden hat. Zur Klärung dieser Frage wird die Leistung von Lukacs dargestellt, der theoretische Anschluss an diese Leistung und die Konzeption der frühen Kritischen Theorie. Die Veränderungen der Kritischen Theorie durch Habermas hinsichtlich der Zentralreferenz und des Paradigmakerns werden erläutert. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Frankfurter Schule · Adorno · Habermas · Programmatik Kritischer Theorie · Paradigmenwechsel in der Kritischen Theorie

Dieser Text ist erstmalig erschienen in Soziale Welt, Jg. 34 (1983), H. 1, S. 22–56. Die Herausgeber_in danken Hauke Brunkhorst herzlich dafür, dass er uns den Text zur Verfügung gestellt hat. H. Brunkhorst (*) Seminar für Soziologie, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland E-Mail: brunkhorst@uni-flensburg.de © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_20

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H. Brunkhorst

Vorbemerkung In den folgenden Überlegungen zur Entwicklung der Kritischen Theorie der ‚Frankfurter Schule‘ greife ich eine Reihe von Motiven und Unterscheidungen der an T. S. Kuhns Begriff des Paradigmas anschließenden wissenschaftshistorischen Richtung der postempiristischen Wissenschaftstheorie auf (vgl. Kuhn 1967, S. 198; vgl. auch Lakatos und Musgrave 1970; Scheffler 1967; Toulmin 1972; Stegmüller 1973). In der allgemeinsten Bestimmung ist ein Paradigma die Form der sozialen Integration einer Gruppe von Wissenschaftlern: eine spezifische Lebensform oder Lebenswelt. Die „Befürworter konkurrierender Paradigma“ üben „ihren Beruf in verschiedenen Welten aus“ (Kuhn 1967, S. 198). Für diese lassen sich keine logisch zwingenden Kriterien, notwendige und hinreichende Bedingungen festlegen, die die Wissenschaft ein für allemal von anderen Formen der Sozialintegration unterscheiden. Zwischen verschiedenen Paradigma-Gemeinschaften gibt es nur „Familienähnlichkeiten“ (vgl. Wittgenstein 1971, S. 66 ff.): eine offene Liste von Beispielen, die bestimmte notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für die Zugehörigkeit zu jener Liste erfüllen (vgl. Stegmüller 1973, S. 195 ff.). Um das Besondere der Wissenschaft näher zu bestimmen, muss deshalb die „logische Analyse“ der „Sätze“ (Popper 1971, S. 3) der Wissenschaft durch empirische, historische Untersuchungen der inneren und äußeren Entwicklungsgeschichte konkreter Paradigmagemeinschaften ergänzt werden. Wendet man sich der Theoriendynamik (Stegmüller 1973, S. 153 ff.) der ‚Frankfurter Schule‘ zu, so lassen sich eine Reihe von Merkmalen und Charakteristika identifizieren, die die Kritische Theorie mit anderen, wenngleich nicht mit allen Paradigma-Gemeinschaften teilt: 1. Die Kuhnschen Standardmerkmale des Theorienwandels (Normalwissenschaft, Rätsel, Anomalien, Krisen etc.) lassen sich auch an bestimmten Entwicklungsphasen der Kritischen Theorie beobachten. So ist die Phase relativ konsolidierter, ‚normalwissenschaftlicher‘ Tätigkeit die Zeit des New Yorker Exils, die die ‚Zeitschrift für Sozialforschung‘ eindrucksvoll dokumentiert. Es sind die ‚Rätsel‘ des Klassenbewusstseins, die sich am Ende der frühen Kritischen Theorie (Dubiel 1978) zu hartnäckigen Anomalien ausgeweitet haben und die Fortsetzung der ‚normalen‘ Arbeit des Problemlösens zunächst erschweren, dann auch aus inneren Gründen unmöglich machen. Das zeigt sich a) in der Zuflucht zu immer kühneren Spekulationen und riskanten ad-hoc-Hypothesen, von Pollock und Horkheimers Staatskapitalismustheorem über die Geschichtsphilosophie der instrumentellen Vernunft bis zu den steilen sozialpsychologischen Thesen von der Gleichschaltung der Kleinfamilie und dem Ende des Individuums im autoritären und manipulativen Charakter; und es wird deutlich b) in den Faschismuskontroversen der frühen 1940er-Jahre, die die Einheit der ‚Schule‘ sprengen. Die „Dialektik der Aufklärung“ zieht dann bereits die Konsequenzen aus der Krise, und sie leitet eine neue Entwicklungsphase der Kritischen Theorie ein, in der die Krise durch den Rückzug hinter die Linien eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms auf Positionen substanzieller Philosophie und sozialphilosophischer Kulturkritik für lange Zeit latent gehalten werden kann. Sie bricht erst wieder aus

Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der Gesellschaft

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in der Konfrontation mit der gesellschaftlichen Praxis in der Studentenrevolte und in der Konfrontation mit den empirischen Wissenschaften im ‚Positivismusstreit‘ Ende der 1960er-Jahre. 2. Neben diesen Aspekten der Theoriendynamik sind es vor allem zwei wichtige, häufig anzutreffende Charakteristika eines Paradigmas, die zum impliziten Hintergrundwissen der Kritischen Theorie (neben anderen wesentlichen Momenten, wie z. B. theologischen Motiven) gehören – und die immer erst in Krisen explizit und beobachtbar werden. a) Die Existenz einer exemplarischen wissenschaftlichen Leistung Deren theoretische Idealisierungen grenzen den Paradigmakern ein und systematisieren die zentralen Problembereiche, die dann in konkreten Forschungsprogrammen bearbeitet werden können. Meine These ist, dass in unserem Falle die stillschweigend zugrunde gelegte paradigmatische Leistung (übrigens für den gesamten ‚westlichen Marxismus‘) die Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewusstsein“ von G. Lukács ist (vgl. Lukács 1967). Lukács reinterpretiert die Marxsche Werttheorie so, dass sich auf der Grundlage dieses Paradigmakerns eine Hegelmarxistische Version der Klassenbewusstseinstheorie zwangslos mit einer Webermarxistischen Version der Verdinglichungstheorie integrieren lässt. Versteht man Lukács Leistung nicht – wie dieser selbst – als dialektischen Handstreich, der alle Probleme begrifflich löst, sondern als Paradigma im Kuhnschen Sinn, das „das zu lösende Problem“ allererst als ein solches empirischer Forschung „stellt“ (vgl. Kuhn 1967, S. 49), dann ist der werttheoretisch fundierte Bogen, der sich von Hegel über Marx zu Weber spannt, zugleich der Horizont, der die geistige Wirklichkeit der Kritischen Theorie umgrenzt. Innerhalb dieses Horizonts einer intellektuellen Lebenswelt steht die Kritische Theorie vor den durch Lukács aufgeworfenen Problemen des Klassenbewusstseins und der Verdinglichung. b) Die Zentralreferenz Gleichsam ontologische Grundvorstellungen über die spezifische ‚Natur‘ des Gegenstandsbereichs, über dessen reale Struktur, sind ein weiteres wichtiges Merkmal paradigmatischer Entwürfe. So ist für den älteren Marxismus fraglos der Klassenkampf (als reproduktionstheoretisch gefasste Aneignung des erwirtschafteten Mehrprodukts) das Grundschema des gesellschaftlichen Seins, während im Neomarxismus die „Zentralreferenzen“ (Ritsert 1978, S. 6) abstrakter bei den Paradigmen von ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘ ansetzen. Diese Unterschiede sind für die Theoriendynamik der Kritischen Theorie, insbesondere für den Übergang zu Habermas, von entscheidender Bedeutung. Die Zentralreferenz oder die Grundvorstellung über die ‚Natur‘ oder das ‚Sein‘ des jeweiligen Gegenstandsbereichs konfrontiert uns mit dem Problem des gesellschaftlichen Seins und der Frage nach den fundamentalen Unterschieden zwischen naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Paradigmen (vgl. Bernstein 1979, S. 169 ff.). Uns interessiert hier nur ein Aspekt: der selbstreferentielle Charakter sozialwissenschaftlicher Paradigmata. Ihre Grund-

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annahmen enthalten explizit oder implizit Vorstellungen über die eigene Rolle in der Gesellschaft; normativ gehaltvolle Ideen über das wirkliche, das mögliche und das richtige Leben; Wertbezüge etc. Insbesondere setzen sozialwissenschaftliche Paradigmen sich selbst in Beziehung zu anderen Paradigmen der Soziologie. Marxistische Theorienansätze, die sich an der Vermittlung von Theorie und Praxis orientieren, reflektieren solche Beziehungen in der Regel explizit, so Horkheimer in dem Aufsatz über „Traditionelle und Kritische Theorie“, Lukács in seinen Überlegungen zur bürgerlichen Wissenschaft, Marx, indem er die Kapitalismusanalyse als immanente „Kritik der politischen Ökonomie“ entwirft, oder Habermas, wenn er Kritische Theorie als „Kritik der funktionalistischen Vernunft“ begründen will. Die These, die ich verteidigen möchte, lautet: Die frühe Kritische Theorie schließt auch in diesem Punkt an Lukács an und organisiert ihre Zentralreferenz an der Paradigmenkonkurrenz von Historischem Materialismus und bürgerlicher Wissenschaft, mit der sie nach der „Dialektik der Aufklärung“ Wissenschaft überhaupt identifiziert. Diese abstrakte Negation der Wissenschaft ist am Ende ein wesentlicher Aspekt der Krise der Kritischen Theorie, der Habermas heute durch ein anderes Grundschema, eben das von System und Lebenswelt, entkommen möchte. 3. Die meisten Versuche, das in den Kontroversen um Kuhn (vgl. Kocyba 1982; vgl. auch Rorty 1981; Habermas 1981a) am heftigsten umstrittene Problem der Rationalität zu lösen, laufen auf eine Unterscheidung zwischen internen, rationalen Motiven theoretischen Wandels und externen Bedingungen und Determinanten des Paradigmawechsels, zwischen der argumentativ zugänglichen und verstehbaren Gründegeschichte, der semantisch sinnvoll verknüpften Entwicklungslogik und der nur von außen erklärbaren und beobachtbaren Kausalgeschichte, der kontingenten Entwicklungsdynamik oder Ereignisgeschichte hinaus. Die Diskussion der postempiristischen Wissenschaftstheorie um die Probleme rationaler, interner Konstruktion beginnt mit I. Lakatos (vgl. Lakatos und Musgrave 1970; vgl. auch Lakatos 1974). Ich werde das Verhältnis interner Gründe und externer Ursachen im Folgenden an den Punkten diskutieren, an denen in der Geschichte der Kritischen Theorie die Brüche liegen, an denen die ‚normale‘ Wissenschaft ins Rutschen kommt und die ‚außerordentliche‘ in Bewegung gerät: am Übergang von Grünberg zu Horkheimer, an der Krise der 1940er-Jahre und am Wechsel zu Habermas. An diesem Beispiel werde ich auch der Frage nachgehen, ob es sich hier a) um die Ausarbeitung eines bis dahin als sozialwissenschaftliches noch gar nicht oder nur unzureichend entwickeltes Paradigma handelt; oder b) um die interne Weiterentwicklung eines im Grunde seit Marx identischen Paradigmas; oder c) um ein mit dem alten Paradigmakern inkompatibles neues Paradigma (etwa nach dem Muster ‚vom Materialismus zur Kommunikationstheorie‘)? Ich diskutiere im Folgenden zunächst die ‚exemplarische Leistung‘ Lukácsschen Anschluss der Theoriendynamik der Kritischen Theorie an diese Leistung und die Brüche am Beginn und am Ende der frühen Kritischen Theorie; zum Schluss diskutiere ich dann die Wende zu Habermas: die Veränderungen und die

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konsequent sozialwissenschaftliche Fassung der Zentralreferenz und des Paradigmakerns.

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Lukács und die Theoriendynamik der frühen Kritischen Theorie

Mit seinem Werk „Geschichte und Klassenbewusstsein“ hatte der frühe marxistische Lukács nach Ende des Ersten Weltkriegs den Grundstein für den „westlichen Marxismus“ gelegt. Der Kern von Lukács Werk ist neben der Theorie des Klassenbewusstseins eine Verknüpfung der Marxschen „Kritik der politischen Ökonomie“ mit Max Webers Theorie des welthistorischen Rationalisierungsprozesses. Damit eröffnete Lukács eine Neuinterpretation von Marx aus der Optik des Verdinglichungsbegriffs. Verdinglichung ist, schlicht gesagt, das „Erscheinen von Menschen und zwischenmenschlichen Beziehungen als Objekte, Dinge und als Verhältnisse zwischen Objekten, Dingen.“ (Marcuse 1975, S. 9). Paradigma der Verdinglichung ist für Marx die kapitalistische Warenwirtschaft, die Vermittlung zwischenmenschlicher Beziehungen durch den weltweit expandierenden Austausch von Waren, speziell durch das zentrale Steuerungsmedium Geld. Die wesentlichen Aspekte von Verdinglichung sind Quantifizierung und Abstraktion. Die Warenform entsteht an den Grenzen primitiver Gesellschaften zu ihrer sozialen Umwelt: „In der Tat erscheint der Austauschprozeß von Waren ursprünglich nicht im Schoß der naturwüchsigen Gemeinwesen, sondern da, wo sie aufhören, an ihren Grenzen, den wenigen Punkten, wo sie in Kontakt mit anderen Gemeinwesen treten. Hier beginnt der Tauschhandel, und schlägt von da ins Innere des Gemeinwesens zurück, auf das er zersetzend wirkt.“ Marx 1971, S. 47). Dieser erste Schritt zur „Entkoppelung“ des Wirtschaftssystems von der sozialen Lebenswelt (Habermas 1981c, S. 229 ff.) macht die Warenform freilich noch nicht „zur konstitutiven Form einer Gesellschaft“ (Lukács 1967, S. 96), zu dieser wird sie erst, wie Lukács immer wieder betont, wenn sie „sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft durchdringt“ (Lukács 1967, S. 94, 96): im „modernen Kapitalismus“ (Lukács 1967, S. 95), als dessen „zentrales, strukturelles Problem“ sie erscheint (Lukács 1967, S. 94). Jetzt erst gewinnt die von der ursprünglichen ‚Zersetzung‘ des Gemeinwesens durch die Rückwirkungen der Warenform ausgehende „Verdinglichung eine entscheidende Bedeutung sowohl für die objektive Entwicklung der Gesellschaft wie für das Verhalten der Menschen zu ihr“ (Lukács 1967, S. 97). Ursache der Verdinglichung ist für Lukács die kapitalistische Entwicklung. Kern dieser Entwicklung ist – und hier schließt Lukács unmittelbar an Max Weber an – eine ständig „zunehmende Rationalisierung“ (Lukács 1967, S. 99). Die Klammer zwischen Marx ‚Verdinglichung‘ und Webers ‚Rationalisierung‘ ist für Lukács das Prinzip der Kalkulierbarkeit. Ist im Kontext der Marxschen Arbeitswertlehre Verdinglichung unmittelbar mit der Quantifizierung von Arbeitsleistungen in Zeit-Geld-Relationen verknüpft, so ist für Weber Rationalisierung „das Wissen oder der Glaube daran, ... daß man . . . „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen

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beherrschen könne“. Genau dies nennt Weber auch „die Entzauberung der Welt“ (Weber 1947, S. 8). Und Lukács schreibt: „Für uns ist das Prinzip, das hierbei zur Geltung gelangt, am wichtigsten: das Prinzip der auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit eingestellten Rationalisierung“ (vgl. Lukács 1967, S. 99 f.). Schon für Weber selbst war das Geld dasjenige Medium, das die Bedingungen formaler Rationalität am reinsten verkörpert: „Rein technisch gesehen ist Geld das ‚vollkommenste‘ wirtschaftliche Rechnungsmittel, das heißt: das formal rationalste Mittel der Orientierung wirtschaftlichen Handelns“ (Weber 1956, S. 61). Doch gerade darin steckt das Problem, das Marx und dann vor allem die westlichen Marxisten so beunruhigt hat: die Kraft der Realabstraktion (vgl. Sohn-Rethel 1970). Weber hat sie gesehen: „Rationale Wirtschaft ist sachlicher Betrieb. Orientiert ist sie an Geldpreisen, die im Interessenkampf der Menschen untereinander auf dem Markt entstehen. Ohne Schätzung in Geldpreisen, also: ohne jenen Kampf, ist keinerlei Kalkulation möglich. Geld ist das Abstrakteste und Unpersönlichste, was es im Menschenleben gibt“ (Weber 1920, S. 544). Die Rationalisierung des Arbeitsprozesses macht diesen zu einem von seinem menschlichen Träger abstrahierten funktionellen mechanischen System. Für die miteinander kommunizierenden menschlichen Akteure ist in dieser „rationalen Ordnung“ nur Platz, insofern sie „brauchbare Instrumente (sind), die Welt rational umwälzen und zu beherrschen“ (Weber 1920, S. 535), ansonsten sind sie, so Lukács, „bloße Fehlerquellen“ (Lukács 1967, S. 100). Die Verschachtelung der Weberschen ‚Rationalisierung‘ mit der Marxschen ‚Verdinglichung‘ geht bei Lukács so weit, dass er schließlich in einem Atemzug von „rationell verdinglichten Beziehungen“ spricht (Lukács 1967, S. 102 f.). Im Anschluss an Marx spricht Lukács auch von der Universalität der Warenkategorie: „Denn nur als Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins ist die Ware in ihrer unverfälschten Wesensart begreifbar“ (Lukács 1967, S. 97). Und im Anschluss an Weber druckt Lukács denselben Sachverhalt mit den Worten aus, „daß das Prinzip der rationellen Mechanisierung und Kalkulierbarkeit sämtliche Erscheinungsformen des Lebens erfassen muß“ (Lukács 1967, S. 103). Darin steckt eine ebenso beachtliche wie überraschende Akzentverschiebung gegenüber dem bis dahin üblichen und auch heute noch bei Orthodoxen aller Schattierungen kanonisierten Marxverständnis. Die Rekonstruktion des kapitalistischen Verdinglichungszusammenhangs mit Hilfe des Rationalisierungsbegriffs führt nämlich zu einer (freilich stillschweigenden) Relativierung, wenn nicht Preisgabe des klassischen Basis-Überschau-Schemas, der These von der „Letztinstanzlichkeit des Ökonomischen“. Zwar mag der Rekurs auf ökonomische Klassenverhältnisse nach wie vor einen weiten Bereich sozialer Ereignisse und Prozesse zureichend erklären, aber dahinter wird als gleichsam tiefer greifende Ursache der dehumanisierenden Nebenfolgen der kapitalistischen Entwicklung, als die ökonomische Basis übergreifende Ursache der modernen Verdinglichung der welthistorische Rationalisierungsprozess sichtbar. In der Ausdifferenzierung rational organisierter Sozialsysteme in Wirtschaft, Staat und Recht ist ein Grundprinzip der Entwicklung moderner Gesellschaften wirksam, das allgemeiner ist als das Organisationsprinzip der kapitalistischen Produktionsweise. Nur unter dieser stillschweigenden Voraussetzung kann

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Lukács Max Weber als Zeugen für die Marxsche, an der ökonomischen Kernstruktur haftende Verdinglichungskonzeption zitieren (Lukács 1967, S. 106–108). Zweifellos verstärkt sich bei Lukács das kulturkritische Motiv im Marxismus. Aber die Verknüpfung von Marx und Weber macht aus Lukács weder einen reinen Modernisierungstheoretiker noch einen reinen Kulturkritiker, der bei der „bloßen Beschreibung“ der „äußerlichen Erscheinungsformen der Verdinglichung“ (Lukács 1967, S. 106) stehenbliebe. Auch die von mir skizzierte Relativierung der ökonomischen Basis-Überbau-Theorie konnte Lukács vorerst vermeiden (freilich um einen recht hohen Preis). Er konnte somit auch ein Auseinandertreten der Kapitalismuskritik in a) eine Kritik der ungerechten Verteilung des Reichtums, d. h. des ökonomischen Klassenverhältnisses und b) eine Kritik der vom Klassenverhältnis unabhängigen unerwünschten (dehumanisierenden und verdinglichenden) Nebenfolgen des Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesses unterlaufen. Warum? Weil Lukács in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ seine Rekonstruktion der Marxschen Theorie nicht nur auf die Verdinglichungs-Rationalisierungs-Theorie, also auf einen mit den Augen Webers und der Kulturkritik gelesenen Marx stützt, sondern darüber hinaus auf eine philosophische Theorie über das Verhältnis von Theorie und Praxis. Ich meine damit die Theorie des Klassenbewusstseins. Diese hat nun mit Weber und der Kulturkritik nichts zu tun. Lukács entwickelt sie, indem er Marx mit den Augen Hegels und, was die erkenntnistheoretische Funktion des Klassenbewusstseins und die Konstruktion des Praxisbegriffs angeht, mit denen Kants und Fichtes liest. Die theoretische Originalität von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ ist also, neben der Verknüpfung von Marx und Weber in der Verdinglichungstheorie, die von Hegel und Marx in der Klassenbewusstseinstheorie. Allerdings ist letztere, die die spekulative Einheit der Marxschen Gesellschaftstheorie mit den praktischen Handlungsorientierungen der Arbeiter im proletarischen Klassenbewusstsein behauptet, von vornherein mit erheblichen Hypotheken belastet. Allein, mit Hilfe dieser Konstruktion gelingt Lukács beides zugleich: den orthodoxen Marxismus zu bestätigen und ihn zu revidieren, indem er die Revision in das orthodoxe Grundschema einbaut. Er ist deshalb weder zu einer expliziten Relativierung der These vom Primat des Ökonomischen noch zu einer Trennung der Kritik in Kritik der Klassenherrschaft einerseits und Kulturkritik andererseits gezwungen. Das ist die eigentliche dialektische Leistung von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ und der theoriestrategische Sinn der Marxschen Arbeitswerttheorie. Genau das leistet die Werttheorie bei Lukács: die Integration der ‚Weber-Marxistischen‘ Verdinglichungstheorie mit der hegelmarxistischen Klassenbewusstseinstheorie. Beide Theorien kann Lukács nämlich im unmittelbaren Anschluss an die Marxsche Werttheorie entwickeln. Dabei ist, wie wir sahen, der Begriff der Rationalisierung Interpretament für die Verkehrung der Beziehungen zwischen Personen in Beziehung zwischen Dingen im Warentausch, und der idealistische Begriff des Selbstbewusstseins ist Interpretament für die im Kapitalismus ebenfalls über den Austausch von Waren, nämlich der Ware Arbeitskraft gegen variables Kapital, vermittelte Dynamik des Klassenkampfes. Die Verdinglichungstheorie führt zu dem unorthodoxen Schluss, dass die Verdinglichung für die Bourgeoisie im Prinzip dieselben verheerenden Auswirkungen

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hat wie für das Proletariat – eben weil sie alle „Lebensformen der Gesellschaft“ auf Grund der Universalisierung der Warenform übergreift. „Die Verdinglichung aller Lebensäußerungen teilt das Proletariat . . . mit der Bourgeoisie ...: die objektive Wirklichkeit ist in ihrer Unmittelbarkeit für Proletariat und Bourgeoisie ‚dieselbe‘“; „. . . die Verdinglichung (ist) die notwendige unmittelbare Wirklichkeit für einen jeden im Kapitalismus lebenden Menschen.“ (Lukács 1967, S. 165, 216) Die Klassenbewusstseinstheorie aber hält die alles entscheidende orthodoxe Differenzierung fest: Je nach Klassenlage ist die Möglichkeit, den Verdinglichungszusammenhang zu durchbrechen und die eigene Position innerhalb dieses Zusammenhangs zu erkennen, total verschieden. Derselbe Prozess der kapitalistischen Entwicklung erzeugt an beiden Polen der entgegengesetzten Klasseninteressen einen gänzlich anderen objektiven Sinngehalt: Treibt er den idealtypischen Kapitalisten immer tiefer in den isolierten Instrumentalismus, also in die Verdinglichung hinein, so konstituiert er das Proletariat schließlich als selbstbewusste Klasse, das die Vereinzelung aufhebt. Bleibt der Kapitalist gleichsam in der falschen Unmittelbarkeit hangen, so erlösen die dialektischen Vermittlungen qua Klassenlage das Proletariat am Ende aus der Verstrickung (Lukács 1967, S. 188). Führt also das Selbstbewusstsein der eigenen Lage die Bourgeoisie mitten in die bekannten „Antinomien des bürgerlichen Denkens“, (Lukács 1967, S. 122 ff.) so zieht es das Proletariat (wenigstens der „Tendenz“ nach und mit der „Intention auf das Richtige“) zur richtigen Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die Hohe der dialektischen Theorie der Gesellschaft. Die Ursache für diese grundlegende Differenz findet Lukács in der Marxschen Werttheorie, durch die hindurch ihm tatsächlich die Integration von Verdinglichungs- und Klassenbewusstseinstheorie gelingt. Die wesentliche Differenz, die das Proletariat zum eigentlichen „Träger“ (Lukács 1967, S. 194) und Adressaten der Theorie, zum „wahren Subjekt“ (Lukács 1967, S. 198) der Geschichte, zur Erfüllung „des Programms der klassischen Philosophie“ (Lukács 1967, S. 223) werden lässt, ist die spezifische Stellung des Arbeiters zur Warenform, also der schlichte Umstand, dass die Arbeiter nur überleben können, indem sie als Arbeitskraft zur Ware verdinglicht werden. Diese Verdinglichung der lebendigen Arbeit zur Ware ist in der Tat der Kern der Marxschen Mehrwerttheorie, an der die gesamte Dynamik des Klassenantagonismus hängt. Gerade wegen dieser „Verwandlung der Arbeit in Ware“ wird „für den Arbeiter der verdinglichte Charakter der unmittelbaren Erscheinungsweise der kapitalistischen Gesellschaft auf die äußerste Spitze getrieben“ (Lukács 1967, S. 182). Um nun von dieser „äußersten Spitze“, dem „Höhepunkt“ der Verdinglichung zum direkten Gegenteil, zum Klassenbewusstsein zu gelangen, braucht Lukács Hegels Dialektik des Selbstbewusstseins. Die Ware Arbeitskraft unterscheidet sich nämlich von allen Waren des kapitalistischen Universums dadurch, dass sie denkt, und, was das entscheidende ist, sich selbst als Ware denkt. Blickt die Ware Arbeitskraft auf sich selbst, so erblickt sie eine Ware, und zwar eine solche, ohne deren Verkauf das kapitalistische System zusammenbrechen würde, die also im Zentrum dieses Systems steht. Diese Einsicht in die zentrale gesellschaftliche Funktion der selbstbewussten Ware Arbeitskraft ist in nuce das „Klassenbewusstsein“, „seinem Sinne nach“ die „Intention auf die Totalität der Gesellschaft“ (Lukács 1967, S. 190).

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Da nun Lukács dieses „Selbstbewusstsein der Ware“ (Lukács 1967, S. 185) im Sinne der reflexiven Selbstbeziehung der idealistischen Philosophie begreift, ist für ihn der Akt der Selbsterkenntnis zugleich der Akt der Selbsterzeugung eines Subjekts. Aus der Ware Arbeitskraft wird dadurch, dass sie sich selbst als Ware erkennt, etwas anderes als das, was dieselbe Ware für einen neutralen Beobachter des kapitalistischen Warenmarktes unabhängig von diesem Selbstbewusstsein objektiv war. Deshalb ist für Lukács das „Selbstbewusstsein der Ware“ der Beginn der Vermittlung von Theorie und Praxis, die im Klassenbewusstsein zur Einheit von Marxscher Theorie und revolutionärer Aktion gelangt. Den Akt der Konstitution von Klassenbewusstsein nennt Lukács im Schlusssatz seines Aufsatzes über die Verdinglichung, fast, als wolle er noch einmal Fichtes Geist beschwören: „die – freie – Tat des Proletariats“ (Lukács 1967, S. 228). Ich fasse den Gang von Lukácsʼ Argumentation zusammen: 1. Die Arbeit ist diejenige Ware, die als einzige im kapitalistischen Warenkreislauf in der Lage ist, Werte, also andere Waren, zu erzeugen. Sie garantiert also die lebensnotwendige Reproduktion des Systems: sie ist die einzige produktive Ware. Sie ist darüber hinaus so in den Reproduktionskreislauf eingebunden, dass sie mehr Werte erzeugt, als sie selbst verbraucht: Sie erzeugt Mehrwert und garantiert deshalb die erweiterte Reproduktion der Gesellschaft als Klassengesellschaft. Aus diesem Grund steht die Ware Arbeitskraft im Zentrum der gesellschaftlichen Totalität: Ihre Reproduktion erhält das System als Ganzes. 2. Die mit dem Rationalisierungsprozess und der Universalisierung des Warenaustauschs überall erscheinende Verdinglichung der menschlichen Beziehungen trifft das Proletariat total: Weil es als Arbeitskraft selbst Ware und insofern total verdinglicht, eben nichts anderes als ein Objekt kalkulatorischer Verfügung ist. 3. Diese Ware hat eine Eigentümlichkeit, die sie als lebendige, Werte erzeugende Arbeit von allen anderen Waren unterscheidet: Nur sie kann sich ihres Charakters als Ware bewusst werden. In einer ersten dialektischen Drehung dreht sich das total verdinglichte Objekt ‚Ware Arbeitskraft‘ aus der Verdinglichung heraus: Im „Selbstbewusstsein der Ware“ konstituiert sich die Arbeit als Subjekt. 4. In einer zweiten dialektischen Drehung erweitert sich dieses frühe Selbstbewusstsein zum Klassenbewusstsein. Das Proletariat ist zum „identischen SubjektObjekt der Geschichte“ geworden. Hatten Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ den hegelschen Weltgeist noch spöttisch als „Weltmarkt“ entlarvt, so ist jetzt in der hegelmarxistischen Rückwendung auf den Idealismus das revolutionäre Proletariat zu einem eigentümlich empirisch-materiellen Weltgeist avanciert. Mit dieser Argumentation hat Lukács in der Tat alle Probleme seiner verdinglichungstheoretischen Marxinterpretation mit einem Schlag eigensinnig „orthodox“ gelöst – aber um den Preis, seine Lösung mit allen ungelösten Problemen des deutschen Idealismus zu belasten. Seine Lösung steht und fällt mit der optischen Basismetapher (hierzu vgl. Tugendhat 1976, S. 20 f.) dieser Philosophie des

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Bewusstseins ebenso wie mit den Chancen einer Einlösung des Programms einer dialektischen Logik. Aber selbst wenn man von diesen Problemen der immanenten Theorienkonstruktion absieht und die Möglichkeit ihrer Lösung einmal unterstellt – selbst dann lässt uns diese Theorie mit fundamentalen empirischen Schwierigkeiten, genauer: mit völlig unhaltbaren empirischen Behauptungen zurück. Zwar gipfelt die erste dialektische Drehung in einer äußerst plausiblen, auch von Lukács eingehend beschriebenen, empirischen Annahme über das gewöhnliche Alltagsbewusstsein der Arbeiterklasse. Das „Selbstbewusstsein der Ware“ äußert sich im Trade-Unionismus, im gewerkschaftlichen Lohnbewusstsein und in den periodisch ausbrechenden Lohnkämpfen und Lohnstreiks. Auch ohne die Bestätigung durch zahllose empirische Studien zum Arbeiterbewusstsein wird diese empirische Implikation der These vom „Selbstbewusstsein der Ware“ schon durch die Existenz und Macht reformistischer Gewerkschaften eindrucksvoll verifiziert. Auch die zweite dialektische Drehung mündet in eine empirische These ein: Das Klassenbewusstsein ist die alles entscheidende Waffe im Kampf um den Sozialismus. Eindringlich beschreibt Lukács die empirischen Merkmale dieser Waffen des Bewusstseins: „Denn gegenüber der Überlegenheit an Machtmitteln, an Wissen, Bildung und Routine usw., die die Bourgeoisie zweifellos besitzt und solange besitzen wird, als sie herrschende Klasse bleibt, ist die entscheidende Waffe, die einzig wirksame Überlegenheit des Proletariats: seine Fähigkeit, die Totalität der Gesellschaft als konkrete, geschichtliche Totalität zu sehen; die verdinglichten Formen als Prozesse zwischen Menschen zu begreifen; den immanenten Sinn der Entwicklung, der in den Widersprüchen der abstrakten Daseinsform nur negativ zutage tritt, positiv ins Bewußtsein zu heben und in Praxis umzusetzen.“ (Lukács 1967, S. 215)

Leider entbehrt diese These von der dialektischen Drehung des „Selbstbewusstseins“ zum „Klassenbewusstsein“ jeder empirischen Evidenz. Das von Lukács antizipierte Klassenbewusstsein hat es als Bewusstsein der arbeitenden Massen nie gegeben – auch nicht in außergewöhnlichen Lagen, weder nach den großen Kriegen noch in den großen Wirtschaftskrisen. Deshalb waren die entwickelten kapitalistischen Länder kaum je ernsthaft der Gefahr einer proletarischen Revolution ausgesetzt. Das hat Lukács selbst geahnt und für das Klassenbewusstsein sogleich einen platonischen ‚Wächter‘ gefunden: die leninistische Partei. Aber das war, wie jeder weiß, eine überschwängliche Utopie der Partei, mit der Lukács, dieser unnachgiebige Kritiker der modernen Verdinglichung, „nicht unwesentlich zu jenem unglücklichen Parteimythos beigetragen (hat), der heutzutage ein Musterbeispiel für Verdinglichung darstellt“ (Breines 1974, S. 103). Nein, Lukács Lösung ist keine, „sondern schlicht und einfach“ der Beginn „einer theoretischen und individuellen Tragik“ (Breines 1974, S. 103; vgl. auch Breines 1979). Aber: Wenn Lukács auch das Problem der Marxistischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, nämlich angesichts der im Zentrum des Kapitalismus, im Westen, ausbleibenden Revolution eine der Marxschen analoge und ähnlich überzeugende Analyse dieser veränderten Situation zu finden, nicht, auch im Prinzip und im

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konstruktiven Ansatz, nicht gelöst hat, so hat er doch, und das ist seine eigentlich imponierende Leistung, dem ‚westlichen Marxismus‘ die Richtung und den Weg vorgezeichnet, in der allein Lösungen zu suchen und zu erwarten sind. „Geschichte und Klassenbewusstsein“ ist nicht die Lösung, es ist die für den ‚westlichen Marxismus‘ fortan gültige Formulierung der zentralen Probleme, es ist dasjenige paradigmatische Werk, das die Probleme des westlichen Marxismus als Probleme allererst konstituiert hat. Die Verdinglichungs-Klassenbewusstseinstheorie ist exakt eine paradigmatische Leistung im Sinne Thomas Kuhns: „Die Existenz des Paradigmas stellt das zu lösende Problem“ (Kuhn 1967). Fortan gibt es für undogmatische Marxistische Intellektuelle zwei und nur zwei Problemzonen, die ihnen zu lösende Rätsel aufgeben. Diese beiden zentralen Problembereiche sind: a) das Problem der Verdinglichung (und Rationalisierung), b) das Problem des Klassenbewusstseins (und der Einheit von Theorie und Praxis). Nun bin ich mir nicht ganz sicher, ob sich meine These wirklich für alle Ausprägungen des westlichen Marxismus halten lässt – dafür ist dieser insgesamt viel zu wenig eine wissenschaftliche Schule, zu wenig akademisch fixierbar und zu sehr eine Sache oft einzelner intellektueller Figuren, am Rande oder jenseits des Wissenschaftsbetriebs, mit den zentralen kulturellen und politischen Strömungen ihrer Zeit verwoben. Aber ziemlich sicher bin ich mir im Hinblick auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Dies ist eben deshalb wahrscheinlich, weil die Kritische Theorie noch am ehesten innerhalb des westlichen Marxismus so etwas wie eine wissenschaftliche Schule darstellt. Sie ist ganz gewiss mehr als eine Fraktion innerhalb des Wissenschaftsbetriebs und die ‚Kritischen Theoretiker‘ haben ihr Leben nicht ausschließlich mit dem Lösen „normalwissenschaftlicher“ Rätsel verbracht. Aber der Kreis um Max Horkheimer wollte immer auch eine wissenschaftliche Schule sein und schulbildend wirken. Das war ein zentraler Punkt in Horkheimers Programm und hat sich in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ eindrucksvoll niedergeschlagen. Und obwohl die ‚Kritischen Theoretiker‘ sich in der Regel eher kritisch auf „Geschichte und Klassenbewusstsein“ bezogen haben und Lukács nur einer von vielen Theoretikern ist, an die die Kritische Theorie anknüpft, sind es doch diese beiden Problemzonen und keine anderen, um die die gesamte Geschichte der Kritischen Theorie immer wieder kreist. Dabei bleibt, wenigstens in der klassischen Phase der Frankfurter Schule in den 30er und frühen 40er-Jahre, die Marxsche Wertund Mehrwerttheorie in ihrer Geltung als Klammer zwischen Verdinglichungs- und Klassenbewusstseinstheorie völlig unproblematisiert: ein gleichsam gewisser und unbezweifelter Paradigmakern. Sehen wir uns die Sache einmal etwas näher an. Zunächst eine Bemerkung zum Paradigma-Status der Werttheorie.

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1.1

H. Brunkhorst

Alfred Sohn-Rehtel und der Paradigmakern

Es ist Thomas. S. Kuhns These, dass in den Zeiten ‚normalen‘ Problemlösens das Paradigma selbst tabu ist. Es stellt die Probleme, aber es steht nicht zur Diskussion. Paradigmadebatten gehören in die Zeit der Krise und der im Kuhnschen Sinne „außergewöhnlichen Forschung“. Sohn-Rehtels Außenseiterrolle am Rande der Frankfurter Schule stammt aus der Zeit, in der es Horkheimer darum ging, trotz der schwierigen Bedingungen des Exils den Forschungsalltag auf der Grundlage seines Programms zu organisieren (Dubiel 1978; Sohn-Rethel 1978; Dombrowski et al. 1978; Koch und Brunkhorst 1979). SohnRethel aber war sein Leben lang stets nur von einem einzigen Problem fasziniert und er hatte sich schon früh die Lösung dieses Problems in den Kopf gesetzt: die Marxsche Werttheorie. Für ihn stand bald fest, dass diese Theorie erhebliche Schwächen und Fehler hat und Marx selbst der Lösung an einigen Stellen zwar nahe gekommen ist, am Ende aber doch eine falsche Richtung eingeschlagen hat (Sohn-Rethel 1970; Koch und Brunkhorst 1979). Wenn man auch darüber streiten kann, ob Sohn-Rethel selbst eine überzeugende Lösung gelungen ist, in jedem Fall enthüllen seine wiederholten Versuche die ungeheuren Schwierigkeiten, die in der Werttheorie stecken, und die eindeutigen Grenzen des Marxschen Vorschlags. All dies hat Sohn-Rethel dazu prädestiniert, in den Zeiten ‚normaler‘ Wissenschaft eher wie ein etwas verschrobener Querkopf zu erscheinen, der wie ein eigensinniges Kind etwas verlangt, was es nicht gibt; aber es hat ihn auch dazu bestimmt, in Zeiten der Krise und der ‚außergewöhnlichen‘ Forschung zum Star zu werden. Sohn-Rethel war der einzige aus dem Umkreis der frühen Frankfurter Schule, der sich nicht für die Probleme interessierte, die sich auf der Grundlage des als gültig akzeptierten Paradigmakerns bearbeiten ließen – eben weil ihm gerade die Gültigkeit dieser Grundlage zweifelhaft erscheinen musste. Eine ernsthafte Grundlagendebatte aber hatte die Entwicklung einer geordneten Arbeit an den ‚Rätseln‘ der Verdinglichung und des Klassenbewusstseins und damit das Horkheimersche Programm gefährdet. Als es dann in den 1940er-Jahren zu einer ersten Krise kam, war Krieg, Sohn-Rethel Lehrer in England, und die Kommunikation unterbrochen. In der langen Latenzphase der Krise nach dem Krieg hat Sohn-Rethel mehrfach Adorno zu einer Diskussion seines Problems zu bewegen versucht (persönliche Mitteilung, vgl. auch Koch und Brunkhorst 1979). Mit wenig Erfolg. Für Adorno war die Werttheorie ein zentrales Instrument der Kulturkritik, auf das er sich stets unkritisch verlassen hat. Ihm ging es darum, diese Theorie, insbesondere die Lehre vom Warenfetischismus auf immer neue Phänomene anzuwenden, nicht diese selbst zu begründen und in Frage zu stellen (vgl. z. B. Grenz 1974, S. 35 ff.). Erst in der wissenschaftlichen Krise der 1970er-Jahre erinnern sich die irritierten Erben, inzwischen in heftigem Streit um Status, Auslegung und Gültigkeit des Paradigmakerns, des Außenseiters: Seine Ideen lagen quer zur Entwicklungsphase des Forschungsprogramms. Die Krise aber verlangt außernormale Reflexionen und begründet so den späten Ruhm des eigensinnigen Abweichlers. Doch wenden wir uns den beiden Problembereichen zu, deren Rätsel die frühe Kritische Theorie auf der Basis des Paradigmakerns mit sehr unterschiedlichem Erfolg zu lösen versucht hat.

Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der Gesellschaft

1.2

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Der Erfolg der Verdinglichungstheorie

Die webermarxistische Verdinglichungstheorie wurde von Anfang an mit großem Erfolg in immer neuen Wendungen und Detailforschungen, von den frühen Kritiken positivistischer Wissenschaft und Untersuchungen wie denen über den Fetischcharakter der Musik bis zu den zahllosen kultursoziologischen Studien (vor allem Adornos) im Anschluss an das Kulturindustriekapitel der „Dialektik der Aufklärung“, ausgearbeitet und ausgebaut. Und diese Theorie – weit über die frühe Kritische Theorie hinaus – der überzeugende Kern der großen systematischen Entwürfe, von der „Dialektik der Aufklärung“ bis zum „Eindimensionalen Menschen“, von der „Kritik der Instrumentellen Vernunft“ bis zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und den Theorien über Motivationskrisen und die knapper werdende Ressource ‚Sinn‘. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Kritische Theorie in diesem Zusammenhang immer wieder auf Max Weber zurückgekommen ist. So fällt für die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ der Begriff der Aufklärung mit dem Weberschen der Entzauberung der Welt zusammen und die zentrale These, Aufklärung wäre totalitär, schließt unmittelbar an dessen Bestimmung von Rationalisierung als Berechenbarkeit, als „Herrschaft durch Berechnen“ an. Und Marcuse entwickelt die These seines „Eindimensionalen Menschen“ von der immanenten Tendenz der technischen Rationalität, mit Herrschaft zu verschmelzen, in einer gesonderten Studie über Max Weber. Dessen Begriff der Rationalisierung steht schließlich im Zentrum der jüngsten Versuche von Habermas, die Kritische Theorie in einer „Theorie kommunikativen Handelns“ neu zu begründen. Insgesamt waren die Versuche, die ‚Rätsel‘ der Verdinglichung im Rahmen einer Kritischen Theorie der Gesellschaft zu lösen, sowohl wissenschaftlich wie politisch-praktisch (von Adornos korrektivem Einfluss auf das geistig-kulturelle Klima der postfaschistischen Republik bis zur europäischen und amerikanischen Studentenbewegung) außerordentlich erfolgreich.

1.3

Das Scheitern der Klassenbewusstseinstheorie

Ganz anders war es um das Schicksal der hegelmarxistischen Klassenbewusstseinstheorie bestellt. Diese wurde in den ersten Stunden der Kritischen Theorie von Max Horkheimer und Erich Fromm gründlich metaphysisch entrümpelt und in eine wissenschaftlich rationalisierte Form gebracht (vgl. Dubiel 1978; Dubiel und Bonß 1980). Grob gesprochen trat an die Stelle von Hegels dialektischen Drehungen eine freudianische Sozialpsychologie (was übrigens nicht heißt, dass der Geist Hegels aus der Kritischen Theorie verschwindet). Damit wird der Weg frei für die Frage nach den faktisch-empirischen Zwischengliedern der Vermittlung von Theorie und Praxis und für eine schrittweise, fast schon ‚normalwissenschaftliche‘ empirische Überprüfung, Kontrolle und Erweiterung der Klassenbewusstseinstheorie. Um das Ergebnis dieses einzigartigen Versuchs eines empirischen Hegelmarxismus vorwegzunehmen: Die Klassenbewusstseinstheorie wurde von der Kritischen Theorie nach und nach preisgegeben und zwar sowohl aus politisch-praktischer Einsicht (Faschismus und Stalinismus) wie auf Grund einer Serie empirischer Falsifikationen. Das beginnt mit der frühen Studie über Arbeiter und Angestellte 1932 im Rheinland, die noch von der vorsichti-

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gen, dann freilich enttäuschten Hoffnung auf revolutionäre Potenziale getragen ist; reicht über die Studien über Autorität und Familie und die „Autoritäre Persönlichkeit“, in der sich das Interesse bereits einseitig auf die genaue Identifizierung und Beschreibung des autoritären Potenzials konzentriert; bis zu der für die orthodoxen Marxisten so bedrohlich gewordenen und für die ‚Neue Linke‘ geradezu konstitutiven These Marcuses von der Integration des Proletariats in die eindimensionale Gesellschaft. Aus dem anfangs für lösbar gehaltenen ‚Klassenbewusstseinsrätsel‘ ist am Ende das geworden, was Thomas Kuhn eine „hartnäckige Anomalie“ nennt: der Beginn einer wissenschaftlichen und intellektuellen Krise. Denn die wohlbegründete Falsifikation der Klassenbewusstseinstheorie droht das ganze Theoriegebäude zum Einsturz zu bringen. Ohne die Theorie des Klassenbewusstseins droht die Kraft bestimmter Negation aus der Verdinglichungstheorie zu entweichen. Sie verblasst – und sei sie noch so erfolgreich – zur abstrakten Negation des Bestehenden, sie wird von bloßer Kulturkritik ununterscheidbar. Hätte die Kritische Theorie sich mit diesem Umstand abgefunden, dann wäre der häufig erhobene Vorwurf des Konservatismus berechtigt. Die theoretischen Anstrengungen der Kritischen Theorie nach 1945 lassen jedoch erkennen, dass zumindest Adorno und Marcuse dieses Desiderat gespürt und nach einem Ersatz für die falsifizierte Klassenbewusstseinstheorie gesucht haben. Adornos „Negative Dialektik“ und seine späte „Ästhetische Theorie“ lassen sich dann als Versuche lesen, in der einsame Reflexion des Intellektuellen und in der mimetischen Kraft des esoterischen Kunstwerks ein nicht länger zu einem monströsen Über-Subjekt aufgespreiztes Selbstbewusstsein dialektisch aus dem Verdinglichungszusammenhang herauszudrehen. Dieser Versuch vermeidet zwar die empirischen Schwächen der Lukácsschen Theorie ebenso wie deren de facto totalitäre Konsequenzen, teilt mit letzterer aber alle Probleme und Fallstricke der idealistischen Bewusstseinsphilosophie und muss überdies den Preis praktischer Hoffnungslosigkeit zahlen. Das hat Marcuse durch den philosophisch allerdings kaum weniger problematischen, nämlich allzu unkritischen Rückgriff auf die späte Freudsche Triebtheorie, die Dynamik von Eros und Thanatos in „Triebstruktur und Gesellschaft“ vermeiden können. Indem bei ihm die Triebtheorie an die Stelle der Klassenbewusstseinstheorie rückt, konnte er im Vorgriff auf die breit streuenden ästhetisch-expressiven Protest- und Alternativbewegungen der späten 60er- und 1970er-Jahre der Kritischen Theorie ein neues praktisches Fundament, das den Konfliktlagen und Krisentendenzen des entwickelten Kapitalismus angemessener erscheint, schaffen. Die Spätphilosophie Adornos wie die Marcuses steht freilich nicht länger im unmittelbaren Kontext der Sozialwissenschaften: Sie schließt weder an die Gesellschaftstheorie noch an die empirische Sozialforschung wie immer auch kritisch an. Nur durch den Rückzug der Geschichtsphilosophie aus den pauschal als ‚instrumentelle Vernunft‘ denunzierten Wissenschaften gelingt es, die Krise der 1940erJahre für lange Zeit latent zu halten: „Hatten wir auch“, heißt es in der Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung“, „seit vielen Jahren bemerkt, daß im modernen Wissenschaftsbetrieb die großen Erfindungen mit wachsendem Zerfall theoretischer Bildung bezahlt werden, so glaubten wir immerhin dem Betrieb soweit folgen zu dürfen, daß sich unsere Leistung vornehmlich auf Kritik und Fortführung fachlicher Lehren beschränkte ... Die Fragmente, die

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wir hier vereinigt haben, zeigen jedoch, daß wir jenes Verhalten aufgeben mußten, ... (weil) im gegenwärtigen Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation nicht bloß der Betrieb, sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden (ist)“ (Horkheimer und Adorno 1955, S. 5). Weil der Rückzug in – wie auch immer negative, für das traditionelle philosophische Denken destruktive – Positionen substanziellen Philosophierens gleichwohl kein Rückfall hinter die Aufklärung und die moderne Gestalt der Vernunft sein wollte, wird die Kritische Theorie die Krise, die die eines sozialwissenschaftlich orientierten Forschungsprogramms war, nicht los. Sie wollte weder auf eine höhere und tiefere Einsicht des Denkens jenseits der Wissenschaft hinaus, noch wollte sie zum „gegensätzlichen Allheilmittel“ (Horkheimer) einer die Wissenschaft pragmatisch ergänzenden metaphysischen Lebenshilfe verkommen. Darin steckt ein wesentlicher Unterschied zwischen Adorno und Heidegger: Heidegger hatte sich nie auf einen Positivismusstreit eingelassen. Adorno musste es, weil er an der Intention festgehalten hat, den Anspruch der Aufklärung auf vernünftige Erkenntnis, von dem er glaubte, die zum instrumentalistischen Betrieb verkommene Wissenschaft habe ihn verraten, unter keinen Umständen preiszugeben. Das hat auch Marcuse nie getan, wie seine stets vehemente und scharfe Kritik an allen Formen eines neuen Irrationalismus und Mystizismus in den Oppositionsbewegungen seit Mitte der 1960er-Jahre eindrucksvoll belegt: „Sicherlich ist in der dialektischen Logik das Ganze die Wahrheit, jedoch ein Ganzes, bei dem alle Teile und Trennungen ihren Platz und ihre Bühne haben. Die Beziehungen zwischen ihnen, ihre spezielle Funktion, die verschiedenen Ebenen und Arten von Wirklichkeit und deren innere Entwicklung müssen aufgezeigt und definiert werden – erst dann, im endlosen Strom der Vermittlung, der das untere nach oben kehrt, erscheint das Wahre als der bacchantische Taumel: nüchterne Trunkenheit des Ganzen: Vernunft als Freiheit. Eine kritische, keine absolute Vision; eine neue Rationalität, nicht einfach die Verneinung der Rationalität“ (Marcuse 1977, S. 242 f.).

Freilich, keiner der beiden Philosophen, die nach der „Dialektik der Aufklärung“ versucht haben, die Kritische Theorie theoretisch weiterzuentwickeln, weder Marcuse noch Adorno haben je ernsthaft versucht, solche – nicht zufällig in der Sprache Hegels paraphrasierte – Intentionen in ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm nach dem Vorbild der frühen Kritischen Theorie umzusetzen. Als dann im Kontext der aufbrechenden politischen und wissenschaftspolitischen Konflikte in den 1960er-Jahren auch der externe wissenschaftliche Erwartungsdruck auf die Kritische Theorie wuchs, wurde die interne, bloß verdrängte Krise manifest. Übrigens finden sich die Spuren der Klassenbewusstseins-Anomalie auch noch beim frühen Habermas. Wie Rüdiger Bubner gezeigt hat, kann man die FreudInterpretation von „Erkenntnis und Interesse“ als weiteren Versuch verstehen, einen Ersatz für die falsifizierte Klassenbewusstseinstheorie zu finden, der die äußerst problematische Idee nahelegt, die Psychoanalyse zu einer Art Gesellschaftstherapie aufzublasen (Bubner 1971). Und wie bei Lukács findet sich das Erbe Fichtes in dem Versuch, die Einheit von Theorie und Praxis als „Akt der Selbstreflexion“ zu denken (vgl. McCarthy 1980, S. 110 ff.). Freilich hat Habermas inzwischen die radikalen Konsequenzen aus dem Scheitern der Klassenbewusstseinstheorie gezogen und den traurigen Rest des Paradigma-

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kerns, die Marxsche Werttheorie, die nur noch die hilflose Alternative: Dogmatismus oder ohnmächtige Kulturkritik übrig ließ, abgeräumt. An deren Stelle ist die systematische Verknüpfung der Paradigmen ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘ getreten, die allerdings beansprucht, die Fäden, die nach Marx auseinandergelaufen sind, in einer der Werttheorie analogen Weise so wieder zusammenzufügen, dass aus der semantischen Frage nach der dialektischen Vermittlung der Wertform mit der lebendigen Arbeit die empirische nach den systemisch induzierten Pathologien der modernen „Formen der Intersubjektivität möglicher Verständigung“ wird (Habermas 1981b, c). Das damit gestellte Problem des Paradigmenwechsels möchte ich in zwei Schiritten diskutieren – und zwar zunächst noch einmal am Beispiel der frühen Kritischen Theorie und dann am Übergang zur „Theorie des kommunikativen Handelns“. (Das u. a. Schema fasst die bisherige Skizze zur Theoriendynamik der ‚Frankfurter Schule‘ zusammen.)

Paradigmakern Wert -und Mehrwerttheorie (orthodoxer Merx)

Problemvorgabe I Verdinglichungstheorie (Webermarxismus)

LUKACS

Problemvorgabe II Klassenbewußtseinstheorie (Hegelmarxismus)

Transformation in empirischen Hegelmarxismus qua Sozialpsychologic (Horkbeimer/Fromm) „normal science“ „Falsifikation“ „Verifikation“

Entwertung der Verdinglichungstheorie durch Falsifikation der Klassenbewußtseinstheorie „Krise“ Poblemvorgabe I Kolonialisierung der Lebenswelt

Versuche, das Desiderar zu ersetzen: Marcuse, Adorno, früher Habermas Reorganisation des Paradigmakerns: System und Lebenswelt HABERMAS

Poblemvorgabe II neue Protestpotentiale

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Das Problem des Paradigmenwechsels in der frühen Kritischen Theorie

Ich möchte dem Problem des Wandels wissenschaftlicher Grundorientierungen und dem solchen Wandel prägenden Verhältnis externer und interner Gründe am Anfang der frühen Kritischen Theorie, am Übergang von Grünberg zu Horkheimer und an deren Ende, der als Symptom der Krise zu verstehenden Faschismuskontroverse, nachgehen.

2.1

Von Grünberg zu Horkheimer

Nach der fast schon klassischen Studie von Paul Kluke über die Frankfurter Universität und den mittlerweile recht zahlreich publizierten Interviews mit den heute noch lebenden Zeugen jener Tage (Kluke 1972; Löwenthal 1980; Greffrath 1979) sind es vor allem die Arbeiten von Ulrike Migdal und Wolfgang Bonß, vor denen die Konturen der Gründungsphase der ‚Frankfurter Schule‘ immer deutlicher sich abzeichnen (Migdal 1981; Dubiel und Bonß 1980). Als Horkheimer 1931 Direktor des 1923 nach einer langen und komplizierten Vorgeschichte (ausführlich Migdal 1981) gegründeten ‚Instituts für Sozialforschung‘ wurde, fand er einen institutionellen Rahmen vor, den er unverändert übernehmen konnte, um die Idee des Forschungsprogramms zu realisieren, das er in seiner Antrittsvorlegung entworfen hatte (Migdal 1972). Die Institution und ihre Geschichte waren ihm seit langem vertraut, sein engster Freund, Friedrich Pollock war einer der Organisatoren der ersten Stunde gewesen und hatte zum nächsten Mitarbeiterkreis um Carl Grünberg, Horkheimers Vorgänger, gehört. Die Finanzierungsbasis war ebenso für lange Zeit gesichert wie das institutionelle Verhältnis zur Universität geregelt, wichtige wissenschaftsorganisatorische Vorentscheidungen standen fest: so die Bindung der Marxistischen Gesellschaftstheorie an empirische Sozialforschung und die Idee, die inhaltliche Institutsarbeit mit der Herausgabe einer Zeitschrift eng zu verknüpfen. So weit reichen die Kontinuitäten. An ihnen ist wissenschaftsgeschichtlich vor allem ein Aspekt interessant: Die Trennung von Lehre und Forschung. In ihr spiegelt sich nämlich der institutionelle Abschluss eines objektiven gesellschaftlichen Prozesses: die Ausdifferenzierung der Wissenschaft als kognitiv spezialisierte kooperative Wahrheitssuche. Das ist es, was die Frankfurter Institutsgründung mit anderen Institutsgründungen jener Zeit verbindet: die Entlastung des theoretischen Diskurses von praktischen Fragen der pädagogischdidaktischen Wissensvermittlung (Migdal 1972, S. 76 ff.; vgl. auch v. Alemann 1981). An dieser Kontinuität freilich wird zugleich der Bruch der Kritischen Theorie mit Grünbergs AustroMarxismus erkennbar. Er ist eines der inneren, rationalen Motive für den Paradigmawechsel. Das erste rationale Motiv für den Paradigmawechsel ist der Bruch mit der positivistischen Form der Ausdifferenzierung kognitiv spezialisierter Sozialforschung. Für Grünberg war die strikte Trennung von Philosophie und Wissenschaft eine ebenso paradigmatische Voraussetzung der Institutsarbeit wie die von Wissen-

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schaft und Weltanschauung – wobei für ihn ‚Philosophie‘ unbeweisbare metaphysische Spekulation und ‚Weltanschauung‘ in der Substanz etwas nicht Rationalisierbares blieb; als rationales Korrektiv von Philosophie und Weltanschauung wollte Grünberg nur positive empirische Tatsachen gelten lassen (Migdal 1972, S. 79 f.). Gegen diesen Positivismus setzt die Kritische Theorie bekanntlich die Idee der Kritik, die die vermittelte Einheit von Theorie und Praxis antizipiert. Ohne je den Primat der Wahrheitsfragen zu bezweifeln, wird die Philosophie als Selbstreflexion ihrer Grundlagen und ‚Praxis‘ als moralische und ästhetische Kritik im Rahmen kognitiv spezialisierter Sozialwissenschaft zur Geltung gebracht (vgl. Habermas 1981c, S. 585). Das zweite rationale Motiv im Übergang zur Kritischen Theorie setzt an der inhaltlichen Grundorientierung der empirischen Sozialforschung an. Die noch unter Grünberg begonnene, faktisch aber bereits vom Horkheimer-Kreis betreute und von E. Fromm geleitete Studie über Arbeiter und Angestellte im präfaschistischen Deutschland (Fromm 1980) ist das erste Beispiel dessen, was ich Oben ‚empirischen Hegelmarxismus‘ genannt habe. Diese gleichsam empiristische Wende der Lukácsschen Klassenbewusstseinstheorie, die für deren Annahmen, wie Bonß gezeigt hat, methodologisch den Weg einer „Falsifikationsanalyse“ eröffnet (Dubiel and Bonß 1980, S. 36), bricht mit dem orthodoxen Marxverständnis Grünbergs, das die Erwartung des bevorstehenden Übergangs zum Sozialismus als wissenschaftlich gesicherte Prognose empfand (Grünberg 1965). Von nun an galt es, das Ausbleiben des Klassenbewusstseins und der Revolution zu erklären. Ohne die internen Gründe bliebe der Wechsel von Grünberg zu Horkheimer völlig unverständlich. Freilich mussten eine Reihe externer notwendiger Bedingungen erfüllt sein, damit die rationalen Motive der Kritischen Theorie faktisch wirksam werden und der Paradigmawechsel eintreten konnte. Es sind dies vor allem drei Bedingungen: 1. Die bereits genannte Existenz des institutionellen Rahmens. 2. Das biologische Ereignis der Krankheit Grünbergs, ohne die Horkheimer nicht Institutsdirektor geworden wäre. 3. Die streng hierarchische Struktur des Instituts mit der „Diktatur des Direktors“ an der Spitze, die es Horkheimer ermöglichte, die Personen auszutauschen und so zusammenzusetzen, dass sie in das ‚Spiel‘ seines Wissenschaftsprogramms passten. An dieser Stelle möchte ich eine Anmerkung zum Verhältnis von Rationalität und Theoriendynamik machen. Gewiss, der Wechsel von Grünberg zu Horkheimer ist nicht ausschließlich, nicht einmal primär ein Prozess rationaler Konsensusbildung, er ist schon gar nicht das zwingende Resultat von Deduktion plus neutrale Beobachtung, „die Wirkung der Natur und der Logik“ (Kuhn 1967, S. 131). Horkheimers Gegner wurden nicht rational überzeugt, eher wurden sie entlassen oder sind freiwillig gegangen. Aber das alles bedeutet nicht, dass rationale Motive, dass der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) in Paradigmadebatten überhaupt keine Wirkung haben würden, jede Übereinstimmung, wenn sie überhaupt zustande kommt,

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nur das Resultat von Rhetorik und Manipulation wäre. Wie wir gesehen haben, gibt es rationale Motive und es gibt auch Kriterien der Rationalität des Paradigmawandels: Wenn das neue Paradigma eine theoretische Erklärung der Irrtümer des alten Paradigmas möglich macht, werden wir nicht zögern, dem Übergang zum neuen Paradigma ein rationales Motiv zuzuschreiben. Die Rationalität des Wechsels von Grünberg zu Horkheimer wurde sich daran bemessen, ob der Kritischen Theorie eine plausible gesellschaftstheoretische Erklärung der ideologischen Schranken eben jenes Positivismus gelingt (oder gelungen ist), der auch dem austromarxistischen Forschungsprogramm Grünbergs zugrunde liegt. Eine solche rationale Rekonstruktion des Paradigmawandels ist von der ‚Theoriendynamik‘ im Rahmen eines identisch bleibenden Paradigmas oder gar von der stufenweisen Entwicklung einer programmatischen Intention zur fertigen Gestalt eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas zu unterscheiden. In diesem Falle wäre das Rationalitätskriterium nicht die theoretische Erklärung der Irrtümer und ideologischen Schranken der vorhergehenden Entwicklungsstufe, die Rationalität des neuen Theorieentwurfs und Forschungsprogramms würde sich vielmehr daran bemessen, wie weit es gelingt, die frühere Gestalt des Paradigmakerns durch ein solches „systematisches Äquivalent“(Habermas 1981c) zu ersetzen, das jene als Spezialfall erhält und mehr erklärt. Auf diese beiden Kriterien werde ich beim Übergang zu Habermas noch zurückkommen. Bis jetzt habe ich unterstellt, dass sich der Übergang von Grünberg zu Horkheimer als Paradigmawechsel beschreiben lässt. In der Tat gibt es viele Ähnlichkeiten mit jenen Vorgängen, die Kuhn mit der dramatischen Formel von den „wissenschaftlichen Revolutionen“ treffen möchte. Als „Wandlung des Weltbildes“ (Kuhn 1967, S. 151 ff.) lässt sich der Einzug der Kritischen Theorie ins ‚Institut für Sozialforschung‘ mit Recht bezeichnen. Doch handelt es sich wirklich um den Wandel von einem sozialwissenschaftlichen Paradigma zum anderen? Wenigstens ein wesentlicher Aspekt jenes Wandels, den ich bis jetzt vernachlässigt habe, legt eine negative Antwort nahe. Wie Ulrike Migdal gezeigt hat, gab es unter der Leitung Grünbergs im Marxismus zwar einen allgemeinen ‚weltanschaulichen‘ Hintergrund und ‚Wertbezug‘ der Institutsarbeit. Aber Grünberg verstand sich eher als Koordinator eines pluralen Spektrums von Forschungsansätzen und wollte die Bildung einer Schule unter allen Umständen vermeiden. Diese Offenheit hat auch „die weltanschaulich-politische Spannweite und Mannigfaltigkeit (Migdal 1981, S. 116) des Institutsorgans, des „Archivs für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ geprägt – und sie hat sich in den 1920er-Jahren sogar noch vergrößert (Migdal 1981). Ganz im Unterschied zur produktivsten Phase der ‚Frankfurter Schule‘ im New Yorker Exil wäre es falsch, in der ‚Grünberg-Ära‘ bereits eine quasi normalwissenschaftlich arbeitende, traditionsbildende Schule zu vermuten, und während das ‚Archiv‘ insofern eher der traditionellen Form einer wissenschaftlichen Zeitschrift glich, als sich in ihm zwar eine Richtung, aber kein Forschungsprogramm spiegelte, war die ‚Zeitschrift für Sozialforschung buchstäblich von der ersten bis zur letzten Seite und noch im schließlichen ‚Scheitern‘ die Verwirklichung eines solchen

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Programms, Ausdruck der „Idee einer auf die gegenwärtige Epoche gerichteten Theorie der Gesellschaft, die sich dem Urteil der empirischen Forschung in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen unterwirft“ (Habermas 1987, S. 417). Wenn das richtig ist, bleibt der Übergang von Grünberg zu Horkheimer zwar ein „Wandel des Weltbildes“, dieses verdichtet sich aber erst unter Horkheimer zu einem wissenschaftlichen Paradigma. Bei dem in diesem Abschnitt rekonstruierten Prozess haben wir also nicht etwa einen sozialwissenschaftlichen Paradigmawandel vor uns, sondern allererst die Konstitution eines solchen Paradigmas. Aber – so müssen wir fragen – gelingt diese Konstitution eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramms unter Horkheimer? Was kommt in der Krise der 40er-Jahre zum Ausdruck – Das Scheitern jener „Idee einer auf die gegenwärtige Epoche gerichteten Theorie der Gesellschaft“ oder nur der Umstand, dass diese Idee in jenem grandiosen ersten Versuch unter dem lastenden Druck von Exil und Verfolgung noch nicht konsequent genug verwirklicht und nicht radikal genug begründet worden ist?

2.2

Die Faschismuskontroverse

Das letzte große kollektive Projekt der frühen Kritischen Theorie sollte eine umfassende, interdisziplinar aufgefächerte Faschismustheorie hervorbringen. Dieses Projekt, dessen erste Ergebnisse zum Teil in den letzten Nummern der ‚Zeitschrift‘ publiziert, zum Teil in einer Vortragsreihe Ende 1941 an der Columbia University vorgestellt wurden, ist – obwohl die Beitrage von Horkheimer, Pollock, Neumann, Gurland, Kirchheimer und Marcuse in ihrer „diskursiven Gesamtgestalt ... ein bis heute nicht wieder erreichtes Niveau der Faschismusforschung anzeigen“ (Horkheimer et al. 1981, in Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, S. 7) – gescheitert: „Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß diese Kontroverse in den frühen 40er-Jahren das Institut in zwei Lager spaltete“ (Horkheimer et al. 1981, S. 8). Angelpunkt der Faschismuskontroversen war der Streit um das veränderte Verhältnis von Politik und Ökonomie: Ist der Nationalsozialismus eine neue Ordnung, die die kapitalistische „Tauschwirtschaft“ zugunsten einer machtgesteuerten „Befehlswirtschaft“ abgelöst hat (Pollock 1981, S. 121), in der das „Profitmotiv ... vom Machtmotiv ersetzt worden“ ist? (Neumann 1981, S. 130). Für Horkheimer und Pollock ist klar, dass im autoritären Staat das „Primat der Politik über die Wirtschaft ... eindeutig errichtet“ ist (Pollock 1981, S. 124). Das Geld-Medium wird in der totalitären Einheit der ganzen Gesellschaft durch das Macht-Medium abgelöst. Befehl und Kommando ersetzen die veralteten Integrationsmechanismen Ware und Geld. Aus Arbeitern werden Soldaten, die Wirklichkeit stimmt mit der faschistischen Reklame überein. „Der strikte staatliche Befehl ... entspricht der modernen Organisation der Wirtschaft“ (Horkheimer 1968, „Die Juden und Europa“). „An die Stelle des Tausches mit der Arbeit tritt das Diktat über sie“ (Horkheimer 1968, S. 36). Bürokratische Herrschaft löst die dysfunktional gewordene Eigentumsordnung auf. „Der Staatskapitalismus beseitigt ... den Markt“ (Horkheimer 1968, „Autoritärer Staat“). Zumindest oberflächlich rückt diese These

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in die Nähe gängiger Totalitarismustheorien: faschistischer Staatskapitalismus und staatssozialistischer „integraler Etatismus“ (Horkheimer 1968, S. 61 f.) sind nur mehr Erscheinungsformen des nämlichen autoritären Staates. Neumann, Garland und Kirchheimer können die Staatskapitalismusthese weitgehend empirisch entkräften. Weder sind die Marktmechanismen außer Kraft gesetzt (Neumann 1981, S. 175 ff.), noch funktionieren die von den Nazis propagierten Gewinn- und Kreditkontrollen dort, wo es um die ökonomischen Profitinteressen der großen Konzerne geht (Neumann 1981, S. 186 ff., 214 ff.). „Die Triebkraft des ökonomischen Systems ist der aggressive, imperialistische, expansionistische Geist des deutschen Großkapitals“ (Neumann 1981, S. 215). Selbst die von Marx wie Weber gleichermaßen als Grundbedingung des modernen Kapitalismus postulierte Freiheit der Arbeit und des Arbeitsvertrags sind im Faschismus keineswegs vollständig beseitigt. Die konstitutive „Unterscheidung von Arbeit und Freizeit“ bleibt ebenso erhalten wie das Institut des Arbeitsvertrags (Neumann 1981, S. 199). Neumann kann zeigen, „daß alle Versuche der nationalsozialistischen Juristen, den Arbeitsvertrag durch ein anderes rechtliches Instrument zu verdrängen, gescheitert und alle Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch vertraglich sind“ (Neumann 1981, S. 199). An unterschiedlichen empirischen Gegenständen belegen Neumann und Kirchheimer die These, „daß die Widersprüche des Kapitalismus in Deutschland“ keineswegs geglättet und überwunden, vielmehr „auf einem höheren und deshalb auch gefährlicheren Niveau wirksam sind“ (Neumann 1981, S. 136). Überdies hat Neumann die entscheidende theoretische Schwäche der Staatskapitalismusthese sofort erkannt. Ihr Fehler ist die „Entdifferenzierung der ökonomischen und der politischen Kategorien“ (Dubiel und Söllner 1981, S. 17). Pollock und Horkheimer haben nämlich die für den liberalen Kapitalismus postulierte Integrationsleistung des „universalen Mediums des Geldes“ (Kirchheimer 1976 „Strukturwandel des politischen Kompromisses“, S. 286) durch das im Staatskapitalismus ebenso universell und monolithisch wirksame Macht-Medium einfach ausgetauscht. Da ohnehin für Horkheimer und Pollock im Faschismus die historische Tendenz der modernen Gesellschaft nur besonders deutlich zum Ausdruck kommt, verstellen sie sich von vornherein die Möglichkeit, die hohe „organisatorische Effizienz“ (Neumann 1981, S. 214), Flexibilität und Stabilität des Spätkapitalismus als Folge des systematischen Zusammenspiels der Steuerungsmedien Geld und Macht, das heißt vor allem als Staatsinterventionismus zu analysieren. Der Nationalsozialismus ist für Neumann deshalb „totalitärer Monopolkapitalismus“ (Neumann 1981, S 142) „Monopolwirtschaft und ... Befehlswirtschaft“, „eine privatkapitalistische Ökonomie, die durch einen totalitären Staat reglementiert wird“ (Neumann 1981, S 142). Freilich abstrahiert ein solcher Vergleich der theoretischen Konsistenz und des empirischen Gehalts der beiden – in der Faschismuskontroverse vertretenen Thesen – ‚Staatskapitalismus‘ vs. ‚totalitärer Monopolkapitalismus‘ – von der inneren und äußeren Geschichte der ‚Frankfurter Schule‘. An der Faschismuskontroverse des Instituts zeigt sich exemplarisch die Grenze einer abstrakten, wie Kuhn sagt, auf „die Wirkung der Natur und der Logik“ eingeschränkten Wissenschaftstheorie. Denn Pollock und Horkheimer haben sich ja keineswegs den nach den Regeln der Logik

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und der Erfahrung zwingenden Argumenten Neumanns, Kirchheimers und Gurlands angeschlossen. Im Gegenteil, sie haben nur umso entschiedener an der Staatskapitalismusthese festgehalten, und Horkheimer hat nicht gezögert, sie als empirisch tragfähiges Fundament für den Umbau der frühen Kritischen Theorie in eine negative Geschichtsphilosophie der Aufklärung und der instrumentellen Vernunft zu akzeptieren. Ich frage mich, ob das nur Dogmatismus war – jener Dogmatismus, von dem Kuhn gezeigt hat, dass ganz ohne ihn eine ‚normale‘ wissenschaftliche Tätigkeit gar nicht möglich ist; eben weil die wissenschaftliche Praxis vom Kontext der Lebenswelt (‚Paradigma‘!) so wenig abgelöst werden kann wie jede kommunikative Praxis. Aber man darf die Vernunft nicht, wie noch der frühe Kuhn ganz im Sinne des Empirismus meint, auf „die Wirkung der Natur und der Logik“ beschränken (sofern in „Wirkungen“ überhaupt Vernunft stecken kann – es sei denn, man wäre ernsthaft bereit, einen metaphysischen Naturalismus zu verteidigen). Nur unter dieser – empiristischen – Prämisse ließe sich die Lebenswelt umstandslos mit ‚Dogmatismus‘ identifizieren, der dann wissenschaftshistorisch durch externe Ursachen erklärt werden müßte. Natürlich wäre es unsinnig zu leugnen, dass in der Reaktion Horkheimers und Pollocks auch ‚Dogmatismus‘ zu Tage tritt, für den es plausible externe Erklärungen gibt. Sie reichen von sozialpsychologischen Marginalisierungstheoremen (Dubiel 1978, S. 17 ff.) über die erhellende Analyse biografischer Kontexte (Jay 1976, S. 21 ff.; Gumnior und Ringguth 1973; Katz 1980; Hellige 1979) bis zu der von Horkheimer selbst favorisierten Erklärung, dass es in den frühen 1940er-Jahren mit dem ursprünglichen Projekt zu Ende ging, weil kein Geld mehr da war (vgl. Jay 1976). Doch die Kausalgeschichte – das meine ich nicht in erster Linie im Sinne universeller Kausalgesetze, sondern primär im Sinne singulärer Kausalität von Ereignisfolgen á la Danto – der ‚Frankfurter Schule‘ ist (wie die jedes intellektuellen Unternehmens, ja, jeder Lebenswelt) mit der Entwicklungslogik der Argumente zu einer vermittelten Einheit verfilzt. Meine These ist, dass aus der Perspektive dieser Entwicklungslogik ein anderes Licht auf die Faschismuskontroverse fällt, das eine Reihe guter Gründe für das scheinbar nur dogmatische Festhalten an der in der Tat empirisch haltlosen, wüst spekulativen Staatskapitalismustheorie erkennen lässt – und das zugleich bestimmte Schwächen der These vom „totalitären Monopolkapitalismus“ sichtbar macht. Hinter beidem, den guten Gründen für ein falsches Argument wie den Schwächen einer konsistenten und gehaltvollen Theorie, erscheint dann aber der innere Grund für die Krise: die unaufgelösten Schwierigkeiten jenes ersten Versuchs, die Idee einer Kritischen Theorie der Gesellschaft an die empirischen Sozialwissenschaften anzuschließen. Das wird sofort klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die Formel vom ‚Staatskapitalismus‘ das ‚missing link‘ ist, das die entwicklungslogisch konsequente Transformation eines interdisziplinären Marxistischen Forschungsprogramms in die negative Geschichtsphilosophie der „Dialektik der Aufklärung“ genetisch erklärt. Ursprünglich wollte die Kritische Theorie dialektisch dargestellte „interdisziplinäre Sozialforschung“ sein (Dubiel 1978, S. 135 ff.), in der die „Philosophie“ auf die

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„Rolle eines problemsensitiven integrierenden Mediums der disziplinär zersplitterten Einzelwissenschaften“ (Dubiel 1978, S. 52) eingeschränkt war. Am Ende war es mit dem „Vertrauen“ in den „modernen Wissenschaftsbetrieb“ vorbei und „der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden“ (Dialektik der Aufklärung). Das gesuchte, den Widerspruch vermittelnde Zwischenglied müsste dann die folgende Form haben: Es müsste einen empirischen Anspruch erheben und so die Gesellschaftstheorie an die Einzelwissenschaften anschließen und es müsste zugleich empirisch so gehaltlos sein, dass es sich langfristig nur durch eine Abkoppelung der Gesellschaftstheorie von eben jenen Einzelwissenschaften aussichtsreich verteidigen ließe. Von genau dieser dialektisch-paradoxen, entwicklungslogisch-dynamischen Form ist das Staatskapitalismustheorem: Pollock erhebt einen empirischen Wahrheitsanspruch und verteidigt ihn entschieden mit einzelwissenschaftlichen, nämlich ökonomischen Argumenten gegen die Einwände Neumanns. Aber Pollock kann seine Thesen – ganz im Gegensatz zu Neumann – kaum belegen, nur apodiktisch behaupten. Die einzige Möglichkeit, das Theorem langfristig zu verteidigen und zugleich durch den Rückzug in die Philosophie die Krise zu verdrängen und 20 Jahre latent zu halten, haben Horkheimer und Adorno dann ergriffen: indem sie die empirischen Sozialwissenschaften als Richter in Fragen der Gesellschaftstheorie für befangen erklärt haben. „Pollocks Theorie bot ihnen die ökonomische Rechtfertigung dafür, eine ökonomische Gesellschaftsanalyse nicht mehr für nötig und möglich zu halten“ (Dubiel 1978, S. 100). Von nun an konnten sie ihr Hauptaugenmerk darauf richten, die These von der systematischen Unzuständigkeit der Wissenschaften geschichtsphilosophisch, anthropologisch und ideologiekritisch zu begründen. Erst im Anschluss an den „Positivismusstreit“ wurden die inneren Mängel dieser Begründung so offenbar, dass schließlich die seit über 20 Jahren ‚verdrängte‘ Krise die Barrieren der philosophischen ‚Abwehrmechanismen‘ durchbrach. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das Schema s.o. zur Theoriedynamik der Kritischen Theorie, dann wird deutlich, dass Horkheimer und Pollock in der Staatskapitalismustheorie die negative Konsequenz aus den Anomalien des Klassenbewusstseins-Rätsels ziehen: von nun an kann die Klassenbewusstseinstheorie für falsifiziert gelten. Sie spüren, dass eine solche Falsifikation den Paradigmakern nicht unberührt lassen kann. Und doch halten sie auf eigentümliche Art an ihm fest. Obwohl sie ahnen, dass es nicht mehr geht, möchten sie sich doch nicht ganz von der Werttheorie verabschieden. Deshalb erhalten sie die Struktur des Paradigmakerns, indem sie die Werttheorie durch ein funktionales Äquivalent ersetzen, das an die Stelle derselben tritt und diese nicht mehr als Spezialfall impliziert bzw. im semantischen Feld enthält. An die Stelle des Geldes ist die Macht getreten, die das Wertgesetz als Integrationsprinzip des Spätkapitalismus ablöst und zugleich das totalitäre Wesen des dem Scheine nach liberalen Wertgesetzes offen nach außen kehrt. Das universell gewordene Macht-Medium vermag zwar das zu erklären, was die Werttheorie nicht mehr erklären kann: das Ausbleiben des Klassenbewusstseins und der Revolution. Aber sie erklärt nicht länger, was die Werttheorie immer noch erfolgreich erklären konnte: den nach wie vor existierenden Kapitalismus und die nach wie vor fundamentale Dynamik des kapitalistischen Wachstums. Die Theorie

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des Staatskapitalismus kann also strukturell nicht mehr erklären als die unbrauchbar gewordene Werttheorie. Überdies steckt im Austausch der explanativen Funktion des „Geldes“ durch die „Macht“ ein weiteres – und sogar gut hegelmarxistisches – Motiv für die Loskoppelung der Kritischen Theorie von den Einzelwissenschaften. Da nämlich der Staatskapitalismus sich dadurch vom wertgesteuerten liberalen Konkurrenzkapitalismus unterscheidet, dass er, wie Horkheimer und dann auch Adorno immer wieder betonen, die alles entscheidende Differenz von Wesen und Erscheinung einzieht, wäre der ein schlechter Dialektiker, der dann noch an der Wissenschaft festhalten würde – denn wie sagt der Hegelianer Marx: „Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform unmittelbar mit dem Wesen der Dinge zusammenfiele“ (Marx 1968, S. 825). Halten wir fest: Die Staatskapitalismusthese ist die innere, entwicklungslogische Konsequenz aus den Anomalien der frühen Kritischen Theorie. Nur auf den ersten Blick scheint es deshalb so, als stünde die polemisch scharf profilierte und empirisch ungleich solidere Gegenposition von Garland, Neumann und Kirchheimer, die Formel vom „totalitären Monopolkapitalismus“ den ursprünglichen Intentionen der ‚Frankfurter Schule‘ näher als die Horkheimers und Pollocks. Neumanns Versuch, die Marxistische Annahme vom methodologischen Primat der Ökonomie mit einer raffinierten Argumentation doch noch zu retten und beobachteten „Funktionszuwachs“, ja, dem faktischen „Primat der Politik“ (Dubiel 1978, S. 18) kompatibel zu machen, missachtet genau die Gründe, die Horkheimer und Pollock zur Preisgabe jener „Marxistischen Annahme“ bewogen haben. Die verschwiegene Orthodoxie, die an den unhaltbar gewordenen arbeitswerttheoretischen Grundlagen des Marxismus haftet und die Gurland in einem freilich brillanten Essay noch einmal zur orthodoxen Behauptung verdichtet, der „totalitäre Monopolkapitalismus“ ruhe auf dem „technologischen Unterbau“ „chemischer Verfahren“ wie weiland der liberale Konkurrenzkapitalismus auf jener legendären Marxschen Dampfmaschine (Gurland 1981, S. 235), diese Orthodoxie ist selbst einer der wichtigsten internen Gründe für die Krise, die in der Faschismuskontroverse des Instituts aufbricht und die zum rationalen Motiv für die folgende ‚Kehre‘ Adornos und Horkheimers in eine negative Geschichtsphilosophie wurde. Die Gruppe um Neumann muss nämlich stillschweigend an den Grundannahmen der Klassenbewusstseinstheorie festhalten, um die These verteidigen zu können, der wachsende Terrorismus des Naziregimes wäre Ausdruck eines höheren Niveaus der „Widersprüche des Kapitalismus“; denn in der Zusammenbruchsmetaphorik von den sich verschärfenden Widersprüchen bleibt die Annahme eines an sich immer revolutionärer werden Kollektivsubjekts, das nur noch durch nackte Gewalt und Terror von der revolutionären Aktion zurückgehalten werden kann, zumindest latent erhalten. Weil er eine vermittelnde Stellung „zwischen den Fronten“ der Faschismuskontroverse bezieht (Marcuse 1981, S. 337 ff.), weist Marcuses Essay über „Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie“ noch am ehesten in die Richtung einer Aufhebung der Krise. Marcuse, der in dieser Arbeit zentrale Thesen des

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„Eindimensionalen Menschen“ vorwegnimmt, schließt im Begriff der „technologischen Rationalität“ zunächst eng an Webers Begriff der „formalen Rationalität“ an (vgl. Dubiel und Söllner 1981, S. 23 f.). Ähnlich wie Horkheimer und Adorno sucht Marcuse der Orthodoxie zu entkommen, indem er den Begriff der Rationalität ins Zentrum der Analyse rückt. Technologische Rationalität ist zum umfassenden „Geist“ der modernen Gesellschaft geworden, der sich heute „fast auf den gesamten Bereich des Denkens“ ausdehnt, den Lebensstil prägt (Marcuse 1981, S. 354) und „auch das kulturelle Feld okkupiert“ (Dubiel und Söllner 1981, S. 24). Als solche sprengt sie den Rahmen jeder werttheoretisch angelegten klassenspezifischen Zurechnung. Andererseits, und hier schließt Marcuse, wie Dubiel und Söllner herausarbeiten, an die Gruppe um Neumann an, ist die Vereinseitigung der Rationalität zur technologischen, die eindimensionale Auflösung der Spannung zwischen „technologischer“ und „kritischer Rationalität“, „deren Wertvorstellungen nur verwirklicht werden können, wenn sie selbst alle persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse gestaltet hat“ und die „den Prinzipien der Autonomie entspringt, welche die individualistische Gesellschaftsordnung selber zu ihren unmittelbar einleuchtenden Wahrheiten erklärt hatte“ (Marcuse 1981, S. 347), ein empirisches Problem, das aus der Dynamik der kapitalistischen Entwicklung erklärt werden muss und nicht durch ein geschichtsphilosophisches Apriori in ein analytisches Problem umdefiniert werden darf. In Marcuses Essay deutet sich eine Perspektive zur Überwindung der Krise an, die sehr viel später Habermas aufgegriffen hat. Freilich haftet am Begriff der „technologischen Rationalität“ eine Schwierigkeit, die mit dem Webermarxismus der Kritischen Theorie zusammenhängt und die eine handlungstheoretische Verengung der Verdinglichungstheorie erkennen lässt. Wie Horkheimers Begriff der „instrumentellen Rationalität“ erlaubt er nicht, zwischen den gesellschaftlichen Folgen zweckrationalen Handelns und den Rückwirkungen organisierter Sozialsysteme auf das gesellschaftliche Leben hinlänglich trennscharf zu unterscheiden. Was nun in der Krise der frühen Kritischen Theorie zum Ausdruck kommt, das Scheitern ihrer ursprünglichen Idee, eine Deutung, die Horkheimer und Adorno nach dem Krieg selbst nahegelegt haben, oder nur die Unzulänglichkeiten und unaufgelösten Schwierigkeiten des ersten Versuchs, den Marxismus – ohne dem Positivismus zu verfallen – an die empirischen Sozialwissenschaften anzuschließen, das lässt sich – wie alles in der Geschichte – erst vom Ende her sagen.

2.3

Von Horkheimer zu Habermas

Der Übergang von Grünberg zu Horkheimer war – bei äußerer Kontinuität des institutionellen Rahmens – ein innerer Bruch, in diesem Sinne ein Paradigmawechsel, wenngleich nicht der Wandel eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas. Der Wechsel von Horkheimers früher Kritischer Theorie, deren Rahmen nach dem Krieg nicht verlassen, nur auf Philosophie eingeengt wurde, zu Jürgen Habermas ist Einheit und Differenz zugleich. Die innere Einheit der Kritischen Theorie

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bleibt – gut idealistisch – in dieser Differenz gewahrt. Indem Habermas sich von Marx und Horkheimer entfernt, kehrt er zu ihnen zurück. Marx wie Horkheimer – denn das, die ‚empiristische‘ Wende der Klassenbewusstseinstheorie ist es, die ihn von Lukács trennt – wollten als Theoretiker Sozialwissenschaftler sein. Doch der erste kam von den steilen Konstruktionen der Hegelschen Logik nicht los, und der letztere blieb am Ende doch im Bannkreis des geschichtsphilosophischen Denkens. Habermas hat, nach anfänglichem Zögern, den philosophischen Ballast abgeworfen. Das heißt natürlich nicht, dass die Philosophie – oder gar das idealistische Erbe der ‚Kritik‘ – ganz aus der Kritischen Theorie verschwunden wäre. Nur, ihre Form hat sich so verändert, und ihre Rolle ist so jetzt eingegrenzt, dass sie die Entfaltung eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas beziehungsweise den kritischen Anschluss an die Paradigmen der Gesellschaftstheorie und die empirische Forschung zwanglos und ohne grundlegende ‚Anomalien‘ möglich zu machen verspricht. Das jedenfalls ist das Habermassche Programm. Indem er die formalen Aufgaben der Philosophie von den inhaltlichen Interessen der Gesellschaftstheorie scharf abgrenzt, gelingt es ihm, jene Konfudierung der philosophischen Grundlagenforschung mit substanzieller, empirisch gehaltvoller Theoriebildung, die für den älteren Hegelmarxismus so charakteristisch war, zu vermeiden, und die beiden Seiten der Kritischen Theorie, die Philosophie und die Wissenschaft in ein begründetes, systematisches Verhältnis zueinander zu setzen – insofern bleibt auch er Hegelmarxist. Aus dieser Perspektive erscheint die Krise der frühen Kritischen Theorie keineswegs wie ein Falsifikation ihrer Idee, vielmehr als Folge jener Konfudierung, deren Auflösung erst die Gesellschaftstheorie aus den Fesseln des bewusstseinsphilosophischen Denkens löst und sie auf dem kognitiven Differenzierungsniveau sozialwissenschaftlicher Paradigmata möglich macht. Nun sehen wir, wo die Einheit und wo die Differenzierung in der jüngsten Geschichte der Kritischen Theorie zu finden ist: • Die ‚Differenz‘ ist der Abschied von der Bewusstseinsphilosophie. Er begründet einen philosophisch-kategorialen Paradigmawechsel in der Zentralreferenz (bzw. im ‚ontologischen‘ Grundschema) Kritischer Theorie. • Die ‚Einheit‘ ist der sozialwissenschaftliche Kern des Marxismus. Seine Ausarbeitung, die ihn zugleich freilegt und erweitert, zeigt, dass die Kritische Theorie heute – und das war ja die geniale Intuition des jungen Horkheimer – an die Paradigmen der Sozialwissenschaft (die freilich zur Zeit der frühen Kritischen Theorie noch kaum entwickelt und noch nicht zur ‚normal science‘ geworden waren) in ähnlicher Weise anknüpfen kann wie seinerzeit Marx an die Politische Ökonomie. Ich diskutiere zunächst die Differenz, um anschließend zu zeigen, dass die „Theorie des Kommunikativen Handelns“ die Paradigmen ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘ so integriert, dass der alte Paradigmakern, die Werttheorie im semantischen Feld dieser Theorie erhalten bleibt und so erweitert wird, dass erklärt werden kann, was die Werttheorie nicht mehr erklärt: Die ökonomische Stabilität des Kapitalismus, die Integration des Proletariats, die neuen Formen der Krise und des Widerspruchs.

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a) Der Wechsel der Zentralreferenz: von ‚Kritische vs. Bürgerliche Wissenschaft‘ zu ‚System und Lebenswelt‘ Unter der Prämisse, in der Arbeitswertlehre das Organisationsprinzip moderner Gesellschaften gefunden zu haben, hat Marx das Produktionsverhältnis von Lohnarbeit und Kapital als das „epocheprägende Prinzip“ bezeichnet: „Die Begriffe, die das Wertgesetz als einen widersprüchlichen Kreislauf kennzeichnen, implizieren allesamt einen semantischen Gehalt, der nur von der Kernstruktur des sozialen Systems ‚Kapitalismus‘ her begründbar ist: das ist das Klassenverhältnis von Lohnarbeit und Kapital, zugleich die Zentralreferenz der Marxschen Theorie“ (Ritsert 1982, S. 78). Das sozialontologische Grundschema dieser Theorie kombiniert den Gesichtspunkt der schichten- bzw. klassenmäßigen Differenzierung mit dem Basis-ÜberbauSchema: Das in letzter Instanz ökonomisch bestimmte Klassenverhältnis ist die Kernstruktur der Gesellschaft. Demgegenüber waren dann, aus der Perspektive dieses Modells, die funktionale Differenzierung der Subsysteme Staat und Wirtschaft ebenso wie die strukturelle, die kulturelle und die funktionale Differenzierung der Lebenswelt (unter Gesichtspunkten jeweils der symbolischen Reproduktion, universeller Geltungsansprüche und der institutionellen Spezialisierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben) der ökonomischen Basis gegenüber insofern sekundäre Phänomene, als sie nur im Kontext des ökonomisch bestimmten Klassen-Verhältnisses angemessen interpretiert werden konnten. Würde man umgekehrt wie Habermas die Zentralreferenz bei der Differenzierung von System und Lebenswelt ansetzen und die gesellschaftliche ‚Basis‘ nicht länger auf das ökonomische Subsystem eingrenzen, sie vielmehr mit der „normfreien Sozialität“ (Lohmann) der organisierten Sozialsysteme, also mit ‚Systemintegration‘ überhaupt identifizieren, dann wäre das Marxsche „epocheprägende Prinzip“ von Lohnarbeit und Kapital nicht länger ‚epocheprägend‘: es wäre lediglich die Kernstruktur einer historisch ausgeprägten Produktionsweise im Kontext der durch die „Entkoppelung von System und Lebenswelt“ insgesamt geprägten Gesellschaftsformation (Habermas 1976b, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 169). Entsprechend hätte es den Status eines Paradigmas, das als „conceptual framework“ (v. Taylor 1973, S. 146) der empirischen Forschung vorhergeht, verloren: Seine prägende Kraft wäre ein offenes Problem ‚normalwissenschaftlicher‘ Studien im begrifflichen Rahmen von ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘ (so wie im anderen Fall die Differenzierungen von System und Lebenswelt im Rahmen von „Lohnarbeit“ und „Kapital“ zu untersuchen wären). Die Zentralreferenzen von ‚System und Lebenswelt‘ und von ‚Lohnarbeit und Kapital‘ schließen sich also wechselseitig aus – sofern sie einen paradigmatischen Status beanspruchen. An das ontologische Grundschema der Zentralreferenz schließen sich Vorstellungen über das Verhältnis des eigenen Bezugssystems zu anderen Bezugssystemen, insbesondere zu den Paradigmen der Sozialwissenschaften an. Daran lässt sich das rationale Motiv für jenen Wechsel der Zentralreferenz ablesen, den Habermas vollzogen hat. Dem alten Schema von ‚Lohnarbeit und Kapital‘ folgt die Differenzierung von Ideologie und Wahrheit, von richtigem und falschem Bewusstsein, schließlich die von bürgerlicher und kritischer Wissenschaft. Das hat mit orthodoxem Dogmatismus zunächst nichts zu tun. Die Zentralreferenz kann nämlich so wenig wie die bloße

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„Existenz des Paradigmas“ (Kuhn) per se irgendeinen Wahrheitsanspruch begründen. Das ist es, was ihren paradigmatischen Status ausmacht: Bestandteil einer wissenschaftlichen oder intellektuellen Lebenswelt zu sein. Nur innerhalb dieses Rahmens können Wahrheitsansprüche begründet werden. Die Wahrheit des zentralen Referenzrahmens selbst kann dann nur indirekt durch den Erfolg der normalwissenschaftlichen Praxis getestet und argumentativ in der Auseinandersetzung mit möglichen Gegnern verteidigt werden. Darin aber steckt genau die Schwierigkeit einer ideologiekritischen Systematisierung sozialwissenschaftlicher Paradigmata, die dem Grundschema ökonomisch differenzierter Klassen und Schichten folgt: Sie muss den eigenen Theorieansatz nämlich als Paradigmenkonkurrenz zur bürgerlichen (oder ‚konservativen‘ oder ‚traditionellen‘) Sozialwissenschaft begreifen. Damit ist ein Problem angesprochen, das sich Marx in dieser Form überhaupt nicht gestellt hat. Es ist erst für die Problemsituation des Marxismus im 20. Jahrhundert charakteristisch und ein Teil seiner Krise. Sofern Marx und Engels die bürgerliche Ideologie in Gestalt der politisch und rechtlich institutionalisierten Ideen der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution oder in Gestalt der idealistischen Philosophie kritisiert haben, passt das Schema einer Konkurrenz wissenschaftlicher Paradigmen so wenig wie bei der Kritik der bürgerlichen Apologetik (besonders der „Vulgärökonomie“). Diese Kritik schöpft nämlich einen guten Teil ihrer Kraft aus dem Rationalisierungsvorsprung der sich etablierenden modernen Wissenschaft gegenüber unwissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen Denkweisen. An die Kritik „der wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie“ (Marx 1969, S. 21) schließlich ließe die sozialwissenschaftlich-gesellschaftstheoretische Paradigmenkonkurrenz zwischen Marxistischer und bürgerlicher Soziologie aber nur unter der Prämisse anschließen, dass die im 20. Jahrhundert, also nach Marx, etablierten Sozialwissenschaften immer noch dem nämlichen ideologischen Muster, von den einsamen Robinsonaden bis zum latenten Idealismus, folgen wie die klassische Politische Ökonomie. Nach dem eindrucksvollen Aufstieg der Sozial- und Geisteswissenschaften um die Jahrhundertwende ließ sich die in der Kritik der Politischen Ökonomie ebenso überzeugend wie exemplarisch behauptete Überlegenheit des Historischen Materialismus zunächst nur durch eine eigentümliche Doppelstrategie retten: Lukács und Korsch begründen den ‚westlichen‘ Marxismus, indem sie diesen den durch Dilthey, die Hermeneutik und die Phänomenologie auf der einen, und durch Weber, Simmel und die Soziologie auf der anderen Seite repräsentierten, neuen Wissenschaften stillschweigend assimilieren und sich zugleich gegen deren Ansprüche geschichtsphilosophisch immunisieren. Die Assimilation ist die eigentlich produktive Leistung: Was Lukács mit Webers Begriff der „Rationalisierung“ unternimmt, das macht Karl Korsch mit Diltheys Begriff der „geistig-gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit“ (Korsch 1975). Doch beide müssen auf eine Geschichtsphilosophie des proletarischen Selbstbewusstseins zurückgreifen, um den Historischen Materialismus vor der zudringlichen Kritik der neuen Wissenschaften zu retten: „Wie im Wirtschaftlichen sind auch im Ideologischen Proletariat und Bourgeoisie einander notwendig zugeordnete Klassen. ... Für das Proletariat ist die Wahrheit eine siegbringende Waffe; . . . Die Wut der Verzweiflung, mit der die Wissenschaft der Bourgeoisie den historischen Materialismus bekämpft, wird dadurch verständlich“ (Lukács 1967, S. 80).

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Lukács muss sich auf eine wissenschaftliche Paradigmenkonkurrenz gar nicht erst einlassen, weil die revolutionäre Praxis den Streit zwischen Marxismus und bürgerlicher Wissenschaft entscheiden wird und der Sieg des Proletariats zugleich die geschichtliche Wahrheit verbürgt. Ähnlich Korsch: „Der wirkliche Gegensatz zwischen dem wissenschaftlichen Sozialismus Marxens und allen bürgerlichen Philosophien und Wissenschaften beruht vielmehr allein darauf, daß dieser wissenschaftliche Sozialismus der theoretische Ausdruck eines revolutionären Prozesses ist, der mit der völligen Aufhebung dieser bürgerlichen Philosophien und Wissenschaften, zugleich mit der Aufhebung derjenigen materiellen Verhältnisse, die in diesen Philosophien und Wissenschaften ihren ideologischen Ausdruck gefunden hatten, endigen wird“ (Korsch 1975, S. 109).

Erst Horkheimer bricht mit der geschichtsphilosophisch verbürgten Erwartung der bevorstehenden Weltrevolution und stellt sich der Herausforderung der empirischen Sozialwissenschaften. Freilich nimmt die frühe Kritische Theorie nur zögernd von der Bewusstseinsphilosophie Abschied. Diese bleibt als gleichsam marginalisierter Rest der Klassenbewusstseinstheorie in der Horkheimerschen Version der Unterscheidung von Marxismus und bürgerlicher Wissenschaft erhalten: Auch die Differenzierung von ‚traditioneller‘ und ‚kritischer‘ Theorie folgt der „ökonomisch grundlegenden Struktur“, dem „Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt“ und der „Idee seiner Aufhebung“ (Horkheimer 1937, S. 182), in der die Kritische Theorie im „Selbstbewußtsein der Subjekte einer großen geschichtlichen Umwälzung“ zur „realen Macht“ der hegel-marxistischen ‚Vernunft in der Geschichte‘ „wird“ (Horkheimer 1937, S. 179). Auch Horkheimer will sich nicht auf die wissenschaftliche Paradigmenkonkurrenz einlassen und sichert die Wahrheit der Kritischen Theorie vorgängig in einer Geschichtsphilosophie des revolutionären Selbstbewusstseins. Diese Rückversicherung beim philosophischen Wahrheitsbegriff lässt den späteren Abschied der frühen Kritischen Theorie von den Fachwissenschaften als innere Konsequenz der alten Zentralreferenz erscheinen. Freilich kontrastiert dieser abstrakte Gegensatz von ‚traditioneller‘ und ‚kritischer‘ Theorie eigentümlich mit der auf derselben Seite seines Aufsatzes wiederholten Idee einer Kritischen Theorie der Gesellschaft, die immanent an die ‚traditionelle‘ anschließt: „Wird die theoretische Anstrengung, die im Interesse einer vernünftig organisierten zukünftigen Gesellschaft die gegenwärtige kritisch durchleuchtet und anhand der in den Fachwissenschaften ausgebildeten traditionellen Theorien konstruiert, nicht fortgesetzt, so ist der Hoffnung, die menschliche Existenz grundlegend zu verbessern, der Boden entzogen“ (Horkheimer 1937, S. 181).

Dieser Widerspruch zwischen ihrer gesellschaftstheoretischen Idee und ihren philosophischen Grundlagen ist der frühen Kritischen Theorie inhärent. Im Zuge der Krise hat sie sich zunächst auf die philosophische Seite dieses Widerspruchs zurückgezogen. Erst im sehr viel späteren dialektischen Gegenzug hat Habermas den philosophischen Paradigmawechsel vollzogen, um die Idee der Gesellschaftstheorie wieder aufzugreifen.

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Dieser kategoriale Paradigmawechsel vom ‚Bewusstsein‘ zur ‚Sprache‘, von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ zur ‚Intersubjektivität‘ schließt die Preisgabe jenes alten, um das ökonomische Klassenverhältnis zentrierten Referenzrahmens nicht nur aus empirischen Gründen (‚Integration des Proletariats‘ etc.), sondern auch systematisch ein. Denn die werttheoretisch fundierte Zentralreferenz von ‚Lohnarbeit und Kapital‘ lässt sich zwar von der Bewusstseinsphilosophie loskoppeln (Ritsert 1973, 1981), doch die Bindung dieses Modells an ‚Arbeit‘, ‚Produktion‘ und ‚Produktionsverhältnisse‘ hat schwer vermeidbare instrumentalistische Implikationen, die die Formen der Intersubjektivität so erscheinen lassen, als wären sie immer schon durch die Subjekt-Objekt-Relation der Arbeitsverhältnisse bestimmt. Demgegenüber lässt das Grundschema von ‚System und Lebenswelt‘ die Frage offen, ob nicht „die eigentlich produktiven Kräfte, die vernünftigen Potenziale, eher in den Verständigungs- als in den Arbeitsverhältnissen angelegt“ sind (Habermas 1987, S. 425). Ich möchte abschließend zeigen, dass der Anschluss der Kritischen Theorie an die Paradigmen von System und Lebenswelt, wenn er auch die Rolle der Werttheorie als Organisationsprinzip der Gesellschaftsformation zurückweist und deshalb mit der Zentralreferenz von ‚Lohnarbeit und Kapital‘ unvereinbar ist, doch den alten Paradigmakern, eben jene Werttheorie im semantischien Feld als Spezialfall erhält. Die gesellschaftstheoretische Struktur der Werttheorie lässt sich nämlich aus der Perspektive der in den vergangenen 100 Jahren entwickelten Paradigmen der Soziologie als Modellfall einer kritischen, die ideologischen Beschränkungen der etablierten Paradigmen aufhebenden, Integration von System- und Handlungstheorie begreifen. Insofern behält sie etwas von ihrem exemplarischen Charakter. b) Die Werttheorie als Spezialfall einer kritischen Integration der Paradigmen ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘: der Warenfetischismus und „die Herrschaft des verfluchten Metalls als Modell für die Kolonialisierung der Lebenswelt Freilich nur unter der Prämisse, dass die Kritische Theorie sich nicht als „Konkurrent“ der „etablierten Forschungsrichtungen“ selbst missversteht, an diese vielmehr kritisch anknüpft, indem sie erklärt, „worin die spezifische Beschränkung und das relative Recht jener Ansätze besteht“ (Habermas 1981c, S. 550), bleibt die Werttheorie mit der Theorie des kommunikativen Handelns kompatibel. In einem solchen Verfahren hat Marx das von ihm exemplarisch an der Politischen Ökonomie entwickelte Wesen der immanenten Kritik gesehen. Sie ist „Einheit von Kritik und Darstellung“ (Lohmann 1980, S. 237): „Die Kritik der ökonomischen Kategorien ... (ist) das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung und durch die Darstellung Kritik desselben“ (Marx und Engels 1954, S. 80). Der gesellschaftstheoretische Gehalt der Werttheorie ist ein Erklärungsschema für die – zuerst von Sohn-Rehtel untersuchte – Realabstraktion in den Austauschibeziehungen zwischen ökonomischem System und Lebenswelt: Sie soll die Umstellung eines Handlungsbereichs von der normativen Koordinierung der Handlungsorientierungen auf die funktionale Koordinierung der beobachtbaren Handlungsfolgen erklären, die Abkoppelung des ökonomischen Systems vom Verständigungshorizont der

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Lebenswelt (Habermas 1981c). Marx versteht das Geld als systemintegratives Medium „normfreier Sozialität“: „Geld ... ist keine bloß vermittelnde Form des Warentauschs. Es ist eine aus dem Zirkulationsprozeß hervorgewachsene Form des Tauschwerts, ein gesellschaftliches Produkt, das sich durch die Beziehungen, worein die Individuen in der Zirkulation treten, von selbst erzeugt. Sobald Gold und Silber (oder jede andere Ware) als Wertmaß und Zirkulationsmittel (sei es als letztres in ihrer leiblichen Form oder durch Symbol ersetzt) sich entwickelt haben, werden sie Geld, ohne Zutun und Wollen der Gesellschaft. Ihre Macht erscheint als ein Faktum, und das Bewußtsein der Menschen, besonders in gesellschaftlichen Zuständen, die an einer tiefern Entwicklung der Tauschverhältnisse untergehn, sträubt sich gegen die Macht, die ein Stoff, ein Ding ihnen gegenüber erhält, gegen die Herrschaft des verfluchten Metalls, die als reine Verrücktheit erscheint. Es ist im Geld zuerst, und zwar in der abstraktesten, daher sinnlosesten, unbegreiflichsten Form – eine Form, in der alle Vermittlung aufgehoben ist – ‚worin die Verwandlung der wechselseitigen gesellschaftlichen Beziehungen in ein festes, überwältigendes, die Individuen subsummierendes gesellschaftliches Verhältnis erscheint. Und zwar ist die Erscheinung um so härter, als sie hervorwächst aus der Voraussetzung der freien, willkürlichen, nur durch die wechselseitigen Bedürfnisse in der Produktion sich aufeinander beziehenden, atomistischen Privatpersonen“ (Marx 1953, S. 928).

Geld ist also, (a) ein systemischer („selbst erzeugt“), (b) intentions- und motivloser („ohne Zutun und Wollen“) Mechanismus der Handlungskoordinierung, der (c) einen Bereich normfreier Sozialität (ein „festes ... gesellschaftliches Verhältnis“) (d) aus dem Verständigungshorizont der Lebenswelt („wechselseitige gesellschaftliche Beziehungen“ der „Individuen; „sinnvoll“ und „begreiflich“) herausgelöst („abstrahiert“ = „sinnlos“, „unbegreiflich“, aus der Teilnehmerperspektive „verrückt“) und (e) den Effekt einer Kolonialisierung der Lebenswelt haben kann („die Herrschaft des verfluchten Metalls“, die jede kommunikative „Vermittlung aufhebt“) und sich (f) der Paradoxie der Rationalisierung der Lebenswelt verdankt, weil er erst aus der rationalisierten Lebenswelt „hervorwächst“. In mehreren Argumentationsschiritten lässt sich die Werttheorie an die Theorie des kommunikativen Handelns anschließen: 1. Das Marxsche Problem ist, die Geschichte einerseits als eine von Klassenkämpfen, d. h von normativ vermittelten Interaktionsbeziehungen zwischen Klassen, zwischen Avantgarden und Massen und zwischen den einzelnen Gruppen und Akteuren in praktischer Absicht zu rekonstruieren und andererseits dieselbe Geschichte als objektive Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, als einen nicht nur symbolisch sondern durch den Umgang mit harten, widerständigen Sachen vermittelten Arbeitsprozeß theoretisch zu erklären und zu begreifen. Marx „ist der Autor des 18. Brumaire wie des Kapitals“ (Habermas 1973, S. 49). 2. Die Lösung dieses Problems ist die Werttheorie. 3. Sie soll mit einem dialektischen Handstreich alle Probleme in einem lösen: das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Notwendigkeit und Freiheit, von Basis und Überbau, von objektiven Strukturen und subjektiven Orientierungen, von Darstellung und Kritik, von ökonomischem Zusammenhalt und revolutionärer Auflösung, von Stabilität und Krise.

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4. Das Stichwort, das die Lösung enthält, heißt: „Doppelcharakter der Ware“. Das Tauschverhältnis ist zugleich derjenige ökonomische Steuerungsmechanismus, der das Funktionieren des ökonomischen Kreislaufs ceteris paribus erklärt, und es ist ein Reflexionsverhältnis, das den „kapitalistischen Wirtschaftsprozeß ... als Klassenverhältnis, d. h. als eine entzweite sittliche Totalität verständlich macht“ (Habermas 1974, S. 64). Das Wertgesetz, die „invisible hand“, Marktgesetze und -mechanismen sind in den institutionellen Rahmen des Vertragsrechts, der letzten Endes ausschlaggebende Tausch von Arbeitskraft gegen variables Kapital ist in die „Institution des Arbeitsvertrags“ eingebunden (Habermas 1976a, S. 223). Die Werttheorie ist Kritik des Warenfetischs, der Subsumtion lebendiger unter die tote Arbeit, der Ausbeutung und des „Diebstahls fremder Arbeitszeit“, des „Leids“ produktiver Arbeit, der Zerstörung des „individuellen Eigentums“ durch das „Privateigentum“ (vgl. Marx 1969, S. 85 ff., 209, 271, 532, 635, 791 u. v. a. m.; ders.: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin, 1953, S. 582 ff., 592 ff.), und sie ist diese Kritik indem sie „unmittelbar Systemanalyse des wirtschaftlichen Reproduktionsprozesses“ ist (Habermas 1973, S. 49). Das Marxsche ‚Kapital‘ enthält das Kapitel über das Gesetz vom Fall der Profitrate und das Kapitel über den Kampf um den Normalarbeitstag. Das ökonomische Kreislaufmodell ist um den Konflikt von Lohnarbeit und Kapital zentriert (vgl. Ritsert 1973). 5. Wie ist nun die Beziehung von „Steuerungsmechanismus“ und „Reflexionsverhältnis“? Habermas spricht hier zunächst metaphorisch von „Abbildung“. Probleme der Systemintegration (Ebene der „Steuerungsmechanismen“) sollen auf der Ebene der Sozialintegration (,,Reflexionsverhältnisse“) abgebildet werden: das sei der forschungsstrategische Sinn der Werttheorie. Im ‚Kapital‘ wird deshalb die Theorie der proletarischen Revolution als objektive Kreislauftheorie und Analyse rein ökonomischer Wertverhältnisse durchgeführt. Dieser, wie Habermas sagt, „Durchgriff“ „durch systemtheoretische Zusammenhänge auf Interaktionsstrukturen“ (Habermas 1974, S. 64) erlaubt es Marx einerseits beispielsweise das bürgerliche Rechtssystem auf das ökonomische System hin durchsichtig zu machen, Überbauphänomene wie „Freiheit, Gleichheit und Bentham“ aus der Perspektive der objektiven Basis als Schattenspiele zu entzaubern, andererseits objektivistische Missverständnisse der Kritik der politischen Ökonomie zu entkräften; denn der Doppelcharakter der Ware ist real: der Schein ist, wie der vom Neukantianismus kommende Sohn-Rehtel sogleich erkannt hat (Sohn-Rethel 1970; Brunkhorst und Koch 1979, S. 28), konstitutiver Schein, hegelianisch gesprochen, ein dem Wesen wesentlicher Schein (vgl. Bubner 1973, S. 68 ff.). 6. Schließlich lässt sich das Verhältnis der zwei Dimensionen der Werttheorie als Zweisprachenkonzept explizieren: Aussagen über Verwertungsprozesse des Kapitals sind durch Zuordnungs- oder Übersetzungsregeln mit solchen über Vorgänge zwischen sozialen Klassen so verknüpft, dass sich erstere in letztere rückübersetzen lassen. Der Begriff des Kapitals „ist ebenso sehr ein Wertausdruck, mit dem Aussagen auf der analytischen Ebene des ökonomischen Systems gebildet werden können, wie auch Ausdruck für ein Klassenverhältnis, das in handlungstheoretischen Grundbegriffen analysiert werden kann“ (Habermas 1974, S. 49; 1976 S. 223).

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Das lässt sich (a) weiter präzisieren und (b) im Anschluss an die glänzende Marxinterpretation von Ernst Michael Lange (1978, S. 1 ff.) als linguistische Rekonstruktion der Wertform entwickeln. (a) Zunächst ist wichtig, dass die „Verwertungssprache“ Lv (in der die Aussagen über Verwertungsprozesse formuliert sind) und die „Klassensprache“ Lk (in der die Aussagen über soziale Klassenverhältnisse formuliert sind) nicht wie bei Carnap einerseits Theoriesprache, andererseits Beobachtungssprache ist, sondern daß es sich bei Lv ebenso wie bei Lk um verschiedene Theoriesprachen handelt (wobei allerdings lediglich Lv eine streng oder rein kognitive Theoriesprache im Sinne der analytischen Wissenschaftstheorie ist). Wodurch aber unterscheiden sich die theoretischen Begriffe von Lv von denen von Lk? Dadurch, daß sie durch unterschiedliche pragmatische Rollen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verknüpft sind – und zwar im Falle Lv durch die Rolle des neutralisierten, teilnahmslosen Beobachters und im Falle Lk durch die Rolle des engagierten und betroffenen Interaktionsteilnehmers. Die „Verwertungssprache“ ist dementsprechend durch eine Beobachtungssprache Lvb mit der sozialen Wirklichkeit und die „Klassensprache“ durch eine Teilnehmersprache Lkt, eine nicht wertfreie, praktische Sprache des wirklichen Lebens, mit der sozialen Realität verknüpft. Referenzebene von Lv bzw. Lvb ist das soziale System (in dessen Umwelt die „interpenetrierenden“ Personen abgedrängt sind). Referenzebene von Lk bzw. Lkt ist die (anthropozentrische) soziale Lebenswelt. Wie das Schema zeigt, gibt es entsprechend vier Klassen von Zuordnungsregeln: Z2

Lv Z1

System

Lvb Z4

Z3

Theoriesprachen

Erfahrungssprachen

Lv =

Verwertungssprache Lk =

Klassensprache Lvb == Beobachtungssprache Lkt =

Teilnehmersprache

Lebenswelt

Lkt

Lk

Z4

Z1….Z4 =

Zuordnungsregeln

Referenzklassen (Objektbereiche)

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H. Brunkhorst

Um die Zuordnungsregeln Z1 und Z4 geht es, wie Lange gezeigt hat, bei den bekannten Problemen der dialektischen Darstellung der Werttheorie, beim Geldrätsel usw. Die Aufstellung von Zuordnungsregeln des Typs Z2 erlaubt empirische Tests der Marxschen Theorie (klassische Beispiele: Untersuchungen über zyklische Krisen von Marx bis Mandel); bei Sprachregeln vom Typ Z3 kommt es dagegen darauf an, ein den handlungstheoretischen Annahmen des Historischen Materialismus korrespondierendes Alltagsbewusstsein beim potenziellen Adressaten auszumachen: es geht um die Bewahrung praktischer Hypothesen in sozialen Lernprozessen (klassisches Beispiel: 18. Brumaire, 8. Kapitel des ‚Kapital‘). Z3-Regeln verweisen auf das Problem des Klassenbewusstseins und die (zweite) Entstehung des Proletariats „als Lernprozess“ (Verster 1970). In Zuordnungsregeln vom Typ Z4 reflektiert sich überdies das Sozialforschern bekannte Problem der „doppelten Operationalisierung“ und „doppelten Sozialisation“ (vgl. Ritsert und Brunkhorst 1978), politisch-praktisch das der Agitation. Das Ganze lässt sich, in Rückerinnerung an die ersten Kapitel des ‚Kapitals‘, vielleicht durch folgende Beispielsätze und Begriffe weiter verdeutlichen: Theoretische Lv-Begriffe sind z. B. ‚abstrakte Arbeit‘ und ‚Wert‘, eine theoretische Aussage in Lv wäre dann Marxens Behauptung, abstrakte Arbeit läge dem Wert der Waren zugrunde. Handlungstheoretische Lk-Begriffe sind z. B. ‚konkrete Arbeit‘, ‚Warenfetischismus, aber auch ‚Klasseninteresse‘ oder ‚Klassenbewusstsein‘. Eine in der Geschickte des Marxismus sicher bedeutsame These in reinen Lk-terms war die Unterstellung eines inneren Zusammenhangs von konkreten Arbeitsbedingungen (der berühmten ‚Klassenlage‘ oder, anders formuliert, der ‚Lebenswelt der Arbeiter‘) und der Entstehung oder Hemmung von ‚Klassenbewusstsein‘. Solche gemischten Sätze schließlich, die Zusammenhänge zwischen Verwertungsbedingungen des Kapitals und Klassenbewusstsein postulieren, sind Beispiele für rein theoretische Zuordnungsregeln Z1. Ein berühmtes Beispiel aus den ersten Seiten des Kapitals ist die Marxsche These von der Reduktion konkreter Arbeit auf abstrakte Arbeit. Auch das Zusammenbruchsgesetz, sofern es einen Zusammenhang von ökonomischer Krise und Revolution postuliert, ist eine typische Z1-Regel. Sätze einer Sprache, in der sich sinnliche Erfahrungen im Umgang mit Menschen und Dingen ausdrücken, sind: 1. aus der Perspektive des neutralen Beobachters Behauptungen über die Wertäquivalenz zweier bestimmter Warenmengen (Lvb), 2. aus der Perspektive des tauschenden Interaktionsteilnehmers die Annahme, daß dieser für eine bestimmte Menge Waren eines bestimmten Typs andere Waren anderen Typs rauszurücken bereit sei, x Ware A für ihn also y Ware B wert sei (Lkt). Gemischte Sätze Z4 sind dann alle diejenigen Aussagen im ‚Kapital‘, die sich auf die Widersprüche der einfachen Wertform und ihre Auflösung beziehen, also z. B. die, die den Lvb-Satz „x Ware A – y Ware B“ mit dem Lkt-Satz „x Ware A ist y Ware B wert“ durch das logische Partikel „oder“ verknüpft (hierzu vgl. die Ausführungen des nächsten Absatzes und die Interpretation von Lange). Ein Beispiel für

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eine Z2-Aussage ist die These, dass die Tauschäquivalenz von x Ware A und y Ware B sich durch das gleiche Quantum abstrakter Arbeit in x Ware A und y Ware B erklären ließe. Und schließlich wäre die Vermutung, dass bestimmte Waren für eine bestimmte soziale Klasse oder Klassenfraktion oder Organisation oder einzelne Akteure von besonderem Wert seien, weil sie aus einer bestimmten (Klassen-)Lage heraus handelten, ein Beispiel für Zuordnungsregeln vom Typ Z3 (also z. B.: ‚die Arbeiter des Betriebs P zum Zeitpunkt Q versuchen durch Streiks möglichst hohe Löhne für ihre Arbeitskraft zu erzielen, weil sie die gleichen Klasseninteressen haben, und umgekehrt versucht der Kapitalist aus dem umgekehrten Klasseninteresse heraus die Löhne zu drücken‘). (b) Auf dem Hintergrund von Langes Marxinterpretation ist es nun in der Tat möglich, das Zweisprachenmodell bis in die Feinheiten der Wertformanalyse nachzukonstruieren. Ich kann das hier nur andeuten. Lange ist nämlich eine überraschende Lösung der berühmten Widersprüche der einfachen Wertform gelungen, die sich bekanntlich über die Geldform bis in die einzelnen Formationen des ‚Kapitals‘ durch Marx’ Hauptwerk hindurchziehen und immer wieder den einen zu hegelianisierenden dialektischen Spracheskapaden, den anderen zum „Nachweis“ logisch falschen Denkens bei Marx Anlass waren. Die Wertgleichheit: (I) „x Ware A = y Ware B“(Lvb) wird nämlich von Marx adjunktiv, d. h. wahrheitsäquivalent mit der prädikativen Bestimmung der Ware A in Maßeinheiten der Ware B: (Ü) „x Ware A ist y Ware B wert“ (Lkt) verknüpft (Z4). Der Widerspruch ist offenkundig: So symmetrisch die Formel I ist, so asymmetrisch ist die Formel Ü. Denn es ist nicht dasselbe, Perlen in Öl-Einheiten zu messen wie Öl in Perlen. Beide Formeln beziehen sich auf den gleichen Vorgang, aber sie sind wahr oder falsch relativ auf verschiedene illokutionäre Rollen: Aus der Perspektive des neutralen Beobachters ist Formel I dem Sachverhalt der Wertgleichheit zweier Warenmengen angemessen, Formel Ü hingegen nur, sofern auch ihre Umkehrung: (ÜI) „y Ware B ist x Ware A wert“ (Lkt) gilt. Für den konstatierenden Beobachter reduziert sich die Formel Ü auf Formel I aber nur dann, wenn der Beobachter systematisch von der situationsgebundenen, lebensweltlich durch sozial interpretierte und normativ lizensierte Bedürfnisse gebrochenen Perspektive des handelnden Interaktionsteilnehmers, des konkreten, auf dem Markt anwesenden Tausch-Akteurs abstrahiert. Durch die postulierte Wertgleichheit der Formel (I) wird die Lebenswelt des Marktes technisiert. Im Unterschied zur Formel (I) wahrt nun die Formel (Ü) genau die lebensweltliche Perspektive des handelnden Akteurs: Für diesen ist die Umkehrung der Formel (Ü) sinnlos, er hat 30 wertvolle Perlen und will 10 Gallonen Öl, und da er kein Öl hat, kann er auch keine Perlen haben wollen, und er würde auch unter anderen Umständen keineswegs selbstverständlich bereit sein, hätte er 10 Gallonen Öl, diese für 30 Perlen rauszurücken (Formel ÜI) – wohl aber umgekehrt (Formel Ü). Die Beobachterperspektive ist also der des Systemtheoretikers äquivalent, seine Sprache, die „Verwertungssprache“, mit der er beständig die Teilnehmerperspektive zu identifizieren trachtet, um den Interaktionsteilnehmer in einen rational kalkulierenden, einsamen Akteur zu verwandeln. Der Teilnehmer aber wird

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nur als idealisierter Grenzfall, als „homo oeconomicus“ oder als „Personifikation ökonomischer Kategorien“, als „Privateigentümer“ diese Verwandlung mitmachen. Denn die Teilnehmerperspektive bleibt in den Traditionszusammenhang der Lebenswelt eingebettet; und sollte sie mit der handlungstheoretischen Perspektive des historischen Materialismus übereinkommen, dann würde die „Klassensprache“, klassenbewusst geworden, der „Verwertungssprache“ widersprechen. Eine Rekonstruktion deutet sich somit an, die überdies den dialogischen Sinn von Dialektik wahrt. Damit wäre gezeigt, dass die Werttheorie sich als exemplarisches Modell für die Integration von Handlungs- und Systemtheorie verstehen lässt – dann jedenfalls, wenn man ihren gesellschaftstheoretischen Gehalt von seinen bewusstseinsphilosophischen Schranken ablöst. Die „Herrschaft des verfluchten Metalls“ erweist sich freilich bei genauerem Hinsehen nur als eine faktische Interpretation eines umfassenderen Modells, das als systematisches Äquivalent für die in hoffnungslose Anomalien verstrickte Werttheorie gelten kann. Die in der Theorie des kommunikativen Handelns fundierte Kritische Theorie der Gesellschaft erlaubt es, die Bürokratisierung und den inneren Imperialismus der Macht als weitere Interpretation ihres theoretischen Modells zu analysieren – ohne umgekehrt die Gesellschaftstheorie auf eine ‚Mikrophysik der Macht‘ zu reduzieren und den Kapitalismus ganz zu vergessen. Die „kommunikationstheoretische Wende“ (Habermas 1981b, S. 531) schließlich bewahrt sie vor dem müßig gewordenen Unternehmen, „den verwehten Spuren eines revolutionären Bewusstseins nachzujagen“ (Habermas 1981c, S. 522) ebenso wie vor dem Rückfall in den neueuropäischen Irrationalismus der jungkonservativen Revolte gegen die Macht und das Wissen – weil sie die Sinne für die Vernunft in der Geschichte der Verständigungsverhältnisse schärft. Die Einlösung dieses immer schon wirksamen Vernunftanspruchs bleibt der utopische Horizont der Kritischen Theorie.

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Ideologiekritik Die Ideologiekritik der Kritischen Theorie Jan Rehmann

Zusammenfassung

In der Absicht, die weitgehend getrennten und z. T. sogar entgegengesetzten Stränge der Ideologiekritik und Ideologietheorie wieder zusammenzuführen, wird eine Neulektüre der Ideologiekritik der Kritischen Theorie versucht, die sich auf die fruchtbaren Überschneidungen sowie Unterschiede mit ideologietheoretischen Ansätzen im Gefolge von Gramsci, Althusser und dem Projekt Ideologietheorie konzentriert. Das Institut für Sozialforschung hatte das Verdienst, entgegen dem vorherrschenden Marxismus der II. und III. Internationalen an Marxʼ kritischem Ideologiebegriff festzuhalten. Im Unterschied mit der Dialektik der Aufklärung einsetzenden Entwicklung war der frühe Horkheimer stark an den inneren Widersprüchen der ideologischen Werte interessiert. Entgegen einer weitverbreiteter Interpretation war er nicht so sehr von Lukácsʼ totalisierendem Konzept der Verdinglichung beeinflusst, sondern kann eher einer „Praxis-Philosophie“ im Sinne Labriolas und Gramscis zugeordnet werden. Von ca. 1939 an tendierten Horkheimer und Adorno dazu, die überwältigende Hegemonie des US-amerikanischen Fordismus theoretisch zu reproduzieren, indem sie Ideologie und Massenkultur als ein „lückenlos geschlossenes Dasein“ nach Art eines tragischen Schicksals behandelten. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland verkündeten sie 1954 einen

Das Manuskript wurde im Sommersemester 2015 in meinem Blockseminar „Ideologiekritik, Ideologietheorie und Hegemonieanalyse“ am Philosophischen Seminar der FU Berlin diskutiert. Für Kritik und wertvolle Hinweise bedanke ich mich insbesondere bei W. F. Haug, Michael Rahlwes, Max Köhler, Ines Schwerdtner, Daniel Queiser, Janna Hilger, Henrike Kohpeiß, Martin Küpper, Myriel Ravagli und Almut Woller. J. Rehmann (*) Union Theological Seminary New York, New York, USA Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_38

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Abschied vom Ideologiebegriff, führten aber in Wirklichkeit ihre Ideologiekritik als radikal verallgemeinerte Kritik an „instrumenteller Vernunft“ und „Identitätsdenken“ fort. Zu Recht kritisierte Habermas ihr monolithisches Vernunftkonzept, aber seine Dichotomie von Arbeit und Interaktion, instrumentelle und kommunikative Vernunft beraubte die Kritische Theorie ihres ideologiekritischen Stachels und ebnete den Weg zu ihrer normativen Re-Ideologisierung. Schlüsselwörter

Aufklärung · Dialektik · Feminismus · Fetischcharakter · Identitätsdenken · Ideologietheorie · Immanente Kritik · Instrumentelle Vernunft · Interaktion · Kommunikative Vernunft · Kritische Theorien · Kulturindustrie · Lebenswelt · Massenkultur · Marxismus · Philosophie der Praxis · Psychoanalyse · Stalinismus · Verdinglichung Ideologiekritik ist so eng und grundlegend mit dem Gesamtprojekt der Kritischen Theorie verwoben, dass sie nicht als eigenes abgegrenztes Thema herausgelöst werden kann. Wiederum wäre es unrealistisch und vermessen, sie in Gänze und in allen ihren Verzweigungen behandeln zu wollen. Exemplarische Schwerpunktsetzungen sind unabdingbar. Zunächst solche, die der eigenen Untersuchungsperspektive geschuldet sind: ich teile Rahel Jaeggis Diagnose, dass das Ideologische oder die ideologische Wirkungsweise der Herrschaft nicht weniger geworden ist, und es deshalb darum gehen muss, die Ideologiekritik zu revitalisieren, und zwar als Teil der Herrschaftskritik und als „Ferment eines praktischen Transformationsprozesses, der beides, die (soziale) Realität und deren Auffassung betrifft.“ (Jaeggi 2009, S. 277; ebd. 269 ff.) Zu diesem Zweck konzentriere ich mich darauf, die Stränge der Ideologiekritik und der Ideologietheorie, die sich weitgehend getrennt und gegeneinander entwickelt haben, wieder miteinander in Dialog zu bringen. Die unfruchtbare Entgegensetzung hing u. a. damit zusammen, dass die AlthusserSchule unter Berufung auf einen theoretischen Antihumanismus zentrale Begriffe der Ideologiekritik wie z. B. Entfremdung, Fetischismus, Verdinglichung als humanistische Ideologeme verworfen hat. Ziel einer solchen Vermittlung ist die Erneuerung einer Ideologiekritik, die mit einer Theorie des Ideologischen als „begrifflichem Hinterland“ operieren kann (Haug 1993, S. 21). Gesucht ist daher nach Aspekten der Kritischen Theorie, die gegenseitige Befruchtungen möglich machen, was natürlich auch erfordert, die Blockierungen zu benennen, die solchen fruchtbaren Begegnungen im Wege stehen. Um die Ideologiekritik der frühen Kritischen Theorie verstehen zu können, ist es zunächst wichtig, sie im Kontext der zeitgenössischen Ideologiediskussionen zu verorten. Kennzeichnend war hier vor allem eine grundlegende Verschiebung in der Generation nach Marx und Engels, bei der deren kritischer Ideologiebegriff durch einen „neutralen“ ersetzt wurde. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass bereits das Festhalten am Marxschen Projekt der Ideologiekritik ein großes Verdienst des Instituts für Sozialforschung darstellte. Meine Darstellung konzentriert sich zunächst auf die nach wie vor wenig beachtete Ideologiekritik des frühen Horkheimer, die sich vom späteren Paradigma der Dialektik der Aufklärung in relevanten Punkten

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unterscheidet. Zu berichtigen ist dabei eine weitverbreitete, auch von mir selbst vertretene überallgemeine Zuschreibung, der zufolge die Kritische Theorie ihren Ideologiebegriff von der Verdinglichungskritik in Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein übernommen hätte (vgl. Rehmann 2008, S. 71). Was in gewissem Sinn für Adorno und die Entwicklung ab der Dialektik der Aufklärung zutrifft, gilt gerade nicht für den frühen Horkheimer, der direkt an den Feuerbachthesen und der Deutschen Ideologie ansetzte und von dort aus Ideologiekritik entwickelte, die sich den lukácschen Totalisierungstendenzen widersetzt, und die man in Anlehnung an Labriola und Gramsci als „praxisphilosophisch“ bezeichnen könnte. Zu rekonstruieren ist im Anschluss, wie sich ab 1939 unter dem Eindruck der Stalinisierung in der Sowjetunion und der Hegemonie des amerikanischen Fordismus die Kritische Theorie nicht mehr „auf die Revolution hin gedacht wird, sondern von ihr weg, [um] Möglichkeiten von Befreiung(s-Theorie) nach der Niederlage zu konzipieren“ (Steinert 2007, S. 226). Spätkapitalistische „Massenkultur“ und „Kulturindustrie“ erscheinen als Agenturen eines „lückenlos geschlossenen Daseins“, die „Vernunft“, die der frühe Horkheimer noch als Kampffeld gegensätzlicher Interessen analysiert hat, tritt als Herrschaftsinstrument über Mensch und Natur auf. Meine Darstellung interessiert sich für undialektische Entdifferenzierungen der Kritik und versucht zugleich, ihre analytischen Errungenschaften festzuhalten und gegen illusorische Konzepte eines spätbürgerlichen Medienpluralismus sowie gegen populistische Pauschalzuschreibungen eines „Elitismus“ zu verteidigen. Auf widersprüchliche Weise wird 1954 die Ideologiekritik verabschiedet und doch in radikaler Verallgemeinerung als Vernunftkritik weitergeführt. Am Beispiel von Habermas’ Kritik an Marcuse wird gezeigt, wie dessen tastende Denkversuche einer alternativen Rationalität in Technik und Wissenschaft durch Habermas’ Dichotomie von Arbeit und Interaktion abgewürgt werden – ein Verfahren, das sich für die Entwicklung einer ökologischen Kapitalismuskritik als außerordentlich schädlich erwiesen hat. Habermas’ Rückgang auf Webers Modernisierungstheorie wird als Rückschritt kritisiert, da er die ideologiekritischen Potenziale der Kritischen Theorie entsorgt und damit einer bis heute anhaltenden Re-Ideologisierung der Frankfurter Schule den Boden bereitet hat. Der Kontext: Die Neutralisierung der Marxschen Ideologiekritik im Marxismus Marx und Engels hatten in der Deutschen Ideologie einen kritischen Ideologiebegriff im Sinne einer idealistischen Verkehrung entwickelt, bei der „die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen“ (MEW 3, S. 26). Diese Verkehrung wurde von späteren Ideologietheoretikern wie Althusser, Stuart Hall und Eagleton als bloße „Bewusstseinsform“ und als „falsches Bewusstsein“ gelesen und kritisiert (vgl. den Überblick in Rehmann 2008, S. 24–33). In Wirklichkeit verorteten Marx und Engels sie in der Entstehung von Klassen- und Staatsherrschaft und hier spezifisch in der damit einhergehenden gesellschaftlichen Teilung von materieller und geistiger Arbeit: erst kraft dieser „kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches

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vorzustellen“, erst jetzt kommt es „zur Bildung der ,reinen‘ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral“ (MEW 3, S. 31), die, abgetrennt von den Verhältnissen, von spezifischen Intellektuellengruppen „als Beruf, d. h. als Geschäft“ betrieben werden (MEW 363; vgl. S. 405, 539 f.). Diese historisch-materialistische Verankerung macht deutlich, dass die Camera obscura nicht so sehr als Metapher für „falsches Bewusstsein“, sondern für eine „idealistische Superstruktur“ der Klassengesellschaft (S. 36) zu verstehen ist, die der Kopfarbeit der Intellektuellen eine privilegierte Sphäre zuweist. Eine zweite Variante der Ideologiekritik lässt sich beim späten Engels beobachten, der anknüpfend an die Deutsche Ideologie den Ideologiebegriff in einer kritischen Staatstheorie verankert: „Im Staate stellt sich uns die erste ideologische Macht über den Menschen dar“, nämlich als eine „aus der Gesellschaft hervorgegangen, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht“, die zweite ideologische Macht sei das Recht, durch das „die ökonomischen Tatsachen die Form juristischer Motive annehmen müssen“, es folgen die „höheren, d. h. noch mehr von der ökonomischen Grundlage sich entfernenden Ideologien“ der Philosophie und Religion (MEW 21, S. 302, S. 165). An diese Bestimmungen konnten spätere Ideologietheorien anschließen, die die institutionelle Materialität der ideologischen Apparate, ihrer Formen, Praxen und Rituale betonten. (vgl. v. a. die Arbeiten des Projekts Ideologietheorie, das seinen genetisch-strukturellen Begriff des Ideologischen als materielle Anordnung (Dispositiv) im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse vornehmlich aus Engels’ Begriff der ideologischen Mächte hergeleitet hat (vgl. PIT 1979, S. 179 ff., 187 f.)). Ein drittes, auf die bürgerliche Warengesellschaft bezogenes Paradigma der Ideologiekritik finden wir in der Marxschen Kritik am Fetischcharakter der Ware, des Geldes und des Kapitals. Gemeint ist eine spezifische Verdinglichung, bei der der gesellschaftliche Zusammenhang der Produzenten in der privat-arbeitsteiligen Warenproduktion nicht geplant werden kann, sondern sich erst beim Verkauf der Ware als fremde, „dingliche“ Macht durchsetzt. Das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen nimmt die „phantasmagorische Form eines Verhältnis von Dingen“ an (MEW 23, S. 86), „unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren“ (S. 89). Auch hier handelt es nicht bloß um „falsches Bewusstsein“, sondern die Verkehrung, die Marx mit der Herrschaft antiker Göttergestalten vergleicht (S. 86), vollzieht sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst und nimmt daher die Gestalt von „gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen“ (S. 90) an – eine „Religion des Alltagslebens“, in deren entfremdeten und irrationalen Formen die Produktionsagenten sich „völlig zu Hause fühlen“ (MEW 25, S. 838). Bemerkenswerter Weise kommt es nun sowohl im „offiziellen Marxismus“ der II. Internationale als auch im Leninismus der III. Internationale zu einer Neutralisierung des kritischen Ideologiebegriffs von Marx und Engels. Schon Kautsky tilgt seine kritische Stoßrichtung, indem er „geistig“ und „ideologisch“ austauschbar verwendet (Kautsky 1906, S. 128 f.). Eine ähnliche Tendenz zeigt sich bei Eduard Bernstein, der der ideologischen Macht die ökonomische Macht gegenüberstellt (Bernstein 1899, S. 38). Lenin lässt die gesellschaftlichen Verhältnisse in materielle und ideologische zerfallen, wobei die letzteren „lediglich einen Überbau über die

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ersteren“ bilden (LW 1, S. 142). An die Stelle eines kritischen Ideologiebegriffs als entfremdete Vergesellschaftung tritt bei ihm sowie später im Marxismus-Leninismus ein allgemeiner, der die Widerspiegelung der jeweiligen „objektiven“ Klassenpositionen im Bewusstsein ausdrücken soll: „bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht.“ (LW 5, S. 395 f.) Der Paradigmenwechsel zu einem „neutralen“ Ideologiebegriff hängt u. a. mit einer zunehmenden Staatsorientierung im Marxismus zusammen, die sich sowohl reformistisch als sozialdemokratische Orientierung auf den Wahlsieg und das anschließende „Hineinwachsen“ in den Sozialismus (Bernstein) als auch leninistisch als revolutionäre Eroberung der Staatsgewalt und „Sozialismus in einem Land“ artikulieren konnte. Hinzu kam, dass die erst 1926 in Auszügen und erst 1932 vollständig veröffentlichte Deutsche Ideologie der ersten Generation von Marxisten nicht bekannt sein konnte. Nur wenige Theoretiker nahmen daher ernst, dass die Marxsche Perspektive einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Manifest, MEW 4, S. 482), nicht nur auf eine Gesellschaft ohne Klassen- und Staatsherrschaft verwies, sondern auch auf eine, bei der die ausgelagerten und entfremdeten ideologischen Instanzen in die Gesellschaft zurückgenommen werden, so dass die Ideologie im Sinne einer „illusorischen Gemeinschaftlichkeit“ (MEW 3, S. 33) über dem wirklichen gesellschaftlichen Leben ihre Funktionsnotwendigkeit verliert. Antonio Labriola und Georg Lukács gehörten zu den wenigen Theoretikern, die an Marx und Engels’ kritischen Ideologiebegriff anknüpften. Labriola begriff marxistische Theorie als eine „Philosophie der Praxis“, die jeder Ideologie entgegengesetzt sei, einschließlich einer kommunistischen, vor allem wenn diese als deterministisches Geschichtsschema auftrete (1964, S. 52 f., 77, 91, 93). Gegen die weitverbreitete Festlegung Gramscis auf einen „neutralen“ Ideologiebegriff kann gezeigt werden, dass er von Labriola nicht nur den Terminus „Philosophie der Praxis“, sondern auch deren ideologiekritische Perspektive übernommen hat, wobei kritische und positive Verwendungen des Ideologiebegriffs widersprüchlich koexistieren (vgl. Rehmann 2014). Lukács gründete in Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) das Ideologiekonzept auf Marx’ Kritik des Warenfetischs und entwickelt es vom „ideologischen Phänomen der Verdinglichung“ her (GuK, S. 106). Freilich unterschied sich Lukács’ Verdinglichungskonzept von den marxschen Fetischismusanalysen dadurch, dass es von Beginn an als „Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins“ gefasst war (S. 97). Mit seiner Hilfe könnten „die Ideologienprobleme des Kapitalismus und seines Untergangs“ entschlüsselt werden (S. 95), und es gebe „kein Problem“, das in letzter Analyse nicht auf den Warenfetisch hinweisen würde, weil dieser „sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft durchdringt“ (S. 94, 96). Vom „Urphänomen der Verdinglichung“ (S. 106) leitet Lukács die „immer verdinglichteren Stufen“ (S. 116) des gesellschaftlichen Bewusstseins ab, wobei er die Beziehungen dieser Stufen als „Analogie“ und „Ausdruck“ fasst (vgl. S. 44, 47, 80, 107, 109). Dabei nimmt er an, dass sich „die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewusstsein der Menschen hinein[senkt]“ (S. 105). Mit einigem Recht hat Althusser diese homogenisierende Ableitung als Denken der „expressiven Totalität“ kritisiert

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und ihm das Konzept eines heterogen zusammengesetzten „strukturierten Ganzen“ entgegengesetzt (Althusser 1968, S. 137, 156). Die praxis-philosophische Ideologiekritik des frühen Horkheimer In diesem Kontext ist bemerkenswert, mit welcher Deutlichkeit der frühe Horkheimer am kritischen Ideologiebegriff von Marx und Engels festhält und sich gegen seine neutralisierende Ausweitung wendet. Er tut dies nicht am Beispiel Lenins, sondern seines bürgerlichen Gegenstücks Karl Mannheim, der Marx’ Ideologiebegriff „gründlich von den Resten seiner anklägerischen Bedeutung gesäubert“ und ins Gegenteil verkehrt habe (HGS 2, S. 271, 290). Er entfernte ihn aus dem Bereich der politischen Kritik an herrschaftsstabilisierenden Ideen, deren Entwertung die politische Auflehnung einleitet und somit so alt ist wie die Kämpfe selbst (HGS 2, S. 285). Während Marx mit dem Ideologiebegriff das Ansehen der Metaphysik zu stürzen versuchte, werde es von Mannheim wieder eingesetzt (HGS 2, S. 281 f.). Gemeint ist die Unterstellung eines statischen, „durch die Geschichte nicht bedingten“ menschlichen Wesens als „außergeschichtlichen Grund der Geschichte“ (HGS 2, S. 278 f.). Es ist, als hielte Horkheimer Mannheim die 6. Feuerbachthese entgegen, der zufolge das menschliche „Wesen“ nicht ein innewohnendes Abstraktum, sondern in seiner Wirklichkeit das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ darstellt (MEW 3, S. 6). Statt „die Wirklichkeit aus einem Ideenhimmel oder überhaupt aus einer rein geistigen Ordnung zu verstehen“, fordert er, von den „wirklichen voneinander und von der äußeren und inneren Natur abhängigen Menschen eines bestimmten geschichtlichen Augenblicks“ auszugehen (HGS 2, S. 282 f., 287). Die Idealismus-Kritik und die Forderung, vom „wirklichen Lebensprozess“ tätiger Menschen auszugehen, sind offensichtlich an die Deutsche Ideologie angelehnt. Als Ideologie gilt Horkheimer das „idealistische Bestreben, die geistigen Vorgänge von den groben Machtkämpfen der wirklichen Geschichte ungetrübt zu denken“, sodass der Blick „von den wirklichen Händeln hinauf in die Nebelgefilde sich bekämpfender ‚Weltwollungen‘“ gelenkt wird (HGS 2, S. 289). Was die Ideologie definiert, ist der „verklärende Schein“ (HGS 2, S. 294) bzw. der „durch die spezifische Form des gesellschaftlichen Prozesses notwendige Schein“ (HGS 3, S. 379), ein „objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein“, wie es später heißen wird (IfS 1956, S. 168). Die von Marx und Engels betonten strukturellen Ursachen des „Scheins“ (Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Herausbildung des Staats sowie der Warenfetisch) sind im Zusatz „objektivgesellschaftlich notwendig“ angedeutet, werden aber nicht näher ausgeführt. Dass Ideologien in Institutionen, Praxisformen, Habitus-Dispositionen und Alltagshandeln eingelassen sind, wird nicht in Erwägung gezogen. Damit ist eine Verengung der Ideologiekritik auf eine Kritik von Ideen und Bewusstseinsformen in der Akzentsetzung der Definition mit angelegt. Die in späteren Ideologietheorien betonten ideologischen Apparate, Praxen, Rituale und Diskurse tauchen zwar immer wieder auf, werden aber im Ideologiebegriff selbst nicht reflektiert, sondern in der Regel ausgelagert und mithilfe anderer Begriffe behandelt. Es ist dieser Widerspruch zwischen der durchaus wahrgenommenen „Materialität“ des Ideologischen und dem „offiziellen“ Ideologiebegriff, der die Kritischen Theoretiker immer wieder versu-

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chen lässt, diesen fallen zu lassen und damit das Projekt der Ideologiekritik aufzugeben. Horkheimer hätte seine Kritik an Mannheim auch direkt auf Lenins neutralisierendes Ideologiekonzept anwenden können, aber erfolgt sein Angriff an einem anderen, freilich damit zusammenhängenden Punkt, der Abbildtheorie in Lenins Materialismus und Empiriokritizismus. Horkheimers Rezension versuchte, Ernst Mach gegen Lenins Vorwurf des „Solipsismus“ und der Affinität zur Religion („Fideismus“) zu verteidigen. Ideologietheoretisch von Bedeutung ist v. a., dass Lenin seine Erkenntnistheorie auf die Materie als „objektiver Realität außerhalb unseres Bewusstseins“ gründet (HGS 11, S. 176). Zu meinen, die „objektive“ Realität würde von unseren Empfindungen kopiert, sei eine „Abbildtheorie der Erkenntnis in ihrer naivsten Form“, ein problematischer und unprüfbarer Glaube, „denn wir bekommen ja immer nur die Fotografien, das heißt unsere Empfindungen, niemals den fotographierten Gegenstand unabhängig von ihnen, zu Gesicht“ (HGS 11, S. 183). Darin ist die Einsicht vorweggenommen, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit immer schon „diskursiv“ strukturiert, d. h. durch gesellschaftliche Bedeutungsnetze vermittelt ist. In dem dazugehörigen Vortragsmanuskript heißt es, das Verhältnis von Subjekt und Objekt werde von Lenin „völlig undialektisch“, als ein starres Verhältnis behandelt und nicht „im Zusammenhang mit der menschlichen Praxis begriffen“, die über die Dualismen der Erkenntnistheorie stets schon hinaus sei (zit. n. 422). Wie Alfred Schmidt berichtet, rekurriert Horkheimer am Ende seines Vortrags auf die in der Deutschen Ideologie betonte Verflochtenheit des Bewusstseins in den materiellen Verkehr der Menschen, die „Sprache des wirklichen Lebens“ (zit. n. 424; vgl. MEW 3, S. 26) und zeige von dort aus Lenins Versäumnis, den von Marx entwickelten Begriff der „gegenständlichen Tätigkeit“ in die Diskussion der erkenntnistheoretischen Grundfragen wirklich einzuführen (422). Im Hintergrund von Horkheimers Kritik ist Marxens Projekt eines „neuen Materialismus“ zu erkennen, der die Wirklichkeit nicht als Objekt, sondern als „sinnlich, menschliche Tätigkeit“ auffasst, wie es in der 1. Feuerbachthese heißt (MEW 3, S. 5). Gramsci hat diesen Ansatzpunkt in Anlehnung an Labriola als „Philosophie der Praxis“ gekennzeichnet und gegen den abbildtheoretischen Objektivismus des zeitgenössischen Marxismus gewendet: Der Glaube an die Existenz der Außenwelt im Sinne einer „den Menschen übersteigenden Objektivität . . ., die auch außerhalb des Menschen erkannt werden könnte“, sei religiösen Ursprungs und wirke als ein „Residuum des Gottesbegriffs“ mit eherner Festigkeit im Alltagsverstand weiter. (Vgl. Gramsci, Gefängnishefte Bd. 6, H. 11, § 17, 1408, 1411; ebd., § 37, 1446, 1448) Diese Überschneidungen erlauben es, die Ideologiekritik des frühen Horkheimer als Variante einer anti-deterministischen und anti-objektivistischen „Philosophie der Praxis“ anzusehen. Eine psychoanalytisch informierte „Theorie der Apparate“ Diese praxis-philosophische Interpretation widerspricht freilich der weitverbreiteten Auffassung, die Kritische Theorie sei im Wesentlichen von Lukács’ Verdinglichungstheorie geprägt. Habermas zufolge versuchte der „engere Kreis der Institutsmitglieder“ schon in den dreißiger Jahren, Lukács’ Diagnose eines verdinglichten

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Bewusstseins empirisch nachzuweisen, und entwickelte das „monolithische Bild einer total verwalteten Gesellschaft“ mit einer alles durchdringenden sozialen Kontrolle (Habermas 1981, S. 557 f.). Ähnlich ordnet Postone auch den frühen Horkheimer einem von Lukács’ totalisierendem Verdinglichungstheorem geprägten „westlichen Marxismus“ zu (Postone 1993, S. 115 f.). Das Projekt Ideologietheorie meinte, die Kritik an Lukács’ reduktionistischer Methode könne auch für die Kritische Theorie Gültigkeit beanspruchen (PIT 1979, S. 59), und in meiner Einführung in die Ideologietheorie hieß es noch, die Ideologiekritik der Frankfurter Schule knüpfe v. a. an Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein an (Rehmann 2008, S. 71). Damit wird die Kritische Theorie überallgemein auf ein Paradigma festgelegt, das aufgrund seines Universalanspruchs und der Methode der „expressiven Totalität“ die Probleme menschlicher Praxis nicht hinreichend erfassen kann, weil sie die Widersprüche des Alltagshandelns sowie die Ungleichzeitigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung ausblendet. Wir werden sehen, dass dies tatsächlich für spätere Entwicklungen zutrifft. Hinzukommt, dass Adorno schon frühzeitig von Lukacs’ Verdinglichungskonzept beeinflusst war (vgl. Buck-Morss 1977, S. 27 f.). Von einem bestimmenden Einfluss Lukács’ auf Horkheimers frühe Ideologiekritik kann jedoch keine Rede sein. Lukács wurde zwar 1923 zur ersten Marxistischen Arbeitswoche des Instituts für Sozialforschung eingeladen, aber gerade den mit seiner Verdinglichungstheorie verbundenen Totalitätsbegriff hat Horkheimer ausdrücklich abgelehnt. (z. B. HGS 12, S. 368; vgl. Korthals 1985, S. 316, 322) und Abromeit (2011, S. 82, 392 f., 423 f.). Um die Spezifik von Horkheimers früher Ideologiekritik zu erfassen, muss vermieden werden, die Tendenzen zur Totalisierung in den späteren Schriften auf die Frühzeit zurück zu projizieren. Eine spezifische Errungenschaft der frühen Kritischen Theorie war bekanntlich die Einbeziehung der freudschen Psychoanalyse in die Ideologiekritik. Da die Psychoanalyse damals von den deutschen Universitäten weitgehend verbannt war, lud Horkheimer eine Gruppe von Psychoanalytikern ins Institut ein, um Vorlesungen und Seminare zu halten. Das Frankfurter Psychoanalytische Institut 1929–1933, geleitet von Karl Landauer und Heinrich Meng, organisierte in den Räumen des Instituts für Sozialforschung zahlreiche und z. T. sehr gut besuchte Vorlesungen und Seminare, sowohl zu den Grundlagen der Psychoanalyse als auch zu den Anwendungen auf Gesellschaft und Pädagogik. Unter dem prägenden Einfluss von Erich Fromm erstellte das Institut ein Programm, um zu erforschen, „wie libidinöse Triebe ideologisch geformt werden“, so dass die Beherrschten in einem Zustand selbst auferlegter psychischer Unmündigkeit bleiben (Abromeit 2011, S. 208). So zeigte Fromms Studie Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs auch bei linken Arbeitern autoritäre Muster und legte die Schlussfolgerung nahe, dass aufgrund der relativen Eigenständigkeit psychischer Strukturen der Arbeiter-Widerstand gegen die Nazis nur schwach entwickelt sein werde (Abromeit 2011, S. 212, 222 f.). Für Horkheimer eröffnet die Integration der Psychoanalyse die Möglichkeit, den Ökonomismus des zeitgenössischen Marxismus aufzubrechen. In „Geschichte und Psychologie“ (als Vortrag 1930, veröffentlicht 1932) argumentiert er, die von Marxisten betonte ökonomische Determination bleibe dogmatisch, solange nicht untersucht werde, „wie strukturelle Veränderungen des wirtschaftlichen Lebens durch die

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psychische Verfassung [. . .] sich in Veränderungen [der] gesamten Lebensäußerungen umsetzen“ (HGS 3, 58). Zu berücksichtigen sei, dass das Handeln „durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist“ (HGS 3, S. 59). Der „psychische Apparat“, der die Anpassung der Menschen an ihre jeweilige ökonomische Lage fortlaufend ermöglicht, sei selbst erst im Laufe der Geschichte entstanden, könne aber, da er in einem bestimmten Moment gegeben ist, mit Kants Begriff des „Schematismus“ verbunden werden: in den Tiefen der menschlichen Seele wirke eine allgemeine Präformation unserer Eindrücke vor ihrer Aufnahme ins empirische Bewusstsein (HGS 3, S. 61 f.). Wir finden einen ähnlichen Gedanken in Bourdieus Analysen eines sowohl strukturierten als auch strukturierenden „Habitus“, der unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen unbewusst präformiert, sodass wir die Liebe zu unserem Schicksal lernen (Nietzsches „amor fati“), indem wir uns zu dem machen, durch das wir gemacht sind (Bourdieu 1987, S. 124). Wie Korthals gezeigt hat (Korthals 1985, S. 323), bestehen gerade hinsichtlich Horkheimers „Theorie von Apparaten“ die größten Unterschiede zu Lukács. Während bei Lukács sich ausgehend von Marx’ Fetischismusanalysen ein und dieselbe Verdinglichungslogik durch alle Bereiche der Gesellschaft hindurch ausbreitet und widerstandslos ihre Subjekte durchdringt, stoßen wir bei Horkheimer auf ein komplexes Wechselverhältnis der verschiedenen Instanzen des Ökonomischen, des Psychischen und der „Kulturgebiete“. In „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung“ (1931) fragt er nach dem Zusammenhang von drei „Verläufen“, nämlich „dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil u. s. f.“ (HGS 3, S. 32). Wir sehen an der Aufzählung, dass der Begriff der „Kulturgebiete“ eng mit den Funktionsweisen ideologischer Apparate und Felder verzahnt ist. Die Herausbildung des „psychischen Apparats“ erklärt er in Autorität und Familie auf zweierlei Weise: zum einen sieht er die „innere Apparatur“ (HGS 3, S. 356) in Anlehnung an Nietzsches Genealogie der Moral als „Verinnerlichung oder wenigstens Rationalisierung und Ergänzung des physischen Zwangs“; unsere „soziale Natur“, das „Sich-Einfügen“ gehe wesentlich auf die Erinnerung an „Zwangsakte zurück, wodurch die Menschen ‚soziabel‘ gemacht, zivilisiert worden sind und die ihnen auch heute noch drohen, wenn sie allzu vergesslich werden sollten“ (HGS 3, S. 345). Die Verbindung zur „Ökonomie“ ist dadurch hergestellt, dass Horkheimer unter Zwang nicht nur Strafen, sondern auch den Hunger versteht, der dazu antreibt, sich den gegebenen Bedingungen der Arbeit immer wieder zu unterwerfen (HGS 3, 346 f.). Die Drohung sei immer mehr differenziert und vergeistigt worden, so dass sich die Schrecken z. T. in Furcht und diese in Vorsicht gewandelt hat (HGS 3, S. 347). Zum anderen hätten im Laufe dieser Entwicklung die „Kulturgebiete“ wie z. B. die Religion, die Moralvorstellungen, die Kunst ihre relativ eigenständigen Gestalten entwickelt, die wiederum auf die seelische Veranlagung zurückwirkten (HGS 3, S. 347 f.). Die relative Eigenständigkeit des Psychischen gegenüber den ökonomischen Bedingungen wird nun aus der Wechselwirkung zwischen ideologi-

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schen und psychischen Apparaten erklärt: mit der „seelischen Verfassung“ stehe ein „ganzes System von Institutionen, das selbst zur Struktur der Gesellschaft gehört, [. . .] insofern in Wechselwirkung, als es sie einerseits fortwährend stärkt und reproduzieren hilft und dann selbst wiederum durch sie erhalten und gefördert wird“ (HGS 3, S. 355). Horkheimers Interesse gilt der Widersprüchlichkeit der ideologischen Formen: Moralisches Bewusstsein, Gewissen und Pflichtvorstellung seien zwar verinnerlichte Gewalt, stellten aber auch „im seelischen Haushalt der Individuen [. . .] eigene Mächte dar, auf Grund derer sie sich nicht bloß in das Bestehende fügen, sondern unter Umständen sich ihm auch entgegenstellen“ (HGS 3, S. 348). Judith Butler wird (ohne Bezugnahme auf Horkheimer) diesen Gedanken ideologietheoretisch verallgemeinern, wenn sie darauf hinweist, dass das durch die Akkumulation von ideologischen Anrufungen konstituierte Ich auch in seiner Opposition von dieser Konstitution zehrt (Butler 1997, S. 174 f.): dadurch dass die hegemonialen Machtformen nicht immer zuverlässig wiederholt werden, eröffnen sich Möglichkeiten, „die Begriffe der Verletzung gegen ihre verletzenden Zielsetzungen zu resignifizieren“ (Butler 1997, S. 176). Die innere Widersprüchlichkeit der Ideologien Tatsächlich zeigen die zwischen 1926 und 1931 verfassten Notizen der Dämmerung ein starkes Interesse für die innere Widersprüchlichkeit und Ambivalenz von Ideologien, die in Lukács’ Verdinglichungsparadigma nicht hinreichend gefasst werden könnten. Horkheimers Kritik ähnelt eher dem Verfahren Ernst Blochs, das Ineinander von potenziell utopischen Gehalten und ideologischer Formbestimmtheit zu untersuchen. Wir beschränken uns auf einige Beispiele aus der Religion und ihrem vermeintlichen Gegenstück, der bürgerlichen Aufklärung. Die ideologische Funktion der Religion als Verklärung des Elends der Klassengesellschaft ist ein durchgängiges Thema. Horkheimer entlarvt eine „alltägliche, zur Selbstverständlichkeit gewordene Lüge“ bei den Christen, die „vor fremdem Unglück heiter bleiben“ (HGS 2, S. 413), „den Herrn am Kreuz anbeten und ihn lebendig aufs Schafott schleppen“ (HGS 2, S. 415). In unserer Kultur sei es lebensfremd geworden, religiöse wie nicht-religiöse Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit ernst zu nehmen (HGS 2, S. 414). „Der Kompromiss zwischen der Verwirklichung der Religion und ihrer unzweckmäßigen Abschaffung ist die Aussöhnung mit Gott durch die alles umspannende Lüge.“ (HGS 2, S. 415) Eine Ideologiekritik müsse freilich berücksichtigen, dass die Religion durch ihre Symbolik den gequälten Menschen einen „Apparat“ zur Verfügung stelle, „mittels dessen sie ihr Leid und ihre Hoffnung ausdrücken“. Es sei Aufgabe einer Religionspsychologie, zwischen den „richtigen menschlichen Gefühlen“ und ihrer „sie verfälschenden, aber auch durch sie mitbestimmten ideologischen Form“ zu unterscheiden (HGS 2, S. 370). Dabei wirke die „religiöse Apparatur“ nicht immer als Ablenkung von der irdischen Praxis, sondern habe zum Teil „selbst die Energien entwickelt, die heute diese Ablenkung entlarven“. Gemeint ist z. B. die Idee einer „dem Irdischen gegenüber unbedingten Gerechtigkeit“, die im christlichen Glauben an die Auferstehung der Toten und ans Jüngste Gericht enthalten sei (HGS 2, S. 371). Die Kritik

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ist so angelegt, dass sie auf die Dominanz des Ideologischen über das Religiöse zielt: „In der Hauptsache wird das Christentum heute nicht religiös, sondern als grobe Verklärung der bestehenden Verhältnisse gebraucht.“ (HGS 2, S. 371) Während die bürgerliche Religionskritik weder Offenbarung noch andere Werte als den Profit kenne, muss die von Horkheimer empfohlene Kritik offenbaren, „dass die bisher religiös verkleideten Impulse, z. B. das Ungenügen an der irdischen Ordnung, heute in anderen Formen wirksam werden“ (HGS 2, S. 371). Bei der Behandlung der Aufklärung ging es dem frühen Horkheimer keineswegs darum, die Wurzeln einer totalisierenden Form von Vernunft auszumachen, sondern vielmehr ihre antitotalitären und antiautoritären Tendenzen hervorzuheben. So argumentiert er 1933 in „Materialismus und Moral“, die bürgerlichen Aufklärungsideale von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit hätten heute „mehr denn je ihre Gültigkeit“ (HGS 3, S. 137). Das ist freilich nur eine Seite des Widerspruchs. Wie Horkheimer 1936 in Egoismus und Freiheitsbewegung zu zeigen versucht, standen alle Führer der aufsteigenden bürgerlichen Klasse von Cola di Rienzo und Savonarola über Luther und Calvin bis zu Robespierre vor der widersprüchlichen Aufgabe, die Volksmassen gegen die alte Gesellschaft zu mobilisieren und sie zugleich der sich herausbildenden kapitalistischen Produktionsweise strikt unterzuordnen (HGS 4, S. 41). Dies führte zur Ausbildung einer „Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters“ (Untertitel), geprägt vom Widerspruch zwischen universellen und bürgerlichen Klasseninteressen, zwischen praktischer Rücksichtslosigkeit und einer rigoros-idealistischen Moral, mit der Egoismus, Vergnügen und Genuss insbesondere der Volksmassen verurteilt wurden (HGS 4, S. 12 f., 15 ff., 20 f.). Andererseits steckten in der Französischen Revolution „Antriebe, die nicht bloß über die feudale, sondern über die Klassengesellschaft überhaupt hinausweisen“ (HGS 2, S. 441). Dass die Figur des „Bürgers“ ambivalent war, zeigte sich z. B. darin, dass sie nicht nur von sozialistischer Seite sondern auch von Seiten der feudal-reaktionären Gegner des Kapitalismus denunziert wurde. Von dort sei die Bürger-Kritik von den völkischen Bewegungen übernommen worden, deren Ideologen „nur die theoretischen Überreste aus der revolutionären Epoche des Bürgertums brandmarken [möchten]“ (HGS 2, S. 383). In einem Vorlesungsmanuskript zu Kants Philosophie sieht er bei den Philosophen um die Wende des 19. Jahrhunderts einen Hass gegen die Aufklärung einsetzen, der sich bis zur „methodischen Verfemung des rationalen Denkens [steigerte]“ (HGS 11, S. 204): „Der élan vital des Übermenschen vertrieb selbst den letzten Rest von Aufklärung und Französischer Revolution aus den Köpfen der Philosophen (HGS 11, S. 204 f.).“ Die „Vernunft“, die in der Zeit nach der Dialektik der Aufklärung zunehmend mit „instrumenteller Vernunft“ identifiziert und verworfen wird, ist hier noch als Feld gegensätzlicher Bedeutungen gefasst: sie kann sowohl zur freiwilligen Einpassung in die bestehenden Verhältnisse eingesetzt werden als auch die vorgesetzten Zwecke reflektieren, infragestellen und somit konstitutiver Teil emanzipatorischer Praxen sein. Die ideologische Funktion der Unterordnung bildet sie v. a. im Übergang von der absolutistischen zur liberalistischen Periode aus: „Wer nur nüchtern die Welt betrachtet, wird einsehen, dass der Einzelne sich fügen und unterordnen muss.“ (HGS 3, S. 390) Es ist symptomatisch für die Bindung des Ideologiebegriffs ans „notwendig falsche Bewusstsein“, dass die Frage der ideologischer Wirksamkeit bei der Konstitution sich

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unterstellender Subjekte, die bei späteren Ideologietheorien ins Zentrum rückt, ausgelagert und unter einem anderen Begriff abgehandelt wird. In den Studien zur Autorität und Familie ist es die „Autorität“, die den „mehr oder weniger freiwilligen Gehorsam gegen Befehl und Anweisung“, die „Unterwerfung unter eine fremde Instanz“ bezeichnen soll (HGS 3, S. 359). Auch sie könne als „bejahte Abhängigkeit“ sowohl fortschrittlich als auch reaktionär sein (HGS 3, S. 360), wobei Horkheimer zur Unterscheidung das produktivistische Kriterium eines „Aufschwungs der Arbeitsproduktivität“ wählt, der „zwar erbarmungslos, aber geschichtlich vernünftig“ sei (HGS 3, S. 378). Die anarchistische Fundamentalopposition gegen Autorität wird als Übertreibung des bürgerlichen Selbstbewusstseins von der eigenen Freiheit, ohne Rücksicht auf die materiellen Bedingungen kritisiert (HGS 3, S. 386). Eine neue emanzipatorische Autorität müsste von Ausbeutung und egoistischem Interessen befreit und zum integralen Bestandteil einer „planmäßig geleiteten Anstrengung der Menschheit“ werden (HGS 3, S. 386 f.): In der Disziplin ihrer Arbeit ordnen die solidarisch Arbeitenden sich „in der Tat einer Autorität unter, aber diese selbst besorgt nur ihre eigenen zum Beschluss erhobenen Pläne, die freilich keine Resultanten divergierender Klasseninteressen sind“ (HGS 3, S. 387). Ob Horkheimers Unterscheidungen zwischen emanzipatorischen Gehalten und ideologischer Form durchgängig überzeugend sind, braucht jetzt im Einzelnen nicht beurteilt zu werden. Zuweilen tragen seine Schilderungen der wertvollen Gehalte im Nationalen oder in der Familie nostalgische Züge (vgl. HGS 2, S. 371 f.; HGS 3, S. 404, 408). Ideologietheoretisch bedeutsam ist, dass er in seinen Fallanalysen an konkreten Beispielen durchexerziert, was in Anlehnung an Freud als ideologische „Kompromissbildung“ bezeichnet werden konnte: im Ideologischen verdichten sich gegensätzliche Kräfte auf eine Weise, dass es „von beiden Seiten her gehalten wird“, wie Freud im Hinblick aufs neurotische Symptom formulierte (GW XI, S. 373; SA I, S. 350). Um populare Ausstrahlung und Bindekraft zu entwickeln, müssen Ideologien sich von „horizontalen“ Energien nähren und repräsentieren, wie verschoben auch immer, auch Elemente des Gemeinwesens. Dies ermöglicht eine „antagonistische Reklamation“, bei der die Klassen und Geschlechter dieselben Instanzen und Werte in gegensätzlicher Weise auslegen und in Anspruch nehmen (vgl. Haug 1993, S. 84). Damit ist die Ideologiekritik der Anforderung ausgesetzt, die im Ideologischen repräsentierten Gemeinwesenfunktionen zu entziffern, herauszulösen und für die Entwicklung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. So steht z. B. eine ideologietheoretisch informierte Religionskritik vor der analytischen Aufgabe, die sozialen Antagonismen und Kämpfe im religiösen Feld zu entziffern und sich mit den Tendenzen zu verbünden, die geeignet sind, den „Seufzer der bedrängten Kreatur“ mit fundierter Kapitalismuskritik und einer „revolutionären Realpolitik“ (Luxemburg) zu verknüpfen. (Zur Aktualisierung marxistischer Religionskritik, vgl. Rehmann 2012). Horkheimer/Adornos Kritik an „Kulturindustrie“ und „Massenkultur“ Gegen Ende der 1930er-Jahre bahnten sich in Horkheimers theoretischem Ansatz folgenreiche Verschiebungen an, in denen sich das neue Kritikparadigma der Dialektik der Aufklärung ankündigte. In „Die Juden und Europa“ (1939) und „Der

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Autoritäre Staat“ (1940) hatte sich Horkheimer der Auffassung Friedrich Pollocks angeschlossen, der westliche Kapitalismus, der Faschismus und der sowjetischen Staatssozialismus seien nur verschiedene Varianten einer allgemeinen Tendenz zum „Staatskapitalismus“, der den liberalen Kapitalismus überwunden und dessen Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen aufgehoben habe. Die Mehrwertproduktion sei unter staatliche Kontrolle gestellt, die Gesellschaft nicht mehr den immanenten Gesetzen der kapitalistischen Ökonomie sondern politischen Direktiven unterworfen, die abstrakte Herrschaft des Marktes durch die konkrete politische Herrschaft eines „Racket“, einer verschworenen Clique ersetzt: „Die gesellschaftliche Herrschaft geht aus ihrem eigenen ökonomischen Prinzip heraus in die Gangsterherrschaft über“ (HGS 5, S. 332). Freilich werden dabei die Gesetze des Kapitalismus auf einen Idealtyp des Liberalismus verengt, dem Konkurrenzprinzip wird abstrakt das Monopol entgegengesetzt, ohne zu berücksichtigen, dass auch die Monopolbildung unter dem Akkumulationsgesetz steht (vgl. Türcke und Bolte 1994, S. 52). Aus der intensivierten Zusammenarbeit mit Adorno ging 1942 Horkheimers Aufsatz „Vernunft und Selbstbehauptung“ hervor, in der die Ideologiekritik von der bürgerlichen auf die „westliche“ Vernunft ausgeweitet wurde, was die kritische Bedeutung der Aufklärung zum Verschwinden brachte. Diese Umleitung bewirkte Abromeit zufolge „a significant flattening out, or de-differentiation, of his earlier understanding of Western philosophy“ (Abromeit 2011, S. 412). Unter den Bedingungen der Stalinisierung der Sowjetunion und der sich abzeichnenden Hegemonie des amerikanischen Fordismus ist Horkheimer und seinen Mitarbeitern jede realistische Aussicht auf gesellschaftliche Emanzipation verlorengegangen. Um den neuen, durch den Kalten Krieg geprägten Hegemoniebedingungen Rechnung zu tragen, tilgte die 1947 veröffentlichte Dialektik der Aufklärung zahlreiche kapitalismuskritische Passagen, die in ihrer unter dem Titel Philosophische Fragmente veröffentlichten Erstausgabe von 1944 noch enthalten waren. Aus „Kapitalismus“ wurde „das Bestehende“, aus „Kapital“ wurde „Wirtschaftssystem“, aus „kapitalistischen Aussaugern“ wurden „Industrieritter“ usw. (vgl. Wiggershaus 1986, S. 446 f.). Im Kapitel zur Kulturindustrie geht es vor allem um die Wirksamkeit einer „neuen“ positivistisch-technokratischen Ideologie, die sich auf die von der „Technik erzwungene Allgegenwart des Stereotypen“ stützt (AGS 3, S. 158). Die „Wahrheit“ sei für diese Ideologie kein Bezugspunkt mehr – eine These, die im diametralen Gegensatz zu Foucault steht, der gerade den Zusammenhang von Macht und Wahrheit zum zentralen Thema seiner Untersuchungen machen wird. „Sprache, die sich bloß auf Wahrheit beruft, erweckt einzig die Ungeduld, rasch zum Geschäftszweck zu gelangen“ (AGS 3, S. 170). Dies mache die neue Ideologie leerer, unverbindlicher, aber doch nicht durchsichtiger oder schwächer, denn gerade ihre Abneigung, sich auf irgendetwas nicht Verifizierbares festzulegen, „fungiert als Instrument der Beherrschung“ (AGS 3, S. 170). Wie analysiert man eine Ideologie, die sich „in der Wahrscheinlichkeitsrechnung [versteckt]“ (AGS 3, S. 167)? Für Horkheimer und Adorno liegt die Spezifik in der „Verdopplung“ eines „lückenlos geschlossenen Daseins“ (AGS 3, S. 174). Die neue Ideologie macht „vom Kultus der Tatsache Gebrauch, indem sie sich darauf

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beschränkt, das schlechte Dasein durch möglichst genaue Darstellung ins Reich der Tatsachen zu erheben“ (AGS 3, S. 170 f.). Erinnert das „lückenlos geschlossene Dasein“ an das „eherne Gehäuse“, auf das Max Weber seine Protestantische Ethik zulaufen lässt, erschließt sich der hier verwendete Ideologiebegriff vor dem Hintergrund der Marxschen Fetischismusanalysen: die fetischhaft verdinglichten Verhältnisse werden unkritisch reproduziert („verdoppelt“) und positivistisch zu unveränderlichen „Tatsachen“ erhoben. „Insofern verallgemeinern Horkheimer und Adorno, was Marx der „Vulgärökonomie“ vorgeworfen hatte, nämlich die „objektiven Gedankenformen“ der bürgerlichen Gesellschaft in eine doktrinäre Sprache zu übersetzen und zu apologetisieren“ (MEW 25, S. 825). Hinzu kommt die manipulative Lüge: „Die Ideologie wird gespalten in die Fotografie des sturen Daseins und die nackte Lüge von seinem Sinn, die nicht ausgesprochen, sondern suggeriert und eingehämmert wird.“ (AGS 3, S. 170) Was Horkheimer und Adorno als neue Ideologie schildern, oszilliert zwischen positivistischer Reproduktion der gegebenen „objektiven Gedankenformen“ der kapitalistischen Warengesellschaft und Manipulation – „Geschäft“ und „Lüge“. Zuweilen sieht es so aus, als ob sie den als positivistische Ideologie kritisierten Tatsachen-Fatalismus selbst in ihrer Ideologiekritik reproduzierten. So gehen sie z. B. davon aus, dass die kapitalistische Produktion die Arbeiter und Angestellten, Farmer und Kleinbürger als Konsumenten „mit Leib und Seele so eingeschlossen [hält], dass sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen“ (155). „Personality“ bedeute unter diesen Bedingungen kaum mehr als „blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen“ (191). Mehr noch: da die Beherrschten die herrschende Moral ernster nehmen als die Herrschenden selbst, entwickeln sie zu dem, was man ihnen antut, eine „böse Liebe“, die der Klugheit der ideologischen Instanzen „noch voraus[eilt]“: „Unbeirrbar bestehen sie auf der Ideologie, durch die man sie versklavt.“ (155) Der Umstand dass im Fordismus der USA die bürgerliche Hegemonie allumfassend, total erscheint, schlägt sich in der Theorie nieder, die zu ihrer radikalen Kritik ausgezogen ist. Entsprechend kennzeichnet Therborn Horkheimer und Adorno als die „dunklen Denker des Marxismus“, die freilich einen wesentlichen Aspekt der Dialektik der Moderne erfassten (Therborn 1996, S. 67). Als Apparat der neuen Ideologie wird die „Kulturindustrie“ identifiziert, die an die Stelle des in einer älteren Fassung der Dialektik der Aufklärung verwendeten Begriffs der „Massenkultur“ tritt. Wie Adorno 1963 erläutert, sollte der Begriff die Deutung ausschalten, es handelte sich um eine „spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur“: „die Massen [sind] nicht das Primäre, sondern Sekundäres, Einkalkuliertes; Anhängsel der Maschinerie. Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt.“ (AGS 10.1, S. 337) Die Anspielung an Marx’ Beschreibung des Lohnarbeiters als „Anhängsel der Maschine“ (MEW 23, 674) ist unübersehbar. Zu Recht ist diesem Ansatz die Unterstellung eines „perfekten“ Manipulationszusammenhangs vorgeworfen worden (z. B. Kausch 1988, S. 92), bei dem aktive Kulturtätigkeit und subversiv-widerständige Dekodierung ausgeschlossen sind (vgl. Hall 2004, S. 77 ff.); die kapitalistische Gesellschaft werde als in sich bruchloser „Monolith

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dominanter Ideologie“ aufgefasst, aus dem alle Widersprüche getilgt sind (Eagleton 2000, S. 58). (Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion in Napierala und Reitz 2005, S. 462, 474.) Douglas Kellner zufolge führt die Annahme einer manipulativen Allmacht der Kulturindustrie zu einer „Politik der Resignation und Verzweiflung“, die für den Kampf gegen den fortgeschrittenen Kapitalismus ungeeignet sei (Kellner 1984/85, S. 197). Gerade am Beispiel Kellners lässt sich freilich beobachten, wie ein berechtigter Einwand in eine pauschale Verallgemeinerung umschlagen kann, die ihrerseits die Errungenschaften der Kritischen Theorie verfehlt. Wenn er ihre Ideologiekritik als „for the most part denunciatory“ und „remarkably similar to crude Marxian critique of ideology“ kennzeichnet (Kellner 1984/85, S. 204), unterschreitet er sowohl das theoretische Niveau von Marx als auch das der Kritischen Theorie. Dem Begriff der Kulturindustrie wird ein illusorisches Konzept des gegenwärtigen MedienPluralismus entgegengehalten. Kellner zufolge wurden die Medien nach den 1960er-Jahren „viel widersprüchlicher, komplexer und kontroverser“, sie öffneten sich gesellschaftlichen Konflikten und kulturellen Unterschieden in einem Maße, dass sie die ideologische Hegemonie der Kulturindustrie „zersplitterten“ und die ideologischen Illusionen ihrer Produkte unterminierten (Kellner 1984/85, S. 203). Der behaupteten medialen „Widerspiegelung“ (reflection) der gesellschaftlichen Konflikte steht jedoch bereits der gewaltige Konzentrationsprozess der Medienindustrie entgegen, durch den fünf globale Unternehmen den Weltmarkt unter sich aufteilen (vgl. Bagdikian 2004, S. 3), und dessen Homogenisierungseffekte auch durch den öffentlichen Sektor (soweit vorhanden) nicht ausgeglichen werden können. Durch die Zelebration kultureller Differenzen wird die ideologische Funktionsweise kultureller Apparate keineswegs unterminiert, sondern lediglich flexibilisiert und postmodernisiert. Wie Bourdieu in seiner Studie über das Fernsehen gezeigt hat, erzeugt die durch den Konkurrenzdruck erzwungene Herrschaft der Einschaltquote und die dadurch erzeugte Jagd nach der Exklusivmeldung einen Sensationalismus, der die Botschaft im Zeigen versteckt, die Aufmerksamkeit zugleich an sich zieht und zerstreut: „Die Welt des Journalismus ist ein Feld für sich, das jedoch vermittels der Einschaltquote unter der Fuchtel des ökonomischen Felds steht.“ (1998, S. 76) Wie von Horkheimer und Adorno für das Radio beschrieben, hat auch das Fernsehen entgegen seiner anfänglichen utopischen Versprechen keine offenen und pluralen Diskursstrukturen geschaffen, sondern wird vornehmlich nach strengen Programmschemen organisiert. Die Haupttendenz geht dahin, die Möglichkeiten der kommunikativen Interaktion durch Zerstreuungseffekte eines permanenten Stroms von Bildern zu zersetzen, die wiederum die Bilder besetzen und ideologisch formieren, „mit denen sich die Menschen in einer schon fragmentierten Kollektivität noch identifizieren und orientieren“ (Dienst 1999, S. 341). Eine substanzielle Kritik wurde schon frühzeitig von Nicolas Garnham vorgebracht. Er unterstützt Horkheimers und Adornos generelle Auffassung, „that under monopoly capitalism the superstructure becomes precisely industrialized; it is invaded by the base“ (Garnham 1986, S. 16), kritisiert aber, dass sie die dabei auftretenden Widersprüche übersehen. Dies gelte v. a. für den Widerspruch zwischen vorkapitalistischen und kapitalistischen Arbeitsformen (Garnham 1986, S. 17, 25 f.).

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In Horkheimers und Adornos monolithischem Bild gehe u. a. verloren, dass handwerkliche Produktionsweisen wie das Schreiben eines Buches oder eine kleine unabhängige Filmproduktion im Kulturbetrieb erhalten bleiben, denen Garham zuschreibt, dass sie eine „powerful anti-economic cultural ideology“ erzeugten (Garnham 1986, S. 25). Statt solche Spannungen zu thematisieren, praktizieren Horkheimer und Adorno das Verfahren, Kategorien aus der tayloristischen Produktion unmittelbar auf die Kulturindustrie zu übertragen: diese erscheint als eine bloße Fortsetzung des „Arbeitsvorgangs in Fabrik und Büro“ in die Freizeit hinein, um die Sinne der Menschen mit den „Siegeln jenes Arbeitsgangs zu besetzen, den sie den Tag über unterhalten müssen.“ (AGS 3, S. 152 f., 158) Die Bestimmung könnte für die Untersuchung struktureller Analogien genutzt werden. In dieser Verallgemeinerung verfehlt sie jedoch sowohl die Widersprüche in den Hegemonialapparaten als auch die Tatsache, dass Ideologien gegenüber der vorherrschenden Logik der Ökonomie kompensatorische Gegenwelten errichten können. Die hier vernachlässigte kompensatorische Funktion wird freilich in den Minima Moralia am Beispiel der „escape“-Filme behandelt: Die Agenten der Kulturindustrie wissen über die Ideologiehaftigkeit ihrer Produktionen Bescheid und „suchen durch Mentalreservate von dem Unfug sich zu distanzieren, den sie anstiften“ (Nr. 130; AGS 4, S. 230). Die Dialektik der Aufklärung will von solchen Widersprüchen nichts wissen und verkündet: „Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch“ (141). Der vermarkteten Massenkultur stellt Adornos Kulturtheorie eine authentische Hochkunst entgegen, die sich an Avantgarde-Künstlern wie Schönberg, Kafka und Beckett orientiert und durch ihre ästhetische Form selbst ideologiekritisch wirksam werden soll. Diese Entgegensetzung hat eine breite Palette von Kritiken von links bis rechts hervorgerufen, die der Frankfurter Schule „kulturellen Elitismus“ und „Arroganz“ gegenüber dem Geschmack des einfachen Volkes vorwarfen (z. B. Kellner 1989, S. 139 ff.). Freilich ist auch hier eine populistische Drehung zu beobachten, die die Einsichten und analytischen Potenziale von Adornos Kulturkritik zu verschütten droht. Adornos Aufsatz „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“ von 1938, der als Antwort auf Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit“ (1935) verfasst wurde, bestimmt die Größe der Kunst als ihre „Kraft zur Synthesis“. Diese bewahre die Einheit des Scheins davor, in „diffuse Augenblicke des Wohlschmeckenden zu zerfallen“, und halte das Bild eines gesellschaftlichen Zustands fest, in dem die „Elemente von Glück mehr wären als gerade Schein“ (AGS 14, S. 17). Die These lautet, dass das Glück und das profane Vergnügen, die in vorkapitalistischen Perioden produktive Impulse gegen Autoritarismus und Konventionalismus darstellten, nun unter den Bedingungen kapitalistischer Massenkultur die Seiten gewechselt haben. Als integrierte Teile eines Marktes unmittelbarer Befriedigungen verfallen sie „dinghafter Entfremdung“: sie „verschwören sich [. . .] gegen die Freiheit, als deren Wahlverwandte sie einmal verfemt waren“, entbinden den Hörer vom „Denken des Ganzen“ und verwandeln ihn „auf der Linie des geringsten Widerstands in einen akzeptierenden Käufer“ (AGS 14, S. 17 f.). Analog zur Funktion des Vergnügens verkehre sich auch die der Askese: schlug sie früher den ästhetischen Anspruch reaktionär

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nieder, sei sie heute zum Siegel der avancierten Kunst geworden, nämlich durch ihren „strikten Ausschluss all des kulinarisch Wohlgefälligen, das unmittelbar, für sich konsumiert werden will“ (AGS 14, S. 18). Das Glücksversprechen der Kunst könne nur noch dort gefunden werden, „wo dem falschen Glück die Maske heruntergerissen wird“ (AGS 14, S. 19). Es scheint mir unabweisbar, dass Adornos Dichotomien von Massenkultur und ernster Kunst, Vergnügen und Askese, „falschem“ und „wahrem“ Glück zu starr sind, um die kreativen und vergnüglichen Potenziale des Alltagslebens wahrnehmen und in den Kämpfen um ein selbstbestimmtes „gutes Leben“ für alle fruchtbar machen zu können. So verfehlt Adorno in seiner pauschalen Ablehnung des Jazz dessen plebejischen Ursprünge in der reconstruction era der US-Südstaaten sowie seine widerständigen und antirassistischen Dimensionen (vgl. Spahlinger und Watson 2004). Freilich hat sich in den postmarxistischen cultural studies ein unkritischer Kultur-Populismus durchgesetzt, der nahezu alle Formen popularkultureller Praxen vom Lesen der Boulevardpresse bis zum „ironischen“ Konsum von TV-Serien zu subversiven Widerstandshandlungen hochstilisiert. (vgl. die Kritik an der postmarxistischen Wende der Cultural Studies in Ampuja, Koivisto 2012, S. 444 ff., sowie spezifisch an Paul Willis’ „schöner neuer Welt des schöpferischen Massenkulturkonsums“ in Haug 2011, S. 194, 197 ff. 203 ff.). In dieser populistischen Wende wird gerade verfehlt, was man von Adornos aufgeworfener Problemstellung lernen könnte, nämlich wie die potenziell widerständigen Impulse vom Zerstreuungseffekt der Warenform unterschieden werden können, die sie permanent absorbiert und zersetzt. Die Standardkritik am „Elitismus“ der Kritischen Theorie übersieht, dass Adorno die Entgegensetzung von Hoch- und Massenkultur selbst problematisierte, deren beide Teile er als beschädigt ansah. Es sind „zersprungene Hälften“, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenaddieren lassen: „Sie hängen nicht zusammen etwa derart, daβ die untere eine Art volkstümlicher Propädeutik für die obere ausmachte oder daβ die obere ihre verlorene kollektive Kraft von der unteren ausborgen könnte.“ (20) Adornos Kritik richtet sich damit gegen eine ideologische Spaltung im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, die eine ästhetische Kombination und Reartikulation der auseinandergerissenen Sphären blockiert. Freilich wollte und konnte Adorno selbst kein ästhetisches Projekt zur Überwindung dieser ideologischen Trennung entwickeln. Diese Aufgabe wurde vielmehr von marxistischen Künstlern wie Hanns Eisler und Bertolt Brecht in Angriff genommen, dem gegenüber Adorno sich allerdings „kaum zu einem höflichen Wort durchringen konnte“ (Eagleton 1990, S. 349). Preisgabe des Ideologiebegriffs? Statt die Kritik an der „Kulturindustrie“ sowie an der Spaltung und falschen kulturindustriellen Vermittlung zwischen Massenkultur und Hochkultur für die Weiterentwicklung einer Ideologietheorie zu nutzen, ziehen Horkheimer und Adorno den Schluss, die Ideologie für irrelevant zu erklären. Nach der Rückkehr des Instituts für Sozialforschung aus dem US-Exil und seiner Wiedereröffnung 1951 in Frankfurt veröffentlichen sie 1954 einen Aufsatz zur Ideologie in der Kölner Zeitschrift für Soziologie, der dann 1956 in den Soziologischen Exkursen zum abschließenden 12.

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Kapitel ausgebaut wird. Die dort erfolgte Verabschiedung des Ideologiebegriffs ist insofern nachvollziehbar, als sie ihn zuvor auf eine klassisch bürgerlich-liberale Ideologieform eingeschränkt hatten: kennzeichnend sei ein aus dem Warentausch entwickelter Gerechtigkeitsbegriff sowie ein in ihr widergespiegelter „objektiver Geist“, der sich von seiner gesellschaftlichen Grundlage abgelöst hat (IFS 1956, S. 168 f., 176; AGS 8, S. 464 f., 474 f.). Von Ideologie lasse sich „sinnvoll nur soweit reden, wie ein Geistiges selbstständig, substanziell und mit eigenem Anspruch aus dem gesellschaftlichen Prozess hervortritt“ (ebd., 176/474). Ein weiteres Kennzeichen sei eine Undurchsichtigkeit, die es so nicht mehr gebe: „Zur Ideologie im eigentlichen Sinne bedarf es sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderter Machtverhältnisse. Heute ist die [. . .] Gesellschaft dazu zu durchsichtig geworden.“ (170/467) Zusammen mit dem Ideologiebegriff wird auch die Ideologiekritik obsolet. Konnte sie gegenüber den klassisch bürgerlich-liberalen Ideologien als immanente Kritik wirksam werden, die „Geistiges mit seiner Verwirklichung“ konfrontierte (169/466), sei dies mittlerweile nicht mehr möglich: „Wo die Ideologien durch den Ukas der approbierten Weltanschauung ersetzt wurden, ist in der Tat die Ideologiekritik zu ersetzen durch die Analyse des cui bono.“ (Ebd.) Es leuchtet ein, dass eine Ideologiekritik, die rational-argumentativ die Ideologien mit ihrer eigenen Wahrheit konfrontiert, ins Leere läuft, wenn die ideologische Vereinheitlichung nicht primär über Argumente erfolgt. Tilman Reitz sieht die relative Berechtigung der Argumentation von Horkheimer und Adorno darin, dass Ideologiekritik (in dem von Adorno und Horkheimer verwendeten Sinn) „nur in einem Zustand Chancen [hat], in dem die Gestaltung einer für alle Beteiligten vernünftigen Gesellschaft überhaupt zur Debatte steht“, nicht aber, wenn „auf der Gegenseite verfestigte kulturelle Praktiken [stehen]“ (Reitz 2004, S. 705, 707). Es fragt sich freilich, wann und wo eine solche Vernunftdebatte jemals über engere Intellektuellenkreise hinaus und als gesamtgesellschaftliche Verständigung geführt worden wäre. Die Einsicht in die „Verfestigung“ ideologischer Vergesellschaftung in materiellen gesellschaftlichen Anordnungen und hegemonialen Apparaten und Feldern gehört zum Gründungsimpuls historisch-materialistischer Ideologietheorien seit den 1970er-Jahren. Von diesem Paradigmenwechsel aus betrachtet, erweisen sich manche Annahmen von Horkheimer und Adorno als fragwürdig. Ist es wirklich zutreffend, dass die Machtverhältnisse im 20. Jahrhundert unmittelbarer und „durchsichtiger“ geworden sind? Der Klassenkompromiss im Fordismus und auch die ideologische Wirksamkeit der faschistischen „Volksgemeinschaft“ sprechen dagegen. Läuft der Vorschlag, den Ideologiebegriff durch die Annahme manipulativ ausgedachter, bloßer Herrschaftsmittel zu ersetzen, nicht auf eine traditionelle Priestertrugskonzeption hinaus? Es ist methodisch überaus problematisch, die Ideologie von vorneherein auf eine traditionelle Variante festzulegen, die aus kleinkapitalistischen Marktverhältnissen und den „großen Erzählungen“ idealistischer Philosophie abgeleitet ist und damit per definitionem kaum mehr zur Analyse von faschistischen Ideologien oder von Funktionsweisen US-amerikanischer Kulturindustrie taugt, um sie dann für überholt zu erklären. Hatte die Dialektik der Aufklärung nicht versucht, die Umrisse einer „neuen Ideologie“ zu bestimmen, die nicht mehr als „Geistiges“ mit

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einem idealistischen Bezug auf „Wahrheit“ auftritt, sondern in der positivistischen Verdopplung eines „falschen“ Daseins besteht? Es war Horkheimer und Adorno nicht möglich, die Grenzen ihrer bisherigen Ideologiekritik in Richtung auf eine geschichtsmaterialistische Ideologietheorie zu überschreiten, die ihren Gegenstand in der Anordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse findet. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Gramscis hegemonietheoretische Untersuchungen zur Zivilgesellschaft in der Kritischen Theorie nicht rezipiert wurden. Gerade an der Stelle, wo das Untersuchungsmaterial danach drängte, die ideologische Integration nicht mehr primär über Ideengebäude, sondern mittels hegemonialer Apparate, Anordnungen, arrangierter „Orthopraxen“ zu untersuchen, warfen Horkheimer und Adorno das Handtuch. Reitz weist darauf hin, dass die Folgerung „ebenso sehr in veränderten Perspektiven von Ideologiekritik bestehen [könnte] wie in ihrer Selbstaufgabe“, z. B. in der Perspektive, der ideologischen Uniformierung eine alternative Organisation intellektueller und kultureller Handlungsfelder entgegenzustellen (Reitz 2004, S. 706 f.). Dann würde die Ideologiekritik einen Paradigmenwechsel von bloßer Ideenkritik zum Projekt einer Gegenhegemonie von unten vollziehen. Dass Adorno und Horkheimer stattdessen auf die traditionelle Annahme bloßer instrumenteller Manipulation zurückgreifen, bedeutet einen Rückfall hinter den Materialreichtum ihrer eigenen Untersuchungen zur Kulturindustrie. Ideologie als „Räderwerk der unausweichlichen Praxis“ Allerdings ist die Verabschiedung des Ideologiebegriffs weder einheitlich noch durchgängig. Adorno und Horkheimer verwenden den Begriff sogar im gleichen Kapitel zur Ideologie weiter, in dem sie ihn verabschiedet haben. Nur besage die Ideologie kaum mehr, „als dass es so ist, wie es ist“, und auch ihre Unwahrheit schrumpfe auf das „dünne Axiom“ zusammen, „es könne nicht anders sein, als es ist“ (179/477). Marx hatte eine solche fatalistische Grundstruktur im Fetischkapitel als Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse analysiert: Bewegung der Sachen als „Naturform“ des gesellschaftlichen Lebens (MEW 23, S. 89 f.). Allerdings verliert in Horkheimers und Adornos Kennzeichnungen die Ideologie auch jede konsensstiftende Qualität, die sie von der Übermacht struktureller Gewalt selbst unterscheiden könnte: sie ist „keine Hülle mehr, sondern nur noch das drohende Antlitz der Welt. Nicht nur kraft ihrer Verflechtung mit Propaganda, sondern der eigenen Gestalt nach geht sie in Terror über.“ (IFS 1954, S. 179; AGS 8, S. 477) Solche Bestimmungen offenbaren ihren Realitätsgehalt sowie ihre widerspruchseliminierende Einseitigkeit, sobald man sie experimentell an zwiespältigen Ideologien wie z. B. dem Menschenrechtsdiskurs überprüft, der sowohl als Anrufungsinstanz gegen Unterdrückung und Ausbeutung dienen als auch zur Rechtfertigung von „Menschrechtskriegen“ eingesetzt werden kann. Ähnlich wie der frühe Horkheimer in seiner Kritik an Mannheim, verteidigt Adorno in der Negativen Dialektik die Ideologiekritik gegen die Wissenssoziologie, die aus dem Ideologiebegriff „ihre breite Bettelsuppe kocht“ (AGS 6, S. 197 f.). Sein Jargon der Eigentlichkeit (geschrieben 1962–64) trägt in Anlehnung an die gleichlautende Schrift von Marx und Engels den Untertitel Zur deutschen Ideologie und

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bezeichnet den kritisierten deutschen Zeitgeist nach 1945 auch als solche, nämlich als Ideologie der „Allmenschlichkeit“, deren „Phrase vom Menschen“ den Inhalt dessen verunstaltet, was mit seinem Begriff gedacht wird (AGS 6, S. 457 f.). Die phrasenhafte „Erhöhung“ gilt ihm als „Fortsetzung alter unterdrückender Ideologie“ (AGS 6, S. 459). Die „Echtheit“, die bei Nietzsche noch antiideologisch gemeint sei, könne man nicht mehr ohne Ideologie in den Mund nehmen (AGS 6, S. 460). Selbst von „faschistischer Ideologie“, deren Existenz an anderer Stelle bezweifelt wurde, wird wieder gesprochen (AGS 6, S. 501). Kritisiert wird auch die „gängige Rede vom Ideologieverlust, welche auf die Ideologie schlägt und die Wahrheit meint“ (AGS 6, S. 515). Die Spezifik der kritisierten Eigentlichkeits-Ideologie sieht Adorno darin, dass sie „in die Sprache gerutscht“ ist, und dies „unter Absehung von allem besonderen Inhalt“ (AGS 6, S. 520, 525). Obwohl Horkheimer und Adorno versuchen, das Problem der Ideologie und ihrer Kritik hinter sich zu lassen, kommen sie nicht von ihm los. Die traditionelle ideologiekritische Fixierung auf Ideengebäude und „falsches Bewusstsein“ erweist sich als Fessel, da sie durch ihre Analyse der Kulturindustrie und ihre Beschäftigung mit der Psychoanalyse mit effizienteren Strategien ideologischer Vergesellschaftung und Subjektkonstitution konfrontiert sind. Aber statt das Ideologische als spezifische Vergesellschaftungsdimension zu analysieren und in ideologischen Apparaten, Feldern und Praxen aufzuspüren, weiten sie den Ideologiebegriff aus, bis er sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und den in ihnen agierenden Subjekten völlig überdeckt: „Der Kitt, als der einmal die Ideologien wirkten, ist von diesen einerseits in die übermächtig daseienden Verhältnisse als solche, andererseits in die psychologische Verfassung der Menschen eingesickert“, heißt es in den Soziologischen Schriften (AGS 8, S. 18). Auf Seiten der Verhältnisse „tönt“ die Ideologie „gleichsam aus dem Räderwerk der unausweichlichen Praxis“ (AGS 10.1, S. 24), verwandelt sich „das Leben selbst“ in die Ideologie der Verdinglichung, ist es „der materielle Produktionsprozess als solcher“, der sich nun als Ideologie erweist, während das Bewusstsein immer mehr zu einem bloßen „Durchgangsmoment in der Schaltung des Ganzen“ wird – „Ideologie heißt heute: die Gesellschaft als Erscheinung“ (AGS 10.1, S. 25). Wie schon in der Dialektik der Aufklärung schließt sich auch in den Prismen der Verdinglichungszusammenhang zu einer homogenen Einheit ohne Widersprüche: in dem „Freiluftgefängnis, zu dem die Welt wird, [. . .] [starren] alle Phänomene wie Hoheitszeichen absoluter Herrschaft dessen was ist“ (AGS 10.1, S. 29). Beibehalten ist auch die Kombination von positivistischer Verdoppelung des Verkehrten und bewusster Manipulation: Im „eigentlichen Sinne von falschem Bewusstsein“ gebe es „keine Ideologie mehr [. . .], sondern bloß noch die Reklame für die Welt durch deren Verdopplung, und die provokatorische Lüge, die nicht geglaubt werden will, sondern Schweigen gebietet“ (AGS 10.1, S. 29). Auf der Subjektseite sieht Adorno die Anpassung an die Verhältnisse in den Menschen „derartig sedimentiert, dass die Möglichkeit, daraus [. . .] auch nur im Bewusstsein auszubrechen, schrumpft. Sie sind [. . .] bis in ihre innersten Verhaltensweisen hinein, mit dem identifiziert, was mit ihnen geschieht“ (AGS 8, S. 18). In der gegenwärtigen Situation seien „buchstäblich die Menschen selber, in ihrem Sound Nichtanderssein, die Ideologie“ (AGS 8, S. 18). Wenn es im nächsten Satz

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heißt, der Zirkel schließe sich (AGS 8, S. 18), kennzeichnet dies auch eine Theorieanordnung, in der Widerstand oder Subversion gegenüber dem allmächtig Ideologischen nicht mehr gedacht werden kann. Der schwächste Punkt der Kritischen Theorie ist ihre „Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen“, resümiert Marcuse (1994, S. 265). Eine der Ursachen für diese Verallgemeinerung des Ideologiebegriffs liegt in ihrer Ausdehnung auf eine „instrumentelle Vernunft“, die Horkheimer und Adorno so anlegen, dass sie tendenziell mit menschlicher Selbsterhaltung schlechthin zusammenfällt. Ideologie als „instrumentelle Vernunft“ und „Identitätsdenken“ Während Lukács’ den Begriff der Verdinglichung von Marx’ Analyse des bürgerlichen Waren-, Geld- und Kapitalfetischs herleitete, bestimmt Horkheimer in seiner 1947 (zunächst auf Englisch) veröffentlichten Kritik der instrumentellen Vernunft die Verdinglichung als einen „Prozess, der bis auf die Anfänge der organisierten Gesellschaft und des Gebrauchs von Werkzeugen zurückverfolgt werden kann“ (Horkheimer 1985b, S. 47). Was im Marxismus als spezifischer sozialgeschichtlicher Einschnitt untersucht wird, ist damit ins Allgemeinhistorische erweitert. Die Verbindung mit dem Fetischcharakter der bürgerlichen Warengesellschaft besteht nur noch darin, dass der verallgemeinerte und enthistorisierte Prozess auf die „Überführung aller Produkte menschlicher Tätigkeit in Waren“ (Horkheimer 1985b, S. 47) zuläuft und in ihr ihren Höhepunkt findet. Parallel dazu ist auch der Begriff der „instrumentellen Vernunft“ doppelt angelegt: zum einen geht es um den „Begriff von Rationalität [. . .], der gegenwärtiger industrieller Kultur zugrundeliegt“ (13), und den Horkheimer vorrangig an neuzeitlicher „Formalisierung der Vernunft“, an Utilitarismus und Pragmatismus diskutiert (Horkheimer 1985b, S. 45 ff., 48 ff.), zum anderen gehört die „Krankheit der Vernunft“, also ihr instrumenteller Charakter, zum „Wesen der Vernunft in der Zivilisation, wie wir sie bis jetzt erkannt haben“. Sie gründe „in ihrem Ursprung, dem Verlangen des Menschen, die Natur zu beherrschen“ (164), wobei die Unterjochung der Natur notwendig in Unterjochung des Menschen zurückschlage und umgekehrt (165). Man könne sagen, dass der „kollektive Wahnsinn“, der sich z. B. in den Konzentrationslagern zeige, „im Keim schon in der primitiven Objektivation vorhanden war, in des ersten Menschen kalkulierender Betrachtung der Welt als Beute“ (165). Adorno wird in der Negativen Dialektik hinzufügen, keine Universalgeschichte führe „vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe“ (AGS 6, 314). Als Ergebnis dieser Herrschaftsgeschichte steht auf der einen Seite eine zum Material degradierte Natur als „bloße[r] Stoff, der zu beherrschen ist“, auf der anderen Seite ein entleertes Subjekt, das sich darin erschöpft, „alles im Himmel und auf Erden in ein Mittel seiner Erhaltung zu verwandeln“ (Horkheimer 1985b, 97). Das methodische Grundprinzip des „disponierenden Denkens“, wie die „instrumentelle Vernunft“ in der Dialektik der Aufklärung genannt wird (AGS 3, 30), ist das Gleichnamigmachen des Ungleichnamigen, das Wegschneiden des Inkommensurablen: „Was anders wäre, wird gleichgemacht.“ (28) Obwohl es über weite Strecken so aussieht, als übte die instrumentelle Vernunft die Alleinherrschaft übers Denken

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aus, setzt Horkheimer ebenfalls aufs Denken, um sie zu überwinden. Gefordert ist eine „Selbstkritik der Vernunft“, die die dem menschlichen Denken inhärente (und ihm „natürliche“) Herrschaftstendenz aufspürt und es in ein „Instrument der Versöhnung“ verwandelt, das damit zugleich mehr als ein „Instrument“ ist (Horkheimer 1985b, S. 165). Um dieses selbstkritische Vernunftpotenzial fassen zu können, greift Horkheimer auf den platonisch-aristotelischen Begriff der Mimesis zurück, mit dem die archaische Fähigkeit bezeichnet wird, Natur und menschliches Verhalten nachahmen zu können. Walter Benjamin, dessen Aufsatz Über das mimetische Vermögen (Benjamin 1933) einflussreich für Horkheimer sowie auch für Adornos ästhetische Theorie wurde, hatte argumentiert, alle höheren Funktionen im menschlichen Leben seien sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch „entscheidend durch mimetisches Vermögen mitbedingt“ (BGS II/1, 210). Im Kinderspiel würden nicht nur Kaufmann oder Lehrer, sondern auch Windmühle und Eisenbahn nachgeahmt (ebd.). Das „mimetische Genie“ sei eine lebensbestimmende Kraft der „alten“ Völker, kennzeichne ihre magischen Korrespondenzen, Tänze und kultischen Veranstaltungen (BGS II/1, 211). Mimesis beeinflusse sowohl Sprache als auch Schrift und stifte „die Verspannungen nicht nur zwischen dem Gesprochenen und dem Gemeinten, sondern auch zwischen dem Geschriebenen und dem Gemeinten und gleichfalls zwischen dem Gesprochenen und Geschriebenen“ (BGS II/1, 212), wobei das Verhältnis zwischen dem Mimetischen und dem Semiotischen als das zwischen einer „Flamme“ und ihrem „Träger“ beschrieben werden könne (BGS II/1, 213). David McNally stützt sich in seiner Kritik eines strukturalistischen und poststrukturalistischen „Sprachidealismus“ auf Benjamins Aufsatz und interpretiert die Mimesis als ein „linguistisch Unbewusstes“, das wiederum auf differenzierten „neuralen Karten des Körpers“ basiert (McNally 2001, S. 102 f., 187, 222 f.). Auch Horkheimer setzt den mimetischen Impuls, jeden und alles nachzuahmen an den ontogenetischen und phylogenetischen Anfang der „Zivilisation“, deren „Fortschritt“ weitgehend darin besteht, „dass mimetische in rationale Verhaltensweisen überführt werden“ (Horkheimer 1985b, S. 113). Wird das Versprechen, die Möglichkeiten des Menschen zu erfüllen, nicht eingehalten, liegt der mimetische Impuls „stets auf der Lauer, bereit, als eine zerstörerische Kraft hervorzutreten“, die Menschen fallen auf ihn „in einer regressiven und verzerrten Form zurück“, z. B. in der faschistischen Form, die „rassischen Feinde“ durch Nachahmung lächerlich zu machen (Horkheimer 1985b, S. 114). Die Mimesis kann jedoch auch von einer Philosophie befreit werden, die bewusst versucht, „all unsere Erkenntnis und Einsicht zu einer sprachlichen Struktur zu verknüpfen, bei der die Dinge bei ihrem rechten Namen genannt werden“ (Horkheimer 1985b, S. 167). Damit hilft sie der Sprache, „ihre echte mimetische Funktion zu erfüllen“: indem sie die Sehnsüchte der Unterdrückten und die Zwangslage der Natur reflektiert, „befreit [sie] den mimetischen Impuls“, überführt ihn in die Sphäre der Erfahrung und Erinnerung und bewirkt, dass „potenziell nihilistische Energien im Dienst von Versöhnung stehen“ (ebd.). Der Hinweis auf den potenziellen Nihilismus der Mimesis unterstreicht die große Bedeutung ihrer vernünftigen Übersetzung, da ohne sie die unterdrückten „mimetischen Triebe“ sich destruktiv in der imitierenden Verhöhnung und Diskriminierung

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des Anderen austoben. Das philosophische Projekt einer solchen Übersetzung stößt freilich auf das Problem, auf welche Vernunft sich ein solches dialektisch-kritisches Denken im Alltag stützen könnte. Habermas kritisiert, Horkheimers und Adornos emphatischer Wahrheitsbegriff hätte eine „Vernunft vor der (von Anbeginn instrumentellen) Vernunft“ zur Voraussetzung, also eine, die die Kritische Theorie im Banne ihrer Konzeption „instrumenteller Vernunft“ nicht theoretisch ausarbeiten könne, was dazu führe, dass der späte Adorno die Erkenntnis-Kompetenzen an die Kunst abtrete (vgl. Habermas 1981, S. 511 ff.). Die Kritik übersieht freilich die Bedeutung der Dialektik als spezifischer „vernünftiger“ Vernunftkritik, an der Horkheimer und Adorno durchgängig festhalten. Ein vergleichender Blick auf Gramscis Hegemonietheorie könnte helfen, das fehlende Verbindungsstück genauer zu benennen: Gramsci hat die „Philosophie der Praxis“ als eine Kritik des bizarr zusammengesetzten „Alltagsverstands“ (senso comune) konzipiert, die nicht von außen erfolgt, sondern ihren Stützpunkt in diesem selbst findet. Ihre Aufgabe ist, sich mit dem buon senso, dem „gesunden Kern“ des Alltagsverstands, d. h. seinem „Experimentiergeist“ und seiner Realitätsbeobachtung zu verbünden und von dort aus an seiner Kohärenz zu arbeiten. (Gramsci, Gefängnishefte, H. 10. II, § 48, 1338; H. 11, § 12, 1376 f., vgl. Jehle 2001) Da solche rationalen Anknüpfungspunkte dialektischer Kritik im Alltagsleben bei Horkheimer und Adorno fehlen, sieht es so aus, als könnte „emanzipatorisches Denken“ nur als „ungeheuere Ironie“ und „unabdingbare Absurdität“ gedacht werden (Eagleton 1990, S. 347). Dies liegt vor allem daran, dass, wie Gerhard Hauck treffend bemerkt, die instrumentelle Vernunft als ein „gar zu perfekt konstruierter Idealtypus“ konstruiert wird, der die Widersprüchlichkeit konkurrierender Zwecksetzungen ausblendet (Hauck 1992, 73). Konstruiert wird damit eine „sich selbst genügende [. . .] ‚falsche Totalität‘“ (Hauck 1992, S. 73): „Die Behauptung, dass jedes ZweckMittel-Denken notwendig mit Naturunterjochung im Dienste verwilderter Selbsterhaltung zusammenfällt“, „ist weder logisch notwendig noch empirisch triftig“ (74). Zugrunde liegt ein Kritiktypus, der meint, die Dialektik vom Verfahren einer „bestimmten Negation“ abtrennen zu können: Weil das „Tun des Nützlichen“ so erfolgreich in den Dienst der Natur- und Menschenausbeutung gestellt werden konnte, wird es den Herrschenden nicht mehr streitig gemacht, sondern preisgegeben und aus dem eigenen Gegenentwurf ausgeschieden. W.F. Haug hat ähnliche Tendenzen einer „reinen revolutionären Transzendenz“ am Beispiel Marcuses kritisiert (Haug 1973, S. 110 f.). Indem die instrumentelle Vernunft sich durch die Zerstörung bzw. Nivellierung des Anderen, Heterogenen auszeichnet, erhält der Ideologiebegriff eine weitere Dimension. Er bezieht sich nun auf ein „Identitätsdenken“, das dialektischer Erkenntnis entgegengesetzt ist. In den Prismen unterscheidet Adorno eine „transzendente Kritik“, die die Ideologie summarisch abfertige, und eine immanente Kritik, die dialektischer sei, denn sie nehme das Prinzip ernst, dass nicht die Ideologie an sich unwahr sei, „sondern ihre Prätention, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen“ (AGS 10.1, 26 f.). (Zur Begriffsgeschichte und den verschiedenen Interpretationen der „immanenten Kritik“, vgl. Haug et al. (2004). Während sie in der Interpretation Axel Honneths zu einer Rekonstruktion bereits vorhandener

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normativer Potenziale verflacht (2007, S. 61, 64), argumentiert Rahel Jaeggi, sie folge nicht dem rekonstruktiven Muster, eine Gemeinschaft habe ihre Verbindung zu ihren Idealen verloren (Oliver-Stone Patriotismus), sondern ziele auf die Transformation geltender Normen und Ideale (2009, 285–88)). Die Identitätskritik wird v. a. in der Negativen Dialektik systematisch ausgearbeitet: Zu kritisieren sei die „Hybris [. . .], dass Identität sei, dass die Sache an sich ihrem Begriff entspreche“ (AGS 6, S. 152). Ideologie gleiche keineswegs der „ausdrücklichen idealistischen Philosophie“, sondern stecke in der „impliziten Identität von Begriff und Sache“ (50). Sie falle zusammen mit der „Erschleichung von Unmittelbarkeit durchs Vermittelte, die es mit der Autorität des absoluten, [. . .] evidenten Ansichseins bekleidet“ (89). Identität sei ihre „Urform“ und werde als „Adäquanz an die darin unterdrückte Sache genossen“ (151). Der Komplizität mit dem identifizierenden Denken verdanke die Ideologie auch ihre „Resistenzkraft gegen Aufklärung“ (AGS 6, S. 151). Ähnlich wie der Begriff der instrumentellen Vernunft ist auch der des Identitätsdenkens auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und in seinen Bedeutungen schwankend. Einige Passagen verbinden ihn mit dem Äquivalententausch der bürgerlichen Warengesellschaft: „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch.“ (AGS 6, S. 149) Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei es der gleichmacherische Äquivalententausch, der das Identitätsdenken als Denkform hervortreibt, aber hier ist es erforderlich, genau auf die grammatikalische Struktur des Teilsatzes zu achten: „er [= der Tausch] wäre nicht ohne es [= das Identifikationsprinzip]“. Die Denkform des „Identifikationsprinzips“ wird also nicht aus der gesellschaftlichen Praxisform des Äquivalententauschs entwickelt, sondern soll diesem vorausgehen und zugrunde liegen. Eine weitere Bestimmung bindet den Begriff an die Ausbeutung in Klassengesellschaften: „Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten, so wäre rationale Identität erreicht, und die Gesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus.“ (AGS 6, S. 150) Offenbar steht das Identifizieren hier im Gegensatz zur „rationalen Identität“ der klassenlosen Gesellschaft. Dieser Verortung in Klassengesellschaften entspricht, dass Adorno den ideologischen Anspruch des Geistes, das Erste und Ursprüngliche zu sein, ähnlich wie Marx und Engels in der Deutschen Ideologie aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeit herleitet (AGS 6, S. 179). Die angemaßte Herrschaft des Geistes, die in Wirklichkeit „keine des Geistes ist, sondern ihre ultima ratio an der physischen Gewalt besitzt, über welche sie verfügt“ (ebd.), manifestiert sich in einem identifizierenden Denken, das „eine Sache zum bloβen Exempel seiner Art oder Gattung entwertet“ und deshalb umso mehr wähnt, „es als solches ohne subjektiven Zusatz zu haben“ (AGS 6, S. 149). In dieser Bedeutung ist Identitätsdenken durch ein hierarchisches Verfahren der Unterordnung unter Oberbegriffe gekennzeichnet: statt zu sagen, „was etwas sei“, sagt es, „worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant“ (AGS 6, S. 152). Solchen klassengesellschaftlichen Zuordnungen widersprechen jedoch wiederum Definitionen, die das Identitätsdenken mit Denken allgemein gleichsetzen: „Denken

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heißt identifizieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will. Sein Schein und seine Wahrheit verschränken sich“, heißt es in der Einleitung der Negativen Dialektik (17). Die Kritik am Identitätsdenken stößt damit auf den Selbstwiderspruch, dass sie das Identitätsprinzip zwar durchschauen, aber selbst nicht ohne Identifikation denken kann: „jede Bestimmung ist Identifikation“ (152). Dialektik ist einerseits das „konsequente Bewuβtsein von Nichtidentität“ (17), das sich auf den Standpunkt des „Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen“, des „von den Begriffen Unterdrückten, Miβachteten und Weggeworfenen“ stellt (20 f.) – Alfred Schmidt sieht in dieser „Rettung des Nichtidentischen“ den Kern von Adornos „leiblichen“ Materialismus (Schmidt 2002, S. 89, 96 ff.), den er u. a. an seiner Behandlung der „Naturschönheit“ diskutiert (100 ff.) –, und muss sich andererseits in das „zunächst ihm Gegenüberstehende, den Begriff“ versenken (149), um im Medium des Begriffs gegen die Vorherrschaft des Begriffs anzudenken. Dialektische Kritik kann damit nur paradox bestimmt werden, ist aber dennoch nicht als hoffnungsloses Unterfangen angelegt: das „wie immer fragwürdige Vertrauen“ richtet sich darauf, dass „der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne [. . .]. Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ (21) Da Adorno die Identität als aufklärungsresistente „Urform“ der Ideologie fasst, kann er schlussfolgern, dass Ideologiekritik nichts Peripheres ist, „sondern philosophisch zentral: Kritik des konstitutiven Bewusstseins selbst“ (151). An dieser Formulierung ist eine zweifache Bewegung zu beobachten: zum einen wird die Ideologiekritik zu einer Schlüsselkomponente der Philosophie aufgewertet, zum anderen werden ihr Gegenstand und ihre Reichweite aufs „Denken überhaupt“ ausgeweitet, das auf Identifizierungen nicht verzichten kann (ebd.). In dieser Eigenschaft des Denkens sieht Adorno wiederum zugleich ein „Wahrheitsmoment von Ideologie“, nämlich „die Anweisung, dass kein Widerspruch, kein Antagonismus sein solle“, ein utopisches Moment also, das die Ideen zu „negativen Zeichen“ gegen eine zerrissene Welt werden lässt (S. 152 f.). Von hier ließen sich aufschlussreiche Verbindungslinien zu Althussers Konzeption einer Ideologie im Allgemeinen ziehen, die das „imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen [repräsentiert]“ (Althusser 1977, S. 133). Wo Horkheimer und Adorno die identitäre Ideologie in den Mechanismen des denkenden Bewusstseins festmachen, legt Althusser der Wirksamkeit ideologischer Anrufungen eine gelebte, imaginäre „Identität“ zugrunde, die er aus Lacans psychoanalytischer Konzeption eines kleinkindlichen „Spiegelstadiums“ abgeleitet hat. Michel Pêcheux hat in seiner diskurstheoretischen Weiterentwicklung versucht, Linguistik und lacansche Psychoanalyse mit Althussers Anrufungsmodell zusammenzuführen, um die Produktion von Sinn-Evidenzen erklären zu können: Die Evidenz des Sinns entspringe der Illusion einer unmittelbaren Transparenz der Sprache, d. h. dem Anschein, dass ein Wort eine Bedeutung „besitzt“ (1975, S. 137 f., 146). Soweit Horkheimer und Adorno das Identitätsdenken omnihistorisch fassen und mit Ideologie gleichsetzen, teilen sie auch die problematische Tendenz des althusserschen Ansatzes, das Ideologische nicht mehr (wie Marx) primär in den entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnissen aufzusuchen, sondern

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auf eine allgemeine und unhistorische Ebene des Denkens, Handelns und Fühlens zu verlagern, auf der es nicht mehr trennscharf analysiert werden kann. (Zur Kritik von Althussers „Ideologie im Allgemeinen“, vgl. Rehmann 2008, S. 107–200.) Von Marcuse zu Habermas – und zurück zu Max Weber? Habermas’ früher Aufsatz „Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘“ von 1968 ist ein Schlüsseltext, um sowohl die Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten zwischen der ersten und zweiten Generation der Frankfurter Schule zu identifizieren. Der Aufsatz war Herbert Marcuse zum 70. Geburtstag gewidmet und setzte sich mit seiner Kritik der „technologischen Rationalität“ auseinander. Die grundlegende Kontinuität liegt in der gemeinsamen Kritik an einer „neuen Ideologie“, die sich auf das bezieht, was in der marxistischen Tradition gewöhnlich unter dem Begriff der „Produktivkräfte“ verhandelt wird. In Der eindimensionale Mensch (veröffentlicht zuerst 1964 auf Englisch) wirft Marcuse dem „klassischen“, insbesondere dem sowjetischen Marxismus einen unkritischen Fortschrittsoptimismus vor, dem zufolge das Proletariat den politischen Apparat des Kapitalismus zerstört, den technischen Apparat jedoch beibehält, ihn der Sozialisierung unterwirft und somit von den „Fesseln“ der kapitalistischen Produktionsverhältnisse befreit (Marcuse 1994, S. 42). Gegen die Unterscheidung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen argumentiert er, die technische Rationalität habe sich im „Produktionsapparat“ selbst verkörpert, nicht nur in den mechanisierten Fabriken sondern auch in der „Arbeitsweise als Anpassung an den maschinellen Prozess und seine Lenkung“: „Weder Verstaatlichung noch Sozialisierung ändern von sich aus diese materielle Verkörperung technologischer Rationalität.“ (Marcuse 1994, S. 43) Da für Marcuse nicht nur die Anwendung der Technologie sondern diese selbst für die Beherrschung von Mensch und Natur verantwortlich ist, kann er schlussfolgern, dass in der fortgeschrittenen industriellen Gesellschaft „die Ideologie sich nunmehr im Produktionsprozess selbst verkörpert“ (Marcuse 1994, S. 203; vgl. S. 31, 245). Habermas schreibt sich das Verdienst zu, den monolithischen Charakter der „instrumentellen Vernunft“ aufgesprengt und den Vernunftbegriff durch seinen Begriff der „kommunikativen Vernunft“ flexibilisiert zu haben. Dies täuscht darüber hinweg, dass er mit Marcuse völlig übereinstimmt, solange sich dieser in Horkheimer/Adornos Paradigma der „instrumentellen Vernunft“ bewegt. Wenn Habermas z. B. darauf verweist, dass die Produktivkräfte „nun nicht mehr für eine politische Aufklärung als Grundlage der Kritik geltender Legitimationen [fungieren], sondern selbst Legitimationsgrundlage [werden]“ (Habermas 1968, S. 52), fasst er lediglich den kritisch-theoretischen Konsens zusammen, dem zufolge das „technokratische Bewusstsein“ nicht nur zur „Ersatzideologie für die abgebauten bürgerlichen Ideologien“ geworden sei (Habermas 1968, S. 93), sondern auch zur „heute dominanten [. . .] Hintergrundideologie“, die die Wissenschaft zum Fetisch macht und das Bewusstsein der entpolitisierten Masse der Bevölkerung durchdringt (S. 81, 88 f.). Habermas’ Kritik an Marcuse setzt dagegen gerade dort ein, wo dieser aus dem totalisierenden Paradigma der „instrumentellen Vernunft“ ausbricht und nach Alternativen innerhalb der Entwicklungen von Technologie und Wissenschaft sucht. Tatsächlich enthalten Marcuses Überlegungen zur Technologie einander widersprechende

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Argumente: während er einerseits, wie Horkheimer und Adorno, die Technik selbst mit „Herrschaft (über die Natur und über den Menschen)“ identifiziert, bezeichnet er sie andererseits als „geschichtlich-gesellschaftliches Projekt“, in dem „projektiert [ist], was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden Interessen mit dem Menschen und mit den Dingen zu machen gedenken“ (Marcuse 1965, S. 179). Dies bedeutet freilich, dass eine andere Gesellschaft, die von anderen Interessen „beherrscht“ wird, auch eine alternative Technikentwicklung „projektieren“ könnte. Tatsächlich unterscheidet Marcuse in Der eindimensionale Mensch zwei Arten von „Herrschaft über die Natur“, eine „repressive“ und eine „befreiende“, in der Knappheit, Leiden und Mangel überwunden sowie „der Kampf blinder Kräfte begriffen und im Licht der Freiheit beherrscht wird“ (Marcuse 1994, S. 247). Deutlicher als in Horkheimers vagem Hinweis auf eine „mimetische“ Vernunft wird hier eine „Änderung der Richtung des Fortschritts“ gefordert, die das verhängnisvolle Band von Menschen- und Naturbeherrschung lösen kann (Marcuse 1994, S. 181). Die Richtungsänderung betrifft auch die „Struktur der Wissenschaft“ selbst, deren Hypothesen sich in einem „wesentlich anderen Erfahrungszusammenhang (in dem einer befriedeten Welt) entwickeln“, und daher zu anderen Begriffen und Tatsachen gelangen würden (ebd.). Dass Marcuse meint, sie könnten dies tun, „ohne ihren rationalen Charakter zu verlieren“ (ebd.), zeigt deutlich, dass er den Vernunftbegriff in diesem Kontext nicht monolithisch im Sinne instrumenteller Herrschaft verwendet. (W. F. Haugs Vorwurf, Marcuses Kritik gehe nicht marxistisch „in die Dinge hinein“, sondern trete einem homogenisierten Ganzen utopisch als Statthalterin eines ganz Anderen gegenüber (Haug 1973, S. 98 f.), trifft hier also nicht zu. Sie übersieht, dass Marcuse zumindest implizit den totalisierenden Kritiktypus Horkheimers und Adornos hinter sich lässt.) Marcuses Perspektive einer neuen Wissenschaft und Technik berührt sich mit Ernst Blochs Projekt einer „Allianztechnik“, die fähig ist, „Naturallianzen“ einzugehen und sich mit der „Mitproduktivität der Natur zu vermitteln“ (Prinizp Hoffnung, GA 5, S. 802, 807). Während unsere bisherige Technik in der Natur stehe wie eine „Besatzungsarmee im Feindesland“, ohne vom Landesinnern zu wissen, habe ein „Marxismus der Technik“ die Aufgabe, die „Übertragung des Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunktes auf die Natur“ zu beenden und stattdessen die im Schoß der Natur schlummernden Schöpfungen zu entbinden (S. 813 f.). Habermas hält es nicht für nötig, Marcuses Überlegungen zu technologischen Alternativen überhaupt zu beschreiben. Stattdessen denunziert er sie hastig als romantischen Auswuchs „jüdischer und protestantischer Mystik“, die sich „bekanntlich“ vom schwäbischen Pietismus über Schelling und Baader über Marx’ Verheißung einer „Resurrektion der gefallenen Natur“ bis zu Bloch, Benjamin, Horkheimer und Adorno erstrecke (Habermas 1968, S. 54). Diese „Utopien“ beantwortet er unter Berufung auf Arnold Gehlen dahingehend, dass es hinsichtlich der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung keine Alternative gebe, denn sie folge „einer Logik, die der Struktur zweckrationalen und am Erfolg kontrollierten Handelns, und das heiβt doch: der Struktur der Arbeit, entspricht“ (Habermas 1968, S. 56). Solange wir also dem Gebot der Selbsterhaltung durch Arbeit unterworfen sind, sei weder eine neue Wissenschaft noch eine „qualitativ andere“ Technik möglich (Habermas 1968, S. 57 f.).

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Es ist freilich nicht einsichtig, warum die Möglichkeit eines alternativen Projekts von Arbeit und Technik dadurch ausgeschlossen sein soll, dass Habermas sie unter Max Webers Begriff des „zweckrationalen Handelns“ subsumiert. Sieht man einen Moment von Webers Theorieanordnung ab und hält sich an den Wortlaut des Terms, könnte man ihn durchaus auch zur Unterstützung des Marcuseschen Technikverständnis eines „geschichtlich-gesellschaftlichen Projekts“ nutzen. Denn dessen Ausrichtung ist ja dann davon abhängig, wie und nach welcher Rationalität die Zwecke gesellschaftlich definiert und ausgehandelt werden. Wie Feenberg gezeigt hat, ist Marcuses Ansatz mit neueren „konstruktivistischen“ Technologiekonzeptionen eher vermittelbar als Habermas’ essenzialistisches Bild der Technik als Anwendung einer rein instrumentellen Logik (Feenberg 1996). Habermas’ Hinweis auf menschliche Selbsterhaltung erhält wiederum sofort eine andere Bedeutung, sobald man ihn im Kontext der ökologischen Krise im Spätkapitalismus betrachtet: ist es nicht gerade menschliche Selbsterhaltung, die eine grundsätzliche Umorientierung gesellschaftlicher Produktion, Reproduktion und Konsumtion erfordert? Wer nach theoretischen Anregungen für die drängenden Probleme der spätkapitalistischen Umweltkrise sucht, wird offenbar eher bei Marcuse fündig als bei Habermas. Halten wir fest, dass Habermas mit großer Entschiedenheit zunächst vernünftige Alternativen ausgeschlossen hat, bevor er seine eigene Vernunft-Variante eröffnet. Sein Begriff der kommunikativen Vernunft kündigt sich in einer Deutungsverschiebung an, die zunächst geringfügig erscheint: was Marcuse eigentlich „im Sinn“ hatte, war nicht eine neue Technologie, sondern eine „alternative Einstellung“, der es darum gehe, mit der Natur zu „kommunizieren, statt sie, unter Abbruch der Kommunikation, bloß zu bearbeiten“, somit eine Einstellung, die sich als „symbolisch vermittelte Interaktion im Unterschied zum zweckrationalen Handeln“ äußere, also auf der Ebene der Sprache und nicht der Arbeit angesiedelt sei (57). Das war freilich gerade nicht, was Marcuse „im Sinn“ hatte, dessen Projekt einer naturverträglichen Technik und Wissenschaft unversehens durch Habermas’ neuen methodischen Ausgangspunkt, naemlich den der „fundamentalen Unterscheidung zwischen Arbeit und Interaktion“, ausgetauscht wurde (62). Dies ist die Geburt der idealtypischen Entgegensetzung von „zweckrationalem Handeln“, das technischen, auf Empirie basierten Regeln gehorcht, und „kommunikativem Handeln“ als symbolisch vermittelter, durch geltende Normen regulierter Interaktion (62 f.). Dem entspricht wiederum auf institutioneller Ebene die Unterscheidung zwischen soziokultureller „Lebenswelt“ und den „Sub-Systemen zweckrationalen Handelns“: beinhalten letztere (die spätere „Systemwelt“) das Wirtschaftssystem und den Staatsapparat, umfasst erstere Sub-Systeme wie „Familie und Verwandtschaft, [. . .] die hauptsächlich auf moralischen Regeln der Interaktion beruhen“ (64 f.). Diese neue Weichenstellung hat folgenreiche Auswirkungen für das kritischtheoretische Unternehmen der Ideologiekritik. Bevor wir sie analysieren, möchten wir zunächst betrachten, wie Marcuse und Habermas mit dem Begriff des „zweckrationalen Handelns“ umgehen, der bekanntlich eine zentrale Rolle in Max Webers „verstehender Soziologie“ spielt. Auch wenn Weber seinen Begriff der formalen Zweckrationalität in Wirtschaft und Gesellschaft als „wertfreien“ Idealtypus sehen will, weist diese Begriffskonstruktion im Rahmen seiner Soziologie eine spezifische

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Teleologie auf: Während sie im Bereich des Politischen auf den Staat, und hier insbesondere auf seine „legale“, unpersönlich bürokratische Herrschaftsform ausgerichtet ist, orientiert sie auf der Ebene des Wirtschaftens auf den „Marktkampf“ sowie auf die markterwerbsorientierte Geld- und Kapitalrechnung (vgl. WuG 29 f., 36 f., 48 ff., 58 ff., 124 ff.). Erwägungen „materialer Rationalität“, d. h. solcher, die sich auf die Versorgung bestimmter Menschengruppen mit Gütern bezieht (ebd. 44), tauchen in seiner Wirtschaftssoziologie allenfalls als Beeinträchtigungen ökonomischer Rationalisierung auf – nicht unähnlich späteren Ideologien des Neoliberalismus, die sowohl die sozialstaatlichen Errungenschaften des Fordismus als auch ökologische Konzepte einer nachhaltigen Entwicklung als Modernisierungshindernisse wahrnehmen. Weber zufolge beruht die überlegene Rationalität der Marktwirtschaft auf ihrer „Vermögens-, insbesondere [. . .] Kapitalgüter-Besitzdifferenzierung“, da diese „die Nichtbesitzenden zwingt, sich Anweisungen zu fügen, um überhaupt Entgelt für die von ihnen angebotenen Nutzleistungen zu erhalten“ (59). Die marktwirtschaftliche Herrschaftsform ist effektiv, weil sie die Nichtbesitzenden dem „Zwang des Risikos völliger Unversorgtheit“ aussetzt (60). Was Marx als „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ kritisiert hat (MEW 23, S. 765), ist bei Weber zum Telos formaler Rationalität geworden. Im Gegensatz zu einem Großteil der Weber-Literatur, machte Weber selbst aus der Klassenbasis seiner Wissenschaft kein Geheimnis. So präsentierte er sich z. B. in der Freiburger Antrittsvorlesung 1895 als „Mitglied der bürgerlichen Klassen“ und deren Anschauungen und Idealen verbunden, das aber durch den WissenschaftlerBeruf verpflichtet sei, „zu sagen, was ungern gehört wird, nach oben, nach unten, und auch der eigenen Klasse“ (MWG I/4, S. 568). Aus gramscianischer Perspektive kann Weber als „organischer Intellektueller“ einer Bourgeoisie gekennzeichnet werden, die „politisch noch nicht reif [ist] zur Leitung des Staates“ (ebd.) und erst durch „politische Erziehungsarbeit“ (570) führungsfähig gemacht werden muss. Webers Projekt ist, seine Klasse über ihre eigentlichen politisch-ethischen Ursprünge und Perspektiven aufzuklären, vor allem diejenigen des „asketischen Protestantismus“, der wiederum den „ethischen“ Zielpunkt der okzidentalen Rationalisierung darstellt, und damit an der Modernisierung bürgerlicher Hegemonie im Übergang zum Fordismus beizutragen (vgl. Rehmann 2013). „Was auch immer der Kapitalismus den Menschen antun mag, er ist vorerst und vor aller Wertung als notwendige Vernunft zu verstehen“, beobachtete Marcuse (1965, S. 161), der als einziger Theoretiker der Frankfurter Schule die kapitalistische Zuschneidung der Weberschen Modernisierungstheorie einer systematischen Ideologiekritik unterzog. Ihm zufolge zeichnet sich Webers Herrschaftssoziologie dadurch aus, dass sie „die dem Kapitalismus spezifischen Wertsetzungen in die ‚reinen‘ Definitionen der Rationalität hineinnahm“ (Marcuse 1965, S. 178). Weber „verallgemeinert die Blindheit einer Gesellschaft, deren Reproduktionsprozeß sich hinter dem Rücken der Individuen abspielt, [. . .] in der das Gesetz der Herrschaft als objektive technologische Gesetzmäßigkeit erscheint“, und verschreibt sich damit nicht „‚der‘ Vernunft, sondern der Vernunft der etablierten Herrschaft“ (Marcuse 1965, S. 171 f.): „Verdinglichung als Vernunft – Apotheose der Verdinglichung“ (Marcuse 1965, S. 173). Gegen Webers Verschmelzung von bürgerlich-kapitalisti-

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scher und „technischer“ Vernunft entwickelte Marcuse sein Verständnis von Technologie als „geschichtlich-gesellschaftliches Projekt“, das neu bestimmt werden könnte und müsste. Gerade diese ideologiekritische Einsicht in die spezifisch kapitalistische Ausrichtung des Weberschen Begriffs „westlicher“ Rationalität geht in Habermas’ Interpretation verloren. Während Marcuse die kapitalistische Formbestimmtheit von Produktion, Technologie und Wissenschaft in Frage stellte und ihr die alternative Zweckbestimmung einer befriedeten Welt und versöhnten Natur entgegensetzte, lässt Habermas den Gesamtbereich „zweckrationalen Handelns“ intakt und konfrontiert ihn mit einer anderen, vermeintlich außerhalb instrumenteller Produktionslogik liegenden Vernunft. Statt Weber dafür zu kritisieren, dass er den Vernunftbegriff im Sinne kapitalistischer Herrschaftslogik verengt, bemängelt er lediglich, dass Weber in seinem Rationalitätsverständnis die Bedeutung der „Wertrationalität“ gegenüber der „Zweckrationalität“ theoretisch vernachlässigt habe – eine Lücke, die Habermas nun mit seiner Theorie eines norm-orientierten „kommunikativen Handelns“ auszufüllen beansprucht (1981, S. 379 ff.). Die methodischen Konsequenzen sind weitreichend. Zum einen ist die dialektische Methode einer „immanenten Kritik“, die ihren Ansatz innerhalb der zu kritisierenden Phänomene findet, von dem aus sie sie bestimmt negieren kann, preisgegeben und durch eine Kritik von außen ersetzt; zum anderen wird Webers Verschmelzung von Zweckrationalität und kapitalistischer Herrschaftslogik stillschweigend ins Theorieparadigma der Frankfurter Schule importiert. Die Kritik ist nicht mehr gegen die Ausrichtung des Produktionsapparats auf kapitalistische Profitinteressen zu richten, sondern nurmehr gegen die Ausweitung der Zweckrationalität auf „kommunikative“ Subsysteme. Kritische Theorie ohne ideologiekritischen Stachel? Betrachten wir zunächst, warum Habermas’ neues Paradigma für kritisches Denken attraktiv werden konnte. Ein wesentlicher Grund lag zunächst in der Schwäche seiner Vorgänger, vor allem ihrer überallgemeinen Begriffe der „instrumentellen Vernunft“ und des „Identitätsdenkens“, die eine bestimmte Negation kapitalistischindustrieller Herrschaft über Menschen und Natur erschwerten. Habermas hatte Recht, wenn er meinte, dass in diesem Theorierahmen eine Gegen-Vernunft im Sinne eines durch Sprache befreiten „mimetischen Impulses“ nicht konsistent entwickelt werden konnte. Indem er selbst den Gegenimpuls in der Vernunft kommunikativen Handelns verankerte, schien er eine tragfähige Grundlage gefunden zu haben, um der übermächtigen „Systemwelt“ von Geld und Staat entgegenzutreten. Seine Perspektive einer „entschränkten Kommunikation über Ziele der Lebenspraxis“ (Habermas 1968, S. 99 f.) schien dem emanzipatorischen Pathos eines selbstbestimmten Lebens zu entsprechen. Wenn tatsächlich gezeigt werden könnte, dass „die utopische Perspektive von Versöhnung und Freiheit“ bereits in der „kommunikativen Vergesellschaftung“, sogar im „sprachlichen Reproduktionsmechanismus der Gattung“ angelegt ist (Habermas 1981, S. 533), wäre die Kritik solide in menschlichen Universalien verankert. Endlich wäre es möglich, eine Ideologiekritik zu überwinden, die sich in einer fundamentalistischen Vernunftkritik verrannt hat,

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während sie zugleich paradox von dieser Vernunft abhängig war. Auf der Grundlage der „kommunikativen Rationalität“ meint Habermas das zu Kritisierende trennschärfer benennen zu können, nämlich als „Kolonisierung der Lebenswelt“ durch die Subsysteme zweckrationalen Handelns, v. a. Geld und Macht, bzw. als „Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationalität in Handlungsbereiche, die [. . .] auf Verständigung als Mechanismen der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben“ (Habermas 1981, S. 488, 551). Mit solcher Kritik vom Standpunkt wechselseitiger Verständigung und sozialer Konsensbildung schien nicht nur die fatalistische Abschließung der Kritischen Theorie überwunden zu sein, sie konnte sich auch auf einen linksliberalen Alltagsverstand stützen. Als Teil des „linguistic turn“ in der Gesellschaftstheorie schien nun die Möglichkeit eröffnet, den Kritikimpuls aus linker Randständigkeit zu befreien und in der gesellschaftlichen „Mitte“ einer allgemein anerkannten Diskursethik zu verankern. In Aussicht gestellt war eine differenzierte Kritik auf der Grundlage der „normativen Gehalte der bürgerlichen Kultur, der Kunst und des philosophischen Denkens“ (Habermas 1981, S. 583). Zudem schien Habermas’ Differenzierung des Vernunftbegriffs sich mit der Ideologiekritik des frühen Horkheimer zu berühren, die der „Vernunft“ nicht ein einheitliches Wesen unterstellte, sondern sie als mehrdeutiges und anatagonistisch strukturiertes Feld begriff. Tatsächlich kann Vernunft „ausgreifen auf die Gestaltung einer solidarischen Gesellschaft, und sie kann den einzelnen bedeuten, doch ‚vernünftig‘ zu sein, d. h. sich in die Herrschaftsordnung zu fügen“ (Jehle 2004, S. 1531). Wer in die ideologischen Kämpfe um die Vernunft eingreifen will, ist gut beraten, die Kategorie nicht dem Gegner zu überlassen, sondern ihre emanzipatorischen Gehalte und Potenziale auszuarbeiten, um von dort aus ihre bürgerlichen Verengungen bzw. Verkehrungen in Irrationalität zu kritisieren. Ohne alternative Entwürfe gesamtgesellschaftlicher und gattungsspezifischer Vernunft wäre es unmöglich, die Irrationalität eines kapitalistischen Systems aufzudecken, das in seinen Krisen regelmäßig Unmengen gesellschaftlichen Reichtums vernichtet, inmitten von Massenarbeitslosigkeit die Arbeitszeiten verlängert und seine Produktivkräfte nur entwickeln kann, indem es, wie Marx im Kapital formulierte, „zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (MEW 23, S. 530). Die Frage ist freilich, ob Habermas’ Entgegensetzung von kommunikativer und instrumenteller Vernunft und v. a. ihre Identifizierung mit den Bereichen „Lebenswelt“ und „Systemwelt“ sowie mit dem Dualismus von Arbeit und Interaktion die herrschenden Engführungen der Rationalität erfasst und eine grundlegende Kritik ermöglicht. Nehmen wir zum Vergleich die marxsche Fetischismusanalyse: Wenn in der bürgerlichen Warengesellschaft der gesellschaftliche Zusammenhang der Produzenten nicht bewusst geplant werden kann, sondern sich erst beim Verkauf der Ware und damit im Nachhinein als fremde „dingliche“ Macht hinter ihrem Rücken durchsetzt (MEW 23, S. 88), müssen diese ihre gesamtgesellschaftlichen Handlungs- und Planungsfähigkeiten an die Waren-Dinge abgeben. Dass dieser systemische Kompetenzverlust die Ausprägung ihrer Vernunftpotenziale beschränkt und beeinträchtigt, liegt auf der Hand. Die Verkehrung, durch die die auf Gebrauchswerte orientierte „konkrete Arbeit“ der Verwertung abstrakter Arbeit untergeordnet wird, kann in Habermas Entgegensetzung von instrumenteller und kommunikativer

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Vernunft nicht einmal beschrieben werden. Denn sowohl die Perspektive der Gebrauchswertproduktion als auch die der Profitmaximierung sind „instrumentell“ in dem allgemeinen Sinn, dass sie zweckrationalen Mustern folgen, wobei die Zwecke freilich gegensätzlich sind. Beide sind jedoch auch „kommunikativ“, denn sowohl die hierarchische Arbeitsorganisation in einem profitorientierten Unternehmen als auch z. B. die in einer demokratisch organisierten Kooperative funktionieren nicht nur als stille Anordnungen, sondern sind symbolisch vermittelt und auf Verständigung ausgerichtet. Zu unterscheiden wäre hier wiederum zwischen einer horizontalen, in demokratisch-kooperative Planung eingebundenen Verständigung und einer ideologischen Einbindung in von oben gesetzte Zielsetzungen. Wie schon Therborn beobachtet hat, ist Habermas’ Entgegensetzung von Arbeit und Interaktion ungeeignet, strukturelle Widersprüche zu erfassen (Therborn 1971, S. 78). Die Auseinandersetzung mit Habermas’ Theorieanordnung wird dadurch kompliziert, dass instrumentelle und kommunikative Vernunft zuweilen auch im Sinne einer analytischen Unterscheidung verwendet werden, die die verschiedenen Bereiche der „Systemwelt“ und „Lebenswelt“ quer durchschneidet. So könnte im Prinzip innerhalb des gleichen empirischen Phänomens differenziert werden zwischen einer instrumentell auf Erfolg orientierten und einer kommunikativ auf Verständigung orientierten Dimension. In diesem Sinne argumentiert Habermas, die von Marx gefasste Arbeitskraft gehöre einerseits als „abstrakte Leistung“ dem Funktionszusammenhang des kapitalistischen Betriebes an und andererseits, als „konkrete Handlung“, in den kommunikativ vermittelten Kooperationszusammenhang der Lebenswelt (Habermas 1981, S. 493). Dem widerspricht allerdings, dass er ausdrücklich darauf besteht, mit seiner Unterscheidung zwischen Erfolgs- und Verständigungsorientierung bzw. strategischer und kommunikativer Handlung „nicht nur zwei analytische Aspekte [zu] bezeichnen, unter denen sich dieselbe Handlung“ beschreiben ließe, sondern im empirischen Sinn, um soziale Handlungen dahingehend aufzuteilen, „ob die Beteiligten entweder eine erfolgs- oder eine verständigungsorientierte Einstellung einnehmen“ (Habermas 1981, S. 385 f.). Gerhard Hauck zufolge schwankt Habermas zwischen einer „prozeduralen“ und einer „inhaltlichen“ Abgrenzung: Erstere beziehe sich auf den „dreifachen Weltbezug“ kommunikativen Handelns, nämlich zur objektiven, sozialen und subjektiven Welt, letztere identifiziert das kommunikative Handeln mit der „Lebenswelt“ und schließe das materielle Leben sowie die Möglichkeit einer Verständigung über den Prozess der Aneignung der Natur aus (Hauck 1992, S. 81) Ähnlich argumentiert Nancy Fraser, dass Habermas seine Unterscheidung mal „pragmatisch-kontextuell“ vornahm, um ein bestimmtes Phänomen vom Standpunkt symbolischer Reproduktion zu untersuchen, und mal „naturalistisch“ zur Trennung zweier „objektiv verschiedenartiger ‚natürlicher Sachen‘“, und gerade hier sei seine Interpretation „konzeptionell unzureichend und potenziell ideologisch“ (Fraser 1994, S. 176). Axel Honneth zufolge wies Habermas’ Dichotomie von Arbeit und Interaktion, wo sie einen nicht nur analytischen, sondern empirischen Unterschied unterstellte, eine „reifizierende Tendenz“ auf (Honneth 1985, S. 322, 331 f.).

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Soweit Habermas seine Unterscheidung zwischen „instrumenteller“ und „kommunikativer“ Vernunft als Entweder-Oder-Frage aufbauscht und an den Gegensatz von „Arbeit“ und „Interaktion“ bindet, verlieren beide Seiten seiner Gegenüberstellung an Gehalt. Seine in Anlehnung an Arnold Gehlen vorgenommene Gleichsetzung von Arbeit und instrumentellem Handeln ist bekanntlich Teil seines Nachweises, dass der marxsche Arbeitsbegriff reduktionistisch und damit als Grundlage kritischer Gesellschaftstheorie unzureichend ist (vgl. 1973, S. 59 ff.). Wie Klaus Ottomeyer gezeigt hat, liegt der Reduktionismus auf Seiten von Habermas, der die Arbeit auf das instrumentelle Verhältnis zur Natur verkürzt, um sein reduktionistisches Konstrukt anschließend Marx unterzuschieben, bei dem aber Kooperation und Kommunikation konstituierende Momente des Arbeitsbegriffs sind (vgl. Ottomeyer 1976, S. 19 ff.). Aber warum sollten so zentrale Fragen wie z. B., was produziert werden soll (Schwerter oder Pflugscharen?), wie Arbeitsteilungen gerecht organisiert werden können, wie die Produktionsergebnisse verteilt werden sollen, wie hoch der Anteil der Investitionen, wie hoch der der Konsumtion sein soll etc., von vorneherein der kommunikativen Kompetenz der Produzenten entzogen werden (vgl. Hauck 1992, S. 80 f.)? Und gibt es angesichts überlebensgefährdender ökologischer Zerstörungen eine dringlichere Aufgabe als die, sich darüber zu verständigen, wie das menschliche Naturverhältnis umweltverträglich umgebaut werden kann? Habermas’ Theorie ist so angelegt, dass gerade die „systemischen“ Kernbereiche gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion von der Möglichkeit herrschaftsfreier Verständigung ausgeschlossen sind. Komplementär dazu erscheint die „Lebenswelt“ in einer Unschuld, die die in ihr enthaltenen hierarchischen Über- und Unterordnungen systematisch ausblendet. Am deutlichsten ist dies in der Familie, die Habermas als Prototyp „sozial“ integrierter Handlungskontexte der „Systemwelt“ der institutionalisierten Lohnarbeit entgegenstellt. Nancy Fraser zufolge verdeckt dieser Dualismus, dass auch der Haushalt „wie der bezahlte Arbeitsplatz eine Stätte der Arbeit ist, obgleich eine der unentgoltenen und oft nicht anerkannten Arbeit“ (Fraser 1994, S. 182). Auch stellten sich beide Bereiche als ein „Gemenge aus Konsensualität, Normativität und strategischer Einstellung“ dar (Fraser 1994, S. 180). In feministischer Perspektive sei es nicht sinnvoll, die Kleinfamilie mit männlichem Oberhaupt und die „offizielle“ Ökonomie auf gegensätzlichen Seiten der kategorialen Hauptachse anzuordnen: Beide „eignen sich unsere Arbeit an, sabotieren unsere Beteiligung an der Interpretation unserer Bedürfnisse und schützen normativ gesicherte Bedürfnisinterpretationen vor der politischen Anfechtbarkeit.“ (Fraser 1994, S. 212) An anderer Stelle kritisiert Fraser, dass Habermas’ liberales Konzept einer für die Demokratie konstitutiven „bürgerlichen Öffentlichkeit“ (1962) eine Idealisierung darstellt, die die klassenmäßigen, patriarchalen und rassistischen Ausschlussmechanismen ausklammert (Fraser 2001, S. 113 ff., 121 ff., 148 f.). Axel Honneth zufolge hat Habermas zum einen die Selbstverwaltungsperspektive des kritischen Marxismus verabschiedet und damit die „Möglichkeit einer begründeten Kritik an konkreten Organisationsformen der ökonomischen Produktion und der politischen Verwaltung“ preisgegeben und zum anderen aus dem Blick verloren, dass bei asymmetrisch verteilten Machtbefugnissen

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die kommunikativen Beziehungen zwischen Gruppen sich „durch das Medium des sozialen Kampfes hindurch vollzieh[en]“ (Honneth 1985, S. 333 f.). Wenn man Habermas’ Unterscheidung von instrumenteller und kommunikativer Vernunft als analytische interpretiert, könnte man von hier aus ideologiekritisch untersuchen, wie vorherrschende Ideologien in die Bereiche „gerechter und herrschaftsfreier [. . .] Interaktion“ (Habermas 1968, S. 89; vgl. S. 98, 119) eindringen, sie besetzen und dort die kommunikative Regel, dass nur das bessere Argument zählt, überwältigen. Aber Habermas wird diesen Weg nicht gehen. Gestützt auf Max Webers Diagnose einer zunehmenden Entzauberung, kommt auch er zu dem Schluss, dass die Zeit der Ideologien und damit auch der Ideologiekritik zu Ende gegangen sei. Allerdings ließe der Zustand, für den Daniel Bell das „Ende der Ideologie“ ausgerufen hat, noch lange auf sich warten (Habermas 1981, S. 518). Der „dialektische Begriff der Ideologie“, den Marx am Beispiel der bürgerlichen Kultur des 18. Jahrhunderts entwickelt hätte, hielt noch den „utopisch-ideologischen Doppelcharakter“ der bürgerlichen Kultur fest (Habermas 1981, S. 517 f.); im 19. und 20. Jahrhundert hätte sich eine „zweite Generation [. . .] der Ideologien“ herausgebildet, zu der Habermas umstandslos sowohl Faschismus als auch Kommunismus, Anarchismus und Sozialismus rechnet, da es sich hier um „totalisierende Ordnungsvorstellungen“ handelt (Habermas 1981, S. 519 f.); die rationalisierten und entzauberten Gesellschaften des Spätkapitalismus hätten ihre Möglichkeiten für Ideologiebildung eingebüßt und stattdessen ein funktionales Äquivalent entwickelt: „An die Stelle der positiv zu erfüllenden Aufgabe, einen bestimmten Interpretationsbedarf ideologisch zu decken, tritt die negative Forderung, Interpretationsleistungen auf dem Integrationsniveau von Ideologien gar nicht erst aufkommen zu lassen. [. . .] An die Stelle des falschen tritt heute das fragmentierte Bewusstsein, das der Aufklärung über den Mechanismus der Verdinglichung vorbeugt.“ (Habermas 1981, S. 521 f.) An die Stelle einer Ideologiekritik, der es nach Habermas’ karikierender Darstellung darum geht, „den verwehten Spuren eines revolutionären Bewusstseins nachzujagen“, tritt eine „Analyse der kulturellen Moderne“, deren Aufgabe darin besteht, „die Bedingungen für eine Rückkopplung der rationalisierten Kultur mit einer auf vitale Überlieferungen angewiesenen Alltagskommunikation anzugeben“ (Habermas 1981, S. 522). Die historische Phaseneinteilung der Ideologiekritik ist undifferenziert und oberflächlich. Bei Marx’ Ideologiebegriff ist alles getilgt, was über Ideengebäude hinausgeht. Statt Webers allzu lineare These der „Entzauberung“ zu übernehmen, wäre es fruchtbarer gewesen, anknüpfend an Marx’ Analysen zum Waren-, Geld- und Kapitalfetisch die moderne Erzeugung religionsähnlicher Verkehrungen und Mystifikationen in den Blick zu nehmen – eine kapitalistische „Kultreligion“, die Benjamin zufolge „nicht entsühnt, sondern universell ‚verschuldet‘“ (BGS VII/2, S. 100). Dies hätte Habermas zu einem dialektischeren Moderne-Verständnis verhelfen können, bei dem Funktionsweisen von Entzauberung widerspruchsvoll mit solch einer warenästhetischen Wiederverzauberung verkoppelt sind. Ähnlich wie zuvor Horkheimer und Adorno unterstellt Habermas einen engen Ideologiebegriff als „falsche“ sowie „totalisierende“ Ordnungsvorstellung, um ihn daraufhin fallenlassen zu können. Dies ist umso fragwürdiger, als in der Zwischenzeit ideologietheoretische Schulen von Althusser

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über Stuart Hall bis zum Berliner Projekt Ideologietheorie gezeigt haben, dass das Ideologische nicht auf Ideengebäude reduziert werden kann, sondern als Ensemble von Apparaten, Praxen, Anrufungen und Subjekt-Effekten zu untersuchen ist. Warum ein solcherart historisch-materialistisch reformulierter Ideologiebegriff obsolet geworden sein soll, müsste erst einmal nachgewiesen werden. Die Vorstellung, im Spätkapitalismus gäbe es nur noch „fragmentiertes Bewusstsein“, ohne jegliche Versuche, die Fragmente durch Metaerzählungen ideologisch zusammenzuschließen, ist angesichts der groß angelegten Feindbildkonstruktionen (z. B. der „faule“ Grieche und Südeuropäer, der totalitäre und großmachtlüsterne Russe, der islamische „Terrorist“) eine unrealistische Annahme. Die inkohärente und widersprüchliche Zusammensetzung des Alltagsverstands hat bekanntlich schon Gramsci herausgearbeitet, der aber zugleich gesehen hat, dass dies einer Ideologisierung keineswegs im Wege steht, sondern sich ihr geradezu entgegenstreckt. Hervorgebracht durch das kapitalistische Konkurrenzprinzip, bilden die Fragmentierungen der subalternen Klassen den Resonanzboden für die ideologische Arbeit von Ideologen, die sie sowohl verdoppeln (z. B. in einer individualistischen Leistungsideologie) als auch zu kompensieren versuchen (z. B. durch die ideologische Konstruktion der „Schicksals“- und „Volksgemeinschaft“ im Krieg oder der europäischen „Wertegemeinschaft“). Gestützt auf seine „substanzielle“ Entgegensetzung von „instrumenteller“ und „kommunikativer“ Vernunft, System- und Lebenswelt, Arbeit und Interaktion hat Habermas zwei ideologietheoretisch bedeutsame Weichenstellungen eingeleitet: zum einen kommt es in Anknüpfung an Max Webers Konzept der „Wertrationalität“ zu einer neo-kantianischen Aufwertung der Moral und der Religion, die als Bestandteile der „Lebenswelt“ gegen die von Geld und Macht beherrschte „Systemwelt“ angerufen werden (Habermas 1981, S. 379 ff., 383 f., 494, 547); zum andern wird parallel dazu der Begriff der „Ideologiekritik“ zu einer Negativkategorie, mit der er Horkheimer und Adorno zusammen mit Nietzsche und Heidegger einer anti-modernistischen und potenziell totalitären „Rebellion gegen alles Normative“ (Habermas 1985, S. 148) zurechnet, die die von Max Weber diagnostizierten „Errungenschaften des okzidentalen Rationalismus“ in Frage stelle (121, 131, 145 f., 152, 409 Anm. 8). Damit hat Habermas der kritischen Theorie schließlich den ideologiekritischen Stachel gezogen. In Anpassung an den soziologischen Mainstream wurde „aus der Befreiungseine Ordnungs-Theorie, [. . .] aus Ideologiekritik wurde moralische Kritik gemacht, und mit dieser Veränderung der Logik war das radikale Projekt der herrschaftskritischen Aufklärung [. . .] aufgegeben.“ (Steinert 2007, S. 213 f.)

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Negative Kritik Oliver Flügel-Martinsen

Zusammenfassung

Der Beitrag spürt Ideengeschichte und Gegenwart negativer Kritik nach. Hierzu werden in zwei theoriegeschichtlichen Schritten zunächst Positionen von Descartes über Kant und Hegel bis zu Marx und Nietzsche rekonstruiert, die Dimensionen negativer Kritik aufweisen, diese allerdings als vorbereitende Schritte für den Entwurf einer eigenen Konzeption verstehen. Erst im dritten Schritt stehen dann mit Foucault, Derrida, Adorno und Geuss Modelle negativer Kritik im engeren Sinne im Zentrum der Betrachtung, die negative Kritik emphatisch als eigenständige und zu Unrecht diffamierte Kritikform verteidigen. Schlüsselwörter

Kritische Theorien · Negative Kritik · Genaologie · Poststrukturalismus · Dekonstruktion

Alle Kritik weist negative Dimensionen auf. Das lässt sich philosophiegeschichtlich weit zurückverfolgen, denn schon in Platons Politeia findet sich bekanntlich eine Gesellschaftskritik, an deren Ausgangspunkt ein radikaler, negierender Bruch mit der bestehenden politischen und sozialen Ordnung steht. Platon beschreibt dort die erste Aufgabe der Philosophenherrschaft folgendermaßen: „Wenn sie [die Philosophen, OFM] nun, sprach ich, wie eine Tafel den Staat und die Gemüter der Menschen zur Hand nehmen, werden sie sie wohl zuvörderst rein machen müssen“ (Platon 1991, S. 501a). Allerdings ist das keine negative Kritikform, denn bei Platon steht diese negierende Aufgabe des Tabula-rasa-Machens nur am Beginn der Philosophenherrschaft, deren eigentliches Ziel keineswegs ein negatives, sondern vielmehr ein konstruktiv-gestaltendes, nämlich das der Einrichtung einer anderen, aus Platons Sicht O. Flügel-Martinsen (*) Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: oliver.fl[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_31

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überlegenen politisch-sozialen Ordnung darstellt. Wie sich die negativen Dimensionen von Kritik bis zu Platon zurückverfolgen lassen, so beginnt mit ihm auch die philosophiegeschichtlich erfolgreiche Platzanweisung der negativen Kritik. Versteht man den obigen Eingangssatz deshalb als eine Beschreibung der philosophie- und theoriegeschichtlichen Rolle von Kritik, muss er erweitert werden und wird zum Satzanfang: Alle Kritik weist negative Dimensionen auf, da sie sich vom Kritisierten absetzt, aber sie muss sodann um konstruktive Dimensionen verlängert werden. Die Negativität von Kritik hat so gesehen nur eine vorbereitende Funktion. Aus der Perspektive einer radikalen Gesellschaftskritik ist eine solche enge Verknüpfung von Kritik und Konstruktivitätsgebot allerdings fatal, wird mit ihr doch letztlich impliziert, dass Kritik nur in dem Maße berechtigt ist, in dem sie auf einen konstruktiven Gegenvorschlag zuläuft. Selbst wenn das nicht immer heißen muss, dass eine vollumfängliche Alternative bereitgestellt werden soll, wird Kritik aus dieser Sicht zumindest genötigt, die eigenen normativen Grundlagen zu klären und also eine positive, konstruktive und nicht negative Form von Normativität zu formulieren. Aus dieser Sicht hat Jürgen Habermas an einflussreicher Stelle, nämlich im Abschlusskapitel des zweiten Bandes seiner Theorie des kommunikativen Handelns zugleich die Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie (so auch der Titel dieses Kapitels: Habermas 1995, S. 548–593) bestimmt und seine Generalkritik der älteren kritischen Theorie Adornos und Horkheimers umrissen, der er den von seiner Warte aus schwerwiegenden Vorwurf macht, an der Aufgabe einer Klärung der normativen Grundlagen von Kritik gescheitert zu sein (Habermas 1995, S. 583). Adorno selbst hingegen hat das Konstruktivitätsgebot entschieden als eine Zähmung von Kritik zurückgewiesen: „Stets wieder findet man dem Wort Kritik, wenn es denn durchaus toleriert werden soll, oder wenn man gar selber kritisch agiert, das Wort konstruktiv beigesellt. Unterstellt wird, daß nur der Kritik üben könne, der etwas Besseres anstelle des Kritisierten vorzuschlagen habe [. . .]. Durch die Auflage des Positiven wird Kritik von vornherein gezähmt und um ihre Vehemenz gebracht“ (Adorno 1997b, S. 792).

Adorno fasst hier konzis die landläufigen, nicht nur alltagsweltlichen, sondern auch in Theoriedebatten weit verbreiteten Bedenken gegen negative Kritikformen zusammen und macht zugleich darauf aufmerksam, dass eine solche Auflage dazu führt, Kritik den kritischen Stachel zu ziehen. In jüngerer Zeit hat Raymond Geuss, sich dabei explizit auf Adorno beziehend, in ähnlicher Weise hervorgehoben, dass diese Verpflichtung auf das Positive eine Abwehrhaltung gegenüber radikaler Kritik und radikalem Wandel sei (Geuss 2011, S. 130). Bei Adorno wie auch bei Geuss wird damit eine Gegenposition zum Mainstream der theoriegeschichtlichen Überlieferung bezogen, indem beide für eine negative Kritik als eigenständige Kritikform plädieren und ausdrücklich den geforderten Nexus zwischen Kritik und Konstruktivität zu unterbrechen fordern: Negative Kritik ist damit aus ihrer Sicht nicht nur eine Stufe, die ihre Legitimierung erst erfährt, wenn eine konstruktive Alternative auf sie folgt, sondern negative Kritik ist vielmehr eine radikale Kritikform, die sich nicht konstruktiv einhegen lässt – die also auch dann kritisiert, wenn keine Alternative in Sicht ist. Ihr Kernanliegen wird plakativ in einer Formulierung Foucaults auf den Punkt gebracht, die die Negation des Bestehenden zum Kernanliegen der Kritik

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macht und in der die Suche nach der Alternative überhaupt keine Rolle spielt: „Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1990, S. 12). Die Konturen dieser negativen Kritik, bei der es sich um eine radikale und befragende Kritikform handelt, werden im Nachfolgenden in drei Schritten ausgeleuchtet. Den Auftakt bildet eine ideengeschichtliche Skizze von drei philosophischen Gesten radikaler Kritik, wie sie sich bei René Descartes, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel finden (1): (Wir werden uns hier, gleichsam exemplarisch, auf diese drei Positionen beschränken. Die Ideengeschichte, insbesondere die des 18. Jahrhunderts, bietet natürlich eine sehr viel reichhaltigere Auswahl an radikalen und skeptischen Positionen an, die im Hinblick auf die Ideengeschichte negativer Kritikmotive zu untersuchen wären. Zu denken ist hier neben dem Skeptizismus Humes vor allem an den Skeptizismus in der französischen Aufklärungsphilosophie, wie er sich bei Diderot, Holbach oder Helvetius findet. Vgl. dazu die Monografie Böse Philosophen von Philipp Blom (2010), die auf sehr plastische Weise ein Panorama dieser Epoche zeichnet.) Diese kurze theoriegeschichtliche Stippvisite ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil sich alle drei Autoren nicht mit einer negativen Kritik zufriedengeben wollen. Die negative Kritik ist bei ihnen im oben angedeuteten traditionellen Sinne eine Vorstufe, auf die eigene alternative Entwürfe folgen. Wichtig ist der Blick auf sie deshalb, weil sie sich im Versuch, eine positive Alternative zu begründen, jeweils enorme konzeptionelle Schwierigkeiten einhandeln, an denen sich schon andeuten lässt, dass das Problem vielleicht gar nicht so sehr in der negativen Kritik, sondern eher im Versuch der Begründung eines konstruktiven Gegenmodells liegt. Zudem bleibt mit der Hinwendung zur positiven Perspektive in allen drei Fällen die Radikalität der Kritik auf der Strecke. Der zweite Schritt ist ebenfalls ein theoriegeschichtlicher (2): Hier wird es darum gehen, mit Karl Marx auf der einen und Friedrich Nietzsche auf der anderen Seite zwei weitere wichtige Figuren des Diskurses radikaler Kritik zu thematisieren, bei denen die Vorzüge negativer Kritik zwar bereits sichtbar werden, die aber beide – wiederum um den Preis konzeptioneller Paradoxien – noch am Aufweis einer Alternative festhalten. Radikal negative Varianten der Kritik, die nicht mehr länger versuchen, normative Gegenmodelle zu entwerfen, sollen dann in einem dritten Schritt vorgestellt werden (3): Hier werde ich mich aus Gründen des Umfangs auf vier Positionen beschränken, anhand deren sich Gestalt und Umfang negativer Kritik exponieren lassen: Theodor W. Adorno (da es im vorliegenden Handbuch einen eigenen Beitrag zu Adornos negativer Dialektik gibt (vgl. den Beitrag von Daniel Holzer in diesem Band), werde ich mich Adorno nur sehr kursorisch zuwenden, möchte aber deshalb an dieser Stelle betonen, wie wichtig sein Denken für die Perspektive negativer Kritik ist), Michel Foucault, Jacques Derrida und Raymond Geuss.

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Negative Kritik als Vorbereitung eines Neuanfangs

Philosophiegeschichtlich ist die Negation von bestehenden politisch-sozialen Ordnungen oder auch von etablierten Erkenntnismodellen, wie wir am Beispiel Platons gesehen haben, ein seit der Antike bekannter Zug der Entfaltung theoretischer

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Neuentwürfe. Die Negation ist dann keineswegs ein Ziel, sondern lediglich ein vorbereitender, kritisch-distanzierender Schritt, mit dessen Hilfe Platz für andere Anschauungen gemacht oder ein festeres Fundament geschaffen werden soll. Auf eine solche Verwendungsweise einer negierend ansetzenden Kritik stoßen wir in den Überlegungen Descartes’ und Kants. Bei beiden begegnet uns dieser Kritiktypus übrigens nicht in gesellschaftstheoretischen, sondern in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen. Distanziert werden soll nicht ein bestimmtes Gesellschaftsmodell, sondern kritisch befragt werden erkenntnistheoretische Präsuppositionen. Bei Descartes wird gegenüber Versuchen, „die Ordnung der Welt zu verändern“ (Descartes 2001, S. 51), bekanntlich sogar eine strikte Abstinenz verordnet, wie der dritte Grundsatz seiner provisorischen Moral festhält; und im ersten Grundsatz wird hinsichtlich praktischer Prinzipien ein weitgehender Konventionalismus verordnet (Descartes 2001, S. 47). Kant, zwar teils mit der Französischen Revolution sympathisierend (Kant 1974b, A. 131–162), abstrahiert in seiner praktischen Philosophie weitgehend von gesellschaftstheoretischen Fragestellungen und empfiehlt, trotz seiner Forderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen (Kant 1974c, A. 481), umfassende Zurückhaltung: Er schließt sich den zentralen republikanischen Gehalten der Französischen Revolution aus vernunftrechtlichen Gründen emphatisch an, möchte deren politische Umsetzung aber lieber von oben erfolgenden Reformen überlassen (vgl. Flügel-Martinsen 2011b). Radikale, gar negative Kritik lässt sich also weder bei Descartes noch bei Kant in gesellschaftspolitischen Fragen erwarten. Umso radikaler aber ist der Gestus in der Annäherung an erkenntnistheoretische Fragen. Descartes’ Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Descartes 1993) setzen deshalb mit einem radikalen, in seinen Folgen negativ angelegten skeptischen Zweifel ein, dem Descartes allerdings bereits in der Auftaktformulierung eine Funktionsbestimmung hinzufügt. Der Zweifel ist der Ausgangspunkt, aber die Neubegründung das unzweifelhafte Ziel: „Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, daß ich daher einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse, wenn ich jemals für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen wollte“ (Descartes 1993, S. 15).

Descartes negiert vorgefundene Überzeugungen und Prinzipien, weil sie vor seinem Zweifel nicht standhalten können, aber er tut dies erklärtermaßen nicht, um einem allgemeinen Skeptizismus das Wort zu reden, sondern vielmehr, um eine sichere Erkenntnisbasis zu schaffen (vgl. auch Descartes 2001, S. 31). Für unseren Fragezusammenhang nach einer negativen Kritik, die sich nicht von vornherein auf eine solche konstruktive Aufgabe festlegen lassen will, ist der Blick auf Descartes deshalb interessant, weil sich bei ihm zunächst ein radikal negierender Zweifel findet, und sich damit die Frage stellt, auf welche Weise und um welchen Preis ihm die konstruktive Wendung gelingt, mit der er die negative Kritik hinter sich zu lassen sucht, um zu jenem „Unerschütterliche[n] und Bleibende[n]“ (Descartes 1993, S. 15) zu gelangen, auf das sich seine Suche richtet.

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Descartes’ Ausgangspunkt ist ein fundamentaler Zweifel an der Verlässlichkeit sinnlicher Wahrnehmung, in dessen Folge sich ein negierender Strudel entwickelt, der die Gewissheit der gesamten Weltwahrnehmung verschlingt (Descartes 1993, S. 19). Von diesem skeptischen Strudel ausgenommen bleibt, wie es Descartes’ berühmter Vorschlag fasst, das denkende Ich, über dessen Existenz der Vollzug der Denkbewegung selbst Aufschluss bietet (vgl. Descartes 1993, S. 22, 2001, S. 65). Negiert bleibt dann aber immer noch die Existenz der Außenwelt, denn das denkende Ich könnte diese weiterhin bloß imaginieren oder vorgetäuscht bekommen. Die konstruktive Wende von einer negativen Philosophie des Zweifels zu einer erkenntnistheoretischen Begründung der Einsicht nicht nur in die Selbstexistenz, sondern auch in die Existenz der Außenwelt vollzieht Descartes nun mithilfe einer rationalistischen Theologie, die freilich die skeptische Grundeinstellung vollständig hinter sich lässt. Das rationalistisch-theologische Argument hat zwei Stufen: Zunächst legt Descartes dar, dass die Vorstellung Gottes, die im denkenden Ich angefunden werden kann, nicht aus diesem selbst stammen kann, da sie eine Entität bezeichnet, die als Schöpfergott dem denkenden Ich logisch und notwendig vorangehen muss (Descartes 1993, S. 41, 47, 60, 2001, S. 67). Das ist ein ontologischer Gottesbeweis, aber damit ist die Existenz materieller Dinge noch nicht bewiesen. Das geschieht im zweiten Schritt durch eine reflexive Erörterung der Eigenschaft Gottes als eines gütigen Wesens, das kein Betrüger ist, weswegen die Einsichten in die Existenz körperlicher Dinge, die uns unsere kognitiven Fähigkeiten nahelegen, auch als tatsächlicher Beleg für die Existenz dieser Dinge begriffen werden können (Descartes 1993, S. 71). Schon anhand dieser kurzen Skizze dürfte sich der Abstand ermessen lassen, der sich zwischen dem negativ-kritischen Auftakt von Descartes’ Unternehmung und ihrer, von einer rationalen Theologie getragenen, konstruktiven Wende ergibt. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass im Fortgang der Entwicklung von Descartes’ Argumentation nicht nur die zweifelnde Grundhaltung verloren geht, sondern auch, dass nicht der Zweifel, sondern der Versuch, ihn auszuräumen, begründungsbedürftig erscheint. Kants Philosophie folgt einerseits der mit Descartes eingeschlagenen Denkbahn, indem auch Kant eine rückhaltlose kritische Befragung aller überlieferten Annahmen zum tragenden Motiv seines Denkens macht. Andererseits radikalisiert er aber seine kritische Befragungshaltung deutlich gegenüber Descartes, der, wie wir sehen konnten, noch einmal die Rettung der Möglichkeit eines positiven Wissens über die Welt hatte erreichen wollen. Kants Denken ist demgegenüber nicht länger auf diese konstruktive Aufgabe einer Formulierung positiven Wissens fokussiert, sondern er konzentriert seine kritische Unternehmung, wie er in der Kritik der reinen Vernunft hervorhebt, auf die negative erkenntnistheoretische Aufgabe „Irrtümer zu verhüten“ (Kant 1974a, B. 823). Die Kritik, von der hier die Rede ist, muss deshalb in wesentlichen Hinsichten als ein negativ hinterfragendes Geschehen verstanden werden, mit dessen Hilfe nicht positives Weltwissen als ein Wissen über die Dinge an sich hervorgebracht, sondern stattdessen die Aufgabe eines „richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen überhaupt“ (Kant 1974a, B. 824) verfolgt werden soll. Die positiven Aussagen, die Descartes in den Blick genommen hat, liegen somit nach Kants Überzeugung außerhalb des Erkenntnisvermögens: Seine Kritik negiert

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die klassische Selbstbestimmung der Metaphysik, mittels erkenntnistheoretischer Überlegungen zu substanziellem Weltwissen zu gelangen. Trotz dieser negativen Grundausrichtung der kantischen Philosophie weist auch diese eine positive Wendung auf, da sie sich in praktischer Hinsicht nicht mit der negativen Aufgabe der Grenzbestimmung allein zufrieden geben will. Diese mag zwar, wie Kant festhält, auf dem Feld der Naturerkenntnis zureichend sein (vgl. Kant 1974a, B. 868), aber auf jenem praktischen Feld der Moralerkenntnis, auf dem es um das geht, „was da sein soll“ (Kant 1974a, B. 868), spürt Kant dennoch einem „Quell von positiven Erkenntnissen“ nach, „welche ins Gebiet der reinen Vernunft gehören“ (Kant 1974a, B. 823). Auf diesem Feld, auf dem es Kant um eine Begründung der als Autonomie verstandenen Freiheit geht, folgt er zwar der kritischen, durch negatives Hinterfragen gekennzeichneten Methode, sucht aber dennoch darüber hinaus zu einer positiven Bestimmung praktischen Wissens zu gelangen. Diesen Zug der kantischen Philosophie hat Adorno als deren problematischen Doppelcharakter bezeichnet, der ihm zufolge darin besteht, dass Kants Denken neben dem „kritischen Moment [. . .] der Auflösung dogmatischer Vorstellungen“ auch durch den Versuch, „den objektiven Charakter der Erkenntnis zu retten“ (Adorno 1997c, S. 85) gekennzeichnet ist. Wir können dieser Spannung des kantischen Denkens hier nicht näher nachgehen; für die vorliegenden Zwecke reicht aber auch der damit plausibilisierte Hinweis, dass auch bei Kant die negative Kritik nicht für sich selbst steht, sondern wiederum in die vorbereitende Aufgabe eingebunden wird, den Boden für die Begründung einer konstruktiven Freiheitslehre zu bereiten – mit der sich dann freilich im Unterschied zum negativ-kritischen Pfad schwerwiegende Begründungslasten verbinden. (Die dabei entstehenden Spannungen in Kants Philosophie habe ich andernorts umfänglich diskutiert: Vgl. Flügel-Martinsen 2008a, S. 32–55, 2011a, S. 15–40.) Hegels Philosophie ist für die Ideengeschichte negativer Kritik in mindestens zweierlei Hinsicht entscheidend: Zum einen wird bei Hegel die philosophische Perspektive nachdrücklich gesellschaftstheoretisch erläutert, so dass sein kritisches Denken nicht mehr nur auf erkenntnistheoretische Kontexte beschränkt bleibt, sondern expressis verbis gesellschaftliche Zusammenhänge zum Thema macht (vgl. Marcuse 1962; Honneth 2011), und zum anderen erlangt bei ihm die Idee der Negativität gleich in mehreren Hinsichten eine zentrale Stellung. In der Phänomenologie des Geistes wendet sich Hegel so bspw. explizit gegen eine auf Konstruktives oder, wie Hegel es fasst, auf Erbauliches ausgerichtete Philosophie, indem er unterstreicht, dass Philosophie nicht darauf zielen dürfe „erbaulich sein zu wollen“ (Hegel 1986a, S. 16), sondern die Kraft besitzen muss, „dem Negativen ins Angesicht [zu] schau[en], bei ihm [zu] verweil[en]“ (Hegel 1986a, S. 36). Negativität ist in Hegels Denken aber auch der Motor der Geschichte: Wir haben uns, wie der Konflikttheoretiker Hegel vorschlägt, geschichtlichen Wandel als eine Abfolge von Negationen vorzustellen, die freilich häufig gewaltförmig ausgetragen werden, weshalb Hegel die Geschichte – mit dem berühmt gewordenen Bild – als eine „Schlachtbank“ (Hegel 1986c, S. 35) versteht. Der Versuch, das Ganze der Geschichte, das in Hegels Geschichtsphilosophie eine enorme Rolle spielt, in den Blick zu nehmen, verleitet Hegel dann zwar bekanntermaßen dazu, diese spannungsreiche Abfolge historischer Negationen in das Narrativ der Selbstentfaltung des Weltgeistes einzubetten (vgl. Hegel 1986b, S. 503–512, 1986c, S. 11–105), aber daneben entwickelt

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er eine gesellschaftstheoretisch und zeitdiagnostisch ausgerichtete Sozialphilosophie, die der kritischen Gesellschaftstheorie nicht nur den Weg ebnet, sondern die im Grunde selbst bereits eine kritische Theorie ist (vgl. Marcuse 1962; FlügelMartinsen 2012). Deren Kern besteht aus einer Kombination von kontextsensibler Analyse und Gesellschaftskritik: Die Überlegung, dass „Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ (Hegel 1986b, S. 26, Herv. i. O.) sei, führt Hegel nämlich nicht einfach nur zu einer Beschreibung und Analyse sozialer Kontexte, sondern sie ermöglicht ihm auch die kritische Distanzierung von vorgefundenen Verhältnissen. Schon in den einleitenden Paragrafen seiner Rechtsphilosophie findet sich so eine Theorie des Zeitkerns von Institutionen, die zu bestimmten Zeiten sich als „vollkommen zweckmäßig und notwendig“ erweisen können, zu anderen aber „ihren Sinn und ihr Recht verloren“ (Hegel 1986b, S. 37) haben. Interessant ist dabei, dass Hegel die Kritik nicht allein auf vergangene Zeiten oder deren in die Gegenwart hinüberreichende Residuen (bei Hegel die „Treber[. . .]“ (Hegel 1986a, S. 15), von denen der Geist sich abwendet) beschränkt, sondern, wie am Beispiel der bürgerlichen Gesellschaft deutlich wird, mithilfe einer Klassenanalyse und einer Ungerechtigkeitstheorie (vgl. Hegel 1986b, S. 389) auch eine Kritik der Gegenwartsgesellschaft seiner Zeit in den Blick nimmt. Sicherlich kann man, wie es heute bspw. Axel Honneth vorschlägt (Honneth 2011), Hegels Sittlichkeitslehre als positive Gerechtigkeitstheorie rekonstruieren und leicht kann diese als eine normativ aufgeladene, der Tendenz nach konservative Versöhnungshoffnung gelesen werden (Marcuse 1962, S. 165). Aber bei alledem ist doch erstaunlich, in welchem Maße Hegel hier eine negativ verfahrende kritische Theorie entwickelt, wie übrigens auch Marcuse festhält, der anders als Marx es in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Marx 1974) Hegel zum Vorwurf macht, hervorhebt, dass Hegel eine durchaus materialistisch zu nennende (Marcuse 1962, S. 166) kritische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, die vor allem deren negative Aspekte in den Blick nimmt (Marcuse 1962, S. 183). Bemerkenswert ist dabei auch, dass diese Kritik nicht positiv, etwa von einer Idee gelingenden Lebens aus, sondern negativ in der Sprache des Unrechts formuliert wird: Hegel zufolge bringt die bürgerliche Gesellschaft Mangel leidende Massen hervor, deren Situation „die Form eines Unrechts annimmt, was dieser oder jener Klasse angetan wird“ (Hegel 1986c, S. 390). Natürlich dürfen auch solche Passagen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hegel insgesamt nicht auf eine negativ verfahrende radikale Gesellschaftstheorie zielt, sondern diese, wie angedeutet, in eine umfassende Geschichtsphilosophie des Fortschritts einbettet. Im Unterschied zu dieser metaphysisch hoffnungslos überhöhten Theorie sind es aber gerade die Ansätze zu einer negativen Kritik in Hegels politischer Philosophie, an die sich heute anzuschließen lohnt.

2

Spielarten radikaler Kritik: Historischer Materialismus und Genealogie

Es mag auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen, Marx und Nietzsche gemeinsam zu behandeln, könnte es doch vor dem Hintergrund der jüngeren Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts so wirken, als bildeten Marx und Nietzsche unterschiedliche, ja

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gegensätzliche Bezugspunkte: So lässt sich etwa die Entwicklung des Poststrukturalismus im Frankreich der 1960er- und 1970er-Jahre zunächst so verstehen, dass hier unter Rekurs auf nietzscheanische Denkfiguren die Hegemonie marxistischen Denkens in der Gesellschaftskritik gebrochen und Marx als Referenzfigur verabschiedet werden soll. Foucaults offensichtliche Bezugnahme auf Nietzsche (Foucault 2001a) und seine kritischen Spitzen gegen Marx und den Marxismus (Foucault 1974, S. 320) sind von den Zeitgenossen auch durchaus so verstanden worden (Eribon 1989, S. 251 f.). Allerdings sind es nicht erst Bücher wie Marx’ Gespenster (Derrida 1995) oder Marx & Sons (Derrida 2004), in denen der Nietzsche-Leser Derrida zu einem Zeitpunkt – nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – als Marx gesellschaftspolitisch an den Rand gedrängt schien zur Auseinandersetzung mit Marx aufforderte, die zeigen, dass eine unkonventionelle und unorthodoxe kritische Theorie wichtige Impulse gleichermaßen aus den Schriften Marx’ wie Nietzsches beziehen kann. Bereits bei Adorno finden sich, wie die Vorlesungen vielleicht mehr noch als die veröffentlichten Texte explizit machen, deutlich früher Rekurse auf Marx wie auch auf Nietzsche (Adorno 2001 passim, 1997c, S. 255 et passim); und die Spuren nietzscheanischen, genealogischen Denkens sind auch schon in der gemeinsam mit Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung (Horkheimer und Adorno 1987) unübersehbar. Dass es sich lohnt, Marx und Nietzsche gemeinsam zu lesen, um wichtige Anregungen für eine kritische Theorie zu erschließen, ist heute kaum mehr überraschend und auch daran, dass sich bei beiden radikale Kritikformen finden, besteht wohl kein Zweifel. Inwiefern handelt es sich aber um Formen negativer Kritik – und hat diese, so vorhanden, wiederum eher einen vorbereitenden Charakter oder wird sie als eigenständige, sich selbst genügende Kritikform verstanden? In beiden Fällen haben wir es mit ausgesprochen ambivalenten Situationen zu tun, die wir nun kurz ausleuchten müssen. Marx’ Denken lässt sich, wenn man die oben angedeutete Lesart Hegels als eines gesellschaftstheoretisch geerdeten Philosophen ernst nimmt, durchaus als Fortsetzung des hegelschen Projekts verstehen – auch wenn Marx Hegel zuweilen einer vehementen Kritik unterzieht (vgl. Marx 1974). Allerdings forciert Marx dabei den sozialwissenschaftlichen Charakter der Gesellschaftstheorie gegenüber Hegel noch einmal entschieden. Mit Hegel versteht er allerdings Geschichte, die er bekanntlich als eine Geschichte der Klassenkämpfe begreift, weiterhin als eine Abfolge von Negationen. Wie, so lautet die für die vorliegenden Zwecke der Erkundung von Elementen negativer Kritik bei Marx entscheidende Frage, nimmt Marx dabei neben der Beschreibung in der Vergangenheit liegender Negationsketten die Spannungen seiner eigenen Zeit wahr und versucht er, ähnlich wie Hegel, noch einmal das Ganze der Geschichte zu begreifen, also eine insgesamt konstruktive Perspektive auf das soziale Geschehen zu entwickeln? Hier ist Marx deutlich ambivalent: Einerseits lehnt er soziale Utopien entschieden ab, verordnet also gewissermaßen ein Bilderverbot und in dieser Hinsicht kann seine Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit in dem Sinne als eine negative Kritik gelten, dass er die vorhandenen Widersprüche identifiziert, gesellschaftliche Strukturen davon ausgehend radikal in Frage stellt, aber zugleich darauf verzichtet, einen konstruktiven Ausweg theoretisch vorauszuentwerfen. Gleichzeitig aber findet sich bei ihm auch ein deutlicher Erbteil der hegel-

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schen Geschichtsphilosophie, angesichts dessen es zuweilen so scheinen könnte, als integriere Marx den historischen Wandel durchaus in ein in letzter Instanz konstruktives Fortschrittsnarrativ, dessen Ende er überdies zu erfassen sucht. Solche über die negative Kritikperspektive hinausgehenden konstruktiven Antizipationen finden sich dann auch tatsächlich hie und da sowohl in seine Frühschriften als auch in sein Spätwerk eingestreut. (Mit der Ambivalenz in Marx’ Kritikbegriff setze ich mich anhand des Zusammenhangs von Subjektkonstitution und Entfremdung andernorts ausgiebiger auseinander. Vgl. Flügel-Martinsen 2010.) Dabei ist an die JägerFischer-Hirt-kritischer-Kritiker-Utopie aus dem gemeinsam mit Engels verfassten Text Die deutsche Ideologie (Marx und Engels 1973, S. 33) ebenso zu denken wie an die Vision der „vernünftige[n] Beziehungen zueinander und zur Natur“ (Marx 1972, S. 94), aus dem berühmten Fetischkapitel des ersten Kapitalbandes oder schließlich an die vielleicht noch berühmteren Überlegungen vom Ausgang aus dem Reich der Notwendigkeit und dem Übergang ins Reich der Freiheit, wie sie in den von Engels zum dritten Kapitalband redigierten späten Arbeiten Marx’ dargelegt werden (Marx 1973, S. 828). Fragen wir aber wiederum nach dem Verhältnis von negativer und konstruktiver Kritik, dann zeigt sich erneut, dass diese konstruktiven Perspektiven der Kritik einiges aufbürden und sie im Endeffekt eher belasten als befördern dürften: Während die negative Kritik an den immanenten Widersprüchen sozialer Strukturen ansetzen kann, bedarf diese konstruktive Perspektive darüber hinausgehender, positiver normativer Annahmen, die sich freilich nur um den Preis theoretisch-konzeptioneller Inkonsistenzen erreichen lassen: Ein geschichtsphilosophisches Fortschrittsnarrativ dürfte ohne jene metaphysischen Hintergrundannahmen kaum zu haben sein, die Marx ja eigentlich vehement verwirft, und ebenso lässt sich ein Vorgriff auf künftige Verhältnisse und deren Struktureigenschaften kaum bewerkstelligen, wenn man die im Kern streng sozialwissenschaftliche Maßgabe Hegels, der sich Marx umso mehr verpflichtet weiß, auch nur halbwegs ernst nimmt, dass sich nur Gegenwärtiges und Vergangenes analytisch und kritisch erfassen lassen, der Vorausgriff in Zukünftiges aber dem Verlauf zukünftiger Kämpfe überlassen bleiben muss. Bei Nietzsche liegen die Dinge etwas anders. Seine genealogische Kritik (vgl. Nietzsche 1999e, f) ist vor allem eine zersetzende Kritik, die ein mächtiges Mittel an die Hand gibt, um überkommene Begriffe ebenso wie normative Gefüge einer rückhaltlosen Befragungsbewegung zu unterziehen. Diesen Vorgang umschreibt Nietzsche mit dem eindrücklichen Bild des mit dem Hammer-an-die-Götzen-Rührens, die, solchermaßen befragt, einen hohlen Ton erklingen lassen (Nietzsche 1999g, S. 57, 58). Dass die paralysierende Bewegung der genealogischen Befragung negativ verfährt, zeigt sich an verschiedenen Schichten und Motiven seines Denkens – von der Religions- und Glaubenskritik über die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie bis hin zur Moralphilosophie. (Mit diesen Dimensionen von Nietzsches Denken beschäftige ich mich im Nietzsche-Kapitel meines Buches Jenseits von Glauben und wissen ausführlich. Auf die dortige eingehende Exegese von Nietzsches Schriften, auf die ich an dieser Stelle verzichten werde, sei deshalb verwiesen. Vgl. Flügel-Martinsen 2011a, S. 71–99) Wichtig für die Entfaltung der negativkritischen Perspektive in Nietzsches Denken sind vor allem die Schriften der 1880er-

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Jahre: Während er in den frühen Schriften seine Religions-, Glaubens- und Moralkritik noch stark auf einen emphatisch aufgeladenen, unbändigen und heroischen Begriff des Lebens stützt (Nietzsche 1999a, b), geht er in Schriften wie Morgenröthe (Nietzsche 1999c), Die fröhliche Wissenschaft (Nietzsche 1999d), vor allem aber in Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche 1999e) und Zur Genealogie der Moral (Nietzsche 1999f) dazu über, eine genealogisch befragende, negative Kritik, die auch vorher schon hie und da eine Rolle spielte, zu entfalten. Entscheidend für diese Kritikform ist, dass sie normativ und begründungstheoretisch ausgesprochen sparsam verfahren kann und nicht mehr auf ein positives Gegenbild angewiesen bleibt. Sie operiert negativ, indem sie die impliziten und aus Nietzsches Sicht haltlosen Vorannahmen oder unterschlagenen Voraussetzungen des zu Kritisierenden durchleuchtet, und bedarf so nicht länger einer positiven Alternative, von der aus Begriffe, Konzepte und Überzeugungssysteme in Frage gestellt werden. In der Wissenschaftsund Wahrheitskritik weist er so bspw. darauf hin, dass auch die moderne Wissenschaft, der Glauben und Überzeugung dem eigenen Anspruch nach fremd sein müssten, weil sie stattdessen auf ihrer Objektivität beharrt, in ihrem Innersten dennoch von einem Glauben an Wahrheit und Gewissheit zusammengehalten werden (Nietzsche 1999d, S. 574–577). Arbeitet man das in einer negativen Kritikbewegung heraus, gelangt man zu einer Wissenschaftskritik, die keine konstruktive Gegenposition benötigt, um ihre Stoßkraft zu entfalten. Ähnlich argumentiert Nietzsche dann auf dem Feld der Moralphilosophie, wenn er die Moralphilosophen als verschleierte Advokaten ihrer jeweiligen Moral entlarvt (Nietzsche 1999e, S. 19) und so deren Objektivitätsanspruch in Perspektivismus auflöst. Allerdings will sich auch Nietzsche offenbar nicht mit der negativen Denkbahn allein bescheiden, wodurch sein Denken in eine eigentümliche Schieflage gerät: Zwar verfährt er in seiner Kritik zunehmend genealogisch, aber der heroische Lebensbegriff des Frühwerks taucht in Form seines fragwürdigen Theorems des Lebens als Willen zur Macht auch in den späteren moralphilosophischen Schriften wieder auf (vgl. Nietzsche 1999e, S. 207). Das sind aber letztlich schwache Passagen in Nietzsches Schriften, die nichts daran ändern, dass in ihren anderen Teilen die Konturen einer negativen kritischen Theorie umrissen werden, an die, wie wir im nächsten Schritt sehen werden, die Bemühungen um eine negative Kritik in den Theoriediskursen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart anschließen können.

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Modelle negativer Kritik

Für die nun zu betrachtenden Positionen, die als eigentliche Modelle negativer Kritik verstanden werden können, da sie diese nicht mehr lediglich als eine Vorstufe, sondern als eine eigenständige, vielleicht sogar die einzig haltbare Form von Kritik betrachten, sind die Überlegungen Nietzsches von großem Gewicht: Adorno weist ihn in seiner Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie nicht nur als denjenigen unter den „sogenannten großen Philosophen“ aus, dem er „am meisten“ (Adorno 1997c, S. 255) zu verdanken habe, sondern er macht zudem explizit darauf aufmerksam, dass Nietzsche eine negativ verfahrende, bestehende Positivitäten uner-

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müdlich befragende Kritikform entwickelt habe, die als eine Ideologiekritik zu verstehen sei, die er „viel differenzierter durchgeführt hat als etwa die marxistische Theorie“ (Adorno 1997c, S. 255). Bei Foucault und Derrida ist der Einfluss Nietzsches geradezu unübersehbar: Beide beziehen sich in ihren Schriften nicht allein wiederholt auf Nietzsche (vgl. exemplarisch: Foucault 2001a, 2003, S. 15–28; Derrida 1994a, 2000), sondern ihre Denkbewegungen lassen sich geradezu als nietzscheanisches Philosophieren deuten (vgl. Flügel-Martinsen 2008b, Kap. 8). Raymond Geuss schließlich zählt Nietzsche unter die für ihn wichtigsten Philosophen (Geuss 2005b, S. 40) und bedient sich in materialen Untersuchungen einer Weiterentwicklung von Nietzsches Genealogie (Geuss 2002). Die verschiedenen Überlegungen haben also einen gemeinsamen ideengeschichtlichen Ausgangspunkt und teilen einige Motive. Man muss sich aber gleichwohl davor hüten, sie vorschnell zu einem einzigen Diskurs negativer Kritik zusammenzudenken. Adorno wurde von Derrida und Foucault erst spät und dann auch nur marginal in das eigene Denken einbezogen (vgl. Foucault 2005a, S. 189, 2005b, S. 243; Derrida 2002). Foucaults und Derridas Unternehmung weisen zwar bestimmte programmatische Schnittmengen auf, sind aber weit davon entfernt, als Teile einer gemeinsamen Unternehmung verstanden werden zu können. (Derrida hatte als der Jüngere wohl anfangs so etwas wie ein Schülerverhältnis, das sich dann aus Gründen, denen hier nicht nachgegangen werden kann, stark abgekühlt hat (Eribon 1989, S. 189 ff.; Peeters 2013, S. 190–193, 234–236, S. 345–353), Geuss’ Kritikprojekt schließt in bestimmten Hinsichten an Denkschichten Adornos (vgl. Geuss 2005a) und Foucaults (Geuss 2002, Kap. 1) an, muss aber dennoch zweifelsohne als ein eigenständiges und hochgradig originelles Denken verstanden werden. Gleichwohl teilen diese so unterschiedlichen Denker, wie wir sogleich sehen werden, die Überzeugung, dass wir in der Kritik wie in der philosophisch-theoretischen Reflexion insgesamt die Verpflichtung auf Konstruktivität abstreifen und sie gegen eine rückhaltlos befragende Haltung eintauschen sollten. Bei Adorno wird diese negative, befragende Denkhaltung mit einer auf Nietzsches Wissenschaftskritik zurückbezogenen Kritik des Systemdenkens im Ganzen verbunden (vgl. Adorno 1997a, S. 31). Kritik ist daher in theoretischer wie auch in praktischer Hinsicht als eine Widerstandsbewegung zu begreifen: Während sie in theoretischer Hinsicht gegen die gleichsam bürokratisch-umfassende Verfügung protestiert, zu der sich das Systemdenken versteigt, ist sie in praktisch-politischer Hinsicht als eine „Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und [. . .] gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte“ (Adorno 1997b, S. 785) zu verstehen. Wir haben bereits in der Einleitung darauf hingewiesen, dass Adorno dieser Kraft zum Widerstand als solcher, ohne weitere Absicherungen oder Legitimierungen, eine radikale Berechtigung zur insistenten Kritik zuspricht und daher entschieden gegen jegliche Zähmung durch Verpflichtungen auf Konstruktivität argumentiert (vgl. Adorno 1997b, S. 792/793). Eine solche, befragende und gegen die Gewaltförmigkeit systematischen Philosophierens gerichtete Kritik findet sich auch in Derridas Dekonstruktion. Sein negativ-auflösendes Denken, das keine Gewissheiten gelten lässt, im Gegenteil diese mit einer insistenten dekonstruktiven Befragungsbewegung konfrontiert, ist zahlrei-

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chen Anfeindungen ausgesetzt gewesen, die er selbst so kommentiert hat, dass mit den gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen „gewisse deutsche oder anglo-amerikanische Theoretiker“ diejenigen Philosophen, „die staunen, die Fragen stellen“ (Derrida 2003a, S. 15), still zu stellen suchen, indem ihnen der Vorwurf gemacht wird: „Was Sie sagen, ist nicht wahr, da Sie die Wahrheit in Frage stellen, Sie sind also ein Skeptiker, ein Relativist, ein Nihilist, Sie sind kein ernsthafter Philosoph“ (Derrida 2003a, S. 16). Derrida hat dem eine andere philosophisch-theoretische Denklinie entgegengesetzt, die er bildlich als ein dekonstruktives Zum-PlatzenBringen des Trommelfells der Philosophen bezeichnet (Derrida 1999) und er hat in seinem späten Denken eine radikalkritische politische Philosophie entworfen (vgl. Derrida 1994a, b sowie 2003b), die eine analytische und eine emanzipatorischkritische Dimension umfasst – aber gerade keine Dimension der Normativitätsbegründung. Seine Dekonstruktion setzt zersetzend statt begründend an den internen Antinomien von Begriffen an, die, weil nicht fest in sich ruhend, sondern intern widersprüchlich verfasst, auto-dekonstruktive Tendenzen aufweisen (vgl. Derrida 2003b, S. 206); an denen also eine dekonstruktive Kritik möglich ist, ohne dass sie auf normative Gründe angewiesen wäre. Die Normativität einer solchen Kritik (vgl. Flügel-Martinsen 2010, 2011a, 2012) ist eine negative, die nicht auf Begründungen angewiesen ist. Sie stützt sich vielmehr auf eine dekonstruktive Bewegung, die Derrida expressis verbis als emanzipatorisches Geschehen begreift (vgl. Derrida 1994b, S. 62), da es uns durch sie doch möglich wird, diskriminierende und hierarchische Begriffsgebäude in Frage zu stellen. Derrida hat in seinen Arbeiten von Anfang an begriffliche Entgegensetzungen dekonstruiert, indem er in beharrlichen Befragungen herausgestellt hat, dass das jeweils Andere in den von ihm abgegrenzten Begriff eindringt – und dass damit die Dignität der einen Seite der Unterscheidung ins Schwanken gerät. Es handelt sich nämlich stets um hierarchische Unterscheidungen, die die eine Seite der Unterscheidung privilegieren: Vernunft/ Unvernunft, Mann/Frau, Zivilisation/Barbarei, Einheimischer/Fremder usf. – das abendländische Denken hält eine Vielzahl solcher hierarchischer Distinktionen bereit (vgl. zum Motiv des Dekonstruktivismus aus feministisch-kritisch-theoretischer Perspektive den Beitrag von Aulenbacher im Handbuch). Für den Bereich der Politischen Theorie ist hier seine Diskussion der Unterscheidung von (illegitimer) Gewalt und (legitimem) Recht einschlägig, die im Kern auf den Nachweis hinausläuft, dass das Recht durch Gewaltakte gesetzt wird und so an seinem ‚Ursprung‘ bloße Gewalt und nicht eine legitime Gründung steht, die sich zudem in ihm fortschreibt (vgl. Derrida 1994b). (Das ist auch schon die These Walter Benjamins (1980), mit dem sich Derrida auch umfänglich auseinandersetzt (vgl. Derrida 1994a). Vgl. hierzu auch Flügel-Martinsen und Martinsen 2014) Eine solche Denkbewegung hat ganz offensichtlich Emanzipation und Kritik zum Ziel, lässt sich aber nicht auf die konstruktive Aufgabe der Begründung ein, sondern verwirft diese rundheraus. Während begründungstheoretische Ansätze behaupten, Normativitätsbegründungen seien die Voraussetzung der Kritik, da sie dieser und damit auch der Theorie im Ganzen erst die notwendige Orientierung geben, sucht Derrida das Gegenteil zu demonstrieren: Emanzipatorisch-kritische Öffnungsbewegungen, die normative Ordnungen verschieben oder gar sprengen, werden gerade

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erst durch die Dekonstruktion normativer Gründe möglich. Diese Überlegung umfasst mindestens implizit ein starkes Plädoyer für negative Kritikformen, weist sie doch erstens entschieden zurück, dass eine normativ bedeutungsvolle Perspektive, die Kritik und Emanzipation ermöglicht, auf Begründungen angewiesen ist, und behauptet zweitens nicht nur, dass Begründungen ein vergebliches, da von autodekonstruktiven Bewegungen heimgesuchtes Unterfangen sind, sondern wirft begründungstheoretischen Unternehmungen drittens vor, dass Begründungen selbst als Machtdiskurse begriffen werden müssen. Diese These ist für die Arbeiten Michel Foucaults wesentlich, die ebenfalls einen bedeutenden Beitrag zu negativen Kritikformen darstellen. Wie auch Derrida weist Foucault Begründungsversuche entschieden zurück und setzt stattdessen als ein skeptischer Denker (vgl. Veyne 2008, Kap. III) auf eine negativ befragende Theorie, die Analytik und Kritik kombiniert (vgl. Foucault 1971, S. 62–72), ohne auf positive Alternativen zu zielen. Foucault bezieht sich dabei explizit auf Nietzsche (Foucault 2001a) und hat eine Diskursanalyse von Wahrheitsdiskursen als Machtdiskurse entworfen (vgl. Foucault 1971), für die eine auf entgründende Weise verfahrende Kritik wesentlich ist. Er versteht Kritik dabei als eine fortwährend befragende Kritik und Selbstkritik (vgl. Foucault 2001b, S. 1391), der es um Öffnung statt um Begründung zu tun ist (vgl. Foucault 2001b, S. 1393). Bei Foucault treffen wir ebenso wie bei Derrida auf eine Haltung, die die negativ befragende Kraft der Kritik nicht für eine Vorstufe hält, sondern in ihr den eigentlichen Zug von Kritik ausmacht: Für Foucault ist diese Kritik geradezu deshalb eine radikale Kritik, weil sie sich nicht von einer vorgängigen oder parallelen Suche nach einer Alternative abhängig macht, sondern radikal verneint. Das macht sich nicht nur im theoretischen Gebrauch der Kritik bemerkbar, sondern bezeichnet darüber hinaus eine Haltung, die Foucault bei den zahlreichen Gegenbewegungen aufspürt, denen er in seinem Vorlesungszyklus zur Geschichte der Gouvernementalität nachgeht (Foucault 2004). In seinem Vortrag Was ist Kritik? macht er diese negative Haltung der Kritik sogar zur Definition von Kritik, indem er dort behauptet, Kritik sei, „die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1990, S. 12). In seiner Auseinandersetzung mit dem Aufklärungsdiskurs, insbesondere demjenigen Kants, in dem ja, wie wir oben sehen konnten, Kritik eine zentrale Rolle zukommt, zugleich aber negative Kritik als bloße Vorbereitung verstanden wird, macht Foucault noch einmal mit großem Nachdruck deutlich, dass Kritik aus seiner Sicht mit der befragenden und aushöhlenden Kritik geradezu zusammenfällt, die ich hier als negative Kritik zu deuten vorschlage (Foucault 2001b, S. 1393). Diese Kritik ist auch in dem Sinne reflexiv, dass sie eine Befragung unserer eigenen Identitäten umfasst, sie ist eine „critique permanente de nous-mêmes“ (Foucault 2001b, S. 1391), aber ihr Ziel ist dabei kein absicherndes, wiedergewinnendes, sondern ein auflösendes: Es geht nämlich darum, die Kontingenz des Soseins unserer Identität herauszustellen (Foucault 2001b, S. 1393). Eine engagierte Verteidigung negativer Kritik, die der gängigen politischen Philosophie Machtvergessenheit und Affirmation zum Vorwurf macht, findet sich in den Theoriediskursen der Gegenwart vor allem bei Raymond Geuss. Diese negative Kritik ist nicht allein für sein Buch über Die Kritik der politischen Philosophie (Geuss 2011) entscheidend, sondern sie kommt ebenso in seiner genealogi-

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schen Kritik der Versuche, Privatheit philosophisch wohlbegründet zu fixieren, zum Tragen. Dort zeigt Geuss, dass normative Unterscheidungen als Formen „ideologische[r] Konkretion“ (Geuss 2002, S. 21) zu verstehen sind, deren konkrete Ausgestaltung aber von politischen Auseinandersetzungen abhängig ist und die folgerichtig gerade nicht philosophisch begründet werden können. Genau diese Begründungs- und Konstruktivitätsfixierung ist aber aus Geuss’ Sicht für die Politische Philosophie der Gegenwart kennzeichnend: Politische Philosophie (Geuss 2011) als auch Ethik (Geuss 2005b) beharren in ihren Hauptströmungen nach seiner Überzeugung fatalerweise mit großem Nachdruck auf der Aufgabe der Begründung und schließen damit radikale Kritikformen, die das Konstruktivitätsgebot verwerfen, aus (vgl. Geuss 2014). Durch eine solche Vorfestlegung wird aber nicht nur der Kontakt zu der durch Machtbeziehungen gekennzeichneten sozialen und politischen Wirklichkeit unterbrochen (Geuss 2011, Teil 1), sondern darüber hinaus die Perspektive radikaler Kritik verabschiedet (Geuss 2011, S. 129/130 und insgesamt Geuss 2014). Geuss findet hierfür folgende pointierende Formulierung: „Diese [die auf Konstruktivität verpflichtende, OFM] Argumentation lehne ich vollkommen ab: Akzeptiert man sie, gestattet man der bestehenden Gesellschaftsordnung, die Bedingungen zu diktieren, nach denen sie kritisiert werden darf, und man gestattet ihr, jedem Kritiker eine theoretisch ungerechtfertigte Last des positiven Nachweises aufzuerlegen“ (Geuss 2011, S. 130).

Geuss’ Positionierung in diesem Deutungsstreit um die Gestalt von Kritik fasst damit noch einmal sehr gut die Motive zusammen, die explizit auch Adornos Plädoyer für eine negative Kritik getragen haben. Wie sich auch in Auseinandersetzung mit Derrida und Foucault gezeigt hat, kann negative Kritik daher insgesamt als eine kraftvolle und vor allem radikale Kritikform verstanden werden, die sich einer zähmenden Einverleibung in hegemoniale Deutungsordnungen wirkungsvoll entzieht.

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Kritisches Denken mit negativer Dialektik Daniela Holzer

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag widmet sich einer Erkundung von Möglichkeiten negativ-dialektischen Denkens, die als Methode für Theorieentwicklung zugänglich gemacht werden soll. Ausgangspunkt sind zwei Problemlagen: Erstens, dass unter „Methoden“ zumeist nur empirische Herangehensweisen gefasst, während für Theorieentwicklung kaum Methoden ausgeführt werden. Zweitens, dass es keine explizite Methode kritischer Theorie gibt. Die negative Dialektik als eine der eindrücklichsten Ausformulierungen der Grundlagen kritischer Theorie wird von Adorno selbst als Methode und zugleich Nicht-Methode bezeichnet und auch im aktuellen Diskurs wird ein methodischer Entwurf weitgehend abgelehnt. Dies führt allerdings unweigerlich dazu, dass negativ-dialektisches Denken nur unter sehr hohem Aufwand und nur nach langjähriger Auseinandersetzung mit den Grundlagen und komplexen Feinheiten zugänglich und anwendbar wird. Damit verschließt sich negativ-dialektisches Denken für viele, insbesondere für unerfahrene Forschende, und wird zu einer Analysepraxis, die mit dem aktuellen Wissenschaftsbetrieb nur schwer vereinbar ist. Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag ein Entwurf einer negativ-dialektischen Methode der Theorieentwicklung und des kritischen Denkens vorgestellt. Entlang zentraler Aspekte negativer Dialektik – Kritik, Reflexion, Unauflöslichkeit von Widersprüchen, Negation, Nichtidentisches, Konstellationen, Erfahrung und Subjekt – werden Dimensionen und Denkweisen entworfen, die denkleitend eingesetzt werden können und dennoch der Komplexität und den Erkenntnissen der negativen Dialektik gerecht werden.

D. Holzer (*) Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Karl-Franzens-Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_30

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Schlüsselwörter

Negative Dialektik · Theoriebildung · Kritisches Denken · Kritische Methoden · Methoden der Theorieentwicklung · Methodologie

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Einleitung

„Die Formulierung Negative Dialektik verstößt gegen die Überlieferung“. So beginnt Theodor W. Adorno seine Vorrede in der „Negativen Dialektik“ (Adorno 1966/2003, S. 9) und er informiert in den ersten Sätzen über sein Vorhaben, idealistischen, an Synthese orientierten und damit affirmativen Dialektikverständnissen ein kritisches dialektisches Antisystem entgegenzusetzen. In seinen Argumentationen arbeitet Adorno die aus materialistischer, kritischer Sicht problematischen und unrichtigen Aspekte insbesondere der Hegelschen Dialektik heraus und formuliert von dieser Kritik ausgehend, dass angesichts derzeitiger gesellschaftlicher Verhältnisse Dialektik nur negativ sein könne. Adorno setzt negative Dialektik sogar weitgehend mit kritischer Theorie gleich und spricht davon, dass die „Negative Dialektik“ in weiten Teilen die nachträglichen methodischen Ausführungen zu Vorgehensweisen in seinen vorangegangen Forschungsarbeiten sei. In diesem Beitrag wird nun die Spur der negativen Dialektik unter dem spezifischen Fokus einer möglichen forschungsmethodischen Explikation für kritisches Denken und Theoriebildung aufgenommen. Insofern verstößt dieser Beitrag ebenfalls gegen Überlieferungen, nämlich gegen jene, Adornos negative Dialektik könne nicht auf Methoden heruntergebrochen werden, zu komplex, vielfältig, verwoben und verschlungen sei Adornos Entwurf. Dennoch wird in diesem für ein Handbuch spezielleren Beitrag die Skizze einer möglichen Methodologie negativer Dialektik entfaltet, nicht zuletzt, um das komplexe Denken Adornos zugänglicher zu machen und als Potenzial für kritisches Denken nicht brach liegen zu lassen.

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Ungenutzte Reserve

Adornos „Negative Dialektik“ bietet beeindruckende und für gesellschaftskritische Analysen höchstrelevante Einsichten, die allerdings schwer zugänglich, kaum systematisch explizierbar und daher nur schwer konsequent im Denken und Handeln umsetzbar sind. Dies birgt die Gefahr, sie als nicht praktikabel und eben nur von wenigen ExpertInnen fassbar abzutun und somit auf ein großes, radikal kritisches Potenzial zu verzichten. Zahlreiche vorliegende Interpretationen von Adornos Denken und Beschreibungen seiner Methode (z. B. Bonß 1983, 2011; Naeher 1984a; Ritsert 2011) helfen insofern nicht weiter, als sie entweder ganz spezifische Aspekte herausgreifen oder ebenso komplex sind wie die Schriften Adornos selbst (vgl. z. B. Honneth und Menke 2006). So bereichernd und wichtig solche Auseinandersetzungen sind, so wenig erschließen sie konkrete

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Verfahrensweisen negativer Dialektik. Berufungen darauf, Adornos Denken lasse sich nicht methodisch reduzieren und solle dies auch nicht, mögen gut begründet sein, verhindern allerdings gleichzeitig die Hebung des „Schatzes“ und die Möglichkeit, negative Dialektik zugänglich zu machen. Solche Arbeiten nähren – vielleicht sogar mitunter mit Absicht – den Mythos, bei der negativen Dialektik handle es sich um eine Art „Geheimlehre“ (vgl. Müller 2008, S. 287), die erst durchschaubar und damit auch anwendbar werde, wenn die Initiation über langjährige Auseinandersetzung und Übung erfolgt sei. „Neulinge“ bleiben lange ausgeschlossen, was jedoch nicht im Sinne kritischer Theorie sein kann, die sich die Aufgabe stellt, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern und dafür möglichst viele mit auf den Weg zu nehmen. Ebenso „geheimlehrig“ können manchmal jene Arbeiten erscheinen, die zwar negative Dialektik oder Adornos kritische Theorie als Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer Analysen benennen und zugleich schuldig bleiben, wie das Denken, der Blick geschult wurde, um solche Analysen anzufertigen. Es finden sich aber zumindest gelegentlich Hinweise: So spricht Ludwig A. Pongratz beispielsweise von einem „seismographischen Instrumentarium“ (2010a, S. 9 f.), Andreas Gruschka (1988, S. 38 f.) formuliert Leitfragen und Ute Guzzoni hebt den „langen, gewaltlosen Blick“ (2003, S. 117 ff.) hervor. Heinz Steinert konzentriert seine Überlegungen – zwar auf qualitative empirische Sozialforschung bezogen, aber auch für die hier aufgeworfene Frage kritischen Denkens relevant – auf „Klugheits- und Handwerks-Regeln der Interpretation“: „Genau hinsehen, geduldig nachdenken und sich nicht dumm machen lassen“ (Steinert 1998, S. 46, 65 ff.). Ausgangspunkt für ein Interesse an negativer Dialektik als Methode ist zunächst eine Faszination für das dichte Denkgewebe in der „Negativen Dialektik“ und mehr eine Ahnung denn eine Gewissheit davon, welche Relevanz negative Dialektik für kritische Wissenschaft haben könnte. Mit dem von Adorno selbst eingeforderten spielerischen Denken (Adorno 1965–66/2003, S. 133) kann die negative Dialektik darauf befragt werden, inwiefern sie als Denkhorizont, als Lesart, Reflexionsinstanz und vielleicht sogar als eine Art „Verfahren“, wenn auch nicht in einem engen Methodenverständnis, für die Entwicklung von Theorie und von kritischem Denken erschlossen werden kann. Die „Negative Dialektik“ kann und soll Inspiration dafür sein, nicht dogmatische Vorgabe und es ist daher kein Denken über Adorno, sondern ein Denken mit Adorno. Die Überlegungen sollen Mut machen, sich auf komplexes, vieldimensionales, radikal kritisches Denken einzulassen und gleichzeitig eine Art Handreichung sein, entlang derer sich solches Denken aneignen und üben lässt. Gegen die Komplexität und die zuweilen irritierende „Andersartigkeit“ der negativen Dialektik wehrt sich das Denken: zu deformiert scheint es von traditionellen, vorherrschenden Vorstellungen von Eindeutigkeiten und linearen Kausalitäten, um sich auf negativ-dialektisches Denken konsequent einlassen zu können, zu sehr strebt das Denken nach Auflösung von Widersprüchen, nach klaren, eindeutigen Erklärungen. Das bietet negative Dialektik nicht. Sie bietet lediglich die Möglichkeit komplexer, mehrdimensionaler, radikal kritischer Denk- und Verhaltensweisen, sie fordert Verflüssigungen des Denkens und Offenheit für Unbestimmbares.

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Methodenverständnisse erweitern

Adorno selbst spricht davon, mehr noch in der „Vorlesung über Negative Dialektik“ als in der „Negativen Dialektik“ selbst, diese sei Methode und zugleich nicht Methode (vgl. Adorno 1966/2003, S. 148). Diese Feststellung ist in hohem Maß einem zur damaligen Zeit vorherrschenden engen Methodenbegriff geschuldet. Es ist also zunächst zu untersuchen, mit welchen wissenschaftlichen Methodenverständnissen wir aktuell konfrontiert sind und welche kritischen Möglichkeiten sich dadurch ergeben, aber auch inwiefern aktuelle Verständnisse weiterhin zu eng gefasst sind und gerade mit Adornos Denken aufgebrochen werden können und müssen. Das derzeit vorherrschende Methodenverständnis ist in zumindest zweierlei Hinsicht zu erweitern: Zum einen ist der Reduktion auf instrumentelle und rein formale Operationsanweisung ein breiterer Methodenbegriff entgegenzusetzen, der mehr, auch nicht formalisierbare Forschungswege zulässt. Zum zweiten bedarf es einer Ausweitung auf einen Methodenbegriff, der nicht lediglich an empirische Verfahren gebunden ist, sondern auch Methoden der Theorieentwicklung umfassen kann. Adorno hält fest, seine Ausführungen seien „so etwas wie eine methodische Betrachtung dessen [. . .], was ich überhaupt tue“ (Adorno 1965–66/2003, S. 15) und er spricht von „methodischen Grundsätzen“ (Adorno 1965–66/2003, S. 49). Zugleich wehrt er sich gegen eine methodische Reduzierung. In positivistischen Wissenschaftsverständnissen folgen Methoden einer Subsumptionslogik, in der innerhalb bestehender Systematiken Erfasstes zu- und eingeordnet wird, die Systematik selbst weder hinterfragt wird noch an ein Interesse an einer Veränderung besteht (vgl. Horkheimer 1937/1984; Adorno 1966/2003, S. 43; zum Positivismus vgl. auch Müller/Bittlingmayer im Handbuch). Methoden werden so als abstrakte Operationalisierungen verstanden, wohingegen kritische Theorie auf einer unbedingten Verbindung mit Inhalten, auf notwendiger (Selbst-)Kritik und (Selbst-) Reflexion insistiert (vgl. Naeher 1984b, S. 184; Ritsert 2011). Entsprechend unzulänglich sind Begriffe wie „Instrumente“ oder „Werkzeuge“ zur Beschreibung kritischer Methoden, verweisen sie doch zu sehr auf rein formalisierte Operationalisierungen, und doch wird hier zuweilen auf diese Worte zurückgegriffen, um damit zu beginnen, einen negativ-dialektischen „Werkzeugkasten“ zu füllen, der genutzt werden kann und sich doch zugleich gerade dieser Nutzung immer wieder entzieht. Adorno betont im Besonderen, dass nicht sichtbare, nicht identifizierbare Wirklichkeitsaspekte in operationalisierender Subsumption nicht zur Geltung gelangen können und insofern sind die Leerstellen des Werkzeugkastens als solche mit wahrzunehmen. Adorno insistiert darauf, dass Methoden nicht von Inhalten zu trennen sind und entsprechend skeptisch müssen Versuche gelesen werden, die Adornos Denken von inhaltlichen Momenten und Erkenntnisinteressen „befreien“ wollen und es ganz auf methodische und sprachliche Aspekte reduzieren (vgl. z. B. Bartonek 2011; Brunkhorst 1990; Heidbrink 2004). Adornos radikal gesellschaftskritisches Anliegen würde amputiert und ohne das emanzipatorische und herrschaftskritische Interesse hört eine Wissenschaft auf, kritische Theorie zu sein. Dialektik ist weder nur Methode noch nur Sache, sie verbindet diese beiden Aspekte aber nicht lediglich oberflächlich, sondern

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diese werden bereits untrennbar vorgefunden (vgl. z. B. Thyen 1989, S. 265). Die Verkürzung des Methodenbegriffs auf formalisierte Verfahren ist aber, trotz vielfacher methodischer Erweiterungen und Entwicklungen, auch im aktuellen Wissenschaftsbetrieb weiterhin vorherrschend. An solchen formalisierten Verfahrensweisen kritisiert Adorno das Primat der Methode anstatt der Gegenstände und Inhalte (vgl. Adorno 1969, S. 294). Negative Dialektik ist aber „kein klappernder Algorithmus, den man nur genau befolgen müßte, damit unten die ‚Wahrheit‘ herausfällt“ (Steinert 1998, S. 53). Eng mit dem Verständnis von Methode als formalisierte Verfahren verbunden ist die fast ausschließliche Reduzierung auf empirische Forschung, wie ein Blick in Hand- und Lehrbücher zu Methoden der Sozial- und Humanwissenschaften beispielhaft verdeutlicht. Theoriebildung bleibt weitgehend im Dunkeln und zudem werden Methoden kritischer Theorien häufig als unwissenschaftlich diffamiert (vgl. z. B. Opp 2005). Theorie scheint manchmal eher „lästige“ Vorarbeit zu sein, um dann zur „wirklichen“, empirischen Forschung zu kommen. Die Hegemonie solcher Wissenschaftsverständnisse schlägt sich entsprechend in der Ausbildung von Studierenden und in deren Qualifizierungsarbeiten nieder. Auch im restlichen Wissenschaftsbetrieb ist Theorieentwicklung kaum weniger verpönt, gehe sie angeblich zu sehr an der Wirklichkeit vorbei und sei schlimmstenfalls sogar nur Fantasterei. Diesem spekulativen Moment von Theorie sei gar nicht widersprochen, vielmehr liegt gerade darin ein wesentliches Element, um eventuell nicht Sichtbares, um blinde Flecken und empirisch vielleicht nicht Wahrnehmbares zur Geltung zu bringen (vgl. Gruschka 2006, S. 36; Pongratz 2010b, S. 10). Unterschiede innerhalb empirischer Ausrichtungen zeigen sich daran, dass qualitative Empirie Theoriebildung zumindest teilweise mit bedenkt oder, wie z. B. in der Grounded Theory, sie als wesentliches Element, sogar Ziel, der empirischen Forschung besonders hervorhebt. Dass Theorien nicht einfach da sind, sondern ebenso einer gezielten Entwicklung bedürfen, bleibt zumeist unterbeleuchtet, eine der wenigen Ausnahme stellt beispielsweise Tenorth (2010) dar. Es entsteht zuweilen der Eindruck, Theorie „passiere“ einfach oder sei Ergebnis eines nicht nachvollziehbaren und nichtmethodischen Prozesses. Wenn Methoden der Theoriebildung referiert werden, sind diese häufig – wiederum den vorherrschenden Wissenschaftsverständnissen entsprechend – an logischen Verfahren und an Kriterien der Widerspruchsfreiheit und Wertfreiheit orientiert (vgl. z. B. Astleitner 2011) und somit kritischer Theorie, dialektischer Verfahren überhaupt und negativer Dialektik im Besonderen diametral entgegengesetzt. Im gesamten Lehr- und Forschungsbetrieb, inklusive wissenschaftlicher Fördermaßnahmen und universitätspolitischer Steuerungsinstrumente, ist Empirie vorherrschend. Theoriebildung wird hingegen entweder gar nicht als relevant wahrgenommen oder als „nicht wirkliche“ Forschung abqualifiziert. Das Engagement nicht nur für kritische Wissenschaft sondern insbesondere für erweiterte Methodenverständnisse, die auch Methoden der Theoriebildung in den Blick nehmen, ist daher unbedingt erforderlich. Einen möglichen, erweiterten Methodenbegriff, der offen und zugleich nicht zu breit ist, formuliert Ritsert anknüpfend an Adorno: „Man kann unter ‚Methode‘ in der Tat auch die Einheit der allgemeinsten syntaktischen, erkenntnistheoretisch-ontologischen und praxisorientierten (pragmatischen) Grundvorstellungen verstehen, auf deren Hintergrund sich ein Autor mit der

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D. Holzer

Mannigfaltigkeit der ihn interessierenden Gegenstände und Themen auseinandersetzt“ (Ritsert 2011, S. 224). Für die weiteren Ausführungen ist Adorno nun mehrfach beim Wort zu nehmen: Zum einen fordert Adorno, dass kritische Theorie nach Selbstreflexion, Selbstkritik und an gesellschaftlichen Verhältnissen orientierte Veränderungen und Erweiterungen verlange. Entsprechend ist die negative Dialektik Adornos als Ausganspunkt zu nehmen und sind reflexive und kritische Überschreitungen geradezu gefordert. Zum anderen soll er beim Wort genommen werden, negative Dialektik sei Methode und zugleich nicht Methode. Entgegen mancher Empfehlungen von Adorno selbst und auch gegen die Warnungen der Methodologisierung negativ-dialektischen Denkens, trotz der Nicht-Trennbarkeit von Methode und Inhalt und im Eingedenken der prinzipiellen Unabgeschlossenheit kann dennoch eine Methodenbeschreibung versucht werden, die entsprechend offen und vorläufig bleiben muss. Methoden kritischer Theorie dienen als Ausgangspunkt, um dann eine unmethodische Methode oder eine methodische Unmethode zu skizzieren.

4

Methoden kritischer Theorie

Kritische Theorie verfügt nicht in einem engeren Sinn über eine für sie spezifische Methodologie, sondern vielmehr geteilte erkenntnistheoretische Grundhaltungen, die methodisch unterschiedlich ausgeformt werden. Als Anklänge gemeinsamer kritischer Methoden werden teilweise Dialektik und Ideologiekritik genannt (vgl. z. B. Demirović 1999). Ideologiekritik und immanente Kritik sind spezifische Kritikbegriffe kritischer Theorien, die in Verbindung mit Reflexion, Selbstreflexion und Selbstkritik ein wesentliches Grundgerüst jener Zugänge beschreiben, an die in diesem Beitrag angeschlossen wird. Trotz geteilter gesellschaftskritischer Grundhaltung finden sich in unterschiedlichen Ausprägungen kritischer Theorien eine entsprechende Vielfalt an methodischen Ausformulierungen, die von diversen qualitativen Forschungsmethoden mit kritischem Hintergrund bis hin zu empirischen Methodenentwicklungen mit konkretem Bezug auf kritische Theorie oder einzelne VertreterInnen davon reichen (vgl. z. B. Oevermann 2011; Steinert 1998, 2007). So bereichernd und interessant diese Entwicklungen sind, so geben sie doch aufgrund ihrer empirischen Orientierung kaum Hinweise darauf, wie kritisches Denken und Theorie entwickelt werden könnte. Um negative Dialektik greifbar zu machen, sind daher unbedingt Bezüge zu Ideologiekritik, immanenter Kritik und Reflexion notwendig.

4.1

Kritische Kritik

Kritik erhält in der kritischen Theorie eine spezifische Ausformung, die sich sowohl von einem Alltagsverständnis als auch von einem allgemeinen wissenschaftlichen Kritikbegriff abgrenzt. In allen Wissenschaftsverständnissen spielt Kritik die Rolle, Vorhandenes und existierende Erklärungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu

Kritisches Denken mit negativer Dialektik

723

verändern. Solche Kritik ist aber nicht per se kritisch im Sinne einer kritischen Theorie, stellt sie doch nicht notwendig bestehende Verhältnisse und Strukturen in Frage, sondern orientiert sich vielmehr in den meisten Fällen an Optimierungen innerhalb bestimmter Ordnungen, normativen Annahmen, Wertesystemen etc., die selbst nicht weiter in Frage gestellt werden (vgl. Steinert 2007; Demirović 2008; Schäfer 2009; Jaeggi 2009; vgl. hierzu auch die Beiträge von Schiller, Demirović und Müller/Bittlingmayer im Band). Insofern ist solche Kritik wesentliches Element der Weiterentwicklung kapitalistischer Verhältnisse, da zu Fortschritt und neuen Entwicklungen beigetragen wird, ohne jedoch die grundlegende Frage zu stellen, ob und inwiefern diese Verhältnisse selbst in die Kritik zu nehmen wären. „So kann sich die bürgerliche Gesellschaft auch mit der Kritik noch arrangieren, wenn diese nämlich zu einem Katalysator ihrer permanenten Modernisierung und Selbstrevolutionierung wird“ (vgl. Demirović 2008, S. 26). Selbst gesellschaftskritische Ansätze finden sich zuweilen in diesen Denkgewohnheiten verhaftet, wenn zwar z. B. Ungerechtigkeiten aufgedeckt und negativ beurteilt werden, Veränderungen allerdings primär innerhalb von bestehenden Logiken und Verhältnissen gedacht werden. Dennoch werden bereits solche wertenden Beurteilungen in vorherrschenden Wissenschaftsverständnissen als zu wenig neutral und objektiv und damit unwissenschaftlich abgelehnt. Und doch reichen sie im Sinne kritischer Theorie noch bei weitem nicht aus. Masschelein (2003) und Sonderegger (2009) sprechen von einer Trivialisierung von Kritik, wenn darunter nur das Fällen von Urteilen verstanden werde und Bünger (Bünger in Bierbaum und Bünger 2007) wirft das Problem auf, dass Kritik häufig zu einem kritischen Habitus verkomme, der sich mehr in Gesten und Begriffen, denn in grundlegender Infragestellung äußert. Der Begriff Kritik reicht demnach nicht aus, um zwischen affirmativen und kritischen Zugängen differenzieren zu können, vielmehr bedarf es einer Ausformulierung „kritischer“ Kritik, indem der Begriff der Kritik „reflexiv radikalisiert“ werden muss (Demirović 2008, S. 26). In kritischen Theorien ist Kritik insbesondere dadurch ausgezeichnet, immanent und ideologiekritisch zu verfahren. Die Maßstäbe und Ausgangspunkte von Kritik sind nicht ahistorische, metaphysische Ideale, sondern vielmehr materiale, historisch eingebettete reale Bedingungen und Verhältnisse. In dieser materialistischen Grundverfassung kritischer Theorie kann Kritik daher nur radikal in dem Sinne sein, dass die bestehenden Verhältnisse daraufhin befragt werden, inwiefern sie bis hin zu ihren grundlegendsten Aspekten hin verändert werden können und müssen (vgl. z. B. Demirović 2008; Jaeggi 2009). Kritik erhält so politische Relevanz und entzieht sich zugleich selbst den Boden unter den Füßen, da sie – immanent – nur mit aktuell bestehenden gesellschaftlich geformten Denkweisen, Begriffen und Wahrnehmungen agieren kann, diese aber zugleich in die Kritik nimmt, also die „gesamte Sphäre negiert, in der sie sich bewegt“ (Adorno 1966/2003, S. 197). Solche Kritik ist nicht von einem Außenstandpunkt möglich, die KritikerInnen können keine Distanz zur kritisierten Sache einnehmen, sondern stehen vielmehr in denselben Verhältnissen und agieren entsprechend aus einer Innenperspektive heraus. Entgegen einer angeblich möglichen und nötigen objektiv distanzierten Wissenschaft, die den „Mythos nicht-normativer Kritik“ (Ritsert 2009) pflegt, for-

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dert kritische Theorie gezielt Parteinahme. Sie verfolgt ein emanzipatorisches Interesse und ist somit „explizit normativ imprägniert“ (Bittlingmayer et al. 2011, S. 195), indem sie an Zielen der Freiheit, Gleichheit, Solidarität orientiert ist, auch wenn diese nicht positiv formulierbar, sondern lediglich negativ als Unfreiheit, Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu fassen sind. Sie werden negativ formuliert, weil sie keine ahistorischen Ideale verkörpern, sondern positiv erst in der Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse entwickelbar, Verstöße dagegen aber jederzeit wahrnehmbar sind. Immanente Kritik verfährt dabei insofern radikal, als sie sämtliche Gegebenheiten in den Blick nimmt. Sie gibt sich nicht damit zufrieden, die Nichterfüllung bestehender Normen und Vorstellungen in die Kritik zu nehmen, sondern stellt diese selbst mit in Frage. Solche Kritik greift also – immanent – auf bestehende Maßstäbe zurück, prüft deren (Nicht-)Verwirklichung, nimmt die Maßstäbe selbst aber mit in die Kritik. In der Verwirklichung würden und müssten sich also die Maßstäbe selbst auch transformieren (vgl. z. B. Jaeggi 2009). Die normative Orientierung an Bedingungen eines guten, gerechten, freien Lebens ist somit notwendig und möglich und zugleich unmöglich: Es existieren Ahnungen davon und die Nichtverwirklichung lässt sich nicht zuletzt an der Erfahrung des Leidens unter ungerechten, unfreien Verhältnissen festmachen. Eine Verwirklichung ist prinzipiell realisier- und denkbar. Da die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse dies allerdings verhindern, sind diese bis an ihre Wurzeln – also radikal – zu kritisieren und zu negieren (vgl. Steinert 2007; Schäfer 2009). Unmöglich bleibt eine statische Festschreibung des Besseren. Solche Kritik verfährt insofern ideologiekritisch, als sie bestehende Verhältnisse auf verschleiernde Herrschaftsmomente befragt. Ideologie bezeichnet in materialistischen Theorien daher nicht (politische) Überzeugungen und auch nicht einfach „falsche“ Ideen, sondern Ideologie wird als spezifisches Herrschaftsinstrument gefasst, das darauf fußt, Hintergründe bestehender Verhältnisse im Dunkeln zu lassen und damit einen herrschaftsstabilisierenden Schein der Unveränderlichkeit erzeugt (vgl. z. B. Steinert 2007; Pongratz 2010a). Ideologie ist aber kein über die Verhältnisse ausgebreiteter Schleier, der lediglich zerrissen werden muss, um Dahinterliegendes sichtbar zu machen: „Ideologie überlagert nicht das gesellschaftliche Sein als ablösbare Schicht, sondern wohnt ihm inne“ (Adorno 1966/2003, S. 348). Ausgangspunkte für Ideologiekritik sind daher innere Widersprüche, die sichtbar gemacht und auf herrschaftsstabilisierende Momente befragt werden und welche Gründe dahinter liegen. „Der Kritik geht es nicht allein um Beanstandung [. . .], sondern darum zu begreifen, warum es dazu kommt“ (Demirović 2008, S. 32), da nur so an umfassenderen Transformationen gearbeitet werden kann. Die KritikerInnen sind aber ebenso in diese tief greifenden Ideologien verstrickt, sodass sie nie sicher sein können, nicht selbst verblendet zu sein. Ein paternalistischer Gestus, der andere als verblendet tituliert, selbst aber „durchblickt“, ist aus einer solchen Haltung heraus ebenso wenig möglich, wie klare Aussagen darüber, wie es denn besser sein könnte. Bereits das Bewusstsein selbst, auch das kritische, muss in die (Selbst-) Kritik genommen werden. Scheinhaft naturgesetzliche Elemente der Gesellschaft können aber als veränderlich und Täuschungen als solche sichtbar gemacht werden.

Kritisches Denken mit negativer Dialektik

4.2

725

(Selbst-)Reflexion

Reflexion und Kritik sind eng miteinander verwoben, insbesondere in der Zusammenführung „kritischer Reflexion“ oder „reflexiver Kritik“. Die Übergänge sind fließend und gelegentlich entsteht der Eindruck einer sprachlichen Doppelung. Allerdings haftet dem Begriff der Reflexion zumindest im Alltagssprachgebrauch ein weicheres Moment an, der sich in erster Linie aus dem alltagssprachlichen aburteilenden und damit harten Kritikbegriff und einer Konnotation von Reflexion mit einer weicheren „gelassenen Welt- und Selbstdistanzierung“ (Winkler 1999, S. 278) ergibt. Im Anschluss an den skizzierten Kritikbegriff der kritischen Theorie ist eine klare Unterscheidung der beiden Begriffe kaum möglich. Steinert sieht als „Errungenschaft gerade der deutschen Aufklärung, dass sie einen Begriff von Kritik eingeführt hat, der am besten mit ‚Reflexivität‘ zu übersetzen ist“ (Steinert 2007, S. 17). Und kritische Theorie ist für ihn in erster Linie durch Ideologiekritik, Dialektik – also Reflexivität – gekennzeichnet (vgl. Steinert 2007, S. 18). Gleich der Kritik ist auch Reflexion der Trivialisierung ausgesetzt und ein wesentlicher Motor bürgerlichen Fortschritts. Affirmative Reflexion wird so zu einer wesentlichen Funktion der Herrschaftsstabilisierung und Teil jener Ideologie, die es zu durchschlagen gälte. Wie bei der Kritik ist auch der Anspruch an die Reflexion entsprechend zu erhöhen: noch radikaler, noch genauer, noch kritischer – also kritische Reflexion (vgl. Steinert 2007, S. 14, 202). Solche Reflexion und Kritik richtet sich nicht nur auf die wahrgenommenen und kritisierten Verhältnisse sondern auch auf sich selbst: Selbstreflexion und Selbstkritik sind in kritischer Theorie unabdingbar, da sich KritikerInnen ihrer Position, ihrer Verformung und Verwobenheit nicht entziehen können, sich der eigenen Unzulänglichkeiten bewusst sein müssen, keine Außenperspektive einnehmen können. Adorno spricht daher von einem notwendigen „Denken [. . .] in zweiter Reflexion“ (Adorno 1966/2003, S. 201), das eine Korrekturfunktion hat. Denken in zweiter Reflexion umfasst bei Adorno eine nochmalige Reflexion, im Besonderen aber die Selbstreflexion, die Befragung des eigenen Denkens, der eigenen Erkenntnisse auf mögliche affirmative und negative Konsequenzen. Er spricht vom Aufbrechen von zuerst Gedachten, von vorher nicht Mitbedachtem und gibt ihr die Rolle eines Gegengifts (vgl. Adorno 1966/2003, S. 54, 200). Selbstreflexion impliziert damit eine Notwendigkeit „gegen sich selbst [zu] denken“ (Adorno 1966/2003, S. 358). Für Adorno bedeutet dies „eine Korrektur des Herrschaftsgestus identifizierenden Denkens“ (Schäfer 2004, S. 92). Die bei Adorno ausgesprochen wichtigen leiblichen Aspekte, die körperliche Wahrnehmung von Widerständen, Abneigungen und Unstimmigkeiten, können zu einem Ausgangspunkt solcher Selbstreflexion genutzt werden. Reflexion bleibt dabei eine offene Denkfigur, die Gedachtes und Gefühltes einer statischen Zementierung entzieht. „Reflexivität wird wahrscheinlich deshalb so selten realisiert, weil ihre Ergebnisse nicht einfach als ‚ewige Wahrheit‘ behauptet und tradiert werden können, vielmehr in der Rezeption eine aktiven, antiautoritären Mit-Vollzug erfordern“ (Steinert 2007, S. 251).

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5

D. Holzer

Grundzüge einer negativen Dialektik

In der „Negativen Dialektik“ formuliert Adorno erkenntnistheoretische Begründungen, Verfeinerungen und Erweiterungen und eben auch eine Art negativ-dialektischer „Methode“. Diese gilt es reflexiv weiterzuentwickeln, indem eine negativ-dialektische Denkart versucht wird, die zwar von Adorno und seinen Begründungen ausgeht, diese aber mehr als Inspiration denn als festgesetzten Maßstab nutzt. Insofern wird hier nicht die „Negative Dialektik“ referiert – unabhängig davon, ob dies, wie manche bezweifeln, überhaupt möglich und wünschenswert wäre, angesichts der Komplexität und Vielschichtigkeit und angesichts der Stellungnahme Adornos selbst, solche Philosophie soll nicht referierbar sein –, sondern jene Aspekte herausgegriffen, die für methodische Überlegungen als besonders relevant erachtet werden. Die Trennung der einzelnen Aspekte unter eigene Überschriften bleibt insofern inadäquat, als diese so eng miteinander verwoben sind, gegenseitig aufeinander verweisen und ineinander übergehen, dass eine Systematisierung immer unzureichend bleiben muss. Und doch sollen sie dem Versuch einer Klärung hilfreich sein.

5.1

Dialektik, negativ

Weder ist Dialektik ein genuin materialistisches Verfahren noch ist negative Dialektik lediglich ein dem Denken und der Feder von Adorno entsprungene Herangehensweise. Adorno steht nicht allein mit seinen Überlegungen, sondern bezieht sich auf eine Fülle an bereits Gedachtem, viele seiner Gedanken sind nicht neu oder lediglich adaptiert. Gerade in der „Negativen Dialektik“ arbeitet Adorno kritisch die idealistische Vergangenheit der Dialektik, insbesondere in seiner Ausprägung bei Hegel, heraus, um negative Dialektik davon abzuheben. Aber bereits Marx hat negativ-dialektisch gearbeitet (vgl. Demirović 1999, S. 649). Insofern führt Adorno eine negative Dialektik weiter, die er grundlegend und mit spezifischen Schwerpunkten argumentiert. Ausgangspunkt der Dialektik sind Wahrnehmungen von Widersprüchen, „nicht, wie ihre Gegner es ihr vorrechnen, von oben her Widersprüche zu konstruieren“ (Adorno 1966/2003, S. 156), sondern die vorhandenen Widersprüche sichtbar und wahrnehmbar zu machen. Widersprüche wohnen der Sache inne und daher wird nicht einer These eine Antithese gegenüber konstruiert, sondern der bereits vorhandene Widerspruch muss in die Wahrnehmung gehoben werden. Insofern verfällt Dialektik nicht in Dichotomisierungen und Adorno weist auch Vereinfachungen zurück, die darauf hinauslaufen festzustellen, „daß jedes Ding seine zwei Seiten hat“ (Adorno 1951/1980, S. 281). Dies sei ein Rückfall in undialektisches Denken. Dialektik ist vielmehr als ein vermitteltes Verhältnis zu denken, wo die Widersprüche in der Sache selbst, in den Begriffen selbst bereits existieren. Koneffke führt dieses Verhältnis in seiner Diskussion der Subversion eindrucksvoll vor: Subversive Möglichkeiten sind nicht trotz der kapitalistischen Verhältnisse vorhanden, sondern gerade weil der kapitalistische Markt auf mündige, selbstbestimmte Subjekte angewiesen ist, bleibt darin ein subversives Moment aufbewahrt (vgl. Koneffke 1969). Obwohl entgegengesetzt ist das eine im anderen mitenthalten und

Kritisches Denken mit negativer Dialektik

727

in dieser vermittelten Beziehung analysierbar, können Elemente des einen Pols im anderen sichtbar gemacht werden (vgl. z. B. Ritsert 1997, S. 155; Ritsert 2011; Müller 2011). Und bei Adorno besonders relevant ist, dass Begriffe selbst bereits widersprüchlich sind: Begriffe versuchen die Sache zu identifizieren, wodurch das Nichtidentische, das dem Begriff ebenfalls anhaftet, abgeschnitten wird. Bereits in der „Dialektik der Aufklärung“ formulierten Horkheimer und Adorno (1988) jene Gedanken notwendig widersprüchlicher Entwicklungen, die Adorno in der „Negativen Dialektik“ fortführt: Befreiung schlägt in neue Unfreiheit zurück, Aufklärung in neue Mythen. Die Vermitteltheit und Verwobenheit von Widersprüchen in der Sache lassen sich vereinfacht in Form von wahr und unwahr zugleich erfassen, ein in der Logik unzulässiger Zustand. Dialektisches Denken ist dabei bewegtes Denken, ein pendeln zwischen verschiedenen Ebenen und Dimensionen, das sich nicht auf einer gefundenen Wahrheit ausruhen kann. Inwiefern ist Adornos Dialektik nun aber „negativ“? Einen wesentlichen Aspekt formuliert er bereits in der Vorrede zur Negativen Dialektik: „Dialektik will bereits bei Platon, daß durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstelle; die Figur der Negation der Negation benannte das später prägnant. Das Buch möchte Dialektik von derlei affirmativem Wesen befreien, ohne an Bestimmtheit etwas nachzulassen. Die Entfaltung seines paradoxen Titels ist eine seiner Absichten“ (Adorno 1966/ 2003, S. 9). Der Denkfigur, dass aus der Negation der Negation eine Synthese entspringe, verwehrt sich Adorno nun entschieden (vgl. Adorno 1966/2003, S. 161, 151). Synthese sei Identität und vernachlässige somit das Nichtidentische. Synthese sei dem Fetisch des Positiven geschuldet. Synthese bringe das Denken scheinbar zu einem Abschluss, der Herrschaft reproduziere, da wiederum alles dieser Synthese unterworfen wird. In negativ-dialektischem Denken wird demnach nicht dem Drang nach Eindeutigkeit und Abschluss nachgegeben, vielmehr lassen sich Widersprüche nicht auflösen. Sie sind weder Denkfehler (wie in der Logik festgehalten), noch lassen sie eine Flucht in abgeschlossene Klarheiten zu. Im Widerspruch ist zu verharren und die Verwirrung zu ertragen, denn „so dialektisch geht es in der Welt nun einmal zu“ (Adorno 1965–66/2003, S. 152).

5.2

Negation und Negativität

Die Bedeutung der Negation und Negativität klingt in der negativen Dialektik selbst und in den ersten Sätzen bei Adorno an. Dennoch bleiben diese Begriffe – möglicherweise absichtlich – unbestimmt und offen. Beide Begriffe lassen sich zunächst formal bestimmen. Die Negation ist dann als denkerische Aktivität der Verneinung, der Aufhebung durch ein Entgegengesetztes zu lesen. Das Negativ repräsentiert das „Subtrahierte“, das Gegenteil des Positivs als das sichtbare Seiende. Zum Verständnis geeignet ist als Metapher das Fotonegativ (für all jene, die sich noch an analoge Fotografie erinnern können), das komplementär die Wirklichkeit abbildet. Das Negative ist damit das „Nicht-“. Negation und das Negative sind aber zugleich als Werturteile lesbar, mit denen Vorhandenes als schlecht, unzureichend, eben negativ eingeschätzt wird. Bei Adorno verschwimmen diese

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D. Holzer

beiden Verständnismöglichkeiten des „Nichtseienden“ und des „Nichtseinsollenden“ (Theunissen 1983, S. 41, Hervorhebung i. Orig.), auch wenn AdornoInterpretationen häufig Adorno ausschließlich letztere Verwendung unterstellen (z. B. Theunissen 1983; Wesche 2011). Adorno selbst verwebt die beiden Aspekte miteinander. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Negation der Negation steht ein formales Verständnis im Vordergrund, während das bewertende Urteil besonders deutlich in der Ablehnung des Positiven hervortritt, dessen Fetischisierung negativ zu bewerten sei. Manche Formulierungen lassen vermuten, dass Adorno mit dieser Mehrfachbedeutung geradezu spielt, insbesondere, wenn man sich die Bedeutung der Nichtidentität vor Augen hält: Hinter dem fetischisierten Begriff der Positivität „steht der Glaube, das Positive sei an sich bereits ein Positives“ (Adorno 1965–66/2003, S. 33, Hervorhebung i. Orig.). Weder lehnt Adorno Positivität per se ab, noch stimmt er einer ausschließlichen Negativität zu, vielmehr sei abzuwägen und kritisch zu beurteilen, was positiv und was negativ sei. Da aber Positivität zu einem Wert an sich erhoben worden ist, wird sie zu Ideologie und bedarf konsequenter Negation und Kritik. „Aus diesem Grund also könnte man, um es dialektisch auszudrücken, sagen, daß gerade das positiv Auftretende wesentlich das Negative, das zur Kritik stehende sei. Und das ist das Motiv, das wesentliche Motiv, für Konzeption und Nomenklatur einer negativen Dialektik“ (Adorno 1965–66/2003, S. 34). Negativität dürfe aber ebenso wenig als absolut festgeschrieben und per se als gut verteidigt werden. „Sie schlüge somit sogleich ihrerseits in schlechte Positivität um“ (Adorno 1965–66/2003, S. 44). Die dennoch konsequente, weil in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen notwendige Negativität, wurde Adorno jedoch immer wieder als Pessimismus vorgeworfen und machte ihn vielen suspekt, weil zu resignativ. Allerdings ignorieren solche Vorwürfe Adornos Negation absoluter Negativität. Die KritikerInnen können aber, da nicht außerhalb stehend, keine positiven Vorschläge machen und wollen dies auch nicht, da etwas Neues, Anderes, Besseres nur gemeinsam im Fortschreiten entwickelt werden kann, um nicht neuerlich paternalistisch und herrschaftlich zu werden. Adorno verwehrt sich dagegen, Kritik müsse immer konstruktiv sein: „Aber von außen die Forderung heranzubringen: ja, wenn er ein negatives Prinzip hat oder wenn er die Negativität für ein wesentliches Medium hält, dann darf er doch eigentlich überhaupt nichts sagen, darauf ist im Grunde nur zu antworten mit dem: das würde jenen so passen!“ (Adorno 1965–66/2003, S. 45 f.).

5.3

Nichtidentität

Negative Dialektik ist „eine Dialektik nicht der Identität sondern der Nichtidentität“ (Adorno 1965–66/2003, S. 15, Hervorhebung i. Orig.). In enger Verbindung mit der Negation und der Negativität wird Nichtidentität zum Ausdruck nicht fassbarer Aspekte der Wirklichkeit: „Unmittelbar ist das Nichtidentische nicht als seinerseits Positives zu gewinnen und auch nicht durch Negation des Negativen. [. . .] Die Gleichsetzung der Negation der Negation mit Positivität ist

Kritisches Denken mit negativer Dialektik

729

die Quintessenz des Identifizierens“ (Adorno 1966/2003, S. 161). Identifizierend versucht traditionelle Wissenschaft die Sache begrifflich zu fassen und in Verfeinerungen die Wirklichkeit immer mehr zu durchdringen. Im Bestehen auf identifizierend fassbarer Wirklichkeit ignoriert solche Wissenschaft diese nicht greifbaren Aspekte und erzeugt so einen Schein: „Identität ist die Urform von Ideologie“ (Adorno 1966/2003, S. 151) und damit Herrschaftsinstrument. Hier wird auch nochmals die affirmative und herrschaftsproduzierende Rolle der Synthese deutlich, denn „in jeglicher Synthesis arbeitet der Wille zur Identität“ (Adorno 1966/2003, S. 151), als Wunsch, in der Synthese das Gute, das Richtige feststellen zu können, der man sich dann zu beugen habe. Adornos Kritik richtet sich nun darauf, dass Begriffe immer unzulänglich bleiben müssen, die Sache nie ganz fassen können. Das Nichtidentische ist das nicht Fassbare, das nicht Sagbare, das nicht begrifflich Festzumachende, das „was im Begriff eben nicht aufgeht: das Konkrete, Besondere, sich Entziehende“ (Schäfer 2004, S. 92). Die „Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer Dialektik“ (Adorno 1966/2003, S. 24). Das Identische wäre somit das positiv Wahrnehmbare, diesmal positiv nicht im Sinne eines Urteils, sondern als Wahrnehmung des Sichtbaren, Greifbaren, eben Positiven. Hier überschneidet sich Nichtidentität neuerlich mit der Negation, dem Negativen: Nichtwahrnehmbares ist die negative Seite im Sinne der wissenschaftlichen (Nicht-)Wahrnehmbarkeit: Das Negative als das nur indirekt Sichtbare, nicht Bestimmbare, das eben nur negativ Identifizierbare und damit das Nichtidentische. Es geht also wieder um ein Nachdenken über das „Nicht-“ (vgl. Adorno 1965–66/2003, S. 86). Gleichzeitig bleibt Adorno bewusst, dass wir darauf angewiesen sind, begrifflich zu denken und zu sprechen und er verharrt in genau diesem Widerspruch, dass identifizierendes, begriffliches Denken gleichzeitig nötig und doch nicht ausreichend sei. Dieser Widerspruch erfordert einen entsprechend reflexiven, selbstkritischen Zugang. Negative Dialektik ist für Adorno das „konsequente Bewußtsein von Nichtidentität“ (Adorno 1966/2003, S. 17) und doch wäre es „die Utopie der Erkenntnis [. . .] das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“ (Adorno 1966/2003, S. 21). Das Nichtidentische lässt sich also nicht identifizieren, sondern nur erahnen, vermuten, spekulieren.

5.4

Konstellation

Adorno versucht nun, dem Nichtidentischen zu seiner Geltung zu verhelfen, ohne in Identifizierung zu verfallen, indem er ein Denken in Konstellationen vorschlägt. Der Astronomie entlehnt als Stellung der Sterne zueinander und deren Bewegung greift Adorno auf die Konstellation in zumindest zweierlei Hinsicht zurück: Als zu beschreitender Weg zu Erkenntnis und zugleich als spezifische Darstellungsform, indem er Gedanken formuliert, umkreist, dreht und wendet, später darauf zurückkommt. Adornos Denken wird gerade dadurch schwer zugänglich, da sich seine Überlegungen dadurch eben nicht einfach systematisieren, ordnen, identifizieren lassen. Die Konstellation ist

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vielmehr eine Anordnung von Gedanken, von Begriffen, von unterschiedlichsten Betrachtungsweisen im Versuch, durch die möglichst große Vielfalt der Sache möglichst nahe zu kommen und doch die Ahnung des Nichtidentischen stets bewusst zu halten. In seinem „Der Essay als Form“ bringt er diesen Anspruch besonders deutlich zum Ausdruck. Nur in der spielerischen, offenen, unsystematischen, essayistischen Form wird der Sache keine repressive Gewalt angetan, sondern die Begriffe werden statt abschneidend definiert „erst durch ihr Verhältnis zueinander“ präzisiert (Adorno 1958/ 1974, S. 19). Erst in der Bewegung und Wechselwirkung der Momente weisen diese „über den spezifischen Gegenstand hinaus, indem sie sich versammeln“ (Adorno 1958/ 1974, S. 21). Der Essay „koordiniert die Elemente, anstatt sie zu subordinieren“ (Adorno 1958/1974, S. 32). In solchen Konstellationen sieht Adorno die Möglichkeit, dieses Mehr fühlbar, ahnbar zu machen (vgl. z. B. Adorno 1966/2003, S. 111, insbesondere aber S. 164 ff.). Eine Metapher für die Vorgehensweise ist die Nummernkombination: „Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer sondern eine Nummernkombination“ (Adorno 1966/2003, S. 166). Wussow ergänzt zu diesem Bild, dass darüber hinaus die Wirklichkeit sogar „durch ein Zahlenschloss gesichert ist, dessen Code sich permanent ändert“ (Wussow 2007, S. 188). Sachen sollen in einem anderen Licht erscheinen und es kann im Idealfall ein Verständnis erschlossen werden, das in der Identifizierung nicht greifbar ist. „Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potenziell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte“ (Adorno 1966/2003, S. 164 f.). Ein Denken in Konstellationen ist entsprechend verflüssigt, mehrdimensional und spielerisch. Das spielerische Element betont Adorno explizit, da Erkenntnis auf den „Moment des Zufalls, das dem Spiel innewohnt,“ (Adorno 1965–66/2003, S. 133) angewiesen ist. Bonß und Brunkhorst greifen beide den Begriff des Rätsellösens für Adornos Vorgehensweise auf, allerdings ohne Patentrezept und ohne eine angenommene feststehende „richtige“ Lösung (vgl. Bonß 1983, S. 205 f.; Bonß 2011, S. 235 f.; Brunkhorst 1990, S. 235 f.). Auf dem Weg werden aber möglichst viele unterschiedliche Perspektiven eingenommen, wird zwischen unterschiedlichen Ebenen gewechselt, werden vielfältige Dimensionen eröffnet, ohne sich der Abgeschlossenheit und Vollständigkeit jemals sicher sein zu können. Komplexitätssteigernd wird versucht, das Rätsel mit unterschiedlichsten Wegen immer wieder zu lösen.

5.5

Zu sich und über sich hinaus: Erfahrung und Forschungssubjekt

Für Adorno ist Philosophie geistige Erfahrung (Anke Thyen liest Adornos „Negative Dialektik“ sogar als eine „Theorie der Erfahrung,“ Thyen 1989), die versucht, Gedanken über das Gegebene hinaus zu treiben, Gedachtes in Schwebe zu halten und nicht an die Grenzen sinnlicher Erfahrung zu binden. Solche Gedanken laufen Gefahr, sich zu verlieren und falsch zu sein, aber dadurch dürfe sich das Denken nicht einschränken lassen. Erst dieses spekulative, spielerische Hinausdenken ermö-

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glicht Erkenntnis und Adorno beharrt darauf, dass „eine Erkenntnis, die nicht gefährlich ist, nicht wert ist, gedacht zu werden“ (Adorno 1965–66/2003, S. 127). Selbstreflexiv, durch kritische Prüfung und Rückbindung an Theorie, Empirie und Praxis wird dieser Gedanke dann neuerlich geprüft. Es wird kontrolliert, ob ein Einfall „wirklich das Gemeinte genau trifft oder ob das nicht der Fall ist“ (Adorno 1965–66/2003, S. 137). Weder dürfe das Denken gänzlich diszipliniert sein, noch gänzlich undiszipliniert, sondern in einer Bewegung zwischen diesen beiden Polen. In dieser Rolle geistiger Erfahrung spiegelt sich auch Adornos Forderung nach einem „Mehr an Subjekt“ (Adorno 1966/2003, S. 50) in der Wissenschaft, da Gedanken nicht von der Person zu trennen sind. Der denkenden geistigen Erfahrung tritt bei Adorno aber auch ein somatisches Moment hinzu. Mit körperlich wahrnehmbarer Abneigung reagiere er auf so manchen Gedanken „und das sogenannte theoretische Denken ist dann in einem weiten Maß nur der Versuch, diesen idiosynkratischen Reaktionen durch Bewußtsein nachzufolgen“ (Adorno 1966/2003, S. 49), z. B. sich „selbst auf die Sprünge zu kommen, warum ich mich gegen den Begriff der Synthese so sträube“ (Adorno 1966/2003, S. 16, Hervorhebung i. Orig.). Dieses leibliche Moment ist auch ein leidendes, wenn wahrgenommen wird, was schmerzt, nicht nur die Person selbst, sondern vielmehr geht es auch darum, das Leid anderer wahrzunehmen. Subjektive Leidenserfahrung ist für Adorno als Erkenntnisimpuls zwingende Notwendigkeit (vgl. Bonß 1983, S. 209). Leid wird zum Ausgangspunkt kritischen Handelns und Denkens: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen“ (Adorno 1966/2003, S. 29). Die unerträglichen Leiden, die im Nationalsozialismus Menschen zugefügt wurden, müssten für Adorno Hass und Ekel bei den BetrachterInnen auslösen. Und es existiert weiterhin wahrnehmbares Leid. „Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind die vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem“ (Adorno 1966/2003, S. 202, Hervorhebung D.H.). Viele kleine und große Leiden, physisches und psychisches Leid werden so zum Ausgangspunkt für Erfahrungen. Manchmal sind die vielen kleinen Schmerzen auf den ersten Blick unkenntlich, aber sie halten dennoch die Menschen weitab von einem glücklichen Zustand. Dies gilt es zu ändern: „Das leibhaftige Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle“ (Adorno 1966/2003, S. 203). Zu schnell wird angenommen, Schlechtes sei überwunden, aber es braucht weiterhin den Impuls „die Augen für ein Unrecht oder Leiden [zu öffnen], das vorschnell als überwunden und versöhnt gilt“ (Wesche 2011, S. 321).

6

Unmethodische Methode – methodische Unmethode

Adorno selbst gibt uns keine hilfreichen Hinweise hinsichtlich methodischer Konkretisierungen. Er umkreist, begründet, argumentiert und beschreibt umfassend die epistemologischen Hintergründe und die spezifisch notwendigen Aspekte einer negativen Dialektik. Er deutet an, verdeutlicht aber nicht. Es ist auch wenig hilfreich, wenn er in seiner Vorlesung „Einleitung in die Soziologie“ sagt, man müsse mal anfangen, auch ohne festen Ausgangspunkt, ohne methodische Anweisung, wie

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etwas zu machen sei. Wie? Indem „man’s halt macht“ (Adorno 1968/1993, S. 31). Jetzt mag das für Adorno zumindest zu diesem Zeitpunkt recht einfach sein, formuliert er dies doch in einer seiner letzten Vorlesungen und er kann daher auf eine lange und intensive Auseinandersetzung und Übung kritischen Verhaltens zurückblicken. Für ein erst entdeckendes, noch unerfahrenes, noch zu übendes Herantasten an kritisches Denken braucht es hingegen konkretere Hilfestellung, zu groß ist das Risiko, im „einfach machen“ Herrschaft, Gewalt, Macht, Affirmation etc. unkritisch zu reproduzieren. Adorno fordert aber auch dazu auf, man müsse sich in der Dialektik „verlieren“ (Adorno 1951/1980, S. 281), anstatt sich ihrer zu bedienen und sie damit ihrer Offenheit zu berauben. Kritisches Denken mit negativer Dialektik setzt eine kritische Grundhaltung zu dieser Welt, ein Interesse an gerechten, freien, solidarischen, herrschaftsfreien gesellschaftlichen Verhältnissen voraus, da Methode nicht von Inhalten getrennt werden kann. Eine Auseinandersetzung mit sich selbst, mit eigenen Interessen und Vorannahmen, mit eigenen Möglichkeiten und Grenzen ist unausweichlich und kritisches Denken mit negativer Dialektik bedarf bereits im Vorfeld und ebenso fortlaufend Akte der Selbsttransformation, um die eigene kritische Haltung zu verfeinern und sich die Denkweisen sukzessive zu verinnerlichen (vgl. z. B. Pongratz 2010a,b). Negative Dialektik kann demnach nicht einfach methodisch erschlossen werden, sondern erfordert intensive Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Begründungen, mit Denkansätzen und mit den vielfältigen Überlegungen, eigentlich ein – gelegentlich über der Anwendung von Regeln „vergessenes“ – Erfordernis in jeder Forschungshaltung. Die „Kunst“ bestünde aber nun darin, negativ-dialektisches Denken und Lesen dennoch davon zu befreien, unerlernbare Begabung oder erst nach langjährigen Auseinandersetzung möglich zu sein. Die methodischen Überlegungen müssen vereinfachend sein und dürfen dennoch nicht unterkomplex werden. Sie sollen das Denken lenken und konzentrieren und gleichzeitig öffnen und befreien. Sie bedürfen einer gewissen „Anwendbarkeit“ und sollen doch nicht vereinfachende Operationen in einem herkömmlichen Methodenverständnis sein. Wenn eine negativ-dialektische Methode also keine einfache Verfahrensweise sein kann, ist sie als methodische Unmethode oder unmethodische Methode zu entfalten, in der jene Aspekte benannt werden, die im Denkprozess nicht vergessen werden dürfen und die in gewisser Weise als „Denkkrücken“ das Nachdenken zugleich verflüssigen und konzentrieren (vgl. Holzer 2017).

6.1

Negativ-dialektisches, kritisches und reflexives Denken

Denken im Anschluss an kritische Theorie und negative Dialektik muss bestimmte Merkmale aufweisen, um kritisch bleiben zu können. Dialektisch und in Widersprüchen denkend sind Gegensätze sichtbar zu machen, die vermittelte Beziehung zu erfassen und einfachen Kausalitäten zu misstrauen. Der Blick richtet sich gezielt darauf, ob das eine ein mögliches anderes oder viele andere Dimensionen enthält und – negativ-dialektisch – werden diese Widersprüche nicht aufgelöst, sondern

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ausgehalten. Solches Denken ist mehrdimensional, indem möglichst viele Facetten auf möglichst vielen Ebenen in den Blick genommen werden. Es ist das eine zu betrachten, aber auch noch das andere und noch ein anderes . . . Denken ist in Bewegung, indem es soweit denkt, bis „Knoten“ entstehen, die – Auflösung suchend und nicht findend – zu Bewegung zwingen. Wenn das Denken sich beruhigt, liegt der Verdacht der Falschheit nahe. Denken muss sich verflüssigen, indem es zumindest den Versuch unternimmt, gewohnte Bahnen zu verlassen, Undenkbares zu denken. Solches Denken ist komplex: Es misstraut Einfachheiten und versucht, gewebeartig statt kausal-linear zu denken. Und es erfordert Geduld, ein langsames, geduldiges Hinschauen, ein Innehalten bei Irritationen, Einfachheiten und Klarheiten. Kritische Kritik erfordert zunächst überhaupt eine Wahrnehmung, die einen genauen Blick auf Verhältnisse richtet, um Negatives überhaupt als solches zu erkennen. Solche Kritik ist getragen von Misstrauen und Skepsis, die scheinbar positiven Verhältnissen mit grundsätzlichen Vorbehalten begegnet. Gegebenes wird darauf geprüft, ob es nicht auch anders sein könnte. Vorbehaltlich späterer Prüfung werden Herrschaft und negative Wirkungen zunächst angenommen. Kritik muss Ursachen ergründen und begibt sich daher auf die Suche nach Hintergründen und Triebfedern für bestehende Verhältnisse, für Normen und Maßstäbe, für Auswirkungen. Sie ist mehrdimensional und radikal. Um scheinbare Unveränderlichkeiten aufzudecken kann eine Denkkrücke sein, zunächst so zu „tun, als ob“ es anders wäre. Kritische Kritik denkt veränderungsorientiert, da sie ein Interesse an der Veränderung der Gesellschaft und aller in ihr wirkenden Mechanismen und Handlungen zu einem möglichen Besseren hat. Selbstkritisch wird die eigene Kritik reflektiert, werden eigene Maßstäbe, Denkgewohnheiten, Vorannahmen in die Kritik genommen und eigene Verstricktheiten thematisiert und mitbedacht. Kritik ist auch spekulativ, indem Denkexperimente gewagt, spekulative Entwürfe versucht werden und das Denken über Bestehendes hinausgeht. Reflexion hält inne und tritt zurück, indem sie sich die Zeit lässt, zwischendurch aus dem Tun und Denken auszusteigen und eine fiktive Außenposition einnimmt. Reflexion ist eine Kritik der Kritik, indem die eigene Kritik mit den eigenen Maßstäben nochmals der Kritik überführt wird. Selbstreflexiv werden die eigenen Vorannahmen und Normen überprüft. Man befragt sich selbst auf Irritationen, sucht eigene Verwobenheiten und hält diese soweit präsent wie möglich. Mit hypothetischen Vorbehalten wird ein Misstrauen gegen Vorgaben und bereits Gedachtes ausgedrückt. Ein Beispiel könnte sein: Ist Emanzipation tatsächlich befreiend oder könnte sie auch per se affirmativ und unterdrückend sein? Reflexion dient der Affirmationsprüfung und Irrtumsvermeidung, indem Denkprozesse und Ergebnisse nochmals auf affirmative Momente und mögliche Irrtümer befragt werden. Reflexion kann mit Umkehrungen arbeiten, indem Aussagen nochmals auf den Kopf gestellt werden, Gegenteile gesucht werden. Negation und Negatives kann als operative Verneinung, als Inverssetzung des Wahrgenommenen und als Beurteilung des Schlechten und Verwerflichen genutzt werden. Es ist zu fragen, was als das „Nicht-“ vermutet werden kann und was urteilend abzulehnen ist. Nichtidentität nimmt jene Aspekte ernst, die nicht begrifflich fassbar und dennoch vorhanden sind. Es ist ständig zu fragen, welches „Nicht-“

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noch vorhanden sein könnte und es ist zu prüfen, inwiefern man selbst in unnötig ausschließendes identifizerendes Denken verfällt. Ein Denken in Konstellationen umkreist die Sache und betrachtet sie aus möglichst vielen Perspektiven. Konstellationen sind bereits in der Forschungsplanung, z. B. in der Auswahl der betrachteten Aspekte, zu berücksichtigen, aber ebenso im konkreten Forschungsprozess selbst, indem Elemente immer wieder neu angeordnet werden.

6.2

Konkret-abstrakte Handlungs- und Denkoptionen

Die grundlegenden Hintergrundfolien negativ-dialektischen Denkens geben erst eine Ahnung davon, wie denn nun verfahren werden könnte, einige Konkretisierungsansätze sind daher angebracht. Weiterhin unmethodisch, widersprüchlich und offen. Überschneidungen und Mehrfachnennungen sind unvermeidlich, wenn das Ganze als komplex, interdependent und unsystematisch verstanden wird. Vollständige Lücken: Wird zwar versucht, eine gewisse Vollständigkeit herzustellen, möglichst viele, auch noch so kleine Teile zusammenzutragen und in Kombinationen zu bringen, sind doch zugleich Lücken nicht nur unvermeidbar, sondern sogar notwendig. Adorno findet die herkömmliche wissenschaftliche lückenlose Darstellung aller Schritte nicht nur langweilig, sondern unzulänglich, da Erkenntnis vielmehr in einem dichten Geflecht und nicht an allen Stellen transparenten Erfahrung möglich sei (vgl. Adorno 1951/1980, S. 89). Lücken lassen Platz für Ergänzungen und sind Ausdruck der Unabgeschlossenheit. Vollständige Lücken erfordern die Erfassung von Gesamtheiten, vielfältige Konstellationen und gezielte Leerstellen. Begriffslose Begriffe: Das Nichtidentische ist mit identifizierenden Begriffen nicht fassbar, das darin aufgehobene Mehr lediglich erahnbar zu machen. Mit einem konsequenten Bewusstsein von Nichtidentität werden begriffslose Teile von Begriffen aber soweit in die Wahrnehmung gerückt, dass die Offenheit, Unabgeschlossenheit und Unvollständigkeit berücksichtigt bleiben. Definitionen bleiben vorläufig, müssen nochmals gegen den Strich gebürstet werden und gedanklich invers und negativ reflektiert werden. Begriffslose Begriffe beanspruchen demnach konsequente Wahrnehmung von Nichtidentität, ein genaues Hinsehen und eine Berücksichtigung in Forschungsplanung und Darstellung, um gezielt Vorläufigkeiten, Offenheit und Reflexionen über Nicht-Erfassbares nicht zu verlieren. Ungewisse Gewissheit: In den meisten Wissenschaftsverständnissen werden eine zunehmende Gewissheit, Eindeutigkeiten, Klarheiten und gesicherte Evidenzen angestrebt. In einem kritischen, materialistischen Wissenschafts- und Weltverständnis sind Wirklichkeiten und Wahrheiten historisch und gesellschaftlich eingebettet, entwickeln sich aus den jeweiligen Verhältnissen heraus. Vorgefundene Widersprüche sind Ausgangspunkte, die sich – negativ-dialektisch – nicht in Gewissheiten auflösen lassen. Der in unserem Denken verankerte Drang nach Eindeutigkeit, Klarheit, Linearität ist als Ideologie zu demaskieren, in der scheinbare Gewissheit das Gewissen beruhigt. Ungewisse Gewissheit erfordert dialektisch Widersprüche sichtbar zu machen, Widersprüche auszuhalten, gegen sich selbst zu denken und

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einen gewaltlosen Blick, der langsam, genau, skeptisch und zweifelnd bleibt und nicht gewaltsam Systematisierung vorantreibt. Undisziplinierte Diszipliniertheit: Neues zu denken, sich aus gesellschaftlich geformten Denkbahnen und ideologischen Verstrickungen zu lösen benötigt ein Denken über das Bestehende hinaus. Disziplinloses Denken eröffnet für Adorno mehr als „tausend Augen, denen die rosarote Einheitsbrille aufgestülpt ward“ (Adorno 1966/2003, S. 56). Und zugleich ist der überschießende Gedanken wieder diszipliniert zu prüfen. Solches Denken ist spielerisch, spekulativ und verlangt nach einem gewaltlosen Blick. Gleichzeitig ist eine reflexive Rückbindung und eine Anwendung von Regeln, z. B. Anbindungen an empirische Analysen, dialektisches Denken etc., nötig. Mikrologische Makrologie: Kritische Analyse verbleibt nicht bei einer Perspektive, sondern bewegt sich vielmehr von einer zur anderen Ebene und über weitere Umwege wieder zurück. Gesellschaftliche Verhältnisse sind nur als Zusammenspiel zwischen kleinsten Momenten und großen Zusammenhängen, die sich gegenseitig durchdringen, zu erschließen und zu verstehen. So ist im Kleinsten auch das große Ganze enthalten und umgekehrt und mit vielen Zwischenebenen und Nebenmomenten. Kritische Analyse braucht daher Mikrologie als Blicke auf das Kleinste, Makrologie, um Gesamtheiten einzubeziehen und darüber hinaus eine Bewegung vom Großen zum Kleinen, wieder zurück und das eine durch das andere hindurch. Sinnliche Rationalität: Erkenntnis erfordert ein rationales Vorgehen, kritische Erkenntnis ist aber nicht von sinnlichen Empfindungen zu trennen, die nicht die herkömmliche Empirie meint, sondern die Einbeziehung emotionaler, körperlicher Momente. Leid wird zum einen Impuls für Forschung und für Handeln und zum anderen wird die forschende Person mit all ihren Empfindungen, Vorurteilen, Wünschen und Hoffnungen Teil der Erkenntnispraxis, ob nun in Theorieentwicklung oder in empirischer Forschung. Sinnliche Rationalität beansprucht Denken in allen bereits beschriebenen Aspekten, aber auch denkfreies Denken als Misstrauen gegenüber dem Denken, als spielerische Verflüssigung des Denkens und spekulativer Überschuss. Weiter bedarf es leiblicher Momente, von idiosynkratischen Abwehrraktionen bis hin zu Irritationen und emotionalen Empfindungen, einer inneren Stimme, die zunächst als „seismographisches Instrument“ (Pongratz 2010a, S. 9) entwickelt, dann aber auch berücksichtigt werden muss und einer Wachheit in Form von Aufmerksamkeit, Gespür, einem offenen Blick und hoher Selbstreflexion. Kontrollierte Unkontrollierbarkeit: Bereits in undisziplinierter Diszipliniertheit oder der sinnlichen Rationalität tritt eine Unkontrollierbarkeit zum Vorschein, mit der kontrollierten Unkontrollierbarkeit wird aber das Moment der geplanten Berücksichtigung der Nicht-Planbarkeit explizit in den Blick gerückt. Viele unabwägbare und unvorhersehbare Ereignisse im Forschungs- und Erkenntnisprozess sind unkontrollierbar. Kontrolliert werden sie aber insofern, als sie nicht als Störfaktoren möglichst beseitigt werden, sondern vielmehr gezielt Räume für diese unplanbaren Prozesse geschaffen werden. Einige unkontrollierbare Momente lassen sich gezielt kontrolliert einbeziehen. Forschendes Denken durchläuft eine gewisse Inkubation, in der Prozesse „sickern“ und die sich nicht steuern, aber gezielt einbeziehen lässt, indem entsprechende Zeit eingeplant wird, die Geduld, Langsamkeit und Reifung zulässt. Offen bleibt: Die Lösung tritt hinzu oder auch nicht.

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Dystopische Utopien: Utopische Aspekte äußern sich in der negativen Dialektik in erster Linie dystopisch. Die zwar kaum explizit formulierten, aber vorhandenen Utopien nähren sich aus der Negation, aus dem Urteil über das Negative, aus wahrnehmbaren Brüchen. Irritiert hält sich das Denken in der Schwebe, schreibt aber nicht vor. Dystopische Utopien verlangen nach Negation und Wahrnehmung des Negativen, nach Skepsis und Illusionslosigkeit, nach der Wahrnehmung von aufblitzenden Möglichkeiten und nach hypothetischen Denkexperimenten mit der Frage „was wäre, wenn“. Schwere Leichtigkeit: Negative Dialektik bietet wenig Positives. Negatives überwiegt, weil die Verhältnisse negativ zu beurteilen sind und weil erkenntnistheoretisch begründet ist, dass in der Unmöglichkeit das Richtige aus dem Jetzt zu entwerfen nur das „Nicht-“ bestimmbar ist. Eine gewisse Hoffnungslosigkeit macht sich im Denken breit und behindert so manches Spielerische, Schwebende und Offene. Schwer ist auch das negativ-dialektische Denken selbst. Es bleibt komplex, kompliziert, vielschichtig, schwer durchdringbar. Um an solchen Realitäten und an solchem Denken nicht zu verzweifeln, braucht es zum einen Stärke für die Schwere, um den Blick nicht von negativen Zuständen abzuwenden, und zugleich Metaphern der Leichtigkeit, um nicht zu verzweifeln. Hilfreich sind Ironie und spielerische Elemente, aber auch gezielte Suche nach emotionalen Ausgleichen „außerhalb“. Systematische Unsystematik: Adorno wehrte sich gegen Systematisierungen und deren Subordinationsmechanismen, die Relevantes abschneiden. Nichtidentisches wird ausgeblendet, offene Gedanken verhindert. Und doch bedarf es zuweilen der Disziplinierung des Denkens. Negativ-dialektisches Denken ist unsystematisch und systematisch zugleich. Da unser Denken aber zu Systematiken tendiert, ist es wichtiger, eine systematische Unsystematik gezielt zu berücksichtigen. Diese erfordert im Vorgehen ein Denken und eine Darstellung in Konstellationen, die Wahl unvertrauter Bezugspunkte und die Systematik brechende Darstellungsformen, z. B. über die Nutzung von Metaphern, aber auch sprachliche Offenheiten. Unpraktische Praxis: Kritische Theorie ist immer auf Praxis gerichtet, gibt aber keine einfachen, positiven Handlungsvorschläge, sondern ist auf umfassende gesellschaftsverändernde Praxis gerichtet. Die Kritik, da radikal und negativ, stößt entsprechend auf Ablehnung und Skepsis und doch müssen in jeder Theorie, die sich kritisch nennen will, Übergänge zur Praxis gesucht werden, was methodische Implikationen birgt. Sie bleibt insofern unpraktisch – eigentlich eher schwierig praktisch – als statt schlichter Antworten schwierige Fragen präsentiert werden. Es bedarf daher, Dinge und Verhältnisse in Bewegung bringen zu wollen, Widersprüche auszuhalten und auch entgegen allen Vorwürfen auf der Kritik zu bestehen, indem Versuchungen der Vereinfachung widerstanden, Radikalität statt Relativierung beibehalten wird.

7

Ausblicke

„Dialektik als Methode, gerade als Methode Adornos, hat schon immer Anstoß erregt – was zu ihrem großen Vorteil [. . .] gehört“ (Ritsert 2011, S. 232, Hervorhebung i. Orig.). Die Anstößigkeit einer Negativ-dialektischen Denkart speist sich aus

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ihrer Negativität, Radikalität, Komplexität und Unnachgiebigkeit. Dieses negativdialektische Denken birgt gesellschaftskritisches Potenzial, das nicht ungenutzt bleiben darf, nur weil es schwer zu erschließen und umzusetzen ist. Ebenso wenig ist negative Dialektik nur den Überlegungen Adornos anzuheften, auch wenn er fundamentale Begründungen dafür bereitstellt. Solche Verständnisse missachten Möglichkeiten, sie für aktuelle Forschung aufschließbar zu machen. Um aber im Forschungsalltag nicht auf jahrelanges Adorno-Studium zurückverwiesen zu werden oder (junge) ForscherInnen sich aus der Vielzahl an aktuelleren, auf negative Dialektik Bezug nehmend und diese doch nicht explizierend, ihre eigenen Handlungsoptionen mühsam erschließen müssen, sind methodische Überlegungen eine mögliche Weiterentwicklung negativ-dialektischen Denkens. Dafür ist auch ein forschungsstrategisches und universitätspolitisches Engagement notwendig, um Methodenverständnisse zu erweitern und sich für die Bedeutung von Theorieentwicklung einzusetzen. Negativ-dialektisches kritisches Denken öffnet Möglichkeiten neuer Denk- und Lesarten.

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Totalität und subjektiver Faktor als Methode Tatjana Freytag

Zusammenfassung

Die im vorliegenden Aufsatz als Methode der klassischen Kritischen Theorie aufgefasste Synthese von Totalität und Subjektivität wurzelt zum einen in der Dialektik der Hegelschen Erkenntnistheorie, zum anderen aber im fundamentalen Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, wie er sich empirisch als Kennzeichen der modernen bürgerlichen Massengesellschaft herausgebildet hat. Der diese Gesellschaft formende und durchwirkende Kapitalismus bzw. Spätkapitalismus des 20. Jahrhunderts spitzte diesen Gegensatz zu, mithin den Untergang des Individuums in der Totalität und sein Verkommen zum Exemplar. Gerade das Zeitalter, das sich das autonome Subjekt zum Ideal erhoben hatte, zeitigte jene Strukturen, die in der zunehmenden Entindividualisierung des Individuums mündeten. Dies zu ergründen, nahmen sich die Denker der klassischen Kritischen Theorie vor. Die Verschwisterung des „Eindimensionalen Menschen“ und der „Negativen Dialektik“ auf der Grundlage der Erkenntnisse der „Dialektik der Aufklärung“ und der „Kritik der instrumentellen Vernunft“ bildeten dabei die Grundlage für ihre Theoriebildung und der Methode ihrer Forschung. Schlüsselwörter

Allgemeine/Besondere · Eindimensionalität · Individuum · Exemplar · Negation · Totalität · Vergesellschaftung · Vermittlung · Vorrang des Objekts

„Mißlingen aber muss jene Identifikation, weil der Einzelne von der durch die Allherrschaft das Tauschprinzips virtuell entqualifizierten Gesellschaft nichts an Formen und Strukturen empfängt, womit er, geschützt gleichsam, überhaupt sich identifizieren, woran er im wörtlichsten Verstand sich bilden könnte; während andererseits die Gewalt des Ganzen über

T. Freytag (*) Abteilung Allgemeine Erziehungswiss, Stiftung Universität Hildesheim, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_32

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das Individuum zu solcher Disproportion gediehen ist, dass das Individuum in sich das Entformte wiederholen muss.“ (Adorno 1997a, S. 103 ff.)

„Objektiv produziert ist vielmehr die subjektive Beschaffenheit, welche die objektiv mögliche Einsicht unmöglich macht. Das Gefühl, an die Macht des Bestehenden doch nicht heranzureichen, vor ihm kapitulieren zu müssen, lähmt auch die Triebregungen der Erkenntnis. Fetischisiert, undurchdringlich, unverstanden wird, was dem Subjekt als unabänderlich sich darstellt.“ (Adorno 1997a, S. 117)

Der Begriff des Subjekts, wie er sich von Descartes bis Kant philosophisch herausbildete, indizierte jene emanzipative Emphase, die man der europäischen Aufklärung zuzuschreiben pflegt. In einer erstaunlichen Wende vom subject als Untertan zum autonomen Subjekt stand der moderne Subjekt-Begriff für Selbstbestimmung, Selbstgewissheit und Selbstbewusstsein, Kategorien, die die Loslösung von traditionellen, auch unhinterfragten Autoritäten im Religiösen und Politischen zum Inhalt hatten. Wenn Aufklärung, wie Kant postulierte, den „Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ bedeutete, so lag im Begriff des Selbstverschuldeten die Einsicht in die Fähigkeit des Menschen, sich selbst aus seiner Unmündigkeit zu befreien, mithin auch die Aufforderung, diese Fähigkeit in die Tat umzusetzen. Gleichwohl beinhaltete schon der bekannte Aufruf zum „sapere aude!“ den strukturellen Widerspruch, dass es den äußeren Antreiber zur Selbstemanzipation bedurfte, damit es erst zum Befreiungsakt kommen konnte. Denn der Unwissende konnte sich ja nicht selbst am Schopf packen, um sich aus dem Sumpf des Daseins ohne Selbstbestimmung zu ziehen. Aber abgesehen davon, dass es auch Kant zufolge des Mutes bedurfte, um sich aus der eigenen Unmündigkeit zu befreien, stellte sich mit der Subjekt-Emphase eine gravierendere Frage als die der angemahnten individuellen Bewusstseinsänderung. Denn über den Solipsismus Descartes’ und den idealistischen Zugang Kants hinaus erhob sich früh genug – in ausformulierter Form bereits bei Rousseau – das Problem des kollektiven Kontextes der einzelmenschlichen Emanzipation, was im 19. Jahrhundert als die umfassende Fragestellung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zum zentralen Topos der Sozialphilosophie und Soziologie avancieren sollte. Wenn die Emanzipation des Individuums als das Ideal der Aufklärung ausgegeben wurde, sah sich die Behandlung seiner Verwirklichung zwangsläufig mit der Frage der Beschaffenheit der Gesellschaft konfrontiert, die die Verwirklichung der Emanzipation erst eigentlich zu ermöglichen vermöchte. Was bei Rousseau noch die abstrakte Dimension der Vereinbarkeit des individuellen und allgemeinen Willens zum Inhalt hatte, konkretisierte sich spätestens bei Marx als das reale Problem der Gesellschaft, und zwar nicht nur als Begriff, sondern auch als eine empirisch erlebte soziale Realität. Dies hatte vor allem mit den gewandelten geschichtlichen Verhältnissen zu tun. Entscheidend wirkte sich hierbei die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Britannien ansetzende und dann im Verlauf von rund hundert Jahren große Teile Europas (bzw. des Westens) erfassende industrielle Revolution aus. Nicht nur

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revolutionierte sie alle Bereiche des wirtschaftlichen Lebens, sondern beschleunigte damit auch die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und die sie tragende neue Produktionsweise, den Kapitalismus. Die historische Konstellation der industriellen Revolution, der großen Französischen Revolution, die das Modell für den auf dem mit Menschenrechten ausgestatteten Bürger basierenden Nationalstaat hervorbrachte, und der auf ihren historischen Höhepunkt gelangenden europäischen Aufklärung war es, die den Fortschrittsoptimismus jener Zeit zu legitimieren schien, zugleich aber auch mit (nicht nur konservativer) Skepsis und politisch sich artikulierendem Misstrauen hinsichtlich des Unabsehbaren im Kommenden behaftete. Schnell genug sollte sich erweisen, dass dem emanzipativ ausgerichteten Progress neugebildete soziale Strukturen verschwistert waren, die der Verwirklichung der angestrebten menschlichen Freiheit gerade auf der neuartigen, dem Fortschritt verschriebenen historischen Stufe im Wege standen bzw. diese nachgerade verhinderten. Denn die kapitalistische Produktionsweise, die zum ersten Mal in der Geschichte das Potenzial aufwies, den fundamentalen Mangel ganz zu beseitigen, hielt in der Entwicklung der ausbeuterisch sich perpetuierenden Klassengesellschaft ihr Versprechen zunächst nicht; und als sie sich im Spätkapitalismus des 20. Jahrhunderts zu einem allgemeinen Konsumwohlstand bietenden System herangebildet hatte, geschah dies zu einem hohen Preis: Nicht nur verhungern global jährlich Millionen Menschen, obwohl nach dem objektiven Stand der Produktionsmittel längst nicht mehr der Fall sein dürfte; auch im Innern der in Wohlstand lebenden Ländern sieht sich der Einzelmensch im Hinblick auf die Emanzipationsverheißungen der Moderne getäuscht und enttäuscht. Bereits im 19. Jahrhundert wirkte sich die Dialektik von Produktivität und einer damit einhergehenden Entstehung neuer nationalstaatlich gefassten Massengesellschaften als eine der Massenkategorie immanenten Entindividualisierung des Individuums (was im 20. Jahrhundert als die „einsame Masse“ apostrophiert worden ist (vgl. Riesman et al. 1958). Dabei stand das reale Muster nicht nur im eklatanten Widerspruch zu dem, was die Aufklärung mit dem Subjekt- und Bürgerbegriff als Anspruch formuliert hatte, sondern die soziale Realität selbst erzeugte die modernen Formen von Entfremdung und der sogenannten „bürgerlichen Kälte“, was sich nicht zuletzt an der Warenförmigkeit der menschlichen Interaktion in der kapitalistischen Gesellschaft niederschlug und verfestigte. Die großen Theoretiker des 19. Jahrhunderts hatten das bereits erkannt und analysiert. Hier schließt die Kritische Theorie an, der es gerade um das Aufzeigen der verschleierten Herrschaftszusammenhänge und der Widersprüche geht. Sie ist der negativen Dimension verpflichtet und möchte dem Nichtidentischen Raum geben und knüpft hierbei an die Hegelsche Dialektik an. Die bestimmte Negation stellt eine Grundkategorie der Hegelschen Philosophie dar. Hegels erkenntnistheoretische Grundannahme besteht darin, dass sich das Einzelne, der einzelne Begriff, durch die Negation konstituiert, denn nur durch die Absetzung von der Totalität kann das Einzelne sich bestimmen – in der Negation. Schließt es sich selbst, nunmehr zu Bewusstsein gekommen, wieder mit dem Ganzen zusammen, wird es wiederum negiert als Teil des Ganzen. Diese spekulative Grundfigur einer negativen

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Selbstbeziehung der „Reflexion im Anderssein in sich selbst“ (Hegel 1996, S. 23) führt zu einer prozesshaften Dynamisierung des Denkens, das als negatives Prinzip aufgefasst wird. Die Negation der Negation ist bei Hegel der Motor des Weltprozesses, das philosophische Bewegungsgesetz. Obwohl für Hegel alle Formen des Seins wesentlich von Negativität bestimmt sind und eben diese ihren Inhalt und ihre Bewegung ausmachen, schließt seine Philosophie positiv, als Vermittlung. „So ist beides, das Endliche und das Unendliche, diese Bewegung, zu sich durch seine Negation zurückzukehren; sie sind nur als Vermittlung in sich, und das Affirmative beider enthält die Negation beider und ist die Negation der Negation.“ (Hegel 1993, S. 162 f.) Auch Marx geht mit Hegel davon aus, dass die der Wirklichkeit immanente Negation „das bewegende und erzeugende Prinzip ist“ (Marx und Engels 1953, S. 80). Gegen Hegel kritisiert er die Denkfigur der bestimmten Negation, so wie sie bei Hegel ihre Versöhnung findet – in der Rechtsphilosophie, im Staat. Marx löst die Dialektik aus Hegels Ontologie heraus und bindet sie an die gesellschaftlichen Bedingungen, die mit einer bestimmten historischen Form von Gesellschaft verknüpft sind. Angelehnt an Feuerbach konstatiert Marx eine Hypostasierung der Idee im Hegelschen Denken. Hegels Denkbestimmungen basieren auf einer an sich seienden substanziellen Idee, die, zum Subjekt erhoben, die Bewegung der Geschichte ausmacht. Diese Form der Dialektik ist nach Marxens Kritik die Idee des eigentlichen Seins, die aber völlig losgelöst von den tatsächlichen gesellschaftlichen Realitäten absieht und damit gegenstandslos, leer bleibt. „Familie und bürgerliche Gesellschaft sind die Voraussetzungen des Staats; sind die eigentlichen Tätigen, aber in der Spekulation wird es umgekehrt. Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte, bürgerliche Gesellschaft, Familie, Umstände, Willkür etc. zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee.“ (Marx 1981, S. 207) Die Negativität, die sich in der besonderen historischen Form der Gesellschaft ausdrückt, ist für Marx die ‚Negativität der Klassenverhältnisse‘ (Marcuse 1990, S. 372). Ihm geht es um eine kritische Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, um die Herausstellung der ihr innewohnenden Widersprüche und der möglichen Lösung. Beide, Hegel und Marx, glaubten an den sich durchsetzenden Fortschritt in der Geschichte: Hegel an die Positivität der Vernunft, die sich im Bewusstsein der Freiheit über die Einzelnen hin zum Ganzen fügt, und Marx, der zwar die Hegelsche Dialektik vom Kopf auf die Füße stellte, sich aber mit seiner Vorstellung des Fortschritts doch kaum vom Bann einer idealistischen Positivität befreien konnte. Der Geschichtsoptimismus der Marxschen Theorie, dessen Bewegungsgesetz der ökonomischen Sphäre entspringt, tendierte aber in der geschichtlichen Realität eben nicht zur revolutionären Auflösung der innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise notwendig entstehenden Widersprüche und damit zur klassenlosen Gesellschaft. Die Gewissheit, mit der Marx von der Dynamik des Antagonismus ausging, nämlich dass die entwickelten Produktivkräfte zugleich auch die materiellen Bedingungen zur Lösung mit sich brächten, scheint vom bisherigen Verlauf der Geschichte infrage gestellt worden zu sein. Als abgeschlossen darf dieser Verlauf gleichwohl mitnichten gelten.

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Kritische Theorie1 im 20. Jahrhundert konnte an derlei Fortschrittsgläubigkeit nicht anknüpfen. Anders als noch für Hegel und Marx stand die Perspektive metaphysischer oder geschichtlicher Versöhnung nicht mehr zur Verfügung. Zu einschneidend waren die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, als dass man ungebrochen an den uneingelösten Versprechen der Aufklärung – Freiheit und Autonomie – hätte festhalten können. Das Scheitern der Demokratie, die unvorstellbare Destruktionskraft der beiden Weltkriege, der nicht fassbare Zivilisationsbruch Auschwitz wie auch der Archipel Gulag markieren eine Schnittstelle, die den Doppelcharakter von Befreiung und Unterdrückung des okzidentalen Zivilisationsprozesses ins Zentrum der Reflexion der kritischen Theoretiker rückt. Das Selbstverständnis der Kritischen Theorie brach jedoch nicht einfach mit traditioneller Theorie ab, sondern basierend auf deren Erkenntnissen, wurde in Wahrnehmung des spezifischen Zeitkerns auf Grenzen, Irrtümer, Widersprüchlichkeiten und Wahrheiten reflektiert und dabei zugleich das eigene Selbstverständnis kritisch hinterfragt. Hegels Arbeit des Begriffs geht insofern über die Kantsche Erkenntnis hinaus, als er die für Kant unverrückbare Grenze der Erfahrung, markiert durch das unauflösliche Ding an sich, überschreitet. Hegels Prinzip des fortschreitenden Erkenntnisprozesses beschränkt sich nicht auf das Kategoriensystem der Verstandestätigkeit, sondern geht mit der spekulativen Kraft der Negation auf den Inhalt der Sache selbst. Hierin findet das Denken der Kritischen Theorie konzeptuell seinen Anschluss. Bei Hegel wie auch bei Adorno, Horkheimer und Marcuse ist Erfahrungsbildung ein negativ-dialektischer Prozess. Adornos Kritik an Hegel, die sich in ihrem Inhalt mit der von Marcuse trifft, hebt am idealistischen Vorrang des Subjektes an. Die versöhnte Einheit des Ganzen, die sich als Verabsolutierung der substanziellen Idee in Hegels System steigert, ist nur möglich durch Hegels Supposition einer Vermitteltheit von Begriff und Sache im Begriff. So sehr Adorno die Leistung Hegels, das Kantsche Ding an sich der Erkenntnis zugänglich gemacht zu haben, anerkennt, kritisiert er das scheinbar völlige Aufgehen dieses Dings in den Reflexionsbestimmungen konstitutiver Subjektivität, im Begriff. Kritische Theorie dagegen insistiert auf der Resistenz der Unmittelbarkeit gegen die Vermittlung, das Einverleiben des Gegenstandes durch den Begriff. Die bestimmte Negation bleibt bei Hegel der Identitätsstruktur verhaftet. Ihr Resultat ist die durch die Vermittlung erlangte Synthese, eine Identität von Identität und Nichtidentität. „Er [Hegel] verzerrt jedoch den Sachverhalt, indem er das Identische bejaht, das Nichtidentische als freilich

Mit Horkheimers Einführung des Begriffs ‚kritische Theorie‘ in seinem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ von 1937 wurde sklavensprachlich die Anknüpfung an die revolutionäre Theorie von Marx umschrieben, die noch an die Perspektive eines möglichen Endes der Vorgeschichte glauben konnte. Die Marxsche Theorie mit ihrem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, umzuwerfen (vgl. Marx 1981, S. 385), sollte wegweisend für eine befreiende Praxis, der sich Kritische Theorie zu dieser Zeit verpflichtete, gelten. Doch über Auschwitz hinweg konnte an dieser Perspektive nicht mehr festgehalten werden. Auschwitz markiert einen Zivilisationsbruch, der alles auf ihn Folgende affiziert. Kritische Theorie nach Auschwitz bedeutete das Ende einer kritischen Theorie, die als Ideologiekritik an einer Praxis der sozialen Emanzipation arbeiten wollte.

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Negatives zulässt, und die Negativität des Allgemeinen verkennt. Ihm mangelt Sympathie für die unter der Allgemeinheit verschüttete Utopie des Besonderen, für jene Nichtidentität, welche erst wäre, wenn verwirklichte Vernunft die partikulare des Allgemeinen unter sich gelassen hätte.“ (Adorno 1994, S. 312) Kritische Theorie setzt sich als negative von der Hegelschen Theorie dadurch ab, dass sie das Modell einer ‚positiven Negativität‘ (Adorno 2003, S. 28) nicht teilt. „Einer der entscheidenden Tricks der Hegelschen Philosophie besteht darin, dass die bloße fürsichseiende, das heißt: die kritisch denkende abstrakte, negative Subjektivität – hier kommt der Begriff der Negativität wesentlich herein –, sich selbst negierend, ihrer eigenen Beschränktheit innewerden müsse, um auf diese Weise in der Positivität ihrer Negation, nämlich in den Institutionen der Gesellschaft, des Staates, des objektiven, schließlich des absoluten Geistes sich selber aufzuheben.“ (Adorno 2003, S. 28) Marcuse schließt sich dieser Argumentation Adornos an, indem er der Hegelschen Dialektik Scheincharakter vorwirft, nach der durch alle Negation hindurch „sich letzten Endes doch immer nur das schon an sich Seiende entfaltet und durch die Negation auf eine höhere geschichtliche Stufe gestellt wird“ (Marcuse 1969, S. 186). Im Gegensatz zu Hegel, der in der Negation das Positive, die Synthese, zu finden bestrebt war, hat sich Kritische Theorie, die das Ganze nicht mehr als ein Vernünftiges, Sinnvolles denken konnte, Kritik an eben diesem zu eigen gemacht. „Die Totale, das Wesen ist nicht einfach zu verwerfen: Sie kommt am Einzelnen als Unwesen zum Vorschein, als das Ganze in seiner Unwahrheit: ‚Totalität ist keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie‘“. (Schweppenhäuser 1972, S. 63) Geradezu ‚programmatisch‘ führt Adorno in der „Negativen Dialektik“ dieses Selbstverständnis der Kritischen Theorie aus, in deren Vorrede er auf die paradox erscheinende Titelgebung hinweist: „Die Formulierung Negative Dialektik verstößt gegen die Überlieferung. Dialektik will bereits bei Platon, dass durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstelle; die Figur einer Negation der Negation benannte das später prägnant. Das Buch möchte Dialektik von derlei affirmativem Wesen befreien, ohne an Bestimmtheit etwas nachzulassen.“ (Adorno 1997b, S. 9) In Abarbeitung an Hegels spekulativer Dialektik kritisiert die negative Dialektik den Identitätsanspruch zwischen dem Verhältnis von Begriff und Sache, der einem Reduktionismus gleichkommt, indem die allgemeinen Begriffe vorweg schon deren Widerspiel ausmerzen, „jenes Konkrete, das idealistische Dialektik in sich zu tragen rühmt“ (ebd., S. 49). Kritische Theorie hat es sich zu eigen gemacht, dieses Konkrete, das Nichtidentische vor der Subsumtion unter das Allgemeine zu bewahren. Denn das, was Hegel den metaphysischen Sinn, die Kraft des Systems, die Einheit des Denkgebildes, das Ganze genannt hat, ist nunmehr am Einzelnen2 umzusetzen. „Sie nimmt die spekulative auf und wendet sie in sich selber um, bestimmt ihre Differenz davon wesentlich daran, ob der absolute Zweck die endlichen [besonderen] sich unterordnet oder die endlichen Zwecke gegen den absoluten und seinen Zwang sich organisieren dürfen.“ (Schweppenhäuser 1986, S. 173)

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Siehe hierzu die Erläuterungen in Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1994, S. 161 ff. und 171 ff.

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Negative Dialektik will dem Harmonisierungsdrang, dem Wunsch, das Zerrissene, Unversöhnte, Fragmentarische zu einen, ein Ende setzen. Dem Nichtidentischen zur eigenen Identität gegen eine gewaltförmige Identifikation zu verhelfen, stellt das Scharnier der Kritischen Theorie dar, den Vorrang des Objekts. Der Begriff des Nichtidentischen kann dabei so verstanden werden, dass er seinen Inhalt durch die Negationserfahrung gewinnt, die sich gegen das Identische richtet. Nichtidentisches verhält sich zum Identischen nicht kontradiktorisch, sondern dialektisch. Als Kritik am Identischen mahnt es das Besondere, aber nicht gegen das Allgemeine, sondern durch das Allgemeine vermittelt. Es will erinnern an die Versäumnisse und Vernachlässigungen, die das begriffliche Denken seiner Tendenz nach mit sich trägt. „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte. Ihr Thema wären die von ihr als kontingent zur Quantité négligeable degradierten Qualitäten. Dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktionsmechanismus ausscheidet, was nicht bereits Exemplar des Begriffs ist.“ (Adorno 1997b, S. 19 f.) So kann negative Dialektik als Kritik am identitätslogischen Verfahren interpretiert werden, ein Verfahren, welches die Identität von Begriff und Sache, Wesen und Erscheinung voraussetzt. Die damit gesetzte vermeintliche Unmittelbarkeit, in der das Fundament der Erkenntnis gesehen wird, wird von der negativen Dialektik bestritten. Die Sphäre der Unmittelbarkeit selbst ist, auch wenn es zunächst anders scheint, in sich vermittelt, abgeleitet. In dem Moment aber, in dem diesem Schein nachgegeben wird, die Differenz von Wesen und Erscheinungen nivelliert wird, kann über sie nicht hinausgegangen werden. Sie bleiben das, was sie nun einmal sind; frei nach dem Wittgensteinschen Satz, nach dem die Welt alles ist, was der Fall ist (vgl. Wittgenstein 1963, S. 11). „Philosophie schöpft, was irgend sie noch legitimiert, aus einem Negativen: dass jenes Unauflösliche, vor dem sie kapitulierte und von dem der Idealismus abgleitet, in seinem So-und-nicht-anders-Sein doch wiederum auch ein Fetisch ist, der der Irrevokabilität des Seienden.“ (Adorno 1997b, S. 62) Mit der Indifferenz von Wesen und Erscheinung verschwindet gleichsam auch jegliches prozesshaft Gewordene, was an den abgefragten Tatsachen nicht mehr zu erfahren ist. Die Erinnerung als Spur der geschichtlichen Dimension droht sich aufzulösen. „Das fiktive eindimensionale Jetzt wird zum Erkenntnisgrund des inneren Sinnes.“ (Adorno 1997b, S. 63) Das Marcusesche Theorem der Eindimensionalität findet hier unmittelbaren Anschluss. Die Eliminierung der negativen Dimension ist für ihn der Wesenszug von Eindimensionalität in all ihren Folgen. Negative Dialektik fungiert sozusagen als Gegenbegriff zur Eindimensionalität (vgl. Schiller 1989). Mit Eindimensionalität kennzeichnet Marcuse das Ausblenden eben jener Dimensionen, welche die negative Dialektik bewahren wollte, und die, wenn sie zur vollen Entfaltung kämen, eine Erkenntnisutopie, wie sie Adorno im Miteinander des Verschiedenen ausdrückt, verunmöglichen würden. „Der Verlust dieser Dimension, in der die Macht negativen Denkens – die kritische Macht der Vernunft – ihre Stätte hat, ist das ideologische Gegenstück zu dem sehr materiellen

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Prozess, in dem die fortgeschrittene Industriegesellschaft die Opposition zum Schweigen und mit sich in Einklang bringt.“ (Marcuse 1979, S. 30) Charakteristika der von Marcuse konstatierten und kritisierten Eindimensionalität lassen sich nicht per definitionem in zwei, drei Sätzen zusammenfassen. Ausgehend von dem, was nicht ist, lassen sich Beschaffenheitsmerkmale3 der von ihm vorgefundenen amerikanischen spätkapitalistischen Gesellschaft der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts benennen. Diese sind jedoch nicht zu lösen von dem konkreten historischen Zusammenhang, und es wäre im Einzelnen zu prüfen, ob sie trotz ihrer Spezifik ihre Gültigkeit weiterhin beanspruchen können. Abgesehen von diesen Beschaffenheitsmerkmalen, die sich auf die bestimmten Erscheinungsformen der Gesellschaft beziehen, hat Marcuse mit dem Begriff Eindimensionalität zentrale Linien der Kritischen Theorie aufgenommen; als Kritikbegriff soll er an den Verlust der spekulativen Kraft der Negation erinnern. „Die Vernunft ist in ihrem tiefsten Wesen Wider-Spruch, Opposition, Negation, solange die Vernunft noch nicht wirklich ist. Wird die widersprechende, oppositionelle, negative Kraft der Vernunft gebrochen, so bewegt sich die Wirklichkeit unter ihrem eigenen positiven Gesetz und entfaltet ungehindert vom Geist ihre repressive Gewalt. Ein solcher Niedergang der Macht der Negativität hat in der Tat den Fortschritt der spätindustriellen Zivilisation begleitet. Mit zunehmender Konzentration und Wirksamkeit ökonomischer, politischer und kultureller Kontrollen ist die Opposition auf allen diesen Gebieten besänftigt, integriert oder liquidiert worden“ (Marcuse 1990, S. 370). Wie für Adorno (2003, S. 36) so ist auch für Marcuse negative Dialektik im Wesentlichen dasselbe wie Kritische Theorie – und Kritik ein substanzieller Aspekt des Denkens. Dabei wird Kritik als Scheiden, Unterscheiden nach Gründen, als Arbeit des Verstandes aufgefasst. Dass diese negativ ist, liegt in der Sache selbst begründet. Die Erkenntnisutopie der Kritischen Theorie ist deshalb nicht mit einem schlechten Negativismus zu verwechseln. Vielmehr gilt der objektive Zweck der Negation dem Besseren, einem Positiven – einem gesellschaftlichen Zustand, den es noch herzustellen gilt. Der Fokus der kritischen Theoretiker ist nicht auf das Ausmalen des positiven Zustands einer möglichen Gesellschaft gerichtet. Ihre Haltung bleibt ihrem Inhalt nach negativ, konstituiert sie sich doch im Verhältnis zum unwahren Ganzen, in dem sie keine wahren emanzipativen Tendenzen vorfindet und somit darauf verwiesen bleibt, die spezifischen repressiven Ausformungen bestehender Gesellschaft mit ihren Regressionsphänomenen zu negieren. Das Negationspotenzial sieht Marcuse in der spätkapitalistischen Gesellschaft neutralisiert, mit dem Ergebnis, dass sich eine Immunisierung gegen qualitative Veränderungen vollzogen hat. Ist die widersprüchliche und negierende Kraft der Vernunft gebrochen, existiert die Realität nach dem eigenen positiven Gesetz weiter und entwickelt ohne Kritik ihre repressiven Kräfte (vgl. Tauber 1994, S. 44). „Die Vernunft hat sich mit der Wirklichkeit identifiziert: was wirklich ist, ist vernünftig, obgleich das, was vernünftig ist, noch nicht zur Wirklichkeit geworden ist“ (Marcuse 1990, S. 370).

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Eine Ausführung dieser ist von Zvi Tauber vorgenommen worden, in: ders. 1994, S. 45 ff.

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Was hier philosophisch artikuliert wird, bezeichnet – soziologisch gesprochen – die sogenannte „Übermacht der Totalität“, mithin die totale Vergesellschaftung allen kollektiven menschlichen Daseins. Dass es sich dabei um einen immanenten Prozess der Moderne handelt, ist oben bereits angezeigt worden: Die Heraufkunft der bürgerlichen Massengesellschaft war eine zwangsläufige Auswirkung der infolge der industriellen Revolution sich unaufhaltsam verbreitenden neuen Produktionsweise des Kapitalismus. Sein (potenziell immer schon globaler) Expansionismus, sein Bedürfnis, immer neue Märkte zu schaffen bzw. zu erobern, seine warenförmige Durchdringung aller menschlichen Verhältnisse und Beziehungen, kurz, seine wesentlichen inhärenten Strukturen waren von Anbeginn – sei’s in der Produktion, sei’s im Konsum – aufs Massive und Massenbildende ausgerichtet. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft erhielt in ihm, gleichsam von seiner inneren Struktur her, eine ganz neue Dimension, in der das Quantitative in eine neue Qualität umschlug. Schon in der Frühzeit der Moderne verkam das Individuum zum anonymen Abstraktum als Kanonenfutter in den Riesenarmeen Napoleons, als Arbeitskraft im Proletariat des Frühkapitalismus, aber auch als Kunde und Konsument moderner Warenherstellung. Die Tendenz zur Entindividualisierung dessen, was man sich als Ideal der Aufklärung gestellt hatte – das autonome Individuum –, war, so besehen, das zwangsläufige Resultat einer Dialektik der Emanzipationsemphase, welche abstrakt (bzw. ideologisch) die Emanzipation zum Ziel modernen menschlichen Strebens stellte, zugleich aber auch Apparaturen und Institutionen zur objektiven Verhinderung einer Verwirklichung der proklamierten Emanzipation produzierte. In der „Dialektik der Aufklärung“ haben Horkheimer und Adorno darüber eine den gesamten Zivilisationsprozess umfassende Rechenschaft abgelegt (vgl. Horkheimer und Adorno 1987). Die Logik einer strukturellen Dialektik von Individuation und Aufhebung der Individuation als Folge einer übergreifenden Beherrschung von äußerer und innerer Natur, mithin der Beherrschung des Menschen durch den Menschen, war für sie in der Zivilisation von Anbeginn angelegt, und zwar mit Auswirkungen auf alle Bereiche menschlichen Seins. So erklärt es sich, dass das Buch sich gleichermaßen mit einer transhistorischen Zivilisationstheorie, mit der kommerziellen Massenkultur des 20. Jahrhunderts (Kulturindustrie) und mit dem modernen Antisemitismus befasst. Nimmt man noch das aphoristische Kompendium am Ende des Buches hinzu, wird klar, dass es den beiden Denkern primär um die zivilisatorisch prädisponierte strukturelle Bedrohung des Besonderen im Verhältnis zum Allgemeinen, um den tendenziell zunehmenden Untergang des Individuellen ging. Von besonderer Bedeutung war dabei der historische Zeitpunkt, an dem diese epochale Schrift entstand. Auschwitz war nicht nur das welthistorische Ereignis, das nicht von ungefähr späterhin als „Zivilisationsbruch“ (Diner 1988) apostrophiert werden sollte, sondern es galt den Frankfurter Denkern gleichsam als Kulminationspunkt dessen, was sie als generelle Tendenz der Zivilisation ausgemacht hatten. Und wenn Adorno in der „Negativen Dialektik“ postulierte, in Auschwitz sei nicht mehr das Individuum, sondern das Exemplar gestorben (Adorno 1982, S. 355), dann bezog sich das nicht nur auf die Anonymisierung des einzelmenschlichen Todes,

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nicht nur auf die Industrialisierung der Vernichtung, mithin der Entsubjektivierung des/r Ermordeten, sondern auch darauf, dass ein Zivilisationszustand erreicht worden ist, der aus der inneren Logik der zivilisatorischen Entwicklung eine Regression ins Barbarische generiert hat. Und das eigentliche Grauen bestand für ihn darin, wie er 1966 bemerkte, dass die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Monströse gezeitigt hatten, mitnichten aus der Welt geschaffen waren bzw. noch immer sind (vgl. Adorno 1971, S. 88). Der berühmt gewordene neue Kategorische Imperativ verlieh demnach nicht nur dem Grauen vorm bereits Geschehenen Ausdruck, sondern nicht minder auch dem noch möglicherweise Bevorstehenden. Das macht seinen beschwörenden Charakter aus. Und das ist es auch, was die Suche nach dem Subjektiven, nach dem Individuellen, nach dem Besonderen als eben Besonderem – sozusagen nach dem in seiner Authentizität bestehenden Einzigartigen – zum Paradigma der Frankfurter Denker werden lässt. Ob es sich dabei um eine Methode im strikten (positivistisch ausgerichteten) sozialwissenschaftlichen Sinne handelt, sei dahingestellt. Vieles, was dem dialektischen Denken als Methode vor Augen steht, gilt dem sich wissenschaftlich dünkenden Positivismus (in den Geistes- und Sozialwissenschaften) als unmethodisch bzw. als Methode untragbar. Das liegt allerdings im Wesen des jeweiligen Anspruchs. Denn wenn es Adorno, Horkheimer und Marcuse darum zu tun ist, gerade das freizulegen, was durch das im Positivismus als Begriff oder Kategorie Abstrahierte verschüttet worden ist, dann sind Ziel und Zweck von Denken und Forschung in beiden Fällen nicht miteinander vereinbar. Was dennoch als Vorannahme im Denken der Kritischen Theorie angezeigt werden darf, ist die dialektische Verschwisterung von Subjekt und Objekt, von Besonderem und Allgemeinem, von Individuellem und Kollektivem. Das Subjekt ist nie nur Subjekt, wie denn das Objekt nie nur Objekt ist, sagt Adorno, womit die gegenseitige (sowohl epistemologische als ontologische) Verwiesenheit aufeinander angezeigt wird (vgl. Adorno 1977, S. 741 ff.). Da nun aber, wie gesagt, von einer Übermacht der Totalität, von der allumfassenden Vergesellschaftung alles Individuellen ausgegangen wird, obliegt es den Forschenden das Allgemeine im Besonderen, das Übergreifende im Individuellen auszumachen bzw. in schwerster begrifflicher Feinarbeit die Konstellation so erörternd zu bearbeiten, dass sich das Einzigartige aus seiner generalisierenden Abstraktion gleichsam herausschält. Hierin mag sich aber auch das Unbefriedigende der Kritischen Theorie erweisen. Denn wenn man von einer (schon bei Marx angelegten) Verschwisterung von Theorie und Praxis ausgeht, so sieht sich die Kritische Theorie gleichsam dem Vorwurf defizitärer Bringschuld ausgesetzt. Denn die Diagnose des Bestehenden würde ja auch Schlussfolgerungen für die Praxis bzw. handfeste Empfehlungen für aktives Handeln im Politischen und Sozialen erwarten lassen. Denn während die Praxisabstinenz des Idealismus sich, ihrer immanenten Argumentationslogik nach, in Anspruch nehmen durfte, das Empirische im Begriff eingefasst zu haben, so ging das natürlich für an marxistischer Denktradition orientierten Theoretikern nicht mehr. Mit der 11. These über Feuerbach war ja nachgerade parolenhaft angezeigt worden, dass es nicht nur um Interpretation der Welt, sondern auch um deren Veränderung zu gehen habe (vgl. Marx 1983, S. 533). Nun war aber die Diagnose

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der Gesellschaft des Spätkapitalismus zumindest bei Adorno (und mit einer gewissen Abweichung auch Horkheimer) sowie Marcuse so geraten, dass man sehr wohl von einer umfassenden und kohärenten „Interpretation der Welt“ sprechen durfte, aber eben von einer, aus der sich die praktische Veränderung der Welt nicht erschloss. Nicht nur Adornos Begriff des „universellen Verblendungszusammenhangs“ (Adorno 1982, S. 379) indizierte dies, sondern vor allem auch die zur hohen Prominenz gelangte, zugleich aber auch kontrovers rezipierte Darstellung Marcuses des Spätkapitalismus als einer „eindimensionalen Gesellschaft“. Seine Analyse war beredt und in ihrer Stringenz durchaus überzeugend, zugleich ließ sie ihn in einen gravierenden Widerspruch geraten. Denn wenn sich der marxisch orientierte Denker der 11. Feuerbach-These verpflichtet wusste, so waren ihre beiden Postulate bei ihm schlechterdings nicht miteinander vereinbar: Wenn in der als „eindimensional“ diagnostizierten spätkapitalistischen Gesellschaft die für die soziale Veränderung notwendigen negativen Kräfte ins System voll integriert, mithin im essenziellen Sinne deaktiviert waren, wie konnte man noch emphatisch zur Revolution aufrufen, wie es Marcuse trotz seiner Diagnose tat? Der israelische Philosoph Zvi Tauber hat diesen Widerspruch kraft der Kategorie des Absurden bei Camus zu lösen versucht (vgl. Tauber 1994). Aber bei aller Brillanz seiner Analyse muss eingestanden werden, dass damit keine philosophisch begründete praktische Handlungsanleitung geboten werden konnte, sondern lediglich eine Dennoch-Emphase, die davon ausging, dass man sich trotz der historischen Sackgasse, in welche die Welt geraten ist, mit dem Zustand dieser Welt nicht abfinden kann. Und so wie Adorno bei aller historischen Ausweglosigkeit zumindest das kritische Reflexionsvermögen, mithin die Abweisung einer endgültigen Aufhebung in der „negativen Dialektik“ weiterhin forderte (und auch theoretisch formulierte), postulierte auch Marcuse, dass es im Hinblick der menschlichen Emanzipation kein Verdorren der revolutionären Emphase geben dürfe. Hingewiesen sei in nämlichem Zusammenhang auf einen weiteren scheinbaren „Widerspruch“ im Denken der kritischen Theoretiker. Denn zum einen verstand sich der subjektive Faktor bei ihnen als das, worauf es ankam bei der Freilegung der menschlichen Emanzipationspotenziale, der subjektive Faktor also auch als methodischer Ansatz bei der Ergründung des Emanzipativen. Zum anderen aber redet Adorno mehrfach vom Vorrang des Objekts, und Horkheimer unterscheidet in der „Kritik der instrumentellen Vernunft“ zwischen der subjektiven und der objektiven Vernunft, wobei er gerade die subjektive pejorativ als die instrumentelle apostrophiert (vgl. Horkheimer 1991). Das Subjektive bzw. Individuelle war stets Emanzipationsziel in der Marxschen Denktradition. Niemand verlieh dem prägnanteren Ausdruck als Marx selbst, als er in der „Kritik des Gothaer Programms“ die Parole formulierte „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Marx 1982, S. 21) Aber es war gerade Marx darum zu tun, darzulegen, dass dieses emanzipative Ziel nicht mittels eigenmächtiger, individueller Kraftanstrengung zu erlangen sei (wie es der klassische Liberalismus suggerieren wollte), sondern einzig durch eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung in einer Weise, die die Verwirklichung der Emanzipation ohne repressive Auswirkungen erst eigentlich ermöglichte. Das genau meinte auch Adorno, als er von einer freien Gesellschaft

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sprach, welche erst dann eine solche wäre, wenn jede/r anders als die anderen zu sein vermöchte, ohne sich seiner Andersheit fürchten zu müssen. Wenn also das Subjektive das emphatische Ziel der Emanzipation darstellt, so ist es als solches nicht denkbar, ohne das Objektive, mithin das Totale mit zu bedenken. Weil nun aber – so Adorno gegen Hegel – das Ganze das Falsche ist, kann das Subjektive nur dann emanzipativ gefordert werden, wenn man sich vergegenwärtigt, was an der Objektivität durch einen falsch verstandenen Vorrang der Subjektivität derart entstellt worden ist, dass man sich eine andere Objektivität vorzustellen hat bzw. eine Objektivität, die vom Herrschaftssubjekt weder als äußere noch als innere Natur noch als der (als Bedrohung aufgefasste) Mitmensch dominiert wird. Wenn Adorno in der „Minima Moralia“ vom Einzelnen, Besonderen und eben Subjektiven ausgeht, um aufs Ganze zu schließen, mithin das Ganze zu dekodieren (vgl. Adorno 1951), so geschieht es einzig, weil er von der immanenten Verschwisterung des Subjektiven und Totalen weiß. „Vorrang des Objekts“ meint bei ihm nicht Vorrang der Emanzipation des Objekts, sondern – ähnlich wie bei Horkheimer – zweierlei: zum einen die Loslösung vom Herrschaftsanspruch des Subjekts durch ein empathisches Hinhören aufs Objektive; zum anderen das Begreifen des Außersubjektiven, in welchem man sich immer schon gesellschaftlich wie geschichtlich bewegt. Nicht von ungefähr befasst sich das letzte große Werk sowohl bei Adorno als auch bei Marcuse mit Kunst bzw. der Ästhetik. In gewisser Hinsicht darf man behaupten, dass Adornos „Ästhetische Theorie“ (was er „auf die Waagschale zu werfen“ hatte) (vgl. Adorno 1970) und Marcuses „Permanenz der Kunst“ (Marcuse 1977) als deren theoretisches Vermächtnis zu gelten haben. Die inhaltlichen Denkansätze werden an anderer Stelle in diesem Band dargelegt werden. Hervorgehoben sei gleichwohl im hier erörterten Zusammenhang, dass Kunst für beide einen besonderen Stellenwert in der Ergründung des Verhältnisses von Subjektivität und Totalität bzw. dem Besonderen und dem Ganzen einnimmt. Denn nicht nur vereint Kunst ihrem Wesen nach das Einzelne mit dem Allgemeinen, das Konkrete mit dem Abstrakten, das Temporäre mit dem Überzeitlichen sowie das Sinnliche mit dem Ephemeren, sondern für beide Denker bildet sie auch einen Gegenentwurf zum Bestehenden. Und zwar nicht nur wegen ihres Als-ob-Charakters (welches ja Voraussetzung aller Kunst ist) gegenüber dem Realen, sondern weil sich in diesem Gegenentwurf auch die schiere Möglichkeit eines anderen (menschlichen) Seins offenbare: Bei Marcuse als das nichtrepressive Spielerische, welches er mit Bezug auf Schillers „Ästhetische Erziehung des Menschen“ hervorhebt. Bei Adorno, von dem Marcuse in der Beschäftigung mit Kunst nach eigenem Bekunden maßgeblich beeinflusst worden ist, als das, was bei allem ideologischen (schönen) Schein einen Wahrheitskern und -gehalt der conditio humana beinhalte und kodiere. Bekanntlich hat Adorno das kontroverse Diktum in die Welt gesetzt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Nicht von ungefähr ist dies aber auch eine der wenigen Aussagen, die Adorno, wenn nicht ganz zurückzunehmen, so doch abmildern zu sollen meinte. In der „Negativen Dialektik“ schrieb er: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ (Adorno 1997b, S. 355) Das wollte er unbedingt als Funktion der Kunst weiterhin gelten

Totalität und subjektiver Faktor als Methode

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lassen: Leid beredt werden zu lassen. Gerade nach dem Grauen des weltgeschichtlichen Ereignisses, an dessen exponiertem Ort nicht mehr das Individuum, sondern das Exemplar starb, insistierte Adorno darauf, dass das, was am Exemplar unantastbar individuell geblieben war, sein Leid, von der Kunst mit der ihr eigenen Mitteln bezeugt und ausgedrückt werde.

Literatur Adorno, T. W. (1951). Minima Moralia. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1970). Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (Hrsg.). (1971). Erziehung nach Auschwitz. In Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (Hrsg.). (1977). Zu Subjekt und Objekt. In Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1982). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1994). Negative Dialektik (8. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1997a). Theorie der Halbbildung. In R. Tiedemann (Hrsg.), Adorno Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Bd. 8: Soziologische Schriften I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1997b). Negative Dialektik. In R. Tiedemann (Hrsg.), Adorno Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Bd. 6: Negative Dialektik (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003). Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. In R. Tiedemann (Hrsg.), Theodor W. Adorno. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen (Bd. 16). Berlin: Suhrkamp. Diner, D. (Hrsg.). (1988). Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz. Frankfurt a. M.: FischerTaschenbuch-Verlag. Hegel, G. W. F. (1993). Werke. Bd. 5: Wissenschaft der Logik. Neu editierte Ausgabe (3. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hegel, G. W. F. (1996). Werke. Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. Neu editierte Ausgabe (5. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Horkheimer, M. (Hrsg.). (1991). Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. In Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Horkheimer, M., & Adorno, T. W. (1987). Dialektik der Aufklärung. Gesammelte Schriften (Bd. 5). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H. (1969). Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H. (1977). Die Permanenz der Kunst: wider eine bestimmte marxistische Ästhetik. Ein Essay. München/Wien: Hanser. Marcuse, H. (1979). Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (13. Aufl.). Darmstadt/Neuwied: Luchterhand. Marcuse, H. (1990). Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie (8. Aufl.). Frankfurt a. M.: Luchterhand-Literaturverlag. Marx, K. (1981). Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In K. Marx & F. Engels (Hrsg.), Werke (Bd. 1). Berlin: Dietz. Marx, K. (1982). Kritik des Gothaer Programms. In K. Marx & F. Engels (Hrsg.), Werke (Bd. 19). Berlin: Dietz. Marx, K. (1983). Thesen über Feuerbach. In K. Marx & F. Engels (Hrsg.), Werke (Bd. 3). Berlin: Dietz. Marx, K., & Engels, F. (1953). Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften. Berlin: Dietz. Riesman, D., et al. (1958). Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Hamburg: Rowohlt.

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Schiller, H.-E. (1989). Gehemmte Entwicklung. Über Sprache und Dialektik bei Herbert Marcuse. In G. Flego & W. Schmied-Kowarzik (Hrsg.), Herbert Marcuse: Eros und Emanzipation. Marcuse-Symposion 1988 in Dubrovnik (S. 227–253). Gießen: Germinal-Verlag. Schweppenhäuser, H. (1972). Tractanda. Beiträge zur kritischen Theorie der Kultur und Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schweppenhäuser, H. (1986). Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge (1. Aufl.). Lüneburg: zu Klampen. Tauber, Z. (1994). Befreiung und das ‚Absurde‘. Studien zur Emanzipation des Menschen bei Herbert Marcuse (1. Aufl.). Gerlingen: Bleicher. Wittgenstein, L. (1963). Tractatus logico–philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Das Denken des Möglichen Kritische Theorie als Projekt des Zusammenhangs von Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik – Feministische Reartikulationen Sabine Hark und Hanna Meißner

Zusammenfassung

Der Fokus auf gesellschaftliche Zusammenhänge und Mechanismen, die die Ohnmacht der Einzelnen gegenüber verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnissen immer wieder befestigen, ist nach wie vor hoch aktuell. Aus feministischer Perspektive ist aber zu betonen, dass zu den Aufgaben kritischer Gesellschaftstheorie auch das Erfahrbarmachen von Unerwartetem und Ausgeschlossenem gehört. So lässt sich das Argument, dass kritische, widerständige, revolutionäre Subjekte in ihrer Konstituierung strukturell be- oder verhindert werden, mit der Hoffnung verbinden, dass ‚wir‘ diese Subjekte erfinden können, indem wir auf verschiedenen Ebenen kollektive Bedingungen für solche Seinsweisen schaffen. Schlüsselwörter

Gesellschaftstheorie · Feministische Theorie · Subjektivierung · Zeitdiagnose · Phantasie

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Einleitung

„Denken“, schreibt Theodor W. Adorno in Negative Dialektik (1973 [1966], S. 30), „ist, an sich schon, vor allem besonderen Inhalt Negieren, Resistenz gegen das ihm Aufgedrängte“. Geronnen ist in diesem Postulat nicht nur das zentrale Motiv im Werk Adornos, nämlich die Kritik des identifizierenden, über Dinge und Menschen bloß verfügenden Denkens, sondern auch, was mehr denn je die vielleicht vordringlichste Aufgabe kritischer Theorie ist: dem „Denken des Möglichen“, wie Judith Butler es formuliert hat, einen Ort zu geben (Butler 2009a, S. 56). Worum S. Hark (*) · H. Meißner (*) Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG), Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_35

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es kritischer Theorie heute gehen muss, mit anderen Worten, ist, das Wissen um den Unterschied zwischen Wirklichem und Möglichem lebendig zu erhalten und uns „in eine Lage zu versetzen, von der aus wir die Welt, wie sie für uns gegeben ist, transzendieren können, um ganz konkret Zukunftsentwürfe zu erfinden, die anders sind als diejenigen, die in die Ordnung der Dinge eingeschrieben sind“ (Wacquant 2006, S. 669). Das Ziel kritischer Theorie, so hat es auch Michel Foucault (2005a, S. 703) gefasst, ist, „aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit heraus(zu)lösen, nicht mehr das zu sein, tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken“. Worauf Adorno wie Butler ebenso wie Foucault und Wacquant hier ungeachtet ihrer zweifellos gegebenen mannigfaltigen theoretischen Divergenzen abzielen, ist also, darauf hinzuweisen, dass Herrschaft auch in den – zunehmend administrativ und ökonomisch, aber auch naturwissenschaftlich-technisch präformierten – Denkformen steckt, Vergesellschaftungsformen und Denkformen mithin Teil desselben Herrschaftszusammenhangs sind, den es zu dekonstruieren gilt. Vor allem aber ist es ihnen darum zu tun, kenntlich zu machen, wie sich „Macht als Ontologie verstellt“ (Butler 2009a, S. 50), die machtgetränkten Grenzen des Wissbaren also ganz konkret Grenzen möglichen Seins darstellen. Es sind diese beiden Momente, die Theoretisierung des machtvollen Nexus von Wissen, Sein und Tun, von Vergesellschaftungs- und Denkformen einerseits, der Impuls, sich resistent ‚gegen das ihm Aufgedrängte‘ zu zeigen und dem ‚Denken des Möglichen einen Ort zu geben‘, die Welt also nicht nur zu denken, wie sie ist, sondern auch, wie sie sein könnte, andererseits, die zentrale Bindeglieder zwischen Frankfurter kritischer Theorie und feministischem Denken darstellen. Doch wo Adorno selbst die Möglichkeiten für eine radikal verändernde Praxis verstellt sah, da sich, wie Albrecht Wellmer (2007, S. 140) ausführt, für ihn „die instrumentelle und identitäre Vernunft in der modernen Gesellschaft zu einem systematischen Herrschaftszusammenhang verdichtet hat, der bis in die Konstitution der Subjekte und in alle Formen der Praxis hineinreicht“, findet sich in Butlers Werk beides. Denn die Befragung der Beziehungen zwischen Wissen, Macht und Seinsweisen daraufhin, welches und wessen Sein sie ermöglichen, welche Körper sie im Leben halten, zielt bei Butler nicht nur auf onto-epistemologische Einsprüche, darauf, das Aufgedrängte zurückzuweisen, sondern gerade auch auf die Frage, auf welches andere Sein zu hoffen wäre. Dabei argumentiert Butler insbesondere in ihren jüngeren Schriften zu Prekarität, Verletzbarkeit und politischen Allianzen, in denen sie „eine allgemeinere Konzeption des Menschlichen, (. . .) nach der wir den Anderen von Anfang an ausgeliefert sind“ (Butler 2009a, S. 44), zugrunde legt und anstrebt, Verletzbarkeit und Handlungsmächtigkeit zusammen zu denken, dass die gegebene epistemische Hegemonie und soziale Ontologie nicht allein auf der Ebene der Deutungen zugänglich und reform(ul)ierbar ist. Es bedarf vielmehr der praktischen, materiellen Reorganisation von Sozialität, um diese anderen Möglichkeiten zu eröffnen. Denn da das, was Körper ausmacht, wie Butler jüngst in Notes Toward a Performative Theory of Assembly (2015) argumentiert, gerade ihre Abhängigkeit von anderen Körpern sowie von unterstützenden Infrastrukturen und Netzwerken ist, können wir sie nicht losgelöst von diesen sie konstituierenden, ökonomisch und

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historisch je spezifischen Netzwerken und Bindungen betrachten. Auch hier die Herrschaftsförmigkeit der Denkformen stets im Blick, fragt Butler daher vor diesem Hintergrund in ihrer Frankfurter Adorno-Preisrede (2012) sowohl danach, wie wir „unser eigenes Leben so führen (können; d. Verf.), so dass wir sagen können, wir führen ein gutes Leben in einer Welt, die vielen ein gutes Leben strukturell oder systematisch unmöglich macht“ als auch danach, „welche Gestalt diese Frage heute für uns annimmt. Anders gesagt: Wie bestimmt und durchdringt der historische Moment, in dem wir leben, diese Frage selbst?“ Wenn es mithin – auch aus einer feministischen Perspektive – zum einen darum geht, Verhandlungen darüber zu forcieren, wie wir leben wollen, was ein gutes Leben ist, ohne dabei normative Annahmen über gesellschaftliche Stabilität, Ordnung, Normalität und angemessene Bedürfnisse zu übernehmen, die etwa in heteronormativer, androzentrischer, auf dem Recht auf Eigentum gründender Neo-Bürgerlichkeit verankert sind, und zum anderen darum, strukturelle Herrschaftsverhältnisse erkennbar zu machen, die diese Verhandlungen systematisch begrenzen, erschweren oder gar verhindern, so ist die Aufgabe klar: Es gilt, den Zusammenhang von Denkund Vergesellschaftungsformen aufzuhellen, um das Nicht-Identische im Begrifflichen herauszuarbeiten und verhandelbar zu machen, was überhaupt an Möglichkeiten und Alternativen in Erscheinung treten kann.

2

Gegenwärtige gesellschaftliche Dynamiken und soziologische Diagnosen

Fragen wir dafür zunächst nach den Vergesellschaftungsformen und wie diese derzeit in der sozialwissenschaftlichen Literatur beschrieben werden. Hier haben gegenwärtig Krisendiagnosen Konjunktur. Wenngleich diese, in kritischer Absicht auch an Marx und die Frankfurter kritische Theorie anschließenden Befunde – etwa die einer „verwahrlosten Fürsorge“ (Becker-Schmidt 2011), einer „Krise der Sorgearbeit“ (Aulenbacher 2013) beziehungsweise „Reproduktionskrise“ (Jürgens 2010, 2011), einer „sozial-ökologischen Doppelkrise“ (Dörre 2012), einer „Dreifach-“ (Streeck 2013) oder gar „Vielfachkrise“ (Demirović et al. 2011) – unterschiedliche Zusammenhänge fokussieren und unterschiedliche Problemkonstellationen akzentuieren, so stimmen deren Autor_innen im Kern doch darin überein, aktuelle Dynamiken als Ausdruck einer bereits in den 1970er-Jahren einsetzenden Systemkrise bzw. Krise der gesellschaftlichen Reproduktion insgesamt zu begreifen. Als (eine) entscheidende Dimension der Analyse wird denn auch die inhärente Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise und – etwa in der Wiederaufnahme des Luxemburgschen „Landnahme“-Theorems – deren Angewiesenheit auf ein nicht-kapitalistisches Außen verstärkt in den Blick gerückt. Nur durch die fortwährende Einverleibung eines solchen nicht-kapitalistischen Außens, argumentiert etwa Klaus Dörre (2012, S. 103), würde eine Dynamik am Leben erhalten, die bislang über alle Krisen hinweg für eine Selbststabilisierung kapitalistischer Gesellschaften gesorgt habe (vgl. auch Eickelpasch et al. 2008; Dörre et al. 2009; Nickel und Heilmann 2013).

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Weitgehend unstrittig scheint in der thematisch einschlägigen sozialwissenschaftlichen Literatur ebenfalls, dass wir es gegenwärtig mit im Wortsinn radikalen Umwälzungen des fordistischen „Teilhabekapitalismus“ (Busch und Land 2012) zu tun haben. Also jener spezifischen, wenngleich national durchaus divergierenden Figuration der Trias von Staat, Markt und Gesellschaft, wie sie, ausgehend von den USA der 1940er-Jahre, in den Nachkriegsgesellschaften des globalen Nordens ausgebildet worden war. Umwälzungen, die in ihrer prospektiven Reichweite der „großen Transformation“, als die Karl Polanyi (1978) die Herausbildung einer liberalen Marktwirtschaft im 19. Jahrhundert und die damit verbundene Verselbstständigung der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft beschrieben hat, mehr als vergleichbar sind und weshalb nicht wenige von einer neoliberalen Revolution sprechen (Brown 2015; Streeck 2013). Und auch die in diesem Zusammenhang von Polanyi analysierte Gefahr, dass Gesellschaften, in denen die Idee eines selbstregulierenden Marktes hegemonial ist, auf Dauer ihre eigenen sozialen Voraussetzungen zerstören, ist Teil aktueller Krisendiagnosen. Jedenfalls wird der diagnostizierte „neue Synkretismus von Ökonomie und Lebensform“ (Neckel 2008, S. 21) allenthalben als eine solche „krasse Utopie“ im Polanyischen Sinne beschrieben, da er „die menschliche und natürliche Substanz von Gesellschaften“ (Polanyi 1978, S. 19 f.) zu vernichten drohe. In der Tat haben die gegenwärtig weltweit feststellbaren Verwerfungen und tief greifenden gesellschaftlichen Umbrüche die Bedingungen politischer Partizipation, demokratischer Handlungsmächtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe grundlegend verändert und werden sie noch weiter verändern. Gemeinwohlökonomie und Demokratie, argumentiert etwa Oskar Negt (2001), geraten unter der forcierten Vorrangstellung der Marktökonomie deutlich unter Druck. Wendy Brown (2015) etwa argumentiert, dass die neoliberale Erneuerung von Staat und Subjekt die Demokratie zerstöre und Wolfgang Streeck (2013) spricht in seinen Adorno-Vorlesungen, in der er an die Frankfurter Krisentheorien der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre anschließt, von der Entdemokratisierung des Kapitalismus vermittels Entökonomisierung der Demokratie. „In der Verlängerung dieses Weges der letzten knapp vierzig Jahre“ liege, so Streeck, der „Versuch einer endgültigen Freisetzung der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer Märkte (. . .) von der Demokratie als Massendemokratie, wie sie zum Regime des demokratischen Kapitalismus gehörte“ (Streeck 2013, S. 77). Verantwortlich dafür sind für Streeck im Wesentlichen drei Entwicklungen: • Das „Um- oder Zurückschalten des modernen Kapitalismus auf ‚selbstregulierte‘ Märkte im Zuge des neoliberalen Großversuchs einer weltweiten Revitalisierung der kapitalistischen Akkumulationsdynamik vermittels Deregulierung, Privatisierung und Marktexpansion aller Art und in alle nur denkbaren Richtungen“ (Streeck 2013, S. 25), • die „rapide Ausbreitung und hohe kulturelle Akzeptanz marktangepasster und marktgetriebener Lebensformen“ (Streeck 2013, S. 25) • sowie die Tatsache, dass die „Wirtschaftskrisen, die den Wandel vom Nachkriegszum neoliberalen Kapitalismus begleiteten“, sich nicht in Legitimationskrisen kapitalistischer Gesellschaften übersetzten (Streeck 2013, S. 25).

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Kurz gefasst haben wir es gegenwärtig also zu tun mit dem Umbau der modernen Sozialordnungen von Marktökonomien in Marktgesellschaften, mit dem Umbau vom Sicherheits- in einen Wettbewerbsstaat (Hirsch 1995) beziehungsweise vom vorsorgenden in den aktivierenden Sozialstaat. Wir haben es zu tun mit der weltweiten Erziehung der Menschen zur Marktlichkeit sowie der Kommodifizierung sowohl ihrer Lebensführung als auch der Verteilung ihrer Lebenschancen durch Markterfolg (Hänzi et al. 2014). Und – der Kommodifizierung der Lebensführung korrespondierend – wir haben es darüber hinaus auch insofern mit einer „großen Transformation“ zu tun, als weltweit und gleichsam in Verlängerung des europäischen Kolonialismus (vgl. Kerner 2012) die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen zerstört werden, ihr Leben selbst zu erhalten und gestalten. Es handelt sich, mit anderen Worten, um nicht weniger als um eine Transformation, die eine qualitativ radikal veränderte Topologie des Sozialen zeitigt, insofern ökonomische Muster und Rationalitäten auf tendenziell alle Lebensbereiche ausgedehnt und die Grenzen zwischen Staat, Gesellschaft, Ökonomie und Privatsphäre neu gezogen werden. Eine Topologie, in der „Freiheit und Unsicherheit das neue Paar bilden“ (Lorey 2012, S. 86) und Quellen der Solidarität systematisch zerstört werden. Eine Topologie, deren Bewegungsgesetz jene nach Außen treibende, freisetzende Bewegung ist, die Ulrich Beck bereits 1986 als charakteristisch für die Gegenwartsgesellschaften diagnostiziert hatte, dass heute nämlich jede_r Einzelne – und nicht kollektive Strukturen und Zusammenhänge – die „lebensweltliche Reproduktionseinheit des Sozialen“ darstellt (Beck 1986, S. 119). Zentrale Belege dafür in den Gesellschaften des globalen Nordens sind vor allem jene Politiken, durch die bisher sozialstaatliche, auf dem Prinzip gesellschaftlich organisierter Solidarität basierender Verantwortungen in die Zuständigkeit nicht- bzw. semistaatlicher gesellschaftlicher Einrichtungen oder in die nur noch bedingt sozialstaatlich gestützte private Verantwortung der Individuen transferiert werden. Dies reicht von der Verantwortung, informiert und ethisch zu konsumieren, über die Verpflichtung, die eigene Beschäftigungsfähigkeit zu optimieren und das Management sowohl des eigenen „Gesundheitsportfolios“ wie des Gefühlshaushaltes bis zur Verantwortung für die Reproduktion – von der genauen Planung von Schwangerschaften bis zur durch gentechnologische Entwicklungen nahe gelegten Verantwortung für „genoptimierte Nachkommen“. Doch wo in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren diese Prozesse der Individualisierung in der soziologischen Literatur noch verbreitet als sozialstaatlich gerahmte Pluralisierung und Freisetzung aus der Bindung an als traditional gedachte Milieus diskutiert und insofern als Zugewinn an individueller Autonomie akzentuiert wurden, rücken heute vermehrt die Momente der Desintegration, der Fragmentierung und der sozialen Spaltung sowie der Prekarisierung von Lebensläufen in den Vordergrund. Sozialstaatliche Regulierungen sind nun weniger darauf gerichtet, „die individuellen Chancen autonomer Lebensführung zu erhöhen“; stattdessen ergibt sich „im Effekt eine neue Form der Vergesellschaftung von Subjektivität, der Unterwerfung der Subjekte unter die ‚Herrschaft des sozialen Gesichtspunktes‘“ (Lessenich 2008, S. 14). Für die Individuen hat das zur Folge, dass sie sich zwar als selbstbestimmt und selbstverantwortlich begreifen und die Mittel zur Bewältigung

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der als gegeben erlebten Aufgaben vor allem bei sich selbst suchen. Sie sind dabei aber zunehmend auf sich und ihre Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten zurückgeworfen und aufgefordert‚ ‚das Beste‘ aus Bedingungen zu machen, die ihnen weitgehend als unverfügbar erscheinen – was Rahel Jaeggi (2005) unlängst als Prozess der Entfremdung beschrieben hat. In einer historischen Konstellation, mit anderen Worten, in der, wie Michel Foucault (2004a, b) gezeigt hat, eine neoliberale Regierungsweise als neue Ontologie hegemonial geworden ist und sich im institutionellen Gefüge der kapitalistischen Spätmoderne materialisieren konnte, werden die Individuen im Sinne eines vor allem in Marktparametern gedachten Gemeinwohls zur Verantwortung gezogen und zugleich wird dieses Allgemeinwohl dem Zugriff ihres politischen Handelns entzogen. Gemäß der Maxime, was gut ist für den Markt, ist gut für die Gesellschaft, werden die solcherart adressierten Akteur_innen, deren Verhalten im Modell ökonomischer Kosten-Nutzen-Kalküle konzipiert wird, durch strategische Eingriffe dazu gebracht, in ihrem vorgeblichen Privatinteresse zu handeln und so dem Allgemeinwohl zu dienen. Handeln wird beschränkt auf das Wahlverhalten von Kund_innen, die ein bestimmtes Angebot als gegebenes Feld der Möglichkeiten hinnehmen: „The model neoliberal citizen is one who strategizes for her- or himself among various social, political, and economic options, not one who strives with others to alter or organize these options“ (Brown 2005, S. 43). Diese Zerlegung des Gemeinwesens in individuelle Unternehmer-Bürger wird dann über die Berufung auf gegebene Identitäten weiter dethematisiert, indem Bedürfnisse und Entscheidungen als Ausdruck einer wie auch immer definierten identitären Innerlichkeit erscheinen. An die Stelle von politischer Partizipation, der Möglichkeit gleichberechtigter Teilhabe aller „an der Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung“ (Habermas 1998, S. 106), tritt, mit anderen Worten, das Placebo Identität. Identität stellt daher zunehmend den Modus dar, in dem Ungleichheiten, Gewalt, Ausbeutung, Benachteiligung, aber auch Hoffnungen, Ziele und Bedürfnisse erfahren, erklärt und zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht werden (können). ‚Im Namen‘ von Identität werden soziale und kulturelle, ökonomische und nationale Grenzen gezogen, Rechte gefordert und verweigert, soziale Normen und Praktiken formuliert. Die gegenwärtig ubiquitäre Rede von Identität (Hark 2013) ist insofern auch als Indiz der von Brown, Streeck und anderen konstatierten Entdemokratisierung zu verstehen. Aus feministischer Perspektive ist dabei besonders interessant, dass es vornehmlich junge Frauen* – und das meint mehrheitlich die heterosexuellen, weißen, gebildeten und der (aspirierenden) Mittelschicht angehörigen jungen Frauen* vornehmlich aus den Ländern des globalen Nordens, aber auch einige wenige aus den Ländern des globalen Südens – sind, die als fähige und willige Akteur_innen des Wandels angerufen und zu den privilegierten Subjekten des kapitalistischen und wohlfahrtsstaatlichen Umbaus werden. Diesen ins Licht gerückten Top Girls (McRobbie 2010) – „Subjekte par excellence und Subjekte der Exzellenz“ – gilt gegenwärtig die nicht zuletzt kulturindustrielle Aufmerksamkeit. Dabei wird ihnen ein bestimmtes Spektrum an Fähigkeiten zugesprochen (und zugleich abverlangt!), verbunden mit der Erwartung, dass sie bestimmte Lebenswege beschreiten, zu denen

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vor allem die Eingliederung ins Erwerbsleben und das volle Eintauchen in die Konsumkultur gehören. Die Möglichkeit von Politik – im Sinne der Kommunikation und kooperativen Entschlussfassung über jene Angelegenheiten, die Menschen gemeinsam sind – scheint daher tatsächlich zu den heute besonders gefährdeten Elementen des öffentlichen Lebens zu gehören. Das Recht, sich selbst zu regieren, ist, genauer gesagt, nicht gegeben. Michel Foucault sprach hier bereits in den frühen 1980er-Jahren in „Subjekt und Macht“ von den Kämpfen „gegen die ‚Lenkung durch Individualisierung‘“ (Foucault 2005b, S. 274). Dies seien Kämpfe, in denen all das bekämpft würde, „was das Individuum absondert, seine Verbindungen zu anderen abschneidet, das Gemeinschaftsleben spaltet, das Individuum auf sich selbst zurückwirft und zwanghaft an seine Identität fesselt“ (Foucault 2005b, S. 274). Ende der 1990erJahre diagnostizierte dann Zygmunt Bauman (1999) das dramatische Verschwinden von Möglichkeiten, sich selbst zu regieren, sowie den Verlust von Brücken zwischen privater und öffentlicher Sphäre und damit den Verlust von Möglichkeiten, die als ’privat‘ markierten und deshalb aus dem Bereich des Politischen ausgegrenzten Belange und Nöte in die öffentliche Sphäre zu übersetzen. Zur selben Zeit merkte auch Cornelius Castoriadis (1998) kritisch an, dass die Institutionen von heute die Menschen auf vielfältige Weise davon abhielten, sich an öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen und nur wenige Jahre später diagnostizierte Colin Crouch (2008) die Tendenz globaler Wirtschaftseliten, demokratische Institutionen erfolgsorientiert zu ihrem eigenen Nutzen zu verwenden. Jene ‚Ego‘-bezogene Individualität steht also in paradoxem, gleichwohl konstitutivem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich, wie bereits Marx in seiner Kapitalismuskritik argumentiert, systematisch intentionalen und gestaltenden Zugriffen entziehen. Martijn Konings zufolge erfährt dieser widersprüchliche Zusammenhang mit Ende des Fordismus eine ‚neoliberale‘ Zuspitzung, die sich insbesondere auf der Ebene der psychischen Dynamiken auswirkt: „An age that comprehended itself in terms of individualization and growing self-reliance in fact represented an erosion of ‚everyday competence‘“ (Lasch 1979, S. 10) and a growing dependence on external sources of validation and social structures of authority. The newly emerging selves, far from solid and self-sufficient, were intensely dependent on the menu of lifestyle accessories made available by Fordist capitalism and even more by the post-Fordist cultural industries and the service sector“ (Konings 2009, S. 116). Diesem, im Raster ökonomischer Kalküle konzipierten, Modell individuellen Handelns korrespondierend, tritt staatliche Politik vor allem in Form von bürokratischen Prozeduren, das heißt der Verwaltung individualisierter Problemlagen und sachlich gegebener Anforderungen in Erscheinung. Gemeinwohl wird gesetzt durch das Ideal technologisch zu sichernder und zu optimierender Wettbewerbsfähigkeit; politische und ethische Verhandlungen sind vorrangig unter Maßgabe dieser Prämisse möglich (Braun et al. 2010) und reduzieren sich oft genug auf die Frage, auf welche technischen Möglichkeiten in welcher Weise zurückgegriffen werden soll, um diese Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Prozesse kollektiver Verständigung über Problemlagen und Anforderungen, darüber, in welcher Form es ein Allgemein-

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wohl überhaupt geben kann und soll und wie ein solches Allgemeinwohl gestaltet werden sollte, sind in dieser Rationalität nicht nur nicht vorgesehen, sondern werden durch Prozesse der Verengung und Zerstörung öffentlicher Räume, durch Individualisierung und Fragmentierung des Gemeinwesens in ihrer subversiven Entstehung zunehmend erschwert. (vgl. Hark et al. 2015) Verloren geht so nicht zuletzt die Möglichkeit, „zugleich Nein zur einen und Ja zur anderen Lebensweise [zu] sagen“ (Butler 2012, Ms. S. 7). Verdichtet haben wir es also mit folgender Situation zu tun: • Ontologisierung des Allgemeinwohls im Sinne (unverfügbarer) Marktdynamiken • Ontologisierung des Individuums als (wahlweise rationales oder fehlbares) Begehrenssubjekt • Ontologisierung von Problemlagen als individuelle Eigenschaften und private Risiken

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Krise der Gesellschaft – Krise des soziologischen Wissens

Insofern es uns vor dem Hintergrund dieser dreifachen Ontologisierung hier darum zu tun ist, den Zusammenhang von Denk- und Vergesellschaftungsformen aufzuhellen, um „der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien zu entwickeln“ (Marx 1961, S. 345), zugleich aber zutrifft, dass kritisches Potenzial nicht einfach ‚da‘ ist, ja sogar aufgrund eines „Übermaß an Realität“ (Boltanski 2010, S. 71) strukturelle Verhinderungen der Entfaltung eines solchen Potenzials existieren, gilt es in einem nächsten Schritt zu fragen, wie über genau diese Verhinderungsbedingungen kritisches gesellschaftstheoretisches Wissen, das sich resistent gegenüber dem ihm Aufgedrängten zeigt, überhaupt produziert werden kann. Als die privilegierte Instanz dieses Wissens gilt die Soziologie. Welches Wissen aber liefert sie? Welche Problematisierungen gegebener Verhältnisse bietet sie an? Wie problematisiert sie die implizit normativen Wahrnehmungsmuster und Bewertungsschemata, die auch im soziologischen Wissen ihren Niederschlag gefunden haben? Fragt sie „nach der verschließenden Konstitution des Feldes der Kategorien selbst“ (Butler 2009b, S. 223)? Gibt sie dem Denken des Möglichen einen Ort? Zunächst ist hier zu konstatieren, dass die eingangs skizzierten radikalen Umwälzungen des fordistischen „Teilhabekapitalismus“ nicht nur eine radikale Zäsur in der Geschichte kapitalistischer Gesellschaften darstellen, die Soziologie ist fundamental auch selbst sowohl mit den Grenzen ihrer Deutungskompetenz als auch ihres eigenen Selbstverständnisses konfrontiert. Intensiv diskutiert wird daher im Fach, ob „eine kritische Praxis der Soziologie möglich ist“ (Wehling 2014, S. 25). Und dies vor allem, weil sie als Teil der „organisierten Moderne“ (Wagner 1995) auf die kontingente Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit stößt, weil ihre Geschichte wie wissenschaftliche Praxis unmittelbar mit der Heraufkunft moderner Gesellschaften verknüpft ist – mit Foucault gesprochen schwimmt die Soziologie im 19. Jahrhundert wie ein Fisch im Wasser. Die Soziologie sei daher gehalten, ihre „Derivate bürgerlicher Grundbegriffe“ zu historisieren (Nassehi 2006, S. 391), ihre „Theoreme

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und Denkvoraussetzungen mit einem historischen Index“ zu versehen (Deutschmann 2013, S. 101). Die Reaktion auf diese Verunsicherung sowohl ihrer Deutungskompetenz wie ihrer Identität fällt dabei recht unterschiedlich aus. Neben einer „Rückkehr der Sozialkritik in die Soziologie“ (Lessenich 2014, S. 13) finden sich eben auch neoliberal grundierte Apologien. In ihrem Mainstream sei die Soziologie gar zu einer „Begleitwissenschaft eines Zeitalters mutiert, in welchem eine offensiv zur Schau getragene Marktfreundlichkeit in praktisch allen Lebensbereichen hegemonial wurde und eine politische Programmatik der Befähigung bzw. Erziehung der Menschen zur ‚Marktlichkeit‘ zunehmend fraglos und überzeugt als Ausweis von ‚Modernität‘“ gilt (Dörre et al. 2009, S. 10 f.). Dass die soziologischen Konzepte und Begriffe an den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen mitgewirkt und Gesellschaften mit nützlichen Bildern ihrer selbst ausgestattet haben, ist indes nicht neu und ließe sich an nahezu jedem ihrer Konzepte zeigen. So verband beispielsweise das regulationstheoretische Konzept des Fordismus spezifische Formen der Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung mit historisch konkreten vergeschlechtlichten Anerkennungs- und Entwertungsverhältnissen, bei denen, wie die feministische Geschlechterforschung deutlich gemacht hat, das Klassifikationssystem der Zweigeschlechtlichkeit eine wesentliche strukturierende Rolle spielt. Der fordistische Teilhabekapitalismus kalkulierte, wenn man so will, zentral mit jener „gekauften Zeit“, die durch die heteronormative Ordnung und die damit möglich gewordene Auslagerung von Abhängigkeiten an Andere (Frauen*) zur Verfügung stand. Wird nun genau diese heteronormative Ordnung in ihrer stabilisierenden Funktion brüchig (wenn beispielsweise Arbeitsteilungen und Zuständigkeiten nicht mehr durch einen ‚natürlichen‘ Geschlechtscharakter legitimierbar sind und Frauen* verstärkt als Konsument_innen und Erwerbstätige adressiert werden), dann muss diese Auslagerung über andere zuschreibende Mechanismen geschehen oder sie wird schlicht zu einer Frage des Geldes – wer es sich leisten kann, kauft „private“ Dienstleistungen. Der Blick auf die Geschlechterordnung macht daher auch deutlich, dass sich eine Kritik an Desintegration und zunehmender individueller Unsicherheit nicht im nostalgischen Rückbezug auf verlorene Stabilitäten und Sicherheiten begründen kann, die Konstellationen von Sozialität als nationalstaatlich gerahmtes, heteronormatives Arrangement implizieren. Vieles spricht dafür, gerade in der Unbestimmtheit aktueller gesellschaftlicher Prozesse eine „neue Qualität der sozialen Frage“ (Völker 2007, S. 177) zu sehen und daraus die Konsequenz zu ziehen, diese Unbestimmtheit in ihrer „Potenzialität zu Neuem“ (Völker 2007, S. 178) erfahrbar zu machen. Zugleich verweist der Fokus auf die strukturierte Krisenhaftigkeit dieser Prozesse darauf, dass die gegebenen Möglichkeiten der Verwirklichung dieser Potenzialität keinesfalls offen sind, sondern systematisch in höchst ungleichen und gewaltvollen Verhältnissen konfiguriert und limitiert sind. Insofern allerdings auch zutrifft, wie Pierre Bourdieu wiederholt betont hat, dass die Reproduktion von Herrschaft im Modus moderner Rationalität gerade auf ihr Wandlungspotenzial und auf ihr praktisches Ereignen angewiesen ist und damit Reproduktion und Wandel eng miteinander verknüpft sind, und wenn zugleich

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zutrifft, was insbesondere Judith Butler eindrücklich herausgearbeitet hat, dass die Angewiesenheit auf performative Akte, auf ihre zitierende Wiederholung zugleich der Ausweis für die interne Instabilität von Herrschaft ist, dann können sich in einer Zeit erheblicher sozialer Transformationen nichtidentische Hervorbringungen des Sozialen sowohl als Prozesse der Restabilisierung von Herrschaftszusammenhängen ereignen wie als Resignifikationen, die zumindest Chancen gegenhegemonialer Interventionen eröffnen. Kritisches gesellschaftstheoretisches Denken braucht daher eine reflexive analytische Perspektive, die sich versuchsweise umreißen lässt als bewegliches Austarieren zwischen drei Dimensionen (vgl. Hark und Völker 2010): • Die Analyse sozial(strukturell)er Dynamiken muss als ihren Ausgangspunkt nehmen, dass augenscheinlich gleiche Phänomene, auf andere Weisen konfiguriert, durchaus unvorhersehbare Effekte zeitigen können. Insofern geht es aus einer Perspektive kritischer feministischer Theorie um die systematische Frage nach dem ‚Neuen‘ im bereits Er/Verkannten; darum, Handeln aus den kontingenten Möglichkeiten der jeweiligen Situation heraus zu rekonstruieren – und eben nicht als Eigenschaft der Akteur_innen oder der Strukturen zu verdinglichen. Das Soziale kann nicht vorausgesetzt werden, sondern muss als immer schon prekäres, beständig in Umbildung befindliches Gefüge verstanden werden, das performativ entsteht, sich verfestigt, aber auch wieder diffundiert. • Bei der Beschreibung von Lebenslagen und der Rekonstruktion der Eigenlogiken, des Eigensinns, der Produktivität und Kreativität des Handelns der Akteur_innen gerade hinsichtlich der eigenen Deutungen dieser Praktiken in kritischer Perspektive gilt es, wieder und wieder zu fragen, „was durch den theoretischen Schritt (. . .) autorisiert und was ausgeschlossen oder verworfen wird“ (Butler 1993, S. 37, H. i. O.). Worum es also bei dem Insistieren auf einer kritischen Position gerade bei den Deutungen sozialer Transformationen geht, ist, jene Kluft offen zu halten, die zwischen dem ‚Autorisierten‘ und (An-)Erkannten und dem bislang nicht als Wirkliches Anerkannten und nicht als Mögliches Gedachten besteht – um damit ‚Anderes‘ wahrnehmbar zu machen. • Und schließlich ginge es darum, die Soziologie selbst als eine weltbildende Praxis zu entdecken, die sich – da in der „entwickelten Welt“ keine Gruppe existiert, „an der nicht mindestens ein sozialwissenschaftliches Instrument hängt“ (Latour 2007, S. 61) – mit ihren eigenen Instrumenten gegen sich selbst wendet, die gleichsam die eigene Dementierung mitliefert und die eigene Praxis als eine Praxis der Selbstthematisierung der Gesellschaft in der Gesellschaft rekonstruiert – eine Praxis zudem, in der auch diese Akteur_innen ganz praktisch gefangen sind in dem, um was geht.

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Fantasie oder: Wie alles anders sein könnte

Kommen wir vor diesem Hintergrund zu einem weiteren Punkt: Die dreifache Ontologisierung impliziert auch einen spezifischen Verlust von Sozialität und visionärer Fantasie. Es ist das Handeln selbst – als in Hannah Arendts Sinne genuin

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politischer, das heißt weltbildender Aktivität –, das aus der Welt verschwindet (Arendt 1981). Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie wäre es daher, strukturelle Bedingungen und Dynamiken dieses Verschwindens erkennbar und zugleich Räume der Möglichkeit denkbar zu machen, in denen sich eine solche politische Aktivität entfalten kann. Im Sinne einer feministischen Reartikulation des Zusammenhangs von Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik fragen wir daher zugleich nach Möglichkeiten, Sozialität so denk- und erfahrbar zu machen, dass sie sich nicht als abstrakte Allgemeinheit dem Zugriff kollektiven Handelns entzieht, sondern zum Raum und Gegenstand kollektiver Gestaltung werden kann. Für eine Analyse struktureller Bedingungen des Verlusts von Sozialität ist hier ein ganz spezifisches Moment der älteren Kritischen Theorie nach wie vor aktuell: die Frage nach den Mechanismen, die die Ohnmacht der Einzelnen gegenüber verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnissen immer wieder befestigen und auf diese Weise die Möglichkeiten kollektiver Gestaltung be- oder gar verhindern. Der Fokus der Kritischen Theorie liegt hier auf dem „Überhang von Anpassungszwängen“, auf dem Negativen, das die „Fantasie darüber [einfärbt], wie alles anders sein könnte“ (Becker-Schmidt 2001, S. 105). Kritische Theorie geht dabei von gesellschaftlicher Totalität im Sinne eines antinomisch konstruierten Relationsbegriffs aus und begreift Gesellschaft als historisch Gewordenes (vgl. hierzu u. a. die Beiträge von Demirović, Schmid Noerr, Schiller und Städtler im Handbuch); sie ist „Epiphänomen der lebendigen Arbeit der Menschen“ (Institut für Sozialforschung 1956, S. 28). Die Fragmentierung des Sozialen wird auf diese Weise auf spezifisch zentrifugale Dynamiken eines strukturierten Ganzen zurückgeführt. Zur Gesellschaftskritik werde die Soziologie folglich erst dann, wenn sie, über die Beschreibung der Einrichtungen und Sozialprozesse, die Gesellschaft ausmachen, hinaus, diese mit „dem Leben derer konfrontiert, über welche die Institutionen gesetzt sind und aus welchen sie so vielfach selber sich zusammenfügen“ (Institut für Sozialforschung 1956, S. 28). Für Adorno ist Erkenntniskritik insofern Gesellschaftskritik und Kritik an der Gesellschaft wiederum Erkenntniskritik (Adorno 1969, S. 158), denn der Hiatus zwischen „Erkennendem und Erkennbarem“, wie Regina Becker-Schmidt (1998, S. 97) anmerkt, ist für Adorno „nicht einfach“ ein epistemologisches Problem. Worauf kritische Theorie daher abzielt, ist, die „Antinomie zwischen Unrecht, das im Neuen überwintert, und Ansprüchen auf eine bessere Zukunft auszuhalten“ (Becker-Schmidt 2001, S. 104) und sich nicht in naivem Fortschrittsglauben zu wiegen. Allerdings konnten „Aussagen über die total integrierte Gesellschaft und deren Niederschlag in der psychischen Verfasstheit der Menschen (. . .) im Kontext der feministischen Bewegung und der gesellschaftlichen Problematik, auf die sie antwortet, nicht vollständig überzeugen“ (Knapp 1999, S. 87). Aus einer feministischen Perspektive interessiert daher vor allem, wo und wie gesellschafts- und erkenntniskritische Reflexivität entstehen kann. Welches Subjekt ist angesichts eines Überhangs an gesellschaftlicher Objektivität überhaupt in der Lage, diese gesellschaftlichen Verkehrungen zu erkennen? Eine feministische Reartikulation des Zusammenhangs von Gesellschafts- und Erkenntniskritik insistiert hier auf spezifische Risse „im Gewebe unseres epistemologischen Netzes“ (Butler 2001, S. 253),

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sie sucht nach Quellen der Fantasie in der Inkohärenz der (Identitäts)Kategorien; Frau* verweist darauf, dass die Einpassung in das abstrakte Allgemeine immer mit Inkohärenzen verbunden war, dass sie gar immer „Bereiche des Unaussprechlichen“ (Butler 2001, S. 253) hervorbringt.

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Gesellschaftliche Totalität: Die Historizität unverfügbarer Zusammenhänge

Für die (feministisch inspirierte) Frage, wie die Welt anders sein könnte, hat die ältere Kritische Theorie zunächst also vor allem im Hinblick darauf, wie die Welt ist und welche systematischen Schwierigkeiten und Verhinderungen emanzipatorischer Visionen mit diesem Zustand verbunden sind, einiges zu sagen. Insbesondere ihr Begriff der gesellschaftlichen Totalität (vgl. hierzu auch die Beiträge von Freytag und Ludwig in diesem Handbuch) kann hier wichtige Impulse geben, um eine reale Unverfügbarkeit gesellschaftlicher Dynamiken zu erfassen und sie zugleich in bestimmten historischen – also letztlich auf menschliche Praxis zurückzuführenden – Strukturzusammenhängen zu begründen. In diesem Sinne dient der Begriff der ‚Gesellschaft‘ als „gedankliche Konstruktion“ (Becker-Schmidt 2001, S. 105), um Zusammenhänge, die unsere Wirklichkeit in ganz spezifischer Weise strukturieren und zugleich unsere Wahrnehmung des Möglichen konfigurieren und begrenzen, erkenn- und damit erfahrbar zu machen. Gerade in einer historischen Situation, in der die Einzelnen in verschärftem Ausmaß als Zurechnungsinstanz ihrer eigenen Entscheidungen und Lebensverläufe angerufen sind und in der auf diese Weise systematisch Quellen der Solidarisierung versiegen, besteht ein bedeutsamer theoretischer Einsatz darin, diese Individualisierung nicht entweder in kritischer Absicht als falsches Bewusstsein zu entlarven beziehungsweise als psychische Deformation zu diagnostizieren oder sie affirmativ als Ausdruck der Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit zu bestätigen.1 Vielmehr eröffnet die Kritische Theorie den Blick auf die spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen dieser Vereinzelung: „[W]enn die Welt in viele kleine Einheiten zu zerfallen scheint, ein strukturiertes ‚Ganzes‘ sich nicht mehr zu erkennen gibt, dann darf Gesellschaftskritik sich mit epistemologischer Resignation nicht zufrieden Die Annahme, das zentrale Problem der Gesellschaft liege in „der Verwertung von Wissen, das niemandem in seiner Gesamtheit gegeben ist“ (Hayek 1952, S. 104), stellt einen wichtigen Topos neoliberaler Theorie dar. Sie verweist vor diesem Hintergrund darauf, dass der Markt eine hocheffiziente Form der Organisation arbeitsteiliger Privatproduzenten und Allokation knapper Güter sei, da er über das Preissystem relevante Informationen für die Produzent_innen und Konsument_innen bereitstelle. Andere denkbare Formen kollektiver Planung – die von Hayek bezeichnender Weise auf das Modell einer zentralen Planungsbehörde reduziert werden – erscheinen demgegenüber als kostenintensiv und unflexibel. Diese Annahmen beruhen allerdings auf einer impliziten Rationalität, die die Relevanz von Information auf aktuelle Knappheitsverhältnisse beschränkt und zugleich die ‚Betriebskosten‘ der Märkte – „die hohen Zahlen an Verkaufspersonal, Marktexperten, Werbefachleuten, Maklern etc., die für den Betrieb von Märkten erforderlich sind“ – übergeht (Elson 1990, S. 67). 1

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geben. Sie sollte nach zweierlei Fragen. Erstens: Wofür steht ‚gesellschaftliche Unübersichtlichkeit‘ (Habermas) und was bewirkt sie, wenn es sie denn gibt? Zweitens: Was verdeckt die Rede vom Zerfall der Wirklichkeit in nicht mehr verbindbare Einzelheiten?“ (Becker-Schmidt 2001, S. 109) Die ältere Kritische Theorie ging von der kapitalistischen Produktionsweise als einem Strukturzusammenhang aus, den sie insofern als Totalität verstand, als über den Bezug auf ihn systematische Zusammenhänge zwischen vermeintlich unabhängigen Phänomenen und Ereignissen benennbar werden. Erst eine solche ‚theoretische Visualisierung‘ von Zusammenhängen kann das systematisch erzeugte Elend, die sozialen Verwüstungen, die Enteignung von Lebensformen und LebensMitteln und die Irrationalität des Kapitalismus erkennbar werden lassen. So wird etwa die Tatsache, dass die rasante Wohlstandsentwicklung der kapitalistischen Ökonomie immer nur bestimmten Teilen der Welt beziehungsweise bestimmten Segmenten der Weltbevölkerung zugute kam und kommt und global gesehen in konstitutivem Zusammenhang steht mit dem relativen oder absoluten Elend der Mehrheit, in einem systematischen Zusammenhang begreifbar. Dieses analytische Beharren auf Zusammenhänge verweist auf die politische Notwendigkeit eines „Weltbegriffs“ (Knapp 2013), der gerade „heute in Zeiten der Globalisierung und Transnationalisierung, die in Verruf geratene universelle Dimension [des; die Verfasserinnen] Projekts von Emanzipation und Gerechtigkeit als auf neue Weise relevant gewordene und neu zu begründende auf die Tagesordnung rückt“ (Knapp 2013, S. 106). Insbesondere in Zeiten, die sowohl in den akademischen Debatten als auch in der alltäglichen Wahrnehmung als krisenhaft und von großer Unsicherheit bestimmt erlebt werden, sind diese ‚Visualisierungen‘ der Zusammenhänge notwendig, um gefährlichen Illusionen über partielle Einhegbarkeit entgegenzutreten: „the incapacity to envision the economy can play into the hands of a reactionary nationalism that thrives precisely on the condition of blindness to the objective determinates of contemporary social life“ (Buck-Morss 1995, S. 466). Die ältere Kritische Theorie hatte zudem einen Blick für den Preis, den die wohlhabende Minderheit zu zahlen hat: „Im gegenwärtigen Zeitalter ist der Sieg über den Mangel noch immer auf kleine Bereiche der fortgeschrittenen Industriegesellschaft beschränkt. Ihr Wohlstand verdeckt das Inferno innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen; er verbreitet auch eine repressive Produktivität und ‚falsche Bedürfnisse‘. Er ist genau in dem Maße repressiv, wie er die Befriedigung von Bedürfnissen fördert, die es nötig machen, die Hetzjagd fortzusetzen, um mit seinesgleichen und dem eingeplanten vorzeitigen Verschleiß Schritt zu halten, wie er es fördert, die Befreiung davon, sein Hirn zu benutzen, auch noch zu genießen und mit den Destruktionsmitteln und für sie zu arbeiten“ (Marcuse 1988 [1967], S. 252). Diese spezifische Subjektivierung ist wiederum mit der Problematik verbunden, dass die systematische (strukturell bedingte) Irrationalität des Kapitalismus für die Individuen nicht nur nicht unmittelbar auf der Hand liegt bzw. unmittelbar als solche erfahrbar ist, sondern sich sogar systematisch der unmittelbaren Erfahrung entzieht. Individualität und Autonomie sind gerade nicht das kritische Gegenstück zu den Verhältnissen, sondern vielmehr idiosynkratischer Ausdruck unverfügbarer Verhältnisse, die sich vermittels der Illusion von Individualität reproduzieren: „Je mehr die

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Menschen von dem Gesamtsystem abhängig sind, je weniger sie darüber vermögen, desto mehr wird ihnen absichtlich und unabsichtlich eingebläut, es käme nur auf sie an“ (Adorno 1977, S. 722). Das Gesamtsystem, das diese fragmentierende Vereinzelung überhaupt erst (immer wieder) hervorbringt, sichtbar gemacht zu haben, ist eine der herausragenden Leistungen der Kritischen Theorie. Die strukturell bedingte Unfähigkeit der Einzelnen in ihrer alltäglichen (nicht durch spezifische gesellschaftstheoretische Visualisierungen vermittelten) Erfahrung diese Zusammenhänge zu erkennen, wird damit als politisches Problem begreifbar. Die Einzelnen verfangen sich in verselbstständigten Dynamiken, zu denen sie sich als souveräne und selbstverantwortliche Subjekte verhalten sollen und wollen, die sich aber systematisch diesem individualisierten Zugriff entziehen. Die analytische Stärke der Kritischen Theorie entfaltet sich entsprechend im Hinblick auf die Kritik an der systematischen Überhöhung und Überforderung der Einzelnen, die zugleich die Warnung beinhaltet, auf diese Einzelnen auch keine naive emanzipatorische Hoffnung zu setzen. Gesellschaftstheorie, die die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung erkennbar macht, bringt somit ein für unsere historische Gegenwart politisch notwendiges Wissen hervor; „[a] knowledge [that] is vital for effective political response“ (Buck-Morss 1995, S. 466) Mit diesem Blick auf das Ganze vermeidet die Kritische Theorie einerseits „ein hofferisches das-Gras-wachsen-Hören [. . .]“ (Creydt 2003, S. 35); in ihrer negativdialektischen Anlage tut sie dies allerdings andererseits „um den Preis einer Kritik, die ihre Negation des Systems einzig mit dem Befund auszuweisen vermag, nichts entgehe dem System“ (Creydt 2003, S. 35). Im Weiteren diskutieren wir, von zwei Einwänden ausgehend, inwiefern feministische Reartikulationen an diesen Punkten weiterhelfen könnten: • Wer ist das Subjekt der kritischen Wissensproduktion und wie kann es zu seiner theoretischen Hellsichtigkeit kommen? Wenn ‚die Menschen‘ der Illusion der Individualisierung verfallen, wie entkommen dann die Kritiker_innen? Von welcher Position aus können sie sich dieser Indoktrination entziehen? Wird „Widerstand“ also, fragt Butler (2012) in ihrer Adorno-Rede, „zum einen als Form der Kritik einiger weniger Auserwählter und Widerstand zum anderen als Widerstand gegen einen Teil des Selbst, der sich dem Falschen anschließen will, eine innere Prüfung der Komplizenschaft?“. • Die Welt geht in der Totalität nicht auf – auch nicht, wenn letztere als Vermittlungszusammenhang begriffen wird. Wenn es daher, wie wir weiter oben argumentiert haben, notwendig ist, das Soziale nicht vorauszusetzen, sondern als immer schon prekäres, beständig in Umbildung befindliches Gefüge zu verstehen, erfordert dies eine Reformulierung der Konzeption von Totalität, um Unvorhergesehenes, Ereignishaftes nicht kategorial unsichtbar zu machen (vgl. Meißner 2010, 2011). Worauf es ankommt, ist, „in Begriffen der Totalität zu denken und zugleich das totalisierende Denken dadurch zu destabilisieren, dass nichttotalisierende Kategorien ins Spiel gebracht werden“ (Chakrabarty 2010, S. 21). Zwar ermöglicht eine „sich auf die gesellschaftlichen Formen und Strukturen

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konzentrierende Theorie“ es, „die optimale Stärke herrschender Formen in der Absorption von Widerständen zu denken“. Allerdings mißrät „dieser Theorietypus funktionalistisch, wenn er a priori die Formen absolut setzt. Ausgeblendet würde so die durch besondere historische Konstellationen mögliche Verstörung der Formen bzw. das Aus-den-Fugen-Geraten des sonst – bei allen Friktionen und Dysfunktionalitäten im einzelnen – funktionierenden Zusammenspiels der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären“ (Creydt 2003, S. 35).

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Das Mögliche im Wirklichen er/finden – feministische Reartikulationen

Feministische Kritik verfügt angesichts ihrer historischen Situiertheit über gewisse Resistenzen sowohl gegenüber unproblematisierten Bezugnahmen auf (kritikfähige) Subjekte als auch gegenüber Annahmen einer hermetischen gesellschaftlichen Gesamtheit: Frauen* konnten seit Beginn der Moderne höchstens einen prekären und bedingten Status als rationales Subjekt einnehmen und dieser partielle (und immer über andere Ver-Anderungen vermittelte) Ausschluss aus der generischen Menschlichkeit bürgerlicher Subjektivität erhält seine spezifische Funktionalität in einer ‚falschen Verknüpfung‘ (Becker-Schmidt 2001) der historischen Zerrissenheit des sozialen Gefüges. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich feministische Kritik an diesen Verhältnissen, wie Teresa de Lauretis argumentiert (1996, S. 87), durch „die fortwährende Anstrengung [aus; die Verf.], neue Diskursräume zu schaffen, die kulturellen Erzählungen neu zu schreiben und die Begrifflichkeiten einer neuen Perspektive zu definieren – eines Blicks von anderswo“. Diesen Anstrengungen kommt zugute, dass feministische Kritik diesen Blick von anderswo kaum unhinterfragt im Privileg eines Blicks von nirgendwo verankern konnte. (Vgl. u. a. Hooks 1984; Rich 1989; Collins 1990) Wenn wir heute an feministische Auseinandersetzungen mit der Kritischen Theorie anschließen, um zu fragen, wo, über den Kapitalismus hinaus, im Wirklichen das Mögliche einer anderen Gesellschaft auszumachen und diskursiv zu stärken wäre, tun wir dies in einer historischen Situation, in der mit dem Ende der Systemkonkurrenz ein vermeintlich real existierender imaginäre Horizont einer anderen Gesellschaft verloren gegangen ist (vgl. hierzu auch Dölling 2013). Wir tun dies aber auch im Kontext von feministischen Diskurstraditionen, die sich durch eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit „zur Befragung der eigenen politischen und epistemischen Grundlagen“ (Knapp 2013, S. 106) auszeichnen. Das Bewusstsein dafür, dass die Möglichkeiten der Kritik immer durch die zu kritisierenden Verhältnisse hervorgebracht werden und Dissidenz Partizipation zur Voraussetzung hat (Hark 2005), ist mit der spezifischen Grenzgänger_innenschaft feministischer Theorie verwoben, mit dem paradoxen Bewusstsein, dass die Frau* ein exzentrisches Subjekt (de Lauretis 1990) ist; ein Subjekt, dessen Status im Prozess beständiger Objektivierung (als definierendes Anderes des Mannes) begründet ist und das sich somit immer einer positiven Bestimmbarkeit entzieht: „[F]eminism – a social movement of and for women discovered the nonbeing of woman: the paradox of a being that is at once

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captive and absent in discourse, constantly spoken of but of itself inaudible or inexpressable, displayed as spectacle and still unrepresented or unrepresentable“ (de Lauretis 1990, S. 115). Dieses Grenzgänger_innentum macht aufmerksam für das, was nicht gedacht werden kann, für das, was in der Einheit von Dualismen – etwa der heteronormativen Dichotomie von Mann und Frau – nicht aufgeht, was aber zugleich nicht unmittelbar als substanzielles Anderes präsent ist. Die stetige Problematisierung der Fundierungen von Kategorien speiste sich dabei im Wesentlichen aus zwei Quellen: Wurde etwa aus postkolonialen und queeren Perspektiven kritisiert, dass die Konzentration auf „Geschlecht“ es erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht, die Komplexität und Modi von sui generis verschiedenen Machtverhältnissen (etwa „Rasse“, Klasse, Sexualität, Nation) zu denken, so konzentrierte sich eine zweite Linie der Kritik auf den ontologischen und epistemischen Status von „Geschlecht“ selbst. So argumentiert Butler in Gender Trouble (1990), dass Frau* nicht auf substanzielle Eigenschaften von Individuen verweist, sondern als regulatorische Fantasie zu begreifen ist, durch deren Gebrauch unweigerlich normative Beziehungen zwischen sex, gender und Begehren reproduziert werden. In einer historischen Situation also, in der sich (feministische) Fragen nach der Möglichkeit einer anderen Gesellschaft in mehrerer Hinsicht nicht auf ein konkretes Anderes (sei es ein anderes Gesellschaftssystem oder Weiblichkeit) als Bezugspunkt visionärer emanzipatorischer Imagination beziehen können, spitzt sich der Zusammenhang zwischen Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik zu. Denn Visionen einer gerechteren und weniger gewaltvollen Gesellschaft sind nur mittels und durch die Erkenntnisbegriffe unserer Zeit zu entwerfen – und müssen zugleich über diese hinaus weisen. Die ethische Aufgabe, angesichts unhaltbarer gesellschaftlicher Verhältnisse nach Möglichkeiten gerechterer und weniger gewaltvoller Bedingungen zu fragen, wird so, mit Butler gesprochen, zur Bewegung eines „Aufstand[s] auf der Ebene der Ontologie“ (Butler 2005, S. 50), einer Bewegung, die Gerechtigkeit nicht als Aufnahme bisher Ausgeschlossener oder Marginalisierter in eine etablierte Ordnung begreift, sondern die Ordnung selbst fundamental zur Disposition stellt. Wenn wir aber die soziale Ordnung zur Disposition stellen, so stellen wir zugleich zur Disposition, wer wir als Subjekte sind. Butler wirft also in radikaler Weise die Frage auf, was eine lebenswerte Welt ausmacht, und lässt so Verhandlungen darüber, ob und in welcher Weise wir uns auf ein Allgemeinwohl beziehen wollen, als grundlegende Aufgabe unserer Gegenwart erscheinen. In einer Zeit, in der die Bestimmung des Allgemeinwohls im Sinne unverfügbarer Marktdynamiken gesetzt scheint, in der somit „ein offener und produktiver Diskurs darüber, wie wir leben wollen, nicht nur faktisch nicht stattfindet, sondern weithin überhaupt als überflüssige, weil nutz- wie sinnlose ‚Dauerreflexivität‘ (Schelski) diskreditiert wird“ (Ricken 2006. S. 13), kommt dies in der Tat einem solchen ‚Aufstand auf der Ebene der Ontologie‘ gleich. Zugleich mahnt Butler an, dass jede Antwort darauf, was ein gutes Leben ist, nicht einfach eine individuelle Auffassung darstellt, sondern immer eine Aussage darüber impliziert, was das Menschliche ist und dadurch zugleich das ausschließt, was nicht menschlich ist. Verhandlungen über eine wünschenswerte Verfasstheit von Sozialität können

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also nur geführt werden, wenn zugleich die Annahmen über die je spezifischen Verfahren zur Disposition stehen, in der die Individuen zu Subjekten werden (Foucault). Oder anders: In Konzeptionen von Gesellschaft oder Sozialität und damit in der Frage, wie ein angemessenes Allgemeinwohl zu bestimmen ist, sind implizit immer Annahmen darüber eingelassen, wie die einzelnen Individuen und deren Handlungsfähigkeit aussehen: „Wie aber können wir über das lebenswerte Leben nachdenken ohne ein singuläres oder einförmiges Ideal dieses Lebens zu zeichnen? Meines Erachtens geht es nicht darum herauszufinden, was das Menschliche wirklich ist oder sein sollte. Vielmehr müssen wir lernen, auf die komplexe Menge von Beziehungen, ohne die keiner von uns existieren könnte, aufmerksam zu werden und diese zu verstehen“ (Butler 2012, Ms. S. 5) Butler plädiert damit gewissermaßen für eine Wiederaneignung des Sozialen als Gestaltungsraum politischen Handelns, stellt dabei aber zugleich die Grundlagen des Begriffs (politischer) Handlungsfähigkeit zur Disposition. Statt ein vorgängiges souveränes Subjekt als Voraussetzung für solche Handlungsfähigkeit anzunehmen, argumentiert sie, dass wir zu Handelnden gerade erst dort werden, wo (autark gedachte) Souveränität schwindet, wo wir an/erkennen, dass wir „von Anfang an soziale Wesen und von dem abhängig sind, was außerhalb unserer selbst liegt, von anderen, von Institutionen und von abgesicherten und sichernden Umwelten“ (Butler 2010, S. 29). Butler weist hier auf die Prekarität hin, die jeder Subjektwerdung innewohnt. Es ist die Prekarität, die aus der intimen Verbindung zwischen Subjektivität und Subjektion resultiert: Wir werden durch sprachliche Adressierung ins Leben geholt, es ist die Bedingung der Möglichkeit von agency. Angesprochen zu werden bedeutet aber auch, dass wir immer schon in der Hand der anderen, dass wir verletzbar sind. Verletzbarkeit, so Butler, ist nachgerade eine der ursprünglichen Formen, die soziale Beziehungen annehmen. „Gefährdung“ sei „nicht einfach als Merkmal dieses oder jenes Lebens zu begreifen; sie ist vielmehr eine allgemeine Bedingung, deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird“ (Butler 2010, S. 29). Mit der Prämisse einer solchen fundamentalen gegenseitigen Angewiesenheit bietet Butler eine dezidierte Gegenerzählung zu den herrschenden Ontologisierungen von Individuum und Allgemeinwohl an. Sie formuliert eine soziale Ontologie, die Verletzbarkeit, begründet in unserer prinzipiellen Ausgesetztheit an Andere, als conditio humana bestimmt, Prekärsein als ein generelles Charakteristikum des Lebens begreift. Sie nimmt damit einen ganz entscheidenden Perspektivwechsel vor, der nicht das begehrende Individuum zum Ausgangspunkt nimmt, um dann danach zu fragen, wie dessen Bedürfnisse möglichst angemessen und gerecht erfüllt werden können. Statt von einer solchen dualistischen Konzeption auszugehen, die uns als Individuen mit ganz bestimmten Dispositionen, mit ganz bestimmten schützenswerten oder schutzbedürftigen Eigenschaften den gesellschaftlichen Institutionen voraussetzt, erscheint unsere je besondere Gefährdung und Schutzbedürftigkeit immer erst in sozial-materialen Apparaten in spezifischer Weise und in unmittelbarer Relation zu der Gefährdung und Schutzbedürftigkeit anderer hervorgebracht.

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Wenn politisches Handeln in diesem Sinne nicht primär als Umsetzung identitär bestimmter Ziele, als Geltendmachen individuell begründeter Bedürfnisse, sondern als beständiges Erschaffen von Sozialität begriffen wird, einer Sozialität, die wir brauchen, um unser Prekärsein unter Bedingungen zu gestalten, die uns nicht als vereinzelte Individuen in Konkurrenzverhältnisse zueinander setzen und uns normalisierenden Identitätszwängen unterwerfen, dann eröffnen sich eventuell auch neue Berührungspunkte für Bündnisse da, wo bislang vor allem gegensätzliche Besonderheiten im Vordergrund stehen. Soziale Bewegungen, die für ein lebbares Leben, für die Absicherung des Prekärseins kämpfen – und vor diesem Hintergrund auch die Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise zur Disposition stellen –, müssen nach Butler insofern immer das performativ zum Ausdruck bringen, was sie verwirklichen wollen. Dabei geht es, wie sie schreibt, „diesen Bewegungen (. . .) im Kampf gegen die Prekarität nicht um die Überwindung der Interdependenz; es geht ihnen vielmehr um Bedingungen, unter denen die Interdependenz und Verletzlichkeit lebbar werden. Das ist Politik, in der die performative Aktion körperlich und pluralistisch wird und sich kritisch den Bedingungen körperlichen Überlebens und Gedeihens unter den Vorgaben radikaler Demokratie zuwendet. Soll ich ein gutes Leben führen, dann wird es ein Leben gemeinsam mit anderen sein, ein Leben, das ohne diese anderen gar kein Leben wäre. Ich verliere dabei nicht dieses Ich, das ich bin; wer immer ich bin, verwandelt sich im Bezug zu den anderen, da ich, um zu leben und gut zu leben, notwendig von anderen abhängig und auf andere angewiesen bin. Unsere gemeinsame Gefährdung durch Prekarität ist nur ein Grund unserer potenziellen Gleichheit und unserer wechselseitigen Verpflichtung zur gemeinsamen Schaffung der Bedingungen für ein lebbares Leben. Indem wir uns eingestehen, dass wir einander brauchen, bekennen wir uns zugleich zu grundlegenden Prinzipien der sozialen und demokratischen Bedingungen dessen, was wir als ‚das gute Leben‘ bezeichnen könnten.“ (Butler 2012) Die für unsere Zeit wertvolle Einsicht der Kritischen Theorie, dass es Begriffe und Theorien bedarf, die größere gesellschaftliche Zusammenhänge erkennbar machen, lässt sich im Anschluss an Butler dahingehend erweitern, dass zu den Aufgaben kritischer Gesellschaftstheorie zugleich auch das Erfahrbarmachen von Unerwartetem und Ausgeschlossenem gehört, von dem, was (noch) nicht wirklich ist. Auf diese Weise lässt sich das Argument der kritischen Theorie, dass kritische, widerständige, revolutionäre Subjekte nicht nur nicht einfach ‚da‘ sind, sondern in ihrer Konstituierung sogar strukturell be- oder verhindert werden, mit der Hoffnung verbinden, dass ‚wir‘ diese Subjekte aber erfinden können, indem wir auf verschiedenen Ebenen kollektive Bedingungen dafür schaffen, dass solche Seinsweisen möglich und lebbar werden. Das setzt aber wiederum auch voraus, bereits im Bestehenden Momente zu suchen und zu finden, aus denen Impulse für eine solche Erfindungsarbeit hervorgehen können. In dieser Hinsicht läge die Aufgabe einer kritischen Theorie nicht nur darin, Wissen über bestimmte Zusammenhänge hervorzubringen, sondern zugleich auch darin, an Ansätzen zu arbeiten, wie wir uns von unseren Gewissheiten lösen können, wie wir lernen können, sie zu verlernen, um dadurch Räume der Fantasie für andere Möglichkeiten zu eröffnen.

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Foucault kommt hinsichtlich der subjektivierenden Einbindung der Individuen in die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in vielen Hinsichten zu ähnlichen Ergebnissen wie die ältere Kritische Theorie, nämlich dass wir uns in einer „Art von politischem ‚double-bind‘“ befinden, „der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen besteht“ (Foucault 2005b, S. 250). Er nahm dies aber zum Anlass nach den subjektiven Möglichkeiten zu fragen, die es uns erlauben könnten, uns daraus zu befreien – und zwar nicht als individuelle Flucht sondern im Sinne kollektiver Erfindungsarbeit: „Wir müssen neue Formen der Subjektivierung zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.“ (Foucault 2005b, S. 250). In diesem Moment des Zurückweisens – „weniger [. . .] zu entdecken, als vielmehr abzuweisen, was wir sind“ (Foucault 2005b, S. 250) – findet sich ein Echo auf die in der Kritischen Theorie angelegten Betonung der Negativität von Kritik. In seiner genealogischen Perspektive auf die Verfahren, „durch die in unserer Gesellschaft Menschen zu Subjekten gemacht werden“ (Foucault 2005b, S. 243), legt Foucault aber zugleich die Instabilität der unterwerfenden Subjektivierungsweise dar und kann darin Möglichkeiten von Kritik und Widerständigkeit begründen. Feministische kritische Theorie buchstabiert diese Möglichkeiten aus, indem sie – systematischer als Foucault – einbezieht, dass die Konstituierung des souveränen Subjekts nur in Abgrenzung zu und in Abhängigkeit von rassifizierten und vergeschlechtlichten Anderen begriffen werden kann (vgl. u. a. Dietze 2013; Stoler 2002). Nur indem das Subjekt seine fundamentalen Abhängigkeiten und Sorgebedürfnisse an Andere auslagert, kann es seine Souveränität hervorbringen, zugleich werden aber auch Abhängigkeiten und Sorgebedürfnisse in spezifischer Weise konfiguriert, als individuelle Besonderheiten, Abweichungen oder Defizite, die als persönliche Risiken immer vor allem als Frage der individuellen Verantwortung erscheinen. Wie die feministische Theoriebildung hinreichend zeigen konnte, besteht in der kapitalistischen Moderne ein zentrales Moment dieser Konstituierung in einer spezifischen polarisierenden Zerrissenheit, die das unabhängige (‚sorgefreie‘) ‚männliche‘ Subjekt in der Sphäre der Erwerbsarbeit hervorbringt, indem die Aufgaben der Abhängigkeit und Sorge in die Sphäre des Haushalts ausgelagert und in den Zuständigkeitsbereich der Frau* verwiesen wurden (vgl. u. a. Hausen 1976, 2013; Bock und Duden 1977; Beer 1991; Aulenbacher 2005). Diese Trennung von ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ Sphäre blieb in der historischen Wirklichkeit allerdings weitestgehend ein bürgerliches Ideal; die Lebensrealität von Frauen* bedeutete schon immer zumeist eine Verbindung von Erwerbsarbeit und Hausarbeit. Dass die Vereinbarungsleistungen zwischen den sehr verschiedenen und teilweise konträren Anforderungen in beiden Bereichen den Individuen (den Frauen*) überantwortet werden, bezeichnet Regina Becker-Schmidt als „‚falsche Verknüpfung‘“, da ihnen damit individuell die Vereinbarung unvereinbarer Anforderungen aufgebürdet werde, sie müssen dafür Sorge tragen, „dass das Familienleben nicht unter ihrer Erwerbstätigkeit leidet und dass umgekehrt die Energien, die im Beruf eingefordert werden, nicht durch Familienverpflichtungen aufgezehrt werden“ (Becker-Schmidt 2001, S. 116).

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Im Motiv der individuell zugewiesenen Vereinbarung des in vieler Hinsicht Unvereinbaren liegt nun nicht nur die Möglichkeit danach zu fragen, wie die Individuen in diesen Leistungen besser unterstützt werden können. Vielmehr birgt diese Analyse zugleich die Ahnung, dass es sich eben nicht um zwei gegebene Lebensbereiche handelt, deren Vermittlung als soziale Aufgabe zur Debatte steht; es scheint vielmehr auf, dass die „identitätslogisch konstruierte Dualisierung“ (Becker-Schmidt 2001, S. 115) nicht nur die konstitutive Interdependenz dieser beiden Sphären verschleiert, sondern dass im Dispositiv der polarisierenden Dualisierung diese Sphären mit ihren spezifischen Anforderungen, Zeitstrukturen und Praktiken überhaupt erst hervorgebracht werden. Dies wiederum eröffnet Möglichkeiten politischer Gestaltung jenseits der Vereinbarkeitsproblematik zu suchen und jenseits von heteronormativ grundierten worklife-balance-Motiven grundsätzliche Debatten darüber zu führen, wie und unter welchen Bedingungen wir unsere Abhängigkeiten und Sorgebedürfnisse regulieren wollen, wie wir zusammen leben und unser Leben reproduzieren wollen, kurz: wie wir uns regieren wollen. Fazit Die Einsicht, dass Subjekte im Hinblick auf ihre Arbeitskraft, ihre Körperlichkeit, ihr Begehren und ihre Sorgebedürfnisse im modernen Dispositiv von Erwerbs- und Hausarbeit in einer ganz spezifischen Weise intelligibel werden, eröffnet die Frage nach dem, was an Möglichkeiten verloren geht, verloren gegangen ist. So entsteht Aufmerksamkeit für die Frage „how the unintelligible gets lived out, and how what is not lived out, what is unliveable, also leaves its mark or assumes figural or symptomatic form as spectre, monstrosity or a mode of unintelligibility. If one lives according to a rationality, what forms of ‚life‘ come to haunt that mode of rationality as its outside, and how do those unliveable modes vacilliate topographically between what is ‚inside‘ and what is ‚outside‘ the orbit of the subject? It seems to me that we can’t actually understand the whole process of subject formation without such a set of perspectives“ (Butler in Bell 2010, S. 133). Feminismus bringt das konstitutive Außen als wirkmächtige Kraft ins Spiel, ohne dabei behaupten zu müssen, dass dieses Außen eine unabhängige Substanz sei, etwas, das dem dominanten und definierenden Innen unmittelbar kritisch entgegengesetzt werden könnte. Als soziale Bewegung „of and for women“, die sich zugleich des „nonbeing of woman“ gewahr ist, ist der Feminismus damit konfrontiert, dass ein unproblematisierter Bezug auf ein Subjekt oder auf das Kollektivpronomen ‚wir‘ nicht möglich ist, sondern immer einer Spezifizierung im Hinblick auf den Kontext bedarf und allein schon dadurch immer instabil und iterativ sein muss. In gewisser Weise kann eine feministische Perspektive die „Sprengkraft“ (Knapp 1999, S. 86) des negativ-dialektischen Denkens der Kritischen Theorie gerade dadurch besonders effektiv einsetzen, dass sie sie gewissermaßen über sich hinaustreibt, indem sie die Perspektive einer abschließenden Aufhebung der dialektischen Widersprüche zurückweist.

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Teil IV Gesellschaft und Staat

„Der Staat in der frühen Kritischen Theorie bezeichnet so etwas wie eine Leerstelle.“ Joachim Hirsch im Interview mit Ullrich Bauer und Uwe H. Bittlingmayer Joachim Hirsch, Ullrich Bauer und Uwe H. Bittlingmayer

Zusammenfassung

Joachim Hirsch gilt als einer der wichtigsten Exponenten einer Frankfurter Kritik der politischen Ökonomie, obwohl er sich selbst nicht zum engeren Kreis der Frankfurter Schule zählt. Das besondere Verdienst von Joachim Hirsch ist die frühe Rezeption der Regulationstheorie und die Integration post-strukturalistischer Theorieansätze in die Kritik der politischen Ökonomie. Zu seinen bekanntesten und breit rezipierten Veröffentlichungen zählen „Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System“ (Hirsch J. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System. Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1970), „Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals“ (Hirsch J. Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals. Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1974), „Das neue Gesicht des Kapitalismus“ (Hirsch J, Roth R. Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus. VSA, Hamburg, 1986), „Der nationale Wettbewerbsstaat“ (Hirsch J. Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus. Edition ID-Archiv, Berlin/Amsterdam, 1998), „Die Zukunft des Staates“ (Hirsch J, Jessop B, Poulantzas N. Die Zukunft des Staates. Denationalisierung, Internationalisierung, Renationalisierung. VSA, Hamburg, 2001) und „Materialistische Staatstheorie“ (Hirsch J. Materialistische Staatstheorie. VSA, Hamburg, 2005). Hirsch gehört neben Alex Demirovic und Bob Jessop J. Hirsch (*) Institut für Politikwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] U. Bauer (*) Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] U. H. Bittlingmayer (*) Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_39

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zu den wichtigsten deutschsprachigen staatskritischen Autor_innen, die ihn in die Nähe zu anarchistischen Positionen rücken (vgl. Hirsch J, Kellermann P. Vereinfachte Emanzipationskonzepte der Vergangenheit hinter sich lassen. In: van Kellermann P (Hrsg.) Anarchismus. Marxismus. Emanzipation. Gespräche über die Geschichte und die Gegenwart der sozialistischen Bewegung. Die Buchmacherei, Berlin, S. 105–128, 2012). Das folgende Interview zielt darauf ab, die Rolle und Bedeutung der Kritik der politischen Ökonomie für die frühe und aktuelle Frankfurter Schule aus der Sicht der „inneren Frankfurter Peripherie“ zu klären. Die Positionen in der Sekundärliteratur schwanken hierzu zwischen der mehrheitlichen Position des „ausgesparten Zentrums“ (Johannes R. Das ausgesparte Zentrum. Adornos Verhältnis zur Ökonomie. In: van Schweppenhäuser G (Hrsg.) Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos. zu Klampen, Lüneburg, S. 41–67, 1995) und der jüngeren Arbeiten vor allem von Dirk Braunstein, die sich darum bemühen, Adorno als (negativ dialektischer) Kritiker der politischen Ökonomie auszuweisen (Hafner K. „Daß der Bann sich löse“. Annäherungen an Adornos Marx-Rezeption. In: van Behrens D (Hrsg.) Materialistische Theorie und Praxis. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Kritik der politischen Ökonomie. ça-ira Verlag, Freiburg, S. 129–155, 2005; Braunstein D. Adornos Kritik der politischen Ökonomie. transcript, Bielefeld, 2011). Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Materialistische Staatstheorie · Politische Ökonomie · Staatskritik · Emanzipation

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Der Staat in der frühen Frankfurter Schule

UHB: Herr Hirsch, unser Eindruck ist, dass Adorno und auch Marcuse Emanzipation immer auch unter Rückgriff auf positives staatliches Handeln gedacht haben. Deswegen wollen wir als Einstieg fragen, welches Staatsverständnis in der frühen Kritischen Theorie aus Ihrer Sicht seinerzeit vorherrschte. JH: In der Frühen Kritischen Theorie ist das Staatsverständnis tatsächlich ein Problem, da hier eigentlich keine ausgearbeitete Staatstheorie entwickelt wurde. Es gibt die relativ dominante Position von Pollock innerhalb des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die von Horkheimer übernommen wurde: Der autoritäre Staat. Kern dieser Annahme war eine Verschmelzung von Staat und Kapital und die Möglichkeit einer krisenvermeidenden staatlichen Steuerung des Wirtschaftsprozesses. Diese Konzeption, an der in der Nachkriegszeit zunächst noch festgehalten wurde, stand sicher im Widerspruch zu den faktischen Verhaltensweisen vor allem Horkheimers, aber später auch Adornos nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, weil ja für beide eine Kooperation mit dem Staat eine wichtige Voraussetzung für den Wiederaufbau des Instituts und die Rückkehr an die Frankfurter Universität war. Das Nachkriegsdeutschland war ein liberal-demokratischer und weniger ein autoritärer Staat im Pollockschen Sinne – es ging Horkheimer und Adorno vor allem darum,

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Bildung und Aufklärung in Deutschland voranzutreiben und da war der Staat ein Akteur, mit dem man zusammenarbeiten musste. Das steht im Widerspruch zu dem, was als Staatstheorie in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule vorhanden war, also die Betonung der Verschmelzung von Politik, Ökonomie und autoritärem Staat: Das geht eigentlich nicht zusammen. Aus meiner Sicht ist das nur verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass die Kritik der politischen Ökonomie in der frühen Kritischen Theorie eine relative geringe Rolle spielte. Es gibt zwar das sich durchhaltende Thema der Warengeldgesellschaft und der warenförmigen Form der Vergesellschaftung, aber eine politische Ökonomie im Marxschen Sinne, eine Kapitalismustheorie, das gab es in dieser Weise nicht. Eine Ausnahme bildet allerdings der späte Adorno mit seinem Soziologentags-Beitrag „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“. Damit hängt nach meiner Einschätzung das Fehlen einer konsistenten Staatstheorie unmittelbar zusammen. Interessant ist, dass die Arbeiten eines anderen, heute deutlich weniger prominent gehandelten Teils der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, repräsentiert z. B. durch Neumann und Kirchheimer, bei Horkheimer oder Adorno auf keine Resonanz stießen. Vor allem bei Neumann und Kirchheimer liegt eine Staatstheorie vor, die differenzierter und auch stärker politik- und ökonomietheoretisch untermauert ist. Beide waren damals der Ansicht, dass das Pollocksche Modell, der autoritäre Staat als Monolith verstanden, nicht realitätsgerecht sein konnte. Selbst in einem totalitären Regime werden bestimmte Merkmale eines nicht-monolithischen Staates weitertransportiert, d. h. die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus reproduzieren sich weiter auch auf dem politischen Feld. Alle diese differenzierteren Analysen wurden von Pollock, Horkheimer, Adorno und auch Marcuse im Kontext ihrer eigenen theoretischen Anstrengungen nicht aufgegriffen. Das ist zumindest mein Eindruck. Von daher muss man sagen, dass der Staat in der Frühen Kritischen Theorie so etwas wie eine Leerstelle bezeichnet. UB: Könnte man nicht auch aus der heutigen Perspektive sagen, dass die Positionen zwischen Pollock, Horkheimer & Co. einerseits und Neumann, Kirchheimer & Co. andererseits gar nicht besonders diametral sind, sondern dass es sich eher um Nuancen in der Einschätzung in der relationalen Autonomie staatlichen Handelns handelt? JH: Wenn man alles aus der Distanz betrachtet, dann sieht man, dass beide Ansätze, der Pollocksche und der materialistisch-ökonomische, wichtige Momente der aktuellen Entwicklung aufgenommen hatten. Interessant bleibt allerdings, dass die beide nicht miteinander vermittelt wurden. UHB: Gibt es aktuelle Positionen, die sich auf beide Stränge beziehen? Der Eindruck bleibt bis heute, dass es kaum zu Vermittlungen innerhalb der Frankfurter Schule selbst zwischen den unterschiedlichen Positionen der jeweiligen Protagonisten gekommen ist. In Ihren eigenen Schriften finden sich auch diese beiden Stränge nicht gleichermaßen abgebildet, sondern die werden noch einmal anders verankert. JH: Das ist korrekt. Ich selbst verorte mich eher im Umkreis der Frankfurter Schule, war also nicht selbst „da drin“. Aber während meines Studiums bin ich oft damit konfrontiert worden, was mich sicher beeinflusst hat. Zugleich war Staats-

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theorie zu Beginn nicht mein zentraler Orientierungspunkt. Das ergab sich aus der intensiveren Beschäftigung mit der Marxschen Theorie, aber auch mit Foucault oder Gramsci. Die Kritische Theorie hat für mich so was wie einen Denkhorizont bedeutet. Manchmal auch als Anstoß, nicht zu dogmatisch zu werden. Aber das sind eher Hintergrundgeschichten, während meine Beschäftigung mit der Staatstheorie einen anderen Bezugspunkt hat. Für mich fing das mit der Marx-Lektüre an; mit der Beschäftigung mit der Theorie der gesellschaftlichen Form und mit konkreten Diskussionssträngen, wie der Staatsableitungsdebatte, die sich überhaupt nicht auf die Kritische Theorie bezogen hatte. UB: Würde es sich lohnen noch einmal tiefer in die Schriften „Autoritärer Staat“, „Staatskapitalismus“ usw. hineinzuschauen? Sind da noch Erkenntnisse und Erklärungspotenzial vorhanden? JH: Auf jeden Fall. Wenn man die Schriften von Pollock, Horkheimer und Adorno und so weiter nicht unter dem Gesichtspunkt sieht, was sie eigentlich gemeint haben, sondern vielmehr als eine symptomatische Lektüre für spezifische Erkenntnisse, die zu dieser Zeit entstanden waren und die zum Teil ganz unsystematisch vorliegen, dann würde sich das lohnen. Das wird übrigens gerade gemacht. In der Nomos Reihe „Staatsverständnisse“ ist ein Band „Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno“ publiziert, herausgegeben von Ulrich Ruschig und Hans-Ernst Schiller (2014), wo das noch einmal genauer untersucht wird. UB: Sie gelten als Kenner von Herbert Marcuse: Dessen Schriften müssten doch im Zusammenhang mit der Analyse des Staats mehr zu bieten haben. JH: Ja, da bietet sich mehr an. Allerdings glaube ich, dass auch dies sehr stark zeitbezogen ist. Bei Marcuse finden sich zeithistorische Analysen und staatstheoretische Überlegungen nebeneinander. Marcuse hat sich aber insgesamt viel stärker auf die Problematik des Staates bezogen. UHB: Unser Eindruck ist immer, dass Marcuse den Staat als einen großen Repressionsmechanismus ansieht. Ist das aus Ihrer Sicht für Marcuse ansatzweise ambivalent gehalten? JH: Ich würde sagen: nein! Allerdings sind alle Staatstheorien immer in gewisser Weise einseitig, abhängig von der jeweiligen Problemlage. Aber für Marcuse bildeten natürlich die Studentenproteste den Hintergrund, die sozialen Revolten und die Reaktionen des Staates darauf. UHB: Die materialistische Staatstheorie im engeren Sinne, wie und wann genau wurde die in Frankfurt diskutiert bzw. verankert? Gibt es Leute außerhalb von Frankfurt, die wir gar nicht kennen und wie einflussreich waren sie oder eben auch nicht? JH: Es gab schon eine ganze Reihe Personen in meinem Umkreis. Das fing an mit einem Projekt, das sich mit der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik beschäftigte. Das war ein größeres Projekt mit vielen Mitarbeiten. Da gab es Dietrich Wetzel, Karsten Prüß oder Claudia von Braunmühl, diese haben einiges dazu geschrieben. In diesem Zusammenhang entstand die Projektgruppe „Staatstheorie“. Die Gruppe bestand aus Leuten, die mittlerweile teilweise gar nicht mehr akademisch tätig und ziemlich verstreut sind. Hier wurden viele der für mich wichtigen Überlegungen und Ansätze entwickelt.

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Biografische Pfade zur Staatstheorie und staatstheoretische Diskussion in den 1970ern

UB: Wie sind Sie genau zu dem Untersuchungsgegenstand „Staatstheorie“ gekommen? JH: Wenn ich es rückblickend betrachte, dann befand sich das Wissenschaftsplanungsprojekt noch im Rahmen der bürgerlichen Politikwissenschaft. Kritisch natürlich, aber eben kritische Politikwissenschaft. Es ist schwer zu erklären, warum das dann anders wurde. Das war zum Teil von Personen abhängig, z. B. war einer der ersten Mitarbeiter im Projekt Dietrich Wetzel, der Vorsitzender des SDS war und damit politisch-theoretisch anders orientiert. Außerdem hatten wir einmal eine intensive Auseinandersetzung mit Elmar Altvater und Christel Neusüß auf einer Konferenz, die unser Projekt von links her kritisiert haben. Allmählich lernt man dazu und es hat sich eine Umorientierung vollzogen. Man kann das auch bei meinen Büchern sehen. Bei meiner Publikation „Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System“ hat noch deutlich traditionelle linke Politologie mitgeklungen. Der Wechsel kam später. In „Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals“ klingt der Titel dann schon anders. Im Prinzip war es das gleiche Thema, aber völlig anders theoretisch positioniert. Dazwischen liegen die Diskussionsprozesse, die ich gerade versucht habe zu skizzieren. UHB: In wie weit gab es Diskussionen oder Kontroversen zu dieser Richtung? Habermas und Offe haben die Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus zumindest auch ausbuchstabiert. Und Habermas hat dann später eine andere Perspektive auf Staatlichkeit. JH: Eine richtige Debatte gab es aber nicht. Wir haben diese Arbeiten mit Interesse wahrgenommen. Ich weiß noch, dass wir ein paar Mal mit Offe diskutiert haben, mit Habermas eher zufällig. Mit Offe konnte man schon reden und das haben wir auch öfters gemacht. Trotzdem handelte es sich um ganz verschiedene Stränge. In der Rückschau gab es zwar ein gegenseitiges Interesse, aber eben auch eine Distanz, begründet durch die unterschiedlichen theoretischen Positionen. Habermas und andere aus seinem Kreis habe ich als abgeschotteter erlebt. Die hingen so stark an ihrem Kanon – eben einer im Kern nicht auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie bezogenen Position, dass sie anderes nicht so richtig wahrgenommen und diskutiert haben. UHB: Lessenichs „Neuerfindung des Politischen“ kennen Sie wahrscheinlich (Lessenich 2009, U.B./U.H.B.). Lessenich versucht sehr stark an Offe anzuschließen und auch an Foucault. Das ist zwar etwas kontrovers, aber sehen Sie Parallelen zum aktuellen Ansatz von Lessenich und ihren eigenen Perspektiven? JH: Parallelen gibt es immer. Jede kritische Staatstheorie weist Parallelen auf. Nur denke ich nach wie vor, dass der Ansatz ein anderer ist. Es ist doch immer die Frage: Hält man die Kritik der politischen Ökonomie für wichtig und grundlegend oder eben nicht. Und da unterscheiden sich die Positionen schon. Ich will andere Ansätze nicht abwerten, aber da gibt es schon einen Unterschied. UB: Das heißt, dass mit der Marxschen Staatstheorie die Kritische Theorie der Frankfurter Schule noch einmal anders in die Modellierung hineinkommt. Also

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unabhängig vom Staatsbegriff, der formuliert oder assoziiert wird und viel stärker aus einem materialistischen Grundverständnis über Gesellschaft hinausgeht. JH: Ja, man kann sich darauf beziehen. Mit Begriffen wie „Kulturindustrie“ oder die „Verwaltete Welt“ kann man einige Sachverhalte teilweise differenzierter oder klarer fassen.

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Kernelemente der materialistischen Staatstheorie und die These des Rückzugs des Staates

UB: Das ist ja für uns erst einmal das Interessante. Der Staatsbegriff taucht ja sehr diffus auf. Manchmal widersprüchlich. Aber das Grundgerüst eines materialistischen Denkens, eines interdisziplinären Materialismus ist dann für eine Staatstheorie brauchbar. Können Sie beschreiben, was die wichtigsten Elemente sind, also neben der Einbeziehung „Kritik der politischen Ökonomie“? JH: Die materialistische Staatstheorie ist natürlich ein unheimlich großer Komplex. Man könnte ganz weit weg anfangen, also bei Kulturtheorie oder bei der Psychoanalyse. Was ja auch alles dazu gehört. Alles, was mit Hegemonietheorie zusammenhängt ist ja mit Gramsci nicht erledigt, weil er einen Anfang darstellt. Aber auch Foucault natürlich. Dann gibt es im engeren Sinne, die Althussersche Richtung, die strukturalistisch orientiert ist. Man kann es auch anderes herum formulieren: Weil der Staat ja eine Verkörperung komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt, gehört eben die gesamte Gesellschaftstheorie dazu. Man kann Staat nicht erklären ohne eine umfassende Gesellschaftstheorie. Insofern ist alles, was bisher gemacht wurde immer noch sehr bruchstückhaft. Die Kritik der politischen Ökonomie reicht nicht, obwohl sie unverzichtbar ist. Mit ihr allein kann man den Staat nicht erklären, auch wenn es oft versucht worden ist. UHB: Mich würde die aktuelle öffentliche Diskussion interessieren. Also die Diskussion, die dann auch von Stephan Lessenich, aber auch von Christoph Butterwegge geführt wird und zwischen den Motiven Rückzug des Staates auf der einen Seite und Regulationskrise oder Steuerungskrise auf der anderen Seite schwankt. Sie müssten nun eigentlich aus Ihrer Perspektive sagen, dass eine Krise der staatlichen Regulierung der Normalfall ist; dass wir Steuerungsprobleme haben ist jetzt historisch nicht singulär. Das zeichnet die Form der Bestimmtheit der politischen und der kapitalistischen Bedingung an sich aus. Wäre das Ihre Position? JH: Es ist natürlich schon so, dass es historische Phasen und Brüche gibt, und damit neue Formen der Krisenregulation, wo diese Probleme herrschaftlich hervortreten. Das bezieht sich auf die staatliche Steuerungsfähigkeit, das Problem des Nationalstaates, neue politische Formen wie Gouvernance etc. Das gesamte Regulationssystem befindet sich derzeit in einer tiefen Krise. Vielleicht kommen Zeiten, wo sich das wieder stabilisieren wird. Trotzdem wird es immer wieder Krisen geben, weil der Kapitalismus ohne Krise ja nicht möglich ist. Aber die These vom „Rückzug des Staates“ ist etwas, das ich nie teilen würde, weil der Staat immer präsent sein wird. Er ist dies nur auf unterschiedliche Weise. Auch wenn der Staat auf eine integrative Regulierung des Sozialen verzichtet und dafür ein neoliberales Programm durchsetzt,

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Marktkräfte sich ungehindert entfalten lässt, dann bleibt er als Akteur präsent. Er ist so dominant wie eh und je. Zum Beispiel ist die „Schwächung“ der Nationalstaaten durch Globalisierung und Internationalisierung des Kapitals von diesen selbst durchgesetzt und ermöglicht worden, im Interesse einer bestimmten Kapitalfraktion. Das finde ich gerade das Gute an der Regulationstheorie, dass sie diese Differenzierung begreifbar machen kann und dafür ein theoretisches Instrumentarium bereitstellt.

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Wissensökonomische und wissensgesellschaftliche Regulationskrisen

UHB: Wie würden Sie dann aktuell die Regulationskrise einkreisen oder bestimmen? Es gibt das Argument, dass es sich um eine Krise der Mehrwerterzeugung handelt. Es gibt eine Verschiebung in der Ökonomie in Richtung Wissensökonomie, eine Verschiebung der Wertschöpfungskette usw. Zu diesem Thema gibt es ein großes Spektrum an Theoretikern und Theoretikerinnen von konservativ bis weit ins marxistische Spektrum hinein, wie Joachim Bischoff etwa. JH: Es handelt sich meiner Ansicht nach um eine Überakkumulationskrise, d. h. es wird immer schwieriger, den produzierten Mehrwert profitabel anzulegen. Daher auch die Finanz- und Immobilienblasen. In diesem Zusammenhang wird mit dem Begriff der Wissensgesellschaft teilweise etwas schwammig umgegangen. Die Bedeutung von Wissen hängt mit den Bedingungen der Mehrwertproduktion zusammen. Das Marxsche Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Kapitalismus ist ein System, das auf dem Zwang zu fortschreitender Akkumulation beruht und deswegen strukturell krisenhaft ist. Das Problem ist, wie die immer weiter angehäuften Wertmassen verwertend eingesetzt werden können, ganz allgemein betrachtet. Das nimmt unterschiedliche Formen an. Wenn man diese theoretische Grundfigur nimmt, dann ist die jetzige Krise relativ einfach zu erklären. Es gab in der Tat eine tiefgehende Profitkrise im Rahmen der fordistischen Formation. Diese ist durch die Mobilisierung von Gegentendenzen bewältigt worden, beispielsweise durch Deregulierung und durch die Öffnung von Märkten, Mobilisierung der internationalen Konkurrenz, Rationalisierung und die Schaffung neuer Investitionsmöglichkeiten, etwa durch Privatisierung. Die Profitkrise konnte damit überwunden werden, aber mit diesem Regulationsversuch ist zugleich die Bedingung dessen eingeleitet worden, was wir im Augenblick als Finanzkrise bezeichnen, nämlich dass anlagesuchendes Kapital in den Finanzsektor geflossen ist, weil es anderswo nicht mehr profitabel angelegt werden kann. Dort wird aber kein Mehrwert geschaffen, sondern es werden eben Blasen erzeugt, die irgendwann einmal platzen. Offen bleibt, ob es gelingen wird, dieses System irgendwie wieder zu stabilisieren, das ist schwer zu prognostizieren. Man weiß das nie vorher. Der Begriff Wissensgesellschaft bezieht sich auf diese Situation, nämlich dass die Bedingungen der Wertproduktion fundamental verändert worden sind. UHB: Ich bin, was diese Diagnose der Wissensgesellschaft betrifft, überaus skeptisch. In der Regel werden zur Bestätigung der Diagnose der Wissensgesellschaft in den Studien teilweise katastrophale Indikatoren verwendet, die für alles

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Mögliche herhalten müssen. Es ist eine sehr komplexe Frage, in wie weit diese Krise der Werterzeugung nicht auch durch Staatshandeln, durch spezifische Erwartungsstrukturen etc. massiv mitproduziert wird. Das Motiv etwa, dass im Kapitalismus zwingend akkumuliert werden muss, ist kaum zu bezweifeln, aber niemand sagt, dass es Gewinnerwartungen von 30 Prozent geben muss. Es könnte ja auch politisch dadurch reguliert werden, dass man im Bereich von 2 Prozent akkumuliert. An der Schnittstelle der Gewinnerwartungen sorgen dann sowohl staatliche Akteure als auch Ackermänner dafür, dass es überhaupt zu einer Krise der Werterzeugung gekommen ist, weil die Erwartungen durch die Decke gegangen sind. JH: Es gab ja Zeiten wo, sagen wir mal, die Einkommensverteilung gleicher war. Gewinne müssen gemacht werden, das ist eine Sache, aber in welchem Umfang dies geschieht, ist von Rahmenbedingen abhängig, von den Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft und genau die haben sich radikal gewandelt. Der Akkumulationszwang ist das krisenerzeugende Moment, und – was die Keynesianer soweit zu Recht sagen – wenn es so weiter geht, ist ein Zusammenbruch unvermeidlich. UB: Ich habe zwei Fragen. Die eine lautet: Wer hat eigentlich ein Interesse an einer Vorstellung vom Staat, Nutzung von Staat, wie wir das hier eben diskutieren? Sei es als ein Instrument, das permanent de-reguliert und re-reguliert und damit immer eine dominante Position erhält. Und die zweite Frage: Wer hat das meiste Interesse an Staat? Besonders in dieser Form, in dieser regulierenden Funktion, deregulierenden, re-regulierenden, aber in einer dominanten. JH: Das hängt von historischen Bedingungen ab. Man kann das gar nicht so einfach sagen. Natürlich haben gesellschaftlich benachteiligte Schichten im Prinzip ein größeres Interesse an Regulierung, da ja Umverteilung oder Schaffung von mehr Gleichheit nicht ohne Zwang und staatliche Gewalt geht, also z. B. durch Steuern. Beim Kapital ist das unterschiedlich. Es hat zeitweise ein sehr starkes Interesse an staatlicher Regulierung. Das ist von der Situation abhängig, nicht zuletzt von den Bedingungen im Weltzusammenhang. Aber ein Interesse an staatlicher Regulierung gibt es eigentlich immer. Von der historischen Situation und den Kräfteverhältnissen hängt es ab, wer welches Interesse an welcher Form von Regulierung hat. Beispielsweise war das deutsche Kapital im Verlauf seiner Existenz mal strikt freihändlerisch, mal strikt protektionistisch, mal gab es die Forderung nach Staatseingriffen, mal nicht. Das hängt auch von internationalen Kräfteverhältnissen und nicht nur von internen ab. UB: Ein ambivalentes Verhältnis zum Staat haben gegenwärtige Bewegungen, wie die, die wir als neoliberal bezeichnen. Vordergründig wollen sie den Staat zurück drängen, aber hintergründig haben sie eine klare Erwartungshaltung an den Staat. JH: Das gilt genau genommen vor allem in Bezug auf die repressive Staatsgewalt.

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Zeitgenössische Vorstellungen vom Staat

UB: Wie können wir den gegenwärtigen Staat beschreiben? Um ihn mal in ein diagnostisches Korsett hineinzubringen. JH: Es ist der Staat des autoritären Neoliberalismus. Ich denke, dass die Vorstellung vom guten, dem Allgemeininteresse dienenden Staat stark angeschlagen ist,

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aber sie war zu früheren Zeiten relativ dominant. Seit den 1990er-Jahren hat sich dies allmählich geändert. Man merkt das u. a. an konkreten Initiativen wie die zur Re-Kommunalisierung von Wasser oder an den Widerständen gegen Privatisierung. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass die offizielle Überzeugung, also die in den dominanten Medien präsente, immer noch die Meinung vertritt, dass Staatseingriffe von Übel seien. Wahrscheinlich, weil Journalisten ziemlich wenig lernfähig sind. Weniger lernfähig als zum Teil Politiker, die das bereits besser verstanden haben. Selbstverständlich können staatliche Inventionen nützlich sein. Es gibt ja einige Erfahrungen damit. Aber man muss erkennen, dass der Staat ein Produkt der bestehenden Gesellschaft ist; ein Ausdruck ihrer Widersprüche. Man muss daher situativ entscheiden, ob der Staat etwas machen muss, aber man sollte nicht glauben, dass das immer gut ist. Im Prinzip hängt dies von Situationen, von Kräfteverhältnissen oder von strategischen Optionen ab und man sollte den Staat auf keinen Fall als ein Instrument begreifen, das einfach zu gebrauchen ist, sondern als ein Machtverhältnis, dem man sich irgendwie zu stellen hat, d. h. auch, dass man klug kalkulieren muss, wie man handelt. UB: Lohnt es sich dann überhaupt aus analytischen Gründen und vielleicht auch aus politischen Gründen am Staatbegriff festzuhalten? Also gerade wenn wir darauf hinaus wollen, dass Kräfteverhältnisse das dominierende Merkmal eines solchen analytischen Zugriffs sind. Wäre es dann nicht klüger auf ihn zu verzichten? Ich merke es auch bei der Diskussion, die wir hier führen: Wir ersetzen an verschiedenen Stellen immer wieder den real existierenden Staat durch einen wesentlich dynamischeren theoretisch abgeleiteten Staat, der in dieser Form, wie wir ihn denken, gar nicht existiert. JH: Theoretisch betrachtet würde es schon etwas bringen, auf diesen Allgemeinbegriff zu verzichten und differenziertere Begriffe zu benutzen. Das hängt mit den großen Transformationen zusammen, denen das Staatssystem gegenwärtig unterworfen ist. Allerdings neige ich trotzdem dazu, am Staatsbegriff festzuhalten, weil man sehen kann, dass die Abschaffung des Staatsbegriffes sehr oft dazu gedient hat, Herrschaft zu negieren. Wie z. B. in der Politologie, wo eher vom „politischen System“ geredet wird. Dieses sei pluralistisch und vom allgemeinen Gleichheitsgrundsatz geprägt. Luhmann sagt, dass „Staat“ nicht mehr als eine Selbstbeschreibung des politischen Systems sei. Den „Staat“ gäbe es so nicht. Zwar hat er auch irgendwie Recht, aber was er dabei zugleich ausblendet, sind die Machtverhältnisse. Ich möchte am Begriff des Staates als Klassenstaat festhalten. Genau genommen als eine historisch besondere Form von Klassenherrschaft. Obwohl mir die damit verbundenen Probleme schon bewusst sind.

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Das Verhältnis von Klassentheorie und Staatstheorie

UHB: Ich möchte gerne auf Ihre Schriften zu sprechen kommen und die Sozialstrukturanalyse bzw. die sozialstrukturanalytische Perspektive dahinter betrachten: Müsste man nicht präziser werden bei der Sozialstrukturanalyse, wenn man sagt, dass der Staat auch Repräsentant in umfassender Weise spezifischerer Klasseninte-

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ressen ist? Könnte man nicht auch sagen, dass sich spezifische Fraktionen der Mittelschicht als Gewinner der Expansion staatlichen Handelns identifizieren lassen, die dann vom staatlichen Handeln profitieren, wie etwa in den Studien von Michael Vester argumentiert wird. Das heißt, dass es ja sehr vielfältige, zum Teil auch sehr widersprüchliche Interessenskonstellationen sind. JH: Diese Untersuchungen sind ganz wichtig, aber sie liegen alle auf einem anderen Feld. Für mich reicht es zunächst einmal, dass es sich bei uns um eine Gesellschaft handelt, die auf Ausbeutung beruht, also auf der privaten Aneignung des Mehrprodukts. Wenn es eine bestimmte soziale Gruppe gibt, die davon profitiert, dann bezeichnet das einen bestimmten Charakter der politischen Herrschaft und gleichzeitig eine bestimmte gesellschaftliche Dynamik. Eine sich darin anschließende Frage lautet: Wie trifft dieses Verhältnis andere soziale Gruppen und wie reagieren sie darauf. Diese Frage wird wichtig, wenn man politisch-strategisch denkt und nicht nur eine Staatsanalyse betreibt. Ich finde diese Untersuchungen auch gut, denn man begreift einfach, wer oder was man selber ist und wen oder was es sonst noch gibt. Trotzdem glaube ich, dass es eine etwas andere Fragestellung ist. UB: Ich muss nun trotzdem nachfragen, ob es sich wirklich um ein anderes Feld handelt. Denn Kapital, Arbeitsverhältnisse, Ausbeutungsverhältnisse werden doch maßgeblich durch den Staat konstituiert. Was bleibt ist die Frage: Wie funktioniert das? Das ist ja kein Widerspruchseffekt, sondern das wird installiert, gewartet, gepflegt und damit kommt die Frage von spezifischeren Klasseninteressen direkt wieder ins Spiel. Und ferner die genauere Frage: Welche Fraktion, welches Milieu, welche sozialstrukturelle Schicht etc. profitiert eben im Besonderen davon. Es scheint doch grundsätzlich eine Konstitutionsfrage zu sein, denn wenn wir sagen, dass es sich erst einmal ein aus der bestehenden gesellschaftlichen Struktur generiertes Ausbeutungsverhältnis handelt, dann müsste das ja auch bedeuten, dass wir eine Fraktion haben, die über Kapital verfügt. JH: Das ist schon richtig. Aber es handelt sich eben um eine Frage, die sich sehr stark auf der historisch konkreten Ebene ergibt und beantwortet werden muss. UHB: Ist es nicht eine gesellschaftstheoretische Entscheidung, wenn man den theoretischen Zugang zum Staat so festschreibt, dass er als historisch je konkrete Form selbstverständlich spezifischen Interessen dient und andere deswegen abgeblockt. Dann kann man konkretisieren: Es gibt die Kapitalisten. Die haben viel Besitz und die werden alleine durch den Staat davor geschützt geplündert zu werden usw. Das bliebe allerdings ein abstrakter Zugang, aus dem sich zwanglos der Begriff der herrschenden Klasse ergibt, der relativ eng an der ökonomischen Sphäre dranhängt. Aber dadurch werden ja konkretere Fragen provoziert, zum Beispiel, ob die Spitzenleute des Staates, also die höchsternannten Ministratoren, selbst Bestandteil der herrschenden Klasse sind. Damit würde die klassentheoretische Frage gewissermaßen von hinten wieder eintreten, trotz der früheren Entscheidung, das abstrakt halten zu wollen. JH: Zwar ist die Klassentheorie nicht die erste Voraussetzung meiner Argumentation, aber sie ist zweifelsohne dafür wichtig und anschlussfähig. Die Argumentation könnte so auch konkreter werden. Trotzdem muss ich nicht

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die konkrete Klassenstruktur kennen, um eine Aussage über den Staat zu treffen. Es tauchen natürlich viele Fragen auf, wie z. B. was ist das „Kapital“? Es ist ungemein schwierig, das Kapital zu personifizieren, denn das ist zunächst einmal ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis und die Kapitalisten verfügen über verschiedene Hilfskräfte, Manager usw. Das sind sehr komplexe Verhältnisse. Auf jeden Fall würde ich unterscheiden zwischen herrschender und regierender Klasse. Diese Unterscheidung bleibt wichtig. Das hängt auch mit dem Staat zusammen, weil er ja eine eigene Apparatur hat. Er ist getrennt von der Gesellschaft und besitzt eigene institutionelle Dynamiken. Im Unterschied zur ökonomisch herrschenden muss die regierende Klasse ja gewählt werden. Ein Umstand, der für sie manchmal nicht unerheblich ist. Das Kapital wird nicht gewählt. Deswegen gibt es unterschiedliche Dynamiken und das schafft auch Konflikte. UHB: Um beim Thema des Ineinandergreifens zwischen staatlichem Handeln und ökonomischen Interessen zu bleiben: Die Verschränkung zeigt sich beispielsweise in gleichlautenden Interviews von Manager_innen und Presseerklärungen aus den Ministerien, die im Kern eine Verschiebung der Wertschöpfungskette postulieren. Diese Vorstellung ist u. a. ursächlich für eine Bildungspolitik, die eine sehr starke Akademisierung betreibt. JH: Wissen und Wertschöpfung. Natürlich besteht da ein Zusammenhang. Wissen wird gebraucht um neue Produkte, neue Investitionsgelegenheiten herzustellen. Das wird immer schwieriger, denn als Unternehmer kann man nicht mehr aus seiner Intuition heraus entscheiden. Es braucht dafür mittlerweile erhebliche Wissenskapazitäten. Die werden gebraucht um die Produktion rationeller zu machen. Aber auch um die Innovation zu beschleunigen. Das sind aber alles materielle Dinge. Das Wissen wird gebraucht um die materielle Produktion völlig neu zu organisieren und in neue Felder zu tragen. Für deutsche Ökonomie wird gesagt, dass sie verloren sei, wenn sie durch technischen Fortschritt nicht an der Spitze der Weltkonkurrenz stehe. UHB: In wie weit ist diese Beschleunigung der Wissenszyklen, verringerte Halbwertszeit von Wissen etc. nicht gerade ein Ausdruck der Krise der Wertschöpfung, die sich ja als schlichte Überproduktionskrise beschreiben lässt, die ihrerseits eine Beschleunigung erzwingt? JH: Überproduktionskrise heißt ja, dass Mechanismen gefunden werden müssen, um Verwertungsmöglichkeiten für wachsende Profitmassen zu eröffnen. Das bedeutet Rationalisierung oder die Erschließung neuer Investitionsgelegenheiten und so weiter. Dieser Prozess beschleunigt sich. Andererseits kommt noch hinzu, dass die Natur als knappe Ressource immer bedeutungsvoller wird. Das erfordert verstärkt neues Wissen. Es ist in der Tat so, dass der Kapitalismus aufgrund des Konkurrenzmechanismus schon immer Wissen und technischen Fortschritt vorangetrieben hatte, aber dieser Zwang verstärkt sich, nicht zuletzt aufgrund der Standortkonkurrenz auf dem Weltmarkt. Eine spannende Frage in diesem Zusammenhang ist die nach den gesellschaftlichen Konsequenzen der raschen Verwissenschaftlichung und Technisierung Man denke nur daran, wie die Ausbreitung des Smartphones die Menschen und die Gesellschaft insgesamt verändert.

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Verblendung, Emanzipation und die Rolle des Staates?

UHB: Ich hätte in diesem Kontext eine These und möchte auch gleich eine Gegenthese daran anschließen: Die orthodoxe These ist die Notwendigkeit von Verblendung zur Reproduktion des schlechten Ganzen. Ein klassisches Kernargument, dass diese Prozesse in irgendeiner Weise hinter dem Rücken der Beteiligten passieren, weil den meisten Subjekten ja die meisten ökonomischen Prozesse nicht durchschaubar seien, weil sie überkomplex sind und so weiter. Die Gegenthese lautet: Diese Ausgangslage ist schon lange nicht mehr der Fall. Es gibt den Eindruck, dass die allermeisten Subjekte mittlerweile erhebliche Kenntnisse über gesellschaftliche Mechanismen haben; selbst über die Zusammenhänge ihrer eigenen Produktionsbedingungen. Deswegen wäre die Frage: Ist das tatsächlich noch eine systemrelevante Größe, dass das hinter dem Rücken der Leute passiert? Ist es nicht mittlerweile ganz anders gelagert? Also dass die Reproduktion des schlechten Ganzen bei vollem Bewussten erfolgt, oder zumindest im Bewusstsein der Allermeisten erfolgt? JH: Ich wäre mit dem Begriff „Verblendung“ ähnlich vorsichtig, denn dahinter steht ja immer so etwas wie „Wir werden für dumm verkauft“. Was aber bleibt ist, dass jede Ideologie eine materielle Basis hat und insofern bleibt der Zusammenhang grundsätzlich wirksam, dass im Kapitalismus die realen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse nicht unmittelbar sichtbar und begreifbar sind. Er könnte sonst als „demokratischer“ gar nicht funktionieren. Allerdings gibt es, ich glaube bei Horkheimer oder Adorno die Äußerung, dass die bestehenden Verhältnisse selbst zur Ideologie werden. Das Reden von der angeblichen politischen Alternativlosigkeit, Margaret Thatchers Satz „There ist no alternative“ zeugt davon. In der Tat ist das Bewusstsein einer grundlegenden Ungerechtigkeit, von Diskriminierung, selbst von Ausbeutung inzwischen sehr stark präsent. Aber die Leute wissen trotzdem nicht, was sie machen sollen. Diesen Aspekt, diese neue ideologische Form halte ich für ziemlich wichtig. Die Verblendung hat ihre Grenzen, auch schon im 19. Jahrhundert haben sich die Arbeiter nicht darüber hinwegtäuschen lassen, was ihre Arbeits- und Lebensbedingungen angeht. Um noch einmal auf das Thema Staat zurück zukommen: Der Staat in seiner bestehenden Form erweckt den Eindruck, dass er das Allgemeine repräsentiert und der Glaube daran hat eine nachvollziehbare Basis, eben die formelle Trennung von Politik und Ökonomie. Dazu kommt die Trennung zwischen dem allgemeinen Bewusstsein, was teilweise sicherlich ziemlich problematisch ist – z. B. in Bezug auf Rassismus, Antisemitismus und Wohlstandschauvinismus – und der medialen Öffentlichkeit, die viele Dinge und Zusammenhänge ausspart oder gar nicht thematisiert Es sei denn, es gibt Randale. Aber wenn man über Ideologie reden muss, mit oder ohne Verblendung, dann muss man immer erst einmal unterscheiden zwischen den offiziellen Diskursen und dem was wirklich im Bewusstsein der Bevölkerung ist. Das ist nicht gleichzusetzen. UB. Das Reale wird immer unmittelbarer wirksam, so dass man es gar nicht verschleiern muss und der Zugang wird immer leichter. Die Alternativen tauchen auf dem Möglichkeitsfeld des Diskurses auf und die Idee, dass es keine Alternative

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gäbe, das würde dann zur Verschleierungstheorie gehören. Deswegen noch einmal die Frage: Wie wird diese Unhintergehbarkeit von Realität erzeugt? JH: Die Unhintergehbarkeit von Staat hat einen relativ trivialen Grund, nämlich, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen eine Gesellschaft, die halbwegs frei und egalitär sein soll und will, eine zentrale Instanz braucht, die mit Macht ausgestattet ist. Sie ist sozusagen das kleinere Übel. Zudem sind ja die Vorstellungen davon, was der Staat kann, auch nicht gänzlich illusorisch. Der Aspekt mit den Alternativen ist unterschiedlich zu begründen. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch der Zusammenbruch des realen Sozialismus. Also nicht in der Weise, dass das eine wirkliche Alternative dargestellt hätte, so war ja die „westliche Denke“ nicht ausgerichtet. Aber er hat deutlich gemacht, dass es eigentlich keine Idealvorstellung von einer Alternative gibt und wie man da hinkommen könnte. Das ist ziemlich präsent, das hat gelähmt und das gibt die Möglichkeit, dass die Mächtigen sagen können: „Tja Leute, es gibt keine Alternative. Ihr habt es ja gemerkt.“ UB: Wie chirurgisch denkt da der Staat? JH: Der Staat spielt eine doppelte Rolle. Emanzipatorische Bewegungen brauchen bestimmte Bedingungen und da sind staatliche Kämpfe unerlässlich. Wenn man eine terroristische Diktatur hat, sieht es schlecht aus mit Alternativen. In Demokratien ist die Situation etwas besser. Das ist für politische Diskussionen ein zentraler Punkt. Auf der anderen Seite ist aber reale Emanzipation nur gegen die staatliche Form möglich. Nämlich durch Selbstorganisation, nicht Repräsentation, durch direkte Demokratie. Also alles das, was nicht „Staat“ heißt. Auch kann man die Möglichkeit eines Ausnahmestaates nicht außer Acht lassen. Aber man darf nicht glauben, dass Staat und staatsförmige Politik ein Hebel für radikale Emanzipation sei, sie kann nur die Bedingungen dafür verändern. UHB: Sie gehen ja davon aus, dass in irgendeiner Weise eine zentrale Instanz notwendig und zwingend ist, um vernünftige Verhältnisse zu garantieren. JH: Wenn wir darüber sprechen, sollten wir nicht an feudale oder tribale Gesellschaften denken, z. B. Afghanistan. Diese legitimieren sich anders. Ich denke an eine Gesellschaf freier Individuen, die zunächst einmal machen können, was sie wollen. Und wenn sie das machen, dann brauchen sie Regeln, sonst gibt es Krieg. Um das zu verhindern, müssen sie sich über ihre Regeln verständigen und dafür sorgen, dass sie durchgesetzt werden und dafür ist eine zentrale Instanz zuständig. Wenn eine Gesellschaft in Freiheit wirklich ernst genommen wird, dann muss man davon ausgehen, dass es Leute gibt, die das gute Recht haben, das nicht zu wollen und sogar dagegen verstoßen. Und was macht eine Gesellschaft damit? Sie muss sie mit irgendwelchen Sanktionen belegen. Die können human sein, wie ein z. B. beim Bußgeld, oder was auch immer. UB: Es bleibt aber eine hoch spannende Frage. Wenn man erst einmal eine gewisse Staatlichkeit voraussetzt, die am besten so gemäßigt wie möglich ist, damit emanzipative Bewegungen Fuß fassen können, um dann zu einer Konfiguration zu kommen, wo Staat einfach keine Rolle mehr spielt, sondern Selbstbestimmung und Selbstregulierung – das beinhaltet zwei große Bedingungen: Die eine Bedingung ist, dass Ausbeutung stillgestellt wird, weil Ausbeutung mit einem solchen Verständnis nicht mehr funktionieren würde. Die zweite ist, dass die

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Individuen das auch leben können. Diesen Punkt haben wir jetzt gerade: Wie zugehörig ist schon ein Individuum, um überhaupt eine solche Art der Herrschaftsfreiheit oder der Akzeptanz von Egalität etc. dann auch tatsächlich als politische Kultur leben zu können. JH: Man könnte einen solchen Zustand auf keinen Fall einfach einführen, selbst wenn das möglich wäre. Das würde bestimmt schief gehen. Ich kann es mir nur als ein Ergebnis eines ganz langen Entwicklungsprozesses vorstellen. Wenn Menschen wirklich anfangen für Emanzipation zu kämpfen, verändern sie sich selbst und der Umgang mit Freiheit wird ein anderer. Dann werden sich auch alle diese Probleme etwas anders darstellen. Aber das ist eine Hoffnung auf Veränderung. Ich glaube nicht, dass wir alle in der Lage sind, sozusagen von unseren aktuellen Möglichkeiten her eine emanzipierte Gesellschaft uns wirklich vorzustellen oder gar zu leben. UB: Das ist die große Angst dabei. Ich meine es ist ein Tabuthema unter uns. Ich werde ungern gefragt. Wie sieht denn eine Gesellschaft ohne Schule aus? Das wäre der Vorläufer einer solchen. Trotzdem ist es ein zentraler Gedanke. Die Idee zu sagen: der, wer für Emanzipation kämpft, entwickelt ein anderes Verständnis von Auseinandersetzungen oder politischer Kultur. Das finde ich erst einmal sehr gut. Die Frage ist, welche Instanzen, die wir hier gesellschaftlich haben, kommen dafür in Frage, um eben genau so ein Bewusstsein, so eine Identität zu erzeugen, die erstens für solche emanzipativen Kämpfe einstehen und zweitens dann in der Tat auch eine Veränderung von wichtigen Bewusstseinsformen zulässt. JH: Man braucht dazu auch institutionelle Veränderungen. Aber zu definieren, welche das sein sollten, ist schwierig. Veränderungen müssen an vielen Orten der Gesellschaft ansetzen und es kommt darauf an, dabei historische Erfahrungen aufzuarbeiten und aktuelle zu reflektieren. Das ist ein Entwicklungsprozess. Einiges hat sich ja schon – nicht zuletzt im Gefolge der 68er-Revolte und der „neuen sozialen Bewegungen“ – entwickelt, man denke nur an die Geschlechter- oder Naturverhältnisse. Aber dies lässt sich auf keinen Fall Schreibtisch entwerfen, sondern muss aus konkreten Konflikten und Initiativen hervorgehen. UHB: Aber das würde doch heißen, dass, wenn wir eine vernünftige Gesellschaft im Augenblick vorantreiben wollen oder zumindest das Bild einer vernünftigen Gesellschaft entwickeln wollen, dass das nach Ihrer eigenen Position der materialistischen Staatstheorie auf keinen Fall innerhalb staatlichen Handelns passieren kann. Das würde bedeuten, dass die politisch-strategische Konsequenz dann lautet, sich vom Staat fernzuhalten und zu versuchen, experimentell andere Formen des Zusammenlebens zu finden. JH: Genau, es geht um die sozialen Formen. Der Staat ist nicht einfach nur eine Institution oder Zweckorganisation, sondern ein soziales Verhältnis, in der sich die gesellschaftlichen Herrschaftsbeziehungen und Widersprüche ausdrücken. Er zwingt die Menschen in bestimmte Beziehungen zueinander. Ein emphatischer Begriff von Emanzipation beinhaltet, dass die Menschen allmählich lernen, mit diesen Widersprüchen umzugehen und für sich eigene Wege zu entdecken. Emanzipation kann im Grunde genommen nur Selbstermächtigung bedeuten.

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Entwicklungsnotwendigkeiten materialistischer Staatstheorie

UHB: Wenn man jetzt auf die Theoriebildung der materialistischen Staatstheorien geht: Wo sehen Sie Überarbeitungsbedürfnisse, Entwicklungsnotwendigkeiten einer materialistischen Staatstheorie oder einer politischen Ökonomie, die Ökonomie und Staatlichkeit gleichermaßen in den Blick nimmt. Was sind die Baustellen? Was sind die offenen Fragen? JH: Das ist keine einfache Frage. Ich glaube, dass man die Grundkategorien so stehen lassen kann. Aber es fehlt noch sehr an historischen Konkretisierungen, nicht im Sinne von Beschreibungen, sondern Analysen, z. B. der konkreten Klassenstrukturen und Klassenbeziehungen, der sozialen Konflikte im Allgemeinen, oder dessen, was mit Internationalisierung der Staates bezeichnet wird. Das wären Forschungsnotwendigkeiten. Und es geht um strategische Fragen. Vor allem: Was heißt konkret „Staatskritik“? Dabei ist zu beachten, dass Staatstheorie zunächst einmal eine Bereichstheorie ist. Es ist nicht die Gesellschaftstheorie. Was zum Beispiel die Sozialisationsbedingungen oder die Bildungssysteme betrifft, ist nicht im eigentlichen Sinne Staatstheorie. Diese bleibt sicher notwendig. Es geht um eine umfassende kritische Gesellschaftstheorie und die ist derzeit in keinem guten Zustand. UB: Können wir gerade den Unterschied zwischen Staatstheorie und Gesellschaftstheorie noch einmal vertiefen? Also dieser Begriff vom Staat, ähnelt sehr stark dem von Gesellschaft. Wo ist denn die Differenz? JH: Ich habe vorhin schon einmal gesagt, dass Staatstheorie in eine Gesellschaftstheorie eingebettet sein muss, weil der Staat als Vergesellschaftungsform sehr zentral ist. Aber das ist nicht alles. Etwa weil man Psychoanalyse nicht der Staatstheorie subsumieren kann. Dasselbe gilt für die Kulturtheorie. Es geht um die Gesellschaft insgesamt prägenden Widersprüche. Die materialistische Theorie sagt zu Recht, dass es eine Trennung von Staat und Gesellschaft gibt. Aber der Analysehorizont geht über den Staat hinaus. Es gibt und gab Ansätze dazu, aber was die Frankfurter Schule bzw. die Kritische Theorie einmal gewollt hat, das ist nicht wieder eingeholt worden. UB: Die kritische Theorie der Frankfurter Schule hat dann, das ist zumindest die Ansicht vieler Rezipient_innen, eine Kulturalisierung eingeleitet, das fällt in der Rezeption auf. JH: Da hat sie einen Vorschub dazu geleistet: Themen wie Recht, Wirtschaft oder Staat wurden eher vernachlässigt. Man verhielt sich sozusagen einfach zu „philosophisch“. UB: Mit wieviel Recht eigentlich? JH: Eigentlich waren die Vertreter der alten Kritischen Theorie selbst zum Teil schon weiter, was die Tiefe der Fragestellung angeht. Es gab in gewisser Weise eine Engführung, aber das war ihnen auch bewusst. Man muss hier auch immer den gesellschaftlich-historischen Hintergrund sehen: Antisemitismus, Naziherrschaft, Fortschrittskritik. Man kann aber an diesem Punkt nicht stehen bleiben. UHB: Können sie einschätzen, ob das Institut für Sozialforschung oder auch der Frankfurter Fachbereich an diesen Fragen dran ist.

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J. Hirsch et al.

JH: Sie sind überhaupt nicht dran. Nein, der Fachbereich schon gar nicht und das Institut für Sozialforschung ist sehr stark auf diese Nach-Habermasianische Wende fokussiert, obwohl Habermas selbst das durchaus kritisch sieht. Ich würde vielleicht zusammenfassend in dieser Hinsicht das Folgende festhalten wollen: Emanzipation verlangt eine Politik „in“ und „gegen“ den Staat. Die Kämpfe auf der Ebene des Staates sind wichtig, weil sie die Bedingungen für emanzipative Prozesse beeinflussen. Aber diese müssen sich gegen den Staat, die bestehenden sozialen Formen richten und versuchen, diese aufzuheben. In Bezug auf die – ältere – Kritische Theorie gilt, dass es darauf ankäme, diese weiter zu entwickeln und dabei ihre Beschränkungen zu überwinden. Von zentraler Bedeutung scheint mir zu sein, dass kritisch-materialistische Staatstheorie in den aktuellen politischen Diskussionen nur noch eine recht geringe Rolle spielt. Linke Politik ist, auch bei den gesellschaftskritischen Bewegungen, in einem erstaunlichen Maße staatsförmig und staatszentriert geworden. Es wäre nützlich, sich wieder einmal stärker mit dem zu beschäftigen, was Marcuse mit dem Begriff der „Kulturrevolution“ gemeint hat, nämlich die radikalen Veränderungen im Alltag, in den Lebensweisen, den Konsumgewohnheiten, den Formen des politischen und sozialen Zusammenlebens. Im Gefolge der 68er Revolte und der neuen sozialen Bewegungen hatte sich da schon einiges entwickelt. Es wäre wichtig, daran anzuknüpfen und dabei auch zu überprüfen, weshalb vieles gescheitert ist.

Literatur Lessenich, S. (2009). Die Neuerfindung des Politischen. Bielefeld: transcript. Ruschig, U., & Schiller, H.-E. (Hrsg.). (2014). Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno. Baden-Baden: Nomos.

Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie Christian Ludwig

Zusammenfassung

Die Kritische Theorie ging lange Zeit davon aus, dass Gesellschaft als Totalität Ausgangspunkt jeglicher Gesellschaftsanalyse ist. Doch der von ihr favorisierte Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft steht in jüngeren Varianten zur Disposition. Der vorliegende Beitrag klärt, welche Bedeutung der Gesellschaftsbegriff in den verschiedenen Generationen der Kritischen Theorie hatte, wie er sich umformte und welche Bedeutung ihm derzeit zukommt. Es wird gezeigt wie die Transformation eines Paradigmas aufgrund notwendiger Veränderungen die Substanz der Kritischen Theorie gefährdet und die Überzeugung vertreten, dass eine Analyse der Gegenwartsgesellschaft ohne Anschluss an den Gesellschaftsbegriff nur eingeschränkte Ergebnisse erzielt. Schlüsselwörter

Gesellschaft · Kritische Theorie · Individuum · Gesellschaftskritik · Natur

1

Einleitung

Der Kritischen Theorie wird gegenwärtig neue Aufmerksamkeit entgegengebracht. Spätestens seit dem 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahr 2008 in Jena entwickelt sich ein neues Interesse an ihr. Das interdisziplinäre Arbeitsprogramm, philosophische, psychologische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen miteinander zu verbinden, kann „im Zeitalter neuer Unsicherheiten“, so der Titel, mit dem Hartmut Rosa ein Forum für Kritische Theorie auf dem Soziologiekongress in Jena einleitete, fruchtbare Erklärungsmöglichkeiten für den gesellschaftlichen Wandel zur Verfügung stellen (Rosa 2010, S. 703). C. Ludwig (*) Institut für Soziologie, FernUniversität in Hagen, Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_40

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C. Ludwig

Die Kritische Theorie entwickelt bereits in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein interdisziplinäres Forschungsprogramm (Ludwig 2006, S. 36). Sie verfolgt das Ziel, die jeweils aktuelle gesellschaftliche Lage in der Zusammenarbeit von Ökonomen, Philosophen, Psychologen, Soziologen u. a. grundlegend zu erforschen und die herangezogenen Begriffe historisch abzuleiten (siehe hierzu auch die Beiträge im Abschnitt 1.1 des Handbuchs). Grund für dieses Forschungsinteresse ist bei Max Horkheimer die Kritik an dem Unrecht und der Lage der Erniedrigten und Entrechteten (Wiggershaus 1993, S. 14). Von dieser Beschreibung ausgehend entwickelt sich das Paradigma Kritischer Theorie ausgesprochen differenziert. In diesem Beitrag wird ein weitgefasster Begriff Kritischer Theorie zu Grunde gelegt. Daher stehen nicht Brüche, Dissonanzen und Korrekturen im Fokus, sondern Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten. Das weite Verständnis des hier diskutierten Theorieparadigmas zeigt sich auch darin, dass Denker aus verschiedenen Generationen zu Wort kommen und nicht ausschließlich auf Theorieimplikationen und Forschungsinteressen der Gründergeneration Bezug genommen wird. Zwar wird die Theoriegeschichte der Kritischen Theorie nicht selten in Form eines Familienromans erzählt (kritisch hierzu u. a. Demirović 1999; Steinert 2007; vgl. zur Diskussion über Paradigmen in der Kritischen Theorie den Abschn. 1.3 im Handbuch), theoriekonzeptionell jedoch lässt sich ein derartiges Vorgehen angesichts der Fülle von Brüchen und Neuanfängen nicht rechtfertigen, weil es der Pluralität innerhalb der Kritischen Theorie nicht entspricht. Die hier vorgenommene Gliederung nach Generationen unterstreicht einerseits Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Entwicklungsphasen. Andererseits wird der Generationenbegriff als ein analytisches Differenzierungskriterium zur Abgrenzung der Grundüberzeugungen zwischen den Generationen genutzt. Dieses Vorgehen dient dazu, bei aller vorhandenen Unterschiedlichkeit im Theorieverständnis der einzelnen Generationen die bestehenden Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und auf neue Anschlussmöglichkeiten hinzuweisen. Die lösungsorientierte Arbeit an grundlegenden Begriffen stellt das Verbindungsglied zwischen den hier aufgeführten Autoren dar. Häufig werden drei Konzeptionsphasen1 zwischen der Gründungsphase und der Gegenwart zu unterschieden: Die ältere kritische Theorie (u. a. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse) favorisiert als Grundbegriffe Produktionsverhältnisse und Ideologiekritik, die mittlere kritische Theorie (u. a. Jürgen Habermas, Claus Offe und Oskar Negt) dagegen Kommunikationsstrukturen und Solidarität, die jüngere kritische Theorie (u. a. Axel Honneth, Rainer Forst und

1

Das Paradigma Kritischer Theorie hat eine ambivalente Geschichte. Damit die Hauptphasen voneinander abgegrenzt werden können, finden verschiedene Orientierungskriterien Verwendung. Neben der älteren, mittleren und jüngeren kritischen Theorie wird auch zwischen früher und später Theoriephase oder zwischen Gründern und jüngerer Generation unterschieden (Honneth 2007, S. 28; Ludwig 2013, Kap. 1.3; Wiggershaus 1993, S. 729).

Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie

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Hauke Brunkhorst) wiederum Anerkennungsformen und Rechtfertigungsverhältnisse.2 Bereits an dieser Aufzählung zeigt sich, dass zwischen den einzelnen Theoriephasen erhebliche Unterschiede bestehen. Eine Verbindung ist am ehesten über die Themenkreise Umsetzung einer gerechten Gesellschaft, Emanzipation und Vernunft herzustellen. Der begriffliche Schwerpunkt Kritischer Theorie hat sich über diese drei Konzeptionsphasen von der Gesellschaft immer weiter auf soziale Konflikte und identitätstheoretische Fragestellungen verschoben.3 Ausgelöst durch die Umstellung der Grundbegriffe kristallisiert sich das Problem heraus, gesellschaftliche Fragen vornehmlich auf der Ebene des Individuums und nicht mehr auf derjenigen der Gesellschaft zu bearbeiten (Honneth 2014, S. 57). Der in der älteren kritischen Theorie favorisierte Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft steht zur Disposition. Kritische Theorie ging lange Zeit davon aus, dass Gesellschaft als Totalität Ausgangspunkt jeglicher Gesellschaftsanalyse ist und Gesellschaft zudem den „Existenzgrund des Individuums“ darstellt (Ritsert 2009, S. 32; vgl. auch den Beitrag von Freytag im Handbuch). Der hier angedeutete Wandel Kritischer Theorie gibt Anlass, den Gesellschaftsbegriff in diesem Paradigma genauer zu untersuchen und zu klären, ob seine derzeitige Bedeutung zu begründen ist oder ob auf den Gesellschaftsbegriff sogar vollständig verzichtet werden kann. Die zentrale Frage dieses Beitrags lautet also: Ist der Gesellschaftsbegriff zur Analyse und Erklärung der gegenwärtigen Gesellschaft notwendig oder reicht es nicht aus, soziale Phänomene auf der institutionellen und individuellen Ebene zu untersuchen? Der vorliegende Beitrag klärt in diesem Zusammenhang, welche Bedeutung der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie hatte, wie sich dieser im Rahmen der Theorieentwicklung umgeformt hat und welche Bedeutung ihm derzeit zukommt. Anschließend ist zu erörtern, ob es verteidigungswürdige Argumente für eine stärkere Berücksichtigung des Gesellschaftsbegriffs gibt und worin gegebenenfalls der daraus zu ziehende Gewinn bestehen könnte. Hierzu wird erstens auf die Verflüssigung des Gesellschaftsbegriffs, zweitens auf seine aktuelle Bedeutung und drittens auf die Rückkehr zum Gesellschaftsbegriff eingegangen. Verflüssigung des Gesellschaftsbegriffs zeigt innerhalb der drei Theoriephasen Kritischer Theorie den voranschreitenden Bedeutungsrückgang des zentralen Grundbegriffs (2). Aktuelle Bedeutung des Gesellschaftsbegriffs geht auf dessen Implementierung und auf erhaltenswerte Grundüberzeugungen ein (3). Rückkehr zum Gesellschaftsbegriff diskutiert Grenzen und Möglichkeiten einer erneuten Berücksichtigung von Gesellschaft als zentrale Grundüberzeugung der älteren kritischen Theorie (4). Im vierten

2

Es kann in diesem Beitrag nur auf wenige Vertreter der drei Konzeptionsphasen Kritischer Theorie Bezug genommen werden. Eine genauere Übersicht kritischer Theoretiker geben für die ältere kritische Theorie Walter-Busch 2010 und Wiggershaus 1993; für die jüngere Theorieentwicklung Bittlingmayer et al. 2011 und Waschkuhn 2000. 3 Die jüngere kritische Theorie zeigt eine plurale Strukturierung mit differenten Grundbegriffen: neben Anerkennung und Gerechtigkeit treten mit Aktivierung, Beschleunigung, Landnahme, Rechtfertigung und Solidarität weitere theorieleitende Begriffe (Brunkhorst 2002; Dörre 2009; Forst 2011; Honneth 1994; Lessenich 2009; Rosa 2012).

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C. Ludwig

Kapitel werden die Positionen zum Gesellschaftsbegriff in zwei Teilen vorgestellt. Neben den bereits eingeführten Vertretern der jüngeren Generation wird in Abgrenzung dazu auf die Positionen Axel Demirovićs, Christoph Görgs und Heinz Steinerts eingegangen.

2

Verflüssigung des Gesellschaftsbegriffs

In der Zeit um die Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die noch vor den durch Josef Stalin angeordneten Massenmorden des ‚Großen Terrors‘ (1937/ 1938) in der Sowjetunion liegt, hat der Marxismus als Alternative zum bürgerlichdemokratischen Staatsverständnis seine Prägekraft noch nicht vollkommen eingebüßt. Dementsprechend wird die Arbeiterbewegung als mitentscheidendes Reformund Protestpotenzial angesehen. So entsteht, in Anlehnung an Hegel und Marx, die Kritische Theorie, die den Marxismus-Leninismus befreien und unter gleichzeitigem Rückgriff auf die empirische Sozialforschung weiterentwickeln will. Dieses Forschungsprogramm soll nach dem Vorhaben Horkheimers zu einer Gesellschaftstheorie erweitert werden, die im Rahmen sozialphilosophischer Fragestellungen sowie in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Sozialforschern eine veränderte ‚These über die Materie als Wirklichkeit‘4 entfaltet (Horkheimer 1980a/1933, S. 14). Diese Forschungsarbeit wird am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main Ende der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts aufgenommen. Erst mit der Institutsübernahme durch Horkheimer im Jahre 1931 erfolgt in mehreren Stufen die Theoriefokussierung zur Kritischen Theorie. Horkheimer beschreibt in der Vorlesung „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung“ die zukünftigen Aufgaben; diese bestehen insbesondere darin, den „Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn“ zu bearbeiten (Horkheimer 1988/1931, S. 32).

2.1

Gesellschaft in der älteren kritischen Theorie

In Anlehnung an Marx sieht Horkheimer die Vielfalt der Erscheinungsformen eines gesellschaftlichen Ganzen in der Tiefendimension der gesellschaftlichen Praxis verwurzelt. Letztere besteht in der historisch notwendigen, aber stets veränderlichen Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Natur. Vernunft wird als ein der Wirklichkeit prinzipiell innewohnendes Prinzip betrachtet, das erforderlich ist, um den Freiheitsgewinn der Aufklärung einzulösen. Nur wenn dieses Ziel im Sinne 4

Die Bedeutung des Materialismus in Horkheimers Verständnis Kritischer Theorie arbeitet Alfred Schmidt überzeugend heraus: „Die sozialen Tatsachen erscheinen deshalb sogleich im Licht der materialistischen Frage, ob sie geeignet sind, menschliches Glück zu befördern“ (Schmidt 1976, S. 85).

Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie

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eines kritischen Verhaltens umgesetzt wird, kann die Geschichte freier Individuen in der sozialen Realität verwirklicht werden (Horkheimer 1997/1947, S. 142 f.). Der Gesellschaftsbegriff bei Horkheimer bezieht sich mithin ‚auf das Ganze‘ und lässt sich nicht auf Teilaspekte begrenzen. Grundlage für dieses Verständnis ist die Überzeugung, dass sich die Gesellschaft zur Zeit der Theoriegründung über Tauschverhältnisse und eine kapitalistische Klassenstruktur beschreiben lässt. Darüber hinaus versteht die ältere kritische Theorie ihre Gegenwartsgesellschaft als formbar und veränderbar (Horkheimer 1995/1937, S. 259). Wenige Jahre später wird diese positive Gesellschaftsbeschreibung nicht weiter aufrechterhalten. Als Begründung lassen sich die Wirkungen des Faschismus und Stalinismus sowie die Erfahrungen des amerikanischen Monopol- und Kriegskapitalismus anführen, die pessimistischeren Gesellschaftsdeutungen zunehmend Raum geben (Horkheimer und Adorno 1998/1944, S. 259). Theodor W. Adorno wendet sich als zweiter Vertreter der älteren kritischen Theorie in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts explizit dem Gesellschaftsbegriff zu. In den ‚Soziologischen Exkursen‘ wird die Ausgangsposition der Kritischen Theorie zur Gesellschaft bestimmt. „Mit Gesellschaft im prägnanten Sinn meint man eine Art Gefüge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen; in dem das Ganze sich erhält nur durch die Einheit der von sämtlichen Mitgliedern erfüllten Funktionen, und in dem jedem Einzelnen grundsätzlich eine solche Funktion zufällt, während zugleich jeder Einzelne durch seine Zugehörigkeit zu dem totalen Gefüge in weitem Maße bestimmt wird“ (Institut für Sozialforschung 1991/1956, S. 22).

Dem Gesellschaftsbegriff wird von der älteren kritischen Theorie eine hohe Bedeutung beigemessen: Die Gesellschaft bestimmt das Individuum und das Individuum übt Einfluss auf die Gesellschaft aus. Bereits in dieser allgemeinen Beschreibung von Gesellschaft sind Individuum und Gesellschaft miteinander verbunden und es wird darauf hingewiesen, dass das Individuum ohne die Gesellschaft nicht existieren könne.5 Ausgehend von dieser Begriffsbestimmung analysiert Adorno u. a. die Grundlagen der Soziologie, die seiner Auffassung nach unmittelbar mit der Verwendung des Begriffs Gesellschaft in Zusammenhang stehen. „Das, was Gesellschaft eigentlich zu einem Gesellschaftlichen macht, wodurch sie im spezifischen Sinn sowohl begrifflich konstituiert wird, wie auch real konstituiert wird, das ist das Tauschverhältnis, das virtuell alle Menschen, die an diesem Begriff von Gesellschaft teilhaben, zusammenschließt, und das in einem gewissen Sinn auch die Voraussetzung der nachkapitalistischen Gesellschaften, wenn ich es einmal so vorsichtig jetzt ausdrücken soll, darstellt, in denen ja sicher nicht davon die Rede sein kann, daß nicht mehr getauscht würde“ (Adorno 2012/1993, S. 57).

5

Individuum und Gesellschaft werden von der älteren kritischen Theorie begrifflich verwendet, um auf eine wichtige Form gesellschaftlicher Arbeitsweise und auf deren zeitbezogene Bedeutung hinzuweisen. Weiterhin werden Individuum und Gesellschaft mit Natur verbunden, um die historische Dynamik in den Blick zu nehmen. „Die Naturverfallenheit der Menschen heute ist vom gesellschaftlichen Fortschritt nicht abzulösen“ (Horkheimer und Adorno 1998/1944, S. 4).

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C. Ludwig

Hier zeigt sich, dass Adorno den Gesellschaftsbegriff mit dem Tauschverhältnis6 in einen unmittelbaren Zusammenhang bringt. Grundsätzlich ist zu beachten, dass der Begriff der Gesellschaft bei Adorno dialektisch verstanden wird: Er darf weder ausschließlich auf das Individuum noch auf die Gesellschaft bezogen werden, sondern bewegt sich dynamisch zwischen beiden Begriffen und bildet eine gemeinsame Klammer.7 Herbert Marcuse, als dritter Vertreter der älteren kritischen Theorie, schreibt dem Gesellschaftsbegriff ebenfalls eine hohe Bedeutung zu. „Die Kategorie ‚Gesellschaft‘ selbst drückt den akuten Konflikt zwischen der sozialen und politischen Sphäre aus – die Gesellschaft als antagonistisch gegenüber dem Staat. Entsprechend bezeichneten Begriffe wie ‚Individuum‘, ‚Klasse‘, ‚privat‘, ‚Familie‘, ‚Sphären‘ und ‚Kräfte‘, die in die etablierten Verhältnisse noch nicht integriert waren – Sphären von Spannung und Widerspruch“ (Marcuse 1998/1964, S. 16).

Marcuse geht von einer weitgehenden Instrumentalisierung der Dinge aus, die insbesondere die Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen erkennbar begrenzen. Darüber hinaus ist er überzeugt, dass die durchaus vorhandenen Ideale des Bürgertums nur im Geiste verwirklicht werden. Marcuses Verständnis Kritischer Theorie wendet sich der Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft und der Kritik am kulturellen System zu. Innerhalb des ersten Themengebiets geht er in den 1960er-Jahren davon aus, dass die damalige Industriegesellschaft eine Gesellschaft ohne Opposition darstellt. Darin zeigt sich seine kritische Sozialphilosophie, die auch weiterhin an der Unterscheidung des wahren und falschen Bewusstseins festhält. Marcuse bleibt skeptisch, ob es gelingen kann, einen Weg aus der versklavenden Zufriedenheit zu finden.

2.2

Gesellschaft in der mittleren kritischen Theorie

Als Hauptvertreter der mittleren kritischen Theorie beabsichtigt Jürgen Habermas, die negative Geschichtsphilosophie8 der älteren kritischen Theorie hinter sich zu lassen und mit der Ausarbeitung der Kommunikationsstrukturen

6

In seiner Interpretation des Tauschverhältnisses bezieht sich Adorno auf die grundlegenden Vorarbeiten von Marx zur Wertform einer Ware (Marx 1968/1867, S. 74 f.). 7 Darüber hinaus ist Dialektik bei Adorno „in eins Abdruck des universalen Verblendungszusammenhangs und dessen Kritik“ (1997b/1970, S. 397). Darunter sind widersprüchliche Einflüsse der kapitalistischen Moderne zu verstehen, die einerseits dem Individuum einzelne Teilfreiheiten zusprechen, andererseits aber die Verwirklichung einer umfassenden Freiheit unerfüllt lassen. Zum Themenfeld der Dialektik vgl. die Beiträge von Demirović und Holzer im Handbuch. 8 Für Horkheimer und Adorno spiegelt sich Habermas zufolge im Prozess der Aufklärung eine geradezu negative Rationalitätsentwicklung, welche Erklärungsansätze für die Entwicklung des Nationalsozialismus und andere Erscheinungen moderner Gesellschaften liefert (Habermas 1988, S. 145).

Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie

803

(Sprache, Geltungsansprüche und Diskurs) einen positiven Zugang zur Gesellschaft zu gewinnen (Ludwig 2006, S. 60). Habermasʼ Konzeption bezieht sich auf einen Gesellschaftsbegriff, der sowohl ein durch Konflikte geprägtes Gemeinwesen konstatiert und zugleich eine solidarische Gesellschaft für möglich hält. Innerhalb der Gesellschaft ist es demnach notwendig, dass vorhandene Institutionen sich zu ihrer eigenen Absicherung in Diskursen immer wieder neu legitimieren. Habermas geht im Rahmen seiner Zeitdiagnose von einer konflikthaften Gesellschaftsentwicklung aus. Gesellschaft besteht in der Moderne aus System und Lebenswelt (siehe hierzu auch den Beitrag von Scherr im Handbuch). „Wenn man diesen Trend der Entkoppelung von System und Lebenswelt auf der Ebene einer systematischen Geschichte der Verständigungsformen abbildet, verrät sich die unaufhaltsame Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses: die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht eine Steigerung der Systemkomplexität, die so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimperative die Fassungskraft der Lebenswelt, die von ihnen instrumentalisiert wird, sprengen“ (Habermas 1987, S. 232 f.).

An dieser Stelle zeigt sich Habermasʼ ambivalente Deutung der Gesellschaftsentwicklung. Er sieht die rechtsstaatliche Verfasstheit der demokratischen Gesellschaft, erkennt aber ebenso, wie die Lebenswelt durch systemische Zwänge der materiellen Reproduktion unter Druck gerät (Habermas 1987, S. 483; vgl. zur Verrechtlichung bei Habermas den Beitrag von Loick im Handbuch). Eine wichtige Voraussetzung für eine neue Gesellschaftstheorie, die sich sowohl kritisch verhalten als auch für Selbstkritik offen bleiben will, besteht nach Habermas darin, die eigene Kritikfähigkeit lebendig zu erhalten und sich gegen ein vereinnahmendes Vorverständnis der gesellschaftlichen Umwelt zur Wehr zu setzen. Für die Wissenschaft ergibt sich daraus die folgende Konsequenz: sie muss sich mit der kulturellen Überlieferung, der sozialen Integration und der Vergesellschaftung der Individuen befassen. Eine zweite der mittleren kritischen Theorie zugehörige Position bildet das Werk von Claus Offe. Er leistet einen Beitrag zur politischen Soziologie und geht ebenfalls von einem ambivalenten Gesellschaftsbegriff aus. Offe befasst sich mit gesellschaftlichen Krisen und den Steuerungsproblemen von kapitalistischen Gesellschaften. „Gesellschaftliche Prozesse vollziehen sich in dem politischen System spätkapitalistischer Gesellschaften nahezu ausnahmslos nicht jenseits der politischen Handlungssphäre, sondern sie sind durch politische Dauerintervention reguliert und getragen“ (Offe 2003, S. 17, Herv. im Org.). Offe wendet sich den Strukturproblemen des kapitalistischen Staates zu und geht auf bestehende Defizite in der erfolgreichen Durchsetzung des sozialen Wandels ein. Der Staat nämlich erfüllt zwei miteinander verknüpfte Funktionen, die sich als Verbindung von Intervention und Interventionsverzicht darstellen lassen. Folgeprobleme entstehen darüber hinaus auch aus einer Kopplung von Planung und Freiheit. Das ausdifferenzierte politischadministrative System benötigt nach Auffassung von Offe zur eigenen

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C. Ludwig

Absicherung eine pauschale Legitimationsbasis, die jedoch immer schwerer herzustellen ist (Offe 2006/1972, S. 184).9 Oskar Negt, als dritter Vertreter der mittleren kritischen Theorie, misst dem Gesellschaftsbegriff eine ähnlich hohe Bedeutung bei wie die ältere kritische Theorie. Zwar gehört er biografisch zur mittleren kritischen Theorie, konzeptionell jedoch steht er der älteren kritischen Theorie näher. „Nur wer sich einen Begriff von dieser Gesellschaft macht, wer die Mühe auf sich nimmt, den Prinzipien des Zusammenhalts dieser nach wie vor vom Kapital und von der betriebswirtschaftlichen Zeitökonomie definierten Produktionsordnung auf die Spur zu kommen, wird auch vom sogenannten Wertewandel, von den Desintegrationstendenzen und Erosionen etwas verstehen. Der Grundskandal dieser Gesellschaft [. . .] besteht darin, daß diese Gesellschaft an ihrem Reichtum und ihren Überschußprodukten zu ersticken droht und gleichwohl außerstande ist, Millionen von Menschen das zivilisatorische Minimum für eine menschliche Existenzweise zu sichern: nämlich einen Arbeitsplatz [. . .]“ (Negt 1995, S. 51).

Negt befasst sich mit Arbeit, Gemeinwesen und Utopie. Er geht davon aus, dass das Individuum durch Ökonomie bestimmt und gesteuert wird (Negt 1995, S. 386). Aus diesem Grund ist Negt bestrebt, den Zusammenhang von Arbeit und menschlicher Würde neu zu begründen. Er ist davon überzeugt, dass der Ökonomie und dem Kapital Grenzen gesetzt sind und eine alternative Ökonomie entwickelt werden muss. Negts Gesellschaftsbegriff geht vom Ganzen der Gesellschaft aus und beschreibt einen „qualitative[n] Sprung in eine neue Gesellschaft“ hinein (Negt 1984, S. 36). An dieser Stelle zeigt sich eine erste Verflüssigung des Gesellschaftsbegriffs.10 Im Gegensatz zur älteren kritischen Theorie wird in der mittleren kritischen Theorie der Gesellschaftsbegriff positiv aufgeladen, gleichzeitig jedoch mit einem Rückzug von der Gesellschaft als Totalität11 ‚erkauft‘. Kommunikationsstrukturen, gesellschaftspolitische Organisationsstrukturen oder menschliche Würde bilden hier die Basis der Kritischen Theorie. Diese Konzepte sind bei aller Unterschiedlichkeit ihrer inhaltlichen Begründung aneinander anschlussfähig und bevorzugen einen ambivalenten Gesellschaftsbegriff.

9

Die von Offe aufgeworfenen Fragen zu den Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus erfahren aktuell eine erneute Aufmerksamkeit. Wolfgang Streeck diskutiert in den Adorno-Vorlesungen zum Thema „Gekaufte Zeit“ die Krise des demokratischen Kapitalismus und analysiert Folgewirkungen für den Rechtsstaat und die Demokratie (Streeck 2013). Vgl. zu Offes Theorie des Spätkapitalismus und ihrer Aktualität auch den Beitrag von Lessenich im Handbuch. 10 Wie differenziert die einzelnen Entwicklungsphasen Kritischer Theorie zu betrachten sind und wie unterschiedlich sich selbst innerhalb einer Generation die einzelnen Positionen bestimmen lassen, zeigt sich auch an der Konzeption Negts. Auf ihn trifft die konstatierte Verflüssigung des Gesellschaftsbegriffs nicht zu. Negt hält am Gesellschaftsbegriff in der Diktion von Adorno fest und bildet damit eine wichtige, aber eben nicht stilbildende Nebenvariante Kritischer Theorie. 11 ‚Gesellschaft als Ganzes‘ oder ‚gesellschaftliche Totalität‘ sind Begriffe der älteren kritischen Theorie, in denen auf das dialektische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verwiesen wird. Vgl. zum Begriff der Totalität ausführlich Freytag im Handbuch.

Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie

2.3

805

Gesellschaft in der jüngeren kritischen Theorie

Hauptvertreter der jüngeren kritischen Theorie ist Axel Honneth, der an Habermasʼ Kommunikationstheorie anknüpft, sich aber in erster Linie für identitätstheoretische Fragen und moralische Empfindungen sozialen Unrechts interessiert. Die von Honneth ausgearbeitete Anerkennungstheorie befasst sich mit der anthropologischen Fundierung der Gesellschaftstheorie. Ihr zu Folge sind diejenigen Identitätsansprüche zu untersuchen, die zur sozialen Reproduktion der gesamten menschlichen Gattung einen Beitrag leisten. „Ein anerkennungstheoretisches Konzept der Sittlichkeit geht von der Prämisse aus, daß die soziale Integration eines politischen Gemeinwesens nur in dem Maße uneingeschränkt gelingen kann, wie ihr von seiten der Gesellschaftsmitglieder kulturelle Gewohnheiten entgegenkommen, die mit der Art ihres wechselseitigen Umgangs zu tun haben; [. . .] der Begriff der ‚Anerkennung‘ stellt dafür ein besonders gut geeignetes Mittel dar, weil er Formen der sozialen Interaktion im Hinblick auf die in ihr enthaltenen Muster der Achtung für die andere Person systematisch voneinander unterscheidbar macht“ (Honneth 1994, S. 98).

In dieser Interpretation der Anerkennungsbeziehungen durch Honneth zeigt sich sehr deutlich, dass der Zwang zur Reproduktion im Umkehrschluss die Voraussetzung der Anerkennung mitliefert. Die Menschen sind also an einen Prozess der Individuierung und an die Erweiterung der wechselseitigen Anerkennung gebunden. Rainer Forst ist der zweite Vertreter der jüngeren kritischen Theorie, der dem Gesellschaftsbegriff eine vermittelnde Bedeutung zwischen Individuum und Institution beimisst. „Für eine kritische Theorie der Gerechtigkeit liegen diese sozialen Verhältnisse keineswegs ‚jenseits‘ der Rechtfertigung, und ihre Kritik richtet sich gegen all die Institutionen, Regeln oder Praktiken, von denen fälschlicherweise entweder gesagt wird, dass sie gerechtfertigt sind, oder dass sie nicht rechtsfertigungsbedürftig, z. B. naturhaft oder unveränderbar, sind. In beiden Fällen ist eine ideologiekritische Betrachtung vonnöten“ (Forst 2007, S. 368).

Forst geht es um die grundsätzlich zu rechtfertigenden Beziehungen zwischen Individuen und sowie um die demokratische Institutionalisierung für die Individuen. Das Ziel der Gerechtigkeit besteht auch darin, den Bürgern eine wirkliche Option zur Verfügung zu stellen, damit sie ihr gemeinsames Leben politisch selbst gestalten können. Der hier vorgestellte Gesellschaftsbegriff zeigt eine prozedurale und positive Position, die sich stärker auf Habermas und teilweise auf Honneth bezieht. Hauke Brunkhorst ist der dritte Vertreter der jüngeren kritischen Theorie. Im Arbeitsfeld der politischen Soziologie setzt er sich für die Ausarbeitung eines modernen Politikbegriff und eines Ansatzes zur distributiven Gerechtigkeit sowie für Solidarität innerhalb der Weltgesellschaft ein. Für Brunkhorst ist das Prinzip der Volkssouveränität an die Verwirklichung der distributiven Gerechtigkeit gebunden (Brunkhorst 1994, S. 180 f.). Er plädiert für die Herstellung gleicher Teilnahmevoraussetzungen bei Gesetzgebungsverfahren. Nur unter diesen Voraussetzungen lässt sich die politisch egalitäre Massendemokratie rechtfertigen und aufrechterhalten.

806

C. Ludwig

„Ohne Input-Demokratie, und das heißt: ohne politische Inklusion der jeweils betroffenen Bevölkerung durch eine Öffentlichkeit, die sich Gehör verschaffen kann, [. . .] schlägt das Kapitalinteresse weltweit ungebremst durch und reduziert die schwache Öffentlichkeit der globalen und lokalen Zivilgesellschaften [. . .]“ (Brunkhorst 2001, S. 621).

Brunkhorsts ambivalenter Gesellschaftsbegriff orientiert sich an sozialer Ungleichheit und jeglichen Formen von Exklusion. Im Gegensatz zu Honneth ist bei ihm ein „Kampf gegen die Ungleichheit mit der Anerkennung der Verschiedenheit“ zu erkennen, der die gesamtgesellschaftliche Ebene unter einer weltgesellschaftlichen Prämisse bearbeitet (Brunkhorst 2008, S. 4). An dieser Stelle ist ein zweiter Vorgang der Verflüssigung des Gesellschaftsbegriffs festzustellen.12 In der jüngeren kritischen Theorie wird dem Gesellschaftsbegriff der älteren kritischen Theorie noch weniger Beachtung geschenkt als in der mittleren kritischen Theorie. Er hat sein Erklärungs- und Deutungspotenzial weitgehend aufgebraucht. Sind in der mittleren kritischen Theorie institutionelle und teilweise gesellschaftliche Probleme noch von Bedeutung, entfernt sich die dritte Phase13 noch etwas weiter davon und bearbeitet im Wesentlichen identitätstheoretische oder gerechtigkeitsrelevante Fragestellungen. Die Verflüssigung des Gesellschaftsbegriffs zeigt sich in der Weiterentwicklung Kritischer Theorie sehr deutlich. Zwar bleiben alle Theoriephasen der Grundfragestellung Kritischer Theorie14 verpflichtet, aber die Hypothesen und weitere Kennzeichen der älteren kritischen Theorie werden durch neue Überzeugungen ersetzt. Bei aller Verschiedenheit dieser Ansätze zeigt sich eine Umorientierung im Verständnis von Gesellschaft: An Stelle von Fragen nach der Gesellschaft ‚als Ganzes‘ werden zunehmend Phänomene von Sprache, Sozialstruktur, Gerechtigkeit oder Identität bearbeitet.

12

Wie facettenreich einzelne Positionen innerhalb einer Theoriephase sind, zeigt sich am Beispiel Brunkhorst. Dieser Vertreter Kritischer Theorie gehört biografisch zur jüngeren kritischen Theorie, kann aber konzeptionell nicht eindeutig zugeordnet werden. Er verwendet Theoriebausteine der älteren und mittleren kritischen Theorie und formt daraus ein eigenes Theorieverständnis. Aus diesem Grund trifft auf ihn die Verflüssigung des Gesellschaftsbegriffs nur sehr abgeschwächt zu. 13 Um das Gesamtverständnis Kritischer Theorie nicht noch unübersichtlicher zu machen wurde hier eine Reduktion auf viel rezipierte Autoren vorgenommen. Die vorgelegte Beschreibung zur dritten Phase Kritischer Theorie beschränkt sich auf diejenigen Autoren, die an Habermas anschließen. Darüber hinaus sind u. a. mit Kurt Lenk, Jürgen Ritsert und Gerhard Schweppenhäuser weitere Konzeptionen vorhanden, die sich eher der älteren kritischen Theorie verpflichtet fühlen (Lenk 2009; Ritsert 2000; Schweppenhäuser 2014). 14 Die Grundüberzeugung Kritischer Theorie besteht in der Erforschung der Gegenwartsgesellschaft mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden. Unterhalb dieser Voraussetzung ist an der „Reflexionsform einer geschichtlich wirksamen Vernunft“ am „normative[n] Motiv eines vernünftigen Allgemeinen“ und an der „sozialen Pathologie der Vernunft“ konzeptionell festzuhalten (Honneth 2007, S. 56).

Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie

3

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Bedeutung des Gesellschaftsbegriffs

Der Begriff der Gesellschaft bezeichnet, analytisch betrachtet, sowohl funktional als auch material etwas vollständig Selbstverständliches. Schon immer lebten Menschen in Gemeinschaften, in denen sie durch aufeinander abgestimmtes Handeln Institutionen generierten. Institutionen wiederum entwickeln sich aufgrund spezifischer Tätigkeiten (u. a. Produktion, Handel und Siedlungswesen) ab einem bestimmten Zeitpunkt und über eine längere Zeitspanne hinweg zu Gesellschaften (Steinert 2007, S. 176). Hartmut Esser bestimmt mittels einer allgemeinen Definition den Begriff der Gesellschaft und verweist auf dessen Reichweite: „Gesellschaft als der weiteste institutionelle Rahmen autarker Produktion und Reproduktion bedeutet also, daß es außerhalb einer Gesellschaft keinen weiteren sozialen Kontext gibt“ (Esser 1996, S. 324, Herv. im Org.). Die hier vorgenommene Begriffsbestimmung lässt trotz ihres allgemeinen Charakters sowohl Eindeutigkeit, begriffliche Klarheit als auch weitgehende Akzeptanz erhoffen. Diese Erwartung erweist sich bei einer eingehenderen Beschäftigung mit dem Gesellschaftsbegriff als unzutreffend. „Das Bürgertum hatte sich des Begriffs eines gesellschaftlichen Ganzen entledigt; jenes war so irrational geworden, daß es bereit war, beim Verfolgen seiner Interessen sogar seine Selbstzerstörung in Kauf zu nehmen und dabei alle anderen gesellschaftlichen Gruppen mit sich in den Untergrund zu reißen. Rationalität und Gesellschaft hatten ihren kollektiv verbindlichen Sinn in den alltäglichen Verstehens- und Deutungspraktiken der Individuen verloren“ (Demirović 1999, S. 264).

Das Interesse an der Gesellschaft als Ganzes wird bereits in der Nachkriegszeit weitgehend preisgegeben. Im Fach Soziologie lässt sich diese Veränderung gut nachzeichnen. Mit der Etablierung des Studiengangs Sozialwissenschaften wird der Fokus vom Grundbegriff der Gesellschaft auf aktuelle empirische Forschungsmethoden gelegt. Die Bemühungen der Soziologie, als eigenständige Wissenschaft anerkannt zu werden, führen zu weitgehend fest vereinbarten Methoden und Inhalten des Fachs.15 Damit wird die Vorstellung der Gesellschaft als Totalität nicht weiter verfolgt, im Vordergrund stehen jetzt die ‚wirklichen‘ Lebenszusammenhänge von Menschen. Mit Totalität wird hier auf einen dialektischen Begriff Bezug genommen, der sowohl Gesellschaft als Ganzes als auch in Bezug auf Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck bringt (vgl. hierzu auch das Interview mit Ritsert sowie den Beitrag von Freytag im Handbuch). „Entweder die Totalität kommt zu sich selber, indem sie sich versöhnt, also durch den Austrag ihrer Widersprüche die eigene Widersprüchlichkeit wegschafft, und hört auf, Totalität zu sein, oder das alte Unwahre dauert fort bis zur Katastrophe. Das Ganze der Gesellschaft, als ein Widersprüchliches, treibt über sich hinaus“ (Adorno 1997a/1970, S. 317).

15

Die Auseinandersetzungen innerhalb der westdeutschen Soziologie der Nachkriegszeit zur eigenen theoretischen und methodischen Positionierung arbeitet Alex Demirović sehr präzise heraus (Demirović 1999, S. 276 ff.).

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Die Umsetzung dieses Problemzusammenhangs musste die Kritische Theorie alleine durchführen; die Soziologie hat dieser Fragestellung keine zentrale Bedeutung beigemessen und sie in Folge dessen weitgehend vernachlässigt. Adorno und Horkheimer stellen sich jetzt der Aufgabe, die gesellschaftliche Totalität weiter zu untersuchen. Für Adorno geht es in diese Frage um den dialektischen Kern einer Theorie der Gesellschaft, welcher sich unmittelbar im Tauschverhältnis ausdrückt und in dem alle Individuen einer Gesellschaft zusammengeschlossen sind. Adorno geht davon aus, dass es kein Faktum in der Gesellschaft gibt, das nicht wiederum durch Gesellschaft bestimmt wird. Zugleich aber ist es nicht einfach, den Begriff der Gesellschaft umfassend und präzise zu bestimmen und einzuordnen. Aus diesem Grund kann für Adorno nur derjenige, der in einer Gesellschaft lebt und an ihr aktiv teilnimmt, Kenntnis davon haben, was Gesellschaft ist. Die Tauschverhältnisse in der Gesellschaft bewirken, dass jedes Individuum in die Herrschaft über ein anderes Individuum hineingezogen wird. Daraus folgt, dass der totale Zusammenhang der Ökonomie zu einer Subjektivierung des Profitmotivs führt, indem der Warenaustausch sich bis in die zwischenmenschlichen Strukturen fortsetzt. Dies bedeutet aber auch, dass jedes Individuum umfassend vom gesellschaftlichen Ganzen bestimmt ist (Adorno 1997c/1965, S. 14). Weiterhin ist in diesem Zusammenhang auf die bestehenden Antagonismen der Gesellschaft hinzuweisen: „Die Gesellschaft erhält sich nicht trotz ihres Antagonismus am Leben sondern durch ihn; [. . .]“ (Adorno 1997b/1970, S. 314). Für Adorno sind die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft durch die ökonomischen Verhältnisse von Produktion und Reproduktion bedingt. Sie sind weder Randphänomene noch für die Individuen immer klar erkennbar. Eine besondere Bedeutung kommt im Rahmen einer Diskussion des Gesellschaftsbegriffs in der Kritischen Theorie dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu. Um auf diese Verhältnisbestimmung näher einzugehen, wird zunächst der Begriff der ‚verwalteten Welt‘ erläutert.16 Diese negative Begriffsbestimmung verbindet die Abhängigkeit von Kultur und Leben mit der Umsetzung ökonomischer Interessen (Adorno 1997e/1956, S. 25). Jeder Tätigkeit des Individuums kommt nur aufgrund der Umsetzung bestimmter Profitziele eine Bedeutung zu, wodurch Freiheit und Spontanität erheblich eingeschränkt werden: „Sie gelten dem, was der Musik in der verwalteten Welt widerfährt, unter Bedingungen planender, organisierter Erfassung, die der künstlerischen Freiheit und Spontaneität die gesellschaftliche Basis entziehen“ (Adorno 1997e/1956, S. 9). Adorno prognostiziert für das Individuum und die Gesellschaft problematische Perspektiven. Das Individuum kann sich zwar nur in der Gesellschaft vereinzeln, nutzt aber die in einer Tauschgesellschaft vorhandenen Möglichkeiten, um eigene Interessen durchzusetzen und sich am Markt zu behaupten. Dadurch, dass das Individuum sich nicht mehr an der Der Begriff der ‚verwalteten Welt‘ hat in der älteren kritischen Theorie unterschiedliche Konnotationen. Die Orientierung an der Effektivität und rationellen Steuerung bestehender Verhältnisse beinhaltet die Abhängigkeit von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Eine Folge davon ist, dass sich eine Verdinglichung des Individuums bis hinein in die letzten Reservate des Privatlebens vollzieht (Horkheimer und Adorno 1998/1944, S. 135). 16

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Gesellschaft orientiert, sondern eigene Ziele verfolgt, leistet es einen Beitrag zur Erschütterung der bürgerlichen Gesellschaft. Des Weiteren geht Adorno als Präzisierung des Gesellschaftsbegriffs von einer besonderen Dynamik aus. „Die Totalität, in der wir leben und die wir auf jeden Schritt und in jeder unserer sozialen Handlungen fühlen können, die ist nicht bedingt durch ein solches unmittelbares, uns alle umgreifendes Miteinander, sondern sie ist gerade bedingt dadurch, daß wir, wie es durch das abstrakte Tauschverhältnis geschieht, wesentlich voneinander getrennt sind“ (Adorno 2012/ 1993, S. 77).

Totalität beschreibt kein solidarisches Handeln in der Gesamtgesellschaft, sondern bezeichnet die in der Tauschgesellschaft vorhandenen antagonistischen Interessen der Individuen. Nach Adornos Interpretation zeigen sich bereits an dieser Stelle Anzeichen einer Entfremdung der Individuen. Diese verfolgen gemeinsame Ziele nicht weiter, sondern orientieren sich in erster Linie an Profit und eigenem Vorteil (Adorno 1997d/1977, S. 589 ff.). Auch Horkheimer teilt im Wesentlichen die hier vorgestellte negative Bestimmung des Gesellschaftsbegriffs. Für ihn fallen in der Menschheitsgeschichte Individuum und Gesellschaft auseinander und lassen sich auch nicht mehr zusammenführen. „Society slipped away from individuals and individuals from society“ (Horkheimer 1980b/1941, S. 303). Horkheimers und Adornos Gesellschaftsbegriff vermittelt eine negative Perspektive gesellschaftlicher Entwicklung. Die Erfahrungen des Zivilisationsbruchs haben auch Horkheimers Erwartungen an einen positiven gesellschaftlichen Wandel grundsätzlich zunichte gemacht. „Weil die moderne Gesellschaft eine Totalität ist, beeinträchtigt der Niedergang der Individualität die niederen ebenso wie die höheren sozialen Gruppen, den Arbeiter nicht weniger als den Geschäftsmann“ (Horkheimer 1997/1947, S. 137). Eine positive Menschheitsgeschichte könnte sich für Horkheimer dann entwickeln, wenn die Anwendung des unabhängigen Denkens in der Gesellschaft erprobt und angewendet wird. Marcuse hat dem Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie durch zugespitzte Formulierungen und eigenständige Theoriearbeit einen neuen Impuls gegeben. Er knüpft an Horkheimers Geschichtsphilosophie an, geht aber einen eigenen Weg, indem er Ideologien auf ihren utopischen Gehalt untersucht. Sein Interesse ist aufzuzeigen, in welcher Form der Widerspruch zwischen fortschrittlichem Bewusstsein und negativer Wirklichkeit aufrechterhalten wird (Marcuse 1969, S. 188 f.). Auch Marcuses Gesellschaftsbegriff ist von negativen Begründungsformen keineswegs frei. „In der voll entwickelten bürgerlichen Gesellschaft verdrängt der Marktwert den Wert individueller Schöpferkraft. Wenn diese dazu dient, jenen zu erhöhen, ist es mehr der Markt, der sich durchsetzt, als das Individuum“ (Marcuse 1969, S. 170). Marcuse sieht hier die Freiheit des Individuums vom zunehmenden Einfluss der Ökonomie bedroht. Für ihn vergrößert die Autonomie des Individuums unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht die Chancen auf eine freie Gesellschaft, sondern reduziert diese nachweislich.

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Rückkehr zum Gesellschaftsbegriff

Die Positionen von Rainer Forst, Jürgen Habermas und Axel Honneth verbinden Gemeinsamkeiten und Differenzen sowie eine unterschiedliche Distanz zum Gesellschaftsbegriff. Forsts Interessen sind auf die Ausarbeitung einer sozialen Gerechtigkeits- und Rechtfertigungstheorie gerichtet. Er knüpft im Rahmen seiner Konzeption an Habermasʼ Werk an und gibt dessen Standpunkt eine weiterführende Richtung. Forst geht vom Grundsatz einer reziproken und allgemeinen Rechtfertigung innerhalb einer komplexen Gesellschaft aus. Sein besonderes Anliegen besteht darin, einen zu rechtfertigenden Legitimationsrahmen zu bestimmen, der für eine demokratische und gerechte Gesellschaft angemessen ist. „Das Prinzip der Rechtfertigung ist zugleich ein Prinzip der Autonomie und der Kritik. Die Theorie macht dies selbst zu ihrer Grundlage, das heißt, sie konstruiert nicht über die Köpfe hinweg eine normative Ordnung, sondern versucht, diese selbst als konstruktive Hervorbringung zu denken – und stößt damit auf die Phänomene, die das verhindern. Damit wird sie zu einer kritischen Theorie, die die alte Frage aufnimmt, weshalb eine moderne Gesellschaft nicht dazu in der Lage ist, rationale Formen der gesellschaftlichen Ordnung hervorzubringen“ (Forst 2011, S. 18).

Forsts Verständnis des Gesellschaftsbegriffs ist wiederum näher an Adornos Deutung von Gesellschaft. Gerechtigkeit und Rechtfertigung werden hier als Prinzipien verstanden, um die Voraussetzungen für rationale Formen der gesellschaftlichen Ordnung zu bestimmen. Die Verwirklichung der Grundstruktur der Gerechtigkeit stellt für Forst den einzig gangbaren Weg zu einer Partizipation von Bürgern an Institutionen und Staaten dar (Forst 1996, S. 436 f.). Nur auf diesem Weg können die Autonomie des Individuums und die demokratische Selbstbestimmung ermöglicht werden. Habermas schließt an die Grundfragestellung der älteren kritischen Theorie an, verfolgt darüber hinaus aber einen ganz eigenständigen Weg der Theoriekonzeptionierung. Seinem Verständnis nach ist das kommunikative Einverständnis notwendige Voraussetzung für die kollektive Sicherung der materiellen Existenz. Daraus folgt gleichzeitig die Umstellung von Zweckrationalität auf kommunikative Rationalität.17 Mit der Veränderung des leitenden Grundbegriffs von Arbeit auf Sprache wird im Vergleich zur älteren kritischen Theorie ein positiveres Verständnis der Moderne hergestellt. „Wir können Gesellschaften unter den Aspekten der Lebenswelt und des Systems betrachten; unter diesen Aspekten müssen wir mit verschiedenen Mechanismen der gesellschaftlichen Integration rechnen. Wiederum besteht eine eindeutige Zuordnung nur

17

Die Bedeutung von Rationalität in Habermas‘ Theorie wird mit positiven und negativen Konnotationen versehen. Charles Taylor z. B. kritisiert die formale Rationalisierung innerhalb der Gesprächstheorie der Sprache und weist auf die Grenzen dieses Ansatzes zur Deutung der Gesellschaft hin (Taylor 2002, S. 50 f.).

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zwischen dem kommunikativen Handeln und der sozialen Integration. Hingegen setzen die Mechanismen der systemischen Integration an Ergebnissen und Folgen der Zwecktätigkeit, d. h. an den Effekten an, die sowohl die kommunikativen wie die strategischen Handlungen in der objektiven Welt hervorrufen können“ (Habermas 1995, S. 603 f.).

Mit dieser Begriffsbestimmung wird ‚Gesellschaft als Ganzes‘ zum Teil zurückgenommen und auf konkrete Problemlösungen angewandt. Habermas argumentiert auf der einen Seite handlungstheoretisch und bestimmt Gesellschaft als Geflecht kommunikativer Handlungen. Auf der anderen Seite wird systemtheoretisch auf eine demokratische Selbststeuerung der Gesellschaft verwiesen (Habermas 1998, S. 386). Habermasʼ Verständnis Kritischer Theorie setzt nicht mehr auf Gesellschaft als basalen Theoriebegriff. Aber er gibt den Gesellschaftsbegriff nicht vollständig auf, sondern bezieht diesen auf gesellschaftliche Teilaspekte, u. a. auf Demokratie, Lebenswelt und System. Honneth bezieht sich auf den Gründungsimpuls Kritischer Theorie und schließt darüber hinaus an Habermasʼ ‚linguistic turn‘ Kritischer Theorie an (Honneth 1989, S. 224). Honneths Verständnis nach ist der praktische Begriff des Unrechtsbewusstseins gegenüber den Verfahrensregeln der Kommunikationsstrukturen zu bevorzugen. Kein Individuum empfindet moralisches Unrecht, nur weil bestimmte Argumentationsregeln nicht eingehalten werden. Vielmehr lassen sich innerhalb der Identität der Individuen wichtige Anzeichen sozialen Unrechts finden. „Im Kern läuft meine Vorstellung auf die Hypothese hinaus, daß jede soziale Integration von Gesellschaften auf geregelte Formen der wechselseitigen Anerkennung angewiesen ist, an deren Unzulänglichkeiten und Defiziten sich stets wieder Empfindungen der Mißachtung festmachen, die als Antriebsquelle gesellschaftlicher Veränderungen gelten können“ (Honneth 2003b, S. 282).

Der Gesellschaftsbegriff Honneths ist im Vergleich zu dem von Habermas weiter entfernt von Adornos Gesellschaftsverständnis. Honneths Vorhaben besteht in einer Klärung der wesentlichen Interessen und Erwartungen der Individuen im gesellschaftlichen Prozess (Honneth 2003b, S. 304). Damit fällt der Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft zwar nicht unmittelbar auseinander, aber das Gesellschaftliche verliert gegenüber dem Individuellen an Bedeutung (Honneth und Stahl 2013, S. 283).

5

Andere Positionen zum Gesellschaftsbegriff

In einem zweiten Schritt sollen nun Konzeptionen dargestellt werden, die sich von einer Rückkehr zum Gesellschaftsbegriff zusätzliche Instrumente zur Analyse der Gegenwartsgesellschaft erwarten. Sie sind durch Alex Demirović, Christoph Görg und Heinz Steinert vertreten. Demirović nimmt Bezug auf Grundüberzeugungen der älteren kritischen Theorie und verbindet diese mit gegenwartsorientierten Ansätzen der Gesellschaftstheorie. Seiner Auffassung nach sollte der Grundbegriff der Gesellschaft nicht preisgegeben,

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aber durchaus an die veränderte gesellschaftliche Realität angepasst werden. Profitinteressen bestimmen den Gesellschaftsprozess und überformen damit auch die gesellschaftlichen Bindungen. Die von der älteren kritischen Theorie vorhergesagte gesellschaftliche Totalisierung vollendet sich in der Regel aber nicht, weil die Gesellschaft „sich immer wieder einem konsistenten, systematischen Zugang entzieht“ (Demirović 2003a, S. 7). Erforderlich ist ein Gesellschaftsbegriff, der sich der veränderten Realität stellt: „Die entscheidende und so häufig übersehene These in der Kritischen Theorie ist, dass diese Einheit, dass Gesellschaft bislang nicht gelungen ist und nicht gelingen wird. Denn der Prozess der zwanghaften Vergesellschaftung durch den Tausch gründet die Konstitution der Gesellschaft auf einen Selbstbetrug“ (Demirović 2003b, S. 21).

Diese Konzeption steht in der Nähe zu Adornos Verständnis von Gesellschaft und misst dem Gesellschaftsbegriff auch weiterhin eine wichtige Bedeutung bei. Demirovićʼ Ziel ist es, einen theoretischen und praktischen Bezug zu einer vernünftigen Gesellschaft zu leisten, auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und Vorschläge zu deren konkreter Veränderung zu unterbreiten. Görgs Beitrag zum Gesellschaftsbegriff geht davon aus, dass die Strukturmerkmale der kapitalistischen Vergesellschaftung die Balance zwischen Individuum, Gesellschaft und Natur verändern. Das Naturverhältnis der älteren kritischen Theorie nutzt Görg als Begründung einer materialistischen Geschichtsauffassung, um auf den wechselseitigen Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Natur hinzuweisen. „Ausgangspunkt einer soziologischen Analyse muss daher ein Begriff der Gesellschaft sein, der diese weder von den ‚natürlichen‘, d. h. materiell-stofflichen Bedingungen ihrer Existenz isoliert und einen Dualismus zweier vermeintlich unabhängiger Bereiche reproduziert oder gar die Vermitteltheit von Gesellschaft und Natur völlig leugnet, noch zu einem unhistorischen und substantialistischen Begriff der Natur zurückkehrt“ (Görg 2003, S. 42).

Görg geht davon aus, dass der Zusammenhang von Individuum, Gesellschaft und Natur gefährdet ist, und aus diesem Grund die ‚Dialektik der Aufklärung‘ fortgeschrieben werden muss (Görg 2004, S. 222). Der hier zugrunde gelegte Gesellschaftsbegriff schließt an die ältere kritische Theorie an und plädiert dafür, den aufs Ganze zielenden Gesellschaftsbegriff keinesfalls preiszugeben. Steinert interessiert sich schließlich für eine Verbindung aus Psychoanalyse, Kritik der Kulturindustrie und Gesellschaftskritik. Er knüpft an Adornos Gesellschaftsbegriff an und aktualisiert diesen durch die Einbeziehung einer veränderten Forschungsperspektive. Steinert nutzt die Begriffe Kritischer Theorie in einem erweiterten Verständnis. Sein Ziel besteht darin, leitende Begriffe zu untersuchen und weiterzuentwickeln, um sie daraufhin für gegenwartsorientierte Fragestellungen nutzen zu können. „Gesellschaft verändert sich, sie kann radikal umgebaut werden, aber irgendwelche Zuversicht, dass das in Richtung von größerer Freiheit und Autonomie für alle oder wenigstens für die Arbeiterschaft gehen wird, ist unangebracht“ (Steinert 2007, S. 219). Gemeinsam mit dem Gesellschaftsbegriff erfährt auch die Kulturindustrie bei Steinert eine aktualisierte Bedeutung: Besonders

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in der Wissensgesellschaft nimmt die Geltung der Kulturindustrie zu und einer Kritik an deren gesellschaftstheoretischer Relevanz kommt eine hohe Bedeutung zu (Resch und Steinert 2003, S. 335 f.; vgl. hierzu auch den Beitrag von Resch im Handbuch). Steinert schließt im Rahmen seines Gesellschaftsbegriffs an Horkheimer und Adorno an und plädiert auch aktuell für eine Orientierung an der ‚Gesellschaft als Ganzes‘. Dem negativen Gesellschaftsbegriff der älteren kritischen Theorie wird hier durch die Herausstellung der besonderen Bedeutung der Kulturindustrie ausdrücklich zugestimmt. Die erneute Aktualisierung der Grundforderung Kritischer Theorie macht es überlegenswert, den Gesellschaftsbegriff auf Grundlage der älteren kritischen Theorie aufrecht zu erhalten. Theoretische und konzeptionelle Weiterentwicklungen sind geboten, sollten aber das Grundmodell (Individuum und Gesellschaft) nicht aus dem Blick verlieren. Anderenfalls lässt sich eine Rückkehr zum Gesellschaftsbegriff kaum begründen, und den differenzierten gesellschaftlichen Problemlagen in den gegenwärtigen Gesellschaften werden wichtige Argumente für deren Problemlösung vorenthalten.

6

Fazit

Der Gesellschaftsbegriff in der Kritischen Theorie zeigt ein ambivalentes Bild. Horkheimer und Adorno gehen übereinstimmend davon aus, dass sich gesellschaftliche Krisen in der Gegenwartsgesellschaft ausschließlich im Verhältnis von Gesellschaft, Natur und Individuum angemessen analysieren lassen. „Ein die Gesellschaftsstruktur betreffendes Problem verlangt eine auf die Gesellschaftsstruktur bezogene Lösung, die von Horkheimer generell als die wirksame Einbeziehung der Individuen in kollektive Entscheidungsprozesse gekennzeichnet wird“ (McCarthy 1993, S. 222). Die Bedeutung des Gesellschaftsbegriffs der älteren kritischen Theorie wird bereits in der zweiten Phase Kritischer Theorie von Habermas zurückgedrängt und in der darauf folgenden dritten Phase von Honneth weitgehend preisgegeben (Habermas 2009, S. 393; Honneth 2003a, S. 205). Die bei Habermas zentrale Bedeutung von Kommunikationsstrukturen, Diskursethik und Demokratie führt u. a. dazu, der ‚Gesellschaft als Ganzes‘ in ihrer ursprünglichen Form weniger Raum zu geben. Im Werk Honneths wird die soziale Struktur der Lebensformen mit konfliktuellen und moraltheoretischen Fragen verbunden. Mit dieser konzeptionellen Entscheidung wird der Zugang zur gesellschaftlichen Totalität weitgehend versperrt. Der vorliegende Beitrag zeigt, wie die Transformation eines Paradigmas aufgrund notwendiger Veränderungen in Begriffsbildung, Zeitdiagnose und lösungsorientierten Prognosen die Substanz der Kritischen Theorie gefährdet. Horkheimer und Adorno sind davon überzeugt, dass jede Theorie über einen bestimmten Zeitkern verfügt und keineswegs einen Anspruch auf ewige Gültigkeit ihrer Überzeugungen beanspruchen kann (Horkheimer und Adorno 1998/1944, S. 9). An diese Voraussetzung ist anzuschließen, verbunden mit einer detaillierten Überprüfung der erhaltenswerten und überflüssigen Theoriebausteine. Hier wird die Überzeugung vertreten, dass eine

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Analyse der Gegenwartsgesellschaft ohne Anschluss an den Gesellschaftsbegriff nur eingeschränkte Ergebnisse liefern wird. Einen produktiven Weg, die Gesellschaft erneut zum Objekt zu machen, beschreibt Luc Boltanski: „Das Vorhaben, die Gesellschaft zum Objekt zu erheben und die Komponenten des sozialen Lebens oder, wenn man will, seinen Rahmen zu beschreiben, rekurriert auf jenes Gedankenexperiment, sich außerhalb des Rahmens zu stellen, um ihn als ganzen in Augenschein zu nehmen. Denn von innen läßt sich ein Rahmen nicht erfassen. Von innen gesehen, verschwimmt der Rahmen mit der Realität in ihrer gebieterischen Notwendigkeit“ (Boltanski 2010, S. 24, Herv. im Org.).

Es ist notwendig, den Gesellschaftsbegriff mit einer negativen und positiven Beschreibung zu versehen, indem auf Teile des Befreiungsprojekts der Aufklärung, auf Möglichkeiten der sozialen Ordnung sowie auf Anwendungsfelder der Emanzipation Bezug genommen wird. Diese Begriffe sind in der Kritischen Theorie immer schon von Bedeutung gewesen und könnten Ideen für eine Gesellschaft freier Menschen leisten. Wenn Aufklärung und Emanzipation auf Grundlage reflexiver Vernunft wieder eine Bedeutung zugesprochen wird, bietet sich Raum für ein gerechtes gesellschaftliches Handeln.

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Der Gesellschaftsbegriff der klassischen Kritischen Theorie Moshe Zuckermann

Zusammenfassung

Der Beitrag rekonstruiert den Gesellschaftsbegriff, der sich nicht ohne weiteres bestimmen lässt, wesentlich durch das Motiv, dass innerhalb der Kritischen Theorie Gesellschaft, Kultur und Zivilisation ausgehend von Marx, Freud und Nietzsche ebenso wie Gesellschaftskritik, Kulturkritik und Zivilisationskritik synonym verstanden werden. Der Beitrag setzt mit einer Darstellung der für die Kritische Theorie maßgeblichen Einsichten Karl Marxʼ an, die aber angesichts der konstitutiven Fragestellung der ausgebliebenen westlichen Revolution nach zusätzlichen theoretischen Überlegungen drängte. Es wird argumentiert, dass die Adaption der Freudschen Psychoanalyse zur Erforschung von Strukturen und Prozessen des Spätkapitalismus und die erreichte freudomarxistische Synthese auch in Hinblick auf die Erweiterung des Begriffs, die die Kritische Theorie von der Gesellschaft generierten, nicht hoch genug geschätzt werden kann. Es wird im Beitrag dargestellt, dass die Einbeziehung des psychoanalytischen Freudschen Paradigmas durch die Kritische Theorie den ursprünglich von Marx abgeleiteten Ideologiebegriff um eine wirkmächtige Dimension erweitert. Schließlich werden unter Rückgriff auf die „Dialektik der Aufklärung“ in Hinblick auf den Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie einige metatheoretische Überlegungen dargelegt. Einerseits erschließt sich der in der „Dialektik der Aufklärung“ unter verschiedenen Aspekten angelegte Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie als Kritik einer Zivilisation/Kultur, welche in ihren transhistorischen Emanzipationsbestrebungen das angestrebte Ziel eines authentisch-autonomen Individuums verfehlen muss. Andererseits macht bis zuletzt die regulative Idee eines

M. Zuckermann (*) Faculty of Humanities, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_42

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Strebens nach der Rettung des individuell Einzigartigen die Emphase der denkerischen Anstrengung der Kritischen Theorie aus. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie · Freudomarxismus · Dialektik der Aufklärung · Kulturkritik · Zivilisationskritik · Gesellschaftskritik

Die Bestimmung des Gesellschaftsbegriffs in der klassischen Kritischen Theorie erschließt sich nicht ohne weiteres. Das hat mehrere Gründe. Zum einen weist das Theoriefeld der soziologischen Begriffsbestimmung in der Frühzeit der Gesellschaftswissenschaft und Sozialphilosophie im 19. Jahrhundert eine eigentümliche, wiewohl bei Anfangsphasen wissenschaftlicher Disziplingründungen durchaus nachvollziehbare Heterogenität auf, die sich zumeist durch einen agonalen Wettstreit zwischen unterschiedlichen Theorieansätzen und paradigmatischen Vorgaben auszeichnet. So ist Herbert Spencer zwar in vielerlei Hinsicht an Kategorien des Gründervaters des soziologischen Fachs, Auguste Comte, orientiert, verschreibt sich aber (theoretisch zumindest) eher einer dem biologischen Organismus verschwisterten wissenschaftlichen Grundvorstellung als dem von Comte bevorzugten physikalistischen Ansatz. Emile Durkheims kollektivistisch ausgerichteter Zugang, wie er sich u. a. im Begriff des fait social kundtut, unterscheidet sich wesentlich von Max Webers individualistisch fokussierte Verstehenssoziologie. Vilfredo Paretos von atavistischen Residuen und einem kreislaufförmigen Grundmuster eines ewigen Wechsels der Eliten ausgehenden Zivilisationsbild hat, trotz seines bemerkenswerten Beitrags zur wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung, mit Marx’ Historischem Materialismus wenig gemein. Man mag den Gründungsdiskurs der Soziologie im 19. Jahrhundert als ein Sammelsurium grandioser, sich herantastender Versuche, den Begriff der Gesellschaft, die Möglichkeit ihrer Erforschung und die Potenziale ihrer Veränderung zu bestimmen, beschreiben. Zum Zeitpunkt der Heraufkunft der Kritischen Theorie hatte sich diesbezüglich noch nichts Wesentliches „entschieden“, außer dass man sich von der Anfangsemphase der Bildung sogenannter grand theories (C. Wright Mills) zu verabschieden begann. Der Gesellschaftsbegriff war damals eher diffus und auf jeden Fall noch immer umstritten und umkämpft. Zum zweiten schwankte der konzeptuelle Zugriff innerhalb der Kritischen Theorie selbst zwischen Gesellschafts- und Kultur- bzw. Zivilisationskritik. Diese begriffliche Konstellation ist an sich schon ideengeschichtlich befrachtet. Denn in Deutschland hat Zivilisation ihre Begriffskarriere relativ spät begonnen. Während sich der Ausdruck in England und Frankreich bereits im 18. Jahrhundert einigermaßen voll entfaltete, erhielt er in Deutschland seine prägnante Bedeutung erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, und zwar im Sinne einer „modernen Zivilisation“, welche „mit dem außerordentlichen Anwachsen“ der Bevölkerung seit der industriellen Revolution [. . .] und der damit zusammenhängenden Verstädterung, dann mit der Auflösung der traditionellen Ordnungen der Gesellschaft durch die ‚ratio‘ in Zusammenhang gebracht wurde (Institut für Sozialforschung 1956, S. 84). Dass sich eine solche

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Deutung von Zivilisation im Kontext der über den Westen hereinbrechenden Moderne durch eine spezifische ideologische Dimension auszeichnete, ist von Norbert Elias mit einiger Schärfe herausgearbeitet worden. Elias erläuterte, wie sich der Begriff der „(hohen) Kultur“ seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Parole wandelte, vermittels der sich die deutsche bürgerliche Intelligenz vom deutschen Adel einerseits, andererseits aber auch von der französischen Nation abzusetzen bemühte: „Kultur“, verstanden als Betätigungssphäre von Geistes- und Kunstschaffenden, wurde sowohl der weitgehend unproduktiven Oberflächlichkeit der Aristokratie, die nichts „schafft“, somit denn auch nichts zu „leisten“ vermag, als auch dem revolutionären Treiben und geistigen Tun der französischen bürgerlichen Elite – deren politischen und wirtschaftlichen Leistungen als Produkte schaler „civilisation“, den von Ernst und Tiefe getragenen Werken der als solchen apostrophierten deutschen „Kulturnation“ diametral entgegengesetzt, verachtet wurde – gegenübergestellt (Elias 1976). „Kultur“ fungierte demnach sowohl als Unterscheidungskategorie zwischen materieller Zivilisation und der diese gleichsam transzendierenden geistigen Kultur als auch als Kategorie einer mehrschichtigen Ideologisierung ebensolcher Unterscheidung. Die Denker der klassischen Kritischen Theorie waren sich dessen wohl bewusst; ihr Gesellschaftsbegriff blieb davon nicht unberührt. Zum dritten zeichnete sich das Bestreben der alten Kritischen Theorie durch den innovativen Versuch aus, die Marxsche Makrosoziologie mit der Tiefenpsychologie Freuds interdisziplinär zu verbinden, mithin an diese fundamentale Synthese weitere Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften anzukoppeln. So fruchtbar sich dieser Versuch erweisen sollte, sah er sich vor dem Problem gestellt, den Begriff der Gesellschaft, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, zumindest um den der Psychologie zu erweitern. Ansätze zu einer solchen Synthese gab es schon relativ früh. Als herausragend unter den frühen Vertretern darf wohl Wilhelm Reich gelten (vgl. Reich 1929/1934). Bedeutend war auch der in Berlin wirkende Erich Fromm, der sich bald der Gruppe der frühen Kritischen Theorie anschloss. Deren Vertreter – allen voran Marcuse, Adorno und Horkheimer – entwickelten diesen Theorieansatz zu einem neuen Forschungsparadigma (dem Freudomarxismus), das sich als kritische Theorie von dem, was als traditionelle Theorie firmierte, dezidiert abzusetzen trachtete. Die theoretische Synthese des makrosoziologischen Marxismus mit der Freudschen Tiefenpsychologie war nicht selbstverständlich und mitnichten leicht zu erlangen. Dies hatte innertheoretische Gründe, durchaus aber auch äußere. Denn weder gestandene Marxisten noch orthodoxe Psychoanalytiker hatten ein Interesse am jeweils anderen Theoriebereich. Den Marxisten, die an der Veränderung historisch gewachsener gesellschaftlicher Strukturen interessiert waren, galt die Beschäftigung mit dem Innenleben des Individuums als bürgerliche Ideologie. Professionelle Psychoanalytiker wiederum zielten primär auf die klinische Therapie individueller Leiderfahrung, ohne sich dabei groß um gesellschaftliche Transformationen zu kümmern. Dabei lag die Notwendigkeit einer solchen Synthese auf der Hand. Denn zum einen gab es potenzielle Ansätze psychologischer Erörterung schon beim frühen Marx, wenn man an die psychischen Auswirkungen von Entfremdung denkt (die Psychologie als eigenständige Disziplin existierte aber halt noch nicht). Zum anderen begnügte sich Freud selbst nicht mit der Grundlegung

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therapeutischer Praxis, sondern entwickelte eine über das Individuum hinausreichende Zivilisationstheorie, in welche kollektive, mithin gesellschaftliche Faktoren einflossen. Alle metapsychologischen Schriften der späten Schaffensperiode Freuds sind ohne einen Gesellschaftsbegriff, dem eine Kritik sozialer Institutionen, wie etwa der Religion, innewohnt, nicht zu denken. Dabei ging es der Kritischen Theorie nicht um die therapeutischen Angebote der Psychoanalyse, sondern um die wechselseitige Wirkmächtigkeit des Sozialen aufs Psychische und psychischer Strukturen auf die Herausbildung von Mustern sozialen Verhaltens. Ohne diesen Denkansatz wären „Entdeckung“ und Kritik des Autoritären, seiner politischen Ausformungen, seiner Ideologiebildungen, wie denn allgemein der psychischen Dimension gesellschaftlicher und politischer Ideologie gar nicht in die Welt gekommen. Geht man davon aus, dass sowohl für Marx als auch für Nietzsche und Freud die Begriffe von Kultur und Zivilisation nicht voneinander zu trennen, und wenn man Kultur als das Gesamte menschlicher Praxis begreift, gar synonym zu verwenden sind, dann kann man Gesellschaft, Zivilisation und Kultur im umfassenden Denken der Kritischen Theorie als gleichgesetzt handhaben. Kulturkritik, ein von den Denkern der Frankfurter Schule verwendeter Begriff, (vgl. etwa Adorno 1955) meint, so gesehen, Gesellschaftskritik, und in diesem Sinne soll auch der Begriff der Gesellschaft im Folgenden verwendet werden. Und da sich der Gesellschaftsbegriff in dieser Denkschule grosso modo im Geiste der freudomarxistischen Synthese gebildet hat, erfordert dies im hier erörterten Zusammenhang die Darlegung der diese Synthese konstituierenden Koordinaten in ihrer spezifischen Relevanz für die klassische Kritische Theorie. Entsprechend seien nun Überlegungen zu Marx und zu Freud angeführt. Wesentliches der Marxschen Historiosophie lässt sich schon an den Eröffnungssätzen des ersten Kapitels des „Kommunistischen Manifests“ erschließen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ (Marx und Engels 1848/1983, S. 462). Die Sätze bergen eine zweidimensionale Sichtweise des sozio-historischen Prozesses. Zum einen wird alles („bisherige“) gesellschaftliche Sein transhistorisch begriffen, als das sich nicht wandelnde Muster eines fortwährenden Konflikts zwischen antagonistischen sozialen Gruppen, welche alle als unterdrückte bzw. unterdrückende Sozialkollektive kategorisiert sind. Dieses Muster durchzieht, wie gesagt, die gesamte Geschichte und erweist sich als der Marxschen Geschichtsauffassung so zentral, dass es in den Stand eines den Verlauf der Geschichte bestimmenden Faktors erhoben wird: die Geschichte einer jeden Gesellschaft wird im Wesentlichen als Geschichte besagten, als „Klassenkampf“ apostrophierten, Konflikts begriffen. Zum anderen wird aber das gesellschaftliche Sein als spezifisch historisch gesehen: Die partikularen Protagonisten, die besagtes transhistorische Muster immerfort reproduzieren – die Subjekte jenes „steten Gegensatzes“ also –

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wandeln sich in jeder historischen Phase, und zwar nicht nur im trivialen Sinne, dass das Lebensalter einer jeden Generation begrenzt ist, sondern darüber hinaus auch in dem, dass sich die gesellschaftliche Wirklichkeit einer jeden historischen Phase wesentlich von der einer vorhergehenden unterscheidet, mithin die Protagonisten einer jeden Phase sich in der Art der Funktion, die sie im gesellschaftlichen Ganzen – d. h. in der Art der zwischen ihnen herrschenden Verhältnisse – erfüllen, und in der Weise, in welcher der Konflikt zwischen ihnen ausgetragen wird, wandeln. Entsprechend lässt sich behaupten, dass die Marxsche Geschichtsauffassung auf der Herausarbeitung einer Reihe spezifischer, sich voneinander unterscheidenden Erscheinungen basiert, die sich aber letztlich zu einem Ganzen, welches die Kette der Erscheinungen als beständige Struktur in sich birgt, akkumulativ addieren. Gleichwohl hat man diese zweidimensionierte Feststellung mitnichten als Marxens endgültiges Postulat zu begreifen. Nicht von ungefähr bezieht er sich im zitierten Anfangssatz des „Kommunistischen Manifests“ auf die Geschichte „aller bisherigen Gesellschaft“. Der tentative Charakter dieser Behauptung beruht primär darauf, dass die Menschheitsgeschichte, Marx zufolge, nicht nur noch nicht an ihr Ende gelangt sei, sondern, dass sie in gewisser Hinsicht – im Hinblick auf die Entwicklung des Menschen zu einem wirklich voll entfalteten „Gattungswesen“ (Marx 1843/1983, S. 370) – noch gar nicht begonnen habe, der Mensch sich mithin noch in seiner „Vorgeschichte“ befinde (Marx [1859]/1985, S. 9). Es geht hierbei um mehr als nur um Semantik: Marxens Diagnose einer transhistorischen Struktur soll ja nicht die affirmative Behauptung bedienen, solcherart seien die Dinge von jeher gewesen und so werden sie auch in aller Ewigkeit fortbestehen, sondern dass sie, ganz im Gegenteil, veränderbar seien und verändert werden sollten. Zu Recht bemerkt Max Horkheimer, dass es darauf ankomme, „Marx nicht mit den Augen des ökonomischen Fachmannes zu sehen, sondern mit denen eines Menschen, der weiß, daß er in einer verkehrten Gesellschaft lebt und die richtige Gesellschaft will“ (Horkheimer 1988a, S. 325). Die Kategorie der „richtigen Gesellschaft“ beruht hierbei auf ein Zweifachem: zum einen auf der Postulierung des menschlichen Wesens als das eines sich historisch entfaltenden „Gattungswesens“, zum anderen aber auf der komplementären Erkenntnis, dass sich die Zivilisation – bisher – in eine solcher Wesensentfaltung des Menschen entgegengesetzte Richtung, in die einer „verkehrten Gesellschaft“ entwickelt habe. So besehen, birgt die Marxsche Gesellschaftstheorie (und die sich von ihr ableitende Geschichtsauffassung) einige Elemente, die es hier kurz zu streifen gilt. Erstens, Gesellschaftsentwicklung begreift sich bei Marx als ein dialektisch sich vollziehender historischer Prozess. Historisch – im doppelten Sinne, dass Geschichte zum einen als die Gesamtheit der sich in zeitlichen Abläufen akkumulierenden, menschlichen gesellschaftlichen Praxen verstanden wird, und dass jede historische Phase zum anderen notwendig durch die gesellschaftlichen Bedingungen einer ihr vorhergehenden bestimmt werde. Dialektisch – in dem Sinne, dass die Wirklichkeit einer jeden historischen Phase den Kern eines sich in ihr entfaltenden Gegensatzes birgt, welcher sich letztendlich als Faktor ihrer radikalen Umwälzung (sei es durch „eine revolutionäre Umgestaltung der ganzen Gesellschaft“, sei es durch den „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“) erweist.

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Zweitens, Marx’ Geschichtsauffassung postuliert eine emanzipatorische Teleologie. Das heißt, er diagnostiziert zwar die menschliche Zivilisation als wesentlich repressiv, wobei „wesentlich“ keine metaphysische Annahme suggeriert, sondern die durch den Menschen unter gegebenen historischen Bedingungen geschaffene soziale Ordnung meint. Zugleich identifiziert er aber auch im Zivilisationsfortschritt die Tendenz möglicher Befreiung, wobei diese wiederum die Befreiung von gesellschaftlichen „Ketten“, die der Mensch selbst geschaffen hat, mithin von durch gesellschaftliche Praxis entstandene menschlicher Repression meint (Marx und Engels [1848]/1983, S. 493). Marx geht gar davon aus, dass Unterdrückung als gesellschaftlicher Faktor ganz überwindbar sei, dass soziales Sein des Menschen sich wesentlich repressionsfrei organisieren lasse. Drittens, da sich alle bisherige Gesellschaft transhistorisch durch jeweilige Repression kennzeichnet, begreift sich soziales Sein für Marx als notwendig konfliktgeladen. Dieser historisch diagnostizierte Grundzug kann nicht hoch genug beachtet werden, denn er ist es im Wesentlichen, der der Revolution ihren prominenten Stellenwert im Marxschen Denken verleiht. Es handelt sich indes um ein komplexes, wenn nicht prekäres Konzept. Denn zum einen wird die Revolution als das notwendige Resultat eines strukturellen gesellschaftlichen Widerspruchs begriffen: Es gibt keine „friedliche“ Lösung für den an entscheidenden historischen Kreuzungen entstehenden Widerspruch zwischen den Produktionskräften und den Produktionsverhältnissen; die Subjekte des sich im Rahmen der jeweils neuen Produktionsweise entfaltenden Klassenkampfes sind nicht mehr die des alten, anachronistisch fortbestehenden Produktionsverhältnisses; sehr selten, wenn überhaupt je, ist es vorgekommen, dass eine untergehende herrschende Klasse ihr Herrschaftsmonopol einer neuen willentlich übergeben hätte. Eine gewisse materielle Determination wohnt dieser Sichtweise inne, denn die Notwendigkeit der Revolution wird auf die Annahme eines objektiven Wandels an der Basis (d. h. in der Sphäre technologischer Entwicklung und ökonomischer Praxis) zurückgeführt. Gleichwohl ist auch das Marxsche Diktum wohlbekannt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern“ (Marx 1845/1983, S. 7). Gegenüber einer quasi „automatischen“, aus objektivem strukturellem Wandel erfolgenden Transformation der sozialen Ordnung wird also die aktive Initiative zur Herbeiführung eines bewussten Wandels durch den Menschen postuliert. Viertens, das letzterwähnte Postulat basiert in Marx’ Denken auf dem Konzept eines im Zeitalter des Kapitalismus durchs Industrieproletariat verkörperten revolutionären Kollektivsubjekts. Marx geht in diesem Zusammenhang von einer doppelten Annahme aus: Zum einen lässt sich anhand genauer ökonomischer Analyse der kapitalistischen Produktionsweise das objektive Interesse der innerhalb ebendieser Produktionsweise unterdrückten und ausgebeuteten Klasse bestimmen, einer Klasse, die, Marx zufolge, immer größere Teile der Bevölkerung umfasst, je weiter sich die bürgerliche Gesellschaft gemäß der dieser Produktionsweise immanenten Logik entwickelt und erweitert. Das „Kommunistische Manifest“ zeichnet in diesem Zusammenhang ein nahezu dichotomes Gesellschaftsbild: „Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich [. . .] dadurch aus, dass sie die Klassengegen-

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sätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat“ (Marx und Engels [1848]/1983, S. 463) Zum anderen weiß aber Marx, dass der objektive Zustand einer Klasse noch nicht ausreicht, um ihre Verwandlung in ein revolutionäres Kollektivsubjekt zu garantieren. Damit es sich von einer „Klasse an sich“ in eine „Klasse für sich“ verwandle, muss das Proletariat u. a. ein Bewusstsein entfalten, das über sein beschränktes Bewusstsein im kapitalistischen Klassendasein hinausweist, ein dahingehend revolutionäres Bewusstsein, dass es um die Notwendigkeit einer neuen Gesellschaftsordnung, in welcher der Widerspruch zwischen privatem und allgemeinem Interesse aufgehoben wäre, weiß, dabei aber auch die Bereitschaft nährt, um die Errichtung einer solchen neuen Gesellschaftsordnung zu kämpfen. Damit ist aber – fünftens – eines der komplexesten Probleme im Marxschen Denken angezeigt. Denn wenn man der determinanten Dimension der Auffassung das Wort redet, wonach das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme – und zwar selbst dann, wenn man sich die vulgärmarxistische Reduktion alles Geistigen auf die grobe materielle Grundlage menschlichen Seins verbietet –, verschreibt man sich mutatis mutandis doch der Annahme, dass das gesellschaftliche Sein früher oder später ein dem es bestimmenden Sein „adäquates“ Bewusstsein hervorbringe. Diese Grundannahme hat große Debatten über die Entstehungsweise besagten adäquaten Bewusstseins ausgelöst: Handelt es sich um direkte Erfahrungen (des Kollektivs), oder bedürfen auch diese Erfahrungen einer durch zusätzliche Instanzen vermittelten Deutung, etwa die der „Avantgarde“ (bzw. der „Partei“). Marx selbst war sich der Beschränktheit linearer, positivistischer Bewusstseinstheorien sehr wohl bewusst: Ein objektiver, das Interesse des unterdrückten Kollektivsubjekts kodierender Zustand verbürge, wie gesagt, nicht die erforderliche Bewusstseinsentfaltung über nämlichen Zustand und das aus ihm abzuleitende Interesse. Marx, der die im Menschen angelegten Potenziale für zivilisationsgeschichtlich noch unausgeschöpft hielt, konnte nicht meinen, dass das reale Bewusstsein des Subjekts sich authentisch entfalte (das Bestehende also adäquat, von heteronomen Interessen unberührt, erfasse), sondern hob, im Gegenteil, stets die manipulative Wirkmächtigkeit der hegemonialen, Interessen der herrschenden Klasse bedienenden und die real bestehende Gesellschaftsordnung affirmativ absegnenden Ideologie hervor, sowie – damit einhergehend – die komplexen, nicht leicht erkennbaren Funktionen des „Überbaus“ im Kontext einer zunehmenden Fetischisierung von Realitätsbezügen (allen voran die Fetischisierung der Ware samt ihrer „unsichtbaren“ Herstellungsprozesse) (Marx 1867/1984, S. 85 ff.). Nicht von ungefähr spricht Marx in diesem Zusammenhang vom „falschen Bewusstsein“, d. h. von einer verzerrten Wahrnehmung gesellschaftlichen Seins, welche freilich dahingehend notwendig ist, als das an sich klassenbestimmte Sein, bevor es für sich geworden ist, ganz und gar unter dem Bann der herrschenden Ideologie steht. Entsprechend fungieren für Marx „Ideologie“, „Überbau“ und „falsches Bewusstsein“ als Synonyme. Die wenigen, hier lapidar skizzierten Grundzüge der Marxschen Lehre verweisen auf eine ihr innewohnende zentrale Schwierigkeit: Wie lässt sich Realität wahrhaft beurteilen? Und nicht minder bedeutsam: Wie lassen sich kraft ihrer Beurteilung

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historische Prozesse einschätzen? Denn wenn man davon ausgeht, dass menschliche Potenziale, mithin das Wesen des Menschen, noch bei weitem nicht verwirklicht worden seien (wobei die Gründe für die Nichtverwirklichung in der historischen Praxis des Menschen selbst wurzeln), ergibt sich daraus, dass zwischen wahr und richtig strikt unterschieden werden müsse. Richtig ist in diesem Zusammenhang jede Aussage, die Evidenz beanspruchen kann, selbst wenn sie sich nur aufs Partikulare bezieht. Wahr hingegen ist stets nur das Ganze. Darauf basierend behauptet denn Max Horkheimer: „Der Anspruch darauf, dass eine Aussage wahr ist, ist absolut. Jede Relativierung macht sie unwahr. Ihre Widersprüche müssen aus ihrem Begriff dialektisch entwickelt werden.“ Gegenbeispiele sind in diesem Zusammenhang bedeutungslos: „‚umso schlimmer für die Tatsachen‘“ (Horkheimer 1988c, S. 316). Und an anderer Stelle: „Was richtig ist, braucht deshalb noch nicht wahr zu sein. Wahrheit ist der höchste Grad der Erkenntnis, der in einer gegebenen gesellschaftlichen Situation erreicht werden kann“ (Horkheimer 1988b, S. 321). Es lässt sich also behaupten, dass die Unwahrheit des „falschen Bewusstseins“ in seiner „Blindheit“ der Wahrheit des Ganzen gegenüber wurzle, einer Wahrheit, die als unentbehrlicher Maßstab zur Bewertung des Partikularen (im Ganzen) heranzuziehen ist. In diesem Sinne unterscheidet Marx zwischen dem besonderen Stellenwert einer bestimmten historischen Phase (z. B. der des bürgerlichen Kapitalismus) im Verhältnis zu einer früheren (Feudalismus) – ein Vergleich, bei dem der Kapitalismus als fortschrittlich gewertet wird – und dem Stellenwert ebendieser historischen Phase im Verhältnis zu einer künftigen, in welcher die Emanzipation des Menschen voll verwirklicht sein wird (Kommunismus) – ein Vergleich, der den Kapitalismus als rückschrittlich (ab)wertet. Der Kommunismus (das „Reich der Freiheit“, wie er paraphrasierend genannt wird (Marx [1894]/1984, S. 828), bzw. die Gesellschaftsordnung, welche die wahrhaft emanzipierte Verwirklichung des Menschen als Gattungswesen ermöglicht) wird demnach als eine geschichtliche Wirklichkeit begriffen, in der der Widerspruch zwischen dem Einzelmenschen und dem gesellschaftlichen Ganzen real aufgehoben wäre bzw. individuelles Leben als wahres zur realen Möglichkeit werden ließe. Die Realität wird also im Hinblick aufs Seinsollende bewertet, wobei Seinsollendes keine ahistorisch metaphysische Vision meint, sondern – ganz im Gegenteil – auf die Veränderung der bestehenden Gesellschaftsordnung und die sie konstituierende, vom Menschen getragene historische Praxis abzielt. Zugleich ist aber klar, dass neben der Heranreifung historischer Bedingungen in der materiellen Basis der Gesellschaft, die Bewusstseinsbildung des revolutionären Kollektivsubjekts, also seine kollektive Emanzipation von dem durchs partikulare Interesse bestimmte bzw. vom ideologischen Gestrüpp der Klassenideologie in der bestehenden sozialen Ordnung kontaminierte Bewusstsein unabdingbar ist. Will man diese Grundzüge des Marxschen Denkens einschätzen, sieht man sich vor einem grundsätzlichen Problem gestellt: Das Denken entzieht sich nicht der diskursiven Erörterung, deren methodischen Regeln vom Denken selbst gesetzt worden sind. Das heißt, wenn man sich der Marxschen Einsicht verschreibt, dass sich unter veränderten historischen Bedingungen der menschlichen Praxis alles wandeln kann, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Marxsche Theorie selbst davon ausgenommen wäre, und dass im Extremfall die historisch veränderten

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Bedingungen im wesentlichen Widerspruch zu zentralen inhaltlichen Postulaten der Theorie stehen mögen. Dies tangiert nicht nur die Marxsche Vorstellung einer (vor) geschichtlichen „Endzeit“, namentlich, dass Marx – trotz aller gebotenen Vorsicht bei der Be- bzw. Umschreibung des „Reichs der Freiheit“ – der Vision einer (künftigen und jedenfalls prinzipiell möglichen) menschlichen Wirklichkeit, in der die wesentlichen gesellschaftlichen Antagonismen und Widersprüche aufgehoben wären, das Wort redet. Horkheimer bezog sich hierauf, als er hervorhob, dass eines von drei Hauptpunkten im Marxschen Denken, die sich berechtigter Kritik ausgesetzt sehen müssten, „seine abschlußhafte Dialektik“ sei (die zwei anderen belangten „seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und seinen Positivismus“ sowie „seinen Optimismus und den in Bezug auf den Menschen und dessen Möglichkeiten und Bestimmung aufs Äußerste vertretenen deutschen Idealismus“). Horkheimer behauptet dies gleichwohl, gerade weil er der Meinung ist, dass Marx „das Wesen der Gesellschaft besser erkannt [hat] als jeder andere“, und dass wir an seiner Theorie festhalten müssen, solange wir „keine bessere“ haben. Entsprechend suggeriert er, „sie dialektisch ‚aufzuheben‘“ (Horkheimer 1988a, S. 325) – was freilich die Unterwanderung einer „abschlußhaften Dialektik“ im Sinne einer endgültigen Verwirklichung des Befreiungszweckes der menschlichen (Vor)geschichte zur Folge haben muss. Die theoretischen Probleme beginnen freilich wesentlich früher. Es reicht hin, die Entfaltung des Kapitalismus zum Spätkapitalismus zu überfliegen, um einzusehen, was Horkheimer meinte, als er bereits vor Jahrzehnten notierte: „Krise, Arbeitskraft, produktive Arbeit, Proletariat – alle derartigen Begriffe haben heute eine andere Bedeutung als vor hundert Jahren“ (Horkheimer 1988a, S. 325). Das Problem besteht darin, dass obwohl Marxens fundamentale Einsichten in das ökonomische Gesetz und dessen Wirkmächtigkeit aufs Ausbeuterische und Unfreie der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und deren Lebensgestaltungen (einschließlich des Potenzials eines „Rückfalls in die Barbarei“) im wesentlichen ihre Gültigkeit bewahrt haben, sich Status und Erklärungspotenzial der diesen Einsichten zugrunde liegenden zentralen Kategorien verändert hat. Mit anderen Worten: Obgleich die Prinzipien der privaten Aneignung gesellschaftlicher Arbeit und der Profitmaximierung weiterhin als Schlüsselfaktoren allen kapitalistischen Seins wirken, haben sich gewichtige Veränderungen im System dieser Produktionsweise (Veränderungen, von denen Marx noch nichts ahnen konnte), aber auch im Verhältnis zu dem, was der Veränderung unterlag, als Faktoren von Relevanz für den Begriff der bestehenden Gesellschaftsstruktur vollzogen. Es lässt sich also behaupten, dass sich weder die Anatomie des Kapitalismus noch das sich aus seinen immanenten Widersprüchen ergebende Grundmuster der permanenten Krisenanfälligkeit verändert haben. Und dennoch, trotz der in der Tat gewaltigen Krisen, die der Kapitalismus im 20. und bereits auch im 21. Jahrhundert durchlief, wird er in seinen Grundfesten nicht nur kaum erschüttert und „erholt“ sich stets in erstaunlicher Geschwindigkeit, sondern angesichts des realen Zusammenbruchs der Welt, die sich – freilich mehr ideologisch denn wirklich – als seine weltgeschichtliche Alternative präsentierte, speist er sich nunmehr durch eine verstärkt angeschwollene alt-neue ideologische Legitimation. Und zwar nicht nur, weil

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der eklatante Zusammenbruch des osteuropäischen Kommunismus die westliche Sozialdemokratie in ihrer Funktion als politischen „Schutzwall“ (bzw. „Feigenblatt“) des Kapitalismus gegenüber den „bedrohlichen“ sozialen Bestrebungen und Forderungen des Kommunismus schwächte, sondern auch, weil die westliche Linke selbst (so kritisch sie sich gegenüber dem autoritären Regime des östlichen Kommunismus gebärdet haben mochte) doch die für sie offenbar signifikante Verkörperung jener historisch-konkreten Alternative, welche im „real existierenden Sozialismus“ zumindest ideell gegeben war, mithin die politische Grundlage ihres Kampfes „verlor“. Es scheint indes, als verdankte sich die erstaunliche „Gesundung“ des Kapitalismus nach jeder bestandenen Krise primär etwas Entscheidenderem, das mit der Entwicklung der westlichen Linken selbst bzw. mit der drastischen Veränderung, die ihrem vorgeblichen Klassensubjekt im Kapitalismus widerfuhr, zu tun hatte. Denn nicht nur erwies sich die herrschende Klasse als äußerst flexibel und kompromissbereit in ihrer Bestrebung, das kapitalistische System zu erhalten und zu perpetuieren, sondern es zeigte sich auch, dass sie große Fähigkeiten im Ansinnen, „legitime“ sozial-politische Methoden zur systematischen Korrumpierung eines beträchtlichen Teils der Arbeiterschaft und ihrer Führer zu erfinden, zu entfalten vermochte. Gemeint ist hier vor allem die nahezu vollständige Neutralisierung der negierenden Ausrichtung und Funktion, welche dem revolutionären Klassensubjekt gegenüber der kapitalistischen Ordnung beigemessen wurde. Die Neutralisierung vollzog sich bekanntlich nicht durch die Niederschlagung des Proletariat als solches – sind doch die Arbeiter als Subjekte der Arbeit unabdingbar für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion –, sondern kraft seiner effektiven Integration in die kapitalistische Gesellschaftsstruktur, zum einen durch die merkliche Hebung seines wirtschaftlichen Lebensstandards, ein Umstand, der die soziale Kluft zwar mitnichten aufzuheben vermochte, zugleich aber einen Zustand herstellte, bei dem das (nach Marxscher Vorstellung zunehmend pauperisierte) Proletariat durchaus noch anderes als nur seine gesellschaftlichen „Ketten“ zu verlieren hatte; zum anderen aber vermittels der von einer dicht durchstrukturierten, sich immerzu vergrößernden und verbreiternden Kulturindustrie bewerkstelligten systematischen Manipulation der Massen, des Werks einer gewaltigen Apparatur mit doppelter Funktion: die ständige bewusstseinsmäßige Zerstreuung der Menschen durch eine Flut von billiger Unterhaltung, organisiertem Fun und anderen Mechanismen einer sich „demokratisch“ gerierenden Massenkultur einerseits; und die Zurichtung auf ein obsessiv angeheiztes Konsumverhalten durch Werbe-, Vermarktungs- und hoch entwickelten PR-Strategien, allesamt Erzeugnisse eines zunehmend verdinglichten Bewusstseins (einschließlich der systematischen Narkotisierung seiner kritischen Impulse) und einer Warenfetischisierung von nie gekanntem Ausmaß andererseits. Es entstand so der merkwürdige Zustand, dass mit dem Sieg des Kapitalismus (inklusive der institutionellen Affirmation seiner Ausbeutungsverfahren und deren Ideologisierung) – mit der Verwirklichung der Realität also, aus der, Marx zufolge, die emanzipatorischen gesellschaftlichen Negationskräfte hätten erstehen sollen –, nicht nur kein solcher neuer Negationsträger hervorkam, nachdem

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die Reste der organisierten Arbeiterbewegung degeneriert bzw. vollends verschwunden waren,1 sondern die alten Begriffskategorien selbst lösten sich dermaßen auf, dass es in der heutigen spätkapitalistischen Welt immer schwieriger wird, den sozialen Ort der Arbeiterklasse zu benennen, wie es denn nahezu unmöglich geworden ist, die Entstehungsquellen des Kapitals zu bestimmen, geschweige denn seine Bewegungen zu verfolgen: Im gleichen Zug der Anonymisierung des Kapitals amorphisierte sich gleichsam die Arbeiterklasse. Dies hat zwar in hohem Maße mit der heute viel diskutierten Globalisierung des Kapitalismus (einer von Marx und Engels bereits im „Kommunistischen Manifest“ prognostizierten Tendenz), einschließlich der mit dieser einhergehenden Aufhebung der nationalen Grenzen des Arbeitsmarktes (eine Tendenz, die von den Verfassern des „Manifests“ noch nicht in Anschlag gebracht werden konnte) zu tun, wurzelt indes, wie gesagt, nicht minder in der Verblassung bzw. vollkommenen Auflösung des Klassenbewusstseins derer, die sich selbst nicht mehr als „Proletariat“ verstehen, wiewohl sie de facto wie das Proletariat ausgebeutet werden und (freilich anders als zu Marx’ Zeiten) „gekettet“ sind. Daraus erhellt sich, dass die herrschende Klasse (bzw. jene Gesellschaftsschichten, die das objektive Interesse am Fortbestand des Kapitalismus haben) nicht nur „siegt“, weil der Kapitalismus weiterhin unangefochten existiert und expandiert, sondern auch, weil die, die an seinem Untergang interessiert sein müssten, sich gar nicht dessen bewusst sind, dass sie Träger dieses objektiven Interesses seien. Die tragische Dimension dieser Entwicklungsphase im Spätkapitalismus manifestiert sich real sowohl in der Barbarei einer sich global öffnenden Kluft zwischen den industriell entwickelten Weltteilen und deren unterentwickelten Regionen, der sogenannte Dritten bzw. Vierten Welt, deren rückständiger Entwicklungsstand von unmittelbarer physisch-materieller Konsequenz für deren Bewohner ist, als auch in der im hoch entwickelten Kapitalismus selbst herrschenden Irrationalität – die einer Produktionsweise, die ein technisches Fortschrittsniveau erreicht hat, welches die Minimisierung notwendig entfremdeter Arbeit längst ermöglichen könnte, de facto aber als Grundlage eines immer stärker verwurzelt perpetuierten Kapitalismus samt neuförmig institutionalisierter Repressions- und Entfremdungsmechanismen fungiert. Aus nämlichem Grund nimmt sich die Zukunft der kapitalistischen Wirklichkeit als besonders bedrohlich für diejenigen aus, die auch unter den strukturell gewandelten Verhältnissen weiterhin ihre Herrschafts- und Ausbeutungsobjekte par excellence abgeben werden müssen: Da der technische Fortschritt in eine stetig abnehmende Abhängigkeit von Arbeitskräften münden wird, dies jedoch, wie gesagt, nicht zum allgemeinen Wohl(stand) gereichen dürfte, wird sich die traditionelle Arbeitssphäre notwendig erheblichen Erschütterungen ausgesetzt sehen; nicht nur wird die strukturelle Arbeitslosigkeit steigen, sondern der Arbeitsbegriff selbst (in seiner althergebrachten Bedeutung als erworbener Beruf und feste Erwerbsquelle

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Herbert Marcuse zufolge verlagert sich freilich die der Arbeiterbewegung zugeschriebene revolutionäre Rolle auf andere gesellschaftliche Randgruppen; eine in sich wieder nicht unumstritten geblieben These; vgl. hierzu Marcuse 1967, S. 45–48.

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des Menschen) wird radikalem Wandel unterzogen werden müssen – in mittelfristigen Prognosen spricht man in diesem Zusammenhang von zunehmender Austauschbarkeit der professionellen Betätigungsfelder des Individuums, einer „Flexibilisierung“, die einem (infolge des immer rasanteren Wandels im Bereich der zuweilen in der Tat revolutionären Produktionsmittelentwicklung) stetig steigenden Wettbewerb im Arbeitsmarkt geschuldet ist. Dies, wohlgemerkt, ohne auf die Veränderungen der professionellen Arbeit selbst in den allermeisten Bereichen moderner kapitalistischer Wirtschaft einzugehen, Veränderungen, die auf die zu erwartende künftige Entwicklung verweisen und eine wesentliche Erosion im klassischen Begriff der proletarischen Arbeit indizieren. Vor diesem Hintergrund erheben sich zwei zentrale Fragen im Hinblick auf die Möglichkeit einer aus der eindimensionalen Wirklichkeit sich entfaltenden Negation des Kapitalismus: Wenn man zum einen die kapitalistische Gesellschaft in traditionellen marxistischen Kategorien betrachtet, hat sich Ideologie (z. B. in der Form der Kulturindustrie) nicht bereits deutlich in einen integralen Bestandteil der basalen Praxis, mithin zum bedeutendsten Hindernis der Herausbildung eines emanzipatorisch ausgerichteten Bewusstseins der ausbeuterisch beherrschten sozialen Klassen verwandelt? Und verfolgt man zum anderen die in den beiden letzten Generationen an der Basis erfolgten Veränderungen, kann man eine prägnante soziale (geschweige denn klassenmäßige) Kategorie herausheben, von der sich behaupten ließe, in ihr manifestiere sich das revolutionäre Kollektivsubjekt? Mehr noch: Vermöchte dieses seinem historischen Wesen nach nationale Kollektivsubjekt angesichts des längst schon übernational expandierenden Kapitalismus einen reellen Agenten sozialen Strukturwandels abzugeben? Nicht zuletzt diesen Einsichten sahen sich bereits die klassischen Vertreter der Kritischen Theorie gegenübergestellt und deren Klärung verpflichtet. Man vergisst dies für gewöhnlich: Bei aller marxistisch beseelten Emphase – bei Adorno und Marcuse erhielt sie sich bis an ihr Lebensende – waren die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung von Anbeginn mit der Frage befasst, warum es im Westen nicht zur Revolution gekommen war, mithin mit dem Problem eines strukturell gewandelten Kapitalismus, den man nicht von ungefähr als Spätkapitalismus apostrophierte, und den ihm anverwandten Kategorien der „eindimensionalen Gesellschaft“ (Marcuse) und des „universellen Verblendungszusammenhangs“ (Adorno). Denn gerade weil das Wesen des Kapitalismus – die private Aneignung kollektiver gesellschaftlicher Arbeit, d. h. die systematische Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – fortbesteht; gerade weil die alltägliche Fähigkeit, jenes Wesen zu erfassen, sich infolge der beschleunigten Entfaltung ideologischer Apparate und Mechanismen, welche die Verblendung der Opfer des kapitalistischen Systems befördern (und zwar nicht nur jener unmittelbar in ihrem materiellen Dasein und ihrer sozialen Sicherheit betroffenen, sondern all ihrer Opfer), zunehmend schwächt; und gerade weil wir Zeugen einer zunehmenden Fetischisierung der Unfähigkeit sind, das Barbarische am Kapitalismus direkt zu erfassen, mithin einer Hingabe an eine fatalistisch-stoische Stimmung, die sich mit einem verstärkten blinden Glauben verbindet, dass die Verhältnisse nun mal so seien und so sein müssten – gerade wegen der spezifischen Verkettung dieser wirkmächtigen Faktoren und weil man

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sich darüber, was Menschen einander unter repressiven gesellschaftlichen Verhältnissen antun können, keine naive Gutgläubigkeit mehr leisten darf, konnte es für sie keine Option einer längerfristigen Hinnahme der bestehenden Barbarei und ihrer noch so effektiv ideologisierten Legitimierung geben. Adorno war es, der – die weltgeschichtliche Bedeutung des Holocaust anvisierend – sagte: „Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte“. (Adorno [1966a]/1971, S. 92)

Mit anderen Worten: Das Offensichtliche an den gesellschaftlichen Bedingungen, die tendenziell das Allerschlimmste hervorzubringen vermögen, ist irrelevant für den schieren Tatbestand ihres perennierenden Fortbestehens als Potenzial zunehmenden menschlichen Grauens. Relevant ist es einzig für die Einsicht darin, dass die innere Logik des Kapitalismus stets wiederkehrende Katastrophen großer Teile der Menschheit – und letztendlich der gesamten Menschheit – zeitigen muss. Der ökonomische Wohlstand in gewissen Teilen der Erde mag die, die in seinen Genuss kommen, für die Quellen des Wohlstands blind machen; der religiöse Glaube mag die Opfer von Not und Leid über ihr so geartetes Dasein „hinwegtrösten“; verlogene Ideologien vermögen wohl, denen einen zeitweiligen Optimismus einzuhauchen, die zwar begriffen haben, dass die bestehende Wirklichkeit die Möglichkeit großer Katastrophen in sich birgt, sich gleichwohl weigern, die Anatomie ihrer sozioökonomischen Ursachen (und – davon abgeleitet – die Genese sozial-psychischer Muster, die die unbewusste Absegnung nämlicher Wirklichkeit mutatis mutandis bedienen) zu begreifen, mithin sich für deren Aufhebung zu aktivieren. Was dabei unverändert bleibt und aus der es reproduzierenden Eigenlogik weiterhin mit nicht versiegender Energie funktioniert, ist der Fortbestand des kapitalistischen Systems: eines Systems, das die Produktionsmittel zur höchsten Entfaltung gebracht hat, diese aber zur Vertiefung der barbarischen Kluft zwischen verschiedenen Regionen der Welt, aber auch zwischen den verschiedenen Schichten in den kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften selbst zum Einsatz bringt; das in seinem Wesen unfähig bleiben muss, nicht ausbeuterisch, nicht repressiv zu funktionieren, mithin den Egoismus als Lebensmaxime, die soziale Kälte als Quelle vermeintlicher Macht ideologisiert; das alles Menschliche, einschließlich des Intimsten des Einzelmenschen, dem Tauschprinzip der Ware, den Verdinglichungsprozessen seines Körpers und Bewusstseins und der fortwährenden Fetischisierung seiner (vermeintlich freiwilligen) Unterdrückung unterwirft; das aber vor allem in der gegenwärtigen Phase ideologisch davon zehrt, dass der aufgebotene geschichtliche Gegenentwurf (welchem freilich die notwendigen historischen Bedingungen für seine emanzipative Entfaltung nie gegeben waren) eklatant zusammengebrochen ist, und das „verwaiste“ kapitalistische System mit dem verblieb, was seiner Natur und Ausrichtung noch am ehesten entspricht: der Maximierung des Monopols über die Gestaltung des

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real Bestehenden, um seinen eigenen wesenhaften Zweck – die Profitmaximierung – mit umso größerer Effizienz perpetuieren und befördern zu können. Der Bezug auf Marx bei der Bildung des Gesellschaftsbegriffs der klassischen Kritischen Theorie bedurfte, von der konzeptuellen Substanz her gesehen, keiner besonderen Begründung. Marx war ein Sozialphilosoph, dessen Bild von der Gesellschaft bzw. der gesellschaftlichen Praxis der Menschen man annehmen konnte oder nicht, aber sein Denkgebäude konnte nicht leichtfertig abgeschlagen werden; selbst seine kompetenten Kritiker mussten ihm stets mit gebührendem geistigen Respekt begegnen. Nicht so selbstevident verhielt es sich bei der Adaption der Freudschen Psychoanalyse zur Erforschung von Strukturen und Prozessen der Gesellschaft des Spätkapitalismus. Wie oben dargelegt, begegneten sich zunächst die orthodoxen Disziplinen des Marxismus und Freudismus gegenseitig mit einigem Misstrauen. Und doch kann die von den Denkern der Kritischen Theorie vollzogene Synthese dieser Disziplinen auch im Hinblick auf die Erweiterung des Begriffs, den sie von der Gesellschaft generierten, nicht hoch genug geschätzt werden. Als besonders bedeutend darf hierbei die Erforschung des sogenannten „autoritären Charakters“ gelten, und zwar nicht nur hinsichtlich des gewichtigen Beitrags zur Bildung der politischen Sozialpsychologie im 20. Jahrhunderts, sondern mutatis mutandis auch im Hinblick auf die Entwicklung des marxistischen Ideologiebegriffs. Dieser Dimension im Denken der Kritischen Theoretiker der ersten Stunde seien folgende Darlegungen gewidmet. In der Einleitung zu „Studien zum autoritären Charakter“ verweist Adorno auf die Anlehnung der präsentierten Untersuchungen an der Hypothese, dass „die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ‚Mentalität‘ oder einen ‚Geist‘ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und dass dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist“ (Adorno [1950b]/1973, S. 1). Adornos Hauptaugenmerk ist dabei auf das von ihm so benannte „potentiell faschistische Individuum“ gerichtet, er geht jedoch davon aus, dass jede Untersuchung, die dem „Problem politischer Typen“ nachgeht, einer Unterscheidung zwischen der Konzeption der „Ideologie“ und „der ihr zugrundeliegenden menschlichen Bedürfnisse“ bedarf. Begreift man dabei Ideologie als ein „System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen“, mithin als „eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft“, lässt sich Adornos Verknüpfung beider Konzeptionen nachvollziehen: „Wir können von der Gesamtideologie eines Individuums sprechen oder von seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: Politik, Wirtschaft, Religion, Minderheiten und anderes. Ideologien bestehen, unabhängig vom Einzelnen, und die Ideologien bestimmter Epochen sind ebenso Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Geschehens. Je nach dem individuellen Bedürfnis und dem Ausmaß, in dem dieses befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, haben sie für die einzelnen Individuen verschieden starke Anziehungskraft“ (Adorno [1950b]/1973, S. 2 f.). Gravierend ist dabei, dass besagte Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen, die das ideologische System des Einzelnen bilden, sich zwar mehr oder minder offen artikulieren, psychologisch gesehen jedoch „an der Oberfläche“ bleiben. Die

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Reaktion des Individuums auf emotional geladene Fragen hängt von dessen spezifischer Situation ab; in bestimmten Fällen können sich daher „Diskrepanzen“ ergeben „zwischen dem, was er sagt, und dem, was er ‚wirklich denkt‘“. Adorno hebt hervor, dass der Erfassung jener „verborgenen Tendenzen“, welche das Individuum nicht nur vor seiner Umgebung, sondern auch vor sich selbst verbirgt, besondere Bedeutung zukomme, weil angenommen werden könne, dass genau hier „das Potential für demokratische oder antidemokratische Ideen und Handlungen in entscheidenden Situationen liegen“ (Adorno [1950b]/1973, S. 5). Von selbst versteht sich, dass eine solche Theorie der Charakterstruktur sich „eng an Freud“ anlehnt. Charakterkräfte hat man daher als „Bedürfnisse“, mithin als „Triebe, Wünsche [und] emotionale Impulse“ zu begreifen. So lässt sich denn der Charakter in seiner Funktion als „Organisation von Bedürfnissen“, welche auf besagte Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen des Einzelnen einwirken, als „Determinante ideologischer Präferenzen“ begreifen, nicht jedoch als „endgültige Determinante“. Adorno hebt ausdrücklich hervor, dass der Charakter nie von vornherein gegeben sei, sondern sich unter dem Druck der Umweltbedingungen heranbilde, und dies umso gründlicher, „je früher sie in der Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Rolle spielten“. Wenn also die Charaktergenese vom Erziehungsprozess und der häuslichen Umgebung des Kindes entscheidend geprägt wird, muss man wirtschaftlichen und sozialen Faktoren eine tiefe Einflussnahme auf diese Entwicklung beimessen. Denn: „Nicht nur folgt jede Familie hier den Gewohnheiten der eigenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppe, auch ökonomische Faktoren beeinflussen das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Umfassende Veränderungen in sozialen Bedingungen und Einrichtungen wirken sich daher unmittelbar auf die innerhalb einer Gesellschaft entstehenden Arten von Charakterstrukturen aus“. (Adorno [1950b]/1973, S. 7)

Bei Erich Fromm heißt es: „Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen“ (Fromm 1985, S. 23 f.). Wenn also die Kräfte, von denen es heißt, sie formierten den Charakter des Individuums, auch jenen „Kitt“ bilden, welcher auf die interpersonellen Beziehungen, mithin aufs kollektive Leben einwirkt, diese Kräfte jedoch selbst vom Sozialen geprägt sind, so kann Adorno die Charakterstruktur als „eine Agentur“ definieren, die „soziologische Einflüsse auf die Ideologie vermittelt“ (Adorno [1950b]/1973, S. 8; vgl. auch Fromm [1941]/1983, S. 144). Aus dem Begriff der Charakterstruktur entfaltet sich bei Fromm der Sekundärbegriff des „Gesellschafts-Charakters“. Es soll hier nicht näher auf ihn eingegangen werden. Im anstehenden Zusammenhang ist die von Fromm vorgenommene Kategorisierung verschiedener Erscheinungsformen des Gesellschafts-Charakters eher von Belang; als deren prägnanteste mag die des sogenannten „autoritären Charakters“ erachtet werden. Die Bezeichnung steht bei Fromm (nach eigenem Bekunden) für den Begriff des „sado-masochistischen Charakters“, was damit begründet wird,

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dass sich der sado-masochistische Mensch deutlich durch eine besondere Beziehung zur Autorität auszeichne: „Er bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben“ (Fromm [1941]/1983, S. 144). Die Kategorie der Autorität wird jedoch nicht als Eigenschaft des Einzelnen begriffen, sondern als „zwischenmenschliche Beziehung, bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet“ (Fromm [1941]/1983, S. 145). Vor allem aber gilt in diesem Zusammenhang, dass „autoritärer Charakter“ die Persönlichkeitsstruktur benennt, welche „die menschliche Grundlage des Faschismus bildet“ (Fromm [1941]/1983, S. 144). Fromm hebt dabei unterschiedliche Aspekte der Autorität hervor. Die Autorität müsse z. B. „nicht unbedingt eine Person oder eine Institution sein, die sagt: ‚Du musst das tun‘ oder ‚Das darfst du nicht tun‘. Man könnte diese Form als äußere Autorität bezeichnen, aber sie kann auch als innere Autorität: als Pflicht, Gewissen oder Über-Ich auftreten“ (Fromm [1941]/1983, S. 146). Das gesamte moderne Denken vom Protestantismus bis hin zu Kant lasse sich, Fromm zufolge, letztlich als die Ersetzung der äußeren durch die internalisierte Autorität denken: „Durch die politischen Siege des aufsteigenden Bürgertums verlor die äußere Autorität an Ansehen, und das eigene Gewissen nahm den Platz ein, den diese innegehabt hatte, worin viele einen Sieg der Freiheit sehen. Sich (zum mindesten in religiösen Dingen) Anordnungen von außen zu unterwerfen, schien nun eines freien Mannes unwürdig. Dagegen sah man im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der ‚Selbstbeherrschung‘, das heißt in der Beherrschung des einen Teils des Menschen – seiner Natur – durch einen anderen Teil seines Wesens – seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen – das Wesen der Freiheit.“ Die Analyse zeige freilich, dass das Gewissen ein ebenso „strenger Zwingherr“ sei wie äußere Autoritäten. Zudem erweise sie, dass „die Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde ethischer Normen angenommen haben. Die Herrschaft des Gewissens kann sogar noch strenger sein als die äußeren Autoritäten, weil der Betreffende die Befehle seines Gewissens als ureigenste erfährt. Wie aber kann jemand gegen sich selbst rebellieren?“ (Fromm [1941]/1983, S. 147). Es sei gleichwohl hervorgehoben, dass die pure Erscheinungsform des autoritären Charakters in der realen Welt selten, wenn überhaupt je, vorzufinden sei. Die „realen“ Erscheinungsformen können darüber hinaus trügen. Fromm weist darauf ausdrücklich hin, indem er auf gewisse Neigungen des autoritären Charakters, sich der Autorität zu widersetzen und gegen Einflüsse „von oben“ zu wehren, eingeht. Solcher Widerstand sei zuweilen solchermaßen dominant, dass er den äußeren Ausdruck der Unterwerfung bis zur Unkenntlichkeit verwische. Dieser Typ des autoritären Charakters widersetzt sich stets irgendeiner Autorität, ohne wahrzunehmen, wann er dabei sogar seinen eigenen Interessen zuwider handelt. Andere haben ein gespaltenes Verhältnis zur Autorität; sie lehnen sich gegen eine bestimmte Autorität auf (besonders gegen eine, die sich wider Erwarten als schwach entpuppt hat), um sich einer anderen, die ihre „masochistischen Sehnsüchte“ besser zu erfüllen vermag, zu unterwerfen. Es gibt zudem jenen autoritären Charakter, der seine Auflehnungsneigungen vollkommen verdrängt, sodass diese nur a posteriori in Form

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von Hassgefühlen gegenüber der Autorität auszumachen sind, besonders dann, wenn deren Macht schwindet und sie zu stürzen droht. Wenigstens bei der ersten Kategorie handelt es sich, Fromm zufolge, um Menschen mit einem vermeintlich stark ausgeprägten Unabhängigkeitsbedürfnis, Menschen, die mutig gegen jene Machthaber und Autoritäten ankämpfen, die der Erfüllung dieses Bedürfnisses im Wege zu stehen scheinen. Der Schein trügt freilich, denn der Kampf des autoritären Charakters gegen die Autorität wurzelt wesentlich im „Trotz“ (Fromm [1941]/1983, S. 148 f.). Es handelt sich um den Versuch, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, ohne dass dabei das (bewusste, vor allem aber eben unbewusste) Bedürfnis, sich der Autorität zu unterwerfen, tatsächlich bewältigt würde: „Ein autoritärer Mensch ist niemals ein ‚Revolutionär‘, lieber würde ich ihn einen ‚Rebellen‘ nennen. Viele Menschen und viele politische Bewegungen sind dem oberflächlichen Beobachter ein Rätsel, weil sie anscheinend unerklärlicherweise vom ‚Radikalismus‘ zu einem äußerst autoritären Gehabe hinüberwechseln. Psychologisch handelt es sich bei solchen Menschen um typische ‚Rebellen‘“. (Fromm [1941]/1983, S. 126)

Die Einstellung des autoritären Charakters zum Leben, seine gesamte Weltanschauung werde von seinen emotionalen Strebungen bestimmt. Er habe eine ausgeprägte Vorliebe für Lebensbedingungen, welche die menschliche Freiheit einschränken, er liebe es, sich dem Schicksal zu unterwerfen. Was dabei unter „Schicksal“ verstanden wird, hänge primär von der gesellschaftlichen Stellung des autoritären Charakters ab: „Man kann Schicksal philosophisch als ‚Naturgesetz‘ oder als ‚Los des Menschen‘, religiös als ‚Willen des Herrn‘ oder moralisch als ‚Pflicht‘ rationalisieren – für den autoritären Charakter ist es stets eine höhere Macht außerhalb des einzelnen Menschen, der sich jeder nur unterwerfen kann. Der autoritäre Charakter verehrt die Vergangenheit. Was einmal war, wird in alle Ewigkeit so bleiben. Sich etwas noch nie Dagewesenes zu wünschen oder darauf hinzuarbeiten, ist Verbrechen oder Wahnsinn. [...] Der Mut des autoritären Charakters ist im Wesentlichen ein Mut, das zu ertragen, was das Schicksal oder ein persönlicher Repräsentant oder ‚Führer‘ für ihn bestimmt hat. [...] Nicht das Schicksal zu ändern, sondern sich ihm zu unterwerfen, macht den Heroismus des autoritären Charakters aus“ (Fromm [1941]/1983, S. 149 f.). Bei der Erörterung der Kategorie der Angst postuliert die sich auf Freud berufende Psychoanalytikerin Thea Bauriedl einen Zusammenhang zwischen der individuellen und der allgemeinpolitischen Dimension der Angst. Die Angst sei sowohl in der Politik als auch im persönlichen und psychotherapeutischen Rahmen immer dann „neurotisch“ bzw. gefährlich, wenn sie verschoben ist, d. h., „wenn das als angstauslösend erlebte Objekt nur deshalb gefürchtet wird, weil man sich vor ihm scheinbar gefahrloser fürchtet als vor der eigentlichen Angstquelle“. Die eigentliche Angstquelle sei aber immer die zugrunde liegende Konfliktsituation. Für den neurotischen Vorgang der Verschiebung von Angst oder der Projektion von Gefährlichkeit gebe es sowohl in der Politik als auch in der Psychopathologie zahllose Beispiele. „Jeder Mensch manipuliert sich in größerem oder kleinerem Ausmaß

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selbst, indem er seine Ängste verschiebt“ (Bauriedl 1986, S. 29 f.). Es geht hierbei nicht um die simple Analogisierung von vermeintlich verschiedenen Sphären, sondern vielmehr um die Einsicht in die wesenhafte Verwurzelung des Kollektivpsychischen in der Psychologie des Einzelnen bzw. um das Postulat einer determinanten Wirkung der individuellen Triebdynamik auf die Kollektivsphäre, wie sie von Freud selbst dargelegt wurde (Freud 1921/1982, S. 61 ff.). Gerade deshalb sollte freilich eine Erörterung der Wechselwirkung von Individuell- und Kollektiv-Politischem im Sinne des von Adorno seinerzeit gegen Arthur Koestler erhobenen Einwands eingeschränkt werden: „Es gibt keine ‚politische Neurose‘, wohl aber beeinflussen psychische Deformationen das politische Verhalten, ohne doch dessen Deformation ganz zu erklären“ (Adorno 1971, S. 91). Auf solcher Grundlage durfte er behaupten, die Struktur des Faschismus und die gesamte Technik faschistischer Demagogen sei autoritär (Adorno [1950a]/1971, S. 43), zugleich aber auch ausdrücklich hervorheben, dass „so gewiß der faschistische Agitator bestimmte innere Tendenzen derer aufgreift, an die er sich wendet, so tut er das doch als Agent mächtiger wirtschaftlicher und politischer Interessen“ (Adorno [1950a]/1971, S. 62). Dies ist für die weiterfolgenden Überlegungen von Bedeutung. Es belangt mithin das dialektische Verhältnis von als „Kitt“ des sozial-politischen Systems fungierenden psychischen Bedürfnissen und selbigem System, das besagte Bedürfnisse ideologisch „erweckt“, reproduziert und affirmativ verfestigt. Die Bedürfnismanipulation im Dienste heteronomer Interessen ist, so besehen, in zweierlei Hinsicht ideologisch: Zum einen verfrachtet sie die letzten Reste des Authentischen an den (wie immer pathologischen und deformierten) Bedürfnissen in die Tauschsphäre und objektiviert so die emotionalen Bedürfnisse, verwandelt sie in Waren; zum anderen betreibt sie die Konservierung, fortwährende Formung und gelegentliche Befriedigung nämlicher Bedürfnisse und versichert sich so ihrer Funktion als Bedürfnisse, als etwas also, das sich nur noch vermittels seiner Befriedigung eliminieren lässt (bzw. durch die Errichtung eines Systems, das der Pathologie jener Bedürfnisse für seinen Fortbestand nicht mehr bedürfte). Man mag in diesem Zusammenhang an Adornos Diktum denken, demzufolge die totalitäre Psychologie „den Primat einer gesellschaftlichen Realität“ spiegele, „welche Menschen erzeugt, die bereits ebenso irr sind wie jene selber. Der Irrsinn aber besteht gerade darin, dass die eingefangenen Menschen nur als Agenten jener übermächtigen Realität fungieren, dass ihre Psychologie nur noch eine Durchgangsstation von deren Tendenz bildet“ (Adorno [1950b]/1973, S. 91). Das unter anderem meinte wohl seinerzeit Alexander Mitscherlich, als er behauptete: „Die Angstbeengung, die in jeder Tradition sowohl aufrechterhalten wie in der Befolgung der Gebote beschwichtigt wird, steht uns auf Schritt und Tritt im Wege. An die Umstände sind immer harte Interessen geknüpft, man kann ihnen nur entgegentreten, wenn man die Angst überwindet, die zu ihrer Wahrung erweckt wird. Die ideologisch manipulierte Angst ist kein Schutzmechanismus der Arterhaltung, sondern eine zweifelhafte Taktik, die man am besten mit Zweifel abwehrt“ (Mitscherlich 1963, S. 300). Nun ist aber die Angstmanipulation nicht notwendig an konkreten Personen oder Institutionen auszumachen. Sowenig es jemals wirklicher „Weisen von Zion“ zur Verfassung und Verbreitung ihrer „Protokolle“ bedurfte, so

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ist die Ideologisierung der Angst nicht unbedingt an ein bestimmtes Subjekt gebunden. Das ist es ja, was ihren manipulativen Charakter ausmacht: Objektiv dient sie immer einem bestimmten Interesse, ohne dass es der Manipulierte unmittelbar erkennt (zumeist ist er zu sehr mit seiner Angst beschäftigt), zuweilen auch ohne dass der Manipulierende selbst sich des ihn leitenden Interesses ständig bewusst ist. Haben sich die Rationalisierungen von manipulierenden Trägern partikularer Interessen und deren „Opfer“ dermaßen ineinander vermengt und verfestigt, dass sie kaum mehr auseinanderzuhalten sind, kann man von einer übergreifenden Ideologie, einem kollektiven „falschen Bewusstsein“ („nationalem Konsens“ etwa), sprechen. Was in diesem Zusammenhang metatheoretisch besonders hervorgehoben werden muss, ist, dass die hier dargelegte Einbeziehung des psychoanalytischen Freudschen Paradigmas den ursprünglich von Marx abgeleiteten Ideologiebegriff um eine wirkmächtige Dimension erweitert. Denn mögen die Funktionsweisen und Auswirkungen von Ideologie bei Marx noch so vielschichtig und -förmig geartet und gestaltet sein, so sind sie doch allesamt vornehmlich dem kognitiven Bereich zuzuzählen, mithin der Sphäre des Rationalen unterzuordnen. Wenn ein Bewusstsein falsch ist, dann ist es potenziell auch ins Richtige wendbar, namentlich dann, wenn das Falsche an ihm aufgeklärt und richtiggestellt worden ist. Das falsch denkende (bzw. das zum falschen Denken verführte) Individuum kann sich des Falschen bewusst werden, also lernen, richtig zu denken und seine soziale Welt zu erkennen. Davon ist bei Marx stets auszugehen; er ist darin in der Tat ein Zögling der Aufklärung. Mit der von den Frankfurter Denkern vorgenommenen Einbeziehung der Psychoanalyse in den Ideologiebegriff wird dieser aber um die Kategorie der psychisch generierten Bedürfnisse erweitert, womit mutatis mutandis eine Dimension des Irrationalen in das Phänomen des Ideologischen eingeschleust wird. Denn eine Sache ist es, falsch Gedachtes vernünftig richtigzustellen, eine ganz andere, psychische Bedürfnisse zu überwinden, geschweige denn, zu „widerlegen“. Man kann einem freiheitsbestrebten Menschen rationale Rechtfertigungen und praktische Handlungsanweisungen zur Verwirklichung der Bestrebung anbieten. Was kann man aber jemandem anbieten, dessen tiefstes, ihm selbst unbewusstes Bedürfnis es ist, nicht frei zu werden, und der ganze ideologische Kathedralen für sein unterwürfiges, subalternes Dasein aufgebaut hat? Man hat der Kritischen Theorie vorgeworfen, politische Praxis mit derlei Einsichten in eine Sackgasse geführt zu haben. Ganz ohne Zweifel ist mit der Kategorie der unbewussten psychischen Bedürfnisse einiges an der unbeschwerten Vorstellung vom freien Handeln des (freien) Individuums zumindest kontaminiert worden. Die gängige heteronome Verurteilung dieses Umstands mündet im Vorwurf des Pessimismus, der nicht nur bei Freud vorzufinden sei, sondern sich eben auch in das Denken der kritischen Theoretiker eingeschlichen habe. Der Umgang mit diesem Vorwurf darf nicht apologetisch geraten. Denn wenn die Einsicht in das Wesen des (hier als prägnantes Beispiel angeführten) autoritären Charakters richtig ist, und die von seinem Phänomen sich ableitenden Einblicke in die Abgründe Auswirkungen seiner geschichtlichen Wirkmächtigkeit beleg- und nachvollziehbar sind, dann ist es unredlich und letztlich schädlich, das Phänomen samt seiner politischen Wucherungen in Abrede zu stellen. Zu katastrophisch waren seine politischen und historischen

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Auswirkungen im 20. und mittlerweile auch schon im 21. Jahrhundert, als das man sich leisten könnte, sich das Menschen- und Menschheitsbild durch narzisstische Wunschvorstellungen und ekstatischem Aufklärungsoptimismus verstellen zu lassen. So besehen, waren die Frankfurter Denker auch Kinder ihrer Zeit – einer Zeit, die Auschwitz hervorgebracht hatte, und ein radikales Umdenken auch im Hinblick auf Gewissheiten der Moderne insgesamt und der Aufklärung insbesondere. „Dialektik der Aufklärung“ war das Resultat des Traumas angesichts dessen, was sich gerade in den Regionen und der Sphären der europäischen Aufklärung zugetragen hatte. Nicht von ungefähr meinte Adorno bei seinem Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag, welcher der makrotheoretischen Erörterung des Zustands entwickelter Gesellschaftssysteme gewidmet war, der „mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse nicht Vertraute könnte auf den Verdacht geraten, es handele sich um einen Nomenklaturstreit; Fachleute seien von der eitlen Sorge geplagt, ob die gegenwärtige Phase nun Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft heißen solle“ (Adorno 1968/1975, S. 158). Ob es dabei dem mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse sehr wohl Vertrauten heute anders gehen mag, darf bezweifelt werden. Aktuelle Kodeworte wie Globalisierung, Zivil-, Konsum-, Medien-, gar „Spaß“ gesellschaft indizieren ein genuines Bedürfnis, offensichtliche Transformationen, die moderne Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten weltweit durchliefen, begrifflich zu fassen, kaschieren jedoch nicht minder den Umstand, dass sich am Wesen dessen, was im Begriff als obsolet abgetan wird, nichts Grundlegendes geändert hat. Trotz aller Umbenennung ist der (Spät-)Kapitalismus samt der ihm einwohnenden Herrschafts-, Ausbeutungs- und Manipulationsmechanismen mitnichten aus der Welt geschafft, sondern unterläuft lediglich einen euphemistisch modifizierten Absegnungsdiskurs, der sich gerade im Nomenklaturstreit (der freilich heute kaum noch „Streit“ genannt werden kann; das reale Kräfteverhältnis der objektiven Weltlage hat sich auf den agonalen theoretischen Diskurs merklich ausgewirkt) als Ideologie höchster Stufe erweist. Adorno hat hierauf im besagten, nunmehr ca. fünfzig Jahre alten Vortrag prägnanten Bezug genommen. Er unterstrich durchaus den objektiv stattgefundenen Wandel im Bereich der Produktionsmittel, meinte darüber hinaus, man dürfe sich zur bündigen Disjunktion von Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft gar nicht nötigen lassen, bestand jedoch vor allem darauf, dass Herrschaft weiter über Menschen durch den ökonomischen Prozess hindurch ausgeübt werde, nur dass dessen Objekte „längst nicht mehr nur die Massen [sind], sondern auch die Verfügenden und ihr Anhang. Der alten Theorie gemäß wurden sie weithin zu Funktionen ihres eigenen Produktionsapparats“. Und habe sich schon die Verelendungstheorie nicht à la lettre bewahrheitet, „so doch in dem nicht weniger beängstigenden Sinn, dass Unfreiheit, Abhängigkeit von einer dem Bewusstsein derer, die sie bedienen, entlaufenen Apparatur universal über die Menschen sich ausbreitet“ (Adorno 1968/ 1975, S. 164). Zwar werden nach Lebensstandard und Bewusstsein „vollends in den maßgebenden westlichen Staaten Klassendifferenzen weit weniger sichtbar als in den Dezennien während und nach der industriellen Revolution“ (Adorno 1968/1975, S. 158 f.), und doch sind stets noch „die Menschen, was sie nach der Marxischen

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Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel an die Maschinerie, nicht mehr bloß buchstäblich die Arbeiter, welche nach der Beschaffenheit der Maschinen sich einzurichten haben, die sie bedienen, sondern weit darüber hinaus metaphorisch, bis in ihre intimsten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln. Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen“ (Adorno 1968/ 1975, S. 165). Vor allem ging es aber Adorno um den von ihm so bezeichneten „Vorrang der Struktur“, darum eben, „daß Begriffe wie Tauschgesellschaft ihre Objektivität haben, einen Zwang des Allgemeinen hinter den Sachverhalten bekunden, der keineswegs stets zureichend in operationell definierte Sachverhalte sich übersetzen läßt“ (Adorno 1968/1975, S. 161). Auf dieser Grundlage lässt sich die oben zitierte Aussage Adornos über die perennierende Barbarei nach Auschwitz genauer umreißen: Auschwitz begreift sich als bereits stattgefundener „Rückfall in die Barbarei“, welche nun aber, da sie sich real zugetragen hat, als chronische Möglichkeit paroxystischer Wiederkehr nicht mehr wegzudenken ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass die strukturellen Bedingungen, die Auschwitz als Kulminationspunkt einer Gesamttendenz historisch zeitigten, als solche – als strukturell bedingte Konstellationen also – mitnichten überwunden sind, sondern stets fortwähren. Es handelt sich dabei keineswegs um außergewöhnliche Bedingungen, sondern um solche, die in der Tendenz ihrer eigenen realen sozialen- geschichtlichen Logik angelegt sind. Dass sie sich nun nicht als katastrophenträchtige Bedrohung darstellen, gar als Not „unsichtbar“ geworden sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im gesellschaftlichen Druck fortwirken – jenem vermeintlich normalen, gewöhnlichen, alltäglichen gesellschaftlichen Druck, der die „Menschen zu dem Unsäglichen [hintreibt], das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte“. In ihrer realen historischen Ausbildung mag sich die Monstrosität von Auschwitz als Ausnahmezustand ausnehmen, nicht jedoch als tendenzielles Potenzial der Realgeschichte. Wenn aber Barbarei real fortbesteht, „solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern“ (Adorno [1966a]/1971, S. 92), die Bedingungen jedoch in der Latenz verharren, „unsichtbar“ geworden sind, mag sich die Frage nach dem Wesen des Faschistischen unter äußerlich veränderten historischen Bedingungen stellen. Gemeint ist dabei nicht der staatlich organisierte bzw. sich im Staate vollendende Faschismus, sondern die strukturellen Prädispositionen für die Zurichtung des Faschistischen am Menschen. Statt sich auf konkrete Erörterung des Faschistischen in der Moderne einzulassen, seien hier zum Abschluss einige den Gesellschaftsbegriff der Frankfurter Kritischen Theorie belangenden metatheoretischen Überlegungen dargelegt. Zum Ausgangspunkt mag man Horkheimers und Adornos epochale Schrift „Dialektik der Aufklärung“ nehmen. Sie hätte bereits bei ihrem Erscheinen Mitte der 1940er-Jahre einige Verwunderung auslösen können, wenn sie damals schon eine Rezeption erfahren hätte. Es dauerte, bis es so weit war, aber auch als das Buch später bekannt wurde und großes Aufsehen erregte, verflog die Verwunderung nicht unbedingt. Was hatte es damit auf sich, dass ein Text, der sich mit der („Kulturindustrie“ genannten) Massenkultur der Moderne befasste, zwischen zwei Kapiteln

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platziert wurde, von denen das erste eine transhistorische Zivilisationstheorie (nebst zwei Exkursen) anbot, das dritte sich der Erörterung von „Elementen des Antisemitismus“ widmete, und das gesamte Kompendium mit einer Reihe philosophischer Aphorismen abgerundet wurde? Wie lässt sich eine solche Verkettung erklären, bei der die Debattierung der kommerziellen Massenkultur im gegenwärtigen Zeitalter, eine Zivilisationstheorie aus der Vogelflugperspektive und was sich als die erste geistige Auseinandersetzung mit der Katastrophe der Juden im 20. Jahrhundert unmittelbar nach der Shoah ausnimmt, gleichsam „gleichwertig“ nebeneinanderstehen, ja einen inhaltlichen Zusammenhang postulieren? Fasst man die dieser merkwürdig anmutenden Konstellation zugrunde liegende Logik zusammen, so lässt sich Folgendes sagen: Zivilisation in all ihren Ausformungen beruht stets auf einer zwangsläufigen Beherrschung der Natur durch den Menschen. Dabei geht es nicht nur um die Beherrschung der äußeren Natur, welche die Verwendung von Naturressourcen und die Herstellung von Bedingungen und Mitteln zur gesellschaftlichen Reproduktion ermöglicht, sondern auch um die Beherrschung der inneren Natur des Menschen. Diese ist notwendig, nicht nur weil der Mensch selbst Teil der Natur ist (was zur Folge hat, dass ihre Beherrschung unweigerlich mit einer Beherrschung des Selbst, also der Selbstbeherrschung einhergeht), sondern auch weil besagte Naturbeherrschung einer zunehmend sich ausdifferenzierenden Arbeitsteiligkeit verschwistert ist, die ihrerseits die Vergesellschaftung des Menschen, die Beherrschung seiner Triebe und Leidenschaften erfordert, was wiederum in die fundamentale Beherrschung des Menschen durch den Menschen mündet. Die zentrale Kategorie in dieser Auffassung des Zivilisationsprozesses ist demnach die der Herrschaft, mithin des repressiven Elements im Kultivierungsprozess der äußeren wie der menschlichen Natur. Bedeutende Denker wie Schopenhauer, Nietzsche und Freud erblickten darin bereits im 19. Jahrhundert das tragische Wesen der conditio humana (mit jeweils eigenen Schlussfolgerungen). Von selbst versteht sich dabei, dass dieser von Herrschaft durchwirkte Zivilisationsprozess die Genese des Individuums in der Menschheitsgeschichte prägte. Er generierte zum einen den Anspruch auf die historischen Bedingungen für die Heraufkunft des Einzelnen als autonom-souveränes Subjekt im eigenen Leben bzw. des Kollektivsubjekts als Souverän der Geschichte. Zum andern implizierte aber gerade die fortschreitende Verwirklichung dieses historischen Ziels die Entstehung von Strukturen zunehmender Entindividualisierung, welche das Postulat der individuellen Emanzipation zur leeren Ideologie verkommen ließ, und zwar gerade in einer Epoche, die avancierte ökonomische, politische und kulturelle Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Befreiung des Menschen bot. Es ging Horkheimer und Adorno, so besehen, um die Ergründung der transhistorischen Dialektik einer nach Emanzipation strebenden Zivilisation, die gerade aus besagtem Emanzipationstrebens heraus Strukturen der Verwerfung von Freiheit, mithin Mechanismen zum katatrophischen Verkommen des Individuums zum Exemplar heranbildet. Auschwitz ist ihnen Kulminationspunkt und Matrix des zivilisatorischen Unheils zugleich. Dabei wird aber das Auschwitzspezifische genau ins Auge gefasst. Was sich bereits in der „Dialektik der Aufklärung“ – also unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg – andeutet, wird zwanzig Jahre später, in Adornos „Negative Dialektik“,

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wie folgt formuliert: „Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, dass er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete. Enteignet wird das Individuum des Letzten und Ärmsten, was ihm geblieben war. Dass in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muss das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen. Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt“ (Adorno [1966b]/1982, S. 355). Adornos tiefe Verzweiflung darüber, dass Kultur nichts gegen diese Tendenz zur Integration (geschweige denn gegen die „absolute Integration“) vermochte, findet ihren prägnanten Ausdruck im Weiteren: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll. Indem sie sich restaurierte nach dem, was in ihrer Landschaft ohne Widerstand sich zutrug, ist sie gänzlich zu der Ideologie geworden, die sie potenziell war, seitdem sie, in Opposition zur materiellen Existenz, dieser das Licht einzuhauchen sich anmaßte, das die Trennung des Geistes von körperlicher Arbeit ihr vorenthielt“ (Adorno [1966b]/1982, S. 359). Aus dieser nach Auschwitz entstandenen, ihrem Wesen nach aporetischen Situation gibt es offenbar keinen wirklichen Ausweg: „Wer für Erhaltung der radikal schuldigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge“ (Adorno [1966b]/1982, S. 360). Unter diesem Gesichtspunkt begreift Adorno Auschwitz als Kulminationspunkt eines umfassenden Zivilisationsprozesses, der sich in der „total verwalteten Welt“ der Moderne als zunehmende Auslöschung des Individuums manifestiert. Gemeint ist die moderne Welt, die ihren historischen Ausgangspunkt gerade im „Glücksversprechen“ der Aufklärung, im Ideal des Individuums und der Autonomie des Subjekts hatte, aber auch die Welt, die eben diese Hoffnungen zerschlug: Nicht nur entwickelten sich ihre sozialistisch-kommunistischen Emanzipationsversuche bald zu totalitär-autoritären Herrschaftsmechanismen, und das mörderische Potenzial des Kapitalismus nahm zeitweilig die repressive Form eines „Führer“Faschismus an, sondern auch die der Moderne von ihrem Anbeginn innewohnende Logik (die eigentümliche Verbindung von rationalem Aufklärungsoptimismus und der segensreichen technologischen Entwicklung von „materiellen Lebensformen“), wurde angesichts des Holocaust in ihren Grundfesten erschüttert. Dialektik der Aufklärung (als konkretes Umschlagen des Fortschritts in extremste Repression bzw. als rigorose Instrumentalisierung einer Wohlstand verheißenden Technologie zum Zweck gegenteiliger Zerstörung und Vernichtung) war von nun an keine bloß hypothetische Möglichkeit mehr, sondern wurde zum wirklichen Ereignis, zur konkreten Manifestation einer ihre Fähigkeiten, Leistungen und Mächte gegen sich selbst richtenden Zivilisation. Es waren denn in der Tat die ausgesprochen (zweck) rationalen institutionellen Errungenschaften der Moderne (Industrie, Bürokratie und

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Administration), die das eigentliche Ausmaß der monströsen Vernichtung – den Triumph des dialektischen Motivs eines „Umschlags von Quantität in Qualität“ – erst eigentlich ermöglicht hatten. In diesem Sinne postuliert Adorno: „Was die Sadisten im Lager ihren Opfern ansagten: morgen wirst du als Rauch aus diesem Schornstein in den Himmel dich schlängeln, nennt die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt: schon in seiner formalen Freiheit ist er so fungibel und ersetzbar wie dann unter den Tritten der Liquidatoren. Weil aber der Einzelne, in der Welt, deren Gesetz der universale individuelle Vorteil ist, gar nichts anderes hat als dies gleichgültig gewordene Selbst, ist der Vollzug der altvertrauten Tendenz zugleich das Entsetzlichste; daraus führt so wenig etwas hinaus wie aus der elektrisch geladenen Stacheldrahtumfriedung der Lager“ (Adorno [1966b]/1982, S. 355). Trotz der sich aus dieser historischen Tendenz einer „Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen“ ergebenden Ausweglosigkeit, begnügte sich Adorno indes nicht mit deren Feststellung, sondern insistierte, wie gesagt, auf den sogenannten „neuen kategorischen Imperativ“, eben dass die Menschen selbst „im Stande ihrer Unfreiheit“ ihr Denken und Handeln so einrichten, „dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe“ (Adorno [1966b]/1982, S. 355). Es ist Adorno also offenbar doch um eine des Unsäglichen eingedenkende Kultur – „nach Auschwitz“ – zu tun. Hierbei stechen nun folgende gravierenden Momente hervor: Adornos Auffassung des Geschehenen zeichnet sich durch eine universal ausgerichtete Einstellung aus. Er spricht von einem fundamentalen „Stande der Unfreiheit“ der Menschen, von einem im Wesentlichen repressiven und entfremdeten Zustand des Bestehenden also. Dementsprechend begreift er auch die „Bedingungen“, die das Ungeheuerliche zeitigen konnten, als historisch-sozial determiniert: als einen weiterhin lastenden „gesellschaftlichen Druck“ und eine stets fortdauernde Not, deren äußeren Erscheinungen in der Ära „nach Auschwitz“ gleichwohl unsichtbarer geworden seien. Es ist nun dieser Zustand, der den „Rückfall in die Barbarei“ sowohl zur historisch konkretisierten – also bereits vollbrachten – Manifestation, als auch zu der nunmehr nie wieder wegzudenkenden Möglichkeit ihrer permanent drohenden Wiederkehr hat werden lassen. Auschwitz war schon der Rückfall in die Barbarei; somit wurde es zum Paradigma eines dem ungebrochen gutgläubigen Fortschrittsoptimismus der Aufklärung gegenläufigen „Zivilisationsbruches“. Die Einzigartigkeit des Geschehenen ist, so besehen, als ein Allgemeines zu denken, als absoluter Kulminationspunkt einer „nach weltgeschichtlichem Maß“ angelegten Permanentbedrohung. Dass, wie Adorno meint, „in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar“, somit also der nazistische Völkermord „die absolute Integration“ veranstaltete, ist demnach als Symptom einer welthistorischen Entwicklung, darüber hinaus aber auch als die Universaldiagnose einer Zivilisation mit dem steten Potenzial eines Rückfalls in die Barbarei zu verstehen. Daher der Auftrag – besagter „neue kategorische Imperativ“ –, dass das einzigartig durch Auschwitz als Maßstab Gesetzte sich nicht wiederhole, nichts diesem Maßstab sich auch nur Näherndes, „nichts ähnliches“, geschehe. Abgesehen von der großen Frage, welche Gesellschaft zu errichten wäre, damit die wesentlichen „Bedingungen“ für einen solchen Rückfall in die Barbarei ein für alle Mal ausge-

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merzt würden, wird hier auch eine Forderung an die Menschen „im Stande ihrer Unfreiheit“ erhoben: ihr Denken und Handeln stets gegen mörderische Unterdrückung, gegen die systematische Verursachung von immer neuen Opfern zu richten. In diesem Sinne wohl hat Adorno auch sein berühmt gewordenes Diktum von der Unmöglichkeit einer Lyrik nach Auschwitz in späteren Jahren, wenn nicht ganz zurückgenommen, so doch merklich revidiert. „Das perennierende Leiden“, heißt es in der Negativen Dialektik, „hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarktete zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“ (Adorno [1966b]/1982, S. 355). Und es ist nun in diesem Zusammenhang der zivilisationsgeschichtlich gestellten Frage nach der Möglichkeit einer Lyrik nach Auschwitz, in welchem eine andere Kategorie in Adornos Denken ihren zentralen Anschluss findet – die Kategorie der Kulturindustrie. Insofern Adorno in der Kunst allgemein das Aufscheinen des Emanzipativen im „universellen Verblendungszusammenhang“ auszumachen sucht, mithin den Gedanken der Freiheit selbst noch im Zustand der allumgreifenden Barbarei ungebrochen aufrecht erhält, widerspiegelt dieses Motiv ein Moment dessen, was bei Walter Benjamin (freilich in einem anderen Kontext) als „schwache messianische Kraft“ apostrophiert ist (Benjamin 1991, S. 694). So erschließt sich der in der „Dialektik der Aufklärung“ unter verschiedenen Aspekten angelegte Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie als Kritik einer Zivilisation/Kultur, welche – durch Herrschaftsstrukturen geformt und bestimmt – in ihren transhistorischen Emanzipationsbestrebungen von instrumenteller Vernunft geprägte Aufklärungsmechanismen produziert, die das angestrebte emanzipative Ziel eines authentisch-autonomen Individuums verfehlen müssen, weil gerade sie den Einzelnen fungibel werden lassen. Im ersten Kapitel (und den beiden ihm angefügten Exkursen) findet sich dies in der als zivilisatorische Tendenz sich offenbarende Verfehlung der emanzipativ angestrebten Individualisierung, die gerade im Zeitalter der Aufklärung in eine manifeste Entindividualisierung umschlägt. Im zweiten Kapitel erweist sich diese Struktur in der Kulturindustrie als kulturelle Form einer systematischen Reproduktion von Immergleichem, welche, dem eigenen Ansinnen nach, tendenziell in der Aufhebung alles Individuellen mündet. Und im dritten Kapitel bildet der Antisemitismus die quintessenzielle zivilisatorische Basis für das, was bei Adorno den Kulminationspunkt des endgültigen Verkommens des Individuums zum Exemplar darstellt. Das Kompendium der nachfolgenden Aphorismen darf als kohärente Reihe paradigmatischer Fallbeispiele zur prägnanten Vorführung der in den Kapiteln dargestellten Gesamttendenz gedeutet werden. Man mag diesen Gesellschaftsbegriff (bzw. die ihm anverwandte Zivilisationskritik) dahingehend als individualistisch ansehen, als es den klassischen Denkern der Kritischen Theorie um die Freiheit des Menschen – und zwar jedes einzelnen Menschen – ging, freilich mit dem Wissen darum, dass die Verwirklichung dieses emanzipativen Ziels nur über eine adäquate gesellschaftliche Ordnung erwartet werden darf. Nur in einer freien Gesellschaft kann die Freiheit des Individuums überhaupt angestrebt werden. In Marxens „Kritik des Gothaer Programms“ heißt es: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knech-

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tende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Marx 1875/1982, S. 21). Die Denker der Frankfurter Kritischen Theorie konnten zu ihrer Zeit nur noch abstrakt an eine „höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft“ glauben. Zu sehr waren sie durch den realen historischen Versuch, den Kommunismus zu verwirklichen, ernüchtert worden; zu sehr war ihnen mit Auschwitz etwas in die Welt gekommen, dass es viel mehr darum ging, die permanente Möglichkeit eines Rückfalls in die Barbarei zu verhindern, als eine höhere Gesellschaftsphase anzupeilen. Aber die regulative Idee eines Strebens nach der Rettung des individuell Einzigartigen und der Bekämpfung der Austauschbarkeit alles Einzelmenschlichen, die machte bis zuletzt die Emphase ihrer denkerischen Anstrengung aus, mithin die Essenz ihres im Kritischen durchscheinenden emanzipativen Gesellschaftsbegriffs.

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Verrechtlichung und Politik Vom Dilemma der Verrechtlichung zu den Paradoxien der Rechte Daniel Loick

Zusammenfassung

Das Verhältnis von Rechtlichem und Nichtrechtlichem ist weder gegensätzlich, noch komplementär, sondern paradox. Diese Behauptung will der vorliegende Text begründen. Zuerst wird Jürgen Habermas Konzept der Verrechtlichung rekonstruiert. In einem zweiten Schritt wird Axel Honneths Theorie der Verabsolutierung rechtlicher Freiheit vorgestellt. Abschließend soll Honneths Hinweis weiterverfolgt werden, wonach zum Verständnis zeitgenössischer Anerkennungskämpfe ein neuer Politikbegriff notwendig ist, der die traditionelle Staatszentrierung des Liberalismus überwindet. Der Vorschlag lautet, die Perspektive auf das Phänomen der Verrechtlichung zu verschieben und es aus dem Blickwinkel der Akteur_innen neu zu betrachten. Schlüsselwörter

Jürgen Habermas · Axel Honneth · Wendy Brown · Verrechtlichung · Soziale Pathologien · Feministische Rechtskritik · Familie · Schule · Recht · Kritische Theorie

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Einleitung

In seiner Philosophischen Propädeutik schreibt Hegel: „Das Familienverhältnis ist die Natureinigkeit von Individuen. Das Band dieser natürlichen Gesellschaft ist Liebe und Vertrauen, das Wissen dieser ursprünglichen Einigkeit und des Eine frühere Fassung dieses Textes ist bereits auf Englisch erschienen: Daniel Loick, „Juridification and Politics. From the Dilemma of Juridification to the Paradoxes of Rights“, in Philosophy & Social Criticism, 4. 2014. D. Loick (*) Institut für Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_44

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Handelns im Sinne desselben. Nach ihrer besonderen Bestimmung kommen den Individuen, die diese Gesellschaft ausmachen, besondere Rechte zu; insofern diese aber in der Form von Rechten behauptet würden, so wäre das moralische Band dieser Gesellschaft zerrissen, worin jeder wesentlich aus der Gesinnung der Liebe das erhält, was ihm an sich zukommt.“ (Hegel 1986c, S. 62 [§ 192])1

Diese Behauptung ist intuitiv plausibel: Ein gelungenes Zusammenleben in intimen Beziehungen kann es nur dann geben, wenn die Beziehungspartnerinnen und -partner sich nicht nur als Rechtssubjekte begreifen und wenn ihre Beziehung durch mehr definiert ist als durch juristische Verpflichtungen. Zugleich wirft diese Passage eine ganze Reihe schwieriger Fragen auf. Denn Hegel scheint Recht und Liebe weder als reine Gegensätze, noch als Komplemente zu verstehen. Gegensätzlich sind sie nicht, weil Hegel nicht sagen will, dass Recht und Liebe einander strikt ausschließen. Familienmitglieder sind als solche nicht rechtlos: Ihnen kommen durchaus Rechte zu, sie dürfen sie nur nicht behaupten, wenn sie nicht das moralische Band der Familie zerreißen wollen. Recht und Liebe komplementieren jedoch einander auch nicht einfach: Es ist nicht so, als würde man in der Familie die Liebe, außerhalb das Recht benötigen. Hegel sagt explizit, dass den Familienmitgliedern besondere Rechte zukommen, das heißt insofern sie Familienmitglieder sind. Sie haben Rechte auch gegen die anderen Familienmitglieder: Hegel misstraut also selbst der Beständigkeit des moralischen Bandes dieser Gesellschaft und räumt die Möglichkeit ein, dass jemand zur Behauptung seiner Rechte doch gezwungen sein könnte. Noch komplizierter wird es, wenn man ein anderes, empirisch besser gedecktes Bild vom Familienverhältnis zugrunde legt als Hegel es tut. Welche Konsequenz ergibt sich aus dem prekären Verhältnis von Recht und Liebe in solchen sozialen Institutionen, die sich auf ein Wissen ursprünglicher Einheit nur berufen, faktisch aber nicht durch das Band der Liebe und des Vertrauens zusammengehalten werden oder wenigstens nicht vollständig, sondern durch patriarchale Unterdrückung und Ausbeutung? Was, wenn einigen Familienmitgliedern nicht nur exzeptionell, sondern systematisch und regelmäßig das vorenthalten wird, was ihnen an sich zukommt? Einerseits kann eine solche Situation nicht durch die Einforderung von mehr Liebe und Vertrauen kuriert werden, denn Liebe und Vertrauen sind, wie wir wissen, mit Ungleichheit und Bevormundung, mit Beschwichtigung und Beschlagnahme bestens verträglich. Andererseits ist auch der Gedanke vorschnell, dass die so Unterdrückten dann in einen Kampf um Anerkennung gleicher Rechte eintreten müssten – denn was sie erstreben, die Inklusion in eine Natureinigkeit von Individuen, kann durch Rechte nicht erreicht werden. Die Bedeutung von Rechten, so scheint es, wird von Hegel zugleich affirmiert und dementiert: Das Verhältnis von Rechtlichem und Nichtrechtlichem ist weder gegensätzlich, noch komplementär, sondern paradox. Im Folgenden geht es mir um die Begründung dieser letzten Behauptung. Die Familie und die Schule stehen dabei exemplarisch für gesellschaftliche Sphären, die 1

Für eine besonders instruktive Interpretation dieser Passage vgl. Wildt 1982, S. 104–115.

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durch vielfältige Herrschaftsverhältnisse durchzogen sind, in denen die Einforderung und Etablierung von Rechten aber dennoch auf irgendeine Weise zu kurz greift, defizitär oder sogar schädlich ist. Ich gehe in drei Schritten vor. Zunächst rekonstruiere ich Jürgen Habermas’ Konzept der Verrechtlichung, wie er sie in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981) entwickelt hat. Seine Analyse von der Verrechtlichung als Kolonisierung der Lebenswelt war die erste allgemeine und soziologisch fundierte Theorie der Expansion des Rechts. Habermas begreift den Prozess der Verrechtlichung als Dilemma: Einerseits wird durch die Ausweitung von Rechtsstrukturen die Position gerade der Benachteiligten verbessert, andererseits wird dabei zugleich deren eigene Freiheit untergraben, weil die Erosion des sozialen Zusammenhangs verstärkt wird. Habermas legt jedoch eine Vorstellung der Familie und der Schule als kommunikativ verfassten, juristisch nicht kompromittierten Milieus zugrunde, die sich als höchst fragwürdig erweist (2). In einem zweiten Schritt stelle ich Axel Honneths Theorie der Verabsolutierung rechtlicher Freiheit vor, wie er sie in seinem Buch Das Recht der Freiheit (Honneth 2011) entworfen hat. Hatte Habermas eher den dilemmatischen Aspekt der Verrechtlichung betont, verfolgt Honneth den Argumentationsstrang der Komplementarität. Vor dem Hintergrund einer Annahme über Liebe und Recht als sich ergänzende Anerkennungsdimensionen beschreibt er das Problem der Verrechtlichung als soziale Pathologie, die aus einer Überbewertung und Überstrapazierung des Rechts zuungunsten anderer, eigentlich ebenso wichtiger Dimensionen der menschlichen Subjektivität und Intersubjektivität resultiert. Honneths Begriff der Verabsolutierung vermeidet viele problematische Implikationen der Habermasschen Kolonisierungsthese, neigt aber selbst noch dazu, erstens die in den Sphären der Familie und der Schule herrschenden patriarchalen Gewaltverhältnisse zu unterschätzen und zweitens den eminent politischen Charakter des Kampfes um Rechte zu vernachlässigen (3). Abschließend möchte ich daher Honneths eigenen Hinweis weiterverfolgen, wonach zum Verständnis zeitgenössischer Anerkennungskämpfe ein neuer Politikbegriff notwendig ist, der die traditionelle Staatszentrierung des Liberalismus überwindet. Ich schlage vor, die Perspektive auf das Phänomen der Verrechtlichung zu verschieben und es aus dem Blickwinkel der Akteurinnen und Akteure, das heißt „von unten“ her, neu zu betrachten. Leider wird diese Neujustierung es nicht im Geringsten einfacher machen, die Probleme der Verrechtlichung zu lösen, ich hoffe aber, dadurch wenigstens zu einer angemesseneren Formulierung der Problemstellung beizutragen. Verrechtlichung erscheint dann weder als Dilemma der staatlichen Implementierung gleicher Rechte, noch als Störung der Komplementarität verschiedener Anerkennungsdimensionen, sondern als politisches Paradox – nämlich als das Paradox, dass die lebensweltlich situierten Akteurinnen und Akteure den Staat als Garanten von Rechten zugleich sowohl anerkennen als auch aberkennen müssen. Die klassische Formulierung dieses Paradoxes haben Friedrich Engels und Karl Kautsky mit ihrer Polemik gegen den „Juristensozialismus“ geleistet, eine höchst produktive Weiterentwicklung dieser Idee und zugleich ihre Anwendung auf das Feld der Familie findet sich in Wendy Browns feministischer Theorie zur Paradoxie der Rechte (4).

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Kolonialisierung der Lebenswelt – Habermas’ Theorie der Verrechtlichung

Jürgen Habermas hat in seiner Theorie des kommunikativen Handelns erstmals eine generelle Theorie der Kolonisierung der Lebenswelt durch das Recht systematisch entwickelt und sozialwissenschaftlich geerdet. Er stellt dabei die Verrechtlichungsthese in den Zusammenhang zum einen mit Max Webers Diagnose der Rationalisierung in der Moderne, zum anderen mit einer von Marx inspirierten Theorie der Realabstraktion. Die Reichweite seiner Diagnose umfasst zunächst die Staaten Westeuropas, dann auch Nordamerikas, deren Entwicklungen von einer großen Parallelität geprägt gewesen sind. Unter dem Begriff der Lebenswelt versteht Habermas ein Bündel implizit gewusster, vorreflexiver, sprachlich-kulturell tradierter Normen und Werte, von denen die Individuen in ihrer alltagspraktischen Kommunikation zehren. Weil die Lebenswelt der unhintergehbare Horizont für verständigungsorientiertes Handeln ist, besitzt ihre Integrität einen unbedingten Wert für die Entfaltung kommunikativer Macht. Diese Integrität ist jedoch in spätkapitalistischen Gesellschaften durch zunehmende Eingriffe von Systemanforderungen bedroht, die Habermas als Kolonisierung bezeichnet: „die Imperative der verselbstständigten Subsysteme dringen [. . .] von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation“ (Habermas 1981, S. 522, Hervorh. i. O.). Die festzustellenden Negativeffekte ergeben sich also daraus, dass an eine Lebenswelt fremde Handlungsrationalitäten angetragen werden, die sich in der neuen Umgebung dysfunktional auswirken. In diesem Kontext ist das die Umstellung von kommunikativen auf strategische Handlungsorientierungen. Der zentrale Motor der Kolonisierung ist für Habermas das Recht. Zunehmend überformt das Recht als generalisiertes Medium die jeweiligen lebensweltlichen Besonderheiten und erzwingt deren Konvertierung in macht- oder geldvermittelte Interaktionen. Dabei hat das Recht geschichtlich gesehen jedoch zunächst eine höchst emanzipative Rolle gespielt, wie Habermas anhand der verschiedenen Verrechtlichungsbewegungen in den westlichen Industrienationen demonstrieren will. Dabei unterscheidet er seit der Neuzeit vier große „Verrechtlichungsschübe“: 1. Die Entstehung des bürgerlichen Staats, 2. die des bürgerlichen Rechtsstaats, 3. die des demokratischen Rechtsstaates und 4. die des sozialen und demokratischen Rechtsstaates. Nachdem durch die erste Etablierung staatlicher Instanzen überhaupt erst einmal ein innerweltlicher Gestaltungsspielraum gegen die traditionalen Bindungen errungen wurde, wenn auch in Gestalt der staatsautoritär abgesicherten kapitalistischen Privatrechtsgesellschaft, können für Habermas der zweite bis vierte Verrechtlichungsschub als zunehmendes Zur-Geltung-Bringen lebensweltlicher Ansprüche gegen Markt und staatliche Zentralherrschaft erscheinen: Zunächst werden durch die verfassungsmäßige Einhegung des Staates den Bürgerinnen und Bürgern subjektive Rechte zugesprochen, die sie vor willkürlichen Interventionen der Obrigkeit schützt. Mit der Demokratisierung des Rechtsstaates partizipieren sie dann selbst an der staatlichen Willensbildung, wodurch sich die moderne Lebenswelt abermals von den Imperativen der abstrakten Herrschaftsstruktur emanzipiert. Einen letzten Schritt in

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dieser Fortschrittsgeschichte macht die Ergänzung der politischen durch soziale Teilhaberechte, wozu etwa die Arbeitszeitbegrenzung und der Kündigungsschutz, die Einführung von Sozialversicherungen oder das Recht auf gewerkschaftliche Organisation zählen, wodurch der formalen auch die materielle Partizipationsmöglichkeit zur Seite gestellt wird. Konnte für Habermas gegen die erste Juridifizierungswelle noch Marx zurecht auf deren ironischen Effekt hinweisen, der darin bestand, dass die abstrakte Freiheit der Arbeiterinnen und Arbeiter durch faktische Lohnsklaverei erkauft wurde, so geht er in Bezug auf die nächsten beiden Stufen von dem bemerkenswerten Befund aus, sie hätten einen „unzweideutig freiheitverbürgenden Charakter“ (Habermas 1981, S. 530). Bemerkenswert ist dieser Befund deshalb, weil andere Autoren in der Tradition der Kritischen Theorie hier weitaus skeptischer waren, sei es in Form der radikalen Staatskritik Walter Benjamins, der ausdrücklich alle Rechtsgewalt „verwerflich“ (Benjamin 1991, S. 203) heißt, in Form der Rechtstheorie Otto Kirchheimers, der noch 1928 diagnostizierte, die Verrechtlichung des Klassenkampfs führe zur Deformation des Politischen in mechanistisch-formalistische Abläufe (Kirchheimer 1976, S. 36 f.) oder in Form von Theodor W. Adornos negativistischem Bild der „verwalteten Welt“, in der keine menschliche Spontaneität und keine unversehrte Kommunikation mehr möglich sind. Habermas will jedoch erst im Rahmen des vierten großen Verrechtlichungsschubs der Moderne, der Entwicklung des Sozialstaats, wieder eine „dilemmatische Struktur“ erkennen. Das Dilemma besteht hier darin, dass „die Mittel der Freiheitsverbürgung selbst [. . .] die Freiheit des Nutznießers gefährden“ (Habermas 1981, S. 531). Das Recht wirkt hier nicht mehr als „Institution“, in der sich die Ansprüche der Lebenswelt manifestieren und somit inhaltlich legitimiert sind, sondern als „Medium“, das heißt als reines Organisationsinstrument des Systems. Hier kommen die dilemmatischen Effekte nicht kontingent, als vermeidbare Nebenwirkungen zum Freiheitsgewinn hinzu, vielmehr lässt hier gerade die Art der Implementierung die Freiheit in ihr eigenes Gegenteil umschlagen. Angewendet auf die Subsysteme Wirtschaft, Öffentlichkeit und Politik hat nämlich die Verrechtlichung keine äußere, systemfremde Rationalität hereingetragen, sondern lediglich in Bereichen, in denen sich die Akteurinnen und Akteure ohnehin schon vorwiegend strategisch verhielten, das Kräfteverhältnis zugunsten der vormals Benachteiligten verschoben. Mit der Einführung des Sozialstaats hingegen greift das Recht zugleich auf Bereiche zu, in denen vorher ganz andere Handlungslogiken vorherrschend waren. Diesen Prozess der Kolonisierung der Lebenswelt dekliniert Habermas anhand des Sozialrechts, des Schul- und des Familienrechts durch: In jedem dieser Bereiche diente die Verrechtlichung dem Schutz der benachteiligten Subjekte, wobei aber zugleich die kommunikative Macht derselben Akteure beschnitten oder untergraben wird.2

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Empirische Untersuchungen zu den Verrechtlichungstendenzen in spätkapitalistischen Gesellschaften finden sich exemplarisch in den Sammelbänden von Voigt 1980; Kübler 1985 und Teubner 1987.

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Habermas’ erstes Beispiel ist die Sozialversicherung. Einerseits werden hier Schwache, nämlich Alte und Kranke, sozialstaatlich abgesichert und nicht mehr den Zufälligkeiten einer familiär, kirchlich oder philanthropisch organisierten Armenpflege überlassen. Andererseits wird die Pflege durch die Verrechtlichung ebenso monetarisiert wie bürokratisiert, womit eine ganze Reihe problematischer Effekte erzeugt wird. Zunächst kann schon die Individualisierung, die sich bereits daraus ergibt, dass die Grammatik der Sozialgesetze Versicherungsansprüche einzelnen Privatsubjekten, nicht aber größeren Solidargemeinschaften zurechnet, zur Erosion sozialer Zusammenhänge beitragen. Durch die Notwendigkeit, die Berechtigung eines Leistungsanspruchs zu prüfen, werden die Einzelnen zudem dazu gezwungen, die Komplexität ihrer Lebenssituation in einer für die administrative Logik der Versicherungen verständlichen Weise darzustellen und sie dementsprechend auch umzudefinieren; dies ist jedoch nicht eine einfache Übersetzung von der Semantik eines Systems in die eines anderen, sondern abverlangt von den Akteurinnen und Akteuren eine beträchtliche Abstraktionsleistung, die schon deshalb einen gewaltförmigen Charakter annehmen kann, weil sie im Falle des Scheiterns eine Nichtzahlung und somit eine Exklusion aus der Sozialversorgung zur Folge hat. Schließlich ist eine juridisch strukturierte Sozialversorgung noch dadurch begrenzt, dass sie die Ansprüche der Betroffenen nur durch Geldleistungen befriedigen kann, deren je besondere, in einen konkreten Kontext und eine individuelle Biografie eingebundenen Interessen, Bedürfnisse und Wünsche sich jedoch einer solchen monetären Konvertierung eigentlich versperren (Habermas 1981, S. 531 ff.). Ähnliche Dilemmata lassen sich auch in den Bereichen des Familien- und des Schulrechts aufzeigen. Einerseits dient auch in diesen beiden Domänen die Verrechtlichung zunächst der Sicherung des Rechtsstatus gerade der zuvor benachteiligten Akteurinnen und Akteure, das heißt in der Familie der Frauen und der Kinder, in der Schule vor allem der Schülerinnen und Schüler. Die Intervention durch das Recht vollzieht die Emanzipation aus autoritären Abhängigkeitsverhältnissen, in denen die betreffenden Personengruppen nur informelle oder gar keine Möglichkeit hatten, sich gegen Benachteiligungen oder Übergriffe zur Wehr zu setzen. Die Ambivalenz der in diesen Bereichen neuen Freiheitsverbürgung ergibt sich auch hier durch die juridische Form ihrer Implementierung. Denn andererseits hat auch hier die Kolonialisierung der Lebenswelt eine Umstellung von informellen auf hochgradig formalisierte Handlungslogiken zur Folge. Die Emanzipation von den familialen oder schulischen Abhängigkeitsverhältnissen ist durch eine neue Abhängigkeit, nämlich die vom Staat und seinen Gewaltinstrumenten, erkauft. Diese Instrumente sind jedoch gerade in den sensiblen, durch nicht-reziproke Beziehungen mit entsprechenden besonderen Verletzbarkeiten gekennzeichneten Bereichen oft nicht zielführend, schon allein weil die Entscheidung örtlich und emotional distanzierter Richterinnen und Richtern per definitionem nicht lebensweltlich situiert ist und daher in besonderem Maße am Manko der fehlenden Informationen kranken. Das Dilemma liegt auch hier darin, dass rechtliche Eingriffe den sozialen Zusammenhang schützen sollen, zugleich aber den Lebenswelten Interaktionsweisen oktroyiert, in denen sich deren Mitglieder notwendig als individualisierte, miteinander

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konkurrierende und daher strategisch handelnde Akteurinnen und Akteure verstehen (Habermas 1981, S. 540 ff.).3 All diese Verrechtlichungstendenzen sind für Habermas also dadurch gekennzeichnet, dass „die sozialstaatlichen Verbürgungen dem Ziel der sozialen Integration dienen sollen und gleichwohl die Desintegration derjenigen Lebenszusammenhänge fördern, die durch eine rechtsförmige Sozialintervention vom handlungskoordinierenden Verständigungsmechanismus abgelöst und auf Medien wie Macht und Geld umgestellt werden“ (Habermas 1981, S. 534).4 Habermas suggeriert hier ein Bild, wonach es sich bei der Lebenswelt um eine nicht-rechtliche, bei dem Staat hingegen um eine rechtliche Sphäre handelt und steht somit in der Jahrtausende alten, schon mit Aristoteles beginnenden Tradition, die Familie und den Haushalt als vorpolitisch zu konzipieren. Wie die Analogie mit den in eine Stammesgesellschaft eindringenden Kolonialherren nahelegt, ist der juridische Übergriff auf die Lebenswelt vor allem deshalb problematisch, weil dieser nicht schon „von Haus aus“ rechtlich organisiert sein soll, wie das etwa beim Arbeitsrecht durchaus der Fall ist. Diese Opposition ist aber nicht haltbar: Tatsächlich waren Familie, Bildung und Pflege schon von jeher rechtlich reguliert, man denke allein an das römische vitae necisque potestas, an das Recht des pater familias über das Leben der anderen Familienmitglieder, wie es bereits im altrömischen Zwölftafelgesetz kodifiziert war, bis hin zu den zahlreichen patriarchalen Regelungen im Ehe- und Familienrecht des 20. Jahrhunderts – in Deutschland beispielsweise war noch bis 1977 im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt, dass die Frau ihren Ehemann um Erlaubnis fragen musste, wenn sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollte, und das körperliche Züchtigungsrecht der Eltern gegen ihre Kinder wurde erst im Jahr 2000 abgeschafft.5 Familie und

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Die britische Rechtstheoretikerin Carol Smart hat das Problem der Verrechtlichung aus feministischer Perspektive pointiert. Probleme wie häusliche Gewalt oder sexistische Ausbeutung auf rechtlichem Weg bekämpfen zu wollen, ist für sie vor allem aus vier Gründen problematisch. Erstens behandelt eine rechtliche Konfliktschlichtungsweise die beteiligten Männer und Frauen vor allem als strukturell gleichberechtigte Gegnerinnen und Gegner, womit andere Aspekte ihrer Beziehung, wie etwa ökonomische oder emotionale Abhängigkeiten, verkannt werden. Ein Kind, das sexuell missbraucht wurde, kann daher zum Beispiel die Folgen einer Anzeige des Täters als noch schlimmer empfinden als die ursprüngliche Situation. Zweitens führt die Inanspruchnahme von Rechten durch das Opfer dazu, dass auch die Täter ihre Rechte in Anspruch nehmen werden; sie können zum Beispiel die Opfer zu entwürdigenden oder retraumatisierenden Verhandlungen intimster Details in einem Gerichtssaal zwingen. Drittens ist die Verhandlung von Unrechtserfahrungen im Medium des Rechts grundsätzlich individualisierend, wobei der soziale Hintergrund der Problemkonstellation gerade ausgeblendet wird. Viertens sind auch gesetzliche Regelungen, die ursprünglich dem Schutz schwacher oder benachteiligter Gruppen dienen sollten, anfällig dafür, im Gegenteil von den Starken und Privilegierten verwendet zu werden. Smart zieht aus diesen Problemen den Schluss, aus feministischer Perspektive sei die Verfolgung von Rechtsansprüchen „less and less valuable“ (Smart 1989, S. 144 ff.). 4 Die Produktivität dieses Modells bezeugen eine ganze Reihe von Studien, die den Begriff der Verrechtlichung auf verschiedene Themenbereiche angewendet haben. Für eine Kritik der Verrechtlichung der Intimbeziehungen vgl. bspw. Cohen 2002, zum Sozialstaat Peters 1991. 5 Zu dieser Kritik vgl. systematisch Preuß 2011, in Bezug auf das Bildungswesen Abeldt 2001, insbes. S. 181 ff.

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Schule sind nicht „weniger“ juristisch – das Recht diente nur dem Schutz anderer Interessen, die im Übrigen ihrerseits keineswegs „konsensorientiert“ waren.6 Ein rein quantitativer Begriff von Verrechtlichung, der diese als Ergebnis eines Zuviel an Regulierung oder gar einer „Normenflut“ versteht, ist zudem weder in rechtshistorischer, noch in rechtsvergleichender Hinsicht zu halten (Teubner 1985, S. 294 ff.). Ein weiteres Problem der Habermasschen Verrechtlichungskonzeption ist die Deartikulierung der politischen Kämpfe, die überhaupt erst zu den Phänomenen geführt haben, die er als Beispiele anbringt. Indem er die Verrechtlichungsbewegungen als „Schübe“ bezeichnet, suggeriert Habermas, sie seien einfach die Resultate einer den systemischen Apparaten inhärenten Expansionslogik. Aus Perspektive der in den Milieus der Lebenswelt situierten Akteurinnen und Akteure erscheinen sie so als Naturgewalten, die ohne eigenes Zutun über sie hereinbrechen und ihre autochthonen Interaktionsweisen verdrängen. Gerade die von Habermas als Beispiele für die Kolonisierung der Lebenswelt angeführten rechtlichen Maßnahmen im Sozial-, Schul- und Familienrecht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind jedoch Ergebnis von sozialen und politischen Auseinandersetzungen, seien es die Umstellung vom Schuld- auf das Zerrüttungsprinzip bei Ehescheidungen, die Möglichkeit weiblicher Erwerbsarbeit ohne Zustimmung des Ehemanns, die gerichtliche Anfechtbarkeit schulischer Entscheidungen, die Abschaffung körperlicher Züchtigung und das Recht auf gewaltfreie Erziehung – all diese Maßnahmen wären ohne die Kämpfe der Gewerkschaften und der Frauen-, der Schüler_innen- und Studierendenbewegung, ohne also die politische Aktion der Betroffenen selbst niemals umgesetzt worden. Weil Habermas aber das Problem der Verrechtlichung als Überformung einer gesellschaftlichen Sphäre durch eine andere begreift, vermag auch sein Lösungsvorschlag nicht zu überzeugen. Die Auflösung des Dilemmas der Verrechtlichung kann nun auch für ihn freilich nicht darin liegen, einfach wieder zum vorrechtlichen patriarchalischen Gewaltverhältnis zurückzukehren und für die familialen und schulischen Lebenswelten eine Art Nichteinmischungsgrundsatz zu deklarieren. Für die Familie ist Habermas aber durchaus der Meinung, rechtliche Eingriffe sollten auf ein „Mindestmaß“ (Habermas 1981, S. 543) reduziert, zu starke Justizialisierungen und Bürokratisierungen sollten rückgängig gemacht werden (Habermas 1981, S. 546). In der Schule tritt er für die Entwicklung und Erprobung neuer, sphärenangemessener Konfliktschlichtungsmechanismen ein. „An die Stelle des als Medium benutzen Rechts“, schreibt er, „müssen Verfahren der Konfliktregelung treten, die den Strukturen verständigungsorientierten Handelns angemessen sind – diskursive Willensbildungsprozesse und konsensorientierte Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren.“ (Habermas 1981, S. 544) Dem liegt die richtige Idee zugrunde, dass ein Teil des Problems der Kolonisierung darin besteht, dass die Verrechtlichung nicht die Selbstvertretung der Betroffenen fördert, sondern eine paternalistische Protektion von außen initiiert und so entmündigende Wirkungen hat. Eine interne Demokrati-

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Zur Kritik des gender bias von Habermas’ Einteilung von System und Lebenswelt vgl. den klassisch gewordenen Text von Nancy Fraser (Fraser 1994).

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sierung könnte demgegenüber dazu beitragen, dass die Akteurinnen und Akteure sich als Subjekte verstehen, die ihre Lebensumstände autonom gestalten, und nicht als Objekte, die von dritter Seite zu schützen sind. Zugleich bleibt diese Lösung jedoch aus zwei Gründen unbefriedigend. Erstens ist nicht ganz nachzuvollziehen, wie eine Demokratisierung der Lebenswelt ohne gleichzeitige Verrechtlichung zu institutionalisieren wäre. Wie niemand besser weiß als Habermas sind Rechtsstaat und Demokratie intern aufeinander verwiesen (vgl. etwa Habermas 1999): Die Partizipationsmöglichkeiten gerade der Benachteiligten müssen ja, um nicht dem willkürlichen Gutdünken der jeweiligen Autoritätsfiguren anheim zu stehen, einklagbar und durchsetzbar sein, was nur durch gesetzliche Regelungen, judikative Interpretation und exekutive Durchsetzung möglich ist. Somit ist aber die Lebenswelt vom systemischen Zugriff nicht verschont, sondern nur anders, wenn auch emanzipatorischer konfiguriert. Der Nebeneffekt, dass sie damit auf die für rechtliche Verfahren typische strategische Handlungsrationalitäten umgestellt werden, wird dadurch aber also keinesfalls vermieden. Dies verweist bereits auf den zweiten Punkt: Familie und Schule sind in hohem Maße durch asymmetrische Beziehungen und intensive Abhängigkeiten wie etwa die des Kleinkindes von den Eltern geprägt. Diese Macht, die sich aus dem natürlichen Entwicklungs- und somit Machtunterschied ergibt, kann hier besonders leicht missbraucht werden, zumal auch in heutigen Gesellschaften noch immer die Tendenz vorherrschend ist, Kindererziehung und Pflege zur Privatsache zu erklären und so allgemeinen Rechtfertigungsansprüchen zu entziehen. Gegenüber derartigen fundamentalen Abhängigkeitsverhältnissen ist die Idee demokratischer Mitwirkung aber bestenfalls abstrakt, schlechtestenfalls ideologisch; denn ebenso wie das Recht trägt sie den Betroffenen eine fremde Logik an, die ihren konkreten Bedürfnissen überhaupt nicht Rechnung trägt. Vorenthaltende oder falsch verstandene Pflege, Fürsorge, Liebe und Bildung können durch Demokratie ebenso wenig substituiert werden wie durch das Recht, zumindest dann nicht, wenn sie selbst institutionell verstanden wird. Habermas’ Kritik der Verrechtlichung, so kann man zusammenfassend sagen, ist selbst noch zu sehr vom Standpunkt des Rechts aus gedacht und versäumt es, gerade die nicht-rechtlichen Bedingungen des Rechts in die Analyse mit einzubeziehen. (Um fair zu sein, muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass Habermas selbst seine Verrechtlichungskonzeption später einer grundlegenden Revision unterworfen hat. In Faktizität und Geltung (Habermas 1992) hat er die Entgegensetzung von „Recht als Institution“ und „Recht als Medium“ explizit zurückgenommen und die Idee, an die Stelle paternalistisch-sozialstaatlicher sollten demokratisch-prozedurale Regeln treten, verallgemeinert (Habermas 1992, S. 502). Habermas hat so einerseits versucht, der feministischen Kritik an seinem früheren Ansatz, wie sie prominent von Nancy Fraser vertreten wurde, Rechnung zu tragen, zugleich aber radikalere Thesen vom strukturell maskulinistischen Charakter des Rechts zurückgewiesen (Habermas 1992, S. 513). Seit Faktizität und Geltung sieht er somit kein Problem mehr mit Verrechtlichung als solcher, sondern nur mit der Implementierung falscher, nämlicher autoritärer Rechtsstrukturen. Zwar vermeidet er auf diese Weise den Fehler einer Romantisierung der Lebenswelt, schüttet aber das Kind mit dem Bade

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aus: Er gibt auch jede Möglichkeit auf, die rechtliche Regulierung in intimen Beziehungen als solche zu kritisieren. Für den neuesten Überblick über die Entwicklung der Rechtstheorie bei Habermas vgl. Deflem 2013).

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Pathologien rechtlicher Freiheit – Honneths Kritik an der Verabsolutierung des Rechts

Axel Honneth ist sich mit Habermas grundsätzlich darüber einig, dass das moderne Recht eine wichtige freiheitsverbürgende Funktion ausübt, dass es aber dann zur Ausbildung sozialer Pathologien neigt, wenn es allzu expansiv wird; das Recht spielt also für beide eine wichtige, aber begrenzte Rolle. Honneth gibt seiner Verrechtlichungskritik jedoch eine ganz andere Fassung als Habermas, weil er sie im Rahmen einer hegelianischen Gesamtarchitektur formuliert. Die Verrechtlichung stellt sich so nicht so sehr als Kolonisierung einer gesellschaftlichen Sphäre durch eine andere denn als Vereinseitigung oder Verabsolutierung einer Dimension personaler Identität zuungunsten der anderen dar. Hegel hatte seiner Idee der Sittlichkeit, wie er sie seit seinem Naturrechtsaufsatz, dann aber besonders prägnant in der Rechtsphilosophie entwickelt hat, eine Theorie eines wohlgeordneten Gesamtsystems zugrunde gelegt, das verschiedene ausdifferenzierte gesellschaftliche Sphären beinhaltet, dem jeweils Komponenten der individuellen Subjektivität entsprechen. Der Sinn dieser Balance lässt sich sowohl identitäts-, als auch gesellschaftstheoretisch erläutern: Weil für die gelingende Entwicklung personeller Identität in der Moderne mehrere unterschiedliche Sittlichkeitsdimensionen zusammen kommen müssen, wird das Fehlen oder die Unterordnung einer oder mehrerer dieser Potenzen zum Scheitern des individuellen Lebensentwurfes führen, ebenso wie das Fehlen oder die Unterordnung von einer oder mehreren gesellschaftlichen Sittlichkeitssphären zur Dysfunktionalität des Gesellschaftskörpers führt. Hegel veranschaulicht das mit einer Analogie zu einem Organismus: Die einzelnen Organe haben alle ihre Funktionen und somit ihre Berechtigung, aber diese Berechtigung verlieren sie, wenn sie sich zum Hauptzweck machen und sich andere Körperfunktionen unterordnen, dann muss es zwangsläufig zu Krankheit und Tod kommen. Demnach entstehen soziale Dysfunktionalitäten und ethische Defizite immer dann, wenn eine der Sphären des Gemeinwesens beginnt, sich von dem ihr zugewiesenen Platz zu emanzipieren und zu einer gesellschaftlichen Dominante zu werden. Problematisch ist die Dominanz der Rechtsform (aber auch die der Moralität) also genau dann, wenn sie andere konstitutive Formen der zwischenmenschlichen Bezugnahme verdrängt. Diese Verdrängung schlägt sich dann auch in der individuellen Subjektivität als eine „Beschränkung“ oder als „Eigensinn“ (Hegel 1986b, S. 96 [§ 37 Zusatz]) nieder. Das Recht, heißt das, hat die Reflexion um seine Grenzen zur Legitimationsbedingung: Prätendiert es mehr zu sein als es ist oder beansprucht es gar eine Subordination anderer „Potenzen“, so wird es, wie es im Naturrechtsaufsatz heißt, „gänzlich aus seiner Wahrheit gerissen“ (Hegel 1986a, S. 517).

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Axel Honneth hat mit seinem Buch Das Recht der Freiheit (Honneth 2011) sein Projekt einer groß angelegten „Reaktualisierung der Hegel’schen Rechtsphilosophie“ (Honneth 2001) fortgesetzt. Honneth übernimmt im Großen und Ganzen die Architektur von Hegels Sittlichkeitssystem und folgt ihm auch darin, den Grund für gesellschaftliche Fehlentwicklungen in einer Störung des Gleichgewichts zwischen den einzelnen Sittlichkeitsdimensionen zu sehen. Den Daseinsgrund rechtlicher Freiheit hatte er bereits in Kampf um Anerkennung (Honneth 1992) intersubjektivitätstheoretisch aufgeschlüsselt. Rechtliche Anerkennung, so Honneth, ist für eine gelungene Selbstbeziehung notwendig: „Die Erfahrung, von den Mitgliedern des Gemeinwesens als eine Rechtsperson anerkannt zu werden, bedeutet für das einzelne Subjekt, sich selber gegenüber eine positive Einstellung einnehmen zu können; denn jene billigen ihm dadurch, dass sie sich zur Respektierung seiner Rechte verpflichtet wissen, umgekehrt die Eigenschaft eines moralisch zurechnungsfähigen Aktors zu.“ (Honneth 1992, S. 129)

Indem Honneth das Recht als eine Dimension der Entwicklung eines affirmativen Selbstbezugs begreift, ist das Recht nicht wie in den klassischen Vertragstheorien ein nachträglich addierter Stabilitätsfaktor, sondern Ausdruck einer ursprünglich sozialen Komponente menschlicher Subjektivität. Bereits in dieser Grundanlage seiner Rechtsphilosophie wird deutlich, dass Honneth über die Habermassche Sphärentrennung hinausgeht: Wenngleich sich auch Liebe, Recht und Solidarität in Form voneinander getrennter gesellschaftlicher Bereiche ausdifferenziert haben, ist es doch nicht so, als würde man zu Hause die Liebe brauchen, „draußen“ dann das Recht; vielmehr müssen alle Elemente im Rahmen einer gelungenen Identitätsentwicklung zusammenkommen. Eine Spannung entsteht nun aber schon dadurch, dass sich diese soziale Komponente gerade durch die Möglichkeit des Rückzugs vom Sozialen ins Werk setzt. Denn die Positivierung der Rechtsordnung im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts schafft mit der Etablierung subjektiver Rechte die Voraussetzungen für Privatautonomie, das heißt für eine individuelle Entlastung von den kommunikativen Anforderungen der öffentlichen Deliberation. Honneth reformuliert hier die Hegelsche Rechtsbegründung, wonach das Recht vor allem die Möglichkeit des persönlichen Erwerbs von Eigentum und somit der individuellen Selbstverwirklichung an einem Gegenstand absichern soll, indem er den Eigentumserwerb vor allem auch Recht auf Privatheit deutet. Das formale Recht und die materielle Möglichkeit auf Privatheit schaffen zusammengenommen die Voraussetzungen dafür, dass die Individuen ihre jeweiligen, willkürlich festgelegten Handlungsziele realisieren können. Dieser Zweck bringt allerdings für Honneth nicht die abstrakten Rechte des Individuums gegen die Zwänge der Gesellschaft in Anschlag, sondern bleibt von sich aus auf diese bezogen: Nur durch die Möglichkeit, für einen Moment „hinter alle konkreten Bindungen und soziale Rollen zurückziehen zu können, um auf der eigenen Offenheit und Unbestimmtheit zu insistieren“ (Honneth 2001, S. 59 f.) kann es zu einer Selbstvergewisserung der Einzelnen über ihre Interessen und Meinung und somit zu einer pluralen und somit vitalen Öffentlichkeit und Politik kommen. Zugespitzt

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gesagt ist der Daseinsgrund der Privatheit die Öffentlichkeit und nicht etwa, wie es die Tradition der Vertragstheorie will, umgekehrt: Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger vom Zugriff des Staates (oder der Wirtschaft) geschützt ihre Werte und Ideale befragen können, ist eine wirklich demokratische gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft möglich. Seine konstitutive Rolle für die gelingende Ausbildung von Identität kann das Recht aber also nur dann erfüllen, wenn die durch es eingeführte Absonderung wieder sittlich eingeholt und aufgehoben wird. Wenn Rechte die Struktur eines „Moratoriums“ oder eines „temporären Ausnahmezustands“ (Honneth 2011, S. 153) haben, welche es den Einzelnen erlauben, lebensweltlich eigentlich etablierte Handlungsverpflichtungen abzulehnen und Kommunikationsvollzüge abzubrechen, so kann es seinen Sinn als Freiheitssphäre nur dann behalten, wenn durch die Akteurinnen und Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt der „Boden des Rechts wieder verlassen wird; denn zu einer Abwägung unserer Lebensziele, zu einer tatsächlichen Vergewisserung über das Gute können wir nur in einer Einstellung gelangen, die von der des Rechts dadurch unterschieden ist, dass wir die anderen gedanklich oder real in unsere Abwägungen als ihrerseits ethisch motivierte Subjekte einbeziehen“ (Honneth 2011, S. 151). Das Recht hat also, wie schon bei Hegel, einen Wert nur als relative und begrenzte Komponente menschlicher Interaktion; zu individuellen und sozialen Störungen kommt es immer dann, wenn „überstrapaziert“ und verabsolutiert wird. Das Defizit, das die Verrechtlichung erzeugt, begreift Honneth als „soziale Pathologie“. Als Pathologien sollen dabei solche gesellschaftlichen Prozesse bezeichnet sein, „die zu einer nennenswerten Beeinträchtigung der rationalen Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglieder führen, an maßgeblichen Formen der sozialen Kooperation teilzunehmen“ (Honneth 2011, S. 157). Bei einer Pathologie handelt es sich also nicht um eine Form von Ungerechtigkeit oder moralischer Verletzung, sondern um eine Art ethischer Beschädigung oder Verzerrung, die den Einzelnen einen aneignenden Nachvollzug der etablierten Sozialpraktiken verunmöglicht. Rechtlich erzeugte Pathologien können unterschiedlich zum Ausdruck kommen, etwa in der überzogen „verbissenen“ Verteidigung vermeintlicher oder realer Rechte,7 einem situationsblinden und starren Formalismus, der Kalkulation zwischenmenschlicher Beziehungen ausschließlich in Hinblick auf eine spätere Beurteilung durch ein Gericht, dem unendlichen „Aufschub von Handlungsverpflichtungen“ (Honneth 2011, S. 160) oder einem „Leiden an Unbestimmtheit“, also der Unfähigkeit zur Ausbildung sozialer Sensibilität oder einer qualifizierten persönlichen Präferenz unter den Auspizien des Rechts. Im Recht der Freiheit stellt Honneth zwei Typen von Verhaltensweisen bzw. Charakterdispositionen ausführlicher vor, die beide aus einer Verabsolutierung

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Ein tagesaktuelles Beispiel für die Verabsolutierung der Rechtsform in der politischen Sphäre ist die dogmatische Verteidigung des second amendment im US-amerikanischen Diskurs. Chad Kautzer hat die hier zugrundeliegende Pathologie sehr treffend als „self-defensive subjectivity“ beschrieben (Kautzer 2014) – Zur Kritik am „Legalismus“ als Ideologie vgl. auch bereits Shklar 1986.

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rechtlicher Freiheit resultieren und denen er eine „endemische Ausbreitung“ diagnostizieren zu können glaubt. Zum einen gibt es Formen der Erstarrung und Rigidisierung des Sozialverhaltens, wofür Honneth das Beispiel einer Scheidungsauseinandersetzung anführt: Sobald sich die Partnerinnen und Partner in einer Familie primär auf ihre Rolle als Rechtssubjekte kaprizieren und somit als Akteurinnen und Akteure mit vornehmlich strategischen Zielsetzungen verstehen, so ist es nicht mehr möglich, eine beschädigte Vertrauensbasis wieder zu reparieren. Eine andere, bislang in der Sozialphilosophie noch stark unterbelichtete Pathologie sieht Honneth in Phänomenen der Unentschlossenheit und Willenlosigkeit. Dieser Sozialtypus ist nicht dazu in der Lage, Verbindlichkeiten einzugehen und Verantwortungen zu übernehmen, weil er Entscheidungen immer wieder aufschiebt und das eigene Leben unter permanenten Vorbehalt stellt. Der Zusammenhang solcher „Stimmungen“ mit dem Recht besteht darin, dass die Subjekte hier eine Eigenschaft des Rechts zu einem Bestandteil ihres eigenen Charakters machen: Sie werden allem konkreten weltlichen Stoff gegenüber indifferent und somit „leer“. Diesen beiden Varianten juridifizierter Subjektivitätsformen ist gemeinsam, dass sie den Ausnahmecharakter der rechtlichen Freiheit missverstehen und sich dauerhaft hinter die Maske der Rechtspersönlichkeit zurückziehen. Die damit korrespondierenden Selbst- und Weltbilder verunmöglichen in letzter Konsequenz die Teilnahme am sozialen Leben, weil dies das Abstreifen der Hülle der Rechtsperson und das Zulassen der gesamten Bandbreite intersubjektiver Beziehungsqualitäten voraussetzt. Bestand für Hegel das Heilmittel für Gleichgewichtsstörungen unter den einzelnen Sittlichkeitssphären darin, mögliche Verabsolutierungsaspirationen durch eine Intervention des Staates zu unterbinden und die einzelnen Momente wieder auf ihren Platz zu verweisen, so sieht auch Honneth die Lösung für die Pathologien der Verrechtlichung in einer Depotenzierung des Rechts zu einer relativen Freiheitsdimension innerhalb eines übergeordneten Systems der Sittlichkeit. Entsprechend der klinischen Terminologie spricht er der Sittlichkeit auch eine „therapeutische Bedeutung“ (Honneth 2001, S. 70) zur Behandlung sozialer Pathologien zu. Die Kur besteht danach in einer reflexiven Vergegenwärtigung aller Stufen und Momente relativer Freiheit, die nur zusammengenommen das Ensemble der sozialen Bedingungen einer gelingenden Selbstverwirklichung ausmachen. Ist dies individuell zunächst als der geistige Nachvollzug des eigenen Entwicklungsgangs hin zur „affirmativen Freiheit“ (Hegel 1986b, S. 298 [§ 149 Zusatz]) zu verstehen, korrespondiert damit gesellschaftlich ein institutionelles Gesamtarrangement, in dem jede der einzelnen Sittlichkeitsdimensionen die ihr angemessene Rolle spielt. Honneth löst sich an der Stelle von Hegel, an der dieser die Tendenz hat, sich das gelungene Gesamtsystem der persönlichen Identität bzw. der Gesamtgesellschaft nur als ein richtiges Mischungsverhältnis vorzustellen. Für Honneth liegt die ganze Pointe des rekonstruktiven Verfahrens gerade darin, in den bereits existierenden gesellschaftlichen Institutionen einen normativen Überhang zu entdecken, der noch der Verwirklichung harrt. Wenn es nämlich richtig ist, dass das Subjekt für eine gelungene Identitätsentwicklung auf keine der diversen Sittlichkeitsdimensionen verzichten kann, so kann es eine von den „Pathologien“ der Moderne erlöste Intersubjektivität nur dann geben, wenn alle diese Sphären selbst strukturell so verändert

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werden, dass in jeder von ihnen eine freie Anerkennung der Anderen möglich wird. Für die Bereiche der Familie und der Schule heißt das, für eine Realisierung jener spezifischen Potentiale einzutreten, die in diesen Bereichen normativ manifestiert sind, also vor allem die der einzigartigen bedürfnisorientierten Liebe und Fürsorge resp. der gewaltfreien Erziehung und Bildung, wobei Honneth im Gegensatz zu Habermas nicht darauf angewiesen ist, die Form dieser Realisierung institutionalistisch zu verkürzen (vgl. dazu bereits Honneth 2000, hier insbes. S. 205). Honneths Konzeption der Verrechtlichung ist der Habermasschen in zwei Punkten überlegen. Erstens ist der Begriff der sozialen Pathologie – so problematisch er schon allein aufgrund seiner normalisierenden Implikationen ist – ethisch reichhaltiger als der von Habermas zugrunde gelegte des Freiheitsverlusts. Zwar ist das Problematische an einer Pathologie für Honneth auch, dass sie zum Verlust einer bestimmten, nämlich als sozial verstandenen, Freiheit führt; indem er deren Entstehungsort hingegen in das soziale Gewebe als der sittlichen Substanz der Gesellschaft verlegt, stellt er grundlegend das Paradigma des politischen Liberalismus in Frage, welches systematisch die intersubjektiven Bedingungen deartikuliert, welche die Individuen überhaupt erst in die Lage versetzen, die Rolle autonomer Subjekte einzunehmen (zu diesen beiden Pointen der Anerkennungstheorie vgl. exemplarisch Honneth 2000, 2010, 2011). Zugleich verweist der Begriff der Pathologie auch schon auf die Frage der „Therapie“, das heißt auf die Frage nach eben nicht mehr pathologischen, sondern gelingenden Sozial- und Selbstverhältnissen. Daraus folgt, dass jede Kritik sozialer Pathologien einen ethischen Perfektionismus impliziert, der nicht nur Alternativvorstellungen über die Verwirklichung von Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern wenigstens minimale Vorstellungen eines „guten Lebens“ zugrunde legt. Zur Frage „guter“ Pflege, Fürsorge, Liebe und Bildung muss Honneth somit zumindest nicht schon aus kategorialen Gründen schweigen. Zweitens hat Honneth schon mit Kampf um Anerkennung entschieden auf die Besonderheit der Anerkennungsbeziehungen verwiesen, welche in der Familie vorherrschen. Deren Wert besteht gerade im emotionsgebundenen und bedürfnisorientierten Charakter; die Menschen können nur dann die für soziale Interaktionen notwendige Sensibilität entwickeln, wenn sie selbst einmal jene vorbehaltlose Liebe und Sorge erfahren haben, die etwa für eine ideale Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind kennzeichnend ist. Der leibhafte Charakter dieser ersten Anerkennungsbeziehung stellt dabei zudem den latenten Rationalismus der Habermasschen Verständigungskonzeption in Frage. Die Lösung des Dilemmas der Verrechtlichung kann daher keinesfalls in einem „konsensorientierten“ Verfahren liegen, sondern nur in der Restauration, Aufrechterhaltung oder Herstellung von Bedingungen, in denen sich gewaltfreie Fürsorgepraktiken ins Werk setzen können. Diese Idee hat durchaus eine – potenziell radikale – politische Implikation, wobei Honneth den Begriff von Politik jedoch nicht institutionalistisch verkürzt, sondern auch die staats- und rechtsjenseitigen Bewegungen mit einbeziehen kann, die in den letzten fünfzig Jahren eine weitreichende Veränderung des gesellschaftlichen Bildes der Familie und persönlicher Intimbeziehungen erreicht haben. Honneth kann, etwa nach Vorbild der Hegelschen Korporationen, auch zivilgesellschaftlichen Institutionen und Gruppierun-

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gen einen politischen Status zuschreiben; für jede konstitutive Anerkennungssphäre gibt es demzufolge je angemessene politische Forderungen und Handlungsweisen (Honneth 2003, S. 139 ff., 198 ff., 221 ff., 2010, S. 68). Trotz dieser Vorzüge teilt jedoch Honneth mit Habermas auch zwei gravierende, miteinander zusammenhängende Probleme. Das erste liegt in der Tendenz zur Verharmlosung familiärer und schulischer Herrschafts- und Gewaltverhältnisse, das zweite im Ausblenden der politischen Logik von Verrechtlichungsbewegungen. Zwar stellen erstens sowohl Habermas, als auch Honneth, durchaus in Rechnung, dass der Grund der Verrechtlichung in der Verbesserung der rechtlichen Situation gerade der Frauen und der Kinder lag, beide eint jedoch eine gewisse Neigung, Familie und Schule als vorrechtliche Idyllen zu sehen, deren Integrität gegen den allzu expansivimperialistischen Zugriff durch eine kalte Bürokratie zu verteidigen ist. Habermas nennt diese Sozialisationsinstanzen „kommunikativ strukturierte Handlungsbereiche“ (Habermas 1981, S. 544), die „funktional notwendig auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung ausgelegt“ (Habermas 1981, S. 541) seien.8 Auch Honneth spricht, hier noch ganz in Anlehnung an Habermas, von einer „zunehmenden Verrechtlichung von vormals noch weitgehend kommunikativ organisierten Lebensbereichen“ (Honneth 2011, S. 162, auch S. 163), die von „individualisierte [n] Bedürfnissen“, „eingespielte[n] Normen und Werten“ und „kommunikative [n] Konfliktregelungen“ (Honneth 2011, S. 164) bestimmt gewesen seien. Diese optimistische Etikettierung hat bei Habermas und Honneth jeweils auch einen systematischen Grund; bei Habermas liegt er darin, dass er die persönlichen Nahbeziehungen als das Milieu der Lebenswelt betrachtet, die von einer mindestens basalen kommunikativen Rationalität gekennzeichnet ist, bei Honneth darin, dass er die Sphäre der Liebe, also die Intimbeziehungen, Familie und Freundschaft, im Rahmen seiner hegelianischen Gesamtarchitektur bereits unter den Begriff der Sittlichkeit rubriziert, so dass sie von einer Gefahr der Vereinseitigung oder Verabsolutierung, wie er schreibt, „vollkommen unbehelligt“ (Honneth 2011, S. 125) seien. Auch wenn sowohl Habermas, als auch Honneth vermutlich ohne weiteres zugeben würden, dass diese Sichtweise eher kontrafaktischen Charakter hat bzw. einen normativen Geltungsüberhang besitzt, der von der sozialen Realität noch nicht ganz eingeholt ist, bekommen ihre Kritiken am Recht doch eine deutliche Schlagseite; jedenfalls sind beide bereit, den Sphären der Familie und der Schule ungeachtet ihrer realen Gestalt einen sehr viel höheren normativen Kredit zu geben als dem Recht. In Wirklichkeit aber waren diese Sphären vor dem Prozess, den Habermas als den vierten Verrechtlichungsschub der Moderne bezeichnet hat, also der Durchsetzung des Sozialstaats, weder kommunikativ, noch vorrechtlich, sondern juristisch abgesicherte Institutionen patriarchaler Herrschaft und ökonomischer Ausbeutung weiblicher Reproduktionsarbeit – und sind es in signifikantem Maße noch immer.9

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Diese Vorstellung wurde bereits von Nancy Fraser hinreichend demontiert (Fraser 1994, insbes. S. 183). 9 Honneths leicht romantisiertes Bild der Familie ist bereits verschiedentlich Gegenstand feministischer Kritiken geworden; vgl. exemplarisch Young 2007; Allen 2010.

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Das zweite Problem, das die Honnethsche mit der Habermasschen Verrechtlichungskonzeption teilt, ist die Tendenz zur Entpolitisierung der im Medium des Rechts geführten Emanzipationskämpfe. Wie Habermas, so neigt auch Honneth dazu, die Verabsolutierung der Rechtsform eher als Resultat einer übergreifenden gesellschaftlichen Dynamik denn als Ergebnis der Handlungen der Beteiligten zu verstehen; was aber zunächst den Sinn hatte, die Einzelnen vom Vorwurf eines bloß individuellen Fehlverhaltens zu entlasten (Honneth 2011, S. 157, 166), verkennt im Kontext der Verrechtlichungskritik auch leicht den eminent politischen Charakter der entsprechenden Auseinandersetzungen. Ganz deutlich wird dies bei seinem ersten Beispiel für eine Pathologie rechtlicher Freiheit, der Versteifung auf die Rolle des Rechtsträgers, die Honneth exemplarisch am Fall eines Sorgerechtsstreits vorführt, wie sie in Robert Bentons Film Kramer vs Kramer dargestellt wird. Gelingt es Honneth damit zwar zu zeigen, wie sich die Handlungsweisen auf negative Weise verändern, sobald sie nur noch nach einer rechtlichen Rationalität ausgerichtet werden, blendet das Beispiel jedoch aus, aufgrund welcher politischen Kämpfe sich ein solcher Konflikt erst ergeben kann. Denn worüber hier immerhin ein Konflikt möglich ist, wurde vorher automatisch zugunsten des Ehemanns entschieden: Erst mit der feministische Bewegung der 1960er- und 70er-Jahre wurden (kulturell) das Emanzipationsbestreben der Frau, (ökonomisch) die materielle Möglichkeit, eine Ehe zu beenden und (rechtlich) die Chance, dennoch das Sorgerecht über das gemeinsame Kind zu behalten, überhaupt erkämpft.

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Juristische Weltanschauung – die Paradoxien der Rechte

Die von Habermas und Honneth als Verrechtlichungsbewegungen rekonstruierten Entwicklungen in den westlichen Industrienationen müssen also zumindest auch als politische Erfolge verstanden werden. Diese Erkenntnis leugnet aber dennoch nicht die problematischen Effekte, die Habermas und Honneth aufgezeigt haben: Politische Erfolge können sich unter bestimmten Bedingungen nachträglich in politische Niederlagen verwandeln. Dies bietet einen Anlass, die Perspektive auf die Verrechtlichungsdynamik zu verschieben: von einer staatszentrierten zu einer lebensformzentrierten Perspektive. Ein solcher Perspektivwechsel gibt auch der Analyse der ambivalenten Effekte von Verrechtlichungen eine andere Fassung: Statt als Dilemmata, die sich aus der Umsetzung staatlicher Maßnahmen ergeben, erscheinen sie als Paradoxien, die daraus resultieren, dass die lebensweltlich situierten Akteurinnen und Akteure Rechte zugleich fordern als auch zurückweisen müssen. Damit folge ich zunächst dem Hinweis Axel Honneths, dass für nicht-staatliche Anerkennungssphären andere als etatistische Politikformen zu finden sind, gehe aber von einer Analyse in Bezug auf deren tatsächliche Verfasstheit aus, die ich für realistischer halte. Daraus folgt, dass die Paradoxie sich nicht einfach in eine Pluralität gleichberechtigter politischer Praktiken auflösen lässt – was die Lösung für das Problem der Verrechtlichung leider nicht einfacher, sondern schwerer zu erreichen macht.

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Um dieses Paradox besser zu verstehen, bietet es sich an, zunächst die Verrechtlichungskritik der sozialistischen Tradition zu konsultieren. In ihrem 1886 erschienen Artikel Juristensozialismus nennen Friedrich Engels und Karl Kautsky die „juristische Weltanschauung“ die „Weltanschauung der Bourgeoisie“, welche als solche die Religion ersetzt, dabei aber ebenso dogmatisch auftritt. Sie beobachten mit Sorge, dass sich diese Ideologie auch in der Arbeiter_innenbewegung zu verbreiten droht, wodurch sich deren Kampfposition nachhaltig schwächen würde. Darunter fallen die Tendenzen, politische Auseinandersetzungen zu sehr im Medium des Rechts führen zu wollen, etwa indem an den Staat die Forderung nach einem „Recht auf den vollen Arbeitsertrag“ gerichtet wird. Dies ist jedoch wohlgemerkt keine rein „strategische“ Frage; für Engels und Kautsky liegt in der juristischen Weltanschauung vielmehr eine spezifische Weise, ein strukturelles Problem kommunistischer Politik misszuverstehen bzw. auf eine falsche Weise aufzulösen. Es ist wichtig, dass es für Engels und Kautsky hier nicht um die Frage des Radikalitätsgrads geht; sie kritisieren Rechtsforderungen nicht deshalb, weil darin „zu wenig gewollt“ wird oder weil sie unvollständig sind. Vielmehr beschreiben sie ein Paradox der politischen Perspektivität. Dieses Paradox besteht darin, dass die sozialistische Partei den Staat gleichzeitig anerkennen und aberkennen muss. Einerseits muss sie ihn anerkennen, und zwar nicht nur deshalb, weil ihr das die Möglichkeit eröffnet, kurzfristige Verbesserungen zu erkämpfen, sondern auch weil der Staat die einzige Möglichkeit bietet, ein universalistisches politisches Programm zur Darstellung zu bringen. Unter kapitalistischen Bedingungen konstituiert nämlich Marx’ Analyse zufolge nur der Staat eine Allgemeinheit, während der Rest der Gesellschaft in isolierte und atomisierte Privatsubjekte zerfällt. Die sozialistische Partei muss daher, wie Engels und Kautsky schreiben, „ihren Ansprüchen allgemeine Geltung in Form von Gesetzen verschaff[en]“ (MEW 21, S. 509). Der Klassenkampf ist, wie Marx und Engels bereits im Kommunistischen Manifest bestimmt hatten, immer auch ein politischer Kampf. Damit ist erstens gemeint, dass Forderungen wie die nach starker Progressivsteuer, nach Nationalisierung des Transportwesens oder der Bereitstellung freier Bildung (Marx und Engels 1972, S. 481) die Lage der arbeitenden Klasse objektiv verbessern würden, zweitens – und vielleicht wichtiger – dienen solche reformerischen Ansprüche aber auch dazu, die Gemeinsamkeit der Interessen des Proletariats überhaupt zu artikulieren. Zugleich aber dementiert die materialistische Geschichtsauffassung andererseits das Primat des Staates und verlagert den privilegierten Ort politischer Auseinandersetzungen in die Sphäre der Ökonomie. Die sozialistische Partei muss daher zugleich gegen die Rechtssphäre indifferent sein, weil ihr politisches Begehren, das Aufhebung der Klassengegensätze, per definitionem nicht durch staatliche Maßnahmen erreicht werden kann. Marx und Engels haben damit den Handlungsraum des Politischen vergrößert, denn eine politische Handlung ist nicht mehr nur dadurch definiert, dass sie sich an den Staat oder staatliche Institutionen richtet. Klassenkämpferische Aktionen wie die Sabotage, der Streik oder der Boykott können so überhaupt erst als politische Handlungen begriffen werden, ja sie machen sogar die eigentlichen politischen Handlungen aus, während staatliche Maßnahmen als bloße Überbauphänomene zu sekundären Widerspiegelungen

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untergründiger materieller Prozesse relativiert werden.10 Engels und Kautsky diagnostizieren der Arbeiter_innenbewegung ihrer Zeit, dass die staatsorientierte Komponente kommunistischer Politik die ökonomieorientierte Komponente zu verdrängen droht. Die Arbeiter_innenklasse, schreiben die beiden, könne aber ihre „Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne juristisch gefärbte Brille in ihrer Wirklichkeit anschaut. Hierzu aber verhalf ihr Marx mit seiner materialistischen Geschichtsauffassung, mit dem Nachweis, daß alle juristischen, politischen, philosophischen, religiösen etc. Vorstellungen der Menschen in letzter Instanz aus ihren wirtschaftlichen Lebensbedingungen, aus ihrer Weise zu produzieren und die Produkte auszutauschen, abgeleitet sind.“ (MEW 21, S. 494) Die Erkenntnis, dass der Klassenkampf immer auch ein politischer Kampf ist, darf also nicht zu einer zu starken Fokussierung auf staatliche Maßnahmen führen; denn was immer durch sie zu erreichen ist, ist mit einem Abzug der politische Aufmerksamkeit von der eigentlich wichtigeren Produktionssphäre erkauft. Die „juristische Weltanschauung“ wird dann zur Ideologie.11

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Einige der mit diesem grundlegenden Paradox verbundenen Probleme hat Étienne Balibar (Balibar 2013) herausgearbeitet. Balibar ist aber insofern zu widersprechen, als er den Klassenkampf nur als Ausdruck einer „Heteronomie des Politischen“ versteht. Vielmehr lässt sich der Klassenkampf – als Kampf – auch als kontingenter Prozess und somit als Ausdruck einer Autonomie des Politischen begreifen, welche wiederum auf die politische Gestaltbarkeit der Klassenverhältnisse verweist. 11 Ursprünglich wurde der Begriff der Verrechtlichung im Kontext der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik von Otto Kirchheimer geprägt, der ihn wiederum von Hugo Sinzheimer übernommen hat. In seiner Dissertation Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus beklagt Kirchheimer, die Reduktion politischer Konflikte auf Rechtsfragen würde die Arbeiterklasse radikalerer Aktionsformen berauben. Indem dem Tarifkonflikt eine rechtliche Form gegeben wird, wird der Klassenkampf zugleich pazifiziert und entpolitisiert: „Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, jeder tatsächlichen, jeder Machtentscheidung wird auszuweichen versucht [?. . .] alles wird neutralisiert dadurch, dass man es juristisch formalisiert.“ (Kirchheimer 1976, S. 36) Hier ist geht es also explizit nicht um eine Verrechtlichung der Lebenswelt, sondern um die der Politik; dabei geht Kirchheimer davon aus, dass die Anwendung juristischer Logiken, vor allem der Formalisierung, zum Schaden sowohl des Rechts, als auch der Politik ist: „Der Staat lebt vom Recht, aber es ist kein Recht mehr, es ist ein Rechtsmechanismus, und jeder, der die Führung der Staatsgeschäfte zu erlangen glaubt, bekommt stattdessen eine Rechtsmaschinerie in die Hand, die ihn in Anspruch nimmt, wie ein Maschinist seine sechs Hebel, die er zu bedienen hat. Das rechtsstaatliche Element in seiner nach der Überwindung des reinen Liberalismus nunmehr sichtbaren Gestalt, die spezifische Transponierung der Dinge vom Tatsächlichen ins Rechtsmechanistische, ist das wesentliche Merkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts der Klassenkräfte.“ (Kirchheimer 1976, S. 37) Interessanterweise folgert Kirchheimer im Gegensatz zu Engels und Kautsky daraus nicht, die Juridifizierung der Politik zurückzudrängen und auf eigene Rechtsforderungen zu verzichten, er schlägt stattdessen vor, die Sozialistinnen und Sozialisten sollten das Recht selbst für die eigenen Zwecke umfunktionieren. Wie Gunther Teubner (Teubner 1993) insistiert, wäre es also falsch, Kirchheimers Beschreibung der Verrechtlichungsdynamik allein als ein „strategisches“ Argument zu verstehen. Die Spezifik von Kirchheimers Analyse sieht Teubner durch vier Punkte charakterisiert: erstens die Verselbständigung des Rechts von seinen sozialen Rahmenbedingungen, zweitens die Kolonisierung (gerade nicht der Lebenswelt, sondern der Politik) durch das Recht, drittens die Forderung nicht nach Revision der Verrechtlichung, sondern im Gegenteil nach Repolitisierung des Rechts auf eine spezifische, sozialistische Weise und schließlich viertens somit die „Entrechtlichung“ des Rechts.

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Indem sie die Ökonomie gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Sphären priorisieren, argumentieren Engels und Kautsky hier freilich noch klassisch ökonomistisch und reduktiv (und somit anders als Marx). Sie legen eine Hierarchie von Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen zugrunde, die insbesondere der Feminismus und der Antirassismus nachhaltig in Frage gestellt haben. Innovativ an dieser Argumentationsweise ist hingegen, dass sie aus Perspektive der Lebensform der Akteurinnen und Akteure – das heißt in diesem Zusammenhang die Lebensrealität an den Produktionsstätten: der Fabrik – inklusive deren realer politischer Kämpfe formuliert ist: gewissermaßen „von unten“. Wenn man der Ökonomie ihren Status als gesellschaftliche Determinante raubt und sie stattdessen als eine unter mehreren gleichberechtigten Politiksphären versteht, so kann man den Ansatz von Engels und Kautsky auf andere Bereiche übertragen. In der Tat lässt sich ein großer Teil der radikalen feministischen, queeren und antirassistischen Politiken und ihrer jeweiligen Theoretisierungen als Versuch verstehen, dem Paradox der Rechte zu begegnen und produktive Umgangsweisen mit ihm zu finden.12 Dies lässt sich mit Wendy Browns feministischer Rechtskritik anhand eines Beispiels vorführen, dem sowohl Habermas, als auch Honneth große Aufmerksamkeit gewidmet haben, nämlich der Familie. Wie die feministische Kritik gezeigt hat, ist die Familie keineswegs eine Institution, in der kommunikative oder gar konsensorientierte Handlungsorientierungen vorherrschend sind, sondern noch immer ein Ort der Ausbeutung weiblicher Reproduktionsarbeit sowie sexueller, symbolischer und emotionaler Gewalt. Dennoch kann, aufgrund der Besonderheit des entsprechenden Terrains, die Befreiung nicht allein darin bestehen, dass allen Beteiligten etwa ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und ein Lohn für Hausarbeit garantiert wird. Der Grund dafür liegt aber nicht darin, dass die Familie, wie bei Habermas, als vorpolitisches Milieu unter Artenschutz steht, sondern darin, dass das Recht zum einen die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit voraussetzt, welche seit jeher geschlechtlich markiert ist, zum anderen auch auf einer Subjektvorstellung beruht, welche ausschließlich an traditionell männlichen Sozialisationserfahrungen modelliert ist, während es weibliche Handlungsmuster und normative Orientierungen tendenziell ausschließt. Aus Sichtweise der in dieser Ausgangslage Unterdrückten und Benachteiligten, das heißt vor allem der Frauen und Kinder, ergibt sich somit ein paradoxes Verhältnis zu Rechtsforderungen. Das heißt, dass der Feminismus das Recht nicht nur fordern, sondern seinen Einfluss zugleich zurückweisen muss, dass er den Staat nicht nur an-, sondern zugleich aberkennen muss. Einerseits muss er ihn anerkennen, weil Rechte für den feministischen Kampf unabdingbar sind: Erstens, weil sie die Rahmenbedingungen für reale politische, soziale und kulturelle Verbesserungen schaffen, wie die Erfolge der langen Geschichte der Frauenbewegung gezeigt haben. Zweitens, weil das Erheben einer politischen Forderung in der Sphäre der Öffentlichkeit ein universelles Interesse artikuliert und die Gemeinsamkeit vereinzelter Erfahrungen bekräftigt. „Rechte“, schreibt Brown, „erlauben die Artikulation eines Bedürfnisses, eines mangelhaften 12

Exemplarisch versuchen das die Aufsätze in Brown und Halley 2002.

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Zustandes oder einer Verletzung, denen durch Rechte nicht vollständig Abhilfe geschaffen werden kann oder die sie nicht tiefgreifend ändern können und für die doch innerhalb des bestehenden politischen Diskurses keine andere Form der Bezeichnung zur Verfügung steht.“ (Brown 2011, S. 472) Andererseits verweist diese Formulierung aber auch bereits auf das zentrale Manko der Forderung nach Rechten. Engels und Kautsky hatten darauf hingewiesen, dass die juristische Weltanschauung die Weltanschauung der Bourgeoisie ist. Das bürgerliche Privatrecht hatte diese der noch theologisch gestützten feudalen Monarchie abgetrotzt. Wenn sich das Proletariat nun darauf einlässt, den politischen Kampf im Medium des Rechts zu führen, zeigen Engels und Kautsky, so ist das aus zwei Gründen problematisch: Erstens strategisch, weil es damit ein Kampffeld akzeptiert, mit dem der Gegner immer bereits besser vertraut ist. Zweitens aber auch prinzipiell: Was auf diesem Feld zu erreichen ist, wird ohnehin nie das sein, was das Proletariat wirklich erreichen will: die Abschaffung der Klassengegensätze. Wie die feministische Rechtskritik gezeigt hat, ist die juristische Weltanschauung zugleich aber auch eine maskulinistische Weltanschauung. Das Argument von Engels und Kautsky gilt hier analog: Politische Forderungen in Form von Rechten zu artikulieren zwingt den Frauen erstens die Übernahme eines Handlungsregisters auf, aus dem sie traditionell ausgeschlossen waren. Zweitens ist das Ziel des Feminismus, die Abschaffung der Unterdrückung der Frauen, rechtlich ohnehin nicht zu erreichen, weil das bürgerliche Recht aus maskulinistischen Grundbegriffen gebildet ist.13 Wendy Brown formuliert den aus diesem Zusammenhang folgenden Vorbehalt gegen die Inanspruchnahme von Rechten folgendermaßen: „Recognition as liberal subjects requires that women abstract from their daily lifes in the household and repudiate or transcend the social construction of femaleness consequent to this dailiness, requirements that in addition to being normatively problematic are – as every working woman knows – never fully realizable. Thus, not merely the structure and the discourse but the ethos of the liberal state appears to be socially masculine: its discursive currencies are rights rather than needs, individuals rather than relations, autogenesis rather than interdependence, interests rather than shared circumstances“ (Brown 1995, S. 184; vgl. zur feministischen Souveränitätskritik auch schon Loick 2012, Kap. II.5).

Auch wenn es nicht sofort auffällt, ist die feministische Rechtskritik an diesem Punkt durchaus anschlussfähig an Honneths Anerkennungstheorie; denn ebenso wie Honneth verweist auch Brown auf die Gefahren der Verdrängung und Unterordnung von bedürfnis-, beziehungs- und abhängigkeitsorientierten Einstellungen durch die Überstrapazierung rechtlicher Freiheit.

13

Eine parallele Problematik hat die post- bzw. dekoloniale Kritik des Rechts herausgearbeitet: Das Recht ist nicht nur strukturell maskulinistisch, sondern auch strukturell europäisch, vgl. etwa Spivak 2004; Comaroff und Comaroff 2007; Mignolo 2014.

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Feministische Politik muss also schon der Form nach anders verfasst sein als die traditionellen, auf den Staat als Umsetzungsagenten fokussierten liberalen Politikkonzepte. Dies ist bereits im klassischen Slogan der Frauenbewegung: Das Private ist politisch, ausgesprochen; denn diese Erkenntnis geht nicht vom Standpunkt des Privaten aus, bewegt sich dann in die Sphäre der Öffentlichkeit, um so den Staat zu bewegen, von oben wieder auf das Private zuzugreifen,14 sondern eröffnet von vornherein das Private selbst als Schauplatz politischer Auseinandersetzungen.15 Hatte die Arbeiter_innenbewegung den unmittelbar politischen Charakter von klassenkämpferischen Aktionsformen herausgestellt, so hat auch die Frauenbewegung neue Handlungsweisen entwickelt, die erstens unmittelbar politisch und zweitens dem Terrain der Familie angemessen sind. Dazu gehören das Ausüben von moralischem Druck von Frauen auf ihre männlichen Lebenspartner, um eine gerechtere Aufteilung der Haushaltsarbeiten zu erreichen, ebenso wie die Einrichtung von antiautoritären Kinderläden und Experimente mit Polysexualität und Polyamorie. Diese Herangehensweise fordert keinen Bestandsschutz der Familie als lebensweltliches Milieu gegen den Assimilierungsdruck des Systems, sondern hat ganz neue Formen der Politisierung entwickelt, die nicht im Geringsten auf monetäre und bürokratische Implementierung angewiesen ist. Engels und Kautsky hatten befürchtet, dass mit einer zu starken Vereinseitigung auf die staatszentrierte Komponente sozialistischer Politik die ökonomieorientierte Komponente untergeht. Wollte man in Bezug auf das Geschlechterverhältnis eine Analogie zu Engels’ und Kautskys Warnung bilden, so könnte man von einem Juristinnenfeminismus sprechen, einem Feminismus also, der die Befreiung der Frau ausschließlich durch die konsequente Anwendung von Rechten und die Intensivierung staatlicher Schutzmaßnahmen zu realisieren versucht (in der USamerikanischen Diskussion wurde, vielleicht etwas vorschnell, vor allem Catherine MacKinnon mit dieser Position identifiziert16). Die Paradoxie der Rechte ergibt sich aber auch hier nicht daraus, dass deren Einfluss begrenzt ist, weil sich in ihnen nur eine kurzfristige Verbesserung, nicht aber eine grundsätzliche Abschaffung des Patriarchats erreichen lässt. Der Juristinnenfeminismus ist vielmehr vor allem deshalb problematisch, weil er die politische Aufmerksamkeit vom Schauplatz

So stellt es sich aber Habermas (Habermas 1992, S. 382) vor – den Begriff der „Verrechtlichung von unten“ verwendet hingegen schon Honneth (Honneth 2003, S. 223), ohne jedoch die daraus folgenden paradoxen Konsequenzen auszubuchstabieren. 15 Honneth hat überzeugend den Zusammenhang der Staatszentrierung des liberalen Prozeduralismus mit einem „distributiven“ Gerechtigkeitskonzept rekonstruiert, das die Empfängerinnen und Empfänger der zu verteilenden „Güter“ zugleich individualisiert und atomisiert (Honneth 2010); in diese Richtung geht auch schon Habermas (Habermas 1992, S. 504 ff.). 16 Vorschnell ist diese Charakterisierung, weil es MacKinnon nicht nur um eine Anwendung und Ausweitung des Rechts sondern darum geht, dem Recht zunächst überhaupt erst einmal die Erfahrungen von Frauen einzuschreiben. Für MacKinnons Utopie einer feministischen Jurisprudenz vgl. MacKinnon 1989, insbes. S. 237–249. 14

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des Alltags abzieht, die Herrschaft des Staates ratifiziert und politische Kritik domestiziert.17 Die juristische Weltanschauung wird so, noch einmal, zur Ideologie.

5

Fazit

In diesem Ansatz der politischen Verrechtlichungskritik sind die Vorteile von Honneths Kritik der Pathologien rechtlicher Freiheit erhalten: Erstens geht es nicht allein um das Maß an realisierter Freiheit, sondern auch um die „ethischen“ Defizite der rechtsförmig erzeugten Subjektivitäten. Zweitens kann auf diese Weise den jeweiligen Besonderheiten der entsprechenden gesellschaftlichen Sphäre Rechnung getragen werden. Zusätzlich vermeidet eine solche politische Kritik von Verrechtlichung beide Fehler der Habermasschen und der Honnethschen Juridismuskritik: Weder verharmlost sie die Herrschafts- und Gewaltverhältnisse, die in dem jeweiligen Bereich herrschen, noch blendet sie die politische Logik rechtlicher Emanzipationsbestrebungen aus. Ausbeutung und Gewalt überwinden zu wollen und zugleich sich den Diktionen des etablierten Rechts und seinen juridischen Domestizierungstechniken zu verwehren, zwingt die Akteurinnen und Akteure dazu, ihre politische Aufmerksamkeit auf paradoxe Weise aufzuteilen: Solche Politiken müssen immer zugleich Kämpfe um das Recht darstellen, als auch Vorbehalte gegen das Recht artikulieren.18 Das heißt

17 In ihrem programmatischen Aufsatz Die Paradoxien der Rechte ertragen zählt Brown weitere Paradoxien progressiver Rechtspolitiken auf: „Rechte sichern unsere Geltung als Individuen, verschleiern aber zugleich die tückischen Wege, auf denen diese Geltung erlangt und reglementiert wird; sie müssen spezifisch und konkret sein, um die Unterordnung von Frauen sichtbar zu machen, und ihr Abhilfe zu schaffen, können aber durch diese Bestimmtheit unsere Unterordnung befestigen; sie versprechen eine Steigerung individueller Souveränität, aber um den Preis der Stärkung der Fiktion souveräner Subjekte; sie emanzipieren uns und ermöglichen uns so, andere politische Ziele zu verfolgen, unterwerfen diese Ziele aber zugleich dem liberalen Diskurs; sie bewegen sich in einem übergeschichtlichen Register, obwohl sie aus spezifischen geschichtlichen Umständen erwachsen; sie versprechen, unserem Leiden als Frauen Abhilfe zu schaffen, tun dies aber nur, indem sie dieses Leiden – und uns – in einzelne Bestandteile aufsplittern, eine Aufsplitterung, die einem Leben, das bereits durch die Verflechtung der Mächte von Rasse, Klasse, Sexualität und Gender verletzt ist, weitere Verletzungen zufügt.“ (Brown 2011, S. 469 f.). 18 Dass es sich hier um eine Paradoxie handelt heißt, dass sich das „einerseits – andererseits“ nicht einfach in Form einer Arbeitsteilung aufteilen lässt. Die beiden Seiten der Paradoxie widersprechen sich: Man kann nicht widerspruchsfrei zugleich die Vermehrung von Rechten und die Deprivilegierung des Staates fordern. Gleichzeitig handelt es sich bei der von Engels/Kautsky und Brown beschriebenen Paradoxie nicht um eine tragisch-aporetische Auffassung des Rechts. Es geht vielmehr um die Reflexion einer Widersprüchlichkeit, die sich unter gegebenen Bedingungen für den politischen Kampf ergibt. Dieser politische Kampf zielt jedoch letztlich auf die Etablierung von nicht wiederum tragisch entwerteter Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit. So sind die Fragen gegen Ende von Browns Aufsatz zu deuten: „Wie mag die Paradoxie an politischem Gehalt gewinnen, wenn man sie als Bekräftigung der Unmöglichkeit von Gerechtigkeit in der Gegenwart auffasst und zugleich als Artikulation der Bedingungen und Umrisslinien von Gerechtigkeit in der Zukunft? Wie mag die Aufmerksamkeit auf die Paradoxie uns dabei helfen, einen politischen Kampf um Rechte zu formulieren, in dem diese weder als Hilfsmittel, noch als Ziele an sich begriffen werden, sondern, vermittels ihrer Umsetzung von Fall zu Fall, als Artikulation dessen, was über sie hinausgeht und für Gleichheit und Freiheit konstitutiv sein mag?“ (Brown 2011, S. 473).

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einerseits: Es sind solche besonderen Rechte zu vermehren und zu befördern, welche die Gleichheit und Inklusion derjenigen stärken, die bislang von ihnen oder durch sie ausgeschlossen oder unterdrückt wurden, das heißt in diesem Zusammenhang vor allem der Frauen und der Kinder; das sind zuerst das Recht auf körperliche Unversehrtheit, umfassende reproduktive Rechte, Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung, das Recht auf Bildung, gewaltfreie Erziehung und auf demokratische Partizipation. Der Paradoxie der Rechte entspricht aber andererseits: eine Deprivilegierung des Staates als Gravitationszentrum der Politik und deren Verlegung auf ökonomische, zivilgesellschaftliche und subinstitutionelle Schauplätze – das heißt hier: die Herstellung von Bedingungen, um auf die Inanspruchnahme von Rechten verzichten zu können, die Etablierung von – wenn auch nicht Natureinigkeiten, so doch – sozialen Einigkeiten von Individuen, die Konstruktion neuer Beziehungsweisen und das Experiment mit Lebensformen, die Veränderung des Alltags und die Entwicklung von Sensibilitäten für die Besonderheit spezifischer Bedürfnisse, Situationen und Kontexte, das Eintreten für Solidarität, Fürsorge und gegenseitige Hilfe, d. h. der Kampf für Vertrauen und Liebe – aber auch der Kampf gegen Vertrauen und Liebe überall dort, wo sie eine beschwichtigende, beschlagnahmende, erdrückende, einengende oder verdinglichende Wirkung entfalten,19 und also überall dort, wo sie im Dienste einer erpressten Versöhnung stehen.

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Honneth argumentiert an dieser Stelle, dass mit der allmählichen Verbreitung des Liebesideals der Romantik eine Zunahme von Freiwilligkeit und Gleichheit einhergeht: Heutzutage sind weder Idee der Familie als Naturnotwendigkeit, noch eine Ehe aus puren ökonomischen Eigeninteressen mehr anerkannte Ideale. Die Geschichte der Intimbeziehungen stellt sich so als lineare Fortschrittsgeschichte dar. Dieses Bild verkennt aber, dass auch die Liebe eine ideologische Funktion annehmen kann, dass sie also die Rolle spielen kann, die familiären Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen zu verschleiern oder sogar begehrenswert erscheinen zu lassen. Immer noch treffend ist in diesem Zusammenhang Shulamith Firestones Kritik an der Liebe: „Love, perhaps even more than child bearing“, heißt es prägnant in ihrem Manifest The Dialectic of Sex, „is the pivot of women’s oppression today“ (Firestone 1971, S. 142).

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Kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats Stephan Lessenich

Zusammenfassung

Will man die krisenhafte Dynamik des Wohlfahrtsstaates – und deren gesellschaftliche Konsequenzen – verstehen, erscheint es analytisch notwendig und politisch sinnvoll, die Kritik am neoliberalen Rückzug des Staates zu erweitern und eine kritische Theorie des Wohlfahrtsstaates zu entwickeln, die auf mindestens fünf Grundannahmen beruht. Der Wohlfahrtsstaat ist erstens ein übergreifender Vergesellschaftungsmodus, zweitens eine für die Etablierung und Aufrechterhaltung kapitalistischer Gesellschaften unhintergehbare Kommodifizierungsinstanz, fungiert drittens als Krisenmanager zwischen widerstreitenden funktionalen Erfordernissen (Spätkapitalismustheorie), bezeichnet deshalb viertens selbst notwendig eine Widerspruchskonstellation und ist fünftens trotz aller strukturellen Widersprüche nach wie vor eine Emanzipationschance. Eine kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats ist vor diesem Hintergrund zuallererst eine Theorie der im Wohlfahrtsstaat institutionalisierten Gegensätze und der durch seine Interventionen hindurch sich reproduzierenden Widersprüche. Diese werden im Rahmen des Beitrags entlang von Strukturproblemen der Dekommodifizierung einerseits sowie der Widersprüche des aktuellen aktivierenden Wohlfahrtsstaats dargestellt und diskutiert. Dabei zeigt sich, dass der Wohlfahrtsstaat auch in seiner gegenwärtigen, aktivierend-investiven Gestalt den schmalen Grat zwischen einer funktionalen Flankierung der kapitalistischen Ökonomie und ihrer materialen Politisierung nicht wird verlassen können. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats · Aktivierung · Subjektivierung · Claus Offe · Spätkapitalismus

S. Lessenich (*) Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_45

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„The basic premise of a welfare state is that government has the responsibility for the wellbeing of its citizens and that this cannot be entrusted to the individual, private corporation or local community. Welfare states typically protect people against poverty by means of unemployment benefits, family allowances, income supplements for the poorly paid, and old-age pensions; they provide comprehensive medical care, free education and public housing. These services are financed by state insurance schemes and taxation.“ (Abercrombie et al. 1994, S. 454)

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Elemente einer kritischen Theorie des Wohlfahrtsstaats

Edel sei der Staat, hilfreich und gut: So lautet die sozialwissenschaftlich herrschende Erzählung von Wesen und Wirken des modernen Wohlfahrtstaats. Wie nur wenige andere Konzepte ist dieser Begriff, ausgehend von der Rede vom „welfare state“ im englischen Sprachraum, für die Sozialwissenschaften der Nachkriegsjahrzehnte zu einem unzweifelhaften Hochwertwort geworden. Dem Wohlfahrtsstaat wird – der Name ist Programm – die Produktion von Wohlfahrt zugeschrieben, und zwar die politische Produktion von Wohlfahrt in einer Gesellschaft, in deren Wirtschaftssystem die Vorstellung handlungsleitend ist, dass Wohlfahrt auf dem Wege des marktvermittelten Gütertausches produziert wird und werden soll (vgl. Kaufmann 2005, S. 219 ff.). Die spätestens seit den 1980er-Jahren in der internationalen Sozialforschung dominant gewordene sozialdemokratische Theorie des Wohlfahrtsstaats sieht in den national jeweils unterschiedliche Gestalt annehmenden „politics against markets“ (Esping-Andersen 1985a) sowohl den analytischen wie auch den normativen Kern desselben: Im demokratischen Kapitalismus zielen die politischen Institutionen und Interventionen des Wohlfahrtsstaats demnach darauf, über die Gewährleistung sozialer Rechte Marktzwänge zu mildern und Marktungleichheiten zu kompensieren. Für „eine theoretische Perspektive . . ., die den normativen Anspruch des Wohlfahrtsstaates ernst nimmt“ (Kaufmann 2005, S. 219), ist der Wohlfahrtsstaat mithin geradezu zwangsläufig „das institutionelle Ergebnis des fortgesetzten politischen Anspruchs, mit Mitteln der Gesetzgebung für die Grundlagen des individuellen Wohlbefindens aller Mitglieder einer national definierten Gesellschaft zu sorgen“ (Kaufmann 2005, S. 219). Allerdings stellt sich durchaus die Frage, wie sinnvoll es analytisch ist, einer solchen Perspektive zu folgen – und damit zugleich der Selbstbeschreibung des Wohlfahrtsstaats bzw. seiner dem „sozialdemokratischen Modell“ (Shalev 1983) verpflichteten Interpreten. Sieht man den Wohlfahrtsstaat nur als das Andere der Marktgesellschaft, als „ein gesellschaftspolitisches Alternativprojekt zum ‚Raubtierkapitalismus‘ des freien Marktes“ (Butterwegge 2012, S. 11), dessen politischer Aufgabenkatalog sich mit den Wertbegriffen „Inklusion, Kompensation und Emanzipation“ (Butterwegge 2012, S. 12) beschreiben lässt, so weiß man zwar politisch stets, wo man steht und wogegen man sich richtet. Analytisch wird man aber einigermaßen ratlos vor dem vermeintlichen Rätsel stehen, warum der Wohlfahrtsstaat „seit Mitte der 1970er-Jahre restrukturiert und demontiert wird, obwohl er weder Verursacher der damaligen Weltwirtschafts- und der im Grunde bis heute

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anhaltenden Beschäftigungskrise war, noch aus seinem Um- bzw. Abbau irgendein Nutzen für die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Entwicklung des Landes erwächst“ (Butterwegge 2012, S. 9). Wäre dem tatsächlich so, dann wäre wohl mit dem Verweis auf die Macht des Kapitals bzw. auf die Wirksamkeit seiner ideologischen Verschleierungstaktiken analytisch schon alles gesagt. In Wahrheit aber dürften die Dinge etwas komplizierter liegen. Will man die krisenhafte Dynamik des Wohlfahrtsstaates – und deren gesellschaftliche Konsequenzen – verstehen, so wird man über eine wie auch immer sympathisch erscheinende Praxis der Kritik allfälliger „neoliberaler Reformen“ als perfidem Bruch mit dem Geist und der Seele des Wohlfahrtsstaats hinausgehen müssen. Dann erscheint es vielmehr analytisch notwendig, aber letztlich auch politisch sinnvoll, diesen Blick zu erweitern, im Sinne einer kritischen Theorie des Wohlfahrtsstaates. Eine solche wird mindestens fünf Grundannahmen folgen, die hier in aller Kürze skizziert seien. 1. Der Wohlfahrtsstaat als Vergesellschaftungsmodus. Nicht selten wird der Wohlfahrtsstaat als eine gewissermaßen „technische“ Apparatur zur Organisation eines effektiven gesellschaftlichen Bedarfsausgleichs gehandelt. Seine Sozialversicherungssysteme erscheinen dann gleichsam als ein gesamtgesellschaftliches Sparschwein (vgl. Barr 2001), über das nach dem Vorbild der individualbiografischen Glättung von Einkommenszyklen („Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not“) die kollektive Umverteilung von Einkommensrisiken läuft. Nach wie vor beliebt – wenngleich analytisch äußerst fragwürdig – ist es dementsprechend, Wohlfahrtsstaatlichkeit an der Masse des in einer Periode sozialpolitisch bewegten Wertprodukts (sprich: an der „abhängigen Variable“ der jährlichen Sozialausgaben pro Kopf) zu bemessen, um auf dieser Basis wohlfahrtsstaatliche Politik „erklären“ zu können (vgl. z. B. Schmidt und Ostheim 2007, S. 115 ff.). Rentenformeln und Sozialausgaben aber sind „epiphenomenal to the theoretical substance of welfare states“ (Esping-Andersen 1990, S. 19): Sie sagen nichts über die gesellschaftliche Bedeutung und die sozialen Struktureffekte wohlfahrtsstaatlicher Intervention aus. Dem Wohlfahrtsstaat als sozialer Tatsache wird nur gerecht, wer ihn als eine historisch-konkrete Gesellschaftsformation versteht, als den spezifischen Modus politisch organisierter Vergesellschaftung im modernen Kapitalismus (vgl. Lessenich 2012, S. 9 ff.). Der Wohlfahrtsstaat ist eine strukturierende Struktur entwickelter kapitalistischer Gesellschaften: In diesen werden die Lebenschancen tendenziell der Gesamtbevölkerung und die Positionierung jedes bzw. jeder Einzelnen im System sozialer Ungleichheit maßgeblich durch eine staatlich konstituierte und politisch regulierte Marktökonomie und deren Dynamiken geprägt. Zugleich ist der Wohlfahrtsstaat aber auch eine durch die gesellschaftlichen Kräfte und Kräfteverhältnisse selbst strukturierte Struktur: Was er tut und lässt, worum er sich kümmert und worum nicht, wem er gibt und wem er nimmt – all das ist ein Effekt permanenter politischer Auseinandersetzungen um die je historischkonkrete Regierung des Sozialen (vgl. Lessenich 2003). 2. Der Wohlfahrtsstaat als Kommodifizierungsinstanz. Wer den Wohlfahrtsstaat von hier aus denkt, ist einigermaßen verlässlich gegen jene normative Überhöhung

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bzw. positive Vereinseitigung seiner Genese und Wirkungsweise gefeit, die zumal in der deutschen Rede vom „Sozialstaat“ aufscheint. Nicht nur Ökonomen kommen ja auf die Idee, im Wohlfahrtsstaat einen institutionalisierten „Robin Hood“ (Barr 2001, S. 1) zu sehen, der insbesondere im Namen der Ausgebeuteten und Entrechteten antritt und jedenfalls stets Gutes im Schilde führt: „the welfare state exists to enhance the welfare of people who (a) are weak and vulnerable, largely by providing social care, (b) are poor, largely through redistributive income transfers, or (c) are neither vulnerable nor poor, by organizing cash benefits to provide insurance and consumption smoothing, and by providing medical insurance and school education“ (Barr 2004, S. 7). Auch die gesamte an T. H. Marshalls klassische Vorstellung von wohlfahrtsstaatlich verbürgten „social citizenship rights“ (vgl. Marshall 1963) anknüpfende Theoriebildung kann im Wohlfahrtsstaat letztlich wenig anderes als des modernen Staatsbürgers zivilen Freund und Helfer sehen: „Few can disagree . . . that social citizenship constitutes the core idea of a welfare state“ (Esping-Andersen 1990, S. 21). Wie immer sind aber auch in diesem Falle Minderheitsmeinungen instruktiv. Gegen eine einseitige Betonung seiner wohltätigen Absichten bringt eine (zu Unrecht schlecht beleumundete, vgl. Schimank 2014) funktionale Perspektive auf den Wohlfahrtsstaat dessen logisch wie historisch unverzichtbare Rolle bei der Etablierung des Lohnarbeitsverhältnisses sowie bei dessen beständiger Reproduktion im Kontext einer kapitalistischen Wirtschaftsweise ans Tageslicht. Es ist der Wohlfahrtsstaat, der die Vergesellschaftung von Arbeitskraft als Lohnarbeit erst ermöglicht und prozessiert; nur auf der Basis seiner Institutionen und Interventionen ist die moderne „Lohnarbeitsgesellschaft“ (Castel 2000, S. 283 ff.) als solche denkund lebbar. Bevor die Armen und Schwachen und vor allen Dingen all jene, die weder arm noch schwach sind, in den Genuss wohlfahrtsstaatlicher Leistungen kommen, organisiert der Wohlfahrtsstaat zunächst einmal ihre Denkweise und Lebensform als Marktsubjekte. Er ist eine unverzichtbare Instanz der Kommodifizierung bzw. der „Proletarisierung“ (Lenhardt und Offe 1977, S. 102) von Arbeitskraft im Sinne ihrer marktförmigen Verwertung. Dass sich der „zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus“ (Weber 1988, S. 37) die Arbeitsmarktsubjekte schaffen konnte und kann, „deren er bedarf“ (Weber 1988, S. 37), ist eine wohlfahrtsstaatliche Leistung, die aller jedenfalls theoretischen Achtung wert ist. 3. Der Wohlfahrtsstaat als Krisenmanager. Es wäre allerdings wiederum zu kurz gegriffen, wollte man den Wohlfahrtsstaat nur in seiner Eigenschaft als kapitalistischer Staat verstehen, allein als eine die Marktvergesellschaftung ermöglichende und befördernde politische Instanz. Der Wohlfahrtsstaat ist zugleich auch demokratischer Staat und somit in der Durchführung und Begründung seiner Aktivitäten an die Interessensbekundungen gesellschaftlicher Mehrheiten rückgebunden. Es ist dies eine der zentralen Hintergrundannahmen der neomarxistischen Theorie des „Spätkapitalismus“ (Offe 1972, 2006; Habermas 1973), die bis heute als der aufschlussreichste Versuch einer analytischen Ergründung von Sinn und Zweck moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit gelten darf. Als eine politische Theorie des double bind (vgl. ausführlich hierzu Lessenich 2009, S. 148 ff.) sieht

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sie wohlfahrtsstaatliches Handeln strukturell zerrissen zwischen den sich ausschließenden Anforderungen der Akkumulation und Legitimation: Als Akteure eines auf die Funktionsbedingungen der kapitalistischen Ökonomie bezogenen Steuerungsarrangements müssen wohlfahrtsstaatliche Institutionen stets die Profitabilitätskalküle der Investoren im Blick haben, während sie im Sinne ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber einer demokratischen Zivilgesellschaft zugleich immer auch die lebensweltlichen Bedürfnisäußerungen „der Leute“ (Vobruba 2009) berücksichtigen müssen. Und dies beides im ureigenen „Interesse des Staates an sich selbst“ (Offe 2006, S. 127 ff.) bzw. an der Stabilisierung seiner selbst als eines komplexen politisch-administrativen Handlungs- und Funktionszusammenhangs. Im Effekt dieser Doppelbindung steht der demokratischkapitalistische Wohlfahrtsstaat in der permanenten Gefahr, in dem einen oder anderen Sinne wahlweise „zu viel“ oder aber „zu wenig“ zu tun, sprich entweder der kapitalistischen Kolonialisierung sozialer Lebenswelten zu viel Raum zu lassen oder aber einer materialen Politisierung der tauschwertbasierten Ökonomie zu sehr Vorschub zu leisten. Da in der Wahrnehmung relevanter kapitalistischer und demokratischer Akteure aber immer das eine oder das andere – und im Zweifel sogar beides zugleich – geschieht, steht der Wohlfahrtsstaat strukturell in der Kritik und wird zum Brennpunkt von allfälligen wirtschaftlichen und sozialen Vertrauenskrisen. Als politischer Krisenmanager ersten Ranges verstrickt er sich ebenso unwillkürlich wie unwiderruflich in Krisen zweiter Ordnung – in „Krisen des Krisenmanagements“ (Offe 1973). 4. Der Wohlfahrtsstaat als Widerspruchskonstellation. Damit ist auch bereits auf die zutiefst dialektische Natur des Wohlfahrtsstaats und seiner historischen Entwicklung hingewiesen. Eine kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats ist zuallererst eine Theorie der im Wohlfahrtsstaat institutionalisierten Gegensätze und der durch seine Interventionen hindurch sich reproduzierenden Widersprüche. Die im Wohlfahrtstaat aufgehobene und durch ihn vorangetriebene gesellschaftliche Widerspruchsdynamik lässt sich in mindestens dreifacher Hinsicht rekonstruieren. Erstens vereint der Wohlfahrtsstaat gegensätzliche Operationslogiken in sich – bzw. sucht sie miteinander zu vereinen. Sein „konservativ-revolutionäres Doppelwesen“ (Heimann 1980, S 172) besteht in dem „Einbau des Gegenprinzips in den Bau der Kapitalherrschaft“: die ökonomische Rationalität wird politisch – „im Kapitalismus gegen den Kapitalismus“ ((Heimann 1980, S. 167) – durch eine soziale Logik unterlaufen. „In der Doppelstellung der Sozialpolitik als Fremdkörper und zugleich als Bestandteil im kapitalistischen System liegt ihre eigentliche Bedeutung; darin ihre Dynamik, darin ihre dialektische Paradoxie“ (Heimann 1980, S. 168). Eben diese lässt sich freilich nicht, wie Heimann es auf dann doch wieder undialektische Weise unternahm, in dem Sinne auflösen, dass der Kapitalismus mit dem Fortschritt der Sozialpolitik „fortschreitend weniger Kapitalismus“ (Heimann 1980, S. 172) sei bzw. werde – denn da ist der Wohlfahrtsstaat selbst davor. Dessen Interventionen führen nämlich zweitens keineswegs zu einer einseitigen Dynamik der Angleichung sozialer Lebenslagen und eines Ausgleichs all jener gesellschaftlichen Interessenlagen jenseits der Kapitalinteressen. Vielmehr ist der Wohlfahrtsstaat ein Motor der Produktion immer neuer sozialer Ungleichheiten und der

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immer weiteren Ausdifferenzierung sozialpolitischer Interessen auf Seiten der „Nichtklasse“ (Hondrich 1984, S. 284) der Nicht-Besitzenden: „The welfare state is not just a mechanism that intervenes in, and possibly corrects, the structure of inequality; it is, in its own right, a system of stratification.“ (Esping-Andersen 1990, S. 23) Als solches produziert er systematisch Unsicherheiten im Namen der Sicherheit und selektive Ausschlüsse unter dem Signum der Inklusion. Soziale Ungleichheit konstituiert sich, wohlfahrtsstaatlich vermittelt, in stets veränderten Formen immer wieder neu – und mit ihr auch die unter den Lohnarbeitenden bestehenden Interessendifferenzen: „Die Kontinuität des Widerspruchs geht durchaus mit einem Wandel der sozialstrukturellen Elemente einher, die ihn abbilden und austragen.“ (Offe 1972, S. 19) Schließlich aber zeigt sich eine dritte Gegenläufigkeit im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement darin, dass seiner beständig erneuerten Proletarisierungsfunktion – der Transformation von Arbeitskraft in Lohnarbeit – wiederum der historische Trend einer Entproletarisierung der Lebensverhältnisse und Lebensführungsmuster der „arbeitenden Bevölkerung“ gegenübersteht (vgl. Mooser 1983). In der wohlfahrtsstaatlich verfassten Lohnarbeitsgesellschaft werden zwar nicht alle Menschen Brüder, aber doch tendenziell alle Arbeiter zu Bürgern – wenn auch eben zu Bürgern unterschiedlicher Klassen. 5. Der Wohlfahrtsstaat als Emanzipationschance. Gleichwohl wäre es analytisch (wie auch politisch) ein schwerer Fehler, die wohlfahrtsstaatliche Ordnung – in bloßem Umkehrschluss zur Perspektive eines wohlfahrtsstaatlichen „Positivismus“ – einfach als institutionellen Ausfluss kapitalistischer Klassenherrschaft abzutun oder gar als bloße „Sozialstaatsillusion“ (Müller und Neusüß 1970) ins Reich der Ideologieproduktion zu verbannen. Nur schwerlich lässt sich ja leugnen, dass der Wohlfahrtsstaat mit all seinen – wie auch immer begrenzten und selektiven – Sicherheitsverbürgungen das Ergebnis einer langen Geschichte der sozialen Kämpfe ist, vom Normalarbeitstag bis zur Rente mit 63. Die ungeheuren Zugewinne an Lebenszeit und Lebensqualität, an biografischer Planungssicherheit und sozialer Aufstiegsmobilität für große gesellschaftliche Mehrheiten lassen sich schlicht nicht hoch genug einschätzen. Und der legitime Anspruch dieser Mehrheiten, ihre historisch gewonnenen Lebenschancen nicht wieder einbüßen zu wollen, entzieht sich analytisch ihrer politisch durchaus üblichen, abfälligen Qualifizierung als „Besitzstandswahrung“ – denn so redet nur, wer sich um die Wahrung seines eigenen Besitzes keine Sorgen machen muss. Die gesellschaftliche Unterstützung für den Wohlfahrtsstaat ist daher nicht zufällig über all seine Krisen hinweg stets bemerkenswert groß geblieben, allerdings gebrochen durch die Grenzen individueller Zahlungsbereitschaft für kollektive Sicherungssysteme (vgl. z. B. Lessenich 1999a; Ullrich 2008) und die in nationalgesellschaftlichen Wohlfahrtsarrangements sich manifestierenden sozialen Schließungsprozesse (vgl. Bommes und Halfmann 1994; Morris 2009). Diese Gemengelage verweist unmittelbar darauf, dass es einer kritischen Theorie des Wohlfahrtsstaates namentlich darum gehen muss, „die gängigen Vorstellungen über Gut und Böse im Raum der Sozialpolitik in Zweifel zu ziehen“ (Achinger 1958, S. 11). Der Wohlfahrtsstaat ist kein Arrangement politischer Barmherzigkeit – und kein Verschleierungszusammenhang der Kapitalherrschaft. Er hat historisch maßgeblich zur Überlebens-

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fähigkeit des Kapitalismus beigetragen – und dabei die Lebensverhältnisse der Leute in der Lohnarbeitsgesellschaft geradezu revolutioniert. Er ist insofern institutioneller Ausdruck auch ihrer sozialen Berechtigungs- und Teilhabeansprüche. Und er dient, wenn auch in durch die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse beschränkter und sozial strukturierter Form, als materielle Basis für kleinere und größere Autonomiegewinne der so zur Teilhabe Berechtigten (vgl. Vobruba 2003). Eine kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats reflektiert auch dieses emanzipatorische Potenzial der wohlfahrtsstaatlichen Konstellation. Ein Potenzial nicht zuletzt für alltägliche Formen der praktischen Gesellschaftskritik (vgl. Vobruba 2009, S. 61 ff.), die in einer unter strukturellem Rechtfertigungszwang stehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung (vgl. Boltanski und Chiapello 2003, S. 42 ff.) immer auch die Chance auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse birgt. Im Folgenden gilt es nun, mit dem analytischen Instrumentarium einer so verstandenen kritischen Theorie des Wohlfahrtsstaats an die beiden Konfigurationen heranzutreten, die diese Gesellschaftsformation historisch angenommen hat. In einem ersten Schritt bedeutet dies, die Grundzüge einer kritisch-theoretischen Analyse jenes im „goldenen Zeitalter“ des Nachkriegskapitalismus etablierten Wohlfahrtsstaates nachzuzeichnen, für den die Politik der „Dekommodifizierung“ von Arbeit die kritische Kategorie darstellt. Auf dieser Basis wird dann im zweiten Schritt die seit den 1980er-Jahren sich vollziehende „neoliberale“ Transformation des Wohlfahrtsstaates in den Blick genommen, die sich als sozialpolitische Reaktion auf die Krisen des dekommodifizierenden Wohlfahrtsstaates lesen lässt und als deren Kern aus kritisch-theoretischer Perspektive die Umstellung des wohlfahrtsstaatlichen Interventionsmodus auf eine Politik der „Aktivierung“ gelten kann.

2

Strukturprobleme der Dekommodifizierung

Für die neomarxistische Wohlfahrtsstaatstheorie, wie sie in den 1970er- und 1980erJahren – die Hochzeit der wohlfahrtsstaatlichen Formation vor Augen – entwickelt wurde, stellt das Konzept der Dekommodifizierung den Dreh- und Angelpunkt der Analyse dar. Gøsta Esping-Andersen als deren Hauptprotagonist sieht im Wohlfahrtsstaat die institutionalisierte Gegenmacht zum industriellen Kapitalismus bzw. zu dessen zentralen institutionellen Merkmalen, nämlich dem Privateigentum und dem Lohnverhältnis. Im Wohlfahrtsstaat wird den privaten Eigentumsrechten die Institution des „Sozialeigentums“ (Castel 2000, S. 236) entgegengesetzt, „social rights are given the legal and practical status of property rights“ (Esping-Andersen 1990, S. 21). Gesetzlich verbürgte Anspruchsrechte auf öffentliche Sozialleistungen bei allfälligem Eintritt der klassischen Risiken der Lohnarbeiterexistenz – des Einkommensverlustes aufgrund von Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit, Alter oder Arbeitslosigkeit – bilden ein Gegengewicht gegen den strukturellen Marktzwang zum alltäglichen Verkauf der Arbeitskraft, „and if they are granted on the basis of citizenship rather than of performance, they will entail a de-commodification of the status of individuals vis-à-vis the market“ (Esping-Andersen 1990, S. 21). Je groß-

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zügiger die Sozialleistungen für Nicht-Erwerbstätige – je höher die Lohnersatzrate, je länger die mögliche Bezugsdauer, je geringer die Leistungsvoraussetzungen –, umso stärker wird die Arbeitskraft dekommodifiziert, sprich der Warenform entkleidet und den Marktmechanismen entzogen. Damit wird der individuelle Arbeitskraftbesitzer auch ansatzweise unabhängig von den Produktionsmittelbesitzern, der einzelne „Arbeitnehmer“ gewinnt Handlungsspielräume gegenüber der Marktmacht und Verfügungsgewalt potenzieller „Arbeitgeber“: Mit einem marktexternen Einkommensanspruch ausgestattet, muss er oder sie nicht zwangsläufig jede Arbeit annehmen, sondern erwirbt jedenfalls im Prinzip die arbeitsgesellschaftliche „Befähigung zum ‚Nein!‘“ (Brütt 2009). So gesehen erscheint es logisch, die sozialen Kämpfe der Arbeiterklasse im historischen Rückblick als ein Streben nach (möglichst umfassender) Dekommodifizierung der Arbeit zu rekonstruieren. Esping-Andersens „class-mobilization theory“ (1990, S. 16) geht davon aus, dass die durch ihre Stellung im Produktionssystem bzw. zum System gesellschaftlicher Arbeitsteilung definierten Klassen die ihnen zur Verfügung stehenden Machtressourcen – ihr Kapital bzw. ihre große Zahl – strategisch einsetzen, um einen starken, marktbegrenzenden, dekommodifizierenden Wohlfahrtsstaat zu erstreiten bzw. zu verhindern. Die Arbeiterbewegung kämpft, mit ihrem starken Arm der Streikmacht und repräsentiert durch den politischen Arm der Sozialdemokratie, für wohlfahrtsstaatliche Programme der „income security, equalization, and eradication of poverty“ (Esping-Andersen 1990, S. 16) – und es hängt von ihrer je historischkonkreten Machtposition ab, inwieweit sie diese sozialpolitischen Ziele erreichen kann: „the balance of class power determines distributional outcomes“ (ebd.; vgl. EspingAndersen 1985b). In dem Maße aber, wie sie in ihrem Kampf um soziale Rechte auf Marktunabhängigkeit tatsächlich erfolgreich ist, wird der dekommodifizierende Wohlfahrtsstaat zu ihrer zusätzlichen, ureigenen Machtressource: „a ‚social democratic‘ welfare state will, in its own right, establish critical power resources for wage-earners, and thus strengthen labor movements“ (Esping-Andersen 1990, S. 16). Im Gegensatz zu den Alternativmodellen des die spätfeudal-frühindustriellen Klassenverhältnisse stabilisierenden „konservativen“ bzw. des die möglichst weitgehende Marktvergesellschaftung der Arbeit befördernden „liberalen“ Wohlfahrtsstaats zielt der „sozialdemokratische“ Wohlfahrtsstaat auf den Ausgleich der strukturellen Machtasymmetrie von Arbeit und Kapital (vgl. Esping-Andersen 1990, S. 16, S. 26 ff.) – und weist dabei selbstverstärkende Effekte auf, indem die in seinen Institutionen geronnene Arbeitermacht wiederum deren weitere Ausdehnung ermöglicht. Für Esping-Andersen ist der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat – prototypisch verwirklicht in den skandinavischen Gesellschaften der Nachkriegszeit – damit analytisches und normatives Modell zugleich: „the Scandinavian welfare states tend to be the most de-commodifying“ (Esping-Andersen 1990, S. 23) – und das sei auch gut so (vgl. Manow 2002). Womöglich wird man sich dieser politischen Einschätzung rückwirkend anschließen wollen. Analytisch aber leidet die skizzierte Machtressourcen- und Klassenmobilisierungstheorie des Wohlfahrtsstaats darunter, dass sie zwar die Vergesellschaftungseffekte, Kommodifizierungsaspekte und Emanzipationspotenziale der wohlfahrtsstaatlichen Formation betont, deren Widerspruchs- und Krisendynamiken aber weitestgehend ausblendet. Jenseits des durch den (sozialdemokratischen) Wohl-

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fahrtsstaat regulierten Klassenantagonismus von Kapital und Arbeit spielen strukturelle Gegensätze und funktionale Unvereinbarkeiten bzw. die daraus resultierenden sozialen Konflikte und systemischen Spannungen hier keine theoriesystematische Rolle. An genau dieser Stelle muss daher die Spätkapitalismustheorie zum Zuge kommen. Spätkapitalismustheoretisch steht das Konzept der Dekommodifizierung nämlich für das Strukturproblem des demokratisch-kapitalistischen Wohlfahrtsstaats: für die in ihm sich materialisierende Frage der Vereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie, genauer für das Problem „funktioneller Unvereinbarkeit“ (Offe 1972, S. 13) von kapitalistischen Erfordernissen und demokratischen Forderungen. Dekommodifizierung steht repräsentativ für das fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaften charakterisierende Entwicklungsmuster „der bestandsnotwendigen Ausbildung strukturfremder Systemelemente“ (Offe 1972, S. 38). Während im Frühkapitalismus immer größere Teile der gesellschaftlichen Arbeitskraft einer Verwertung in Form der „freien Lohnarbeit“ zugeführt worden seien, wachse in den hoch entwickelten Kapitalismen der Bereich dekommodifizierter, dem Lohnverhältnis entzogener Arbeit beständig weiter an. Was unter „sozialen“ Gesichtspunkten begrüßenswert sei, müsse aus funktionaler Perspektive fragwürdig erscheinen, entstünden hier doch zunehmend dem Kapitalverwertungsprozess „‚exterritoriale‘ Strukturen“ (Offe 1972, S. 40) – „die den Keim nicht-kapitalistischer Organisationsformen in sich tragen und deshalb für das Kapital in erster Linie unter dem negatorischen Gesichtspunkt interessant sind, wie sich ihre Verselbständigung blockieren lasse“ (Offe 1972, S. 40). Anders gesagt: Dass der dekommodifizierende Wohlfahrtsstaat, durch eine politisch mobilisierte Arbeitermacht angetrieben und diese wiederum antreibend, sich tendenziell immer weiter ausdehnt, kann das Kapital nicht kalt lassen; und wie wir heute wissen, hat es das auch tatsächlich nicht getan (vgl. Lessenich 1999b; Streeck 2013). Das strukturelle Problem – und mehr noch: das unauflösbare Dilemma – liegt allerdings darin begründet, dass die dekommodifizierende Intervention des Wohlfahrtsstaats für die Konstitution und Reproduktion der Lohnarbeitsgesellschaft ebenso kontraproduktiv wie unverzichtbar ist. Da der „Produktionsfaktor“ Arbeit eine „fiktive Ware“ (Polanyi 1995, S. 102 ff.) darstellt, also nicht a priori zu Zwecken seiner Vermarktung in die Welt gekommen ist, sondern gewissermaßen künstlich (sprich politisch) in die Warenform gebracht werden muss, bedarf er zu seiner Reproduktion besonderer Formen des Schutzes bzw. elementarer Vorkehrungen zur Sicherung seiner Existenz: Wer Hunger hat, kann im Zweifel nicht auf ein Angebot zum Verkauf seiner Arbeitskraft warten; wer krank wird und daher nicht arbeits- bzw. einkommenserwerbsfähig ist, ist zur verkaufsträchtigen Wiederherstellung seiner Arbeitskraft auf möglichst preisgünstige wenn nicht gar kostenlose Gesundheits(dienst)leistungen angewiesen; wer sich um das Überleben anderer – Kinder, Älterer, Behinderter – kümmern muss, steht selbst dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung oder jedenfalls nicht in dem notwendigen Maße, um die eigenen und fremden Lebensbedarfe zu decken; usw. Soll die Lohnarbeitsgesellschaft als solche am Laufen gehalten, die gesellschaftliche Normalität der individuellen Existenzsicherung im lohnabhängigen Beschäftigungsverhältnis kollektiv sichergestellt wer-

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den, dann bedarf es systematisch auch der Organisation und des Unterhalts eines Sektors der Nicht-Lohnarbeit, dann muss die Nicht-Normalität marktexterner Sicherung zumindest ansatzweise, für bestimmte Personenkategorien in bestimmten Lebensumständen unter bestimmten Bedingungen, „normal“ werden. Gesamtgesellschaftlich gilt also die einfache Formel: Ohne realen Sozialschutz keine fiktive Ware Arbeitskraft, ohne Sozialpolitik keine Marktökonomie, ohne Dekommodifizierung keine Kommodifizierung. Es ist der Wohlfahrtsstaat, der im hoch entwickelten Kapitalismus demnach beides tun muss bzw. keines von beidem lassen darf: die generalisierte Kommodifizierung und die selektive Dekommodifizierung von Arbeit. Das Problem dieser Konstellation, gleichsam die Tragik seiner Existenz, liegt allerdings darin, dass sein funktional notwendiges Wirken als dekommodifizierende Instanz zugleich notwendig seiner Kommodifizierungsfunktion zuwiderläuft. Dieser strukturelle Widerspruch ist einerseits schlicht materialer Natur: Nach Kriterien kapitalistischer Verwertungsrationalität ist dekommodifizierte Arbeit schlicht „unproduktive“ Arbeit. So „wertvoll“ sie nach Maßstäben einer sozialen Rationalität oder gar einer erweiterten, gesamtkapitalistischen „Vernunft“ sein mag, so wertverzehrend ist sie doch im Sinne einer einseitig und unmittelbar auf die Produktion und Realisierung von Mehrwert fixierten Produktivitäts- bzw. Profitabilitätslogik. „Investitionen“ in den Sektor dekommodifizierter Arbeit sind so gesehen Devestitionen, verlorene Kapitalmüh sozusagen. Für die Spätkapitalismustheorie ist aber noch eine zweite, kulturelle oder motivationale, Widerspruchsdimension von – vielleicht sogar maßgeblicher – Bedeutung: Die funktionsnotwendige Tendenz zur Ausdehnung dekommodifizierter, und das heißt zugleich auch von konkreter zu Lasten abstrakter, von gebrauchswertorientierter auf Kosten tauschwertorientierter, von „unproduktiver“ statt produktiver Arbeit ist eine Quelle des Aufstiegs und der Ausbreitung nicht-kapitalistischer Milieus und Motivlagen. Nicht-kommodifizierte Arbeit stellt demnach auch ideell die gesellschaftliche Dominanz der Lohnarbeit in Frage, mitsamt den arbeitsgesellschaftlichen Leitkategorien von Leistung, Disziplin und Wachstum (vgl. Offe 1983). In gewisser Weise vermutete die damalige Theoriebildung – deren Ursprünge in die Zeit der Studentenrevolte und des Beginns zahlreicher weiterer neuer sozialer Bewegungen fallen – Gewöhnungs- und Ansteckungseffekte dekommodifizierter Arbeitsverhältnisse und Lebenslagen: Einmal die relative Freiheit von der Warenform genossen, wollten die Menschen dieses Gefühl nicht mehr missen; und die kommodifizierten Klassen würden sich zumindest die Frage stellen, warum sie eigentlich noch „arbeiten“ und stattdessen nicht schon „leben“. Es war die lebensweltliche Kraft einer solch hedonistischen Handlungsorientierung, die etwa Jürgen Habermas hoffnungsfroh als motivationalen Kern der spätkapitalistischen „Legitimationsprobleme“ (Habermas 1973) identifizierte – und vor der ein liberalkonservativ gewendeter ehemaliger Neomarxist wie Daniel Bell (1976) umgekehrt eindringlich meinte warnen zu müssen. Die so unterschiedlich bewerteten, „aus der Warenform herausgefallenen und in diesem Sinne ‚dekommodifizierten‘ Strukturelemente kapitalistischer Industriegesellschaften“ (Offe 1972, S. 40) verortet Claus Offe auf drei verschiedenen Ebenen

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(vgl. Offe 1972, S. 40 ff.). „Erstens hinsichtlich der Aufteilung der Bevölkerung (bzw. der Aktivbevölkerung) nach dem Kriterium, ob ihre Arbeitskraft überhaupt wirtschaftlich in Anspruch genommen wird.“ (Offe 1972, S. 40) Dies ist gewissermaßen Dekommodifizierung in einem strengen oder sozialpolitisch engeren Verständnis, wie es auch Esping-Andersens Konstruktion unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Regimetypen zugrunde liegt: Hier geht es um alle jene Personengruppen, die nicht-entlohnte Reproduktionsarbeit leisten bzw. für deren Arbeitskraft es vorübergehend oder dauerhaft keine marktproduktive Verwendung gibt, die noch nicht oder nicht mehr als Lohnarbeitende gefragt sind – Hausfrauen und Alte, Schüler und Studierende, Kranke und Pflegebedürftige, Erwerbslose und Inhaftierte. Dekommodifizierung meint hier die sozialpolitische Konstruktion arbeitsmarktexterner „Alternativrollen“ (vgl. Offe und Hinrichs 1984, S. 75) bzw. die Gewährleistung von Lohnersatz- oder Transfereinkommen für die betreffenden Sozialkategorien. Eine zweite Ebene stellt die „Verteilung der wirtschaftlich in Anspruch genommenen Arbeitskraft auf mehrwert-erzeugende Arbeitsfunktionen bzw. auf administrative und Dienstleistungsfunktionen“ (Offe 1972, S. 40) dar. In dieser Hinsicht werden der gesamte öffentliche Sektor sowie weite Teile der Dienstleistungsbeschäftigung außerhalb des Bereichs kapitalistischer Mehrwertproduktion verortet. Staatsbürokratien „kaufen“ keine Arbeitskraft um die so produzierten Güter auf Märkten zu „verkaufen“, weder deren Marktpreis noch die „Produktivität“ administrativer Arbeit können in angemessener Weise kalkuliert werden, der Staat wirtschaftet mit Steuereinkommen statt mit „Kapital“ im Wortsinne. Ähnliches gilt für sämtliche Formen der Dienstleistungsarbeit bzw. selbst für koordinierende Tätigkeiten im produzierenden Sektor: Sie alle werden „auf Funktionen verwendet, die zwar supplementär auf den Verwertungsprozeß bezogen sein mögen, aber nicht als Verwertungsprozeß, sondern als konkrete Arbeit vonstatten gehen“ (Offe 1972, S. 45). Auf einer dritten Ebene schließlich geht es um die „Verwendung des gesellschaftlichen Wertprodukts in kapitalistischen Verwertungs- bzw. in konkreten Gebrauchszusammenhängen“ (Offe 1972, S. 40). Unter Dekommodifizierung in diesem weiten Sinne sind alle „Investitionen“ in öffentliche Infrastruktur und die gesamte Produktion öffentlicher Güter zu verstehen: Schulen und Krankenhäuser, Verkehrswege und Datenautobahnen, Technologieparks und Großforschungseinrichtungen. Als wie produktionsnah oder akkumulationsbezogen diese Einrichtungen im Lichte einer kapitalistischen Gesamtrationalität auch immer gedeutet werden mögen: Dem Einzelkapital und dessen Profitabilitätsinteressen erscheinen sie zuallererst als mehrwertverzehrende, konsumtive Instanzen, deren Finanzierung zumindest zunächst stets eines steuerstaatlichen Zugriffs auf das potenziell mehrwertfähige Wertprodukt bedarf – bei grundsätzlich offenem Ausgang (und offensichtlich problematischem Nachweis) mit Blick auf die Frage, ob sich diese öffentlichen Ausgaben am Ende des Tages auch wirklich „rechnen“. Insgesamt also lässt sich die spätkapitalismustheoretische Diagnose dahingehend zuspitzen, dass der Sektor politisch-administrativ bestimmter Arbeit und Ressourcenverwendung sich zunehmend auf Kosten von Mehrwertproduktion und Marktallokation ausdehnt, ja beide Prinzipien tendenziell unterläuft und aushöhlt. Die damalige Prognose lautete zudem, dass sich Dekommodifizierungstendenzen zukünftig an allen

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Fronten demokratisch-kapitalistischer Staatstätigkeit weiter intensivieren würden: Aufgrund des ökonomischen Strukturwandels einerseits, der Erschöpfung des Nachkriegsmodells kapitalistischer Akkumulation andererseits gebe es immer mehr „überflüssige“ und daher sozialpolitisch zu vergesellschaftende Arbeitskraft, bedürfe es in wachsendem Maße der immateriellen Wissensarbeit von zwar „kreativen“, aber eben auch „unproduktiven“ Klassen, wachse zudem auch die Bedeutung großangelegter infrastruktureller Unterstützung eines neuen wirtschaftlichen Akkumulationszyklus – bei gleichzeitig steigenden Ansprüchen der Lohnarbeitenden an ihre Arbeit und der Staatsbürger/innen an ihren Wohlfahrtsstaat (vgl. Offe 1983; Berger und Offe 1984a, b). So sehr die mit all diesen Tendenzen verbundene Dekommodizierungsdynamik auch funktional geboten bzw. aus sozio-ökonomischen Funktionszusammenhängen heraus erklärbar sei, so sehr komme sie doch faktisch einem strukturellen Angriff des politischadministrativen Systems auf die Kapitallogik, eben einer „funktional erforderlichen Formverletzung“ (Offe 1972, S. 46), gleich. Die Spätkapitalismustheorie sah den zur Kommodifizierung wie zur Dekommodifizierung genötigten Wohlfahrtsstaat daher auf einer permanenten Gratwanderung: akkumulations- und verwertungsrelevante politische Steuerungsleistungen zu organisieren, „ohne die Ökonomie material zu politisieren, d. h. in ihrem ‚privaten‘ Charakter zu beeinträchtigen“ (Offe 1972, S. 36). Seit dem Ende der 1970er-Jahre schien ihm dieser politisch-ökonomische Eiertanz allerdings zunehmend weniger zu gelingen – jedenfalls in der Wahrnehmung jener Kapitalfraktionen, die eine Grenze der Belastbarkeit bzw. der Beschneidung ihrer Profitrealisierungschancen schon seit längerem angekündigt hatten, nun aber zunehmend auch politisch geltend machten (vgl. Streeck 2013, S. 23 ff.). Wiewohl in Kategorien des funktionalen Widerspruchs denkend und durchaus sehend, dass die im demokratisch-kapitalistischen Wohlfahrtsstaat institutionalisierte „Maschinerie des Klassenkompromisses . . . selbst Objekt von Klassenkonflikten geworden“ (Offe 1984, S. 325) war, hatte die Spätkapitalismustheorie irgendwie dennoch die anti-welfaristische Konfliktbereitschaft der Kapitalseite nicht wirklich auf der Rechnung – und die Machtressourcentheorie den komplementären Verfall der wohlfahrtsstaatlich gestützten Gewerkschaftsmacht schon mal gar nicht. Am Ende kam dann der Auftritt von Reagan, Thatcher und all den anderen, insbesondere jener der Sozialdemokraten unter den Verächtern des Wohlfahrtsstaats alten Typs, für die kritische Theorie des Wohlfahrtsstaats doch überraschend.

3

Der aktivierende Wohlfahrtsstaat und seine Widersprüche

Worauf die Spätkapitalismustheorie allerdings sehr treffend hingewiesen hatte, war die strukturelle Verschiebung der gesellschaftlichen Konfliktarena vom ökonomischen ins politische System. Für die in den 1980er- und 90er-Jahren in praktisch allen hoch industrialisierten Gesellschaften grassierende Massenarbeitslosigkeit wurde von deren nationalen Öffentlichkeiten nicht etwa das kapitalistische Akkumulationsregime als solches – und schon gar nicht als soziales Herrschaftsverhältnis – verantwortlich gemacht. Zur Zielscheibe der Kritik geriet vielmehr der wahlweise

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als „verkrustet“, „überbordend“, „ineffizient“ oder „bevormundend“ apostrophierte Wohlfahrtsstaat, und zwar interessanterweise von allen Seiten her: von den einen interventionsstaatlich bedingten „profit squeeze“ (Goldstein 1985) beklagenden Kapitaleignern ebenso wie von den auf politisch organisierte Vollbeschäftigung pochenden Lohnabhängigen – und zugleich von den wohlfahrtsgesellschaftlich mit produzierten, nunmehr aber gegen die staatsbürokratische Kolonialisierung ihrer Lebenswelt sich wehrenden grün-alternativen Milieus. Es war dieser gesellschaftliche Zangengriff, der unter akademisch-ideologischer Anleitung durch die neoklassische Ökonomik (vgl. Stedman Jones 2012) letztlich zu einer neuen Politik mit dem Wohlfahrtsstaat führte: einer Politik, die sich de facto weniger als bloßer Rückbau seiner Interventionsansprüche (vgl. Pierson 2001; Streeck und Thelen 2005) oder auch seines Zugriffs auf das wirtschaftliche Wertprodukt erwies, sondern vielmehr als ein grundlegender Umbau seiner Institutionenordnung und eine Transformation seines Interventionsmodus (vgl. Lessenich 2008). Woraus sich freilich wiederum neue demokratisch-kapitalistische Widerspruchskonstellationen und wohlfahrtsstaatliche Krisendynamiken ergaben bzw. zukünftig ergeben dürften. Die „neoliberale“ Transformation des Wohlfahrtsstaats an der Wende zum 21. Jahrhundert lässt sich zunächst als ein Akt – bzw. als Effekt einer Vielzahl von Akten – der Ökonomisierung verstehen, und zwar einer Ökonomisierung all dessen, was zuvor, im Zuge und Zeichen des Wirtschaftsbooms der Nachkriegsjahrzehnte, schrittweise politisch dekommodifiziert worden war (vgl. Lessenich 2012, S. 113 ff.). Auf allen drei zuvor identifizierten Ebenen bewegte sich das Pendel der Dekommodifizierung zurück in Richtung auf die konsequente Durchsetzung von Marktmechanismen und ökonomischer Rationalität. Nicht nur entdeckte wohlfahrtsstaatliche Politik ihre klassische Aufgabenbeschreibung der „Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter“ (Lenhardt und Offe 1977, S. 101) gewissermaßen wieder neu. Sie verfolgte nun auch eine konsequente Strategie der Privatisierung öffentlichen Eigentums, der Förderung von „Public/Private Partnerships“ zur Erbringung von (ehedem) staatlichen Leistungen, der betriebswirtschaftlichen Reorganisation der Staatsadministration entlang der Leitidee vom „New Public Management“, schließlich der Etablierung von „Wohlfahrtsmärkten“, auf denen Anbieterkonkurrenz herrscht und die Bürger/innen als „Kunden“ auftreten (vgl. u. a. Clarke und Newman 1997; Nullmeier 2004; Berner 2009). All diese Elemente einer groß angelegten „Landnahme des Sozialen“ (vgl. Dörre 2009), also einer über wohlfahrtsstaatliche Intervention selbst vermittelten Vermarktlichung und Inwertsetzung eines zwischenzeitlich der Verwertung entzogenen „Außen“ der kapitalistischen Ökonomie, hatten regulationstheoretische Studien zum „Wohlfahrtsstaat im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus“ (Jessop 1986) schon in ihrer historischen Inkubationsphase analysiert. Erst seit den 1990er-Jahren kam diese neue wohlfahrtsstaatliche Formation allerdings gleichsam zu sich selbst, in Gestalt auch ihrer offensiven politischen Selbstbeschreibung als „aktivierender“ bzw. „investiver“ Wohlfahrtsstaat (vgl. Lessenich 2008; Morel et al. 2012). „Aktivierung“ steht aus der analytischen Perspektive einer kritischen Theorie des Wohlfahrtsstaats für eine politisch-institutionelle Doppelbewegung. Zum einen ist damit der Funktionsmodus einer Mobilisierung von bislang nicht als Lohnarbeit

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vergesellschafteter Arbeitskraft – von Frauen, Migrant/innen, Älteren – auf Arbeitsmärkte bezeichnet, ein klassischer Prozess also der Kommodifizierung zuvor nicht warenförmigen gesellschaftlichen Arbeitsvermögens. Dies ist aber nur die eine, im Kern ökonomische Dimension von Aktivierungspolitiken: Marktzwänge werden verschärft und ausgeweitet, marktferne Soziallagen und Lebensführungsmuster moralisch abgewertet und politisch entsichert, das Sozialmodell einer „prekären Vollerwerbsgesellschaft“ (Dörre 2015, S. 6) institutionell flankiert und befördert. Zum anderen aber hat die Aktivierungsstrategie auch eine soziale Dimension, die zwar über die sozialpolitische „Verschiebung von Marktgrenzen“ (Brinkmann 2003) vermittelt ist, in einer zunehmend ökonomisierten Lebensweise aber nicht aufgeht: Aktivierung gilt auch als eine Politik zur – systemtheoretisch gesprochen – „Inklusion“ marginalisierter Bevölkerungsgruppen in die Anerkennungsstrukturen und Leistungsverbürgungen des Systems gesellschaftlicher Arbeitsteilung. In einer selbsterklärten Marktgesellschaft wird die Marktbürgerschaft zum entscheidenden Moment und Motiv sozialer Teilhabe, und ein den Bürger/innen Marktchancen eröffnender bzw. sie zum Markteintritt anhaltender Wohlfahrtsstaat firmiert nun als politischer Beitrag nicht nur zur Systemintegration (im Sinne der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Ökonomie), sondern auch zur Sozialintegration (im Sinne der Zuweisung einer marktgesellschaftlich legitimen Position an alle potenziellen Arbeitssubjekte). Im Lichte der Spätkapitalismustheorie lässt sich das politische „Aktivierungsprojekt“ als eine spezifische, zeitgemäße Variante demokratisch-kapitalistischer Staatsintervention lesen, bedient dieses doch – zumindest dem Anspruch nach gleichermaßen – die Akkumulations- wie die Legitimationsfunktion staatlicher Politik, kapitalistische Erfordernisse wie auch demokratische Forderungen. Aktivierung entspricht den Kategorien spätkapitalistischer politischer Intervention zudem auch dahingehend, dass in ihr eine strategische Selektivität staatlicher Institutionen (vgl. Offe 1972, S. 65 ff.; Jessop 1999) erkennbar wird. Denn sozialpolitisch mobilisiert werden sollen nur jene Personengruppen, Sozialkategorien und Handlungsmotive, die ökonomisch erforderlich, sozial erwünscht und normativ akzeptabel sind – nicht also z. B. schwarzafrikanische Flüchtlinge, die ja dem Idealtypus des flexibelmobilen, ungebundenen und risikofreudigen Arbeitsbürgers „eigentlich“ ziemlich nahe kommen. Schließlich stellt Aktivierung auch den Modus politischer Intervention um, und zwar weniger bzw. nicht allein nach dem prototypisch neoliberalen Muster der „Aufgabe von staatlichen Aufgaben“ (Offe 1994), sondern nach Art einer – mit dem neoliberalen Interventionsverzicht verknüpften – neosozialen Programmatik der Verlagerung auch der system- und sozialintegrativen Funktionen von der öffentlichen Hand in die Hände (bzw. Köpfe) und Herzen der Subjekte (vgl. dazu ausführlich Lessenich 2008). Dieser neue, den flexibel-kapitalistischen Zeiten angepasste Interventionsmodus einer „Subjektivierung des Sozialen“ (vgl. Lessenich 2003) – die regulative und motivationale Inanspruchnahme der als „Aktivbürger“ konstruierten gesellschaftlichen Individuen für die Produktion von Kollektivgütern, für die Sicherung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und für die Arbeit am Gemeinwohl – verweist zugleich wiederum auf eine weitere Grenze der Spätkapitalismustheorie. Diese ging nämlich davon

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aus, dass „das selbstadaptive Instrumentarium“ (Offe 1972, S. 23) systemstabilisierender Staatstätigkeit mit dem zu Beginn der 1970er-Jahre etablierten „globalsteuernden“ Interventionsapparat „kategorial erschöpft“ (Offe 1972, S. 24), der wirtschafts- und sozialpolitische Werkzeugkasten sozialdemokratischer Wohlfahrtspolitik also endgültig geleert sei. Die seit den späten 1990er-Jahren initiierte Politik der Aktivierung, als Form der Subjektivierung von System- und Sozialintegration und der Überführung ökonomischer wie sozialer Funktionserfordernisse in individuelle Handlungsrationalitäten, lässt diese Behauptung rückblickend durchaus zweifelhaft erscheinen. Bemerkenswerter-, ja ironischerweise stellte sich an die Spitze der aktivierungspolitischen Transformationsbewegung und der damit verbundenen kategorialen Erweiterung des wohlfahrtsstaatlichen Interventionsinstrumentariums sogar gerade jene politische Kraft, welcher von der Spätkapitalismustheorie kein steuerungspolitisches Innovationspotenzial in Sachen Regulierung des Strukturkonflikts zwischen Akkumulationserfordernissen und Legitimationsbedarfen mehr zugetraut worden war: die europäische Sozialdemokratie. Getreu dem Motto „überholen ohne einzuholen“ machten sich sozialdemokratisch geführte Regierungen in den 1990er-Jahren gleichsam kollektiv auf den Weg, durch die Adaptation ihrer wohlfahrtsstaatlichen Programmatik den politisch-ökonomischen Neoliberalismus mit dessen eigenen Mitteln zu schlagen und den ehedem „bürgerlich“ genannten Parteien den Rang in der Unternehmer- und Wählergunst abzulaufen (vgl. Aust et al. 2002). Zu einer kritischen Theorie des Wohlfahrtsstaats gehört insofern unbedingt auch eine kritische Soziologie derselben, wurde doch in Gøsta Esping-Andersen einer ihrer früheren Protagonisten mit der Zeit zum obersten sozialwissenschaftlichen Propagandisten eines neuen, marktbefördernden statt marktbegrenzenden Wohlfahrtsstaats – und einer Rekonzeptualisierung von Kapital als Humankapital, von Investition als Sozialinvestition, von Sozialpolitik als Produktivitätsfaktor (vgl. Esping-Andersen et al. 2002). Zum Mainstream der internationalen Wohlfahrtsstaatsforschung avanciert, mutierte die sozialdemokratische Theoriebildung von einer Reflexionswissenschaft des Aufstiegs dekommodifizierender Wohlfahrtsstaatlichkeit zum Aktionsparadigma ihres Verfalls (vgl. Lessenich 2004). Hält man hingegen am analytischen Erbe von bald fünf Jahrzehnten kritischtheoretischer Wohlfahrtsstaatsanalyse fest, so wird man feststellen, dass der Wohlfahrtsstaat auch in seiner gegenwärtigen, aktivierend-investiven Gestalt den schmalen Grat zwischen einer funktionalen Flankierung der kapitalistischen Ökonomie und ihrer materialen Politisierung nicht wird verlassen können. Jedenfalls im Sinne einer empirischen Forschungshypothese lässt sich davon ausgehen, dass auch diese historischkonkrete Variante des demokratischen Wohlfahrtskapitalismus der Operationslogik einer bestandsnotwendigen Bestandsgefährdung folgen wird: Auch hier haben wir es wiederum mit einem politischen Interventionsmodus zu tun, der zwar auf die Initiierung eines neuen ökonomischen Wachstumszyklus und die Generierung sozialen Legitimitätsglaubens zielt, aus solch funktionalen Gründen aber mit regulativen und diskursiven Einsätzen arbeitet und arbeiten muss, die das selbstgesetzte Steuerungsziel zu konterkarieren drohen. Auch und gerade die aktivierungsstaatliche, von der makroökonomischen Global- auf die mikropolitische Subjektsteuerung umstellende Wohlfahrtsformation wäre demnach strukturanalogen Rationalitätsgrenzen, systemischen

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Widersprüchen und sozialen Konflikten – jener Logik immanenter Krisenhaftigkeit also – ausgesetzt, wie sie von den einschlägigen Theorien bereits vor Jahrzehnten als Signatur der spätkapitalistischen Zeit behauptet worden sind. Das steuerungspolitische Ziel des aktivierenden Wohlfahrtsstaats ist die Konstitution und Reproduktion produktiver Subjekte. Mit dieser Subjektivierungspolitik sind neue soziale Ungleichheiten verbunden: Je mehr Produktivität im Vollzugsmodus der individuellen Selbststeuerung zu einer sozialpolitisch etablierten Norm wird, desto stärker geraten diejenigen Gruppen und Milieus, Bedürfnisse und Lebensbereiche ins Hintertreffen, die der damit gesetzten „Normalität“ nicht entsprechen. Doch die der Aktivierungspolitik eingeschriebenen gesellschaftlichen Konfliktpotenziale beziehen sich nicht nur auf den Antagonismus von aktivitäts- und produktivitätsnormkonformen Milieus auf der einen und den aktivgesellschaftlich als deviant gekennzeichneten „Inaktiven“ und „Unproduktiven“ auf der anderen Seite. Potentielle Legitimationsprobleme verbergen sich zudem in der Enttäuschung aktivierungspolitischer Erwartungen und Versprechungen unter „aktiven Verlierern“ (Brauer und Willisch 1997), deren praktizierte Normkonformität gleichwohl nicht zu subjektiv erfahrbaren Teilhabe- und Anerkennungsgewinnen führt. Und nicht zuletzt auch in solchen subjektiven Orientierungen und Praxen, die das neue sozialpolitische Gebot eigen- und sozialverantwortlicher Lebensführung gleichsam eigenmächtig ausdeuten und ihm einen ganz anderen, dezidiert normabweichenden sozialen Sinn verleihen: Hier schlummert „das Andere“ der Aktivierung nicht mehr nur, sondern ist es durchaus schon lebendig geworden. Es sind solche empirischen Phänomene des normvergessenen Eigensinns und eines lebensweltlichen Unbehagens (Graefe 2010; Dyk 2010), die von dem aktivierungsstaatlichen Produktivitätsdispositiv systematisch erzeugt werden – und die sich als kollektiv-individuelle Impulse womöglich gegen das Aktivierungsregime selbst richten könnten. So gesehen, stehen der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft auch im Zeichen des neuen Wohlfahrtsstaats wohl nicht nur materiale Widersprüche ins Haus – wenn nämlich der aktivierungspolitisch zu zündende Wachstumsmotor doch nicht anspringt. Auch kulturell könnte der Aktivierungsstaat die Geister, die er rief, womöglich nicht mehr loswerden (vgl. Lessenich 2011). Denn gerade unter den Bedingungen eines auch ökologiepolitisch zunehmend schwerer zu rechtfertigenden Wachstumsparadigmas ist mit der Entkoppelung, ja dem Konflikt und der Konfrontation von kapitalistischen Produktivitäts- und demokratischen Selbstbestimmungsnormen zu rechnen.

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Primacy of the Economy, Primacy of the Political: Critical Theory of Neoliberalism Bob Jessop

Abstract

Neoliberalization is a distinctive economic, political, and social project that promotes profit-oriented, market-mediated accumulation as the primary axis of societalization. This might suggest that neoliberalism promotes the primacy of the economic but, since its extension and reproduction require continuing state support and, indeed, involve what Weber called political capitalism, one might also argue that it entails a primacy of the political. To address this paradox, my article offers a baseline definition of neoliberalism and identifies four idealtypical historical forms thereof; relates neoliberalism to the world market, geopolitics and global governance; disambiguates the primacy of the economic; and addresses the role of the political in promoting neoliberalism and handling its contradictions and crisis-tendencies. It illustrates this exercise in critical theory from the North Atlantic Financial Crisis and how its (mis)management has strengthened the neoliberal project, enabled its main promoters and beneficiaries to escape the need to learn from their mistakes, and even enabled them to further enrich themselves. Keywords

Critical theory · political economy · critique of neoliberalism · finance capitalism · finance dominated accumulation · primacy of the economy · primacy of the political

B. Jessop (*) Department of Sociology, Lancaster University, Lancaster, Großbritannien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_46

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What is Neoliberalism?

In some respects neoliberalism can be seen as a socially constructed Kampfbegriff with a ‘productively fuzzy’ role in economic, political and ideological contestation. But it is certainly worth exploring whether it can be integrated into materialist analysis and used to develop the critique of political economy. This requires an initial account that can be located and elaborated in this context and linked to the relative primacy of the economic and political. To this end, neoliberalism can be defined as a political project that is justified on philosophical grounds and seeks to extend competitive market forces, consolidate a market-friendly constitution, and promote individual freedom. The specific content and overall weight of these three goals vary, as do the motives of those who promote them. The neoliberal project was initially formulated as an intellectual-cum-political project in 1938; it enjoyed growing acceptance as an economic and political strategy in the 1970s; it witnessed panic-stricken meetings in New York and Washington a generation later at the height of the global financial crisis; and, most recently, it is returning to ‘business as usual’ (Butterwegge et al. 2008; Mirowski and Plehwe 2009; Mirowski 2013). Four main forms of neoliberalism can be distinguished analytically, although hybrid forms also exist. The most radical form was neoliberal system transformation in post-Soviet successor states. Russia and Poland provide two contrasting cases and outcomes, namely, Chicagoan ‘creative destruction’ induced by neoliberal shock therapy and a more Ordoliberal ‘market therapy without shock’ respectively. Next are neoliberal regime shifts. Breaking with the post-war Atlantic Fordist settlements, based on an institutionalized compromise between capital and labour, these shifts introduced neoliberal policies intended to modify the balance of forces in favour of capital. They have largely succeeded: witness stagnant real wages, cuts in welfare, increasing personal debt, and a growing share of income and wealth in the hands of the top decile (especially the top percentile) of their respective populations. Wellknown cases are Thatcherism and Reaganism but similar shifts occurred in Australia, Canada, New Zealand, Ireland, Iceland, and Cyprus. While often identified with rightwing parties, neoliberal regime shifts have also been initiated, maintained or supported by centre-left parties, often under a ‘Third Way’ label (e.g., New Labour, the Clinton Administration, ‘die neue Mitte’ in Germany). Moreover, with a little help from northern friends and/or military dictatorships, many Latin American economies undertook neoliberal regime shifts in response to crises in the previously dominant import-substitution growth model. Indeed, Pinochet’s Chile pioneered neoliberal regime shifts. Type three involves economic restructuring processes and regime shifts that were primarily imposed from outside by transnational economic institutions and organizations backed by leading capitalist powers and their local partners among domestic political and economic elites. This type adopts ‘Washington Consensus’ principles in return for financial and other assistance to crisis-hit economies in parts of Africa, Asia, Eastern and Central Europe, and Latin America. Fourth, there are more pragmatic and potentially reversible neoliberal policy adjustments. These comprise modest changes deemed necessary to maintain alternative economic and social models in the face of internationalization and a

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global shift in the balance of forces. The Nordic social democracies and Rhenish capitalism provide some examples. However, such adjustments can cumulate despite the fluctuating political fortunes of the parties more favourably included towards them and, almost by stealth, lead over time to neoliberal regimes (witness Germany in the last 25 years). None of these four forms result from the spontaneous operation of market forces: they all involve the exercise of political power to establish and consolidate them. The highpoint of neoliberalization occurred in the 1990s. This decade saw a largely coincidental combination of neoliberal system transformation, a stepwise shift from ‘roll-back’ to ‘roll-forward’ policies in neoliberal regimes, a temporary ascendance of cyclical neoliberal policy adjustments elsewhere, and continuing efforts to impose neoliberal structural adjustment in many places. Yet neoliberal system transformation largely failed as a ‘grand project’; neoliberal regime shifts required flanking and supplementing by ‘third way’ policies, networks, and publicprivate partnerships; neoliberal policy adjustments did not seem to produce lasting neoliberal regime shifts even where that was a long-term aspiration; and the quack cure of neoliberal structural adjustment often aggravated the underlying disease, leading, in Latin America, to the revival of populist politics and demands that governments distance themselves from the neoliberal excesses and, in East Asia, to defensive measures to prevent a repeat of what was known there as the ‘IMF crisis’. Although overall elite and popular support for the global neo-liberal wave has declined since its peak, it still has major path-dependent effects through its impact on the forms, timing, and dynamics of economic crises not only in countries where neoliberalism was adopted or imposed but elsewhere too. This is because it disrupts the structured coherence of modes of regulation and/or governance where alternative policies prevailed and, via contagion, can weaken already vulnerable economies. One example is the wider geo-economic and geo-political legacies of failed neoliberal system transformation and structural adjustment programmes. Another example is the global economic, political, social and environmental repercussions of the crisis of finance-dominated accumulation, a regime promoted under neo-liberal regime shifts.

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Primacy of the Economy

Possible meanings of the primacy of the economy include: (1) economic determination in the last instance; (2) the formal correspondence between base and superstructure in a capitalist society; (3) the primacy of economic class struggle over other forms of struggle; (4) domination through control over strategic economic resources; (5) hegemony based on the widespread acceptance of an economic imaginary; and (6) the ‘ecological dominance’ of profit-oriented, market-mediated accumulation within the wider social formation. Regarding (1), despite the claims of some variants of orthodox Marxism, there is no ‘determination in the last instance’ even where the economy is sufficiently

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disembedded from the wider social formation that it could have independent causal effects. Even in these circumstances, profit-oriented, market-mediated accumulation still depends on extra-economic conditions that it cannot guarantee; it is always structurally coupled to other societal systems and the ‘lifeworld’ and never follows a purely economic logic. This does not exclude economic determination in the first instance, i.e., the primacy of production in the overall circuit of capital and hence the long-term primacy of profit-generating capital over other fractions of capital. In short, where wealth takes the form of an ‘ungeheure Warensammlung’ [immense accumulation of commodities], value must be produced before it can be realized, redistributed, and reallocated. This gives a key role to valorization and its mediation through the capitalist law of value – especially where the commodity form is generalized to fictitious commodities (land, labour-power, money, and knowledge) and where market relations penetrate/colonize other societal spheres. But there is wide variation in how far capitalist market forces (and the associated logic of profitseeking) come to dominate the overall organization and dynamics of social formations and, indeed, there are structural limits to the extent to which this occurs. Ad (2), Marx argued that the form of state sovereignty corresponds to the form in which nature is appropriated and transformed in a given mode of production (1983, p. 799 f). This claim about isomorphism can be generalized to other social forms and linked to social praxis in Gramsci’s (1992, p. 876) analysis of the geschichtlicher Block, i.e., “ein gesellschaftliches Ensemble, in dem die materiellen Kräfte der Inhalt sind und die Ideologien die Form”. This does not mean that economic forms determine the specific politics and policies of juridico-political institutions or the content of hegemonic and sub-hegemonic visions. For, within the limits set by any contingent formal correspondence, it is social practices that shape content. At stake in (3) is the primacy of economic class struggle as the motor of history. Where class belonging and identities are grounded exclusively in economic relations, this involves a strong form of agential economic determination. Where class struggle is overdetermined by political and ideological forms and relations, with their own logics and organizational principles, we have class rather than economic reductionism. This no longer entails a narrow primacy of the economy. One might add that political and ideological class powers are not confined to extra-economic spheres but are also important in the social relations of production (cf. Poulantzas 1979). Ad (4), economic domination refers to the capacity to control strategic resources in a given commodity chain or broader set of economic activities, e.g., oil in the Fordist and post-Fordist economies, gene patents in bio-capitalism, or credit during a liquidity crisis. It concerns the power of a fraction of capital (or a cartel or single firm) to impose its immediate interests on other fractions, regardless of their wishes and to their disadvantage. It can derive directly from the position of the relevant agent in the overall circuit of capital in a specific conjuncture and/or indirectly from the use of extra-economic coercion (including state power). By extension, economic domination also includes the relative ‘strike power’ or ‘blackmail power’ of the profit-oriented, market-mediated economic order vis-à-vis other institutional orders and civil society because their activities require certain economic inputs (specific

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goods and services, general income, or credit). This second aspect refers to the capacity of capital in general, of a fraction of capital, or of particular capitals to oblige other institutional orders to adapt to the demands of capital accumulation as expressed in structural power and/or specific strategic capacities. Ad (5), economic hegemony involves the capacity of given social forces to develop the leading economic imaginary, prompting other forces to (re-)articulate their own technical paradigms, business models, and growth strategies around this imaginary. It exists where a given imaginary (e.g., an accumulation strategy) underpins an institutionalized compromise between opposed social forces and orients their activities within and across different institutional orders around the pursuit of that strategy, including its extra-economic supports. The hegemonic economic imaginary specifies which identities and interests can be synthesized within a general interest, orients the articulation of different temporal horizons (short-, medium- and long-term, business cycle, electoral cycle, long wave, etc.), and delimits spatial horizons (local, regional, national, supranational, etc.) over which the strategy will be pursued. A successful hegemonic project may also establish accumulation as the dominant principle of societal organization. This is illustrated by the neo-liberal claim that global competition requires wholesale restructuring of any economic or extra-economic organizations and institutions that may affect competitiveness. Ad (6), ecological dominance exists insofar as, in a social formation with several formally equal, non-substitutable functional subsystems, one system (here, the profit-oriented, market-mediated economy) is actually ‘less equal’ than others. In other words, it has more influence on their development – including from its negative as well as positive externalities – than they have on it. Indeed, it is the system with the highest tendency to fail with the most significant consequences for other systems that is likely to be ecologically dominant. This concept is not a new way to defend ‘economic determination in the last instance’ because no mechanism can guarantee that any given system is always and everywhere able to impose its logic on other systems and/or colonize the lifeworld. On the contrary, where ecological dominance does occur, it results from political and ideological struggles around political projects and hegemonic visions as well as on the specific properties of the circuit of capital on a world scale. In addition, its effects are always differential, contingent, contestable, and reversible, and it is also open to reflexive self-limitation. Seven mechanisms contribute to the ecological dominance of profit-oriented, market-mediated accumulation as a principle of societalization (cf. Jessop 2011). First, as the market economy is disembedded from the wider society, its organization and performance become less subject to external adaptive pressures and more exposed to internal imperatives to reduce socially necessary labour-time, socially necessary turnover time, and naturally necessary reproduction time. Indeed, external pressures are mediated increasingly through inter-capitalist competition to profit from them and/or to move capital (including in liquid form) to escape these pressures. This increases the ‘indifference’ of the profit-oriented, market-mediated economy to its social (and natural) environment except to the extent that this is a potential source of profit/loss.

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Second, the anarchy and flexibility of market forces, and the dual role of the price mechanism in re-allocating capital and facilitating learning, mean that capitalism tends, other things being equal, to have greater resilience than other systems in the face of exogenous disturbances. This resilience is well-developed (but by no means infinite) because of the greater internal complexity (multiplicity and heterogeneity of elements) of rational capitalism, the looser and more flexible coupling among these elements, and the high degree of reflexive capacity (self-monitoring). A wide range of organizations, institutions and apparatuses express different aspects of the contradictions, dilemmas and paradoxes of capital accumulation and provide the requisite variety to compensate for, and exploit, market failures. Third, technological innovation and institutional change enable capital to engage in time-space distantiation and/or time-space compression to extend and intensify its operations in and across the world market in real time. This gives capital greater flexibility to reorganize its activities and continue its self-expansion in response to internal and external perturbations. These capacities are related to the anarchic, formal, procedural rationality of the market, its reliance on the symbolic medium of money to facilitate economic transactions despite disjunctions in time and place, its highly developed abstract and technical codes (with well-developed mechanisms of capitalist accounting and monetary returns as its easily calculable formal maximand), and the requisite variety of its internal operations. Fourth, world market integration in real time weakens the structural constraints associated with other societal subsystems or institutional orders and/or limits their agents’ abilities to control the activities of capitalist forces. This holds especially for international finance. Key mechanisms here include capital’s internal operations in time (discounting, insurance, risk management, futures, derivatives, hedge funds, etc.) and/or space (capital flight, relocation, outsourcing abroad, claims to extraterritoriality, etc.). A further factor (see Sect. 5) occurs when the logic of the market colonizes organizations that are central to other systems’ operation or, indeed, capitalist interests resort to force, fraud, and corruption to secure favourable decisions and treatment. Fifth, in addition to boosting capacities for technological and economic innovation, social agents can redesign the rules that govern the market economy and its social embedding. This is highlighted in interpretations of neoliberalism as a class offensive by capital against labour. This may extend to efforts to shape the co-evolution of organizations, systems, and, eventually, world society and to change the mode of social evolution (e.g., through extending market relations into ever more spheres of social life). It also informs accounts of neoliberalism as an epistemicintellectual project to rewrite the economic constitution (Mirowski and Plehwe 2009) and to establish ‘disciplinary neoliberalism’ based on a ‘new constitutionalism’ (Gill 1995). Sixth, the primacy of accumulation vis-à-vis other axes of societalization (e.g., national security, ‘racial’ supremacy, religious fundamentalism, adherence to the rule of law, social solidarity) is related to differential capacities to exercise political, intellectual, and moral leadership. This relates to the preceding discussion of economic hegemony but connects it to the more general conditions that privilege one

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principle of societalization over others. Parallel power networks tied to transnational power blocs are especially powerful here. The global dominance of financial capital over other fractions of capital and the hegemony of the United States as an imperial power were central in constructing neoliberal reason and marginalizing (in some cases, repressing) opposition from other economic forces and less powerful states. Seventh, as the other mechanisms indicate, an ecologically dominant system is the primary source of external adaptive pressure on other systems. So, as the world market grows more complex, so does the environment of other institutional orders, institutions, organizations, and networks. This obliges non-market forces to increase their own internal complexity (requisite variety relative to the environment) to retain their operational autonomy and resilience to cope with external shocks, such as a loss of economic resources and revenues resulting from capital mobility, economic downturns and crises. For example, the recent global recession has forced accommodations to the logic of capital in the form of bailouts, welfare and entitlement cuts, and major adaptations in other institutional orders. To suggest that world market integration is promoting the ecological dominance of profit-oriented, market-mediated accumulation is not the same as to claim that the economic system narrowly defined is becoming ecologically dominant. What becomes ecologically dominant is a tightly coupled nexus of functional systems (minimally the economy, law, and politics) that, through structural coupling, blind co-evolution, structural drift, and strategic coordination, comes to be organized around the logic of differential accumulation. This development is shaped by new forms of government and governance as well as by the mobilization of class powers in production and the operation of market forces. This is why the primacy of the economic and/or political is such a challenging topic.

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The Economic Significance of Neoliberalism

The four forms of neoliberalism tend to have different effects. Nonetheless a broad generalization is that the global roll-out of neoliberalism reinforces the ecological dominance of capital accumulation because it disembeds economic relations from other social relations. It tends to judge all economic activities in terms of profitability and all social activities in terms of their contribution to capital accumulation. Inter alia, the proponents of neoliberalism seek to open, extend and further integrate the world market, to reduce the frictions of national ‘power containers’ (and analogous borders), and to weaken the capacities of subordinate groups to resist accumulation through class struggle and/or to defend alternative Vergesellschaftungsprinzipien. It has reinforced the dominance of exchange-value in economic relations and calculation because it is capital in its exchange-value aspect that is most easily disembedded from broader socio-spatial-temporal contexts and thereby freed to ‘flow’ relatively smoothly through space-time. In particular, it frees money capital as the most abstract expression of the capital relation to move almost at will within the world market to maximize opportunities for profit. Consequently it advances the influence of world market dynamics in world society more generally.

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To establish how and why this occurs and why neoliberalism has been and, despite its various crisis-tendencies, remains so influential on a world scale, we must relate its emergence and subsequent development to the logic of capital. Of special relevance here is Marx’s distinction between the use-value and exchange-value aspects of the commodity (cf. Warum Werttheorie? Werttheorie von Marx über Adorno bis Backhaus und Postone in this handbook). Analogous properties characterize other dimensions of the capital relation. The worker is a concrete individual with specific skills, knowledge, and creativity and an abstract unit of labour power substitutable by other such units (or, indeed, other factors of production); the wage is a source of demand and a cost of production; money functions as a ‘national’ currency circulating within a monetary bloc and subject to state control and as an international money exchangeable against other monies in currency markets; productive capital is a more or less concrete stock of time- and place-specific assets undergoing valorization and abstract value in motion (notably as realized profits available for re-investment); land is a gift of nature and a monopolistic claim on revenues; knowledge circulates as part of the intellectual commons and can also become the object of intellectual property rights; and so on. In each case, neoliberal policies privilege exchange-value over use-value. The neoliberal policy set comprises liberalization (more competition), deregulation (fewer state and legal controls over capital), privatization, market proxies in the residual public sector, internationalization (reducing the frictions of national boundaries), and a shift in the tax burden from direct to indirect taxation and, additionally, from mobile transnational capital to less mobile SMEs and citizens. It emphasizes cost reduction and cost recovery and subjects all economic activities to the treadmill of matching or exceeding the prevailing world market average rate of profit. Such one-sided treatment can only disguise, but not suppress, the significance of the use-value aspect of these relations. Eventually, the importance of use-value to capitalist reproduction (and, of course, to social life more generally) is reasserted and, without appropriate ways to handle the contradictions between use- and exchange-value, crises emerge that effect a forcible re-imposition of the unity of the capital relation.

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The Ecological Dominance of Interest-Bearing Capital

One aspect of neoliberalism is its promotion of finance-dominated accumulation. Compared to the largely intermediary role of finance in Atlantic Fordism and a more productivist, post-Fordist knowledge-based economy, the deregulation of finance increases the significance of the financial sector relative to the non-financial sector. Specifically, it tends to privilege hypermobile financial capital at the expense of capitals that are embedded in broader sets of social relations and/or that must be valorized in particular times and places; it creates the conditions for differential accumulation in favour of the financial sector based on financial innovation and speculation; and it increases inequalities of income and wealth, limiting the impact of the wage as a source of demand. And it is also a powerful mechanism of world

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market integration, for good or ill, affecting different varieties of capitalism in different ways and transmitting crisis-tendencies through diverse mechanisms. Combined with an emphasis on shareholder value, then, neoliberalism particularly benefits hypermobile financial capital, which controls the most liquid, abstract, and generalized capitalist resource, reinforcing its competitiveness and ratcheting up its ability to displace and defer problems onto other economic actors and interests, other systems, and the natural environment. Yet, as Marx foresaw, this also enhances the scope for the contradictions and dilemmas of a relatively unfettered (or disembedded) capitalism to shape the performance of other systems, undermining key extra-economic conditions for accumulation. Finance-dominated accumulation militates against the long-term structured coherence of accumulation regimes and their modes of regulation. It weakens the spatio-temporal fixes with which regimes based on the primacy of productive capital manage the contradictions between fixity and motion in order to produce zones of relative stability by deferring and displacing their effects. This can be seen in the impact of financialization not only in the circuits of Atlantic Fordism (including the Eurozone) but also in the export-oriented economies of East Asian and the viability of import-substitution industrialization in Latin America and Africa. The destructive impact of financialization is reinforced through the neo-liberal approach to accumulation through dispossession (especially the politically-licensed plundering of public assets and the intellectual commons) and the dynamic of uneven development (enabling financial capital to move on when the disastrous effects of financialization weaken those productive capitals that have to be valorized in particular times and places). It is also supported by the growing markets opened for the ‘symbionts and parasites’ of the ecologically dominant fractions of capital in their heartlands – associated in turn with their own forms of uneven development on regional, national, and global scales. Yet the logic of financialization, especially the accumulation of fictitious capital, can only restrict the operation of ‘economic determination in the first instance’ (i.e., the primacy of profit-generating capital) in the short- to medium-term. Eventually the latter will trigger the forcible re-imposition of the unity of the circuit of capital through the destruction of fictitious capital, deleveraging, and deflation. The longer financial capital is ecologically dominant in the circuits of capital (and their extension into social fields previously not subordinated to the logic of profitoriented, market-mediated accumulation), the bigger the fall and the worse the impact of failure. Indeed, a key aspect of ecological dominance is the effect (which one could interpret as the duration, depth, and scope) of the failure of the relevant system.

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Primacy of the Political, Neoliberalism, and FinanceDominated Accumulation

The primacy of the political also needs disambiguation – especially in the German language, which requires special constructions to distinguish the political, politics, and policy. Thus the primacy of the political could refer to: (1) the politicization of

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economic institutions and economic practices such that they are subordinate to political priorities set by a strong state (e.g., a national security state); (2) the importance of extra-economic coercion (especially when sanctioned by the state) in securing the conditions for profitable economic activities; and (3) the key role of particular policies in particular conjunctures in securing institutionalized class compromises and/or counteracting capital’s crisis-tendencies. In orthodox Marxist work, Primat der Politik often has the second meaning, referring to the role of force in primitive accumulation, in promoting imperialism and resolving imperialist rivalries, in underwriting monopoly capital profits, and in sustaining state monopoly capitalism. The development of neoliberalism could be interpreted in terms of the second and third meanings of the primacy of the political. A useful reference point in this regard is Max Weber’s ideal-typical distinction between six modes of Erwerbsorientierung: (1) trade in formally free markets and the rational organization of capitalist production; (2) speculation in financial markets; (3) profits through force and domination, such as colonialism, tax farming, unjust enrichment in office; (4) financing of political ventures, including wars, revolutions, electoral campaigns, and lobbying; (5) unusual deals with the state and other political bodies; and (6) traditional merchant capital (Weber 1922, pp. 95–96). While Marx certainly recognized all six modes (although not always in these terms) and also discussed them, he focused mainly on the genesis, structural features, and dynamic of what Weber regarded as rational capitalism (type 1). This focus stemmed from his intellectual and political project to critique classical political economy and disclose the antagonisms, contradictions and crisis-tendencies inherent in the capitalist mode of production, which was based on the generalization of the commodity form to labour-power and its role in facilitating the rational organization of capitalist production. Yet the rise of finance-dominated accumulation that has been enabled by the spread of neoliberalism has as much to do with the forms of political capitalism (types 3–5 above) as with rational capitalism and, even if its crisis-tendencies can be explained in terms of the privileging of interest-bearing over profit-generating capital, the handling of the North Atlantic Financial Crisis owes far more to political factors than to the operation of free market forces. Neoliberalism did not emerge from the spontaneous operation of free market forces but was created through a long politico-ideological war of position, relentless lobbying, targeted legislation, and judicial decisions (Mirowski and Plehwe 2009). Financialization also required a whole series of legislative changes to reduce taxes, deregulate finance, legalize new forms of derivatives and securitization, and so on. Likewise, the crisis of finance-dominated accumulation prompted state action to bail out banks that were too big, too systemically important, or too well connected to be allowed to fail. Extraordinary measures such as quantitative easing, zero interest rate policies, and forward guidance also involve political action. The condoning of control fraud, appraisal fraud, foreclosure fraud, the manipulation of LIBOR, trade in commodities, and so on also show the role of unusual deals with political authority. In short, while neoliberalism and financialization may prioritize exchange-value throughout society, they are largely the product of political, not free market, forces.

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This suggests that the primacy of the economy and the primacy of the political are not necessarily opposed. Drawing on the analytical distinctions introduced above, we could conclude that: Neoliberalism is a political project that is intended to extend the logic of exchange-value within the profit-oriented, market-mediated economy and to extend market forces and economic calculation into spheres of social life where they were absent before (primacy of the economic) but the pursuit of this project depends on integrating neo-liberalism not only into accumulation strategies but also into state projects and hegemonic visions, which requires both struggle for hegemony and control over the state apparatus (primacy of the political). This is even truer of finance-dominated accumulation, which benefits from different forms of political capitalism as well as from a more general neoliberal environment. As such its leading forces have a strong interest (as does transnational profit-producing capital) in weakening liberal bourgeois democracy in favour of an authoritarian statist ‘post-democracy’ that can reinforce financialization, manage financial crises, and channel or defeat economic and political resistance. The primacy of the political also affects the logic of resistance to neoliberalism. First, insofar as profit-oriented, market-mediated accumulation extends and intensifies the subsumption of other social domains to its logic, class struggles proper can develop. This holds both for the organization of production – the main site of economic antagonism between capital and labour – and the extra-economic fields linked to capitalist exploitation. Moreover, as Karl Polanyi (1973) argued, if commodification is pushed beyond certain limits, ‘market failure’ will threaten capitalist reproduction. Second, because institutional orders and social relations outside the immediate logic of valorization typically have their own values and norms, bases of social inclusion or exclusion, their own forms of structured conflict, and so forth, social forces will seek to resist marketization in the name of defending the autonomy of these spheres. Third, attempts to establish capitalist hegemony provoke counter-struggles to resist the claim that accumulation (and/or competitiveness) is essential for realizing other social goals. This also affects the lifeworld (civil society), which can become a major stake in many of these conflicts. ‘Civil society’ is the site both of colonizing struggles to integrate civil society more effectively into the service of one or another specific institutional order (for example, through commodification, juridification, scientization, the rise of the ‘learning society’, politicization, militarization, etc.) and of struggles to resist and roll back such colonization attempts in defence of identities and interests that lie outside and/or cross-cut them (for example, class, gender, sexual orientation, ‘race’, nation, stage in the life-course, disability, citizenship, human rights, or the environment). If society’s ‘fight back’ (to use Polanyi’s term) is to transcend dispersed, disorganized, and mutually contradictory struggles, however, attention must turn to the ways in which ‘society’ acquires sufficient unity and cohesion to resist the destructive impact of liberal and/or neoliberal market forces. This requires movement beyond sectional interests to actions oriented to the general interest of society as a whole – in short, to actions framed within an alternative hegemonic project based on political, intellectual, and moral leadership and oriented to other principles of societalization rather than to securing particular economic-corporate advantages

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within the capital relation. In this context, the primacy of the political acquires another meeting – the primacy of struggles over the dominant axis of societalization and hence over the scope of profit-oriented, market mediated accumulation relative to forms of ‘material provisioning’ based on other modes of production and distribution (Polanyi 1973).

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Conclusions

The North Atlantic Financial Crisis has not as yet (May 2016) undermined the privileged position of finance-dominated accumulation within neo-liberal regimes. Although the neoliberal project may have lost some of its hegemonic appeal among elites, the ‘squeezed middle’, and subaltern social forces, it remains dominant because of the entrenched structural position, built up over 30 or more years, of a neoliberal power bloc. This power bloc is sufficiently strong economically, politically, and ideologically that it has not yet been forced to learn from its mistakes. The North Atlantic Financial Crisis and its specific, overdetermined expression in the Eurozone have not produced an effective challenge to neo-liberalism or, despite popular resentment and fragmented resistance, undermined the power of interest-bearing capital to damage the rest of the economy and the wider society. This cannot be explained in terms of economic determination in the last instance (an empty and unsustainable axiom) or in terms of the centrality of profit-generation within the circuits of capital. The centrality of valorization is a genuine mechanism crucial to capital accumulation in the long-run but currently limited in its operation thanks to the extraordinary measures taken in the current state of economic emergency, which have served only to displace and postpone the inevitable debt-default-deflation dynamic of the next great recession. The economic domination of interest-bearing capital and the economic hegemony of neoliberalism are relevant, however; and so is the continued operation of the mechanisms that sustain the ecological dominance of capital accumulation as a principle of societalization and, on this basis, promote the ecological dominance of interest-bearing capital and its negative externalities. These mechanisms are not purely economic. They also involve important institutional features and social practices that can be interpreted in terms of the primacy of the political – notably distinctive forms of political capitalism and the reorganization of state power on post-democratic, authoritarian statist lines to defend finance-dominated accumulation and the broader neoliberal project.

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Primacy of the Economy, Primacy of the Political: Critical Theory of. . .

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Teil V Grundlagen und Anwendungsformen einer aktuellen Kritik der politischen Ökonomie

Der Wert in der Warengesellschaft: Gedankending oder Realabstraktion Reinhart Kößler und Hanns Wienold

„Dem Wert ist nicht auf die Stirn geschrieben, was er ist“ (Marx MEGA II 5, S. 46)

Zusammenfassung

Im Zentrum des Artikels steht eine kritische Rekonstruktion des Marxschen Konzeptes des Werts. Sie wird eingangs kontrastiert mit dem Konzept des Werts bei Georg Simmel sowie im Weiteren insbesondere gegen vorkapitalistische Verhältnisse und die in diesem Zusammenhang erhobenen Ansprüche auf eine überhistorische Geltung des Wertbegriffs abgegrenzt. Die eigentliche Explikation der Marxschen Theorie in diesem zentralen Punkt nimmt sowohl die Frage der Arbeit und der hier ansetzenden „Arbeitswerttheorie“ auf als auch die eigentliche Bedeutung der Marxschen Werttheorie als Geldtheorie. Diese Probleme werden durch die Sekundärliteratur verfolgt, wobei insbesondere die „neue Kapital-Lektüre“ ausführlich untersucht wird. Die Bedeutung der Werttheorie für die ältere Kritische Theorie ist nicht abzulösen von der Wiederaufnahme der Debatte durch Georg Lukács im Anschluss an und in Abgrenzung vom Marxismus der Zweiten Internationale. Hier wie auch in den Arbeiten von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Friedrich Pollock u. a. tritt die Analyse der Wertform hinter die Rede von der Warenabstraktion zurück. Neben einem Blick auf die Rolle der Wertkategorie in der sowjetischen Planungstheorie R. Kößler (*) Arnold Bergstraesser Institut, Freiburg, Deutschland Institute for Reconciliation and Social Justice, The University of the Free State, Bloemfontein, Südafrika E-Mail: [email protected] H. Wienold Institut für Soziologie, Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_50

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zeichnet der Artikel abschließend den Abschied von der Wertproblematik, aber auch von der Kategorie der Arbeit vor allem bei Jürgen Habermas und Claus Offe nach. Schlüsselwörter

Arbeit · Geld · Kapital · Kritische Theorie · Realabstraktion · Ware · Wert

Eine Kernfrage der kritischen Theorie ist es, die verselbstständigte, dynamische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und ihre objektive Einheit – mit dem Geld als zentraler gesellschaftlicher Vermittlung – im sozialen Handeln der Individuen und ihrem Selbstbewusstsein als eine immer schon produzierte Objektivität zu dechiffrieren. Der Wert enthält in sich die Totalität der gesellschaftlichen Verkehrungen, welche die Sachen, die Gegenstände des Handelns, als Subjekte des Handelns erscheinen lassen. Die objektiv gegebene Gesellschaft hat zugleich einen – wenn auch notwendig falschen – Begriff von sich selbst, der auf die Verkehrung der Objekte in Subjekte, und umgekehrt, zurückgeht. Im Zentrum stehen hier die dem Wert entspringenden Fetischisierungen. Im Kapital geht es Marx um die Darstellung einer realen, d. h. objektiven Verkehrung (Kirchhoff et al. 2004, S. 12). Die Darstellung der Struktur der warenproduzierenden Gesellschaft, wie sie Marx im ersten Band von „Das Kapital“ entwirft, sollte diese Verkehrung als Resultat der verselbstständigten Wertformen (Ware – Geld – Kapital) ausweisen. Der Wert als sich selbst verwertender Wert erhält letztlich den Status eines die Gesellschaft auf widersprüchliche Weise einigenden und zugleich dominierenden Subjekts, einerseits als ein theoretisches „Gedankending“ und andererseits im Geld zugleich als real Allgemeines. Die „Real-Abstraktion“ des objektiven Wertes wird dabei nach Marx gedoppelt durch die „Real-Abstraktion“ der gesellschaftlichen Arbeit, in der konkrete vergesellschaftete Arbeit die Form „abstrakter Arbeit“ annimmt.

1

Georg Simmel: die Realität des „über-individuellen“ Werts

Georg Simmel ist einer der wenigen Philosophen und Gesellschaftstheoretiker, die sich nicht in der Tradition von Marx sehen, auch wenn vieles in der „Philosophie des Geldes“1 nach einer Paraphrase Marxscher Formulierungen klingt, die aber über den langen Schatten von Descartes und Kant zu springen versuchen, und im (ökonomischen) Wert eine eigene, emergente gesellschaftliche Qualität erkennen. Dieser Rang wird ihm auch von Hans Georg Backhaus und Helmut Reichelt eingeräumt. Ohne tiefer in die philosophische Diskussion über die Differenz von Erkenntnisobjekt und Realobjekt und den Universalienstreit einzutreten, soll ein kurzer Blick auf die Werttheorie von Simmel helfen, das theoretische Terrain zu bestimmen, auf dem die Frage nach dem (ökonomischen) Wert anzusiedeln wäre. Ein Wert beruht für Simmel letztlich auf einem Begehren, dessen Inhalt dem Begehrenden gegenüber tritt und so zum Objekt wird. „Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt 1

Im Folgenden zitiert nach der Simmel Gesamtausgabe (GSG), Band 6.

Der Wert in der Warengesellschaft: Gedankending oder Realabstraktion

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wie zu überwinden sucht – heißt uns der Wert“ (GSG 6, S. 34). Der Wert erscheint jedoch gegenüber dem Subjekt und dem Objekt als ein Drittes. „Diese Form ist als Form oder Anspruch zu bezeichnen. Der Wert, der an irgend einem Dinge, einer Person, einem Verhältnis, einem Geschehnis haftet, verlangt es, anerkannt zu werden“ (kursiv i. O.) (GSG 6, S. 37). Diese Ansprüche sind „in dem Ich so wenig unterzubringen wie in den Gegenständen, die sie betreffen“ (ebd.). „[. . .] in Wirklichkeit ist es eine dritte, aus jenem nicht zusammensetzbare Kategorie, gleichsam zwischen uns und den Dingen“ (GSG 6, S. 37). Simmel arbeitet hier auf dem allgemeinen Niveau des Verhältnisses von begehrendem Subjekt und seinem Objekt der besonderen Stellung des ökonomischen Wertes gewissermaßen vor, um jenen dann als ein objektiv Existierendes „zwischen uns und den Dingen“ auf seinen Begriff zu bringen. Allgemein gilt: „Es muss ein Wert eingesetzt werden, um einen Wert zu gewinnen.“ Es verschlingen sich im ökonomischen Austauschprozess zwei Wertbildungen ineinander, so, „als ob die Dinge sich in ihrem Wert gegenseitig bestimmen“ (GSG 6, S. 52). Das gilt nach Simmel auch noch für das wirtschaftende Subjekt in der Robinsonade, das seine Optionen sichtet. Anders ist es dagegen in der Warenproduktion, d. h. in der Produktion für den Tausch: „Und indem diese Herstellung für einen anderen geschieht, der die entsprechende für jenen vornimmt, treten die Gegenstände in gegenseitige objektive Relation“ (GSG 6, S. 53). Simmel versucht die im Tausch emergente objektive Eigenschaft von Dingen, sprich von Dingen als Waren, zu formulieren. Es komme ihnen ein Wert zu, ohne dass dieser eine sachliche, d. h. materielle Eigenschaft der Dinge bildet. Im wirtschaftlichen Verkehr löst sich das Reich der Werte mehr oder weniger vollständig von seinem subjektiv-personellen Unterbau ab. „Die Wirtschaft strebt einer – nirgends völlig unwirklichen und nirgends völlig verwirklichten – Ausbildungsstufe zu, in der sich die Dinge ihre Wertmaße wie durch einen selbsttätigen Mechanismus gegenseitig bestimmen“ (GSG 6, S. 55). Hinter diesem Vorgang sieht Simmel zwar die Begehrung des Subjekts als treibende Kraft, „aber aus ihr an und für sich könnte diese Wertform nicht hervorgehen, die vielmehr nur dem Sichaufwiegen der Objekte untereinander zukommt“ (GSG 6, S. 56, 57). Wie wir später auch bei Marx sehen, scheint die den Wert hervorbringende Aktivität auf die Dinge, sprich Waren, selbst übergegangen zu sein. „(Die) Wirtschaft selbst (besteht) in einer realen Abstraktion aus der umfassenden Wirklichkeit der Wertungsvorgänge“ (GSG 6, S. 57). Entscheidend ist auch für Simmel der Vorgang des Tausches. „Durch die Äquivalenz, die überhaupt erst gelegentlich des Tausches . . . ein Interesse erwirbt, wächst dem Wert der spezifische Charakter der Objektivität zu“ (GSG 6, S. 59). Gleichzeitig versucht Simmel der Objektivität des Wertes, der, wie er deutlich sieht, aus der Gleichsetzung der Dinge im Tausch entspringt (GSG 6, S. 57), einen subjektiven Sinn zu erhalten. „Der Tausch setzt eine objektive Messung subjektiver Wertschätzungen voraus, aber nicht im Sinne zeitlichen Vorangehens, sondern so, daß beides in einem Akte besteht“ (GSG 6, S. 59). Simmel versucht zwar auch in der naturalen oder solipsistischen Wirtschaft eines Robinson eine Tauschwirtschaft zu erkennen und unterstellt umgekehrt dem Tausch produktive Eigenschaften (GSG 6, S. 62, 63). Die „Über-Subjektivität“ (GSG 6, S. 87) des „interindividuellen Gebildes“ (GSG 6, S. 89), die „übersubjektive Wertfixierung im Tausche“ (GSG 6, S. 87) macht den Tausch jedoch zu einem „soziologischen Gebilde sui generis“ (GSG 6, S. 89), das nur als „Wechselwirkung zwischen den Einzelnen und den Vielen“ gedacht werden kann. Ähnlich wie schon für Marx

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gewinnt auch für Simmel im Geld „als abstraktem Vermögenswert“ der in einem gegenseitigen Verhältnis bestehende wirtschaftliche Wert der Objekte einen selbstständigen Ausdruck. „Wenn nun der wirtschaftliche Wert der Objekte in dem gegenseitigen Verhältnis besteht, das sie, als tauschbare, eingehen, so ist das Geld also der zur Selbstständigkeit gelangte Ausdruck dieses Verhältnisses“ (GSG 6, S. 122). Wegen seiner Reichweite sei der folgende Passus in ganzer Länge zitiert: „(E)s ist die Darstellung des abstrakten Vermögenswertes, indem aus dem wirtschaftlichen Verhältnis, d. h. der Tauschbarkeit der Gegenstände, die Tatsache dieses Verhältnisses herausdifferenziert wird und jenen Gegenständen gegenüber eine begriffliche – und ihrerseits an ein sichtbares Symbol geknüpfte – Existenz gewinnt. Es ist die Sonderverwirklichung dessen, was den Gegenständen als wirtschaftlichen gemeinsam ist – im Sinne der Scholastik könnte man es sowohl als universale ante rem, wie in re wie post rem bezeichnen . . . Der Geldpreis einer Ware bedeutet das Maß der Tauschbarkeit, das zwischen ihr und der Gesamtheit der übrigen Waren besteht“ (GSG 6, S. 123). Simmel dringt hier in der Analyse der Tauschvorgänge und ihrer emergenten „Wechselwirkungen“ so weit vor, in der allgemeinen Austauschbarkeit der Waren den Existenzgrund oder Ursprung des Wertes, genauer der Wertform, auszumachen. Er erkennt den Wert als Effekt der allgemeinen Austauschbarkeit der Warendinge, ohne allerdings anzugeben, worauf die allgemeine Austauschbarkeit oder Äquivalent der Waren beruht. Er wird ein weiteres Kapitel seiner „Philosophie des Geldes“ benötigen, um mit der Verwerfung der Notwendigkeit eines Substanzwertes des Geldes gegenüber seinem Funktionswert zugleich die Frage nach der Substanz der Warenwerte zu eskamotieren. Sein auf der Quantitätsgleichung beruhender Versuch einer Herauslösung des Geldwertes aus den Tauschgleichungen der Warenwerte, die dem Geld einen reinen, funktionalen, „begrifflichen“ Charakter gibt, führt jedoch ohne die Bestimmung eines „allgemeinen Äquivalents“ in eine Aporie. Letztlich besteht zwischen seiner Werttheorie und seinem Begriff vom Geld kein stringenter Zusammenhang, die damit das Schicksal aller subjektiven Wert- und Geldtheorien teilt. Immerhin erkennt seine Werttheorie, in der er unausgesprochen an Marx Maß nimmt, dass der Übergang vom Begehren der Individuen und der intraindividuellen Vergleichung der begehrenswerten Objekte zum interindividuellen, allseitigen Tausch in einer Art Quantensprung den „wirtschaftlichen Wert“ als ein „überindividuelles“ Phänomen hervorbringt, als eine „reale Abstraktion“ in der Gleichgeltung der getauschten Dinge, sprich der Warendinge. Ebenso wie Marx leitet Simmel den Wert als Eigenschaft von Dingen her, die den gesellschaftlichen Verkehr als Äquivalente vermitteln.2

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Dass im Produktions- und Reproduktionsprozess des Kapitals eine sog. Dienstleistung, die unter der Regie eines einzelnen Kapitals verrichtet wird, den Wert des vorgeschossenen Kapitals plus seinem (Durchschnitts-)Profit ersetzen kann, hebt den realen Status des Werts als Vergegenständlichung eines gesellschaftlichen Verhältnisses nicht auf als die der verallgemeinerten Warenproduktion eigene Weise der Vermittlung von gesellschaftlicher „Güterordnung“ und „Arbeitsordnung“ (Kahn-Freund 1965, S. 6). Der Dingcharakter des ökonomischen Wertes darf jedoch nicht mit dem stofflichen Charakter von Warendingen vermischt werden (vgl. dagegen die Ausführungen bei Dämpfling (2000, S. 51 ff.) um einen Fetisch der „Stofflichkeit“ bei Marx).

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Angesichts der Vorgänge des Begehrens und Genießens, die sich im Wert des Gegenstandes objektivieren, ihn zum Objekt machen, scheint für Simmel „die begrifflich-radikale Frage nach Subjektivität oder Objektivität des Wertes überhaupt falsch gestellt“ (GSG 6, S. 50). Die objektive Distanz, in der das begehrte Objekt zum Wert wird, kann Simmel jedoch nur als ein „innerliches“ Verhältnis, als eine Form der Einstellung zum Ding denken. „Steht aber erst mal ein fertiges Objekt in unserem Bewußtsein, so scheint freilich der ihm zuwachsende Wert ausschließlich auf der Seite des Subjektes zu liegen“ (GSG 6, S. 51). Jedoch: der begehrte Gegenstand steht uns ganz anders gegenüber, bedeutet uns etwas ganz anderes als der vorgestellte“ (GSG 6, S. 51). Woher dieses? Die Rede vom „fertigen Objekt“ ist eine Spur. Sie führt darauf, dass die Objekte des Begehrens fertiggestellte und fertigzustellende sind, also nicht nur schlicht (stoffliche) Dinge, sondern intentional geformte und bearbeitete, und dass begehrte Dinge, die sich quasi in der Natur auffinden lassen, auch in den sozialen Beziehungen, eher die Ausnahme bilden (Luft, Wasser, Sonne vielleicht ausgenommen; sie müssen jedoch „bewirtschaftet“ werden, falls sie durch menschliche Intervention verknappt sind). Was Simmel ausblendet, ist das tätige Verhältnis der Menschen, allein oder in Kooperation, zu den Dingen, das diese immer schon als geformte vor uns hinstellt. Die in der gesellschaftlichen Praxis fungierenden Gegenstände als intendierte Resultate der menschlichen Tätigkeit, sprich Arbeit, haben zugleich materiellen oder sachlichen und begrifflichen Charakter, sie besitzen in Bezug auf die gesellschaftliche Praxis „Wert“. Als solche Werte bilden sie unter bestimmten Bedingungen Teil des „gesellschaftlichen Reichtums“, sofern die menschliche Praxis eine gesellschaftliche Form angenommen hat. Es wäre aber untunlich, den Begriff der Gesellschaft mit dem Begriff des „gesellschaftlichen Reichtums“ oder der „gesellschaftlichen Arbeit“ konstitutiv zu verbinden oder gar in allen Gesellschaften eine „Synthesis“ durch Arbeit und Wert(e) zu suchen. Im Singular muss „der Wert“ für eine Gesellschaftsform reserviert werden, die durch allseitige Austauschbarkeit der gesellschaftlich arbeitsteilig und zugleich privat für den Austausch produzierten Waren gekennzeichnet sind, wo der „Reichtum der Gesellschaften“ als „ungeheure Warensammlung“ (Marx) erscheint. Unter diesen Umständen nehmen die Arbeitsprodukte den doppelten Charakter von Gebrauchswerten und Tauschwerten an. Nicht die stoffliche Sache oder der physische Gegenstand ist jedoch Wert oder Träger von Wert, sondern immer nur der (durch Arbeit) geformte Gegenstand im Austausch mit anderen. In diesem Sinn kann Marx, wie noch zu zeigen sein wird, sagen: „Im graden Gegenteil zur sinnlich groben Gegenständlichkeit der Warenkörper geht kein Atom Naturstoff in ihre Wertgegenständlichkeit ein“ (MEW 23, S. 62).

2

Gesellschaftlicher Reichtum und die Gattungskräfte der menschlichen Arbeit

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform“. So beginnt Marx Band I von „Das Kapital“. Der Ausgangspunkt

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und zugleich Gegenstand der Untersuchung im „Kapital“ ist daher ein gesellschaftlicher, der Reichtum der kapitalistischen Gesellschaften, der als Ganzer die Form des Wertes oder Kapitals annimmt, da alle produzierten Waren in erster Hand dem produzierenden Kapital zufallen. Der Reichtum erscheint als eine homogene, in sich bewegte Masse von Wert, dessen Ausgangs und Endpunkt das Kapital bildet. Was ist aber Reichtum von Gesellschaften, der nach Agnes Heller „ontologisch primär“ (Heller 1972, S. 9) ist? Im allgemeinen Sinn ist für Heller „Reichtum“ die „allseitige Entfaltung der gattungsmäßigen Wesenskräfte“ (ebd.). „Wert ist alles, was zur Bereicherung der gattungsmäßigen Wesenskräfte gehört, was diesen Vorschub leistet“. Wert besteht darin, „daß die Individuen sich den gattungsmäßigen Reichtum aneignen können“ (ebd.). Die „Entwicklung der menschlichen Produktionskräfte“ ist gleichbedeutend mit der „Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck“ (MEW 26.I, S. 111). Hierzu gehören „Entdeckung, Schöpfung und Befriedigung neuer, aus der Gesellschaft hervorgehender Bedürfnisse, die Kultur aller Eigenschaften des gesellschaftlichen Menschen und Produktion desselben als möglichst Bedürfnisreichen, weil Eigenschafts- und Beziehungsreichen.“ Es ist jedoch nicht nur das Resultat der Selbstentäußerung der menschlichen Gattungskräfte in ihren Vergegenständlichungen, das den Reichtum bildet, sondern ebenso, gleichzeitig, die Entfaltung der menschlichen Potenzen, die von Marx als solche der Gattung gedacht werden. „Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen“ (MEW 42, S. 604). Hierzu gehört in erster Linie auch eine allseits entfaltete Persönlichkeit, die nicht nur in ihrer konkreten Vielfalt, sondern selbst als gesellschaftlicher Wert zu gelten hat. Wie Ernst Michael Lange detailliert nachzeichnet, hat Marx in den „ökonomischphilosophischen Manuskripten“ aus den Jahren 1843/44, gestützt auf den Arbeitsbegriff bei Hegel, die Veräußerung der menschlichen Gattungskräfte und ihre Vergegenständlichung als „Arbeit“ bezeichnet. In den von ihnen geschaffenen Gegenständen stehen die Menschen sich selbst gegenüber und gelangen wie der Knecht, der sich dem Herren unterworfen hat, zur „Anschauung des selbstständigen Seins als seiner selbst“ (Hegel 1807, S. 148 f.). Auch John Locke konzipiert „Arbeit“ als Entäußerung, durch die der Mensch an den aus dem Naturzustand entnommenen Dingen, mit denen er sich quasi handgreiflich „vermischt“, physisch und rechtlich Eigentum erwirbt (Lange 1980, S. 26). Es ist jedoch nicht das physische Handanlegen oder der Zugriff auf die Physis, die Stofflichkeiten, die Marx in seinem Veräußerungskonzept anspricht, sondern die formende Kraft, die den Dingen Gestalt gibt. „Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens, d. h. eines Wesens, das sich zu der Gattung als seinem eignen Wesen oder zu sich als Gattungswesen verhält“ (MEW 42, S. 516). Arbeit erschafft hiernach den Reichtum der Gattung als Gestaltung der Stoffe nach den menschlichen Zwecken in Form der Mannigfaltigkeit von Gebrauchswerten, auch wenn diese Kategorie in den Manuskripten noch nicht zum Tragen kommt. Durch die „Produktion“ „erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit“ (MEW 42, S. 517). Der gesellschaftliche Reichtum, der als „ungeheure Warensammlung“ vorliegt, hat also eine doppelte Form: als Sammlung produzierter Gebrauchswerte, in denen durch Arbeit bestimmte Zwecke zum Tragen kommen, und als Wertmasse,

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elementar also als Gebrauchswert und als Tauschwert der individuellen Ware. Beide Werte sind gleichermaßen im Warenkörper vergegenständlicht. In diesem Sinne ließe sich auch sagen, dass es sich nur um einen Wert (in zwei Formen oder Aspekten) handelt, denn, wie zu zeigen ist, besitzt ein Ding ohne Gebrauchswert keinen Tauschwert und kann nur als Tauschwert auch seinen intendierten Gebrauchswert, der nur ausnahmsweise auch einer für seinen Produzenten ist, erfüllen. Obwohl sich die Gattung Mensch beim frühen Marx im Entäußerungsprozess der Arbeit selbst produziert, zum Schöpfer ihrer selbst wird und Marx, wie Lange zeigt, den Charakter der Arbeit als Entäußerung und Vergegenständlichung bis zu den Kapitalschriften festhält, sind die Gesellschaften „vor“ den Gesellschaften, „in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“, die sich auf ihren eigenen Grundlagen reproduzieren kann, nicht als „Arbeitsgesellschaften“ zu verstehen. Mit dem Übergang von den Jäger- und Sammlergesellschaften zu den Ackerbaugesellschaften in der sog. Neolithischen Revolution vor etwa 12.000 Jahren (Diamond 2006) wurden die Arbeiten zum Unterhalt der Gruppen und sozialen Verbände möglicherweise mühseliger („Tränen und Schweiß“) und nahmen, nach den Vorstellungen von Marshall Sahlins (1972), durch die Intensivierung der Produktion auch in der häuslichen Produktionsweise immer größere Teile der verfügbaren Zeit der Gruppen in Anspruch, doch waren gesellschaftlich, kooperativ organisierte Arbeiten eher selten und bedurften besonderer Anlässe und Zwecksetzungen. Ein bedeutsames Beispiel sind die Bauten des „Tempels“ am Göbekli Tepe (GT) in der heutigen Türkei, der zwischen dem zehnten und achten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung entstand, also bereits vor oder zu Beginn der sog. neolithischen Revolution im „Goldenen Halbmond“ (Schmidt 2008). Ihre Träger waren vermutlich Jäger- und Sammlerinnen-Gesellschaften, die bei der Jagd der Tiere im Tal von Euphrat und Tigris in großem Stil kooperierten. Das Eigentümliche der Anlage am GT scheint zu sein, dass sie nicht auf einem bereits reproduzierbaren agrarischen Mehrprodukt beruht, sondern erst zur Schaffung eines agrarischen Überschusses zur Unterhaltung der Arbeitskräfte beim Bau des „Tempels“ angeregt zu haben scheint (Schmidt 2008, S. 255 f.). Solche frühen Kollektivleistungen geben Hinweise darauf, dass die materiellen Kräfte der frühen Gesellschaften noch punktuell waren und von ihren religiösen Kräften kaum zu unterscheiden sind.3 Die Mobilisierung und die Kooperation großer Massen von Arbeitskräften und ihre zwangsweise Zusammenfassung zu Großprojekten (den aus Menschenkörpern bestehenden Mega-Maschinen von Lewis Mumford, 1981), die den Agrarwirtschaften ein konkretes Surplus-Produkt abforderten, führten nicht zu einem tiefgestaffelten Netzwerk gesellschaftsweiter Arbeitsteilung, die alle

3

Beispiele dürften auch die Megalith-Anlagen im nördlichen und westlichen Europa sein. Auch die Bewässerungssysteme der Inkas, in China oder die Wasserbaukulturen am Indus, in Mesopotamien und Ägypten dürften nicht einen Begriff der „gesellschaftlichen Arbeit“ oder gar der „Gesellschaftlichen Gesamtarbeit“ rechtfertigen, die für die Erklärung der materiellen Reproduktion kapitalistischer Ökonomien sowohl nach der Gebrauchswertseite wie nach der Wertseite hin erforderlich sind. Gesellschaftliche Gesamtarbeit als Voraussetzung und Resultat eines gesellschaftlichen „Gesamtprozesses“ ist erst auf der Basis der Vermittlung durch Waren und Warenwerte theoretisch explizierbar (Wasmus 1987, S. 238 ff.).

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Zweige der gesellschaftlichen Arbeit (seien sie „produktiv“ oder „unproduktiv“) ins Verhältnis setzen konnte.4 Dagegen sieht Dieter Wolf (aber auch Helmut Brentel) auch für vorkapitalistische Gesellschaften einen Begriff „gesellschaftlicher Arbeit“ oder „allgemein menschlicher Arbeit“ als legitim an, die „als gleichgesetzte Arbeit“ sich nach Quantität und Qualität zu einer „gesellschaftlichen Gesamtarbeit“ zusammenfassen lassen (Wolf 1985, S. 64; auch Elbe 2010, S. 257).5 Weder die von Marx als Produktionsweise bezeichnete Sklavenhaltung in Griechenland oder im römischen Kaiserreich, die nach Max Weber an unzureichender Zufuhr bzw. Aufzucht von Sklaven scheiterte,6 noch die „feudale Produktionsweise“, in der die Arbeit zwischen den Domänen der Grundherren und den Feldern der Leibeigenen oder auch freien bäuerlichen Haushalte, sowie zwischen Land und Stadt geteilt ist, erlaubt einen Begriff gesellschaftlicher Gesamtarbeit bzw. eines durch sie produzierten und reproduzierten (materiellen) gesellschaftlichen Reichtums. Erst die zusammenfassende Bildung großer Kapitalien über den Geldbedarf der spätfeudalen Fürsten für Kriegsführung, Hofhaltung und merkantile Vermehrung der nationalen, sprich königlichen Reichtums, Verwandlung der feudalen Renten in Geldrenten, Verallgemeinerung der Steuern, die auf „freigesetzte“ ländliche Bevölkerung und eine entstehende mittellose städtische Unterklasse traf, setzte einen Prozess in Gang, in dem die Reproduktion des Kapitals als Wert mit der Reproduktion und Zufuhr (bzw. auch Abfuhr) von Arbeitskräften zusammengeschlossen wurde, die sich vorwiegend über ihren Lohn auf den sich vertiefenden und ausweitenden Warenmärkten alimentieren mussten. Mit der entstehenden Manufaktur- und Industrieproduktion schuf das Kapital für sich einen Typus von zwischen den Privatproduzenten geteilter Arbeit, der den durch den Wert umrissenen homogenen gesellschaftlichen Raum zu füllen begann. „Der besondren Substanz, worin ein bestimmtes Kapital besteht, muß natürlich die Arbeit als besondre entsprechen, aber da das Kapital als solches gleichgültig gegen jede Besonderheit seiner Substanz und sowohl als die Totalität derselben, wie als Abstraktion von allen ihren Besonderheiten ist, so die ihm gegenüberstehende Arbeit hat subjektiv dieselbe Totalität und Abstraktion an sich. [. . .] Dieses ökonomische Verhältnis – der Charakter, den Kapitalist und Arbeiter als die Extreme eines Produktionsverhältnisses tragen – wird daher desto reiner und adäquater entwickelt, je mehr die Arbeit allen Kunstcharakter verliert, ihre besondre Fertigkeit immer mehr etwas Abstraktes, Gleichgültiges wird, und sie mehr und mehr rein abstrakte Tätigkeit [. . .] wird. [. . .] Hier zeigt es sich denn wieder, wie die besondre Bestimmtheit des Produktionsverhältnisses, der Kategorie – Kapital und Arbeit hier –, erst wahr wird mit der Entwicklung einer besondren materiellen Weise der Produktion und einer besondren Stufe der Entwicklung der industriellen Produktivkräfte (MEW 42, S. 218 f.). In dem Maße, in dem der

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Zur Diskussion der Konzepte von Karl August Wittfogel („hydraulische Gesellschaft“) und Lewis Mumford („Mega-Maschine“) vgl. u. a. Breuer 1991, Kößler 1993. 5 Dies bleibt allerdings Postulat, solange die Mechanismen oder Institutionen einer proportionalen Verteilung der Gesamtarbeit auf einzelne Produktionszweige nicht benannt werden können. 6 Vgl. Weber 1988, S. 298 ff.; zur Problematik der Kennzeichnung der antiken Sklaverei als Produktionsweise vgl. insb. Finley 1993, S. 210 ff.

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Arbeiter als Teil der Gattung seine schöpferische Kraft, seine Produktiv- oder Arbeitskraft an das Kapital verkauft, muss er verarmen, „indem die schöpferische Kraft seiner Arbeit als die Kraft des Kapitals, als fremde Macht sich ihm gegenüber etabliert“ (MEW 42, S. 228). Für die Entwicklung angemessener Begriffe ist demnach die tatsächlich irreversible historische Entwicklung entscheidend, die „Logik des Systems“ geht nicht seiner realen Etablierung voraus. Bevor die begriffliche Struktur, die einer Gesellschaft, hier der kapitalistischen Gesellschaft, immanent ist, entfaltet werden kann, muss sich diese auf ihren eigenen Grundlagen reproduzieren können. Ware, Geld, entlohnte Arbeit waren in vorkapitalistischer Gesellschaft lange vorhanden, wenn auch von verschiedener Bedeutung und unterschiedlicher Bedeutsamkeit, bevor sie vom Kapital in einer allseitigen arbeitsteiligen Warenproduktion zusammengeführt und zusammengeschlossen wurden. In der Differenz zwischen historischer Genese, die das historische Material von Ware, Geld, Arbeit ergreift und transformiert, und der begrifflichlogischen Struktur des „Systems“, liegen die Schwierigkeiten begründet, die Marx in den verschiedenen Anläufen zu bewältigen hatte, die er zur Formulierung der dem „System“ immanenten Widersprüche unternommen hat.7 Zumal das „System“ nur formell geschlossen ist („Waren produzieren Waren“), sofern die tatsächlichen „Springquellen“ des gesellschaftlichen Reichtums, die menschliche Arbeitsfähigkeit und Schöpferkraft und die Naturkräfte, etwa in Form der Bodenfruchtbarkeit und Energiequellen, nicht selbst kapitalistisch produziert werden können, sondern zunächst (durch Arbeit) „in Wert“ gesetzt werden müssen. Dieser Prozess der sog. Landnahme, nach außen wie nach innen (z. B. in Form eines auf die menschlichen Körper und die Gene zielenden Biokapitalismus, vgl. Rajan 2009), ist nicht abgeschlossen (s. auch Dörre 2013, 2016). Damit zusammenhängend ist weiterhin zu beachten, dass die vom Kapital subsumierte Arbeit nur einen Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit umfasst, die das lebendige Arbeitsvermögen reproduziert. Damit sind ganz andere Formen des gesellschaftlichen Reichtums denkbar, als die, auf die ihn die kapitalistische Produktionsweise als „Verwertung des Werts“ reduziert.

3

Der Begriff des Werts in den Kapital-Schriften von Karl Marx

3.1

Der gesellschaftliche Arbeitsprozess

Es war und konnte auch für Marx keine Frage sein, dass der gesellschaftliche Reichtum, der gesellschaftliche Surplus in gegenständlicher Form in der kapitalistischen oder in einer anderen Produktionsweise auf rationale Weise nichts anderes als das Ergebnis Mit den Grundrissen, der ersten und zweiten Auflage von Band I von „Das Kapital“ und dem Nachwort zur ersten Auflage, den Kommentaren zur Umformulierung oder „Popularisierung“ der Wertformanalyse im ersten Abschnitt liegen mindestens vier durchformulierte Fassungen vor (vgl. Heinrich 2008).

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der gleichzeitigen Anwendung von gesellschaftlich geteilter Arbeit auf ein heterogenes stoffliches Substrat darstellt und in dieser Weise eben als „gesellschaftliches Produkt“ zu verstehen ist. Er konnte sich dabei auch auf die bürgerlichen Ökonomen berufen, die begannen, den kategorialen Apparat für die moderne marktwirtschaftliche Ökonomie bereit zu stellen. So waren Marx die Ausführungen von Adam Smith zur „produktiven Arbeit“ bekannt: „So setzt die Arbeit eines Manufakturarbeiters im allgemeinen dem Werte der Materialien, an denen er arbeitet, den Wert seines eigenen Unterhalts und des Profits seines Meisters zu.8 [. . .] Allein die Arbeit des Manufakturarbeiters fixiert und realisiert sich in einem bestimmten Gegenstand oder in einer verkäuflichen Ware, die wenigstens noch eine Zeit lang, nachdem diese Arbeit schon vorbei, vorhält. Sie ist gleichsam eine bestimmte Menge angesammelter und aufgehobener Arbeit, die wenn’s nötig wird, bei irgendeiner anderen Gelegenheit verwendet werden kann“ (Smith 1776, Buch II, Drittes Kapitel, Bd 2, S. 80 f.).9 Smith sieht in den Produktionsmitteln wie in den Produkten eines Arbeitstages eine „Anhäufung“ von Arbeit. Die Werkzeuge und Hilfsmittel sind „vorgetane Arbeit“, „gleichsam eine Menge angesammelter und aufgehobener Arbeit“. Nach Lange gewinnt die Formel von der „aufgehäuften Arbeit (skraft)“ bei Marx im Kapital einen ontologischen Sinn (Lange 1980, S. 67). Marx macht jedoch pointiert deutlich, dass in der Ware als Produkt der Arbeit kein „Atom“ Arbeit „steckt“, dass die Metaphern vom „Stecken“ oder Anhäufen nicht physikalisch gedeutet werden dürfen. Der Vorwurf eines „pseudokonkretistischen Sinns“, den Lange gegen die Werttheorie im „Kapital“ erhebt, geht wohl auf ein seinerseits konkretistisches Missverständnis des Phänomens der Vergegenständlichung zurück. Marx lobt ja Adam Smith für seine Auffassung der Rolle der produktiven Arbeit: „Es war ein ungeheurer Fortschritt von Adam Smith, jede Bestimmtheit der reichtumerzeugenden Tätigkeit fortzuwerfen – Arbeit schlechthin, weder Manufaktur- noch kommerzielle, noch Agrikulturarbeit, aber sowohl die eine wie die andre. Mit der abstrakten Allgemeinheit der reichtumsschaffenden Tätigkeit nun auch die Allgemeinheit des als Reichtum bestimmten Gegenstandes, Produkt überhaupt oder wieder Arbeit überhaupt, aber als vergangene, vergegenständlichte Arbeit. [. . .] Hier also wird die Abstraktion der Kategorie ‚Arbeit‘, ‚Arbeit überhaupt‘, ‚Arbeit sans phrase‘, der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie, erst praktisch wahr“ (MEW 42, S. 39). Die kategoriale Teilung des Produktions- oder Arbeitsvorgangs in vorgegebene, stofflich fixierte Elemente auf der einen und auf sie angewendete zweckmäßige Arbeit, zweckmäßige Verausgabung menschlicher Arbeitskraft auf der anderen Seite ist gewissermaßen ein a priori der Marxschen Sicht von Arbeit im Allgemeinen und entspricht in dieser Weise einem Paradigma der Veräußerung und Vergegenständli-

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Marx wird die hier von Smith geäußerte Auffassung des Lohns als Bestandteil des Warenwertes später kategorisch zurückweisen. 9 Entgegen der Behauptung von Lange, dass sich im ersten Satz des hier Zitierten bei Smith eine „Faktorentheorie“ des Wertes ankündigt, wird in der zitierten Aussage der Profit des Meisters durch die Arbeit des Arbeiters zugesetzt.

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chung menschlicher, schöpferischer Kräfte.10 „Arbeitskraft“ ist also nicht einfach nur „Kraft“ oder „Energie“, sondern zweckmäßig verausgabte bzw. verausgabungsfähige Energie, die nützliche, sinnvolle Gegenstände, d. h. Gebrauchswerte hervorbringt. Die Eigenschaft von Arbeiten, sich miteinander zu verknüpfen oder im Stoff in Gestalt neu geschaffener Formen „aufzuhäufen“, ergibt sich allein aus ihrer Zweckmäßigkeit. Das gilt für Tätigkeiten wie Kartoffelschälen gleichermaßen wie für das Schreiben von Texten oder die Montage von Autos. Die Herstellung eines Holzstuhls löst sich rückwärts gesehen auf in eine Reihe, die von der Montage der vorgefertigten Einzelteile bis zum gesägten und zuvor geschlagenen Holz reicht, das im Wald gewissermaßen als Substrat und natürliches Potenzial vorgefunden wurde. Die Hinzufügung von Arbeit wird auf jeder Stufe durch die Zweckmäßigkeit des Vorprodukts bestimmt. In diesem Sinne ist eine Glühbirne als hergestelltes Produkt das Ergebnis einer betrieblichen kooperativen Gesamtarbeit oder, wie Marx sagt, eines Gesamtarbeiters, bzw. in der Warenproduktion des arbeitsteiligen Zusammenfügens der Ergebnisse unabhängiger Privatarbeiten. Im Rahmen des Gesamtarbeiters kommt es zu Aufspaltungen der Komponenten der Arbeit in „körperliche“ und „geistige“ Arbeiten und zur Mechanisierung von Arbeitsverrichtungen. Viele sog. Dienstleistungen sind nichts anderes als Abspaltungen und Auslagerungen von Teilen der Gesamtarbeit, die in ein Endprodukt eingehen, bevor diese in der konsumtiven oder produktiven Verwendung wieder verzehrt wird. Solange ein Produkt verwendet werden kann, hält die aufgewendete Arbeit, wie Smith sagt, zeitlich vor.11 Im fünften Kapitel von „Das Kapital“ bestimmt Marx Arbeit allgemein als „Stoffwechsel“ mit der Natur: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“ (MEW 23, S. 192). Im Hinblick auf das Veräußerungs-Vergegenständlichungs-Konzept bleibt Arbeit in dieser Aussage unterbestimmt, da es die Formung der Stoffe zu Gebrauchswerten ist, wodurch die Arbeit von einer reinen Energieleistung unterschieden ist, die auch von Tieren erbracht werden können. Allerdings scheinen sich die Verhältnisse auf der Ebene der Anwendung der „großen Maschinerie“ zu verkehren, wenn den Maschinen nun die Aufgabe zuzukommen scheint, möglichst viel Arbeitskraft der Arbeitenden zu ihrer Verwertung als Kapital „anzusaugen“ und die Arbeitenden zum „Anhängsel“ der Maschinen werden. Das ändert für Marx jedoch nichts am Grundverhältnis: „Erst in der großen Industrie lernt der Mensch, das Produkt seiner vergangnen bereits vergegenständlichten Arbeit auf großem Maßstab gleich einer Naturkraft umsonst wirken zu lassen“ (MEW 23, S. 409). Im „Maschinenfragment“ der „Grundrisse“ Man könnte auch von einem „humanistischen Standpunkt“ sprechen, von dem aus es allein die formende Kraft des Menschen (und nicht die von Tieren oder anderen Naturkräften) ist, die seine gegenständliche Welt schafft. Dagegen spricht nicht, dass unter der Regie des Kapitals die formenden Kräfte auf die Maschinen übergegangen scheinen, die nun von den Arbeitskräften bedient werden. Das ist der „Standpunkt“ des Kapitals, das die „Produktivkräfte der Arbeit“, zu denen auch Wissenschaft und Technologie gehören, gratis oder gegen Zahlung verwertet. 11 Vom „Standpunkt“ des Kapitals aus erscheint die gesellschaftliche Arbeit jedoch unterteilt in „produktive“ und „unproduktive“ Arbeiten (vgl. weiter unten „Was ist Arbeit?“). 10

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heißt es: „In der Maschinerie tritt die vergegenständlichte Arbeit der lebendigen Arbeit im Arbeitsprozess selbst als die sie beherrschende Macht gegenüber, die das Kapital als Aneignung der lebendigen Arbeit seiner Form nach ist“ (MEW 42, S. 593). Es ist vor allem das Wissen bzw. die Wissenschaft, die im „fixen Kapital“ der „großen Maschinerie“ den ArbeiterInnen gegenübertritt und sie zu einem „lebendige(n) Zbehör“ der Maschinen macht und ihre Arbeit auf „eine bloße Abstraktion der Tätigkeit beschränkt“ (ebd.). „Die Akkumulation des Wissens und des Geschicks, der allgemeinen Produktivkräfte des gesellschaftlichen Hirns, ist so der Arbeit gegenüber absorbiert in dem Kapital und erscheint daher als Eigenschaft des Kapitals, und bestimmter des Capital fixe, soweit es als eigentliches Produktionsinstrument in den Produktionsprozess tritt“ (MEW 42, S. 594). Die Anwendung der großen Maschinerie führt zu einer Intensivierung der Verausgabung von Arbeitskraft und steigert die Wirkungen der Kooperation im Betrieb. Der vereinzelte Arbeiter wird durch den vergesellschafteten verdrängt. „Die Maschinerie [funktioniert] nur in der Hand unmittelbar vergesellschafteter oder gemeinsamer Arbeit“ (MEW 23, S. 407). Die Kräfte der Kooperation fallen dem Kapital als Gratisproduktivkraft zu, wie es sich allgemein die Produktivkraft der Arbeit als seine anzueignen scheint.12 Dies ist die „verselbständigte und entfremdete Gestalt, welche eigene die kapitalistische Produktionsweise überhaupt den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsprodukt gegenüber dem Arbeiter gibt [. . .]“ (MEW 23, S. 455).

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Tauschwert und Wert

Bevor dargestellt werden kann, in welcher Weise der gesellschaftliche Arbeitsprozess unter der Regie des Kapitals gleichzeitig Verwertungsprozess ist, also Vermehrung des zur Produktion von Waren vorgeschossenen Werts, ist es wichtig zu zeigen, dass bei Marx das Ergebnis des Arbeitsprozesses, sprich eines gesellschaftlichen Arbeitstages, nichts anderes ist als die in Form der Gebrauchsgegenstände „aufgehäufte“ Arbeit, wobei die Aufhäufung nicht physikalisch zu verstehen ist, sondern als zweckmäßige Verbindung vorgetaner mit in der Periode verrichteter Arbeit in einem materiellen Substrat.13 Es ist also nicht die Produktion von Werten, die zu einer „Vermessung“ des gesellschaftlichen Produkts durch Arbeit führt. Umgekehrt vielmehr ist es die gesellschaftlich verausgabte, nützlich-notwendige Arbeit, die in der kapitalistischen Produktionsweise die Form des Wertes annimmt. Marx zeigt, dass dies notwendiger Weise dann so sein muss, wenn alle Produkte des zusammen12

In den Augen der Operaisten, aber auch bei Arthur oder Postone, führt der Kampf der Massenarbeiter in der Fabrik gegen das Kapital zu einem Punkt der Immaterialisierung der Arbeit und des von Marx im sog. Maschinenfragment ins Auge gefassten Zusammenbruchs der Mehrwertproduktion, wenn im Reich sich selbst programmierender Maschinen den Menschen nur noch Restaufgaben bleiben (zum sog. Kognitiven Kapitalismus Lorey und Neundlinger 2012). 13 Die Analyse sog. Dienstleistungen, die nicht Teil der Warenproduktion ist, in denen die nützliche Tätigkeit unmittelbar konsumiert wird (etwa beim Friseur oder im Symphoniekonzert), die auch unter der Regie eines Kapitals stehen können, muss hier zunächst außerhalb der Betrachtung bleiben.

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gefassten gesellschaftlichen Arbeitstages die Form von selbstständigen Waren annehmen, die sich gegeneinander austauschen müssen, die Stelle oder die Hände wechseln, wie Marx sagt, um den nach ihrem nützlichen Charakter, ihrem Gebrauchswert, zweckmäßigen Ort ihrer konsumtiven oder produktiven Verwendung zu finden. Alle Produktionsvoraussetzungen, die als Waren in die Produktion eingehen, müssen aus den produzierten Waren letztlich ersetzt oder substituiert werden.14 Der Ausgangspunkt bei Marx ist nicht das Aufeinandertreffen zweier vereinzelter Waren, die sich tauschen sollen – eine weitgehend fiktive Situation15 – sondern der allgemeine Austausch, in dem jede Ware im Prinzip mit jeder anderen Ware austauschbar ist, wenn also die Austauschraten zwischen den Quantitäten je zweier einzelner Warensorten konsistent sind, d. h. der Anforderung der Transitivität genügen.16 In dieser allseitigen und allgemeinen Austauschbarkeit der Waren gegeneinander in ihrer Gesamtheit entsteht, wie Marx in der sog. Wertformanalyse im 1. Kapitel von „Das Kapital“ demonstriert, der „Wert“ als eine den Tauschrelationen immanente Größe, quasi als einigendes Band, als „Synthesis“ der Privatarbeiten oder emergenter Schwerpunkt der allseitigen Transaktionen. Marx hatte sich zu Beginn von das „Kapital“ die Aufgabe gestellt, zu zeigen, wie aus Nicht-Valorem (Backhaus 2011) Wert entsteht, ohne dass bereits Wert in Form von Preisen oder als Geld, als interindividuelle Nutzenschätzung oder auch als „Arbeitsmenge“ vorausgesetzt wird.17 Wert muss unter Absehung aller „Wertgrößen“ wie Geld und Kapital aus den Austauschproportionen der Waren selbst erklärbar sein. In der Darstellung zu Beginn von „Das Kapital“ stehen sich daher (in einer nur in gedanklicher Abstraktion nachvollziehbaren Situation) nur die (stummen) Waren (und hinter ihnen ihre Besitzer) gegenüber, die, eben unter Absehung des Geldes, allseitig in transitiven

Ausgenommen hiervon sind sog. „freie Produktionsvoraussetzungen“, die dem Kapital zu einem bestimmten Zeitpunkt nichts kosten (wie die Sonnenenergie), die aber unter bestimmten Bedingungen zu den vom Kapital herzustellenden oder zu kompensierenden Voraussetzungen seiner Produktion werden können (Abfallbeseitigung, Emissionsschutz etc.). 15 In frühen Stadien des Naturaltausches können in dieser Form spezifische Überschüsse von Gruppen/Gesellschaften den Eigentümer wechseln, ohne dass sie als „Äquivalente“ gelten mussten. 16 Vgl. Kirchhoff und Reutlinger 2006, S. 210 f. Entscheidend sind hier die materialen Voraussetzungen einer solchen nominellen Transitivität, die nur bei Marktgängigkeit aller Waren auf einem umfassenden Markt (Weltmarkt) der Tendenz nach zu realisieren sind, was im Ansatz heute mit elektronischen Börsen bewerkstelligt werden könnte. 17 Insbesondere war von Marx zu zeigen, dass Wert nicht kategorial gleich aufgewendeter Arbeit ist, wie einige Sozialisten meinten, die Geld durch „Arbeitszettel“ ersetzen wollten. Der den Waren als Äquivalenten zukommende Wert ist als Resultat der faktischen Gleichsetzungen im Tausch unabhängig davon, wodurch die Gleichsetzungen reguliert werden. Der Wert als Form der Waren ist unabhängig von der Bestimmung der Wertsubstanz, die bei den Klassikern nicht unterschieden wurden. 14

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Proportionen, ihr Plätze zu wechseln haben. Der Wert erscheint gewissermaßen der Schrittmacher dieses stummen Reigens, ist jedoch seine Resultante. Das erste Kapitel des Kapital, Band I ist von einer orthodoxen Marx-Interpretation, die von Engels maßgeblich vorformuliert wurde, als Darstellung einer „einfachen Warenproduktion“ gelesen worden, in der die Waren ausschließlich Produkte der Eigenarbeit ihrer Eigentümer sind. Für eine solche vorkapitalistische Warenproduktion hatten auch die frühen bürgerlichen Ökonomen angenommen, dass es nur einen Produktionsfaktor, sprich die Arbeit, gab. Eine solche „einfache Warenproduktion“, in der der „gesellschaftliche Reichtum“ bereits allgemein die Form von Waren angenommen hat, ist jedoch historisch eine Fiktion (vgl. etwa Rakowitz 2000; dagegen Haug 2005).18 Marx macht wiederholt deutlich, dass der von ihm unternommenen Analyse der Wertformen und, daraus hervorgehend, des Geldes eine verallgemeinerte Warenproduktion als kapitalistische Produktionsweise vorausgesetzt ist, auch wenn in Analyse der logisch/begrifflichen Struktur der Austauschverhältnisse die Gesamtheit dieser Produktionsweise zunächst nicht thematisiert wird. Umgekehrt wird von Marx gezeigt, dass die verallgemeinerten Austauschverhältnisse der gesellschaftlichen Arbeitsprodukte die kapitalistische Produktionsweise implizieren, und daher die Analyse auf gedanklichem/logischen Wege von der Ware über das Geld zum Kapital „fortschreiten“ kann.19 Die Analyse der Form des Werts untersucht zunächst die unterschiedlichen Wertformen – relative Wertform, Äquivalentform, entfaltete Wertform und allgemeine Wertform. Auch hier handelt es sich um eine logisch/begriffliche, nicht aber um eine historische Abfolge. Als Ausgangspunkt dieser Analyse setzt Marx dementsprechend eine Situation, in der die Waren, als Resultat von Tauschvorgängen zwischen ihren Besitzern, eine umfassende Kette von transitiven Austauschrelationen bilden, die ihre Tauschbarkeit als Äquivalente ausdrücken.20 Innerhalb der gegebenen

Die Vorstellung einer vorkapitalistischen oder nicht-kapitalistischen „einfachen“ Warenproduktion, in der die Waren zu ihren „Arbeitswerten“ getauscht werden, hat zur für die theoretische und politische Diskussion und Praxis in der an Marx orientierten Linken, so auch in der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, weitreichende Konsequenzen gehabt, da sie durch das Kapital, insbesondere als Monopolkapital, bereits eine Verfälschung der auf gesellschaftlicher Arbeit beruhenden Wertstruktur gegeben sah (vgl. weiter unten die Diskussion um Friedrich Pollock). Einflussreiche Theoretiker wie Karl Kautsky, Ernest Mandel oder Paul M. Sweezy sind hier zu nennen. Sie bildete aber auch bei der Frage einer nicht-kapitalistischen, sprich sozialistischen Warenproduktion einen zentralen Ausgangspunkt. 19 Wieweit dieses von ihm tatsächlich zwingend durchgeführt wurde, bleibt unter den Debattand_innen einer „Neuen Kapitallektüre“ umstritten (vgl. zum „Übergang ins Kapital“ Heinrich 2003, S. 253 ff.). 20 Die Austauschverhältnisse sind zugleich symmetrisch, aber nicht reflexiv, da eine Ware sich nicht gegen sich selbst tauschen kann bzw. der Wert einer Ware nicht durch diese selbst, sondern nur durch ihren Tauschwert, d. h. durch die mit ihr zum Tausch anstehende Ware ausgedrückt oder gemessen werden kann (vgl. Schlaudt 2011). 18

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Äquivalentenkette dann bietet Austausch einer Einheit der Ware A gegen eine Menge der Ware B keinen „Vorteil“ (in Bezug auf weitere Transaktionen im Rahmen der Äquivalentenkette) gegenüber dem Austausch mit einer Menge der Ware C.21 Die objektiv aus oder im Tausch sich ergebenden Äquivalenzen zwischen allen

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Entscheidend ist hier, dass Äquivalenz nicht als vorausgesetzte Gleichheit von Wertgrößen verstanden wird, sondern als das Ergebnis der allseitigen, unabhängigen Aktionen der am Markt Beteiligten, die sich als gleichberechtigte (wenn auch nicht als materialiter gleiche) Eigentümer ihrer Waren anerkennen. Marx sah als Voraussetzung für den Äquivalententausch das Vorhandensein eines Begriffs „menschlicher Gleichheit“ an, die es für Aristoteles in der Sklavenhaltergesellschaft nicht geben konnte (MEW 23, S. 74) Diese ist für ihn erst möglich „in einer Gesellschaft, worin die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsproduktes [. . .] ist“ (ebd.). Aristoteles sah in der „Nikomachischen Ethik“ die im Tausch der Ware gegen Geld herrschende „ausgleichende Gerechtigkeit“ nur als gesellschaftlichen Notbehelf gegenüber der „distributiven Gerechtigkeit“, die die Ungleichheit der Menschen berücksichtigt (vgl. Castoriadis 1983). Auch für Marx ist jedoch die „Gleichheit der Warenbesitzer“ im Kapitalismus nur ein „Notbehelf“ oder ein „Zwischenstadium“ auf dem Weg ins „Reich der Freiheit“ (Reitter 2011, S. 201 ff.). An dieser Stelle ist auch ein Blick auf die u. a. von Marcel Mauss untersuchten Beziehungen eines „Gaben-Tausches“ oder einer „Geschenkökonomie“ aufschlussreich. (Beide Begriffe sind allerdings problematisch, da sie schon ein Verständnis von Tausch bzw. Ökonomie implizieren, das erst an den Verhältnissen zu bilden wäre.) In den Untersuchungen zur Praxis der Gabe (u. a. auf den Tobriand-Inseln und bei den Indianervölkern der amerikanischen Nordwestküste) stieß Mauss auf elementare Formen der Herstellung von verpflichtenden Bindungen zwischen gesellschaftlichen Einheiten (Familien, Stammeshälften, Clans). Die Gaben-Beziehung ist dreigliedrig und besteht aus der Verpflichtung zur Gabe, zur Annahme und zur Erwiderung. Die Gaben-Beziehung ist daher nicht mit einer „Tauschbeziehung“ oder der Verpflichtung zur Reziprozität identisch, sondern geht ihr genetisch voraus. Zu schnell wird das von Mauss beschriebene „Geben von Gaben“ als elementare Form des „Tausches“, also als ökonomische Form begriffen. Die Gaben stiften „Bündnisse“ zwischen Familien, Gruppen, „Stämmen“, sprich zwischen Kollektiven, durch Geben und Nehmen von Töchtern oder Schwestern, durch Feste, den Konsum von Überschüssen, etwa den bei den Häuptlingen akkumulierten Reichtum an Schweinen, die Entsendung kostbarer Gegenstände auf lange, überseeische Routen der Zirkulation wie beim Kula-Ringtausch oder die demonstrative Zerstörung von Reichtum (Matten, Kupferplatten) im Potlatsch. Die Gaben haben stets einen zeremoniellen Charakter und sind in rituelle Verrichtungen eingebettet. Sie sind aber auch nicht frei von „ökonomischen“ Motivationen, insofern der Geber, der einen wertvollen Gegenstand in die Zirkulation, etwa im Kula-Ringtausch auf eine unsichere Reise gibt, eine mit einem „Wertzuwachs“ verbundene Rückkehr in Form einer Gegengabe erwartet. Die archaischen Gesellschaften hatten nach Mauss einen gewissen Begriff vom Wert der Dinge, durch den Überschüsse sichtbar werden, ein „Mehr“ in den Gabe-Spielen des Potlatsch, das verschwendet werden kann. Die kostbaren Dinge der archaischen Gesellschaften hatten auch eine „Kaufkraft“, und bestimmte von ihnen hatten die Kraft, Schulden zu tilgen (Mauss 2015, S. 49). Jedoch waren die Quantitäten nicht fixiert und variierten von Situation zu Situation. Der Preis der aufgefädelten Muschelschnüre, die nach der Handspanne des Gebers bemessen wurden, steigt so mit Zahl und Umfang der Transaktionen (Mauss 2015, S. 49 ff.). Die Bezahlung mit archaischem „Geld“ stellt nicht die Beendigung eines Tausches dar, sondern ein Vertragssiegel oder Unterpfand für die Überlassung eines Gegenstandes oder einer Frau aus einem Verband an einen anderen. Auch Simmel erkennt im Tausch ursprünglich eine Friedensstiftung (GSG 6, S. 89). In diesen zum Teil „ziemlich aufgeklärten Gesellschaften“ zirkuliert nach Mauss etwas ganz Anderes als das „Nützliche“ (Mauss 1978, S. 131).

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Waren (einschließlich der Geldware) sind die logische und materielle Voraussetzung für Wertbegriff und Wert.22 Indem die Waren des „Warenberges“ sich gegeneinander tauschen, bilden sie Tauschwerte für einander (x Ware A = y Ware B). Sie können getauscht werden, weil für die Warenbesitzer die anderen Waren Gebrauchswerte der unterschiedlichsten Art darstellen, die eigenen dagegen Tauschwerte. Der Tauschwert einer Ware kann hier nur im Gebrauchswertkörper der Ware erscheinen, mit der sie jeweils zu tauschen ist. Erst in der Spiegelung an einer anderen Ware erscheint die Ware als ein Doppeltes: Gebrauchswert und Tauschwert. Bis hierher ist der Tauschwert ein relativer Tauschwert ausgedrückt in Mengen von Waren (beliebiger Art), gegen die eine Ware getauscht werden kann. Von diesem System der Tauschwerte unterscheidet Marx die Werte oder den Wert, dessen Erscheinungsform nun der Tauschwert ist. Der Wert ist die Einheit oder Wertgröße, die im System der relativen Tauschwerte als seinen numerischen Ausdrücken in der Kette oder im Netzwerk von Äquivalenten entsteht, und im allgemeinen Äquivalent fixiert wird.23 In dem der Tauschwert einer Ware sich in verschiedenen Quanten anderer Waren ausdrückt, verweist er auf einen eigenen Inhalt als Wert. „Die gültigen Tauschwerte derselben Ware drücken ein Gleiches aus“ (MEW 23, S. 51). (Wohlgemerkt in der vorgestellten Äquivalentenkette, während in realen Situation die Tauschwerte durch eine Vielzahl von Zufälligkeiten bestimmt sein können.) Dieses unbenannte, dimensionslose Dritte ist „[d]as Gemeinsame, was sich im Austauschverhältnis oder Tauschwert der Ware darstellt, . . . also ihr Wert“ (MEW 23, S. 53).24 „Nach Schlaudt zeigt Marx in der Wertformanalyse, wie man unter Verzicht auf Letztbegründung in der immer rein relationalen Größenkenntnis zu einem Größenausdruck gelangt, der allen praktischen Bedürfnissen genügt“ (Schlaudt 2011, S. 260). Die Tauschgleichung ersetzt die benannten Warenquantitäten „durch eine unbenannte, die nichts mehr als Quantität schlechthin ist, unbezogen auf jegliche Art von Qualität.“ (Sohn-Rethel 1970, S. 75)25 Real wird der abstrakte Wert dadurch, dass die Waren tatsächlich

Die Äquivalenzrelationen oder „gültigen Tauschwerte“ (MEW 23, S. 51) sind als Wertrelationen unabhängig von den Wollungen der Austauschenden und nur begrenzt bewußtseinsfähig (etwa in Vorstellungen vom intrinsischen Wert einer Sache) und werden überdeckt von Bedürfnissen und Nutzenvorstellungen, den Simmelschen Begehrungen. 23 In der Ersten Auflage von „Das Kapital“ heißt es: „Die Waaren [sind] zunächst als Werte schlechthin zu betrachten. Das Wertsein der Ware bildet ‚ihre Einheit‘“ (MEGA II/5, S. 19). 24 Reichelt spricht die gesellschaftstheoretische Bedeutung dieser Einheit aus: „Unmittelbar sind die Produkte lediglich konkrete Gebrauchsdinge, denen man nicht ansieht, daß sie Teil einer Einheit sind: daß ein Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit zu ihrer Herstellung aufgewendet wurde. Wenn aber die der Gesamtgesellschaft zur Verfügung stehende Arbeitszeit nach Maßgabe bestimmter Bedürfnisstrukturen auf die verschiedenen Produktionszweige verteilt werden soll, so ist das nur möglich, wenn die verschiedenen Produkte als quantitativ verschiedene Ausdrücke derselben Einheit in Erscheinung treten. Das ist der Schlüsselgedanke der Marxschen Wert- und Geldtheorie“ (Reichelt 2001, S. 161). 25 Keynes behilft sich mit dem Ausdruck „Rechnungseinheit“, also jener Einheit, in der Schulden, Preise und allgemeine Kaufkraft ausgedrückt werden. „Die Rechnungseinheit ist die Beschreibung, das Geld aber das Ding, das dieser Beschreibung entspricht“ (Keynes 1931, S. 3, zit. nach Krüger 2012, S. 43). 22

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ihren Austausch vollziehen. „Die Dinge A und B sind hier nicht Waren vor dem Austausch, sondern werden es erst durch denselben“ (MEW 23, S. 102). „Marx führt den Wertbegriff in der Tat erst auf der Grundlage des realisierten Tausches ein [. . .]“ (Schlaudt 2011, S. 265). Dabei ist hier nicht ein einzelner Tauschakt gemeint, sondern der allseitige Tausch. Der Wert als eine bestimmte Größe von Dingen wird im Unterschied zu physikalischen Größen der Realwelt durch die gesellschaftliche Praxis des allseitigen Warentausches geschaffen und ist an diesen intrinsisch gebunden. Er ist als abstrakte Größe real. Das Geld in seiner Funktion als Maß des Wertes kann es daher, unbeschadet seiner Verwendung in anderen Gesellschaftsformen, nur in der Waren produzierenden Gesellschaft geben.

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Wert und Geld

Der Wert seiner Waren bildet für den Besitzer eine „potentielle Verfügungsmacht“ (Iber 2006, S. 190) über einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums oder auch einen Anspruch auf einen solchen Teil, der ihm als Privateigentümer an Produktionsmitteln und damit Warenproduzent gesellschaftlich zuerkannt werden soll. Wie auch Simmel erkennt, liegt im (potenziellen) Wert einer Ware eine Forderung an Andere, letztlich an eine vorgestellte „Gemeinschaft der Warenproduzenten“. Diese Macht oder dieser Anspruch auf einen Teil des gesellschaftlichen Arbeitsproduktes liegen in sachlicher Gestalt, eben den Waren, vor. Dieser Anspruch des privaten Eigentums an den produzierten Waren auf einen Teil des gesellschaftlichen Gesamtarbeitsprodukts ist als Wertausdruck abstrakt, sofern er sich auf beliebig viele Warenkörbe richten kann. Seinen angemessenen Ausdruck findet dieser abstrakte Anspruch auf einen beliebigen Teil des gesellschaftlichen Reichtums erst im allgemeinen Äquivalent, d. h. einer der Waren in der Äquivalentenkette, in der sich die Tauschwerte aller anderen Waren darstellen. Durch Aussonderung dieser Ware als „gesellschaftliche Tat“ (Marx) wird diese zum Geld. Das Geld stellt das „äußere Maß“ der Warenwerte dar. (Das „innere Maß“ ist die „abstrakte Arbeit“ s. u.). Mit der Aussonderung der Geldware zum vergegenständlichten Wert ist die Aquivalentenkette auch gewissermaßen materiell/stofflich fundiert, was zu vielfachen Spekulationen über einen notwendigen oder auch letztlich überflüssigen „Substanzwert“ (Simmel) des Geldes Anlass gibt.26 Die Aussonderung der Geldware als „verselbständigter Wert“ entspricht der Logik der Wertformen unter den Bedingungen allgemeiner Warenproduktion. Davon bleibt unberührt, dass Geld in den verschiedenen Formen auch vor und außerhalb der kapitalistischen Produktionsweise in Gebrauch war und

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Neben einer Geldware, etwa im Goldstandard, sind auch andere Fundierungen des Geldes möglich, in denen der Wert einen gesellschaftlich geltenden, etwa durch Staats- und Bankautorität gesicherten Ausdruck besitzen muss. Jedoch verhindert dies nicht ab und an die „Flucht ins Gold“ angesichts einer den Warenkreislauf erschütternden Krise.

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ist.27 Analytisch wichtig für Marx war es, den Wert aus den Waren und das Geld aus dem Wert zu entwickeln und nicht umgekehrt den Wert einer Ware aus ihrem Austausch mit Geld zu erklären. „Was mittels Wertformanalyse gezeigt werden soll, ist, dass unter kapitalistischen Bedingungen der Warenwert einen selbstständigen und zugleich allgemeinen Wertausdruck benötigt.“ Hiernach kann „der Wert in einer kapitalistischen Ökonomie nicht existieren (und verstanden werden) ohne Bezug auf Geld“ (Heinrich 2003a).28 Die Marxsche Werttheorie ist wesentlich Geldtheorie. Es ging Marx darum zu zeigen, dass eine allseitig Waren produzierende Gesellschaft über Geld verfügen muss, das wiederum in dem von der gesellschaftlichen Arbeit produzierten Warenkosmos fundiert sein muss. Keine gesellschaftliche Warenproduktion ohne Geld. Geld ist die abstrakte und zugleich gegenständliche Durchgangsform aller als Waren produzierten Elemente des gesellschaftlichen Reichtums. Als diese Durchgangsform bildet es das „obskure Objekt der Begierde“, dem das Kapital nachjagt, ohne in ihm den Wert festhalten zu können. Andererseits sind Wert und Geld nicht identisch: Der Wert ist der Grund oder die Substanz des Geldes, wie die gesellschaftliche Arbeit Grund oder Substanz des Wertes ist. Ihre kategoriale Selbstständigkeit reflektiert die Selbstständigkeit ihrer Bewegungen. Mit seiner Verselbstständigung vollzieht das Geld eigene Wertbewegungen (etwa in Abhängigkeit von der Goldzufuhr), die sich in seiner „Kaufkraft“ ausdrücken. Mit dem Geld sind die Waren nun durch Preise bestimmt und Wert und Preis einer Ware treten im Medium des Geldes auseinander. Die Ebene der Werte verschwindet vollständig von der Oberfläche der zu Preisen gegen Geld getauschten Waren und kann nur theoretisch erschlossen werden. Marx zeigt jedoch, dass das Auseinandertreten von Werten und Preisen eine notwendige Bedingung für die Reproduktion der als Kapital in den verschiedenen Anlagesphären der Warenproduktion vorgeschossenen Werte darstellt, die einen Anspruch auf durchschnittlichen Anteil am gesellschaftlichen Wertprodukt in der Bepreisung ihrer Waren anmelden.29

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Der ambitionierte Versuch von Sohn-Rethel, formuliert auch im Austausch mit Adorno (1936/1965), in dem entstehenden Geldgebrauch in Griechenland ab dem 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bereits den „Wertbegriff“ angelegt zu sehen, der nach Sohn-Rethel maßgebend für die Entstehung der griechischen Philosophie und Mathematik und des „abstrakten Denkens“ oder „reinen Verstandes“ sein soll, kann hier nicht näher gewürdigt werden (Sohn-Rethel 1978). Er hat mit der Marxschen Wertanalyse wenig gemein, insofern er eine verallgemeinerte Tauschgesellschaft vor der Herausbildung einer verallgemeinerten Warenproduktion postuliert. (Zur antiken griechischen Ökonomie vgl. Finley 1981; Rostovtzeff 1998. Sohn-Rethel stützt sich insbesondere auf Thomson 1961a, b). 28 Heinrich moniert, dass „[i]ndem Marx seine Geldtheorie an die Existenz einer Geldware knüpft, (. . .) er die abstrakteste Bestimmung des Geldes mit einer bestimmten historischen Geldform [verquickt]“ (Heinrich 2003a, S. 240). Nach Fieler hatte das Geldsystem zur Zeit der Abfassung von „Das Kapital“ einen gemischten Charakter aus Metallgeld und Banknoten, deren Bedeutung Marx für das Kreditsystem in Ansätzen im zweiten und dritten Band von „das Kapital“ würdigte. 29 Die Werte können in der kapitalistischen Welt auch nicht mehr wie in der Antike oder Scholastik als „gerechte Preise“ (iustum pretium) gelten (Lichtblau 2004, S. 586 f.). Die bürgerliche Ökonomie steht nicht mehr auf einer moralischen Grundlage, sondern erhebt sich auf der Basis eines Privateigentums, das, nur von den individuellen Interessen geleitet, die beste aller Welten hervorbringen soll.

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Es war für Marx entscheidend wichtig, den „Wert“ unabhängig von der aufgewendeten Arbeit, zumindest in einem gedanklichen Moment, zu fixieren. Daher ist die Auffindung des Werts in der Welt der sich gegenüberstehenden Warengestalten ein von der Analyse der Wertsubstanz unabhängiger und ihr notwendig vorausgehender Schritt. Darauf weist auch Rubin ausdrücklich hin (Rubin et al. 1975, S. 31 ff.). SohnRethel schreibt: „Der „Wert“ ist also nicht der Grund der Gleichung, sondern umgekehrt, das dem Tauschverhältnis inhärente und für die gesellschaftliche Synthesis notwendige Postulat der Tauschgleichung geht dem Wert voraus. Das gibt dem Wertbegriff den Anschein, als weise er auf ein in den Waren enthaltendes rein quantitatives Wesen hin“ (Sohn-Rethel 1970, S. 76). Die Wertform hat nach SohnRethel „keine inhärente Beziehung auf die Arbeit“ (ebd.) oder wie Marx sagt: „Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist“. Marx selbst bezeichnet die Herausarbeitung der Form des Werts gegenüber der Bestimmung der Wertsubstanz und der Wertgröße, die schon von den Klassikern ansatzweise geleistet war, als seine besondere Leistung. „Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen, Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat aber niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitgröße in der Wertgröße des Arbeitsproduktes darstellt?“ (MEW 23, S. 94 f.). Mit der Analyse der Form des Werts ist jedoch die Quelle des Wertes noch nicht benannt. Bliebe die Analyse an dieser Stelle stehen, dann wäre der Wert eine „substanzlose“ oder „qualitätslose Größe“ (so etwa bei Werner Sombart und anderen Geldtheoretikern; vgl. Backhaus 2002, S. 116), eine für die neo-kantianischen Wirtschaftstheoretiker „begriffliche Monstrosität“ (Backhaus), die auch von den neo-klassischen Ökonomen wie Schumpeter oder Ammon zwar ins Auge gefasst wird, aber als „unsinnig“ oder „metaphysisch“ verworfen wird, trotzdem sie, vor allem in der Makroökonomie, damit ungestört rechnen. Simmel behandelt in der „Philosophie des Geldes“ den Wert als „übersubjektiv, überindividuell“, als „sachliches Verhältnis“ ohne „sachliche Qualitäten“, gewissermaßen als ein „reines qualitätsloses Quantum“, das aus dem gegenseitigen Verhältnis der Dinge entsteht (Simmel GSG 6, S. 52 f.; auch Reichelt 2011, S. 236 f.). Das an den Dingen „haftende“ „ökonomische Wertquantum“ jedoch hat weder eine psychische noch physische Natur und wird von Simmel zu einem „übersubjektiven Etwas“ (Simmel 1989, S. 87) erklärt. Simmel benennt mit dem Begriff der „Realabstraktion“ (Simmel 1989, S. 57) einen objektiven Vorgang, den Austausch der Waren, der praktisch davon abstrahiert, dass die Dinge ungleich sind und eine Gleichheit derselben herstellt (auch Backhaus 2002, S. 117).30 Auch Sohn-Rethel gründet seinen Begriff der „Realabstraktion“ auf Ähnlich Ammon, der von den Preisausdrücken der Waren verlangt, „[. . .] daß sie etwas gemeinsames Soziales enthalten, eine Gleichartigkeit in Sozialer Beziehung aufweisen, d. h. eine Geleichartigkeit, die nur unter Voraussetzung eines sozialen Verkehrs, abgesehn davon aber nicht denkbar ist.[. . .] Zugleich darf sie aber als soziale Gleichartigkeit nicht bloß in Gedanken des einen oder anderen Individuums existieren, sondern muss eben für alle, einen geschlossenen Gesellschaftskreis bildenden Individuen in derselben Weise gelten“ (Hervorhebungen im Original, Ammon 1927, S. 314; zit. nach Eichler 2015, S. 158).

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die von den Eigenschaften der Warendinge abstrahierenden Tätigkeit des Tausches. „Der Austausch der Waren ist abstrakt, weil er von ihrem Gebrauch nicht nur verschieden, sondern zeitlich getrennt ist. Tauschhandlung und Gebrauchshandlung schließen einander in der Zeit aus“ (Sohn-Rethel 1970, S. 47). Diese Sicht ist nicht unplausibel, übersieht freilich, dass der Wert als „abstrakte Quantität“, die die Tauschgesellschaft durchzieht, sich aus den (quantitativen) Tauschrelationen der Waren herleitet, hinter denen sich nach Marx nichts anderes als die „abstrakte Arbeit“ verbergen kann. Gesellschaftliche Arbeit als Grund oder „Substanz“ des Wertes stand für Marx außer Frage, auch wenn die Produzenten kein Bewusstsein davon haben, dass sie ihre Arbeitsprodukte als Werte aufeinander beziehen, ein für Verselbstständigungen und Verkehrungen der bürgerlichen Gesellschaft „konstitutives Moment an Unbewußtheit“ (Reichelt 2011, S. 143). „Indem sie ihre verschiedenen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (MEW 23, S. 88).31 Marx sah es daher nicht für notwendig an, einen „Beweis“ für die gesellschaftliche Arbeit als „Substanz“ des Wertes zu erbringen („Das Geschwatz über die Notwendigkeit, den Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständigster Unwissenheit . . .“; Brief an Kugelmann vom 11.07.1868, MEW 32, S. 552 f.), auch wenn es in der zweiten Auflage von „Das Kapital“ Anzeichen einer Beweisführung gibt, die ihm vielfache höhnische Kritik etwa von Böhm-Bawerk eingetragen hat. „Das Problem, das sich Marx [. . .] stellt, besteht nicht darin zu ‚beweisen‘, daß die Arbeit Wertsubstanz ist, sondern darin, aus dieser gesellschaftlichen Form des Arbeitsprodukts den spezifisch gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, die sich so darstellt, zu rekonstruieren“ (Heinrich 1999, S. 204). Marx stellte sich die Frage, die sich nach ihm die „politische Ökonomie“ bis dahin nicht gestellt hatte, nämlich, „warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch die Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsproduktes darstellt“ (MEW 23, S. 94 f.). Für Marx konnte es neben der Arbeit rationaler Weise keine weiteren Produktionsfaktoren geben. Er kritisiert daher Smith scharf, der die Formen der Verteilung der „Wertschöpfung“ – das sind Arbeitslohn, Profit und Bodenrente – zu Faktoren der Entstehung umdeutet. In dieser „trinitarischen Formel“ sind für Marx alle Verkehrungen und Mystifizierungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften zusammengefasst. Gleiche Beiträge der Produktionsfaktoren zum Wertprodukt würde bedeuten, dass diese Faktoren kommensurabel sind, wenn sie dem Wert kommensurabel sind. Die Versuche der neoklassischen ökonomischen Theorie über

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Das heißt auch, dass die Äquivalenz der getauschten Warenwerte vor dem Austausch von den Tauschenden nicht notwendig als solche erkannt werden muss. Die Äquivalenz der Waren als Arbeitsprodukte setzt sich im Chaos des allseitigen Handelns nicht deshalb durch, weil die Beteiligten es so wollen, sondern weil es letztlich die verrichtete (produktive) Arbeit als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist, die faktisch und letztendlich (quasi mit der Kraft eines Naturgesetzes; MEW 32, S. 552 f.) als verbindendes Element der Wertsetzung und Werterhaltung im Reproduktionsprozess wirkt, d. h. auch makro-ökonomisch in den Wertschöpfungsprozessen zählt. Das muss sich auch empirisch zeigen (vgl. dazu Fröhlich 2009).

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die Bestimmung von Grenzproduktivitäten die Beiträge der als produktiv geltenden Faktoren zum Produkt nicht als einen Wert, sondern in einem ungeklärten physikalischen Sinne zu bestimmen, dürfen als untaugliche Modelle gelten, schon deshalb, weil die Gebrauchswerte nicht auf ein rein stoffliches Dasein reduziert werden können. Die Produktionsfaktorentheorie muss sich daher besonders bei der Erklärung von „Überschüssen“ in der Wertrechnung in Widersprüche verwickeln (Wasmus 1987). Die Frage der Kommensurabilität der verschiedenen in einer Arbeitsperiode an den verschiedenen Stellen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses verrichteten Tätigkeiten oder Arbeiten in der Schaffung der homogenen Warenwerte beantwortet Marx mit der Unterscheidung von konkreter und abstrakter Arbeit. Der Wert ist gewissermaßen eine Hohlform, „worin die Waaren als bloße Gallerte unterschiedsloser, gleichartiger, menschlicher Arbeit, d. h. als dingliche Ausdrücke derselben Arbeitssubstanz für einander erscheinen“ (MEGA II/5, S. 643). „Die Gleichheit toto coelo verschiedener Arbeiten kann nur in einer Abstraktion von ihrer wirklichen Ungleichheit bestehen, in der Reduktion auf den gemeinsamen Charakter, den sie als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, abstrakt menschliche Arbeit besitzen“ (MEW 23, S. 87 f.). Die Arbeit, als „Substanz“ in die leere Form des Werts gegossen, als „leere Formel“ (Arthur 2011, S. 290), muss um jene objektive Konsistenz der Tauschrelationen hervorzubringen oder sich ihr anzuschmiegen, in sich homogen sein, eben eine „Gallerte“. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, was „abstrakte Arbeit“ ist. Die Einführung des Begriffs der „abstrakten Arbeit“ auf der Ebene der Tauschwerte auf den ersten Seiten von „Das Kapital“ ist mit Problemen behaftet. „Der Schluß auf abstrakte Arbeit wird als rein logisches Erfordernis zur Erklärung des Werts präsentiert“ (Arthur 2011, S. 299). Trotzdem ist es notwendig, bei der Analyse der Wertform bereits die abstrakte Arbeit als inneres Wertmaß der Warenwerte, wenn diese auch noch nicht begrifflich erarbeitet sind, zu unterstellen, da die Konsistenz der Äquivalentenkette ein solches Maß erfordert.32 Auch das allgemeine Äquivalent erweist sich so von vorneherein als in der Substanz des Wertes als dem allgemeinen Wert der Waren verankert. Marx hatte hier keine andere Wahl, als das Geld als selbstständige Form des Werts in Form der Geldware, einer der Waren als Geld, einzuführen.33 Die Lösung der Fundierung von einer Geldware in der Gegenwart, die nur zum Teil durchgeführt ist, bedeutet auch nicht eine Lösung des Geldes (Zentralbanknoten) von der Warenwelt. An Stelle einer einzelnen Ware kann das

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Historisch nimmt die Herstellung einer konsistenten Wert-Ökonomie ihren Ausgangsprunkt bei der Geldgier, Geldnot, Geldaufhäufung der spätfeudalen Fürsten und Staaten zur Kriegsführung und merkantiler Politik, von der aus das Kapital mehr und mehr Produktionssektoren für sich erschließt und beginnt, einer realen Ökonomie der Arbeitszeit zu unterwerfen. 33 Das übersieht Simmel, der glaubt, einer irgendwie gebildeten Gesamtsumme von Warenwerten (wie immer diese ausdrückbar sind), eine nominale Gesamtsumme des verfügbaren Geldes gegenüberstellen zu können. Dies wird von seiner Interpretin leider anstandslos nachvollzogen (Cantó Milà 2005, S. 176 ff.).

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Geld etwa auch an einen Warenkorb (etwa eines vierköpfigen ArbeiterInnenhaushaltes) gebunden sein. Der Wert dagegen „haust weiter im Inneren der Warenwelt“. Der Begriff der „abstrakten Arbeit“ bleibt bei Marx ambivalent und mehrdeutig. Das zeigt seine doppelte Herkunft aus dem Warenverkehr wie aus dem Produktionsprozess des Kapitals, wie von Christopher J. Arthur oder Riccardo Bellofiore (2011) betont wird. Abstrakte Arbeit zeigt an, dass die Arbeit als Agens der Wertbildung unter den Verwertungsprozess des Kapitals subsumiert wird und so selbst formbestimmt ist. Befreit von ihren konkreten Bestimmungen wird die Arbeit im Verwertungsprozess zur Verausgabung von Arbeitskraft schlechthin, von „Muskel, Nerv, Gehirn“, auch wenn die jeweilige physische Verausgabung konkrete Arbeit oder Plackerei ist. Unter der Perspektive der Verausgabung einer „Kraft“, die in sich rein quantitativ bestimmt ist, erscheint die Arbeit ebenfalls nur quantitativ bestimmt durch die Zeit, in der sie in der Produktion verausgabt wird. Dabei kann allerdings die Intensität der Arbeit variieren, die „Poren des Arbeitstages“ können, wie Marx sagt, unterschiedlich stark verdichtet sein, etwa durch Erhöhung des Arbeitstempos, der Arbeitstakte und durch Verringerung der Arbeitspausen. Die Intensität der Verausgabung der Arbeitskraft in der Zeit ist daher als Moment der Wertbildung zu berücksichtigen, wie Jaques Bidet nachdrücklich einfordert (Bidet 2006, S. 30 ff.). Die Abstraktion von den konkreten Arbeiten unter der Form des Wertes ist keine nur gedankliche, sondern ebenso wie die Gleichsetzung, die Gleichgültigkeit der Waren, eine gesellschaftliche, die faktisch vollzogen wird. In diesem Sinne kann Rubin auch von einer „Realabstraktion“ sprechen (Rubin 1973, S. 112). Es ist das gesellschaftliche Absehen von den konkreten Eigenschaften der Arbeiten, die in der Verteilung der gesellschaftlich verfügbaren Arbeitszeit (ohne Ansehen der Person) auf die Arbeitssphären, die von den einzelnen Kapitalien blind gegenüber dem notwendigen Gesamtzusammenhang vollzogen wird, die die gesellschaftliche Arbeit zur „abstrakten Arbeit“ macht. Marx formuliert an verschiedenen Stellen eine Sicht, nach der die Wertbildung als Prozess der Verausgabung von menschlicher Arbeitskraft, gemessen in Zeiteinheiten, auch zu einer realen Entqualifizierung der Industriearbeit führe, durch die konkrete Arbeit durch Reduktion auf „einfache Arbeit“ auch real in „abstrakte Arbeit“ überführt werden würde. „Um die Tauschwerte der Waren an der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit zu messen, müssen die verschiedenen Arbeiten selbst reduziert sein auf unterschiedslose, gleichförmige, einfache Arbeit, kurz auf Arbeit, die qualitativ die selbe ist und sich daher nur quantitativ unterscheidet. Diese Reduktion erscheint als eine Abstraktion, aber es ist eine Abstraktion, die in dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß täglich vollzogen wird. (. . .) Diese Abstraktion der allgemeinen menschlichen Arbeit existiert in der Durchschnittsarbeit, die jedes Durchschnittsindividuum einer gegebenen Gesellschaft verrichten kann, eine bestimmte produktive Verausgabung von menschlichem Muskel, Nerv, Gehirn usw.“34 In der Sicht des Kapitals auf die betriebliche Gesamtarbeit geht es in der Tat darum, die Arbeiterinnen und Arbeiter an ihren verschiedenen Arbeitsplätzen

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Marx MEW 13, S. 18.

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zur rückhaltlosen Verausgabung ihrer Arbeitskraft in dem von Marx benannten physiologischen Sinne zu bewegen. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine reale Homogenisierung der Arbeiten, auch wenn sie immer konkrete bleiben, sondern um die Gleichgültigkeit,35 das reale Absehen in der Verwertung des Werts von den konkreten Verrichtungen, die den Arbeitenden zur Verausgabung ihrer menschlichen Kräfte zugewiesen werden.36 Diese Abstraktion oder Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber den konkreten Verrichtungen seines Personals wird jedoch erst durch den Abstraktionsvorgang ratifiziert, den die Warenbesitzer im Austausch de facto vollziehen. „Die Reduction der verschiedenen konkreten Privatarbeiten auf dieses Abstractum gleicher menschlicher Arbeit vollzieht sich nur durch den Austausch, welcher Producte verschiedner Arbeiten thatsächlich einander gleichsetzt“ (MEGA II.6/41). Im Resultat ist die Frage nach der Wertsubstanz eng mit der Frage nach den Bestimmungsfaktoren der Wertgröße verbunden, da die konkreten Arbeiten in der „abstrakten Arbeit“ auf die wertbildende oder nach Arthur wertsetzende Größen einer reinen Verausgabung in der Zeit reduziert werden müssen (Arthur 2011, S. 297). Die zusammenfassende Aussage lautet: Verausgabung von menschlicher Arbeitskraft schlechthin in der Zeit. Nach der von Arthur entworfenen „neuen Theorie der Wertbestimmung“ muss, „wie beim Wert vollkommen vom nützlichen Charakter der Ware abstrahiert wird, [. . .] auch von der sie produzierenden Arbeit vollkommen abstrahiert werden“ (Arthur 2011, S. 296). Arbeit erscheint als „reine Tätigkeit der Wertsetzung“, die der Bewegung des Kapitals im Kreislauf seiner Verwertung folgt. „Die Größe des Werts ist die verstrichene Zeit des Kapitals“ (Arthur 2011, S. 298). „Wie der Wert von materiellen Waren getragen wird, wird [. . .] die Tätigkeit der Wertsetzung vom Arbeitsprozess getragen“. Damit scheint sich Arthur im Begriff der abstrakten Arbeit als „reiner Tätigkeit“ vollständig vom Entäußerungskonzept der Arbeit zu distanzieren. Die materielle Arbeit wird negativ bestimmt, sie ist als „die Trägerin der Zeit des Kapitals“ nicht produktiv, sondern in der Zeit wird ihr vom Kapital das Produkt quasi abgepresst. Wie Arthur wenden sich auch Autoren wie Ricardo Bellofiore oder Karl Reitter, gegen Rubin und Heinrich, gegen eine Abstraktifizierung der Arbeit durch den Tauschprozess oder sogar gebunden an die Tauschakte selbst. Für sie ist die reelle Subsumtion der lebendigen Arbeit und der lebendigen Arbeit unter das Kapital der entscheidende Grund für Verwandlung des Arbeitsprozesses in einen Wertbildungsprozess, gegen den die Arbeitenden sich zur Wehr setzen (müssen). Letztlich braucht aber auch nach Arthur das Kapital die „Handlungsfähigkeit der Arbeiter“ und es kann ihm „nicht wirklich“ darum gehen, „den Arbeiter auf den Status eines bloßen Instruments zu reduzieren“. Nur die konkrete Arbeit kann die „tote Arbeit“ mit „neuer Arbeit“ beleben und die Stunden von ihrer Lebenszeit, die

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Zur Gleichgültigkeit als Abstraktionsverhältnis vgl. Schlaudt 2011, S. 266. Trotz der Homogenisierung und Entqualifizierung in weiten Bereichen der Industrie, heute auch in der IT-Industrie, bleibt das kapitalistische Management auf den „menschlichen Faktor“ angewiesen.

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die Arbeitenden unter Aufsicht des Kapitals verbringen, zu einem gesellschaftlichen Gesamtprodukt verknüpfen, das nach Tagen oder Stunden zählt. Heinrich ist so nicht zuzustimmen, wenn er schreibt: „Arbeitszeit als Maß der Wertgröße ist genauso wenig unmittelbare Arbeitszeit wie abstrakte Arbeit als Wertsubstanz unmittelbare, d. h. konkrete Arbeit ist. Abstrakte Arbeit kann daher nicht einfach durch Arbeitszeit, sondern nur durch ‚sozusagen‘ . . . ‚abstrakte Arbeitszeit‘ gemessen werden“ (Heinrich 1999, S. 219).37 Die Wertbestimmung findet in einem realen gesellschaftlichen Raum-Zeit-Kontinuum statt, in dem sich auch die Zeitökonomie des Kapitals abspielt. Schließlich ist es im Kern eine empirische Frage, wieweit die Marxsche Hypothese zutrifft, dass die gesellschaftlichen Wertgrößen und Wertstrukturen durch die gesellschaftlich für die Warenproduktion aufgewendeten Arbeitszeiten reguliert werden.38 In der Marxschen Behandlung der Fragen der Bestimmung der Wertgrößen im ersten Band von „Das Kapital“ erweist sich der Zugang auf die Ebene der individuellen Waren und der einzelnen Kapitale und ihrer Bewegungen als unvollständig, da die Größenverhältnisse sich erst in der Zusammenfassung zum gesellschaftlichen Gesamtprodukt herausbilden. Das betrifft etwa die Frage der „gesellschaftlich notwendigen Arbeit“ für die verschiedenen Warensorten, da nicht die individuell aufgewendete Arbeit für den Wert einer Ware maßgebend ist, sondern die, die in den einzelnen Produktionssektoren bei durchschnittlicher Produktivität und Intensität der Arbeit erforderlich ist. Auch Disproportionen zwischen Angebot und Nachfrage bestimmter Waren schlagen sich erst in der aggregierten Wertgröße nieder. Die Teilung zwischen „Notwendiger Arbeit“ und „Mehrarbeit“ ist nicht, wie Marx nahelegt an einer Teilung des Arbeitstages eines einzelnen Arbeiters zu erkennen (MEW 23, S. 230 f.), sondern nur rückwirkend aus den gesellschaftlichen Aggregaten. Zusammenfassender Ausdruck für die in einer Arbeitsperiode neu verausgabten und vergegenständlichte Arbeit ist das sog. Neuprodukt oder in den Begriffen der Makroökonomie die Wertschöpfung der produzierenden Sektoren der „Volkswirtschaft“.39 Der Wert bzw. Preis der individuellen Ware eines Kapitals drückt einen bestimmten vorgestellten bzw. realisierten Anteil am Gesamtprodukt aus. Der Geldausdruck, zu dem eine Ware faktisch getauscht wird, repräsentiert die gesellschaftliche Arbeit, die sich für diese Ware (einer bestimmten Qualität) ex-post als notwendig herausstellt. Wie Cogoy sagt (1977, S. 32), bildet die (Arbeits)Wertstruktur eine in der Preisstruktur, oder im Mantel des Preises, enthaltene „innere Struktur“ (auf keinen Fall umgekehrt), das Preissystem enthält mehr Informationen

Die Zeit der Uhren ist bereits eine „abstrakte Zeit“ gegenüber den Rhythmen der Körper, der Pflanzen oder der sozialen Feste. 38 Diese liegen in den Industriestatistiken gut dokumentiert für die Aggregate vor und benötigen keine Umrechnungen in „abstrakte Arbeitsstunden“. 39 Zur Bestimmung dieser Sektoren vgl. Fröhlich 2009, bereits auch Wienold 1984. 37

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(Determinanten) als das Wertsystem, deshalb ist die Determinierung von Innen begrenzt.40 Der Wert kann sich nur erhalten, indem er sich vermehrt. Dafür muss er ständig seine Form wechseln. Um als Kapital zu fungieren, muss das Geld vermehrt aus diesem Formwechsel hervorgehen. „Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Wertes existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos“ (MEW 23, S. 167). Die „rastlose(n) Vermehrung des Werts“ (MEW 23, S. 168) kennt keine inneren Begrenzungen. Der Sinn der Kapitalbewegung ist die scheinbar qualitätslose, nur rein quantitativ bestimmte Vermehrung in seiner selbstständigen Form des Wertes. Das „äußere Maß“ des Wertes scheint sein „inneres Maß“ zu überwältigen. Wie Marx sagt, muss man, um zum Kapital zu gelangen, nicht von der Arbeit, sondern vom Geld ausgehen. Der Wert als Kapital muss beständig die Form wechseln, als Geld oder Ware auftreten. Nicht nur das Geld, sondern auch die Ware wird innerhalb der Kapitalzirkulation zum Kapital, das sich in Geld zurückverwandeln muss. Die Rastlosigkeit und Maßlosigkeit der Bewegung wurzeln nicht in der Psyche des Kapitalisten oder in allgemeinen anthropologischen Bestimmungen des Menschen, sondern in der gesellschaftlichen Struktur. Kapital wird „sich selbst verwertender Wert“, der sich nur noch auf seine eigene Größe bezieht. „In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet“ (MEW 23, S. 169). In dieser selbstbezüglichen Struktur wird der Wert in Form des Produktion und Austausch um- und übergreifenden Kapitals zum „automatischen Subjekt“. Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt. Fixiert man die besondren Erscheinungsformen, welche der sich verwertenden Wert im Kreislauf seines Lebens abwechselnd annimmt, so erhält man die Erklärungen: Kapital ist Geld, Kapital ist Ware. In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne

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In einem Produktionssystem, in dem alle Inputs durch Outputs des Systems reproduziert werden und der einzige exogene Faktor die Arbeit oder die Arbeitskraft ist, sind die Austauschrelationen (relativen Preise) durch die aufgewendete Arbeit bestimmt (vgl. Helmedag 1992, S. 317 f.). In einem solchen System, wie in den linearen Produktionssystemen nach Sraffa 1976, die durch Produktionskoeffizienten zwischen Inputs und Outputs beschrieben werden, gibt es ebenfalls ein System relativer Preise, ohne dass diese explizit durch Arbeit-Inputs vermittelt scheinen. Es geht Marx jedoch um die Kategorie des Werts, der in diesen Preisen erscheint und um seine Verselbständigung in Geld, von dem die Sraffa-Modelle vollständig absehen. Werttheorie ist für ihn Geldund Kapitaltheorie, die auf „abstrakte Arbeit“ als ihren Grund verweisen.

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Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. „Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist“ (MEW 23, S. 168 f.).

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Warenabstraktion, Fetisch und Verdinglichung: Schicksale der Analyse der Wertform

Mit dem Aufkommen sozialistischer Massenparteien in einigen Ländern des westlichen Europa ab den 1880er-Jahren setzte der Prozess ein, in dem die Marxsche Theorie, insbesondere die Kritik der politischen Ökonomie zu einer positiven Lehre kanonisiert wurde. Insbesondere wurde „Das Kapital“ nicht als Kritik der politischen Ökonomie gelesen, sondern als unmittelbare Analyse der kapitalistischen Gesellschaft, aus der sich eine naturnotwendige Entwicklung hin zum Sozialismus ablesen lasse. Mit dieser Wendung waren folgenreiche Interpretationen gerade der Marxschen Analyse der Wertform verbunden, wie sie zu dieser Zeit vor allem im Kapital und einigen früheren Schriften vorlag. Entsprechend ihrer evolutionistischen Grundorientierung fasste die Marx-Orthodoxie der Zweiten Internationale die kategorialen Entwicklungen der Wertform als Darstellung eines realen historischen Ablaufs auf. Marx entwickelt die entfaltete Wertform sowie dann das allgemeine Äquivalent ausgehend von der einfachen Wertform als Logik dialektischer Kategorien und verweist dabei auf gleichfalls kategoriale Gegensätze. So konstatiert er, es sei „das der Produktion vorausgesetzte Gemeinwesen, das die Arbeit des einzelnen verhindert, Privatarbeit . . . zu sein“, während „die Arbeit, die sich im Tauschwert darstellt, . . . vorausgesetzt (ist) als Arbeit des vereinzelt Einzelnen“ (MEW 13, S. 21). Als historische Abfolge wurde daraus im Rahmen einer evolutionistisch geprägten „Weltanschauung“ das Bemühen um den empirischen Nachweis der einfachen Formen und insbesondere der „einfachen Warenproduktion“ als Vorstufe zur „allgemeinen Warenproduktion“. Damit wurde die begriffslogische Entwicklung bei Marx in eine Konstruktion der Menschheitsgeschichte oder auch der mit naturhistorischer Notwendigkeit erfolgenden historischen Entwicklung einzelner regional umrissener Gesellschaften uminterpretiert. Dafür steht vor allem der „Parteitheoretiker“ Karl Kautsky, der sich selbst als „Priester“ der Marx-Orthodoxie stilisierte (Gilcher-Holtey 1986, S. 21). Unmittelbar bezogen auf die Wertproblematik versteht Kautsky in seiner vielfach aufgelegten „allgemein verständlichen Darstellung und Erläuterung“ der „ökonomischen Lehren“ von Marx die „einfache oder einzelne Werthform“ als die historische „Periode“, als „nur hier und da gelegentlich und zufällig Produkte ausgetauscht“ wurden (Kautsky 1906, S. 29); wo dies „gewohnheitsmäßig“ geschehen sei wie „noch bei Homer“, sieht er „die totale oder entfaltete Werthform“, schließlich bei Verallgemeinerung des Tauschs dann die „allgemeine Werthform“ oder „Aequivalentform“ (Kautsky 1906, S. 30). Wenn Engels noch die politische Ökonomie als eine „wesentlich historische Wissenschaft“ bezeichnet hatte, weil sie „einen stets wechselnden Stoff“ behandle (Engels 1878, S. 136), so behandelte Kautsky die politische Ökonomie selbst als eine positive Darstellung der historischen Entwicklung. Gleichgül-

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tig, ob diese und andere Formen des Szientismus oder „Positivismus“ auf ein bestimmtes Entwicklungsstadium des Kapitalismus, den Übergang vom „Liberalismus“ zum „Imperialismus“ und die unter ihm aufkommende Herrschaft des „Positivismus“ und die damit einhergehende Zurückweisung dialektischen Denkens zurückgeführt wird (vgl. Stapelfeldt 2012, S. 244 ff.; Lukács 1923, S. 58), hatte dies langfristige Konsequenzen für die Rezeption der Marxschen Theorie, ihre Umformung und Aneignung durch spätere Generationen. Auch die Darstellung der Wertform gerät so zur fachwissenschaftlichen Erörterung; aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie war eine „marxistische Ökonomie“ (Hilferding 1910, S. 20) geworden, wie sie auch bis in die jüngere Vergangenheit immer wieder propagiert wurde (vgl. Mandel 1962). Den „Fetischcharakter der Waare“ versteht Kautsky als Konsequenz daraus, dass „die Arbeiten zu Privatarbeiten wurden, die unabhängig voneinander betrieben wurden“ und „die Produktion eine planlose wurde“. Demzufolge wurden „den Naturalformen der Waaren . . . Eigenschaften zugeschrieben, die mystisch erscheinen, so lange sie nicht aus den Verhältnissen der Produzenten zu einander erklärt werden“ und so „die Erkenntniß der Eigenthümlichkeit der Waaren erschwert“ (Kautsky 1906, S. 14 f.). Entgegen der geringen Beachtung, die „Gegner, ja selbst vielfach selbst . . . Anhänger der Marx’schen Lehren“ dem Fetisch-Kapitel schenkten, sei es doch „eines der wichtigsten des ‚Kapital‘“ (Kautsky 1906, S. 15). Für Kautsky blieb dabei jedoch die Kritik an der Anarchie des Marktes vordringlich, die er auf die mit der Verallgemeinerung der Warenproduktion entstandene Planlosigkeit der gesellschaftlichen Produktion zurückführte. Deren Überwindung glaubte man durch die „technische Steuerung und Beherrschung von Gesellschaft und Natur“ erreichen zu können (Stapelfeldt 2012, S. 254). Diese auf die Anwendung naturgesetzlicher Notwendigkeiten und vorhandener Technologien ausgerichtete Zukunftsperspektive ist nicht auf die revisionistischen und zentristischen Flügel der Zweiten Internationale beschränkt; sie ist nicht zuletzt in den Projektionen einer totalen Verstaatlichung als Perspektive revolutionärer Umgestaltung bei Lenin (1917b, S. 484) in radikalisierter Weise präsent (s. auch Kößler 1993, Kap. 7 und 8). Praktisch-politisch wurde diese marxistische Orthodoxie durch die Oktoberrevolution durchbrochen. Die von Lenin unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Russland formulierten „Aprilthesen“ (1917a) brachen mit der Fixierung auf Stadien des revolutionären Prozesses und orientierten sich an der Realität der sozialen Bewegung und den damit gegebenen Chancen einer wie immer verstandenen Diktatur des Proletariats. Diese „theoretische Tat“ (Lukács 1923, S. 164) änderte jedoch wenig an der theoretischen Ausrichtung, die das bolschewistische Experiment nach der Oktoberrevolution ebenso prägte wie seine theoretische Fundierung. Beide bewegten sich nach wie vor im Bezugsrahmen der kautskyanischen Marx-Interpretation. Unter dem Eindruck der historischen Wende der Oktoberrevolution formulierte Georg Lukács in der Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) Ansätze eines theoretischen Neuanfangs, der – zu großen Teilen entgegen den Intentionen des Verfassers – entscheidend für die Herausbildung eines westlichen Marxismus und insbesondere der Kritischen Theorie werden sollte. Dementsprechend traf Lukács auch unmittelbar auf scharfe Ablehnung seitens der Hüter der

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Parteiorthodoxie. Gegen die überkommene starre Orthodoxie forderte Lukács ähnlich wie zu gleicher Zeit Karl Korsch (1923), auch Marxsche theoretische Positionen der Kritik auf der Grundlage von dessen eigener historisch-kritischen Methode zu unterwerfen. Allein in dieser Herangehensweise erblickte Lukács einen methodologisch begründeten „orthodoxen Marxismus“. Davon nicht ablösbar war die Wiederentdeckung dialektischen Denkens, insbesondere der Kategorie der Totalität gegenüber der Fragmentierung gesellschaftlicher Zusammenhänge sowie die Betonung der engen Beziehungen zwischen der Hegelschen Philosophie und der Marxschen Theorie. Ihren konzentriertesten Ausdruck fand diese Neuorientierung im zentralen Text von Geschichte und Klassenbewußtsein, „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“. Ausgangspunkt von Lukács’ Überlegungen ist die „Ware“. Sie wird in erster Linie als Chiffre für die durchgängigen Abstraktionsprozesse genommen, die die kapitalistisch geprägte Gesellschaft bestimmen. Lukács knüpft dabei in hohem Maß an die Analyse von Rationalität und Rationalisierung bei Max Weber an, zum andern aber neben dem Kapital an die Marxschen Frühschriften, soweit sie damals im Druck zugänglich waren. Entscheidend ist für Lukács die Verschleierung der Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft durch den „fetischistischen Schein“, wie es bereits in dem älteren Aufsatz „Über orthodoxen Marxismus“ heißt. Dieser verhülle den „historischen, d. h. transitorischen, vorübergehenden Charakter“ dieser Verhältnisse und zugleich das „eigene Wesen“ der „ökonomischen Kategorien . . . als Gegenständlichkeitsformen, als Kategorien der Beziehungen der Menschen zueinander“ (Lukács 1923, S. 186). Durchaus mit Anklang nicht nur an Hegel, sondern auch an Kautsky meint Lukács, „daß das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware den ganzen historischen Materialismus, die ganze Selbsterkenntnis des Proletariats als Erkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft (und die der früheren Gesellschaften als Stufen zu ihr) in sich verbirgt“ (Lukács 1923, S. 354). Lukács kontrastiert wiederholt den „modernen Kapitalismus“ mit „Warenverkehr“ „auf sehr primitiven Entwicklungsstufen der Gesellschaft“ (Lukács 1923, S. 258) und beruft sich dazu auf Marx (hier 1859, S. 36). Während es Marx allerdings darum geht, die unterschiedlichen Wertformen zu reflektieren und dazu auch kontrastierende Konstrukte vorzustellen, artikuliert Lukács – durchaus im Anklang an die Rezeption der Zweiten Internationale – das hypothetische Konstrukt einer älteren Gesellschaft ohne die dem Kapitalismus zugeschriebenen Kennzeichen Dabei zeichnen sich auch immer wieder Vorstellungen von einer präkapitalistischen Harmonie ab. Lukács akzentuiert vor allem die „Abstraktion der menschlichen Arbeit“ als Ausfluss der „Universalität der Warenform“ (Lukács 1923, S. 261), betont jedoch weit weniger als Marx (etwa MEW 23, Kap. 11, 12 und 13) die Bedeutung und Dynamik von Arbeitsteilung und Kooperation als vielmehr ausdrücklich in der Nachfolge Max Webers „das Prinzip der auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit eingestellten Rationalisierung“ (Lukács 1923, S. 263) und verweist mit deutlichem Anklang an Simmels aus dem Geldverkehr hergeleitete Diagnose von der Objektivierung aller denkbaren Lebensbereiche auf die „Verselbständigung der Teiloperationen“, und entwickelt daraus den Verlust des „Tätigkeitscharakters“ der „Tätigkeit

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des Arbeiters“ die These, diese werde damit „zu einer kontemplativen Haltung“ (Lukács 1923, S. 263 f.). Diese Haltung entsprach der Orientierung des bürgerlichen Denkens, die Lukács durchgängig einem aktivistischen, revolutionären und kritischen Zugriff entgegensetzte und auch als Konsequenz des „ökonomischen Fatalismus“ der Zweiten Internationale kritisierte (Lukács 1923, S. 210). Als Folge der Warenabstraktion und der damit einhergehenden Aufsplitterung von Teilarbeiten wird „das ganze Leben der Gesellschaft . . . in isolierte Tauschakte von Waren pulverisiert“ (Lukács 1923, S. 266). Damit geht der Bezug auf Totalität verloren, was nicht zuletzt auch epistemologisch zur Zersplitterung des Wissens in der bürgerlichen Wissenschaft in Analogie zur Aufspaltung in gesellschaftliche „Teilsysteme“ (Lukács 1923, S. 276) führt. „Durch die Spezialisierung der Leistung geht jedes Bild des Ganzen verloren“ (Lukács 1923, S. 279). Hier knüpft Lukács an die aus Privateigentum und Arbeitsteilung begründete Entfremdungs-Analyse des jungen Marx an. Noch in seiner ausführlichen Auseinandersetzung und Selbstkritik mit seinem vielleicht einflussreichsten Buch hat Lukács es sich als Verdienst angerechnet, „Entfremdung“ als Zentralproblem der Zeit „zum erstenmal seit Marx als Zentralfrage der revolutionären Kritik des Kapitalismus“ behandelt zu haben (Lukács 1968, S. 24). Entfremdung und Verdinglichung werden dabei weitgehend gleichgesetzt und mit der Durchrationalisierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens verknüpft. Unter Berufung auf Engels und Marx (MEW 2, S. 37) nimmt Lukács dann die Einsicht, dass Bourgeoisie und Proletariat „dieselbe Selbstentfremdung dar(stellen)“, sie aber polar gegensätzlich, nämlich als „eigene Macht“ einerseits als „ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz“ erfahren, zum Ausgangspunkt seiner Bestimmung des „Standpunktes des Proletariats“ (Lukács 1923, S. 331 ff.). Er reklamiert dafür die Möglichkeit, die Antinomien endlich praktisch aufzulösen, die, wie er ausführlich nachweist, die klassische Philosophie in Bann gehalten hatten und die er eingehend nachzeichnet. Diese ontologische Begründung, die weiter überhöht die leninistische Partei als Ausdruck des Klassenbewusstseins proklamierte (Lukács 1923, Kap. 8), interessiert hier nur insoweit, als Lukács damit dem Proletariat eine emphatische, auf die Hegelsche Philosophie bezogene Position zuweist: Diese Klasse sei „von ihrem Lebensgefühl aus . . . befähigt,“ das „identische Subjekt-Objekt, das Subjekt der Tathandlung . . . in sich selbst zu entdecken“ (Lukács 1923, S. 331). Lukács begründet dies aus dem „Spezialcharakter der Ware als Arbeit“, ihrem „Gebrauchswert“ im Sinne ihrer „Fähigkeit, ein Mehrprodukt zu liefern“, die zwar „in den quantitativen Tauschkategorien des Kapitalismus spurlos untertaucht“, jedoch durch die „praktische Erkenntnis des Proletariats“ „zur gesellschaftlichen Wirklichkeit“ erwache. Denn durch die Einsicht in den verborgenen Charakter „dieser Warenart“ als „Beziehung zwischen Menschen . . . kann der auf die Arbeitskraft als Ware fundierte Fetischcharakter einer jeden Ware enthüllt werden“ (Lukács 1923, S. 353). Die Perspektive der Auflösung der Widersprüche durch das konkrete, praktische Auftreten eines δυνάμeι – also den ihm unterstellten inhärenten Möglichkeiten nach – identischen Subjekt-Objekts verweist auf die Erwartung einer gesellschaftlichen Harmonie, die zuvor in der vorgeblichen „Ganzheit“ vorkapitalistischer Gesellschaften imaginiert war. Auch hier scheint Lukács weniger weit von Kautsky entfernt, als ihm wahrscheinlich bewusst gewesen ist.

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Die Perspektive der Überwindung der konzentriert in der Universalisierung des Warentauschs fassbaren Antinomien der kapitalistischen Gesellschaft durch die Selbstartikulation eines mit einem gesellschaftlichen Erkenntnisprivileg ausgestatteten identischen Subjekt-Objekts ist der Scheidepunkt zwischen den Auffassungen von Lukács und der sich herausbildenden Kritischen Theorie, insbesondere Theodor W. Adornos Auseinandersetzung mit dem Warenfetischismus. Bei alledem spielt die „Formanalyse“ durchgängig keine Rolle (Habermas 1981, S. 478). Lukács kann zunächst als wichtiger „Stichwortgeber“ (Grigat 2012, S. 361) der sich herausbildenden Kritischen Theorie gelten, nicht zuletzt durch die neuerliche Aktualisierung der Dialektik und die Forderung nach einer historisch-kritischen Auffassung der Marxschen Theorie, wie sie in Geschichte und Klassenbewußtsein niedergelegt sind. Zentrale, später vor allem von Adorno freilich in kritischer Wendung neu angeeignete Begriffe wie zweite Natur, Warenfetisch, Verdinglichung und Totalität waren durch Lukács in die an Marx orientierte Debatte wiedereingeführt worden (vgl. Braunstein 2011, S. 21 f.).41 Den scheinbaren terminologischen und auch thematischen Kontinuitätslinien stehen freilich begriffliche und theoretischen Brüche gegenüber, die sich bereits auf das 1925 eingetretene Zerwürfnis zwischen Lukács und Adorno zurückführen lassen (s. Braunstein 2011, S. 31 ff.). So lässt sich in der Dialektik der Aufklärung eine ausführliche Bezugnahme auf Warenfetischismus finden, jedoch in deutlich anderer Wendung als in Lukácsʼ Verdinglichungs-Aufsatz. Arbeitsteilung und Kooperation werden hier unmittelbar als konstitutiv für einen Zwangs- und Herrschaftszusammenhang ausgezeichnet, da Arbeitsteilung, „die dem beherrschten Ganzen zur Selbsterhaltung“ dient, „dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber (tritt), als die Vernunft in der Wirklichkeit“ (Horkheimer und Adorno 1947, S. 34). Damit werden einerseits dem Arbeitszusammenhang immanente Zwänge in der Perspektive einer Vernunftkritik betont, zugleich wird andererseits die Problematik bis weit vor das Aufkommen des modernen Kapitalismus in die Konstitution der klassischen griechischen Mythologie zurückverfolgt, die gleichwohl nicht überwunden ist. Legitimation des Unrechts erfolgt nun „unter dem Titel der blanken Tatsachen“, damit findet die Argumentation Anschluss an den Diskurs über Verdinglichung, weniger aber als Verschleierung der Beziehungen zwischen Menschen, als vielmehr als Ausdruck der in der Wertform enthaltenen Verkehrungen und Rückspiegelungen, denn „mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext“ (Horkheimer und Adorno 1947, S. 41) – der Bann lässt sich nicht einfach durch Einsicht in die Verdinglichung brechen: „Die dämonenhafte verzerrte Gestalt, die in der Helle der vorurteilslosen Kenntnis Dinge und Menschen angenommen haben, weist auf die Herrschaft zurück“ (Horkheimer und Adorno 1947, S. 42). Wenn die Autoren formulieren, dass die „Brutalität“ des „als

41 Habermas 1981, S. 474 ff. sieht Lukács eher in der Tradition Webers, dessen Rationalisierungsthese er mit dem Grundbegriff der ‚Verdinglichung‘ verknüpfte, den „die marxistische Theorie . . . bereit(halte)“ (1981, S. 473) und betont im Weiteren die Kontinuität der Arbeiten von Horkheimer und Adorno mit Lukács, die erst mit der Negativen Dialektik abbreche.

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gewalttätig manipulier(t)en“ Kollektivs „so wenig die wahre Qualität der Menschen dar(stellt) wie der Wert die der Gebrauchsdinge“ (Horkheimer und Adorno 1947, S. 42), so wird jedoch zugleich deutlich, dass die hier angesprochene Abstraktion nur mehr metaphorisch herangezogen und keineswegs aus der Marxschen Analyse der Wertform entwickelt wird. Auch insoweit stimmen sie mit Lukács überein, bei dem Abstraktion und Rationalisierung auf die begrifflich nicht weiter analysierte Gegebenheit der „verallgemeinerten Warenproduktion“ bezogen werden, während Verdinglichung und die damit weitgehend in eins gesetzte Entfremdung ungeachtet des Verweises auf das Fetischkapitel ehestens aus der Arbeitsteilung im kapitalistischen Betrieb begründet wird. Später hat Adorno den Tausch als „gesellschaftliches Modell“ des „Identifikationsprinzip(s)“ ausgezeichnet, der Forderung, Begriffe müssten „dem Befaßten Gerechtigkeit widerfahren“ lassen. Durch den Tausch „werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. [. . .] Würde indessen das Prinzip abstrakt negiert, würde als Ideal verkündet, es solle, zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für den Rückfall ins alte Unrecht“ – die „Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal“ (Adorno 1966, S. 147 f.) kann nicht die Einsicht auslöschen, dass die „Maßkategorie der Vergleichbarkeit“ und damit das „Versprechen“, das dem Tauschprinzip auch innewohnt, nur zu eliminieren wäre auf Kosten „unmittelbare(r) Aneignung“ und damit von Gewalt und „nackte(m) Privileg“ (Adorno 1966, S. 148). Damit wendet sich Adorno ausdrücklich gegen die autoritären und regressiven Konsequenzen direkter, stofflicher Beziehungen. Damit ist freilich nicht allein Kritik etwa an Lukács impliziert (vgl. Hall 2012, S. 311), sondern ebenso auf kritische Rückfragen an Marx’ eigene Vorstellungen von direkter, nichtvermittelter Vergesellschaftung verwiesen.

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„Wert“ im sowjetischen Planungskonzept

Die Oktoberrevolution aktualisierte die Frage der nun nicht mehr allein in der Zukunft verorteten gesellschaftlichen Alternative, die gerade in der Marxschen Tradition bisher meist nur in Chiffren wie der „Assoziation freier Produzenten“ oder mit der Vorstellung einer unmittelbaren, d. h. nicht mehr über den Markt vermittelten Vergesellschaftung diskutiert worden war. In strengen Begriffen meint die damit implizierte „Vergemeinschaftung“ eben „Kommunismus“. Dies wurde im Zusammenbruch der Währung und der Stadt-Land-Beziehungen bereits in den ersten Monaten des Sowjetregimes und erst recht im bald beginnenden Bürgerkrieg virulent. Mit anderen Worten erschienen der völlige Zusammenbruch der Währung, selbst die damit einhergehende Versorgungskrise, der tatsächliche Zusammenbruch der Warenbeziehungen und der Übergang zu Naturalzuteilungen und Naturaltausch als Beglaubigung ebenso wie als Ende der Marktanarchie, die gemäß der im Marxismus der Zweiten Internationale gefestigten Überzeugungen den Kapitalismus in erster Linie charakterisierte, mit der Herrschaft des Wertgesetzes als eines „Elementargesetzes“ (Bucharin 1920, S. 127). Zunächst haben daher viele Bolschewiki

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die quasi naturwüchsig oder aufgrund von Notmaßnahmen zustande gekommene geldlose Wirtschaft begrüßt oder allenfalls Bedenken über den allzu schnellen Übergang zu den erwarteten „kommunistischen“ Verhältnissen geäußert (vgl. Carr 1952, S. 257–275). N. I. Bucharin etwa begrüßte „die Sprengung der warenfetischistischen Hüllen“ und knüpfte daran die Erwartung auf einen Übergang auch zu einem „natur-wirtschaftlichen Denken, d. h. der Betrachtung der Gesellschaft ebenso wie ihrer Teile als eines Systems von Elementen in ihrer Naturalform“ (Bucharin 1920, S. 159). Diese Schlussfolgerung war keineswegs so ungewöhnlich, wie sie in der Rückschau erscheinen mag. Für Georg Simmel erschienen die drastischen, im Vergleich zum Russischen Bürgerkrieg gewiss weit weniger durchschlagenden Folgen der „Absperrung Deutschlands vom Weltmarkt“ in einem grundsätzlich ganz ähnlichen Licht, wenn er 1916 die Folgen der Rationierung vor allem von Nahrungsmitteln, symbolisiert durch die „Brotkarte“, in einer Weise kommentierte, die zugleich seinen spezifischen Blick auf „Wert“ und „Werte“ unterstreicht: „In die ungeheuerste Maskierung des wirklich Wertvollen durch die Mittel dafür, die die Kulturgeschichte kennt, ist an einer Stelle ein Loch gerissen worden“ (GSG 16, S. 47). Im „Kriegskommunismus“ zeigten sich die so entstandenen Formen unmittelbarer Vergesellschaftung als Gewaltverhältnisse. Am drastischsten kam dies wohl in den bewaffneten Requisitionskampagnen zum Ausdruck, bei denen formelle und informelle Abteilungen aus den Städten aufs Land geschickt wurden, um so die zugespitzte Nahrungsmittelkrise in den Städten zu lindern. Die Einschätzung Adornos schließt unmittelbar hier an, da die Erfahrungen des Kriegskommunismus sich letztlich als prägend für Gesellschaften sowjetischen Typs erweisen sollten. Noch aus der Sicht der ab 1921 auf den Kriegskommunismus folgenden Neuen Ökonomischen Politik, die eine begrenzte Rückkehr zu Marktbeziehungen brachte, bestand für E. Preobraženskij ein deutlicher Gegensatz innerhalb dieses Systems, das durch die „simultane“ Wirkung des „Planungsprinzips“ wie des „Wertgesetzes“ gekennzeichnet sei (Preobraženskij 1926, S. 71). Ähnlich sprach Bucharin in seiner Kritik an Preobraženskij vom „Hinüberwachsen der Elementargesetze in bekannte und bewusst kontrollierte [Gesetze]“ (Bucharin 1926, S. 116), wobei das Wertgesetz deutlich der erstgenannten Kategorie zugerechnet wird. Es handelt sich aus dieser Sicht um zwei historisch unterschiedliche, in einer evolutionären Linie stehende Gesetzmäßigkeiten (vgl. Preobraženskij 1926, S. 206 f.). Stalin bestritt noch Anfang der 1950er-Jahre vehement die Gültigkeit des „Wertgesetzes“ außerhalb der Verteilung der „Konsumgüter für die Deckung des Aufwands der Arbeitskraft“, weil eine am Wertgesetz orientierte kurzfristige, betriebsbezogene Rentabilitätsrechnung die langfristige, gesamtgesellschaftlich ausgerichtete Planung konterkariere (Stalin 1952, S. 25). In einer späteren Phase des Sowjetsystems wurde diese Sichtweise insofern revidiert, als angenommen wurde, „Wert (oder Wertgesetz)“ seien im Sozialismus nicht überwunden, sondern vielmehr grundlegend neu bestimmt als „bewußt eingesetztes Instrument der Rationalisierung und der planmäßigen Leitung der Produktion“ (Klaus und Buhr 1970, S. 1151). Der Fetischcharakter sollte demzufolge gleichsam abgestreift sein, aber der „Wert“ wurde als reine Rechnungsgröße beibehalten. Auch dabei wurde die Fetischbeziehung nicht als realer Schein mit komplexen Spiegelungsverhältnissen zwischen den Menschen und ihren Produk-

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ten, sondern vielmehr in der Tradition Kautskys als vordergründig zu entlarvende Ideologie behandelt. Die spätere, insgesamt auf Stalin zurückgehende sowjetische Planungstheorie hielt insgesamt an dem Konzept fest, nach dem eine Übergangsperiode im Sinne eines als „Sozialismus“ ausgezeichneten ersten Stadiums fest, von dem das „kommunistische“ Endziel unterschieden wurde (vgl. Bettelheim 1971, S. 13). Allerdings konnte diese seit Beginn in unterschiedlichen, aufeinander folgenden Formen vehement propagierte Rechenhaftigkeit wenig an den Dysfunktionen ändern, die eng damit verknüpft waren, dass „die sowjetische Wirtschaft . . . ungeachtet der in konkreten Anweisungen, Transaktionen, Informationen usw. überwiegenden Wertindikatoren . . . vorab und letztlich auf naturalwirtschaftliche (gebrauchswertförmige) Ziele ausgerichtet“ war, die sich „letztlich dem formalrationalen Kalkül“ entziehen (Conert 1990, S. 95).

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Organisierter Kapitalismus in der kritischen Theorie

In der älteren kritischen Theorie kommen diese Dysfunktionen kaum zur Sprache. Vielmehr folgt für Friedrich Pollock aus der Ausschaltung des Marktes, die er auf den Zusammenbruch des „Privatkapitalismus“ sowie des „Monopolkapitalismus“ (Pollock 1941b, S. 450) im Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise zurückführt (1932, 1933) der „Staatskapitalismus“ (bes. Pollock 1941a), zum einen in Form der totalitären Kommandowirtschaft, die Pollock sowohl unter der Naziherrschaft als auch in der Sowjetunion erblickt (Pollock 1941b, S. 450 ff.), zum anderen in einer möglichen demokratischen Form, die offenbar sowohl an die Kriegswirtschaft der Westmächte als auch an den New Deal anschließen würde (vgl. Pollock 1933, S. 346 ff., 1941a, S. 224 f.). „Kommandowirtschaft“ steht dabei im ausdrücklichen Gegensatz zur zusammengebrochenen „Tauschwirtschaft“ (Pollock 1941b, S. 450). Pollock versteht dies ausdrücklich als Form der Überwindung der Krise: Das neue System, speziell der Nazismus wende „neue Regeln“ an, „die seine Wirtschaftspolitik effektiver machen als alles vorher Gekannte“ (Pollock 1941b, S. 452). Ferner: „Der totalitäre Staatskapitalismus bietet die Möglichkeit zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme um den Preis totalitärer Unterdrückung“ (Pollock 1941a, S. 224). Es erscheint zutreffend, dass diese Überlegungen in dem Bezugsrahmen der traditionellen marxistischen Geschichtskonzeption stehen. Pollock betont in seiner Analyse der Weltwirtschaftskrise nachdrücklich, dass die Dynamik der Produktivkräfte dazu tendiere, die Produktionsverhältnisse zu sprengen, was Ausdruck auch in der destruktiven Einschnürung der Produktivkräfte finde (Pollock 1933, S. 340 ff.). Die Tendenz zur „einheitlichen Leitung der gesamten Wirtschaft“ durch den Staat erscheint dann als der „äusserste Punkt . . ., bis zu dem die Produktionsverhältnisse modifiziert werden können, ohne dass die Grundlagen des kapitalistischen Systems aufgehoben werden“ (Pollock 1933, S. 348). Acht Jahre später sieht Pollock diesen Punkt offenkundig überschritten mit der wichtigen Wendung, die Sowjetunion neben der Naziherrschaft der totalitären Form des Staatskapitalismus zu subsumieren. Diese Überlegungen wurzeln weiter in der Annahme, wesentliche Elemente der künftigen sozialistischen Gesellschaft lägen in entscheidenden Punk-

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ten, insbesondere in Form der industriellen Produktivkräfte unter dem Kapitalismus bereits vor, undes bedürfte lediglich noch des Abstreifens der sie hemmenden Hülle der Produktionsverhältnisse. Pollock sieht dementsprechend die „Neue Ordnung“ eines totalitären Staatskapitalismus als die pervertierte Einlösung dieser Perspektive. Freilich verstrickt sich Pollock hier in die Schwierigkeiten einer auf die Zirkulationssphäre und den Warentausch beschränkten Perspektive (vgl. Postone 1993, S. 96 ff.), die zuvor bereits in der Tendenz der marxistischen Tradition deutlich geworden war, statt einer Analyse der Wertform vorab die Ware ins Zentrum zu stellen. Für die weiteren Schicksale der Kritischen Theorie erscheint es wesentlich, dass Max Horkheimers folgenreicher Aufsatz „Autoritärer Staat“ (1940) zentrale Motive von Pollocks Staatskapitalismus-Konzept aufnimmt, um eine aporetische Situation zu schildern, in der „selbst die Feinde des autoritären Staates Freiheit nicht mehr denken können“ (Horkheimer 1942, S. 318). Da auch Horkheimer am Grundkonzept der Produktivkraftentwicklung festhält, ist der Weg zu der in Dialektik der Aufklärung vorgetragenen Kritik der Naturbeherrschung gewiesen. Jedoch auch die Vorstellung eines „staatlich geregelten Kapitalismus“ im Verständnis eines evolutionären Stadiums (Habermas 1973, S. 9, 18, vgl. Offe 2006, S. 65) hält an den von Pollock formulierten Vorstellungen im Kern fest.42 Wenn Postone (1993, S. 97) konstatiert, dass Pollocks Begriff des Ökonomischen in erster Linie auf den Markt orientiert sei, so unterstreicht dies die Kontinuität zu der oben herausgearbeiteten Engführung der Wertproblematik auf die Ware bei Lukács. Weiter wird dadurch die Distributionssphäre begrifflich privilegiert (vgl. Postone 1993, S. 97 ff.), und entsprechend der Konzeption des Autoritären Staates tritt die Problematik des Profits hinter jener der Macht zurück (vgl. Postone 1993, S. 99).

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Was ist Arbeit?

In der Folge hat für die vor allem von Habermas vollzogene kommunikationstheoretische Wende die Unterscheidung, ja Dichotomie von Arbeit und Interaktion eine zentrale Rolle gespielt (vgl. Habermas 1968, S. 71 ff., 1976, S. 31, 1981, II, S. 463). Diese leitet Habermas philosophiegeschichtlich aus einer Analyse von Hegels Frühschriften ab (s. Habermas 1969). Seine Überlegungen berühren daher die Marxsche Wertanalyse vor allem in Bezug auf „Arbeit“, die hier in erster Linie als anthropologische Konstante, nicht aber in gesellschaftlicher Formbestimmtheit erscheint, in der allein sie für die Kritik der politischen Ökonomie eine Rolle spielen kann. An der Unterscheidung von Arbeit und Interaktion schließen bei Habermas die polare Unterscheidung von System und Lebenswelt sowie das aus diesem gegensätzlichen Konstrukt entwickelte Theorem der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ an (s. Habermas 1981, Bd. II: Kap. VI, VII). Pragmatisch ist dagegen einzuwenden, dass die Sphären Weitere Zusammenhänge mit dem Theorem des „organisierten Kapitalismus“ können hier nicht verfolgt werden.

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von Heim und Betrieb unter industriekapitalistischen Bedingungen immer schon eng verklammert waren, wobei den betrieblichen Erfordernissen, dem Kommando des Kapitals, die hegemoniale Position zukam (s. Kößler 1990, S. 67–73, bes. 72). Kategorial verfehlt die Gegenüberstellung von Arbeit und Interaktion die unhintergehbaren kommunikativen Momente eines jeden menschlichen Arbeitsprozesses (vgl. hier nur Bücher 1897; Burawoy 1985). Schließlich übersieht diese begriffliche Konstruktion, dass Arbeit auch unter dem Kommando des Kapitals nicht in Lohnarbeit aufgeht. Vielmehr geht es gerade vor dem Hintergrund der Marxschen Wertanalyse entscheidend um die Formbestimmung von Arbeitsprozessen, die sich einmal mehr an der Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert festmacht, die hier die Unterscheidung zwischen aus Sicht des Kapitals produktiver und unproduktiver Arbeit markiert. Marx sagt kategorisch, dass „der Gebrauchswert als Gebrauchswert . . . jenseits des Beobachtungskreises der politischen Ökonomie (liegt)“, da der Warencharakter für die „gleichgültige Bestimmung für den Gebrauchswert“ sei. Er fällt also aus der „ökonomischen Formbestimmung“ heraus (MEW 13, S. 16). Das bedeutet, dass für die politische Ökonomie, anders gesagt, aus der Perspektive des Kapitals, die diese als herrschendes und avanciertes theoretisches Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft artikuliert, alles das, was nicht warenförmig vorliegt, einfach irrelevant ist. Ein Tisch, der für den Eigenbedarf hergestellt wurde, mag sich als besonders schönes Erbstück hoher Wertschätzung erfreuen, solange er aber nicht auf dem Markt auftaucht und dem gesellschaftlichen Tauschprozess unterworfen wird, ist er aus dieser Perspektive „nichts wert“, ist nicht „produktiv“ (vgl. Smith 1776, S. 330). Der in die Produktion des Tisches eingegangenen Arbeit bleibt damit die Anerkennung als gesellschaftliche Arbeit versagt, sie ist rein private Tätigkeit. Daraus ergeben sich im Einzelnen höchst paradoxe Bestimmungen, die sämtlich darauf zurückgehen, dass es bei der Auszeichnung als „produktive Arbeit“ nicht um die konkrete Verrichtung geht, sondern allein um die Form ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs (vgl. MEW 26.1, S. 135 f.). Marx betont zugleich, dass in dieser Perspektive Tätigkeiten und Gegenstände der „futilsten Art“ (MEW 26.1, S. 128) zu produktiver Arbeit bzw. Waren werden, die „gekauft werden mit Kapital . . . und einen Profit abwerfen“ (MEW 26.1, S. 137). Materiell überschneiden sich so bestimmte produktive Arbeit für das Kapital und gesellschaftlich notwendige Arbeit, sie sind aber in keiner Weise kongruent. Produktive Arbeit für das Kapital kann auch nach herrschenden Vorstellungen sinnlos, unproduktive lebensnotwendig sein. Nicht zufällig rückte in diesem Zusammenhang immer wieder die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ins Blickzentrum: „Von diesem Standpunkt ist die Tänzerin im Tingeltangel, die ihrem Unternehmer mit ihren Beinen Profit in die Tasche fegt, eine produktive Arbeiterin, während die ganze Mühsal der Frauen und Mütter des Proletariats in den vier Wänden ihres Heimes als unproduktive Tätigkeit betrachtet wird.“ Rosa Luxemburg bemerkte weiter, diese Arbeit sei „nur eine private Angelegenheit des Proletariats, sein Glück und Segen, und gerade deshalb Luft für die heutige Gesellschaft.“ Gerade in diesem Widersinn erschließt sich das Ausmaß, in dem die kapitalistische Produktionsweise – ganz im Gegensatz zur Annahme einer Entzauberung der Welt – die von ihr beherrschte und

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geprägte Welt in einem Zaubergarten verwandelt hat, der für diejenigen, die auf der falschen Seite dieser Paradoxien gelandet sind, bitter ironische, ja beleidigende Konsequenzen bereit hält: „Das klingt roh und wahnwitzig, entspricht aber genau der Rohheit und dem Wahnwitz der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung“ (Luxemburg 1912, S. 163). Die wichtigsten seit den 1970er-Jahren mit dem Aufschwung der neuen Frauenbewegung hier neu ansetzenden Debatten betreffen zunächst die allermeist von Frauen geleistete Hausarbeit (vgl. Werlhof 1978; Werlhof et al. 1983; Mies 1999). Mit der auch politisch vorgetragenen Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ wurde zum einen die in den Verhältnissen eingeschriebene Diskriminierung deutlich herausgestellt, zum andern darauf hingewiesen, dass die entsprechend ihrer gesellschaftlichen Formbestimmung nicht entlohnte Arbeit quantitativ die entlohnte Arbeit übersteigt (vgl. Boserup 1970). In eine ähnliche Richtung geht ferner die Debatte über Subsistenzproduktion vor allem in der Entwicklungsforschung (vgl. etwa Smith et al. 1984), die deutlich gemacht hat, dass auch hier die auf marktgängige Tätigkeiten und Produkte fixierte Sicht einen Großteil, wenn nicht die Mehrheit der Verhältnisse ignoriert, unter denen Menschen „ihr Leben gewinnen“ (MEW 23, S. 96, Anm. 33). Die Perspektive des durch die Produktion des Wertes und den Verwertungsprozess des Kapitals geschaffenen und aufrecht erhaltenen Zaubergartens lässt insbesondere den seit den 1980er-Jahren beliebten Topos vom Ende der Arbeitsgesellschaft, der angeblich die Arbeit ausgehe (Dahrendorf 1983), zutiefst fragwürdig erscheinen. In der Explikation von Offe (1983, S. 58) wird der Anspruch eines grundlegenden Paradigmenwechsels mit einer „breiten anti-produktivistischen Strömung“ begründet. Solche Wahrnehmungsmuster oder diskursive Tendenzen beziehen sich auf eine andere kategoriale Ebene als die Wertanalyse. Hier ist kaum mehr eine Auseinandersetzung mit den werttheoretischen Fragestellungen zu erkennen, etwa im Hinblick auf die Folgen einer verwissenschaftlichten Produktion, die die Verwertung des Kapitals vorgeblich von menschlicher Arbeit entkoppele. Die bereits seit Mitte der 1970er-Jahre diskutierten Prozesse der großräumigen Produktionsverlagerung (s. Fröbel et al. 1977, 1986), die später eine wesentliche Dimension der breit diskutierten Globalisierungsprozesse ausmachten, legten die Beschränkungen des der Rede vom Ende der Arbeitsgesellschaft inhärenten methodologischen Nationalismus offen. Die an die Wertanalyse anzuschließenden Problemstellungen sind andere. Es ist aufschlussreich, wie die weitgehende Aussparung der Kernfragen der Wertform die Kritische Theorie an diesen Fragen geradezu vorbeigeleitet hat. So hat Pollock (1964) in einer Analyse der Automatisierung, deren Erhebungen in die Mitte der 1950erJahre fallen, die Perspektive der weitgehenden Eliminierung qualifizierter ebenso wie unqualifizierter Handarbeit ebenso wie die einer Verwissenschaftlichung der Produktion gezeichnet (Pollock 1964, S. 17 f.). Damit rücken Menschen an die Ränder des Produktionsprozesses. Pollock begreift dies hier in erster Linie als Anforderung an eine perspektivische gewerkschaftliche Politik in Westdeutschland – sicher eine weitsichtige Überlegung in Zeiten der Vollbeschäftigung und überregionalen Arbeitskräfterekrutierung, als diese Probleme sich noch nicht wirklich im Alltag

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aufdrängten. Nicht angesprochen werden dabei jedoch die hier implizierten liminalen Probleme des Kapitalismus. In der Sprache der Kritik der politischen Ökonomie lässt sich dieser Prozess so formulieren, dass in der Tat von einer objektiven Grenze die Rede sein könnte: Die organische Zusammensetzung des Kapitals, d. h. das Verhältnis des konstanten Kapitals (Maschinen, Anlagen, Roh- und Hilfsstoffe) gegenüber dem variablen (Lebensmittel der Arbeitenden, Lohn) stiege durch den immer höheren Anteil des konstanten Kapitals, der wertmäßig in der Produktion nicht wie die Arbeitskraft vernutzt und nicht wie Lohn und Mehrwert (Neuwert) neu geschaffen, sondern lediglich umgeschlagen wird, immer weiter an. Das gilt insbesondere für die technologischen Schübe, die wie von Pollock auch für die bevorstehende „Automatisierung“ antizipiert, Arbeit radikal reorganisieren, Arbeitsvermögen obsolet machen und nicht zuletzt die effektive Arbeitszeit verdichten. Dies lässt sich in der Tat in die Vorstellung übersetzen, dass „Arbeit“ immer weniger gebraucht wird und „Arbeitsplätze“ knapp werden. Pollock hat dies ein Vierteljahrhundert vor Offe und Dahrendorf sehr viel konkreter gefasst als diese. Aus der Perspektive der Analyse der Wertform aber verfehlt diese Sichtweise den entscheidenden Punkt. Es geht nicht um „Arbeit“, zu der auch wie eben erinnert auch die riesige Masse unbezahlter Arbeit gehört, die „unproduktiv“ ist für das Kapital; vielmehr steht der Verkauf von Arbeitskraft zur Debatte, und für alle diejenigen, deren Überleben davon abhängt, dies tagtäglich und möglichst kontinuierlich zu bewerkstelligen, ist dies eine beherrschende Frage. Sie sind den Folgen des technischen Fortschritts oder auch von weiträumigen Produktionsverlagerungen ausgeliefert, ohne dass ihre tatsächlich – dann noch mehr außerhalb des Marktes – geleistete Überlebensarbeit durch den Wegfall entlohnter Arbeit geringer würde; allermeist ist das Gegenteil der Fall. In Wahrheit geht den Lohnabhängigen dann nicht die „Arbeit“ aus, sondern sie verlieren Lebenschancen. Wie wir schon sahen, hat Marx an die Problematik der steigenden Zusammensetzung des Kapitals die Perspektive angeschlossen, dass die kapitalistische Produktion an eine Grenze geraten könne, wenn durch die immer weitere Mechanisierung – heute muss dies durch Digitalisierung ergänzt werden – menschliche Arbeit zunehmend und wenigstens der Tendenz nach gänzlich aus dem Produktionsprozess verdrängt würde, Wenn „der Arbeiter“ im Rahmen einer verwissenschaftlichten Produktion den „in einen industriellen“ umgewandelten „Naturprozeß . . . als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur [schiebt], deren er sich bemeistert“ (MEW 42, S. 601). Allerdings bedeutet dies aus Marxscher Sicht nicht einfach Verlust und Katastrophe, sondern viel mehr eine welthistorische Chance. Denn für Marx verbindet sich hier mit der Verwissenschaftlichung der Produktion die Aufsprengung des Systems der Lohnarbeit selbst, „sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein“. Dann nämlich „muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein, und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts“. Damit wären die in der Vorherrschaft der Wertform implizierten Verkehrungen aufgehoben: „Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes“ (MEW 42, S. 601). Das Kapital freilich verkehrt die so geschaffenen menschheitsgeschichtlichen Möglichkeiten der

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Aufsprengung der Zwänge der Kapitalherrschaft wiederum in seinem Sinne; es „setzt . . . die überflüssige [Arbeitszeit] in wachsendem Maß als Bedingung für die – question de vie et de mort – für die notwendige. Nach der einen Seite ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur, wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit“, d. h. das Wertgesetz zu durchbrechen. „Auf der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit, und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten“ (MEW 42, S. 602) Die andere Seite des Widerspruchs besteht in der befreienden Perspektive: „In fact aber sind [dies] die materiellen Bedingungen, um [die bornierte Grundlage des Kapitals] in die Luft zu sprengen“ und den wahrhaftigen Maßstab des Reichtums in sein Recht zu setzen, wie Marx zustimmend aus einer Schrift von 1821 zitiert: „Wahrhaft reich ist eine Nation, wenn statt 12 Stunden 6 gearbeitet werden. Wealth ist nicht Kommando von Surplusarbeit . . . sondern disposable time außer der in der unmittelbaren Produktion gebrauchten für jedes Individuum und die ganze Gesellschaft“ (MEW 42, S. 602). Für Marx erscheint so die rationelle Konsequenz aus einer immer weiter rasant steigenden Produktivität und dem periodischen Umbau des gesamten Produktionsapparats nicht die Eliminierung oder Freisetzung von Lohnabhängigen unter Beibehaltung der auf Tauschwertproduktion basierenden Wirtschaft, sondern die Einlösung der Chancen auf Freiheit. Diese Freiheit denkt er immer jenseits der weiterhin notwendigen Arbeit, auch wenn diese gesellschaftlich anders als unter der Herrschaft des Kapitals organisiert ist: „Das Reich der Freiheit beginnt . . . erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion“ (MEW 25, S. 828). Die möglichst weitreichende, niemals jedoch vollständige Freistellung vom Ringen mit der Natur und Unterwerfung unter „Naturnotwendigkeit“ – die auch da nicht völlig hintergehbar ist, wo „die assoziierten Produzenten diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln“ (MEW 25, S. 828) – wäre daher die Schaffung von Dispositiven freier Zeit, die jene Perspektive des „reichen Menschen“, der freien Entfaltung menschlicher Kreativität, einlösen könnten, die der junge Marx als Zukunftsbild entworfen hatte. Die Lücken in der Rezeption der Marxschen Grundposition innerhalb der kritischen Theorie werden deutlich in der Behandlung der angeführten Passage aus den Grundrissen bei Habermas (1968, S. 66 ff.). Habermas präsentiert die Marxschen Überlegungen als Ausdruck „der materialistischen Wissenschaftslehre eines SaintSimonistisch übersetzten Fichte“ (Habermas 1968, S. 66) und moniert dann, dass – gemäß der oben angesprochenen Engführung des Arbeitsbegriffs bei Habermas – hieraus folge, „die Gattungsgeschichte als eine Synthesis durch gesellschaftliche Arbeit und nur durch Arbeit zu konstruieren“ (Habermas 1968, S. 68). Kaum zufällig bricht das Zitat in Habermas’ Text an der Stelle ab, wo die Widersprüchlichkeit der durch Maschinerie und Automatisierung bezeichneten Prozesse in den Kategorien der Wertform und damit auch ihr sprengendes Potenzial untersucht werden. Ganz konsequent hat Habermas (1981, Bd. II) später Marx einseitig auf

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der Seite des „Systems“ diskutiert, dem Handeln, Interaktion und „Lebenswelt“ gegenübergestellt werden. Auf dieser Ebene wären zweifellos noch immer die weiteren Wandlungen der Kapitalherrschaft auch als Wandlung des „Kapitalismus, wie wir ihn kennen“ (Altvater 2006) zu diskutieren; doch bleiben dabei nicht nur die Widersprüche und verschütteten objektiven Möglichkeiten der Umgestaltung der Arbeitsformen ausgeblendet, sondern zugleich auch die Verkehrungen, die Marx als Konsequenz der kapitalistischen Produktion und der sie bestimmenden Wertform herausgearbeitet hat – mithin der letztlich zentrale Erkenntnisgewinn seines Werkes. Wie der kurze Durchgang zentraler Werke und Wendepunkte gezeigt hat, prägt dies die Kritische Theorie ungeachtet ihrer Auffächerung und tiefgreifenden Veränderungen.

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Kritische Theorie und Krise: Landnahme an den Grenzen kapitalistischer Dynamik Klaus Dörre

Zusammenfassung

Im Verlauf ihrer Entwicklung hat die Kritische Theorie in ihren Hauptströmungen die Analysefähigkeit für ökonomische Krisen und insbesondere auch für große Krisen kapitalistischer Akkumulation eingebüßt. Das rächt sich in Zeiten, in denen globale ökonomische, soziale und politische Verwerfungen eine Rückkehr zur Normalität raschen Wachstums ausschließen. Der Beitrag skizziert Grundlinien marxistischer Krisendiskussion, rückt sie in den Kontext kapitalistischer Landnahmen, skizziert exemplarisch die Landnahmen des Sozialen und benennt neue Herausforderungen für eine Theorie der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise. Schlüsselwörter

Krise · Große Krise · Zangenkrise · Vielfachkrise · Landnahme · Kolonialisierung · Akkumulationstheorie · Absorbtionsproblem · Selbststabilisatoren

Dass ökonomische Krisen Gegenstand Kritischer Theorie sind, ist keineswegs selbstverständlich. Karl Marx und Friedrich Engels hatten selbst keine umfassende Krisentheorie ausgearbeitet, sondern allenfalls Bruchstücke geliefert, die von späteren Generationen marxistischer Intellektueller höchst unterschiedlich interpretiert und weiterentwickelt wurden. Dabei verschob sich die Debatte allmählich vom konjunkturellen Zyklus hin zu krisenhaften Strukturbrüchen in der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus. Die jüngere Kritische Theorie hat dieses Vermächtnis jedoch mehr und mehr preisgegeben. In dem Maße, wie sie sich in ihren Hauptströmungen von der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie entfernte, ist ihr K. Dörre (*) Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_52

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auch das Sensorium für die strukturelle Instabilität des Kapitalismus abhandengekommen. Das rächt sich in einer Zeit, in der globale Finanz- und Wirtschaftskrisen möglicherweise ein Zeitalter säkularer ökonomischer Stagnation eingeleitet haben. Nachfolgend plädiere ich dafür, einen verschütteten Strang der Krisenanalyse wieder aufzunehmen, der mit dem Begriff der Landnahme verbunden ist. Zur Begründung wird (1.) gezeigt, dass sich der Hauptstrom der jüngeren Kritischen Theorie eine Kapitalismusinterpretation zu eigen macht, die in der Tradition neoharmonistischer Paradigmen stehen. Es folgt (2.) ein Abriss über politökonomische Krisendeutungen und deren Fundierung durch eine Theorie kapitalistischer Landnahmen, deren Anwendung (3.) am Beispiel des deutschen Kapitalismusmodells illustriert wird. Abschließend folgen (4.) Überlegungen zur ökonomisch-ökologischen Zangenkrise und zu neuen Herausforderungen für eine Kritische Theorie kapitalistischer Krisen.

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Zur Einführung: Die Kontroverse um die Reproduktion des Kapitalverhältnisses

Eine der theoretisch fruchtbarsten Kontroversen um die krisenhafte Dynamik kapitalistischer Gesellschaften beruhte ironischerweise auf einer logischen Fehlinterpretation des Marx’schen Werks. Anfang des 20. Jahrhunderts sahen sich marxistische Theoretiker vor allem in den industriellen Zentren mit gravierenden Strukturveränderungen des Kapitalismus konfrontiert. Konzentration und Zentralisation des Kapitals, Kartellbildung, Kolonialpolitik, ungleichzeitige Entwicklung und Imperialismus drängten nach Deutung. Die Beschäftigung mit diesem Strukturwandel und dessen politischstrategischen Konsequenzen löste eine Debatte aus, die sich an den Marx’schen Repoduktionsschemata entzündete. Marx hatte diese Schemata im zweiten Band von Das Kapital in Auseinandersetzung mit Quesnays Tableau économique entwickelt (vgl. Marx 1893/1977). Er beabsichtigte, die idealen Gleichgewichtsbedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft darzustellen. Zwecks Veranschaulichung nutzte er ein stark vereinfachtes Kapitalismusmodell, das auf zwei Abteilungen der Akkumulation (Investitionsgüter-, Konsumgüterproduktion) und zwei Grundklassen (Besitzer von Produktionsmitteln, Besitzer von Arbeitskraft) in einer geschlossenen Wirtschaft beruhte. Von nichtkapitalistischen Produktionsweisen und Lebensformen abstrahierte er ebenso wie von technischem Fortschritt und Kolonialismus. Was Marx als Modellierung von gelingender Reproduktion des Kapitals verstanden wissen wollte, interpretierten führende marxistische Intellektuelle des frühen 20. Jahrhunderts als Grundstein für eine Theorie kapitalistischer Entwicklung. Eine wichtige Interpretationslinie, die von ihren Kritikern als neoharmonistisch (vgl. Luxemburg 1903/1974, S. 363–368) abgelehnt wurde, ging auf die russischen legalen Marxisten und insbesondere auf den Ökonom Michail Iwanowitsch Tugan-Baranowski zurück. Aus der Sicht Tugan-Baranowskis und seiner Anhänger war Marx mit seinen Schemata für die einfache und die erweiterte Reproduktion des Kapitals der Nachweis für die Möglichkeit zu unbegrenzter Akkumulation und permanentem Wachstum in einem sich dynamisch stabilisierenden Kapitalismus gelungen. Diese Interpretation löste heftige Kontroversen aus. Neben den sozialrevolutionären Volkstümlern

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(Narodniki) hatten auch Wladimir I. Lenin und Rosa Luxemburg diese Interpretation der Marx’schen Schemata zurückgewiesen. Das marxistische Zentrum innerhalb der deutschen Sozialdemokratie nahm diese Debatte nur selektiv und zeitverzögert wahr. Immerhin hatte sich mit Rudolf Hilferding ein führender Theoretiker dieser Strömung Tugan-Baranowskis Interpretation des Marx’schen Wertmodells zueigen gemacht und sie mit seiner Theorie des organisierten Kapitalismus verschmolzen. In Hilferdings Analysen des Finanzkapitals ist die neoharmonistische Interpretation zunächst nur als subdominanter Diskus angelegt. Der Austromarxist arbeitet die aggressive Tendenz imperialer Expansion mit großer analytischer Schärfe heraus. In den kapitalistischen Metropolen erscheine es als politisches Ideal, „der eigenen Nation die Herrschaft über die Welt zu sichern“. Dieses Streben sei „ebenso unbegrenzt wie das Profitstreben des Kapitals, dem es entsprang“. Das Kapital werde „zum Eroberer der Welt, und mit jedem Lande“ erobere es „die neue Grenze, die es zu überschreiten“ gelte. Zur ökonomischen Notwendigkeit geworden, werde die kapitalistische Expansion auch ideologisch legitimiert – durch aggressiven Nationalismus und Rassenideologie, die das Machtstreben des Finanzkapitals mit scheinbar naturwissenschaftlichen Weihen versehe (vgl. Hilferding 1909/1974, S. 457–458). Allerdings bewegt sich dieser aggressive Expansionismus im ständigen Widerspruch zur realen Vergesellschaftung der Produktivkräfte. Hilferding greift Karl Kautskys Gedanken von der allmählichen Herausbildung eines „Generalkartells“ (vgl. Hilferding 1909/1974, S. 322) auf und argumentiert, die Konzentration und Zentralisation von Kapital erreiche früher oder später einen Punkt, an welchem die „ganze kapitalistische Produktion“ von einer Instanz bewusst geregelt werde, die „das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären“ bestimme (vgl. Hilferding 1909/1974, S. 321–322). Im Finanzkapital, verstanden als industrielles Kapital in der Verfügung der Banken, „erlischt“ demnach der besondere Charakter des Kapitals (vgl. Hilferding 1909/1974, S. 323). Es ist diese Tendenz zur Vergesellschaftung der Produktivkräfte, die Otto Bauer, Renner, Kautsky und Braunthal später harmonistisch überhöhen. Für Otto Bauer z. B. sind Krisen temporäre Ereignisse, die – darin der späteren Neoklassik ähnlich – früher oder später wieder zu Gleichgewichtsmärkten führen. Die Überzeichnung der Tendenz zu Rationalität und Planmäßigkeit im Kapitalismus führt zu der problematischen Auffassung, dass es nur noch der schrittweisen Überwindung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse bedarf, um von den Kommandohöhen wirtschaftlicher und politischer Macht aus den Übergang in eine Gesellschaft zu gestalten, die mit dem Kollektiveigentum an Produktionsmitteln zugleich die Anarchie kapitalistischer Märkte überwindet.

1.1

Rosa Luxemburg und das Reproduktionsproblem

Solchen Auffassungen widersprachen revolutionäre Marxisten wie Luxemburg und Lenin. Für Lenin und die Bolschewiki war der Imperialismus ihrer Zeit nicht nur das „höchste Stadium des Kapitalismus“ (Lenin 1916/1977), sondern zugleich Indiz für dessen parasitäre, in Fäulnis begriffene Verfassung. Fäulnis schloss ein „Wachstum des Kapitalismus nicht aus“ (Lenin 1916/1977, S. 305), im Gegenteil, im Großen

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und Ganzen wuchs „der Kapitalismus bedeutend schneller als früher“, aber dieses Wachstum wurde „immer ungleichmäßiger“ und äußerte sich, wie Lenin schrieb, „im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder“ (Lenin 1916/1977, S. 306). Ein Grundproblem dieser Analyse wurzelt darin, dass auch sie Strukturmerkmale des Kapitalismus verabsolutierte, die sich im historischen Verlauf als reversibel, als veränderbar erwiesen haben. Folgt man der Fäulnisthese, so hätte es den wohlfahrtsstaatlich regulierten fordistischen Kapitalismus, der sich nach 1945 in den kapitalistischen Metropolen herausbildete, niemals geben dürfen. Mit Blick auf die Krisen der Gegenwart scheint es daher aussichtsreicher, an einem heterodoxen Strang Marx’scher Theorie anzuknüpfen, der sich kritisch zu neoharmonistischen Deutungen kapitalistischer Dynamik verhält, ohne der Lenin’schen Imperialismusanalyse zu folgen. Eine solch heterodoxe Linie ist ursprünglich von Rosa Luxemburg begründet worden. Luxemburg lehnt neoharmonistische MarxInterpretationen nicht nur ab, sondern verortet deren Grundfehler in den Prämissen des Marxʼschen Wertmodells. Marx habe einen reinen Kapitalismus unterstellt, der so niemals existieren könne. Deshalb seien die Reproduktionsschemata nicht realitätstauglich. Um ihren Standpunkt zu begründen, nimmt Luxemburg in ihrer Akkumulationstheorie auf, was Marx bei der Entwicklung seiner Schemata explizit ausgeklammert hatte. Dieses Vorgehen ermöglicht ihr, den Imperialismus auf eine systemische Nachfrageinsuffizienz kapitalistischer Gesellschaften zurückzuführen. Vom Zwangsgesetz der Konkurrenz getrieben, entstehe ein Drang der Einzelkapitale nach erweiterter Reproduktion und damit zur beständigen Produktion und Rekapitalisierung zusätzlichen Mehrwerts, der über die zahlungsfähige Nachfrage der Endkonsumenten letztendlich nicht absorbiert werden könne. Um diese Schranke zu überwinden, müsse der überschüssige Mehrwertanteil im „nichtkapitalistischen Milieu“ (Luxemburg 1975, S. 314) realisiert werden. Das strukturelle Problem der erweiterten Reproduktion des Kapitals besteht demnach darin, dass es für den zusätzlich erzeugten und sodann zumindest teilweise kapitalisierten Mehrwert der jeweils vorausgegangenen Produktionsperiode keine zahlungsfähige Nachfrage innerhalb interner kapitalistischer Märkte der Nachfolgeperiode geben kann. Dieses strukturelle Ungleichgewicht zwingt zur Expansion. Die Akkumulation des Kapitals bleibe jederzeit an „nichtkapitalistische Kreise gebunden“ (Luxemburg 1975, S. 306). Der Kapitalismus sei die erste Wirtschaftsform mit der Tendenz, „sich auf dem Erdgrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen“ (Luxemburg 1975, S. 411). Sie sei aber auch die erste Form, die „ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden“ nicht existieren könne. Je erfolgreicher sie expandiere, desto näher rücke der Zeitpunkt, an dem sie an ihrer inneren Unfähigkeit zerschellen müsse, eine „Weltform der Produktion“ (Luxemburg 1975, S. 411) zu sein.

1.2

Der Verlust des Ökonomischen in der Kritischen Theorie

Wie wir wissen, beruht auch Luxemburgs Argumentation auf einem logischen Fehler. Darin den Neoharmonisten ähnlich, interpretiert sie die Marx’schen Repro-

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duktionsschemata so, als enthielten sie eine Theorie kapitalistischen Wachstums. Von ihren zeitgenössischen Kritikern zu Unrecht als Zusammenbruchstheoretikerin abqualifiziert, galt ihr wissenschaftliches Vermächtnis dem Hauptstrom Kritischer Theorie mehr und mehr als verzichtbar. In der Habermas’schen Grenzziehung eines westlichen Marxismus taucht Luxemburg, anders als Antonio Gramsci, bezeichnender Weise gar nicht auf. Der Verzicht steht geradezu symbolisch für eine allmähliche Abkehr der Frankfurter Schule von den Grundlagen der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie. Schon Pollocks Staatskapitalismus-Analysen, die den Nationalsozialismus als neue soziale Ordnung begreifen, unterschätzen die immanente Krisenträchtigkeit kapitalistischer Ökonomien. Mit der Expansion und Stabilisierung des Wohlfahrtsstaates nach 1945 galt der ökonomische Krisenmechanismus endgültig als gebändigt und der Kapital-Arbeit-Gegensatz als pazifiziert. Ökonomisches Wachstum vorausgesetzt, ließen sich die Verteilungskämpfe entschärfen. Krisendynamiken verlagerten sich auf das Terrain des kapitalistischen Staates und von dort hin zu Kontraktionen zwischen System und Lebenswelt. Weil die fortgeschrittenen Kapitalismen ihre Regulierungskapazität erfolgreich auf die Einhegung des Kapital-Arbeit-Gegensatzes konzentrierten, seien, so Jürgen Habermas, neue Konfliktlinien jenseits der industriellen Klassenspaltung entstanden, die sich an der „Kolonialisierung“ (Habermas 1987, S. 293) der Lebenswelt entzündeten. Wohl komme es in den ausdifferenzierten Subsystemen Wirtschaft und Staat noch immer zu Ungleichgewichten und Steuerungskrisen, doch diese Krisen würden, noch bevor sie Kernbereiche der sozialen Integration gefährdeten, an die „Nahtstellen zwischen System und Lebenswelt“ (Habermas 1987, S. 566, 581) verschoben. Wenn es aber gelinge, „Steuerungskrisen, d. h. wahrgenommene Störungen der materiellen Reproduktion durch Rückgriffe auf Ressourcen der Lebenswelt aufzufangen“, entstünden „Pathologien der Lebenswelt“ (Habermas 1987, S. 566). Im Grunde beruht diese Diagnose auf einer stillschweigenden Übernahme wichtiger Prämissen neoharmonistischer Akkumulationstheorien. Die Erzeugung von Wirtschaftswachstum als Voraussetzung für institutionelle Stabilität wird nicht mehr problematisiert; sie gilt als gesetzt. „Der Sozialstaat“, so Habermas, „darf die Stabilitätsanforderungen des kapitalistischen Wachstums [. . .] deshalb nicht verletzen, weil korrigierende Eingriffe in das Verteilungsmuster sozialer Entschädigungen im Allgemeinen nur dann keine Reaktionen von Seiten der privilegierten Gruppen auslösen, wenn sie aus den Zuwächsen des Sozialprodukts bestritten werden können und Besitzstände nicht berühren; sonst können sie die Funktion der Eingrenzung und Stillstellung des Klassenkonflikts nicht erfüllen“ (Habermas 1987, S. 511). Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Fortsetzung in der europäischen Misere zeigen, dass diese Prämisse nicht mehr haltbar ist. Habermas hatte seine These von den schwindenden utopischen Energien des Wohlfahrtsstaates noch mit dem Hinweis verbunden, dass es für die „in der Sozialstaatsentwicklung noch zurückgebliebenen Länder“ keinen plausiblen Grund gebe, vom wohlfahrtsstaatlichen Pfad abzuweichen. In den europäischen Krisenländern vollzieht sich nun jedoch die Verwandlung eines traditionell schwachen Wohlfahrtsstaates in einen, zumindest in sozialer Hinsicht, Minimalstaat. Gesellschaften mit reduzierten sozialintegrativen Staatsfunktionen, wie sie nicht nur in Südeuropa, sondern in noch

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weitaus drastischeren Formen in osteuropäischen Ländern wie Bulgarien und Rumänien bittere Realität sind, verfügen zwar über einen halbwegs demokratischen institutionellen Rahmen und selbst minimalistische wohlfahrtsstaatliche Arrangements können, wie der irische Fall belegt, dazu beitragen, die schlimmsten sozialen Krisenfolgen ein wenig abzumildern (vgl. Wickham 2014). Doch die Entscheidung über ihre Zukunft ist den Bevölkerungen der Krisenländer weitgehend genommen. Selbst bei einem durchschnittlichen jährlichen BIP-Wachstum von mehr als 3 % würde Griechenland nach seriösen Schätzungen mindestens 20 Jahre benötigen, um ökonomisch auch nur das Vorkrisenniveau zu erreichen – eine trostlose Aussicht, die der Bevölkerungsmehrheit jegliche Hoffnung nimmt, ihre prekäre Lage könne sich in absehbarer Zeit zum Besseren wenden. Die eigentümliche Mischung aus Wachstumsschwäche, anhaltender ökonomischer Instabilität, härteren zwischenstaatlichen Konflikten bis hin zum Krieg, vermeintlicher Kontinuität des Marktfundamentalismus sowie autoritären Entwicklungen selbst in kapitalistischen Kernstaaten ist höchst erklärungsbedürftig. Sie erzwingt eine Rückkehr zu den Wurzeln Kritischer Theorie, zu einer kritischen Sozioökonomie, welche mit den expansiven Mechanismen zugleich die Grenzen kapitalistischer Dynamik thematisiert. Eine solche Theorie, die – so mein Plädoyer – am Konzept kapitalistischer Landnahmen ansetzen kann, ist gegenwärtig allenfalls in Umrissen entwickelt. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich darauf, einige wichtige Bausteine zu skizzieren.

2

Zur politische Ökonomie der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise

Anders als Theorien zunehmender kapitalistischer Divergenz erwarteten, hat sich die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 als historische Zäsur und Auftakt zu einer Zeitenwende erwiesen. David Harvey hat den Verlauf der globalen Finanzund Wirtschaftskrise im Bild einer Kaskade beschrieben: Die Krise wanderte aus ihrem Epizentrum im deregulierten Finanzsektor „from one sphere to another and from one geographical location to another, with all manner of knock-on and feedback effects that seemed almost impossible to bring under control, let alone halt and turn back“ (Harvey 2014, S. 44). Damit ist bereits gesagt, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Krise handelt. Grundsätzlich fungieren ökonomische Krisen als „die irrationalen Rationalisierer eines stets instabilen Kapitalismus“ (Harvey 2014, S. 74). Für die Stimulierung von Wachstum sind sie, sofern sie für Kapitalentwertung sorgen und Innovationen anregen, geradezu unentbehrlich. Das gilt auch für die zahlreichen kleineren und größeren Finanzkrisen, die der globalen Rezession von 2008/09 vorausgingen. Diese Krisen wirkten als effiziente Mechanismen der Umverteilung von unten nach oben. Dafür sorgte ein Krisenmanagement, das, in scharfem Kontrast zur ideologischen Überhöhung des Marktes, auf massive Staatsinterventionen setzte. Immer wieder war es der Staat, der einspringen musste, um Fonds oder Kreditinstitute vor der Pleite zu bewahren. Mit staatlicher Hilfe wurden Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert. Diese „irrationale Rationalisierung“ bewirkte

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jedoch bei wichtigen Finanzmarktakteuren einen „systemischen Moral Hazard“ (Harvey 2014, S. 18),1 der entscheidend zur Kumulation des Krisenpotenzials im Finanzsektor beitrug. Für Investoren, Banker, Hedgefonds-Manager, ja, tendenziell innerhalb der gesamten „Dienstklasse des Finanzmarkt-Kapitalismus“ (Windolf 2008) entstand der Eindruck, risikolos agieren zu können, was die Neigung zu hochriskanten Spekulationsgeschäften weiter beförderte. Aus der Perspektive von Investmentbanken und ihren angestellten Spezialisten war es völlig rational, wegen der Aussicht auf hohen Gewinn nahezu jedes Wagnis einzugehen, denn im Falle des Scheiterns hatten andere für die Kosten aufzukommen. Die staatlichen Rettungsmaßnahmen wiederum verhinderten Marktbereinigungen, sie machten institutionelle Neuerungen scheinbar überflüssig und blockierten so die Reinigungsfunktion des Krisenmechanismus. Das Krisenpotenzial wuchs, bis es schließlich eine „Explosion im Finanzsektor“ (Zeise 2008, S. 8) auslöste. Um die Krise zu verstehen, müssen wir uns jedoch von der Fixierung auf den Finanzsektor lösen und die gesamte Vorgeschichte des globalen Crashs einbeziehen. Dazu greifen zahlreiche Interpreten auf ein Polanyisches Szenario zurück. Zweifellos ähnelt die „Landnahme durch den Markt“ (Streeck 2013, S. 16; vgl. auch Burawoy 2013 und Fraser 2011), die mit der Krise von 1973/74 einsetzte, jener in The Great Transformation beschriebenen Doppelbewegung, die mit den Versuchen zur Durchsetzung reiner Marktwirtschaften begann und mit der Weltwirtschaftskrise von 1929–32, Faschismus und Zweitem Weltkrieg ihren Abschluss fand. Doch abgesehen von den Schwierigkeiten, auf die historische Analogien immer stoßen (vgl. Kocka 2013),2 bleibt bei jeder Polanyi-Referenz eine zentrale Frage ungeklärt. Was genau macht die Marktexpansion im Kapitalismus zu einer unhintergehbaren Notwendigkeit und wie hängt der Expansionszwang mit ökonomischen Krisen zusammen? Ohne Polanyi ad acta zu legen, kann ein Antwortversuch an jene heterodoxe Linie der Marx-Interpretation anschließen, die kapitalistische Dynamik als Landnahme deutet.3

1

Weitere eigenständige Ursachen sind die Intransparenz von Finanzmarktprodukten und -risiken sowie die durch die Geldpolitik verstärkten weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte. Hinzu kommen das System der Schattenbanken und dessen transnationale Verflechtungen; bankeninterne Konkurrenzen, die dazu führen, dass diejenigen Filialen den Zuschlag für Geschäfte bekommen, die einer besonders lockeren Regulierung unterliegen; die Unterstützung von Geschäften, die für Bankvorstände mathematisch intransparent sind; eine „kreative Buchführung“, die Risiken verschleiert; Unsicherheiten der buchhalterischen Vermögensbewertung bei volatilen Märkten; das Agieren von jungen, hochqualifizierten Männern mit außergewöhnlichem Talent, die von außen schwer zu kontrollieren sind sowie die technologische Beschleunigung von Prozessen im computergestützten Hochfrequenzhandel. Dies alles bewirkt einen Kontrollverlust im Finanzsektor, der die Kumulation von immer größeren Risiken fördert. 2 Danach entspricht die Polanyi’sche Diagnose nicht dem historischen Forschungsstand, weil sie den Einfluss von Märkten überzeichnet. 3 Methodisch gibt es eine Nähe zum Theorieprogramm eines „Democratic Marxism“, der für unterschiedliche Kapitalismusanalysen offen ist und Demokratie als Ausgangspunkt für Alternativen zum Kapitalismus begreift (vgl. Williams und Satgar 2013, S. III).

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2.1

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Die Grundidee des Landnahmekonzepts

Landnahme ist als Kategorie für Theorien zentral, die den industriellen Kapitalismus als expansives System analysieren und kritisieren (vgl. Kößler 2013). Ungeachtet ihrer sonstigen Heterogenität teilen entsprechende Konzepte die Annahme, wonach kapitalistische Gesellschaften sich nicht ausschließlich aus sich selbst heraus reproduzieren. Kapitalistische Entwicklung vollzieht sich als komplexe Innen-AußenBewegung. Stets beinhaltet sie die Internalisierung von Externem, die Okkupation eines nicht oder nicht vollständig kommodifizierten Anderen. Ein reiner Kapitalismus, wie ihn Marx als abstraktes Modell seinen Reproduktionsschemata im zweiten Band von Das Kapital zugrunde legt, ist tatsächlich nicht überlebensfähig. Jedenfalls war und ist ein solcher Kapitalismus nirgendwo existent. In der Realität erfordert die kapitalistische Dynamik einen ständigen Austausch, den bereits kommodifizierte Bereiche mit noch nicht oder noch nicht vollständig kommodifizierten Sektoren der Gesellschaft pflegen.4 Dieser Austausch vollzieht sich nach dem Muster einer fortwährenden ursprünglichen Akkumulation, d. h. die Scheidung der Produzenten von den Produktionsmitteln und vor allem die außerökonomische Disziplinierung der Arbeitskräfte für neue Produktionsweisen sind niemals abgeschlossen. Der Gedanke, dass die Kapitalakkumulation „als geschichtlicher Prozeß in allen ihren Beziehungen auf nichtkapitalistische Gesellschaftsschichten und -formen angewiesen“ bleibt (Luxemburg 1975, S. 315), stammt, wie schon angesprochen, ursprünglich von Rosa Luxemburg. Die revolutionäre Sozialistin bezieht ihn in erster Linie auf die imperialistische Expansion außerhalb Europas, thematisiert wie Marx aber auch die „ständige Proletarisierung der ländlichen und städtischen Mittelschichten“ (Luxemburg 1975, S. 311) innerhalb kapitalistischer Zentren. Jahrzehnte später hat Burkart Lutz diese Überlegung zum arbeitssoziologischen Konzept einer inneren Landnahme erweitert, um so die nachlassende Wachstumsdynamik des fordistischen Kapitalismus zu erklären. Lutz wendet das Landnahmekonzept auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaates und die damit verbundene Absorption eines ländlichhandwerklichen Sektors an, die er aufgrund ihrer zerstörerischen Wirkung für traditionale Strukturen, Produktionsweisen und Lebensformen als „Analogie zur ‚äußeren Landnahme‘ des Imperialismus“ (Lutz 1989, S. 213) begreift. Neuere Landnahmekonzeptionen, soweit sie sich auf kapitalistische Zentren beziehen, thematisieren demgegenüber die selektive Freisetzung von Lohnabhängigen und ihren Familien aus wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen, die Beschneidung von Sozialeigentum und die Disziplinierung in und für flexibel-markzentrierte Produktions- und Reproduktionsweisen (vgl. Federici 2012).

Von einer kapitalistischen Gesellschaftsformation kann gesprochen werden, wenn „kapitalistische Prinzipien eine gewisse Dominanz besitzen“, wenn sie dazu tendieren „über die Wirtschaft hinaus in andere Bereiche auszugreifen“ und auch nichtkapitalistische Verhältnisse zu prägen (Kocka 2013, S. 12).

4

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Im Unterschied zu modernisierungstheoretischen Argumentationen betonen Landnahmekonzepte die Nicht-Linearität kapitalistischer Entwicklung. Dies auch, weil sich die Kommodifizierung nichtkapitalistischer Milieus nur unvollständig durchsetzen lässt. Marktbeziehungen sind stets mit Formen des Austauschs und der sozialen Interaktion verbunden, die sich nicht in das Raster eines über Preise vermittelten kapitalistischen Warentauschs fügen. Aus diesem Grund geht jede Landnahme mit Landpreisgabe einher, die sich, wie im Fall der fordistischen Expansion, als weitreichende Abkoppelung Lohnabhängiger und ihrer Familien von Marktrisiken (Dekommodifizierung), oder, wie gegenwärtig besonders in den europäischen Krisenländern, als Wiederbelebung des Reservearmeemechanismus, Brachlegung von Arbeitskraft und Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen kann. Die informellen Sozialformen, die sich zum Beispiel in der griechischen Schrumpfungsgesellschaft herausgebildet haben, sind ein gutes Beispiel für Landpreisgabe qua Entkommodifizierung.

2.2

Das Kapitalüberschuss-Absorptionsproblem

Wie hängen kapitalistische Landnahmen nun mit ökonomischen Krisen zusammen? Unter kapitalistischen Bedingungen muss Geld fortwährend mit dem Ziel investiert werden, mehr Geld zum Investor zurückfließen zu lassen. Insofern ist der Kapitalismus „nichts, wenn er nicht in Bewegung ist“ (Harvey 2011, S. 23). Allerdings stößt der Kapitalfluss fortwährend an selbsterzeugte Grenzen. Kapitalistische Gesellschaften beziehen ihre Dynamik wesentlich aus der Fähigkeit, absolute Grenzen der Akkumulation in überwindbare Barrieren zu verwandeln, wobei „jede Schranke von einer anderen abgelöst werden kann“ (Harvey 2011, S. 373). Krisen können während jeder Phase (Produktion, Zirkulation, Konsumtion) auftreten, die das Kapital im Zuge seiner Reproduktion durchläuft. Potentielle Ursachen sind ungenügendes Startkapital für kapitalintensive Innovationen, Arbeitskräfteknappheit, Disproportionalitäten zwischen wirtschaftlichen Sektoren, Knappheit an natürlichen Ressourcen oder andere ökologische Verwerfungen, wirtschaftliche Ungleichgewichte durch rasche technologische Veränderungen, Arbeiterwiderstand in Produktionsprozessen, Unterkonsumtion sowie Ungleichgewichte, die im Geld- und Finanzsystem ihren Ursprung haben. Jede Krise ist einmalig, sie muss in Ursachen und Verlauf empirisch untersucht werden und lässt sich zureichend weder aus einer abstrakten Kapitallogik, noch aus einem universellen Steigerungsimperativ moderner Gesellschaften extrapolieren. Allerdings existiert eine Grundproblematik kapitalistischer Akkumulation, die sich in der einen oder anderen Weise in jeder Krise offenbart. Diese Grundproblematik verortet Rosa Luxemburg im Anschluss an Marx zu Recht in der Koppelung von Kapitalakkumulation und gesellschaftlicher Reproduktion. Reproduktion, wörtlich Wiederproduktion, ist eine Vorbedingung für die Kulturexistenz der Menschheit, die auf einer primitiven Stufe der Menschheitsentwicklung stets gefährdet ist. Soziale Reproduktion umschließt somit bereits „eine gewisse Höhe in der Beherrschung der äußeren Natur durch die Gesellschaft“ (Luxemburg 1975, S. 9–10). Als

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Verhältnis der Menschen zur außermenschlichen Natur sowie als Verhältnis der Menschen untereinander ist sie doppelt bestimmt. Im Kapitalismus sind zwar alle Reproduktionsmittel vorhanden, dennoch kommt es zu krisenhaften Unterbrechungen, weil die Reproduktion der Gesellschaft an die Reproduktion von Kapital gebunden ist. Produktion und Zirkulation von Waren und Kapital stellen einen komplexen Prozess dar, in dessen Verlauf ständig Informationsprobleme auftauchen, weil sich die Marktteilnehmer über die Beobachtung von Preisen zueinander verhalten müssen. In diesem komplexen Prozess ist die Möglichkeit einer krisenhaften Störung stets gegeben. Die Reproduktion des Kapitals bewegt sich permanent in einem Zyklus zwischen Überfluss oder Mangel (vgl. Luxemburg 1975, S. 13). Doch der Konjunkturzyklus ist nicht das Problem, mit dem sich Luxemburg beschäftigen will. Sie differenziert zwischen Konjunkturtheorie und langfristig angelegter Wachstumstheorie. Vom Konjunkturzyklus müsse abstrahiert werden, um das eigentliche Reproduktionsproblem zu erkennen. Der periodische Wechsel der Konjunkturen bewirke, „daß die kapitalistische Reproduktion als Regel um die zahlungsfähigen Gesamtbedürfnisse der Gesellschaft schwankt, sich bald von ihnen nach oben entfernt, bald unter sie bis zur nahezu völligen Unterbrechung sinkt“ (Luxemburg 1975, S. 14). Ein Ausgleich sei nur über längere Zeiträume möglich und nicht durch Konjunkturschwankungen zu lösen. Zu erklären ist demnach, wie aus Milliarden unzusammenhängender mikroökonomischer Operationen gesellschaftliche Reproduktion werden kann. Luxemburg verortet die entscheidende Triebkraft in einem über Markt und Konkurrenz vermittelten Wachstumszwang. Es sei „die Mehrwertproduktion“, die in der kapitalistischen Gesellschaft „die Reproduktion der Lebensbedürfnisse im Ganzen zum Perpetuum mobile“ mache (Luxemburg 1975, S. 17). Da die Bestimmung des Umfangs der Reproduktion beim Einzelkapitalisten liege, der in Konkurrenz zu anderen Einzelkapitalen agiere, ergebe sich ein wirkungsmächtiges Motiv für die ständige Verbesserung der Arbeitsproduktivität und damit auch für die erweiterte Reproduktion des Kapitals. Da sich kein Kapitalist sicher sein könne, dass der mehrstufige Verwandlungsprozess des vorgeschossenen Kapitals wirklich gelinge, müsse er ständig Maßnahmen ergreifen, die auf eine erweiterte Reproduktion, sprich: auf die Erzeugung neuen, zusätzlichen Mehrwerts und damit auf ökonomisches Wachstum hinausliefen. Dieser systemische Wachstumszwang lasse die Abhängigkeit der Einzelkapitalisten von der Gesellschaft sichtbar werden, denn einen erweiterten Absatzmarkt könne ein einzelner Kapitalist nicht selbst schaffen, er stehe dieser Notwendigkeit „machtlos“ (Luxemburg 1975, S. 23) gegenüber. Mehr noch, die kapitalistische Produktionsweise verwandle „diese Erweiterung geradezu in ein Zwangsgesetz, in eine wirtschaftliche Existenzbedingung für den Einzelkapitalisten“ (Luxemburg 1975, S. 18). Luxemburg schlussfolgert: „Das Schema der erweiterten Reproduktion weist bei näherem Zusehen selbst in allen seinen Beziehungen über sich hinaus auf Verhältnisse, die außerhalb der kapitalistischen Produktion und Akkumulation liegen“ (Luxemburg 1975, S. 300). Dieses Argument führt direkt zu Rosa Luxemburgs Theorie externer Mehrwertrealisierung. Luxemburgs Argumentation durchzieht der Grundgedanke einer sich periodisch wiederholenden ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, wie Marx die gewaltträchtige Herausbildung der kapitalistischen

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Produktionsweise bezeichnet hatte. Anders als Marx, der den außerökonomischen Zwang für ein Übergangsphänomen hielt, geht Rosa Luxemburg von einer fortwährenden ursprünglichen Akkumulation aus, die sich allerding von ihrem „naiven“ Vorläufer unterscheidet (Luxemburg 1975, S. 398). Luxemburg spricht nicht von Landnahme, sondern von „Kolonisationen“ (Luxemburg 1975, S. 205) und meint damit, dass die Freisetzung von Arbeitskräften, die Einführung einer Warenwirtschaft und die häufig gewaltsame kapitalistische Eigentumsbildung ständige Begleiterscheinungen der Akkumulation sind. Die kapitalistische Akkumulations- und Wachstumsdynamik nimmt eine Doppelgestalt an. Sie vollzieht sich als permanenter „Stoffwechsel“ (Luxemburg 1975, S. 315) zwischen inneren und äußeren Märkten. Die Unterscheidung zwischen innen und außen ist jedoch – was viele Luxemburg-Kritiken übersehen – keine der „politischen Geographie“, sondern eine „der sozialen Ökonomie“: „Innerer Markt vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion ist kapitalistischer Markt, ist diese Produktion selbst als Abnehmerin ihrer eigenen Produkte und Bezugsquelle ihrer eigenen Produktionselemente. Äußerer Markt für das Kapital ist die nichtkapitalistische soziale Umgebung, die seine Produkte absorbiert und ihm Produktionselemente und Arbeitskräfte liefert“ (Luxemburg 1975, S. 315). Daher vollziehen sich Eigentumsbildung und Freisetzungen nicht nur „auswärts“ (Luxemburg 1975, S. 315), in Kolonien und vorkapitalistischen Gesellschaften. Als Proletarisierung von ländlichen und städtischen Mittelschichten, Handwerkern und kleinen Warenproduzenten finden sie ebenso im Inneren industriekapitalistischer Gesellschaften statt . Infolgedessen expandiert die kapitalistische Produktionsweise in höchst unterschiedlich strukturierten Märkten. Die eine Bewegung setzt sich in den Produktionsstätten des Mehrwerts, in den Fabriken, der durchkapitalisierten Landwirtschaft und auf den Warenmärkten durch. Hier reproduziert sich der Kapitalismus weitgehend auf seinen eigenen Grundlagen. Die Transaktionen bewegen sich in den Schranken „des Austausches von Äquivalenten“; es herrschen „Friede, Eigentum und Gleichheit [. . .] als Form“ (Luxemburg 1975, S. 397). Die inneren kapitalistischen Märkte bleiben jedoch innerhalb wie außerhalb nationaler Gesellschaften auf äußere Märkte angewiesen. In diesen äußeren Märkten strukturieren äußerökonomischer Zwang, Disziplinierung und ungleicher Tausch die Interaktionen. Äußere Märkte unterliegen Dominanzverhältnissen, das heißt, sie sind nicht einmal der Form nach Beziehungen zwischen Freien und Gleichen: „Hier [sc. auf den ‚äußeren Märkten‘] herrschen als Methode Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden“ (Luxemburg 1975, S. 397). Die Theorie externer Mehrwertrealisierung ist bei zeitgenössischen Marxisten überwiegend auf schroffe Ablehnung gestoßen (vgl. Bauer 1913, S. 833–838, 863–874; Robinson 1964; Turban 1980, S. 132–196). Luxemburg habe, so ein treffender Einwand, das Abstraktionsniveau der Reproduktionsschemata verfehlt. Während Marx von einer Vielzahl beeinflussender Faktoren – nichtkapitalistische Produktionsweisen, Veränderungen der Arbeitsproduktivität, organische Zusammensetzung

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des Kapitals, Weltmarkt, Funktion des Kredits, Bewegung der Profitrate – absieht, führt Luxemburg diese Konkretionen im Verlauf ihrer Argumentation explizit wieder ein. Daher verfehlt die Kritik in gewisser Weise ihren Gegenstand. Mit der Hereinnahme zusätzlicher Variablen zeigt Luxemburg aber treffend, dass die Akkumulation des Kapitals keineswegs zu Gleichgewichten tendiert, sondern auf längere Sicht Störungen und strukturelle Krisen verursacht, so dass die Argumentation „trotz aller Irrungen und Fehlschlüsse“ als „theoretisch fruchtbringend angesehen“ werden kann (Rosdolsky 1970, S. 585; vgl. Bellofiore 2009). Das gilt insbesondere für das, von Harvey nachträglich so bezeichnete, Kapitalüberschuss-Absorbtionsproblem (vgl. Harvey 2014, S. 32). Vereinfacht gesagt muss eine Ökonomie, die während einer Produktionsperiode wächst, in der nachfolgenden Periode absorptionsfähige Märkte für das zusätzliche Mehrprodukt schaffen, was ohne markterweiternde Investitionen nicht möglich ist. Daher gilt als Faustformel: 3 % Wachstum erzwingen 3 % zusätzliche Investitionen (vgl. Harvey 2014, S. 33). Je höher das Reichtumsniveau von Gesellschaften und je größer das Wirtschaftswachstum, desto schwerer wird es jedoch, neue Märkte zu erschließen. Dieses KapitalüberschussAbsorbtionsproblem ist die zentrale ökonomische Triebkraft hinter kapitalistischen Landnahmen. Es erklärt, weshalb der Akkumulationsprozess des Kapitals „die unumschränkte Verfügungsmöglichkeit“ über „alle Produktivkräfte der Erde“ benötigt, soweit diese in den Schranken der Mehrwertproduktion mobil zu machen sind (Luxemburg 1975, S. 312). Die fortwährende und häufig erzwungene Freisetzung von Arbeitskräften für ihrerseits im Wandel befindliche kapitalistische Produktionsweisen, den Anschluss präkapitalistischer Produktionsformen an die Geldwirtschaft und den Stoffwechsel zwischen inneren kapitalistischen und äußeren nichtkapitalistischen Märkten (vgl. Luxemburg 1975, S. 315) betrachtet Luxemburg zurecht als ein Charakteristikum der Akkumulation. Anders und vor allem präziser als viele ihrer Kritiker begründet sie, weshalb die Kommodifizierung auf ein zeitlich lang gestrecktes „Zernagen“ und „Assimilieren“ nichtkapitalistischer Milieus hinausläuft (Luxemburg 1975, S. 364). Ganz so, als habe sie schon gewusst, was mit Re-Kombination, Amalgamierung, hybriden Zuständen, Umdeutungen und Überlagerungen als Formen institutionellen Wandels gemeint ist (vgl. Beyer 2003, S. 21), sieht sie im „fortschreitenden Zerbröckeln“ nichtkapitalistischer Produktions- und Lebensformen die „seltsamsten Mischformen zwischen modernem Lohnsystem und primitiven Herrschaftsverhältnissen“ entstehen (Luxemburg 1975, S. 312).

2.3

Kredit und Innovation als Selbststabilisatoren

Doch die Hellsichtigkeit, mit der Luxemburg die Amalgame aus unfreier, prekärer und nur teilweise kommodifizierter Arbeit in ihrer hybriden Verbindung mit moderner kapitalistischer Lohnarbeit beschreibt, ändert nichts daran, dass ihre Akkumulationstheorie wichtige Selbststabilisierungsmechanismen kapitalistischer Akkumulation ignoriert. Dazu gehören vor allem die Funktionen des Kredits sowie die Bedeutung von Prozess- und Produktinnovationen. Existieren in einer kapitalistischen Ökonomie

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keine anderen Lösungsmöglichkeiten, wird Geld in seiner Funktion als Zahlungsmittel eingesetzt, um die Zeitspanne zu überbrücken, die zwischen dem Überschussprodukt von gestern und den Reinvestitionen von heute existiert. Wenn Kapitalbesitzer Geld horten, statt es sofort wieder zu reinvestieren, sind Geldschöpfung durch die Banken und staatliche Defizitfinanzierung die wichtigsten Mittel, um das Problem unzureichender zahlungsfähiger Nachfragen anzugehen. Zugleich stimuliert der Kredit Innovationen und trägt im Fall einer erfolgreichen Implementierung von Neuerungen zur Marktbildung oder Markterweiterung bei. Diese beiden Bearbeitungsweisen der Kapitalüberschuss-Absorptionsproblematik sind für die Aufrechterhaltung kapitalistischer Dynamik so zentral, dass sie über besondere Beziehungs- und Institutionengeflechte bearbeitet werden. Harvey nennt zwei institutionelle Konfigurationen: den Staat-Finanzwelt-Nexus und den StaatUnternehmens-Nexus (vgl. Harvey 2014, S. 53, 94). Staat-Finanzwelt-Netzwerke bearbeiten Finanzierungsprobleme; sie sammeln beispielsweise Kapital für aufwendige Infrastrukturprojekte, die von einzelnen Privatunternehmen nicht zu leisten sind. In diesem Institutionen-Akteurs-Netzwerk können eigenständige Lösungen für das Überschuss-Absorptionsproblem entwickelt werden. Innovationen im Finanzsystem, die, wie z. B. Derivate, der Versicherung und Streuung von Risiken dienen und durch ständige Produktneuerung und deren Verbreitung Anlagemöglichkeiten eröffnen, sind ein solcher Lösungsversuch. Im Staat-Unternehmens-Nexus werden hingegen Beschränkungen von Konkurrenz, wie sie aus Monopolbildungen resultieren, mittels harter Anti-Trust-Gesetzgebung (USA) oder einer Kartellbehörde (Deutschland) bearbeitet. Zentral ist die Förderung von Innovationen für die Produktionsökonomie über Verbindungen von staatlichen Forschungseinrichtungen mit den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen großer Unternehmen. Staat-FinanzweltNexus und Staat-Unternehmens-Nexus sorgen dafür, dass Innovationen finanziert werden, die über schöpferische Zerstörung ein nichtkapitalistisches Anderes innerhalb kapitalistischer Gesellschaften entstehen lassen. Den dominanten kapitalistischen Akteuren, großen Unternehmen und dem Staat wird es so immer wieder möglich, ein Außen im Inneren nationaler Ökonomien aktiv und eigenständig herzustellen. Die Produktion von Raum mittels Urbanisierung ist ein gängiger Weg, um den Markterweiterungszwang mittels kreativer Zerstörung von Boden und langfristigen räumlichen Fixierungen von Kapital nachzukommen.

2.4

Krisentypen

Die Aufzählung von Selbststabilisatoren bliebe jedoch unvollständig, würden die beiden von Harvey skizzierten Zentralnervensysteme der Kapitalakkumulation nicht um einen Staat-Arbeit-Reproduktions-Nexus erweitert. In diesem InstitutionenGeflecht werden die Arbeitsbeziehungen reguliert und die Arbeitsvermögen in ihrer Gesamtheit entwickelt, qualifiziert, gepflegt und umsorgt, so dass die soziale Reproduktion der Gesellschaft gewährleistet wird. Anhand der Art und Weise, in der StaatFinanzwelt-Nexus, Staat-Unternehmens-Nexus und Staat-Arbeit-ReproduktionsNexus institutionalisiert werden, lassen sich Spielarten des Kapitalismus (vgl.

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Amable 2003; Crouch 2005), aber auch unterschiedliche Krisentypen unterscheiden. In einer dynamischen Betrachtung, wie sie Harvey vorschlägt, macht es keinen Sinn, Profitklemmen-, Überakkumulations- und Unterkonsumtionskrisen als einander ausschließende Erklärungsansätze zu behandeln, wie das noch in der Krisendiskussion der 1980er-Jahre der Fall war. Weil sie als Krisentypologie ohnehin defizitär sind, muss jeweils am konkreten Verlauf geprüft werden, welchen Erklärungswert die genannten Ansätze haben (vgl. Sweezy 1976). Insofern spricht einiges dafür, den alten marxistischen Dogmenstreit um die einzig wahre Krisenanalyse ad acta zu legen. Neuere Versuche, an Krisenanalysen kritischer Theorie anzuschließen, betonen zudem den prozesshaften gesellschaftlichen Charakter solcher Krisen. Doch auch eine dynamische Betrachtungsweise, die Krisen als funktionalen Mechanismus zur Überwindung von Akkumulationshemmnissen begreift, der im Zeitverlauf unweigerlich neue Schranken erzeugt, kommt nicht umhin, unterschiedliche Krisentypen zu differenzieren.5 Kleinere ökonomische Krisen, die im Konjunkturzyklus alle sieben, acht Jahre auftreten, müssen, ebenso wie zahlreiche andere Störungen des Kapitalflusses, systematisch von einem Krisentyp unterschieden werden, der das gesamte Ensemble gesellschaftlicher Regulationen berührt. Allerdings gibt es zwischen konjunkturellen und großen Krisen der Akkumulation einen inneren Zusammenhang. Jede konjunkturelle Störung des Kapitalflusses fördert eine zeitweilige Konzentration und Zentralisation von Kapital, d. h. sie stärkt die Tendenz zu einer sich selbst negierenden Marktwirtschaft und schwächt so die Reinigungsfunktion zyklischer konjunktureller Krisen. Dies kann, wie am Beispiel staatlicher Rettungsmaßnahmen für Großbanken gezeigt, eine Kumulation und Aufschaukelung struktureller Krisenpotenziale bewirken, die sich dann zu einem späteren Zeitpunkt in großen Krisen entladen. In der Entwicklungsgeschichte des Sozialkapitalismus deutscher Prägung stellen die Große Depression (1873–1895), die Große Weltwirtschaftskrise (1929–1932) sowie die Neue Depression (1973–1974) großen Krisen dar (vgl. Kocka 2013, S. 83; Priewe 1985). Derartige Krisen können, wie die Große Depression, lange Zeit andauern, weil die genannten Akteurs-Institutionen-Netzwerke ihre Regulationsfunktion nicht mehr erfüllen, ohne dass neue institutionelle Konfigurationen an ihre Stelle treten. In jedem Fall resultieren große Krisen, worauf regulationstheoretische Arbeiten verweisen, aus der zunehmenden Inkompatibilität von Akkumulationsregimes und Regulationsweisen. Sie sind daher immer auch Krisen von Produktionsmodellen, Wohlfahrtsstaat, sozialen Regeln und, soweit vorhanden, von demokratischen Institutionen. Letztlich dienen sie auch dazu, einen in die Krise geratenen alten durch einen neuen Modus operandi kapitalistischer Landnahmen abzulösen, um auf diese Weise Prosperität zu erzeugen. In einem Teil der ökonomischen Literatur sind die Perioden, die zwischen großen Krisen liegen, in Anlehnung an Schumpeter als lange Wellen kapitalistischer Akkumulation beschrieben worden. Solche Perioden lassen sich jedoch allenfalls ex post

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Harveys Analyse bleibt in diesem Punkt blass. Vage spricht er mit Blick auf 2008/09 von der Krise, aber es bleibt doch unklar, worin die so angedeutete besondere Qualität besteht.

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rekonstruieren. Nach allem, was wir heute wissen, gibt es keinen endogenen Mechanismus, der lange Wellen quasi gesetzmäßig erzeugen könnte (vgl. Harvey 2014, S. 99). Allerdings werden an krisenbedingten Wegscheiden politische Richtungsentscheidungen getroffen, die dann Entwicklungspfade konstituieren. Die Große Weltwirtschaftskrise von 1929–33 beendet ein Zeitalter des Marktliberalismus; aus ihr gingen mit dem New Deal in den USA, der Industriellen Demokratie in Schweden und dem Faschismus in Mitteleuropa höchst unterschiedliche Entwicklungspfade hervor. Entsprechende Richtungsentscheidungen hängen auch von den Gewichtungen ab, die der jeweilige Modus operandi kapitalistischer Landnahmen den genannten AkteursInstitutionen-Netzwerken zuweist. In einem allgemeinen Sinne bewegen sich kapitalistische Gesellschaften dabei über Epochen hinweg zwischen dem Schumpeter’schen Paradigma schöpferischer Zerstörung und dem Polanyi’schen Paradigma einer sozialen Einbettung von Märkten. Im Zentrum von Schumpeters Theorie steht der Unternehmer als Durchsetzer des Neuen, der „seine Produkte dem Markt“ aufnötigt (Schumpeter 2006, S. 133). Sein soziales Milieu sind aufstiegswillige Mittelklassen, wenngleich die Herausbildung einer Unternehmerpersönlichkeit nicht an eine bestimmte soziale Position gebunden ist. Im Niedergangsstadium eines Produktzyklus ergreifen die Durchsetzer des Neuen ihre Chance; Sie gehen unternehmerische Risiken ein, um Erfindungen marktfähig zu machen. Gelingt ihnen das, können sie in die Oberklassen aufsteigen und so für Strukturwandel und Elitentausch in Permanenz sorgen. Als Ergebnis von Innovationszyklen kommt es im Idealfall zu einer immer größeren Produktvielfalt, feineren Produktdifferenzierungen und einer sich ständig verbessernden Produktqualität. Polanyis wichtigste Entdeckung ist demgegenüber der besondere Charakter von Arbeit, Boden und Geld, die er als fiktive Waren bezeichnet (vgl. Polanyi 1995). Ist die Stimulation von Konkurrenz für Schumpeter ein entscheidender Impuls für kreatives Handeln, macht Polanyi darauf aufmerksam, dass die schöpferische Zerstörung über einen Punkt hinaus getrieben werden kann, an dem sie ihr eigenes soziales Fundament untergräbt. Reine Marktgesellschaften sind für Polanyi daher eine Dystopie. Kein soziales Gebilde könne die Auswirkungen eines System grober Fiktionen auch nur kurze Zeit ertragen, wenn ihre „menschliche und natürliche Substanz sowie ihre Wirtschaftsstruktur gegen das Wüten dieses teuflischen Mechanismus nicht geschützt würden“ (Polanyi 1995, S. 109).

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Die Landnahme des Sozialen

Schumpeter und Polanyi beschreiben aus teilweise gegensätzlichen Perspektiven ein Spannungsverhältnis, das die kapitalistische Akkumulations- und Wachstumsdynamik von Beginn an prägte. Kapitalistische Gesellschaften bedürfen des ökonomischen Wachstums und der Markterweiterung in Permanenz. Zugleich müssen sie jedoch zumindest jenes Minimum an sozialen Sicherheiten bieten, das marktkompatibles Verhalten überhaupt möglich macht. Kapitalistische Vergesellschaftung ist daher ein Prozess produktiven Scheiterns, der unternehmerische rulebreaker genauso benötigt wie soziale Kräfte, die den Märkten soziale Regeln aufherrschen.

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Dieses Spannungsverhältnis von schöpferischer Zerstörung und sozialer Einhegung lässt sich unter kapitalistischen Bedingungen allenfalls auf Zeit befrieden. Anders als Polanyi vermutete, ist die soziale Einbettung von Marktmechanismen daher reversibel. Das strukturelle Kapitalüberschuss-Absorptionsproblem zwingt zur Markterweiterung und fördert bei dominanten kapitalistischen Akteuren die Tendenz, verbindliche soziale Regeln infrage zu stellen, zu unterlaufen oder gar außer Kraft zu setzen. Das Spannungsverhältnis zwischen Markterweiterungszwängen einerseits und der notwendigen sozialen Einbettung des kapitalistischen Warentauschs andererseits löst aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts den alten Gegensatz von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Treiber kapitalistischer Entwicklung ab.6 Spannungen zwischen Markt und Wettbewerb auf der einen, marktbegrenzenden sozialen Regeln, Kooperation und solidarischer Interaktion auf der anderen Seite, machen sich in allen gesellschaftlichen Handlungsbereichen bemerkbar. Sie nehmen KapitalArbeit-Konflikten nichts von ihrer Schärfe, relativieren sie aber, weil sie eine begrenzte Pluralität von Krisen und sozialen Antagonismen konstituieren, die sich anhand der fiktiven Waren Arbeit, Boden und Geld konzeptualisieren lassen. Mit einer Heuristik ausgestattet, die sich am Markterweiterungs-EinbettungsParadox orientiert, lässt sich genauer bestimmen, worin das Besondere der gegenwärtigen sozioökonomischen Krise besteht. Die Neue Depression (1973/74) wurde seitens der dominanten kapitalistischen Akteure als Profitklemmenkrise interpretiert. Lohnabhängigenmacht, wie sie in den entwickelten Wohlfahrtsstaaten institutionalisiert war, erschien als Haupthindernis von Akkumulation und Markterweiterung. Mittels Deregulierung der Arbeitsmärkte, Lohnspreizung, Steuersenkungen für Unternehmen und Spitzenverdiener, Privatisierung von Staatsunternehmen und der Enteignung von Sozialeigentum, kurzum: durch eine Landnahme des Sozialen galt es, diese absolute Schranke in eine überwindbare Barriere zu verwandeln. Dabei übernahm der Staat-Finanzwelt-Nexus die Führung, um Veränderungen in den StaatArbeit-Reproduktions-Netzwerken zu erzeugen. Aus Elitensicht ist diese Operation hervorragend gelungen. Nicht nur organisierte Arbeiterbewegungen, sondern marktbegrenzende Institutionen insgesamt wurden soweit geschwächt, dass die Früchte des kreditgetriebenen Wachstums in erster Linie von den ohnehin privilegierten Gruppen geerntet werden konnten. Die Erosion von Gewerkschaftsmacht, politischen Repräsentationen der Lohnabhängigen und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen erzeugte jedoch mit einer strukturell defizitären zahlungsfähigen Nachfrage eine neue Schranke der Akkumulation. Geld, das in der Produktionsökonomie nicht gewinnbringend zu investieren war, wurde für riskante Anlagen im Finanzsektor genutzt. Zusätzlich sollte die Vergabe von Immobilienkrediten an einkommensschwache Gruppen stagnierende Löhne kompensieren. Die so erfolgte Verbindung des Kreditsystems mit Angehörigen der lohnabhängigen Klassen führte geradewegs in die Katastrophe von 2008/09. Die Krise hatte ihre Auslöser im Finanzsektor, der im Bausektor nun sowohl das Angebot (Kredite an Baufirmen) als auch die Nachfrage (Finanzierung des Eigen-

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Darin stimme ich mit M. Burawoy überein (vgl. Burawoy 2013).

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heimbaus) beeinflusste, was zwingend zu Kontrollverlusten führen musste Das grundlegende Problem besteht jedoch bis heute in der „übermäßigen Macht des Kapitals gegenüber den Arbeiterinnen“ (Harvey 2014, S. 118) und, so ist hinzuzufügen, in einer Abwertung reproduktiver Tätigkeiten sowie in einer allgemeinen Schwächung von sozialen Regeln und Institutionen, die als Voraussetzung für funktionierende Märkte eigentlich unabdingbar sind. Damit hat sich die Grundproblematik aus den frühen 1970er-Jahren umgekehrt. Von einer Profitklemmen-Krise ausgelöst, hat die neue Landnahme eine strukturelle Nachfrageschwäche erzeugt, die in der Eurozone die Gefahr einer Deflation (Preisverfall als Treiber einer ökonomischen Rezession) heraufbeschworen hat. Hinter der Unterordnung des Staat-ArbeitReproduktion-Nexus unter die Staat-Finanzwelt-Netzwerke verbirgt sich somit eine spezifische Ausformung des systemischen Markterweiterungszwangs. Offenkundig gelingt es nicht, zunehmende Produktivität und notwendige Marktexpansion ins Gleichgewicht zu bringen. Vor dem Hintergrund dieser makroökonomischen Grundproblematik lässt sich das Wechselspiel von Landnahme und Krise exemplarisch in vier Überlegungen zur Metamorphose des deutschen Sozialkapitalismus präzisieren. Beginnen wir (1) mit einer differenzierungs- und handlungstheoretischen Präzisierung. Störungen des Kapitalflusses beeinflussen die außerökonomischen sozialen Felder, Institutionen und Handlungsstrategien, ohne sie zu determinieren. Dementsprechend unterscheidet Harvey sieben Handlungsbereiche, die sich koevolutionär entwickeln und beeinflussen, ohne dass der eine den anderen beherrschen könnte. Diese Bereiche sind Technologie und Organisation, (mikro-)gesellschaftliche Verhältnisse (Familie, Personennetzwerke), institutionelle und administrative Strukturen, Produktion und Organisation von Arbeitsprozessen, die gesellschaftlichen Beziehungen zur Natur, die Reproduktion des alltäglichen Lebens und der menschlichen Spezies sowie die geistigen Vorstellungen von Welt (vgl. Harvey 2014, S. 123, 127). Harveys Aufzählung ist sicherlich wenig trennscharf und ihr Verhältnis zu den bereits genannten Akteurs-Institutionen-Netzwerken bleibt unklar. Dennoch ist die lose Koppelung von Kapitalfluss und außerökonomischen Handlungsbereichen sinnvoll, weil sie nachvollziehbar macht, weshalb beispielsweise soziale oder ökologische Krisenphänomene einen außerökonomischen Ursprung haben können, aber dennoch, wie etwa der von einem Tsunami ausgelöste Atomunfall von Fukushima oder die Pathologien einer individualistischen urbanen Lebensweise mit hohen Sozialkosten für die Allgemeinheit, Störungen des Kapitalflusses bewirken können. Paradoxien, die der von Stephan Lessenich analysierte ständige Aktivierungszwang im bürokratischen „Wachstumsstaat“ (Lessenich 2014, S. 4–5) auslöst, lassen sich unschwer institutionellen Arrangements, sozialer Reproduktion und ideologischen Orientierungssystemen zuordnen. Ähnliches gilt für den sozialen Beschleunigungszwang, der sich, wie Hartmut Rosa herausarbeitet, nicht allein auf die beschleunigte Zirkulation von Kapital und die damit verbundene Raum-Zeit-Kompression zurückführen lässt. Aktivierung und Beschleunigung besitzen eigenständige soziale und kulturelle Ursachen, die eine Desynchronisation von Anforderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen bewirken und so spezifische Krisen des Alltagslebens auslösen können (vgl. Rosa 2012, S. 185–223).

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Mein Vorschlag, die Eigenständigkeit sozialer Felder und Lebenssphären in Landnahmeprozessen analytisch zu thematisieren, ist etwas anders gelagert. Landnahmeprozesse setzen sich, so mein in Anlehnung an Boltanski und Chiapello formulierter Vorschlag, über gesellschaftliche Bewährungsproben durch. Dabei handelt es sich um feldspezifische, umkämpfte Prozesse, in denen das Spannungsverhältnis von Markterweiterung und sozialer Einbettung in Abhängigkeit von Machtressourcen und hegemonialen Gerechtigkeitsvorstellungen bewältigt wird. Die Kategorie der Bewährungsprobe – oder synonym die des Wettkampfs oder der Auswahlprüfung – ist erklärungsbedürftig. Im Kontext des Landnahmetheorems dient das Bewährungsprobenkonzept vor allem dazu, die spannungsreiche Durchsetzung von Kommodifizierungspolitiken auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen handlungstheoretisch zu beleuchten. Kommodifizierung bedeutet, dass dominante soziale Akteure neue, feldspezifische Bewährungsproben schaffen oder zumindest die Formate bereits institutionalisierter Wettkampfsysteme verändern. Bewährungsproben umfassen dabei in variierenden Gewichtungen stets beides: die machtgeleitete Auseinandersetzung (Kraftprobe) einerseits und die in Gerechtigkeitsvorstellungen eingebettete Wertigkeitsprüfung andererseits (vgl. Boltanski und Chiapello 2003, S. 526–566). Individuen oder Klassen von Individuen müssen sich für Prüfungen qualifizieren, um Zugang zu bestimmten sozialen Positionen zu erlangen. In diesem Sinne fungieren Bewährungsproben als Medium kapitalistischer Landnahmen. Neue oder zumindest neu formatierte Bewährungsproben leisten komplexe MikroMakrovermittlungen; sie ermöglichen Übergänge und Wechselwirkungen zwischen heterogenen sozialen Feldern und wirken so als Transfermechanismen, in denen die Basisregeln historisch einmaliger Landnahmeprozesse konstituiert und transportiert werden. Ein Beispiel für die Institutionalisierung von Bewährungsproben bietet z. B. die Shareholder-Value-Steuerung von Unternehmen, die betriebliche Organisationsabläufe und Arbeitsweisen mit der Volatilität globaler (Finanz-)Märkte verbindet und so neue Spielregeln, Wertigkeitsprüfungen und Kräfteverhältnisse sowohl für das Management als auch für die Belegschaften produziert. Das Bewährungsprobenkonzept eignet sich, und selbiges markiert eine theoretische Differenz zu Boltanski und Chiapello, um die umkämpfte Verwettbewerblichung der Gesellschaft in unterschiedlichen sozialen Feldern und Handlungsbereichen empirisch-konkret zu analysieren (vgl. Dörre und Haubner 2012, S. 80–91). Mit Hilfe des Konzepts lässt sich zeigen, wie Veränderungen in der Zivilgesellschaft in neue Prüfungsformate übersetzt und für die Verwettbewerblichung der Gesellschaft genutzt werden. So hat das Konzept einer Statusgleichheit sozialer Großgruppen, wie es für den Sozialkapitalismus noch zentral war, aufgrund von Migration, ökonomischer Globalisierung und der Internationalisierung des Staates mehr und mehr ihr zivilgesellschaftliches Fundament verloren. In neu formatierten Bewährungsproben wird es durch ungleich schwächere Varianten von Chancengleichheit oder besser: Chancengerechtigkeit ersetzt, die sich darauf beschränken, potentiell gleiche Zugänge bei der Besetzung von Führungspositionen, dem Erwerb von Bildungschancen oder der Vermögensbildung einzuklagen (vgl. Dubet 2014). Das Konzept der Chancengerechtigkeit beruht „auf der statistischen Fiktion, dass sich die Menschen in jeder Generation unabhängig von ihrer Herkunft und ihren Startbedingun-

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gen auf alle Ebenen der Sozialstruktur gleichmäßig verteilen“; die „Hierarchie der sozialen Statuspositionen wird nicht in Frage gestellt“ (Dubet 2014, S. 60). Der neue hegemoniale Geist der wettbewerbsgetriebenen Landnahme transportiert entsprechende Gerechtigkeitsmaßstäbe. Finanzialisierte Unternehmen agieren im Sinne der von ihnen verfolgten Normen gerecht, wenn sie den Nutzen für die Eigentümer (Aktionäre) maximieren und so Trickle-down-Effekte erzeugen. Am Arbeitsmarkt soll als gerecht gelten, was Beschäftigung schafft. In der Steuerpolitik soll Gerechtigkeit darin bestehen, Leistungsträger nicht übermäßig zu belasten. Und wachsende Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen gilt als gerecht, sofern sie als Ansporn für unternehmerisches Handeln dient und größeren Wohlstand für alle verheißt. Der neue hegemoniale Geist, dessen Essenz in der sozialen Verallgemeinerung von Wettbewerb besteht, beeinflusst die Machtproben und Wertigkeitsprüfungen in unterschiedlichen Handlungsbereichen. Wie am Beispiel prekärer Beschäftigung (vgl. hierzu ausführlich Dörre im Handbuch und Dörre 2011) oder anhand der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik (vgl. Dörre et al. 2013) gezeigt, besteht die Hauptwirkung des Wettbewerbsprinzips darin, dass es permanent Gewinner und Verlierer produziert. Stets definieren die jeweils Stärkeren die Norm, an der das Verhalten der im Wettkampf Unterlegenen gemessen wird. In den Bewährungsproben trifft die Wettbewerbsnorm jedoch auf den Eigensinn, die Gerechtigkeitsvorstellungen und Machtressourcen von Personen und Kollektiven, die häufig an Elementen der Statusgleichheit festhalten, um sich den Zumutungen des Wettbewerbs zu widersetzen. Dies vorausgesetzt, lässt sich (2) die im Begriff einer Landnahme des Sozialen enthaltene Zeitdiagnose präzisieren und aktualisieren. Im transnationalen Elitentalk gilt das deutsche Kapitalismusmodell wieder als besonders leistungsfähig und krisenfest. Ausschlaggebend für diese Bewertung sind die beschäftigungspolitische Bewältigung der Krise von 2008/09 und der seither erfolgte Beschäftigungsaufbau, welcher den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung zugeschrieben wird. Tatsächlich hat die wettbewerbsgetriebene Landnahme den Sozialkapitalismus nicht einfach durch ein anderes Kapitalismusmodell ersetzt. Die schöpferische Zerstörung marktbegrenzender Regeln und Institutionen hat sich – darin dem von Rosa Luxemburg beobachteten Zerbröckeln nichtkapitalistischer Milieus ähnlich, als Amalgamierung von Altem und Neuem durchgesetzt. Mit politischer Hilfe werden Arbeitskräfte aus den relativ geschützten Segmenten des Arbeitsmarktes freigesetzt. Neu formatierte Bewährungsproben an den Schnittstellen von Stammbelegschaften und prekär Beschäftigten leisten einen ständigen Stoffwechsel zwischen noch vergleichsweise abgesicherten inneren und ungeschützten äußeren Teilarbeitsmärkten und bringen so neue Amalgame aus Beschäftigten mit und ohne Sozialbürgerstatus hervor. Schaut man hinter die Fassade des deutschen Jobwunders, stößt man auf die Konturen einer prekären Vollerwerbsgesellschaft, in der sich ein sinkendes Volumen an bezahlten Arbeitsstunden auf eine Rekordzahl von Erwerbstätigen verteilt. Arbeitete ein durchschnittlicher Lohnabhängiger 1991 im Jahr 1473 Stunden, so waren es am Tiefpunkt 2013 noch 1313 Stunden (vgl. Dörre 2014, S. 42).7 Zwar hat das

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Die Angaben beruhen auf Daten des Statistischen Bundesamtes und des IAB.

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Arbeitsvolumen nach 2005 wieder zugelegt; die Zahl der Erwerbstätigen ist jedoch bis 2013 deutlich rascher gestiegen. Das vorhandene Arbeitsvolumen wird auf immer mehr Erwerbspersonen und vor allem asymmetrisch verteilt. Beschäftigungsaufbau erfolgt in hohem Maße über eine Integration insbesondere weiblicher Arbeitskräfte in prekäre Dienstleistungs-Jobs. Der Anteil nicht-standardisierter Arbeitsverhältnisse an der Gesamtbeschäftigung ist 2013 auf 38 % (Ost) bzw. 39 % (West) gestiegen (vgl. IAB Betriebspanel Länderbericht Thüringen 2013, S. 24), der Niedriglohnsektor mit einem gewichtigen Anteil an Vollzeitbeschäftigung umfasst kontinuierlich zwischen 22 % und 24 % der Beschäftigungsverhältnisse. Und während Teilzeitarbeit (+2,23 Mio.), geringfügige Beschäftigung (+770.000) und Soloselbstständigkeit (+550.000) von der Jahrtausendwende bis 2012 zugenommen haben, ist nicht nur die Zahl der registrierten Arbeitslosen ( 990.000), sondern auch die der Vollzeitbeschäftigten ( 1,44 Mio.) deutlich zurückgegangen (vgl. Dörre 2014, S. 42; Holst und Dörre 2013). Die Hartz-Reformen haben also keineswegs mehr Arbeit geschaffen. Das „deutsche Jobwunder“ beruht wesentlich darauf, dass Erwerbslosigkeit auf Kosten geschützter Vollzeitbeschäftigung durch „unwürdige“ (Castel 2011, S. 63), weil unsichere, niedrig entlohnte und wenig anerkannte Lohnarbeit ersetzt wird. Die Hauptwirkung der Arbeitsmarktreformen und hier insbesondere von Hartz IV besteht vor allem darin, den Druck auf Erwerbstätige und Erwerbslose zu erhöhen, sich in unwürdiger Lohnarbeit zu betätigen. Hartz IV ist zur Chiffre für einen Status unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität geworden. Im aktivierenden Arbeitsmarktregime wird Erwerbslosigkeit als Wettkampf inszeniert, in welchem jene, die den Sprung in reguläre Beschäftigung schaffen, unbewusst die Norm produzieren, an der die weniger Erfolgreichen gemessen werden. Letztere kommen trotz großer individueller Anstrengungen und teilweise häufiger beruflicher Positionswechsel überwiegend nicht aus dem Leistungsbezug heraus. Deshalb sind sie gezwungen, sich einen Überlebenshabitus anzueignen, der Stigmatisierungen aus der Mehrheitsgesellschaft begünstigt. Das Stigma Hartz IV erschwert die Reintegration in reguläre Erwerbsarbeit zusätzlich. Es trägt zur sozialstrukturellen Verfestigung einer Unterklasse bei, deren Alltagsleben durch die soziale Nähe zum Fürsorgestatus geprägt wird. Dieser Status schreckt ab. Nichts fürchten Lohnabhängige, gleich ob sozial geschützt oder prekär beschäftigt, mehr, als ein Abgleiten auf Hartz IV. Ein solches Schicksal vor Augen, kann selbst ein unsicheres Beschäftigungsverhältnis noch als Rettungsanker erscheinen, der vor einem Absturz auf eine soziale Position schützt, die mit totaler Abhängigkeit von gesellschaftlicher Fürsorge verbunden ist. Das deutsche Jobwunder beruht in erheblichem Maße auf Angst vor dem Absturz und es sind vor allem prekär Beschäftigte und Erwerbslose, die den Preis zu zahlen haben (vgl. Dörre et al. 2013). Dieser empirische Befund ermöglicht (3) eine formationstheoretische Präzisierung, die auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Amalgame aus neuem Wettbewerbs- und altem Sozialkapitalismus abzielt. Unter Krisenbedingungen ist es offenbar möglich, dass die in Institutionen und Mentalitäten abgelagerte, subdominante Realität des alten Sozialkapitalismus wieder wirkmächtig wird. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen und vor allem die Gewerkschaften sind in Deutschland noch

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immer stark genug, um die Krise 2008/09 beschäftigungspolitisch abzufedern. Ein aus der Not geborener „Krisenkorporatismus“ (Urban 2013) war relativ erfolgreich, weil er an die zuvor politisch bekämpfte sozialkapitalistische Tradition anknüpfen konnte. So beruhte die Beschäftigungssicherung auf der Wiederbelebung altbekannter Instrumente wie Langzeitkurzarbeit und Nachfragestimulierung mittels Abwrackprämie für ältere PKW. Häufig nur auf Druck von Gewerkschaften und Interessenvertretungen zur Praxis geworden, implizierten die betrieblichen Deals allerdings Lohnverzicht, Leistungsintensivierung und Abwälzung von Beschäftigungsrisiken auf prekär Beschäftigte. Zudem war der Krisenkorporatismus nicht überall und gleichermaßen erfolgreich. Die Beschäftigungssicherung gelang vor allem für Stammbeschäftigte in Exportbranchen. In schwächer organisierten Dienstleistungsbereichen mit hohen Frauenanteilen ließ sich Vergleichbares nicht durchsetzen. Das Krisenmanagement hat die Machtasymmetrien am Arbeitsmarkt daher nicht grundlegend zugunsten „schwacher Interessen“ korrigieren können, sondern vielmehr demonstriert, dass sich prekäre Beschäftigungsformen im Krisenfall relativ konfliktfrei als Flexibilisierungspuffer nutzen lassen. Unabhängig davon verdankt sich die wirtschaftliche Erholung einem Muster weltwirtschaftlicher Arbeitsteilung, das den deutschen Exportsektor von der rasch wieder hergestellten Nachfrage in großen Schwellenländern profitieren lässt. Produkte deutscher Unternehmen werden, insbesondere in China, für den wirtschaftlichen Aufholprozess benötigt und dort von einer rasch wachsenden Mittelschicht nachgefragt. Aus diesem Grund ist es gelungen, „die industrielle Wertschöpfung in Deutschland zu steigern“, obwohl es im Exportsektor „nach wie vor ein Hochlohnstandort ist“ (Deutsche Bank 2013, S. 7). In diesem Zusammenhang ist (4) allerdings eine institutionentheoretische Präzisierung wichtig, die mit der Verzahnung von Produktions- und Sorgeregime eine Schwäche auch des alten Sozialkapitalismus berührt. Die Förderung des exportorientierten Industriesektors ist in Deutschland traditionell mit einer Geringschätzung und Abwertung von Humandienstleistungen und reproduktiven Tätigkeiten verbunden. Den exportstarken Branchen mit hohen Anteilen von qualifizierten Beschäftigten im Hochtechnologiebereich steht ein expandierender Sektor mit niedrig entlohnten, instabilen und häufig wenig anerkannten Dienstleitungstätigkeiten gegenüber, dessen Arbeitsproduktivität nach herkömmlichen Maßstäben weit hinter der des industriellen Sektors zurückbleibt. Zugleich verschiebt sich, an Beschäftigungsverhältnissen gemessen, das Gewicht zwischen den Branchen. Allein in der stark expandierenden Sozialwirtschaft, deren Anteil an der Gesamtbeschäftigung innerhalb eines Jahrzehnts (2001–2011) von 4,5 % auf 6,2 % gestiegen ist, arbeiten rund 1,7 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. In der Altenpflege, Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe sind damit ebenso viele Menschen tätig wie im Maschinen- und Fahrzeugbau, dem industriellen Herzstück der deutschen Wirtschaft. Daran zeigt sich: In Relation zu den hochproduktiven Exportbranchen nimmt das Gewicht des vermeintlich weniger produktiven, aber beschäftigungsintensiven Sektors mit bezahlten Sorgearbeiten (gemeint sind alle Tätigkeiten, die der „Herstellung von Arbeitskraft“ dienen) zu. Aus der einzelwirtschaftlichen und Exportperspektive erscheint dies als Kostenproblematik, weil die professionellen Reproduktionstätig-

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keiten zu einem erheblichen Teil über staatliche Transfers finanziert werden. Um die Exportwirtschaft zu fördern, hat staatliche Politik den Austausch zwischen industriellem Sektor und Sorgearbeiten als einen Stoffwechsel zwischen aufgewerteten (kapitalistischen) inneren und abgewerteten (nichtkapitalistischen) äußeren Märkten gestaltet. Eine wettbewerbsorientierte Steuerpolitik lässt großzügige Transfers zugunsten von Humandienstleistungen und bezahlten Sorgearbeiten nicht zu. Weil öffentliche Vermögenswerte ‚abgeschmolzen‘ werden und vor allem Kreise und Kommunen Einnahmeprobleme haben, ist die höhere Nachfrage nach Sorgeleistungen staatlich schwer zu finanzieren. Die Bereitstellung von Sorgeleistungen als öffentlichem Gut gerät zusätzlich unter Druck, weil es an staatlich finanzierter, zahlungsfähiger Nachfrage, also an einem produktiven Staatskonsum mangelt. Darauf reagiert Politik mit der Inszenierung von Quasi-Märkten, auf denen private und öffentliche Anbieter wesentlich über die Lohnkosten konkurrieren. Leistungsverdichtung, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Fachkräfteengpässe und Rückverlagerungen von Sorgeleistungen in die Privathaushalte sind die Folge (vgl. Dörre et al. 2014). Was sich für die Beschäftigten als Abwertung ihrer Berufstätigkeit und als Prekarisierung von Beschäftigung darstellt, bietet aus der Perspektive der Exportwirtschaft und des gewährleistenden Staates günstige Möglichkeiten, nötige Humandienstleistungen und Sorgetätigkeiten vergleichsweise billig oder – wie im Falle unbezahlter Hausarbeit – als Gratisressource zu nutzen. Kurzum: Die Leistungsfähigkeit des Exportsektors beruht auch auf einer politisch verantworteten Abwertung von Reproduktions- und Sorgetätigkeiten, die durch die Implementation wettbewerbszentrierter Bewährungsproben in Quasi-Märkten durchgesetzt und forciert wird. All dies trägt zu einer Krise sozialer Reproduktion bei, die sich gerade im deutschen Wettbewerbskapitalismus relativ unabhängig von den Kapitalströmen entfaltet.

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Fazit: Von der inneren Landnahme zur ökonomischökologischen Zangenkrise

Das Beispiel des deutschen Sozialkapitalismus illustriert, wie eine innere Landnahme des Sozialen, die dem Markt zuvor entzogene, wohlfahrtsstaatliche Bereiche als nichtkapitalistisches Anderes nutzt, eben diesen Sozialkapitalismus irreversibel transformiert. Die Landnahme des Sozialen wirkt – wie am Beispiel des Arbeitsmarkts gezeigt – strukturbildend. Paradoxerweise ist es dem nur allmählichen und noch nicht vollständigen Ruin dieses nichtkapitalistischen Anderen geschuldet, dass die transformierte deutsche Kapitalismusvariante die globale Rezession von 2008/09 einigermaßen glimpflich überstanden hat. Indirekt verweist das auf ein Charakteristikum jener Dekade, welche die Subprime-Krise und deren Folgen mit dem Amtsantritt Donald Trumps verbindet. Die Landnahme des Sozialen hat die Selbststabilisierungsmechanismen kapitalistischer Akkumulation soweit beschädigt, dass sich zumindest in den alten Zentren systemische Grenzen der Akkumulation und erweiterten Reproduktion des Kapitals bemerkbar machen. Rosa Luxemburgs Hinweis auf die Krisenträchtigkeit einer Gesellschaftsformation, in der die Reproduktion endlicher sozialer und natürlicher Ressourcen an den Imperativ unendlicher Akkumulation und beständiger Markterweiterung gekoppelt ist,

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erhält unter veränderten historischen Vorzeichen neue Aktualität. Für die Ausarbeitung einer tragfähigen Theorie kapitalistischer Krisen haben aus der Perspektive des Landnahmetheorems drei Forschungsfelder einen prioritären Stellenwert, die den Zusammenhang ökonomischer und ökologischer Krisen thematisieren. (1) Säkulare Stagnation und Postwachstums-Kapitalismus: Die relative Krisenrobustheit der deutschen Kapitalismusvariante vermag nichts daran zu ändern, dass sich die Ökonomien der alten kapitalistischen Zentren insgesamt nur langsam von den Folgen des globalen Crashs erholen. Für Ökonomen wie James Galbraith haben die kapitalistischen Zentren „die Zeit des schnellen Wachstums [. . .] definitiv hinter sich gelassen“ (Galbraith 2016, S. 17). Ursachen seien u. a. wechselhafte, instabile Energiepreise; die zunehmend unsichere globale Sicherheitslage; eine neue Etappe der Digitalisierung mit arbeitssparenden Effekten und vor allem ein internationales Finanzsystem, dessen fortlaufende Betriebsstörungen einen Krisenherd darstellten, der jederzeit und in den unterschiedlichsten Regionen der Weltwirtschaft neue Eruptionen auslösen könne. Schon in naher Zukunft sei wahrscheinlich, dass sich Naturschranken der Akkumulation8 als weitere Wachstumsbremse hinzugesellten. Sollte sich dieser Befund einer säkularen Stagnation auch für die absehbare Zukunft bewahrheiten, hätten wir es zumindest in den reichen Gesellschaften des globalen Nordens mit Postwachstumskapitalismen zu tun. Wie sich dauerhaft niedrige Wachstumsraten auf die institutionelle Stabilität von Demokratie und Wohlfahrtsstaat auswirken, ist derzeit völlig offen. Es ist aber wahrscheinlich, dass sich eine lang anhaltende ökonomische Stagnation auch als Destabilisierung demokratischer Institutionen bemerkbar macht. Der Krisenimpuls dürfte das gesamte Ensemble gesellschaftlicher Regulationen erfassen. Die – etwas unscharfen – Thematisierungen einer Vielfachkrise (vgl. Demirović et al. 2011; Brand 2009) besitzen hier ihren realen Kern. (2) Innere und äußere Landnahmen: Bedeutsam ist, dass die beschriebene „innere Abwertung“, vor allem jedoch das kooperative Krisenmanagement, die florierende Exportwirtschaft und eine veränderte Positionierung in der internationalen Arbeitsteilung (China als expandierender Auslandsmarkt) Deutschlands Aufstieg zur ökonomisch führenden europäischen Macht ermöglicht haben. In seiner Stellung als zweite Zentralmacht im EU-Imperium neben Frankreich nutzt Deutschland seine halbhegemoniale Position, um den europäischen Krisenstaaten eine Austeritätspolitik aufzuzwingen, die sich als zentraler Krisenverstärker erwiesen hat. Im privaten Finanzsektor verursacht, haben nunmehr Staaten und deren Bevölkerungen die Kosten der Krise zu bewältigen. So hat die Bankenrettung, die primär zugunsten deutscher und französischer Kreditinstitute erfolgte, Kosten verursacht, welche die südeuropäischen Schuldnerstaaten in eine

Noch habe der Klimawandel „keine größeren wirtschaftlichen Auswirkungen“, doch selbige stellten sich früher oder später unweigerlich ein (Galbraith, S. 9).

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neue Art von Zinsknechtschaft hineingezwungen haben. Gemeinsam mit dem neuen lohnpolitischen Interventionismus konstituiert die Verschuldung einen Modus operandi neuer Landnahmen, der die Enteignung von Sozialeigentum in den südeuropäischen Krisenstaaten noch radikalisiert. Mindestlöhne werden gesenkt, soziale Rechte beschnitten, Tarifverträge beseitigt oder durchlöchert, der Kündigungsschutz ausgehebelt, Gewerkschaften geschwächt, Staatsbetriebe privatisiert, öffentliches Eigentum veräußert und ganze Bevölkerungen in die Verarmung getrieben. Kurzum, die deutsche Medizin einer inneren Landnahme des Sozialen wird, nur ungleich härter und als transnationales Elitenprojekt, europäischen Ländern verabreicht, die über völlig andere wirtschaftliche, kulturelle und politische Voraussetzungen verfügen. Dass diese Politik krisenverschärfend wirkt, hat Mark Blyth präzise herausgearbeitet.9 Spardiktate treffen eben nicht alle gleichermaßen. Untere Einkommensklassen und die Bevölkerungen armer Länder haben mehr zu verlieren als begüterte Gruppen und die Bevölkerungen der Gläubigerstaaten. Wenn die Armen nicht in der Lage sind, die Zeche zu zahlen, die ihnen präsentiert wird, muss die Austeritätspolitik insgesamt scheitern. Würde in ausnahmslos allen Wirtschaften gespart, wäre es völlig unmöglich, auf einen Wachstumspfad zurückzukehren. Es gilt das Keynesʼsche Sparparadox. Ökonomien können aus niedrigen Löhnen und reduzierten Sozialstandards nur dann Wettbewerbsvorteile ziehen, wenn anderswo Konsumenten existieren, die Geld ausgeben, um die billigeren Produkte zu kaufen. Aus diesem Grund kann von Teilproblematiken, etwa der hohen Verschuldung Griechenlands, nicht auf das Ganze der EU oder gar der Weltwirtschaft geschlossen werden. Sparen alle gleichzeitig, fehlen Investitionsmotive, was die Wirtschaft „weiter schrumpfen“ lässt (Blyth 2013, S. 32). Dies ist nur ein Kausalmechanismus, dessen Analyse dafür spricht, das Wechselspiel von inneren und äußeren Landnahmen genauer zu untersuchen. Die innere Landnahme des Sozialen ist im deutschen Fall offenbar auf komplexe Weise mit einem von Gläubigerinteressen getriebenen Modus operandi äußerer Landnahmen verkoppelt, der die Asymmetrien und ungleichen Entwicklungen zusätzlich verstärkt und sich so als ökonomische Wachstumsbremse erweist.

„‚Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt‘, sagen die an der Spitze, während sie unbekümmert verschweigen, dass man mit den ‚übermäßigen Ausgaben‘ ihre Besitztümer gerettet hat. Gleichzeitig wird dem Rest der Bevölkerung gesagt, er müsse ‚die Gürtel enger schnallen‘ – und das von Leuten, die selbst viel größere Hosen tragen und keinerlei Willen erkennen lassen, an der Lösung des Problems mitzuwirken. Wenn ärmere Bevölkerungsschichten unverhältnismäßig für ein Problem zur Kasse gebeten werden, das von jenen an der Spitze verursacht wurde, und wenn letztere energisch jede Verantwortung von sich weisen und sie dem Staat zuschieben, dann werden dem Staat nicht nur die Mittel zur Behebung des Problems fehlen, dann wird sich auch die Polarisierung der Gesellschaft verschärfen, und es werden sich die ohnehin schon geringen Chancen einer durchhaltbaren Politik verschlechtern, die der doppelten Herausforderung hoher Schulden und geringen Wachstums gewachsen wären. Populismus, Nationalismus und Forderungen nach einem neuen Gleichgewicht zwischen ‚Gott und Geld‘ sind das Ergebnis ungerechter Austeritätspolitik. Keiner profitiert davon, nicht einmal die Reichen.“ (Blyth 2013, S. 40).

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(3) Ökonomisch-ökologische Doppelkrise: Das Krisenpanorama bliebe indessen unvollständig, würde dessen ökologische Dimension ausgeblendet. Die große Krise von 2008/09 signalisiert auch, dass diese Wechselbeziehung von ökonomischem Wachstum und ökologischer Zerstörung an einem historischen Umschlagpunkt angelangt ist. Sofern Wirtschaftswachstum überhaupt noch generiert werden kann, zehren die ökologischen Destruktionskräfte den äußerst ungleich verteilten Wohlfahrtsgewinn mehr und mehr auf. Den frühindustrialisierten Ländern bleiben daher künftig nur zwei Optionen: „One is to make growth sustainable; the other is to make degrowth stable“ (Jackson 2009, S. 128). Doch gleich welcher Weg gewählt wird, beide laufen auf eine große gesellschaftliche Transformation hinaus. Die Krise ist zu einer ökonomisch-ökologischen Doppel- oder Zangenkrise geworden, weil das wichtigste Mittel zur Überwindung wirtschaftlicher Stagnation, die Erzeugung von Wirtschaftswachstum, unter den gegebenen Bedingungen notwendig zur Verstärkung ökologischer Destruktion führt. In das Luxemburg’sche Szenario übersetzt: Die endlos erweiterte Reproduktion des Kapitals bewirkt nun allerding in ihrer sachlich-stofflichen Dimension, dass die Grenzen der Regenerationsfähigkeit natürlicher Systeme erreicht werden und u. a. beim Klimawandel und der Artenvielfalt bereits überschritten sind. Eine Abkehr von diesem Trend schien lange nur mittels degrowth by desaster möglich. So näherte sich der Ressourcenverbrauch zuletzt während der Krisenjahre 1980–83 der Tragfähigkeitsgrenze an; die Emissionen gingen letztmalig 2009 signifikant zurück. Doch nicht etwa höhere Ressourceneffizienz oder beschleunigtes Umsteigen auf erneuerbare Energien, sondern ökonomisches Minuswachstum sorgte für einen Rückgang klimaschädlicher Treibhausgase. Als die Konjunktur 2010 anzog, war das Rekordniveau der Emissionen aus 2008 (31,5 Millionen Tonnen CO2-Emissionen) rasch wieder erreicht. Eine Ausnahme stellte in Europa nur die griechische Schrumpfungsgesellschaft dar; dort hielt das wirtschaftliche Negativwachstum an; zugleich sanken die klimaschädlichen Emissionen. Berücksichtigen müssen wir allerdings: Hinsichtlich der komplexen MenschNatur-Interaktionen besteht eine unendliche Ungewissheit bei den Vorhersagen. Normenwerte, ökologische Belastungsgrenzen und Kipppunkte sind, worauf bereits Ulrich Beck hingewiesen hat, wissens- und definitionsabhängig. Damit ist nicht gesagt, dass Belastungsgrenzen inexistent sind. Doch die Wirkungen von ökologischen Risiken, wie sie beispielsweise mit der Freisetzung von Radioaktivität einhergehen, lassen sich nur selten eindeutig zuordnen. Sie entziehen sich häufig sinnlicher Wahrnehmung, sind nicht sichtbar, nicht fühlbar und erschließen sich daher in ihrem vollen Ausmaß nur im Wissen, also in der Konstruktion wissenschaftlich fundierter Kausalitätsbeziehungen. Ähnliches gilt für den Treibhauseffekt oder mögliche Klimaveränderungen. Globale ökologische Risiken sind daher definitionsabhängig, sie sind Gegenstand von Definitionskämpfen im Wissenschaftssystem und in der Gesellschaft. Diese Definitionskämpfe müssen Eingang in eine kritische Theorie kapitalistischer Krisen finden. Eine solche Theorie hätte dort anzusetzen, wo naturwissenschaftlicher Sachverstand endet: „Ob [. . .] eine ‚soziale Marktwirtschaft‘ oder ein ‚demokratischer Sozialismus‘ das beste Gesellschaftsmo-

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dell für die mittelfristige Zukunft ist, ja, ob man überhaupt ein Gesellschaftsmodell benötigt, wage ich nicht zu beurteilen“, schreibt der Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber in seinem Buch Selbstverbrennung(vgl. Schellnhuber 2015, S. 703). Kritische Gesellschafts- und Krisentherapie kann es dabei nicht belassen. Die ökonomisch-ökologische Doppelkrise hat systemischen Charakter, denn auf „einem endlichen Planeten können soziale Spannungen nicht auf Dauer durch materielle Expansion aufgelöst werden“ (Schellnhuber 2015, S. 703). Damit ist keineswegs gesagt, dass die kapitalistische Produktionsweise notwendig ihrem Untergang geweiht ist, wie manche Kapitalismuskritiker behaupten (vgl. Wallerstein 2014, S. 18; Streeck 2014, S. 35–64; Mason 2015). Es hieße, Fehler früherer Kapitalismusdiskussionen zu wiederholen, würde man Endkrisenthesen und Postkapitalismusszenarien unkritisch übernehmen. Stattdessen muss die Frage, ob der Kapitalismus die ökonomisch-ökologische Zangenkrise überleben kann, mit einem klaren Ja beantworten werden. Die Herrschaft kapitalistischer Eliten ist im Stande auch schwerste Krisen zu überleben. Sie kann zu neuen Landnahmen, sei es der Biosphäre, sei es des Wissens, durchaus in der Lage sein. Die Frage ist nur, zu welchem Preis und ob wir ihn bezahlen wollen (vgl. Harvey 2014, S. 209).

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Die neuen Vagabunden. Prekarität in reichen Gesellschaften Klaus Dörre

Zusammenfassung

Im Unterschied zum orthodoxen Marxismus zeichnen sich wichtige Strömungen in der Kritischen Theorie durch einen klaren Blick auf die Widerständigkeit der Verarmten und Ausgeschlossenen, der Vagabunden moderner Gesellschaften aus. Der Beitrag knüpft implizit an solche Überlegungen an und beschreibt die Prekarisierung von Arbeit und Leben in den reichen Gesellschaften des Nordens als Genese neuer Vagabunden. Schlüsselwörter

Prekarität · Prekarisierung · Disziplinierung · Schwellen der Sicherheit · Umgang mit Unsicherheit · Care work · Arbeitsbewusstsein · Widerständigkeit

Prekarität gehört zu den großen Themen der sozialwissenschaftlichen Gegenwartsanalyse und Zeitdiagnostik. Allerdings wird die Prekarisierungsdiskussion in Nord und Süd mit sehr unterschiedlichen Akzentuierungen geführt.1 In der europäischen Debatte, um die es hier schwerpunktmäßig geht, stellen Prekarisierungsdiagnosen eine Analogie zu den gesellschaftlichen Transformationen des 15. bis 18. Jahrhunderts her. Feudale Gesellschaften ließen Bettler und Vagabunden die disziplinierende Gewalt der Zünfte und der Armenpolizei spüren. Die Freisetzung aus der hierarchischen Ordnung, wie sie sich im Übergang zur industriell-kapitalistischen Produktionsweise vollzog, bedeutete für die Betroffenen häufig Zwangspauperisierung. Die 1

Vgl.: Bourdieu et al. 1997; Lee und Kofman 2012; von Holdt et al. 2011; Druck 2013; Antunes 2013; Koch und Fritz 2013; Kalleberg 2011; Standing 2011, 2014; Munck 2013; Castel 2000; Castel und Dörre 2009; Pelizzari 2009; Motakef 2015; della Porta et al. 2015; Sproll und Wehr 2014; Schmalz et al. 2013; Cerda Becker et al. 2015. K. Dörre (*) Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_53

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Gewalt der zerfallenden feudalen Ordnung richtete sich nunmehr gegen potenzielle Lohnarbeiter (Sachße und Tenst 1986, van der Linden 2017). Es entstand „unwürdige Lohnarbeit“ (Castel 2011, S. 63), deren Nützlichkeit anerkannt wurde, ohne dass dies mit gesellschaftlicher Wertschätzung verbunden war. Im Zuge der Freisetzung von Lohnabhängigen und ihrer Familien aus wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen kommt es, so der Tenor wichtiger Beiträge aus der Prekarisierungsforschung, auf einem völlig anderen gesellschaftlichen Reichtums- und Sicherheitsniveau zu einer Wiederkehr dieses Phänomens. Die prekarisierten Gruppen der postwohlfahrtsstaatlichen Ära sind die „Vagabunden“ des 21. Jahrhunderts (Castel 2011, S. 68). Sie repräsentieren einen historisch neuen Typus diskriminierender Prekarität, der zunehmend auch jene Bevölkerungsteile erfasst, die zuvor zu den gesicherten zählten. Nachfolgend werden Grundlagen und Erkenntnisse der Prekarisierungsforschung in mehreren Schritten präsentiert. Zunächst (1) wird ein soziologisches Konzept von Prekarität eingeführt, das die Ursachen sozialer Instabilität primär im Bereich von Arbeit und Beschäftigung verortet. Im nächsten Schritt (2) geht es um die Herausbildung einer prekären Vollerwerbsgesellschaft, sodann (3) um die subjektiven Verarbeitungsformen von Prekarität und abschließend (4) um deren gesellschaftliche Folgen sowie um deren Stellenwert für eine zeitgemäße kritische Theorie. Dabei greifen wir auch auf eigene empirische Studien zurück, die wir an geeigneter Stelle einführen. Unsere empirischen Befunde beziehen sich überwiegend auf den deutschen Fall, die sozialen Mechanismen der Prekarisierung dürften jedoch, wenngleich in unterschiedlichen Ausmaßen und Ausprägungen, für die meisten wohlfahrtsstaatlich regulierten Gesellschaften Kontinentaleuropas relevant sein. Die Schwerpunktsetzung des Beitrags impliziert, dass die Prekarität des Lebens, wie sie im Anschluss an Judith Butler (Butler 2005) Gegenstand insbesondere feministischer Theorie ist, nachfolgend nur gestreift wird.

1

Prekarität als soziologisches Konzept

Der Wortstamm von prekär lässt sich bis zum lateinischen precarium, der Bittleihe, zurückverfolgen. Gemeint ist das Verleihen einer Sache, deren Nutzung vom Geber jederzeit widerrufen werden kann. Prekarität bezeichnet demnach ein unsicheres, instabiles, auf Widerruf gewährtes Verhältnis, das den Nehmer eines Gutes vom Geber abhängig macht. Der Gegenbegriff ist eine stabile, sichere, durch Rechtsgleichheit konstituierte Beziehung. In der soziologischen Diskussion bezeichnet Prekarität instabile Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse. Konstitutiv für die neuere sozialwissenschaftliche Prekarisierungsdiskussion in Ländern des globalen Nordens war ursprünglich die Entstehung niedrig entlohnter, zeitlich befristeter, ungeschützter Arbeitsverhältnisse, in denen sich zunehmend auch akademisch qualifizierte Arbeitskräfte wiederfanden. Für diese Gruppen war, so die italienische Bezeichnung aus den 1970ern, lavoro precario (Bologna 1977, S. 49) charakteristisch. In Frankreich machte die Einführung

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einer Wiedereingliederungsbeihilfe (Revenue minimum d’insertion, Schultheis und Herold 2010, S. 244) für Langzeitarbeitslose die precarité zum Gegenstand öffentlicher Debatten.

1.1

Grundlagen: Bourdieus frühe Kabylei-Studie und Castels Zonenmodell

Fortan nutzten Soziologen Prekarität als Sammelkategorie, um höchst unterschiedliche soziale Phänomene zu bündeln. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Referenz für unterschiedliche Ansätze stößt man auf eine frühe Studie Pierre Bourdieus (2000), die sich mit Übergängen aus der (post-)kolonialen Gesellschaft Algeriens hin zu kapitalistischen Verhältnissen befasst. Darin analysiert Bourdieu die Entstehung eines ökonomischen Habitus, der kalkulierende Verhaltensweisen hervorbringt, die für kapitalistische Marktwirtschaften unentbehrlich sind. In der Laborsituation der kabylischen Übergangsgesellschaft sind die Chancen zur Aneignung ökonomisch rationaler Dispositionen allerdings ungleich verteilt, woraus Bourdieus Unterscheidung von Arbeiterklasse und Subproletariat resultiert. Subproletariat und Arbeiterklasse grenzen sich vor allem in ihren Einstellungen zur Zukunft voneinander ab. Ökonomisch rationales Handeln in kapitalistischen Marktwirtschaften setzt voraus, dass „sich die gesamte Lebensführung auf einen imaginären Fluchtpunkt ausrichtet“ (Bourdieu 2000, S. 31). Die radikale Zukunftsorientierung, die den Kapitalismus als Gesellschaftsformation auszeichnet, muss verinnerlicht und zu einem organischen Bestandteil der Lebensführung werden. Als internalisierte Wirtschaftsgesinnung wirkt der Kapitalismus wie eine „Schicksalsmacht“, welche die Lebensführung der Individuen nüchtern-rationalen, auf möglichst exakten quantitativen Kalkulationen beruhenden Zwecksetzungen unterordnet (Sombart 1928, S. 329). Diese Unterordnung ist jedoch äußerst voraussetzungsvoll und sie ist, worauf Theodor W. Adorno hat in der Auseinandersetzung mit Talcott Parsons hingewiesen hat, angstgetrieben: „Auf jeden Fall durchschaut er [Parsons] Im Gegensatz zur herrschenden subjektiven Ökonomie, daß wirtschaftliche Motivation nicht in Psychologischem wie dem ‚Gewinnstreben‘ aufgehen. Sicherlich kommt das rationale ökonomische Verhalten des Individuums nicht bloß durch den ökonomischen Kalkül, das Gewinnstreben, zustande. Das hat man viel eher nachträglich konstruiert, um durch eine, dem Sachverhalt wenig Neues hinzufügende Formel sich die vom Individuum aus keineswegs selbstverständliche Rationalität des durchschnittlichen wirtschaftlichen Verhaltens einigermaßen zurechtzulegen. Wesentlicher als subjektives Motiv der objektiven Rationalität ist die Angst. Sie ist vermittelt. Wer sich nicht nach den ökonomischen Regeln verhält, wird heutzutage selten sogleich untergehen. Aber am Horizont zeichnet die Deklassierung sich ab. Sichtbar wird die Bahn zum Asozialen, zum Kriminellen: die Weigerung, mitzuspielen, macht verdächtig und setzt selbst den der gesellschaftlichen Rache aus, der noch nicht zu hungern und unter Brücken zu schlafen braucht. Die Angst vorm Ausgestoßenwerden aber, die gesellschaftliche Sanktionierung des wirtschaftlichen Verhaltens hat sich längst mit andern Tabus verinnerlicht, im einzelnen niedergeschlagen. Sie ist geschichtlich zur

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zweiten Natur geworden; nicht umsonst bedeutet Existenz im philosophisch unverderbten Sprachgebrauch ebenso das natürliche Dasein wie die Möglichkeit der Selbsterhaltung im Wirtschaftsprozeß.“ (Adorno 1980, S. 46 f.)

In der Konkurrenz um soziale Positionen besitzen Facharbeiter und qualifizierte Angestellte einen enormen Vorteil, weil ihnen die relative Sicherheit des Arbeitsplatzes und des Einkommens überhaupt erst die Möglichkeit bietet, ihre Lebensplanung auf Zukunftsziele auszurichten. Für die Subproletarier hingegen steht „das gesamte berufliche Dasein unter dem Stern des Zufälligen und Willkürlichen“ (Bourdieu 2000, S. 67). Ungleich verteilte Chancen zu längerfristiger Lebensplanung und die unterschiedliche Integrationskraft sozialer Netze sind für eine Übergangsgesellschaft mit hoher Arbeitslosigkeit strukturprägend. In diesem Zusammenhang verweist Bourdieu auf zwei „Schwellen“, die unterschiedliche Niveaus sozialer Sicherheit voneinander abgrenzen: Eine feste Arbeitsstelle und ein regelmäßiges Einkommen mit dem ganzen Ensemble an Versicherungen auf die Zukunft verschafften den Zugang zu dem, was man „Schwelle der Sicherheit“ (Bourdieu 2000, S. 92) nenne. Unterhalb dieser Schwelle seien instabile Arbeits- und Lebensformen angesiedelt, oberhalb von ihr gehe es noch immer primär um eine Verbesserung sozialer Sicherheit. Wirklich unternehmerisches Denken, das die gesamte Lebensführung an der Zukunft ausrichte, werde jedoch erst möglich, wenn eine „Schwelle der Berechenbarkeit“ erreicht sei, was „wesentlich von der Verfügung über Einkünfte“ abhänge, „die von der Sorge um die Subsistenz dauerhaft“ entlasteten (Bourdieu 2000, S. 92). Diese „Schwellen“ der Sicherheit und der Berechenbarkeit, die Bourdieu in der kabylischen Gesellschaft entdeckt hat, existieren in allen kapitalistischen Gesellschaften. Sie verändern sich mit dem Reichtumsniveau dieser Gesellschaften, sie sind umkämpft und sie verschieben sich in Abhängigkeit von sozioökonomischen Entwicklungen und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, aber sie existieren. Und sie existieren auch in den wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen Kontinentaleuropas. Natürlich würde niemand auf die Idee kommen, eine (post-)koloniale Agrargesellschaft im Übergang zum Kapitalismus mit den wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen des globalen Nordens gleichzusetzen. Die Rationalisierung der Lebensführung ist heute in den fortgeschrittenen Kapitalismen weit voran geschritten. Der ökonomische Habitus hat sich über Klassen- und Geschlechtergrenzen hinweg verbreitet und es gibt kaum einen Lebensbereich, der von der kalkulierenden Rationalität des kapitalistischen Warentauschs ausgespart bleibt. Dennoch, darauf hat Pierre Bourdieu (Bourdieu 2000, S. 11 und 1998, S. 96–100) selbst noch aufmerksam gemacht, drängen sich beim Vergleich der kabylischen mit den zeitgenössischen europäischen Arbeitsgesellschaften Parallelen auf. Der säkulare Trend zur gesellschaftlichen Verallgemeinerung von Lohnarbeit ging in den Kapitalismen des globalen Nordens über viele Jahrzehnte mit der sozialstaatlichen Einhegung der Beschäftigungsverhältnisse einher. Im Ergebnis entstand, was rückblickend als sozial geschütztes Normal- oder Standardarbeitsverhältnis bezeichnet wurde (Mückenberger 2010, S. 403–420). Für die große Mehrzahl vor allem der männlichen Lohnabhängigen bedeutete wohlfahrtsstaatlich eingehegte Lohnarbeit rela-

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tive Abkoppelung der Einkommen und der Beschäftigungssituation von Marktrisiken. Während einer kurzen historischen Periode hatte sich in einigen kontinentaleuropäischen Ländern, darunter Westdeutschland, erstmals ein Kapitalismus ohne sichtbare nationale Reservearmee (Lutz 1984, S. 186) herausgebildet. Die kontinentaleuropäischen fordistischen Kapitalismen basierten noch immer auf klassenspezifischen Ungleichheiten und einer asymmetrischen Integration der Geschlechter in den Arbeitsmarkt. Vollbeschäftigung der Männer war ohne Care-Arbeiten, die vorwiegend gratis und überwiegend von Frauen geleistet wurden, nicht denkbar (Aulenbacher et al. 2014; Becker-Schmidt 2007). Unattraktive, schlecht bezahlte und wenig anerkannte Jobs wurden sukzessive von Migranten ausgeübt, die aus der südeuropäischen Peripherie in die Zentrumsstaaten kamen („Gastarbeiter“). Dennoch stellte sich der Wandel für die Mehrheit der Arbeiter, Angestellten und ihrer Familien als Übergang vom Lohnarbeitskontrakt zur Lohnarbeit als einem anerkannten gesellschaftlichen Status, einem Sozialbürgerstatus dar. Die Lohnabhängigen verfügten nun über „soziales Eigentum“ (Castel 2005, S. 41).2 Armut und Prekarität waren noch immer vorhanden, sie wurden jedoch an die Ränder der kontinentaleuropäischen Vollbeschäftigungsgesellschaften gedrängt oder im Privaten, in den Familien und den sozialen Netzwerken unsichtbar gemacht und auf diese Weise marginalisiert. Die neue Prekarisierungsdiskussion reflektiert, dass die enge Verkoppelung von Lohnarbeit und Sozialeigentum, wie sie für die kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten in unterschiedlichen Ausprägungen stilbildend war (Albert 1992; Crouch und Streeck 1997; Hall und Soskice 2001), seit den 1970er-Jahren Schritt um Schritt aufgebrochen wurde. Robert Castel hat diese Entwicklung in einer Arbeitshypothese zusammengefasst, in der er den Gedanken von „Schwellen“ sozialer Sicherheit reaktualisiert. Weil die Hülle aus sozialen und Partizipationsrechten, die selbst entfremdete Lohnarbeit mit einer besonderen gesellschaftlichen Integrationskraft ausstattete, ihre Schutzfunktion mehr und mehr verlor, spalteten sich die nachfordistischen Arbeitsgesellschaften in drei Zonen. Die „Zone der Integration“ mit geschützten Normarbeitsverhältnissen; eine „Zone der Entkoppelung“, in der sich Gruppen befänden, die mehr oder minder dauerhaft von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen seien sowie dazwischen gelagert eine expandierende „Zone der Prekarität“, die ein heterogenes Sammelsurium aus jederzeit „verwundbaren“, weil instabilen Arbeits- und Lebensverhältnissen umfasse. Die Grenzen zwischen diesen Zonen sind nicht mit Bourdieus „Schwellen“ sozialer Sicherheit identisch. So verläuft die „Schwelle der Berechenbarkeit“ mitten durch die „Zone der Integration“; sie trennt die verhältnismäßig kleine Gruppe von Beschäftigten ohne materielle Knappheitsprobleme von all jenen Beschäftigten in standardisierten Arbeitsverhältnissen, für die das so nicht zutrifft. Die „Schwelle der Sicherheit“ wiederum grenzt diese Gruppen von den prekären und den „entkoppelten“ Schichten ab.

„Das soziale Eigentum ließe sich als Produktion äquivalenter sozialer Sicherungsleistungen bezeichnen, wie sie zuvor allein das Privateigentum lieferte“ (Castel 2005, S. 41 f.).

2

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1.2

K. Dörre

Zur Definition von Prekarität in reichen Gesellschaften

Im Unterschied zur kabylischen Übergangsgesellschaft, die Bourdieu vor Augen hatte, basieren die zeitgenössischen Ausformungen prekärer Beschäftigung nicht auf absoluter Verelendung und Pauperisierung. Sie definieren sich vielmehr in Relation zu jenem Sozialbürgerstatus, der im Ergebnis der fordistischen Prosperitätsphase entstanden war und der für das Bewusstsein der „Mehrheitsgesellschaft“ in den kontinentaleuropäischen Zentrumsstaaten noch immer konstitutiv ist (Paugam 2009, S. 175–196). Insofern handelt es sich bei Prekarität um eine relationale Kategorie, deren Aussagekraft wesentlich von der Definition auch subjektiv akzeptierter gesellschaftlicher Normalitätsstandards abhängt. In einer ersten Arbeitsdefinition bezeichnen wir ein Erwerbsverhältnis dann als prekär, wenn es nicht dauerhaft oberhalb eines von der Gesellschaft definierten kulturellen Minimums existenzsichernd ist und deshalb bei der Entfaltung in der Arbeitstätigkeit, gesellschaftlicher Wertschätzung und Anerkennung, der Integration in soziale Netzwerke, den politischen Partizipationschancen und der Möglichkeit zu längerfristiger Lebensplanung dauerhaft benachteiligt. Aufgrund ihrer Tätigkeit und deren sozialer Verfasstheit sinken prekär arbeitende und lebende Personen oder Gruppen deutlich unter das Schutz- und Integrationsniveau, das in wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismen als Standard definiert wird. Das Beschäftigungsverhältnis und/oder die Arbeitstätigkeit sind daher auch subjektiv mit Sinnverlusten, Partizipations- und Anerkennungsdefiziten sowie Planungsunsicherheit verbunden (Castel und Dörre 2009, S. 17). Der jeweilige Maßstab für Prekarität kann nicht konzeptuell vorausgesetzt, sondern muss empirisch ermittelt werden. Wichtig für eine empirisch operationalisierbare Begriffsdefinition ist die Unterscheidung zwischen einer Prekarität der Beschäftigung (Arbeitskraftperspektive) und der Prekarität von Arbeit (Subjekt- bzw. Tätigkeitsperspektive). Schon rein logisch bedeutet dies, dass höchst unterschiedliche Formen von Prekarität denkbar sind. Eine prekäre Beschäftigung kann mit kreativer Arbeit verbunden sein; umgekehrt ist eine sichere Beschäftigung auch mit überaus belastenden und wenig anerkannten Tätigkeitsformen kombinierbar. Eine Verschränkung und wechselseitige Verstärkung beider Dimensionen von Prekarität ist ebenfalls möglich. Noch weitreichender ist eine Unterscheidung zwischen prekärer (Erwerbs-)Arbeit (labour) und prekärer (Lebens-)Tätigkeit (work, Standing 2011, S. 13). Die Instabilität der Lebensverhältnisse, etwa bei Jugendlichen und Rentnern, oder auch der Entzug von Zeit- und materiellen Ressourcen für notwendige Care-Arbeiten in Haushalt und Familie können zu eigenständigen Prekarisierungstreibern jenseits bezahlter Erwerbsarbeit werden (Donath 2000; Federici 2015). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Castels Zonenmodell zwei Dimensionen sozialer Unsicherheit abbildet. Über instabile oder fehlende Erwerbsarbeit vermittelte Unsicherheit ist die eine Dimension. Unsicherheit, die durch poröse soziale Netze, schwache Sicherungssysteme und fehlende institutionelle Garantien für elementare Freiheits- und Bürgerrechte erzeugt wird, die andere. Dabei gilt, dass das Gefühl der Unsicherheit „nicht exakt den tatsächlichen Gefahren“ entspricht, „denen eine Bevölkerung ausgesetzt ist“ (Castel 2005, S. 10); ja, die Struktur der unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Regulationen kann selbst ein Gefühl der

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Unsicherheit erzeugen, weil die Sicherungssysteme niemals völlig deckungsgleich sein können und Sicherheitsansprüche der Bürger niemals vollständig zu befriedigen sind. Deshalb ist es sinnvoll, neben strukturellen Kriterien auch die subjektiven Verarbeitungsformen unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse in die Begriffsdefinition einzubeziehen (Gefken et al. 2015). Mit diesem Vorschlag schließt die empirische Prekaritätsforschung an Studien zum Arbeiter- und Angestelltenbewusstsein sowie zum Autoritarismus an, die sich in der Tradition der Kritischen Theorie verorten (Bonss 1983, S. 7–46; Fromm 1983; IfS 1936; Popitz et al. 1957). Einer kritischen Prekarisierungsforschung geht es stets auch um die Orientierungen lebendiger Subjekte, um deren alltägliche Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, die Unsicherheit produzieren. Eine Erwerbstätigkeit, die strukturell als prekär zu bezeichnen ist, muss subjektiv keineswegs als heikel eingestuft werden. Strukturelle Prekaritätsrisiken können vorhanden sein, obwohl es sich im Bewusstsein der Betreffenden um eine erwünschte Form der Erwerbstätigkeit handelt. Insofern bilden die Kategorien prekäre Beschäftigung und prekäre Arbeit eine besondere Beziehung von Einzelnen zu ihrer Erwerbsbiografie ab, die in den gesamten Lebenszusammenhang eingebettet ist. Ein nach strukturellen Merkmalen prekäres Beschäftigungs- und/oder Arbeitsverhältnis konstituiert eine erwerbsbiografische Problemlage, die aktiv bearbeitet wird. Dabei beeinflussen der Neigungswinkel der Erwerbsbiografie, individuelle Qualifikationen und Kompetenzen, Konstruktionen von Geschlecht, Nationalität und Ethnie sowie das Lebensalter die Art der Auseinandersetzung mit und die Bewertung von prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen. Mit dieser Ausrichtung unterscheiden sich Prekarisierungsanalysen deutlich von der Arbeitslosen- und Armutsforschung, wie sie ein empirisch ausgerichteter Zweig der älteren Kritischen Theorie begründete (klassisch: Jahoda et al. 1933/1975), der seither in zahlreichen Varianten fortgeführt wird. Arbeitslosigkeit und Armut können mit Prekarität verbunden sein, sie müssen es aber nicht. Prekarität findet sich nicht nur in Unter- und Arbeiterklassen(-milieus), sondern auch bei vergleichsweise gut verdienenden Akademikern oder Künstlern (Pelizzari 2009; Vester et al. 2015). Zudem stimmen die Verarbeitungsformen von Unsicherheit, wie sie die bahnbrechende Marienthal-Studie beschrieben hat (Zerfall der Zeitstruktur, Apathie, Verlust politischer Öffentlichkeit etc.) nicht unbedingt mit jenen subjektiven Orientierungen überein, die wir bei den Prekariern des 21. Jahrhunderts finden. Das hängt vor allem damit zusammen, dass sich in den wohlfahrtsstaatlich-regulierten Kapitalismen andere Normalitätsstandards etabliert haben. Prekarisierung beschreibt Prozesse der Abweichung und Erosion von hegemonialen Standards, wie ihn das sogenannte Normalarbeitsverhältnis auch in seinen herrschaftlich-patriarchalen Ausprägungen darstellt.

2

Die prekäre Vollerwerbsgesellschaft

Mit Hilfe der vorgeschlagenen Arbeitsdefinition kann die Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung beschrieben werden, wie sie seit der Jahrtausendwende mit zunehmender Dynamik in nahezu allen kontinentaleuropäischen Ländern und in

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K. Dörre

besonderer Weise auch in Deutschland stattgefunden hat.3 Die Entwicklung der deutschen Arbeitsgesellschaften nach der Wiedervereinigung lässt sich in zwei Phasen beschreiben. Die erste Phase von 1991 bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts zeichnete sich durch eine kontinuierliche Zunahme von Erwerbslosigkeit und parallel durch eine stärkere Verbreitung nicht-standardisierter Beschäftigungsformen (Leiharbeit, Befristung, marginale Tätigkeiten, Teilzeitarbeit, Solo-Selbstständigkeit; Holst und Dörre 2013, S. 132–149) aus. 2005 hatten Langzeitarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung Rekordwerte erreicht. Die Arbeitslosenquote lag bei 11,7 %. Die zweite Phase begann mit der Durchsetzung der „Hartz-Reformen“ und dauert weiter an. Während dieser Phase sind Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung deutlich zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote war 2014 auf 6,7 Prozent gesunken, doch das Volumen bezahlter Erwerbsarbeitsstunden lag im selben Jahr trotz einer Rekordzahl an Erwerbstätigen (ca. 43 Mio., 2016 nahezu 44 Mio.) 2014 noch immer unter dem Niveau von 1991. Leistete ein Erwerbstätiger 1991 noch durchschnittlich 1554 Arbeitsstunden, so waren es 2014 nur noch 1366 Stunden. Das entspricht einem Rückgang um 12 %. Das in Relation zur Erwerbstätigkeit bis 2013 geschrumpfte Arbeitsvolumen wird höchst asymmetrisch verteilt. Jeder fünfte Erwerbstätige (2014: 21 % und absolut 7,5 Mio. 2004: 19 %) arbeitet atypisch, d. h. in einem Teilzeit-, einem geringfügigen, einem befristeten oder einem Leiharbeitsverhältnis. Obwohl nicht in jedem Fall prekär, ist jedes dieser Beschäftigungsverhältnisse mit einem überdurchschnittlich hohen Armuts- und Beschäftigungsrisiko verbunden. Betroffen sind vor allem Frauen in Dienstleistungsberufen (Holst und Dörre 2013). Trotz günstiger konjunktureller und demografischer Entwicklung und einer positiven Beschäftigungswirkung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns sind atypische Beschäftigungsformen seit 2010 nur leicht zurückgegangen. Unsicherheitserfahrungen beschränken sich aber keineswegs auf diese Erwerbsformen. Die Zunahme nicht standardisierter Beschäftigungsverhältnisse ist für den Prekarisierungstrend ein höchst unzuverlässiger Indikator, weil nicht jedes atypische Beschäftigungsverhältnis prekär sein muss. Generell gilt jedoch, dass das Armutsund Beschäftigungsrisiko bei nicht-standardisierter Beschäftigung überdurchschnittlich hoch ist. Prekarität existiert freilich auch in Verbindung mit niedrig entlohnter Vollzeitbeschäftigung. Deutschland hat trotz gesetzlichem Mindestlohn noch immer einen der größten Niedriglohnsektoren der OECD-Welt. Dieser Sektor umfasst kontinuierlich zwischen 22 und 24 Prozent der Erwerbstätigen. Mehr als zehn Prozent der Vollzeitbeschäftigten sind Niedriglöhner. Der deutsche Niedriglohnsektor zeichnet sich zudem durch geringe Aufwärtsmobilität und eine enorme Spreizung der Löhne aus. Vor der Einführung einer gesetzlichen Lohnuntergrenze waren die Stundenlöhne im Extremfall auf 1,54 Euro abgesunken (Dörre et al. 2013b, S. 349). 1,15 Mio. (3,6 % aller Beschäftigten) verdienten weniger als fünf Euro brutto pro

3

Zu den Ursachen der Prekarisierung aus der Perspektive des Landnahme-Theorems vgl. Dörre 2009a, b.

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Stunde, mehr als 5,8 Mio. weniger als 8,50 Euro Stundenlohn (Weinkopf 2010, S. 44). Die Niedriglohnbeschäftigung hat sich, stärker als in jedem anderen europäischen Land, im Zentrum des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters etabliert (Rhein 2013). Nimmt man alle Kriterien, die normalerweise als Schutz vor Prekarität gelten, zusammen (vollzeitbeschäftigte Männer mit inländischer Staatsangehörigkeit und unbefristeten Verträgen, mit abgeschlossener Ausbildung oder Studium in einem Betrieb ab 50 Beschäftigten), so stößt man noch immer auf 6,3 % Niedriglohnbeschäftigte – der höchste Anteil im europäischen Vergleich. Deutschland nimmt mit seiner expansiven Niedriglohnbeschäftigung in der EU einen Spitzenplatz ein. Nur in Zypern, Malta und der baltischen Republik Litauen hat die Niedriglohnbeschäftigung in der Relation noch größere Ausmaße angenommen. Positive Arbeitsplatzeffekte der expandierenden Niedriglohnbeschäftigung sind nicht nachweisbar. Allerdings hat prekäre Beschäftigung über einen langen Zeitraum sozial geschützte Arbeitsverhältnisse verdrängt. Für die 7,4 Mio. Minijobs, von denen ca. 4,9 Mio. im Haupterwerb ausgeübt werden, ist dieser Effekt vor allem im kleinbetrieblichen Segment (weniger als 50 Beschäftigte) empirisch belegt (Hohendanner und Stegmaier 2012). Auch für Leiharbeit gilt, dass etwa die Hälfte des Stellenzuwachses, der über diese Beschäftigungsform erzielt wird, in anderen Branchen wieder verloren geht (Jahn und Weber 2013; Dörre et al. 2013b, S. 351, 357). Zu atypischer und niedrig entlohnter Beschäftigung gesellt sich die steigende Zahl der Soloselbstständigen, bei denen es sich überwiegend um prekär Beschäftigte handelt. Ca. fünf Prozent der Lohnabhängigen sind Multijobber. Viele von ihnen üben mehrere Erwerbstätigkeiten aus, weil sie sich und ihre Familien nur auf diese Weise finanzieren können. An den Rändern der Vollerwerbsgesellschaft müssen kontinuierlich zwischen 1,3 und 1,4 Mio. Erwerbstätige ihre Löhne mit Leistungen der Grundsicherung aufstocken. Hinzu kommt, dass das ungenutzte Arbeitskräftepotenzial noch immer ca. sechs Mio. Personen (2,1 Mio. Erwerbslose, 2,9 Mio. Unterbeschäftigte, 1,0 Mio. stille Reserve) umfasst. Zwar ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2006 und 2011 um ca. 40 % zurückgegangen, um sodann auf dem erreichten Niveau zu verharren. Es gibt jedoch einen harten Kern von etwa einer Mio. Menschen, die über zehn Jahre hinweg niemals aus dem Hartz-IV-Bezug herausgekommen sind. Insgesamt waren 2014 4,4 Mio. Menschen auf SGB-IILeistungen angewiesen, bei 3,1 Mio. handelte es sich um Langzeitleistungsbezieher. Lediglich die Hälfte der Leistungsbezieher hatte keine Erwerbsarbeit; nur ca. 770.000 Personen waren sowohl langzeitarbeitslos als auch Langzeitleistungsbezieher. All das spricht für die Verfestigung von Unterklassenlagen in sozialer Nähe zum Fürsorgestatus. Der expandierende Sektor mit prekärer Arbeit und Beschäftigung ist, gemeinsam mit dem auf unter 18 % Prozent abgesunkenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad (Schmalz und Dörre 2013) und der nachlassendenden Tarifbindung, eines der „Bleigewichte“, die das Lohnniveau in der Bundesrepublik insgesamt nach unten gezogen haben (Lehndorff 2012, S. 95). Die Reallöhne sind in den 2000er-Jahren um ca. vier Prozent gesunken und ziehen erst in jüngster Zeit wieder an. Während jedoch die Beschäftigten in der Exportwirtschaft ihre effektiven Löhne zumindest

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halten oder gar steigern konnten (Hauptmann und Schmerer 2012), haben andere Gruppen erhebliche Reallohnverluste zu verzeichnen. Etwa die Hälfte der Lohnabhängigen verdient heute weniger als noch vor 15 Jahren, die unteren vier Einkommensdezile haben seit den 1990er-Jahren überdurchschnittlich verloren (Fratzscher 2016, S. 64). Moderate Lohnsteigerungen, wie sie nach 2013 zu verzeichnen sind, haben diese Einkommensungleichheit ein wenig modifiziert, aber nicht grundlegend verändert. Die Lohnquote stagniert noch immer auf einem Niveau, das deutlich unter dem der 1990er-Jahre liegt.

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Subjektive Verarbeitungsformen von Prekarität

Die präsentierten Befunde verdeutlichen, was es mit der prekären Vollerwerbsgesellschaft auf sich hat. Erwerbstätigkeit findet zunehmend in einem gespaltenen Arbeitsmarkt statt. Im untersten Segment des prekären Sektors sind Beschäftigungsverhältnisse entstanden, die nicht einmal mehr die Reproduktion der Arbeitskraft sichern. Deshalb darf die „Gesellschaft der Vollerwerbstätigkeit“ nicht mit einer Vollbeschäftigungsgesellschaft verwechselt werden. Wir sehen uns, wie Robert Castel argumentiert, mit einem „Ende der Lohnarbeitsgesellschaft“ konfrontiert, welches keines der Lohnarbeit ist (Castel 2011, S. 136). Die Erwerbslosigkeit wird durch Ausdehnung und Verallgemeinerung prekärer und daher unwürdiger Arbeit zum Verschwinden gebracht. Da prekäre Tätigkeiten größtenteils mit Lohnabhängigkeit verbunden sind, kann von einem Verschwinden der Lohnarbeit keine Rede sein. Die prekär Beschäftigten verlieren jedoch einen Teil jener Rechte, die dem Beschäftigungsverhältnis einen gesellschaftlichen Status gaben. Oder sie sind nicht bzw. waren nie in der Lage, einen solchen Status überhaupt zu erreichen. In diesem Sinne sind die prekär Beschäftigten, denizens, Halbbürger (Standing 2011) mit minderen sozialen und Partizipationsrechten. Die sozialen Wirkungen der Prekarisierung von Arbeit und Beschäftigung können jedoch im vollen Umfang erst erfasst werden, wenn deren subjektive Verarbeitungsformen analysiert werden.

3.1

Umgang mit Unsicherheit – eine Typologie

Wir können dies anhand einer Typologie leisten, die das Castel’sche Zonenmodell als heuristischen Rahmen nutzt. Mit Hilfe einer qualitativen Untersuchung haben wir neun typische Verarbeitungsformen von sozialer (Un-)Sicherheit rekonstruiert (Abb. 1). Die Typologie beruht auf einer explorativen Untersuchung, die 36 Expertengespräche, zwei Gruppenbefragungen von Leiharbeitern sowie 100 themenzentrierte Interviews umfasst. Anhand ausgewählter Problemkonstellationen in der Automobil- und Elektroindustrie, dem Einzelhandel, dem Baugewerbe, der Finanzund IT-Branche, dem Bergbau sowie der Zeitarbeitsbranche lag der Schwerpunkt der Interviews auf dem subjektiven Umgang mit sozialer Unsicherheit. Befragt wurden sowohl Festangestellte als auch prekär Beschäftigte und Erwerbslose. Die Untersuchung orientierte sich ursprünglich an dem Zonenmodell Robert Castels. Unsere

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Zone der Integration 1. Gesicherte Integration („Die Gesicherten“) 2. Atypische Integration („Die Unkonventionellen“ oder „Selbstmanager“) 3. Unsichere Integration („Die Verunsicherten“) 4. Gefährdete Integration („Die Abstiegsbedrohten“) Zone der Prekarität 5. Prekäre Beschäftigung als Chance/temporäre Integration („Die Hoffenden“ ) 6. Prekäre Beschäftigung als dauerhaftes Arrangement („Die Realistischen“) 7. Entschärfte Prekarität („Die Zufriedenen“) Zone der Entkoppelung 8. Überwindbare Ausgrenzung: („Die Veränderungswilligen“) 9. Kontrollierte Ausgrenzung/inszenierte Integration („Die Abgehängten“)

Abb. 1 (Des-)integrationspotentiale von Erwerbsarbeit – eine Typologie. Quelle: Eigene Darstellung. Die Typologie beinhaltet unterschiedliche Weisen des Umgangs mit sozialer Unsicherheit. Sie beruht auf einer qualitativen Erhebung, n = 100

Typologie bestätigt die Relevanz dieses Zonenmodells für die deutsche Arbeitsgesellschaft, ermöglicht jedoch differenziertere Befunde hinsichtlich der subjektiven Verarbeitung von Prekarität. Die Konstruktion der Typologie erfolgt über eine Gewichtung von fünf Dimensionen wahrgenommener Instabilität und Unsicherheit.4 Diese Erfahrungsdimensionen werden jeweils der Arbeitskraftperspektive (Dimensionen a, c) oder der Tätigkeits- bzw. Subjektperspektive (Dimensionen b, d, e) zugerechnet. Arbeitskraft- (reproduktive Dimension, Lohn- und Beschäftigungssicherheit) und Tätigkeitsperspektive (qualitative, arbeitsinhaltliche, professionsbedingte Ansprüche,) beinhalten die primären Integrationspotenziale einer Erwerbstätigkeit (Paugam 2009). In der „Zone der Integration“ bilden drei Typen (1, 3, 4) die Integration in formal gesicherte Normbeschäftigung ab. Im Fall der „Selbstmanager“ dominiert das Integrationspotenzial der Tätigkeitsperspektive (inhaltliches Interesse an der 4

Dies sind (a) die reproduktiv-materielle Dimension: Prekär ist Erwerbsarbeit, wenn eine Tätigkeit, deren Vergütung die Haupteinnahmequelle darstellt, instabil und/oder nicht existenzsichernd ist und/oder wenn eine Arbeit, die man einem Arbeitgeber leistet, nicht so vergütet wird, dass das Einkommen dem oder der Arbeitenden ermöglicht, ein gesellschaftlich anerkanntes kulturelles Minimum zu realisieren; (b) die sozial-kommunikative Dimension: Erwerbsarbeit ist prekär, wenn die Beschäftigungsform eine gleichberechtigte Integration in soziale Netze ausschließt, wenn die Ausübung einer Tätigkeit den Arbeitenden soziale Verkehrskreise verschließt oder wenn die Belastungen und Restriktionen einer Tätigkeit durch Zugehörigkeit zu engmaschigen sozialen Netzen, durch Familie und Verwandtschaft ausgeglichen werden müssen; (c) die rechtlichinstitutionelle oder Partizipationsdimension: Damit ist gemeint, dass eine Arbeitstätigkeit den oder die Arbeitende vom vollen Genuss institutionell verankerter sozialer Rechte und Partizipationschancen ausschließt. Tarifliche Rechte, Mitbestimmungsmöglichkeiten, Betriebsvereinbarungen und soziale Schutz- und Sicherungsrechte wie Kündigungsschutz, Rentenversicherung etc. gelten im vollen Umfang in der Regel nur für unbefristete Vollzeitbeschäftigte; (d) die Status- und Anerkennungsdimension: Prekär ist Arbeit auch, wenn sie mit sozialer Missachtung verbunden ist sowie (e) die arbeitsinhaltliche Dimension: Von prekärer Beschäftigung kann auch gesprochen werden, wenn die Berufstätigkeit von dauerhaftem Sinnverlust begleitet ist oder wenn sie im Gegenteil zu einer krankhaften Überidentifikation mit Arbeit führt. Moderne Pathologien der Arbeitswelt wie Arbeitswut, Burn-out-Syndrome, Entspannungsunfähigkeit und der Verlust des Privatlebens haben hier ihren Ursprung.

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Tätigkeit, Streben nach Professionalität) über den unsicheren Beschäftigungsstatus. In der „Zone der Prekarität“ sind unstete Beschäftigungsverhältnisse angesiedelt, die jedoch subjektiv höchst unterschiedlich bewertet werden (die Typen 5, 6, 7). In der „Zone der Entkoppelung“ befinden sich Erwerbs- und Langzeitarbeitslose mit ebenfalls divergierenden subjektiven Orientierungen (Typ 8, 9). Unsicherheitsempfinden kann insbesondere bei den „Verunsicherten“ und „Abstiegsbedrohten“ (Typ 3, 4) deutlich ausgeprägter sein als bei Befragten, die aufgrund der Struktur ihres Beschäftigungsverhältnisses der „Zone der Prekarität“ zuzurechnen sind (Typ 5, 7). Selbst bei den Veränderungswilligen (Typ 8) in der „Zone der Entkoppelung“ besteht noch die Hoffnung, die eigene Lage über kurz oder lang deutlich verbessern zu können. Im Falle der „Abstiegsbedrohten“ (Typ 4) sind Brüche in der beruflichen Biografie normal und der soziale Abstieg ist fast schon zur Gewissheit geworden. Der Neigungswinkel individueller Biografien zeigt bei dieser Gruppe nach unten und es sind nicht genügend Ressourcen vorhanden, um diese biografische Abwärtsbewegung grundlegend korrigieren zu können. Die Typologie veranschaulicht, dass Prekarisierungsängste nicht linear zunehmen, wenn man sich in der Hierarchie der Typen nach unten bewegt. Vielmehr sind Abstiegsängste bei jenen Gruppen besonders präsent, die noch etwas zu verlieren haben. Die Antizipation von Statusverlust ist ein wichtiger Ursachenherd für Prekarisierungsängste, der – paradoxer Weise – innerhalb der „Zone der Integration“ angesiedelt ist. Diese Feststellung ist wichtig, weil sich Unsicherheitserfahrungen nicht auf die „Zone der Prekarität“ beschränken. Allerdings ist die Prekarität auch nicht, zumindest nicht in gleicher Weise, „überall“ (Bourdieu 1998, S. 96). Die wichtigsten Ergebnisse unserer Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen. (1) Zukunftsbewusstsein und Lebensplanung: Tatsächlich stoßen wir in der „Zone der Prekarität“ unter völlig anderen gesellschaftlichen Bedingungen auf die Wiederkehr jener Problematik, die Bourdieu (Bourdieu 2000) am Beispiel des kabylischen Subproletariats analysiert hatte. Bei der subjektiven Bewertung ihres Beschäftigungsverhältnisses ist für die Befragten entscheidend, dass eine prekäre Beschäftigung keine Basis für eine längerfristige Lebensplanung bietet (Typ 5, 6). Familiengründung, Elternschaft oder Wohneigentum, die in den individuellen Zukunftsentwürfen der Stammbeschäftigten eine zentrale Rolle spielen, werden für prekär Beschäftigte zu einem unkalkulierbaren Risiko. Selbst für kürzere Zeitspannen gilt, dass individuelle Planungssicherheit erheblich erschwert wird. Jeder erzwungene Arbeitsplatz- oder Betriebswechsel ist zwangsläufig mit Unsicherheitserfahrungen verbunden. Das gilt umso mehr, als die Übergänge zwischen den Arbeitseinsätzen häufig durch Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen werden. Die „Hoffenden“ (Typ 5) befürchten eine Blockierung ihrer beruflichen Weiterbildungsambitionen. Durchaus realistisch konstatieren sie, dass ihr Beschäftigungsverhältnis mit einer gleichberechtigten Teilhabe an institutionalisierter beruflicher Weiterbildung faktisch unvereinbar ist. Wird in den alltäglichen Kritiken dieser meist jüngeren Befragten der Anspruch auf eine „Normalisierung“ der eigenen

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Erwerbsbiografie deutlich, findet sich bei den „Realisten“ (Typ 6) eine andere Problematik. Sie sehen in ihrem prekären Beschäftigungsverhältnis einen fast schon alternativlosen Zugang zur Arbeitsgesellschaft. Für eine Verstetigung prekärer Beschäftigung spricht die Abfolge beruflicher Stationen und Tätigkeiten. Gerade die älteren Befragten schildern ihr Berufsleben als permanenten Wechsel zwischen befristeten, häufig nicht qualifikationsadäquaten Arbeitstätigkeiten und längeren Phasen der Erwerbslosigkeit. Beinahe fraglos gehen sie davon aus, dass auf eine halbwegs attraktive, aber befristete Beschäftigung Arbeitslosigkeit folgt. Und wie selbstverständlich offerieren sie ein Arsenal an Alltagstechniken, das ihnen ein Überleben in Unbeständigkeit ermöglichen soll. Unsicherheitserfahrungen werden von ihnen offenkundig verinnerlicht, ein starkes Indiz dafür, dass sich die „Realisten“ auf ein Leben in der „Zone der Prekarität“ einstellen. Ziel dieser Gruppe bleibt es, zumindest zeitweilig einer regulären, einigermaßen gut bezahlten Arbeit nachgehen zu können, um dem Absturz in die „Zone der Entkoppelung“ zu entgehen. Mit den „Hoffenden“ und den „Zuverdienerinnen“ haben sie gemeinsam, dass prekäre Beschäftigung nicht allein Unsicherheit und materiellen Mangel bedeutet. Vielfach bedingt die Instabilität der Beschäftigung Anerkennungsdefizite und eine Schwächung der Zugehörigkeit zu sozialen Netzen, die eigentlich dringend benötigt würden, um den Alltag einigermaßen zu bewältigen. (2) Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit: Insgesamt bietet die Typologie viele Anhaltspunkte, die auf einen weitreichenden Bedeutungswandel von Erwerbsarbeit schließen lassen. Nicht nur bei den prekär Beschäftigten, auch bei den Verunsicherten (Typ 3) und Abstiegsbedrohten (Typ 4), die formal noch immer in ein unbefristetes Normalarbeitsverhältnis integriert sind, zeigt sich, dass abhängige Erwerbsarbeit ihre Funktion als zentrales „Bindemittel“ der Gesellschaft zu verlieren beginnt. Als Folge sind qualitative Arbeitsansprüche subjektiv in die Defensive geraten. Zwar sind arbeitsinhaltliche und sozialkommunikative Ansprüche bei den „Hoffenden“ und den „Abstiegsbedrohten“ keineswegs verschwunden. Das zeigt sich z. B. daran, dass prekär Beschäftigte, sobald sie den Sprung in die Stammbelegschaft geschafft haben, bereits über Wege zum „kleinen Aufstieg mittels Weiterbildung“ nachdenken. Zudem stützt auch die berufliche Qualifikation Ansprüche auf eine halbwegs faire und menschenwürdige Behandlung. Eine sozial geförderte Tätigkeit (Ein- und Zweieuro-Jobs, Bürgerarbeit) möchten qualifizierte „Realisten“ selbst dann nicht annehmen, wenn ihnen Erwerbslosigkeit droht. Doch letztendlich werden qualitative Arbeitsansprüche zumindest zeitweilig zurückgestellt. Der Wunsch des Leiharbeiters ist es, Stammarbeiter zu werden (Castel 2000). Daher bestimmt die reproduktive Dimension, das Streben nach Einkommens- und Beschäftigungssicherheit, das Arbeitsbewusstsein vieler prekär Beschäftigter. Anhand unserer Typologie lässt sich präziser fassen, was ein Leben in der „Zone der Verwundbarkeit“ ausmacht. Charakteristisch ist – und hier besteht ein fundamentaler Unterschied zum traditionellen Subproletariat – gerade nicht die vollständige Entwurzelung und Pauperisierung. Die prekär Beschäftigten befinden sich in einer eigentümlichen „Schwebelage“ (Kraemer und Speidel 2005, S. 119). Einer-

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seits haben sie den Anschluss an die „Zone der Normalität“ noch immer vor Augen und müssen alle Energien mobilisieren, um den Sprung vielleicht doch noch zu schaffen. Andererseits sind permanente Anstrengungen auch nötig, um einen dauerhaften sozialen Abstieg zu vermeiden. Wer in seinen Anstrengungen nachlässt, dem droht der Absturz in die „Zone der Entkoppelung“. Aufgrund der Diskontinuitäten des Beschäftigungsverhältnisses besitzen die modernen „Prekarier“ keine Reserven, kein Ruhekissen. Sie sind die ersten, denen in Krisenzeiten Entlassungen drohen. Ihnen werden bevorzugt die unangenehmen Arbeiten aufgebürdet. Und sie sind die Lückenbüßer, die „Mädchen für alles“, deren materielle und qualifikatorische Ressourcen mit anhaltender Dauer der Unsicherheit allmählich verschlissen werden. (3) Das Desintegrationsparadoxon: Eben das macht die spezifische Verwundbarkeit prekär Beschäftigter aus. Das alte Glücksversprechen des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus, wonach ein Standard-Beschäftigungsverhältnis die Basis für langsam aber kontinuierlich wachsenden Wohlstand bildet, ist für prekär Beschäftigte außer Kraft gesetzt. Und doch zeichnet sich ihr Leben nicht durch eine Totalisierung von Desintegrationserfahrungen aus. So paradox es klingt, die eigentümliche, mit massiven Desintegrationserfahrungen verknüpfte „Schwebelage“ motiviert zu besonderen Re-Integrationsbemühungen. Selbige beruhen darauf, dass der ökonomische Habitus noch nicht vollständig destruiert und die Fähigkeit zu einer auf die Zukunft orientierten Lebensplanung zumindest als Anspruch noch präsent ist. Aus diesem Grund können an die Stelle primärer (Beschäftigungs- und Einkommenssicherheit, soziale Anerkennung, Identifikation mit der Arbeitstätigkeit) nun sekundäre Integrationspotenziale treten. Zu den sekundären Integrationspotenzialen gehört die erwartungsstrukturierende Wirkung sozial geschützter Erwerbstätigkeit. Das ist immer dann der Fall, wenn prekär Beschäftigte ihr Arbeitsverhältnis als Sprungbrett in die Zone der Normalität betrachten (Typ 5). In solchen Fällen gilt die unsichere Beschäftigung als notwendiges Übel, das man zeitweilig in Kauf nimmt, um sich die Chance auf ein sicheres Beschäftigungsverhältnis zu erhalten. Geradezu paradox wurzelt die Attraktivität prekärer Arbeit in der Möglichkeit ihrer Überwindung. Es liegt auf der Hand, dass die Vitalität solcher Erwartungshaltungen mit Lebensalter und Qualifikation erheblich variiert. Vor allem jüngere, gut ausgebildete Befragte setzen auf den „Klebeeffekt“ (Verbleib im Entleihbetrieb) einer unsicheren Beschäftigung. Von sekundärer Integration kann aber auch gesprochen werden, wenn die Angst vor dem sozialen Abstieg Re-Integrationsbemühungen motiviert (Typ 6). Das ist bei prekär Beschäftigten der Fall, denen ein unsicheres Beschäftigungsverhältnis als letzte verbliebene Option erscheint, um einem dauerhaften Ausschluss aus dem Erwerbssystem zu entgehen. In solchen Fällen wiegen die antizipierten Ausschließungseffekte von Dauerarbeitslosigkeit subjektiv schwerer als jene Diskriminierungen, die mit einem prekären Beschäftigungsverhältnis verbunden sind. Schließlich wirken sekundäre Integrationspotenziale auch

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über akzeptierte geschlechtsspezifische oder ethnisch aufgeladene Ungleichheiten und Selbstdefinitionen. Das wird sichtbar, wenn sich Verkäuferinnen im Einzelhandel als Zuverdienerinnen definieren, deren Selbstbewusstsein auf der Identifikation mit einer eher traditionellen Hausfrauen- und Mutterrolle beruht. Ähnliches findet sich bei jungen Migranten, die informelle Arbeit akzeptieren, weil sie ihnen ertragreicher erscheint als jede berufliche Qualifizierungsmaßnahme (Typ 8, 9). Bezeichnend für diese Gruppen ist, dass sie sich selbst keineswegs als „ausgegrenzt“ oder „abgekoppelt“ definieren. Gebräuchlicher sind Bezeichnungen wie „arbeitende Arbeitslose“, die hervorheben, dass die Betreffenden durchaus in der Lage sind, in der Schattenwirtschaft ihre Existenz zu sichern. (4) Disziplinierung: Freilich meint Integration in der „Zone der Verwundbarkeit“ oder der „Zone der Entkoppelung“ etwas völlig anderes als in der Welt der standardisierten Arbeitsverhältnisse. Die primären arbeitsweltlichen Integrationspotenziale (Befriedigung reproduktiver und qualitativer Arbeitsansprüche) werden geschwächt; dieser Verlust kann durch sekundäre Integrationspotenziale allenfalls partiell ausgeglichen, aber niemals vollständig kompensiert werden. Die arbeitsweltliche Nähe zur „Zone der Prekarität“ wirkt sich auch auf das Integrationspotenzial der Festanstellung aus. Stammbeschäftigte, die Leiharbeiter zunächst als wünschenswerten Flexibilisierungspuffer betrachten, beschleicht ein diffuses Gefühl der Ersetzbarkeit, wenn sie an die Leistungsfähigkeit der Externen denken. Denn „das ist eben das, was mir manchmal schlaflose Nächte bereitet, weil, wenn das jetzt schon so gut läuft, was ist dann einmal in zehn Jahren, dann sind wir Auslaufmodelle, wir Festangestellten“, gibt ein befragter Facharbeiter seine Befürchtungen preis. An diesem Beispiel zeigt sich, dass schon die Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit einer „Zone der Prekarität“ disziplinierend auf Stamm- und Vollzeitbeschäftigte zurückwirkt – und das selbst in einem Untersuchungsbetrieb mit einer gewerkschaftlich zu weit über 90 Prozent organisierten Stammbelegschaft von 30.000 Personen, der in der Spitze nur einige Hundert Leiharbeiter gegenüberstehen.

3.2

Grenzverschiebungen an der „Schwelle der Respektabilität“

Die vorgestellte Typologie beschreibt subjektive Verarbeitungsformen sozialer Instabilität während der Einführung der Arbeitsmarktreformen. Prekarität war zu diesem Zeitpunkt vor allem durch ihre Relationalität nach oben, die Orientierung an einer sozial geschützten Vollerwerbstätigkeit mit umfassenden sozialen und Partizipationsrechten, definiert. Das hat sich mittlerweile geändert. Prekarität wird in Deutschland immer stärker durch die abschreckende Wirkung einer unteren Grenze der Fürsorgeabhängigkeit bestimmt. Diese Grenzverschiebung leistet jenes aktivierende Arbeitsmarktregime, das im Zuge der „Hartz-Reformen“ entstanden ist. Anhand einer qualitativen Studie, die sich über sieben Jahre erstreckte

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(Dörre et al. 2013b),5 können wir zeigen, wie dieses Regime eine „Schwelle der Respektabilität“, die bei Bourdieu nur andeutungsweise vorkommt, neu justiert. Unsere Untersuchung konzentriert sich auf jene Gruppen, die in der zuvor vorgestellten Typologie in der „Zone der Entkoppelung“ oder knapp darüber angesiedelt sind. Im Unterschied zur ersten Untersuchung werden nun jedoch die Wirkungen strenger Zumutbarkeitsregeln und die Absenkung der Leistungen auf das Niveau der früheren Sozialhilfe in die Untersuchung einbezogen. Bei den befragten Leistungsbeziehern finden sich drei typische Erwerbsorientierungen. Die „UmJeden-Preis-Arbeiter“ tun im wahrsten Sinne des Wortes alles, um in ein Beschäftigungsverhältnis zu gelangen, das ihren Status wirklich verbessert. Sie versuchen, ihr Tätigkeitskonzept der normativen Orientierung anzupassen. Die „Als-ob-Arbeiter“ halten normativ am Ziel einer regulären Erwerbsarbeit fest, sehen real aber keine Chance, es zu verwirklichen. Deshalb betreiben sie das unbezahlte bürgerschaftliche Engagement oder die sozial geförderte Tätigkeit so, als handele es sich um eine reguläre Erwerbsarbeit. Nur die dem dritten Typus zugerechneten Nicht-Arbeiter machen aus dem Faktum, dass die Gesellschaft sie offenbar nicht mehr braucht, subjektiv eine Tugend. Bei ihnen ist die normative Erwerbsorientierung erodiert. Diese Gruppe ist sozial besonders heterogen. Sie reicht vom jugendlichen Punk bis zu Personen, die von Schattenarbeit besser leben als von einem regulären, aber dennoch prekären Job. Diese Gruppe umfasst nach Ansicht befragter Experten allenfalls acht bis zehn Prozent der Leistungsbezieherinnen und -bezieher. Im Falle der beiden erstgenannten Gruppen läuft der Aktivierungsanspruch des neuen Arbeitsmarktregimes offene Türen ein, weil die Betreffenden von sich aus aktiv sind, selbst wenn sie kaum noch Chancen auf einen regulären Job haben. Bei der dritten Gruppe lässt sich die Erosion der Erwerbsnorm weder mit Fördermaßnahmen noch mit Sanktionen korrigieren. Die betreffenden Personen verfügen zumeist über Mittel und Wege, Sanktionen zu unterlaufen; ihnen fehlt eine realistische Aussicht, ihre Lage überhaupt grundlegend verändern zu können. Unabhängig von ihren subjektiven Orientierungen gelingt den meisten Befragten der Sprung in eine reguläre Beschäftigung nicht. Stattdessen zeichnet sich ein Phänomen ab, das wir als zirkulare Mobilität bezeichnen. Insgesamt haben nur sehr wenige der von uns Befragten den Sprung in Verhältnisse geschafft, die sie vom Leistungsbezug dauerhaft befreien. Die anderen durchlaufen mitunter sechs, acht, zehn berufliche Stationen. Sie springen von der Erwerbslosigkeit in den Ein-Euro-Job, von dort in die Aushilfstätigkeit, dann in eine Qualifizierungsmaßnahme und so fort, um schließlich doch wieder im Leistungsbezug zu enden oder um niemals aus dem Bezug heraus zu

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Empirische Basis der Untersuchung sind Fallstudien in vier Arbeitsmarktregionen, 95 Experteninterviews mit Beschäftigten der Arbeitsverwaltung und weiteren Experten in den Regionen sowie 188 Interviews mit Bezieherinnen und Beziehern des Arbeitslosengeldes II (ALG II), die zwischen 2006 und 2012 in drei Wellen befragt wurden. Die Untersuchung zielt auf die subjektiven Erwerbsorientierungen der Leistungsbezieher, auf die individuellen Kompromissbildungen zwischen normativer Orientierung und realer Tätigkeit sowie den Einfluss strenger Zumutbarkeitsregeln auf diese Kompromissbildungen.

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kommen. Sie rennen und rennen, um am Ende wie in einem Hamsterrad doch nur auf der Stelle zu treten. Je länger Personen im Leistungsbezug verbleiben, desto stärker wird der Druck, sich einen Überlebenshabitus anzueignen, der die Betreffenden vom Rest der Gesellschaft unterscheidet. Mit zunehmender Dauer des Leistungsbezugs sind die Befragten gezwungen, sich mit materieller Knappheit, geringer gesellschaftlicher Anerkennung und einer engmaschigen bürokratischen Kontrolle ihres Alltagslebens zu arrangieren. Wenn sie sich arrangieren, separiert sie das vom Rest der Gesellschaft. Separieren sie sich, eignen sich ihre Lebensentwürfe umso besser für kollektive Abwertungen durch die Mehrheitsgesellschaft. Gerade weil sich die Leistungsbezieher an widrige Bedingungen anpassen, werden sie zur Zielscheibe negativer Klassifikationen durch die sogenannte Mehrheitsgesellschaft. Aus diesem Grund begreifen sich die befragten Leistungsbezieherinnen und -bezieher als Angehörige einer stigmatisierten Minderheit, die alles dafür tun muss, um doch noch Anschluss an gesellschaftliche Normalität zu finden. Die Fürsorgeabhängigkeit konstituiert einen Status, der für sie eine ähnliche Wirkung entfaltet wie die Hautfarbe im Falle rassistischer oder das Geschlecht bei sexistischen Diskriminierungen. Die Erwerbslosen und prekär Beschäftigten sind „diskreditierbar“ (Goffman 1975, S. 11). Haftet es einmal an der Person, können sich die Betroffenen des Stigmas „Hartz IV“6 nur noch schwer entledigen. Die Stigmatisierung erzeugt einen regelrechten Ohnmachtszirkel. Besonders aktiv sind ausgerechnet diejenigen Befragten, die nicht alle qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben aufgeben. Die Logik des aktivierenden Arbeitsmarktregimes verlangt jedoch das Gegenteil. Wenn sich im Zuge zirkularer Mobilität Verschleiß einstellt, setzt Anspruchsreduktion ein – und genau das erzeugt letztendlich Resignation und Passivität. Insofern bewirkt das Aktivierungsregime das Gegenteil von dem, was es eigentlich zu leisten beabsichtigt. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass „Hartz-IV“ eine abschreckende Wirkung für Nochbeschäftigte erzeugt. Deren Bereitschaft, auch unterwertige, prekäre Jobs anzunehmen, um einen Status unterhalb der Schwelle der Respektabilität zu vermeiden, steigt. Die Angst, auf einen Status unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität abzurutschen, diszipliniert selbst Stammbeschäftigte mit unbefristetem Arbeitsvertrag. Letztere sind im wahrsten Sinne des Wortes bereit, (fast) alles zu tun, um die Festanstellung zu erhalten, die sie zunehmend als Privileg betrachten. Genau dies fördert jedoch einen Trend zu einer exklusiven Solidarität von Stammbelegschaften, die sich nicht nur gegen „oben“, sondern auch gegen „anders“ und „unten“ abgrenzt. Eine von uns durchgeführte repräsentative Belegschaftsbefragung in einem Automobilwerk mit ca. 6000 Beschäftigten und einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von über 90 % bildet diese Tendenz empirisch ab. Das Statement „Eine Gesellschaft, in der jeder aufgefangen wird, ist auf Dauer nicht überlebensfähig“, findet mit 51 % bei Arbeitern und produktionsnahen Angestellten die größte Zustimmung; am geringsten

„Hartz IV“ ist die alltagssprachliche Bezeichnung für das Arbeitslosengeld II, das die Leistungsbezieher real wie auch in ihrem Selbstverständnis mit Fürsorgeempfängern gleichsetzt, die ohne staatliche Hilfe nicht in der Lage sind, ihre Existenz zu sichern.

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ist sie bei den Sachbearbeitern. Dem scheint auf den ersten Blick zu widersprechen, dass die Befragten aus der Produktion die Arbeitsmarktreformen am deutlichsten ablehnen und in „Hartz IV“ vor allem ein Mittel zur Disziplinierung der Arbeitenden sehen. Und doch ist es die gleiche Statusgruppe von Arbeitern und produktionsnahen Angestellten, die mehrheitlich (54 %) und im Gruppenvergleich am häufigsten größeren Druck auf Arbeitslose befürwortet.7 Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, lässt sich erklären, wenn man die Relevanz der jeweiligen Statements für die jeweils eigene Statusposition reflektiert. Der „Hartz IV“-Bezug als Disziplinierungsmittel betrifft die soziale Positionierung von Arbeitern und produktionsnahen Angestellten, die näher an der Zone der Verwundbarkeit angesiedelt ist. Wer sich aktuell einigermaßen sicher fühlt, weiß doch, dass das soziale Netz im Falle des Arbeitsplatzverlustes schwächer geworden ist. Ein Arbeiter, der den gut bezahlten Job in der Exportwirtschaft verliert, wird selbst in prosperierenden Regionen nicht umstandslos einen gleichwertigen Arbeitsplatz finden. Im schlimmsten Fall droht bei längerer Dauer der Rückfall auf eine Position unterhalb einer „Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität“. Schon die diffuse Befürchtung, dass dergleichen drohen könnte, löst Verunsicherung aus. Verunsicherung, die offenbar gerade im Produktionsbereich mit einer Tendenz zu exklusiver Solidarität einhergeht. Wer arbeitet und leistungsbereit ist, der sieht sich vom neuen Arbeitsmarktregime zu Unrecht auf die Probe gestellt. Der Zorn der Festangestellten richtet sich gegen jene, die – vermeintlich – die Bewährungsproben „harter Arbeit“ meiden und sich so dem Gebot der Leistungsgerechtigkeit entziehen. Das Verhalten der Erwerbslosen und Hilfebedürftigen erscheint den Festangestellten als Gerechtigkeitsproblem. Wer sich mit der Fürsorgeabhängigkeit arrangiert, verletzt aus der Sicht von Facharbeitern und produktionsnahen Angestellten nicht nur die Gebote der Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, er verzichtet in den Augen dieser Repräsentanten der „Mehrheitsgesellschaft“ auf Autonomie. Ja, die betreffende Person oder Gruppe verhält sich geradezu antiemanzipatorisch, weil sie sich mit einer Konstellation äußerster Entfremdung arrangiert. Entfremdung bedeutet in diesem Kontext, „dass die Identität und das Handeln total von anderen bestimmt werden, bis hin zu dem Punkt“, an dem man sich „nur noch durch das Handeln und den Blick des Herrschaftssubjekts wahrnimmt“ (Dubet 2008, S. 170). Einem solchen Arrangement in einer Situation des vollständigen Ausgeliefertseins begegnen viele festangestellte Arbeiter und Angestellte mit Abscheu. Sie selbst verwenden viel Energie darauf, noch in fremdbestimmten Verhältnissen möglichst viel an Autonomie zu bewahren, um ein einigermaßen selbstbestimmtes Leben führen zu können. Daher ist es nicht allein der Vorwurf des „Sozialschmarotzertums“, der ein Bedürfnis nach Distinktion auslöst. Auch die Ahnung, dass eine vollständige Unterordnung unter Fremdbestimmung und die dauerhafte Abhängig-

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Die Daten basieren auf drei Erhebungen mit Produktionsarbeitern und produktionsnahen Angestellten („Belegschaft“, n = 1442), mit angestellten Sachbearbeitern (n = 618) sowie mit Führungskräften (n = 262), die Mitte 2010 (Belegschaft) und Anfang 2011 (Sachbearbeiter, Führungskräfte) durchgeführt wurden (Dörre et al. 2013a, b, S. 223 ff.).

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keit von anderen lebbar ist, dass es einen subjektiven Verzicht auf sämtliche Aktivitäten zur Abmilderung von Entfremdung und Ausbeutung gibt, kann sich als kollektive Abwertung und Stigmatisierung der so Klassifizierten bemerkbar machen. Personen und Gruppen, die sich derart vollständig unterwerfen, die sich einer Situation totaler Entfremdung wehrlos ausliefern, sind gerade aus der Perspektive gewerkschaftlich organisierter Arbeiter und Angestellter eine latente oder gar eine manifeste Bedrohung jeglicher Solidarität von Lohnabhängigen. Diese Haltung erklärt, weshalb selbst gewerkschaftlich aktive Befragte den vermeintlichen Sozialmissbrauch durch Langzeitarbeitslose offen ansprechen und attackieren.

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Normalisierung der Prekarität

Die präsentierten empirischen Befunde belegen eine Entwicklung, in der Prekarität zu einer „‚normalen‘ Organisationsform der Arbeit mit ihren eigenen Merkmalen und Existenzformen“ geworden ist (Castel 2011, S. 136). Diese Existenzweise bringt offiziell registrierte Arbeitslosigkeit zum Verschwinden, indem sie Erwerbslose in unsichere, instabile Beschäftigungsverhältnisse integriert, die ihrerseits sozial geschützte Beschäftigungsverhältnisse verdrängen. Selbiges geschieht, indem die „Schwellen“ sozialer Sicherheit im Zuge einer wettbewerbsgetriebenen Landnahme neu justiert werden. Auf Fürsorgeniveau und damit unterhalb einer Schwelle der Respektabilität befinden sich all jene, die im System der neuen Fürsorge („Hartz IV“) verharren. Diese Schwelle reicht im Falle prekär Beschäftigter, die ihre Löhne aufstocken müssen, bis in die „Zone der Verwundbarkeit“ hinein. D. h. sie wird aus der „Zone der Entkoppelung“ nach oben verschoben. Zugleich wird die „Schwelle der Sicherheit“ in die „Zone der Integration“ hinein verlagert. In ihre Nähe geraten zunehmend auch solche Gruppen, die sich ihre Festanstellung in ständigen Bewährungsproben stets aufs Neue verdienen müssen. Die „Schwelle der Berechenbarkeit“ wird ebenfalls nach oben verschoben. Oberhalb dieses Niveaus agieren Gruppen in Festanstellung oder flexibler Beschäftigung („Gesicherte“, „Selbstmanager“), die sich von materieller Knappheit weitgehend emanzipiert haben und deshalb aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Ressourcen einen langfristig angelegten, „unternehmerisch“ kalkulierenden Lebensplan entwickeln können, ohne vorübergehende Phasen der Einkommens- und Beschäftigungsunsicherheit fürchten zu müssen. Im Zuge dieser Grenzverschiebungen hat sich auch in Deutschland eine historische neue Form der Prekarität herausgebildet, die über ein verzweigtes System betrieblicher, staatlicher und interpersonal-privater Bewährungsproben wirksam wird. Diese Form der Prekarität korrespondiert mit Machtasymmetrien, die deutlich über das hinausgehen, was in den 1980er-Jahren als „sekundäres Machtgefälle“ am Arbeitsmarkt bezeichnet wurde (Offe und Hinrichs 1984, S. 44–86). Es geht nicht mehr „nur“ um Problemgruppen, die ihre „‚gebrochene Normalität‘ als Arbeitnehmer“ mittels Ausübung von Alternativrollen zumindest subjektiv entschärfen und so zu überdurchschnittlich geduldigen und belastbaren Arbeitnehmerinnen werden (Offe und Hinrichs 1984, S. 79). Die neue Prekarisierung erzeugt ein Machtgefälle, das mit den diversen Segmenten der Erwerbsarbeitsgesellschaft zugleich die Re-

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produktionsverhältnisse durchdringt. Diskriminierende Prekarität entsteht über die Konstruktion eines gesellschaftlichen Sonderstatus, der sowohl aus der Perspektive noch gesicherter Gruppen, als auch in der Selbstwahrnehmung jener, die in unsicheren Verhältnissen leben müssen, als Minderheitenproblematik erscheint. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung konstituiert die Prekarisierung eine Hierarchie, in der diejenigen, die in den schwierigsten Verhältnissen leben und die zugleich über die geringsten Machtressourcen verfügen, sich als Angehörige minoritärer Gruppen erleben, deren alltägliche Lebenspraxis von den Standards der „Mehrheitsgesellschaft“ abweicht. Dieser Sonderstatus wird auch über Geschlecht, Nationalität und Ethnie konstruiert; er stellt jedoch etwas Eigenes dar. Immer scheint es, als lasse sich die nächste Stufe in der sozialen Hierarchie, die ein wenig Mehr an „Normalität“ verspricht, durch eigene Anstrengung erklimmen. Für die Sozialhilfeempfängerin, die niemals längerfristig erwerbstätig war, wird die Familiengründung zur letzten Chance, Anschluss an die gesellschaftliche „Normalität“ zu erreichen. Die „niedrigschwellige Integrationsmaßnahme“ der Arbeitsverwaltung gilt ihr als Zugang zu einer bislang unbekannten Welt der Erwerbsarbeit und der Ein-Euro-Job als lebensgeschichtliche Herausforderung. Der Ein-Euro-Jobber empfindet die auf zwei Jahre befristete Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als „Glückslos in der Lotterie“. Den gefördert Beschäftigten mit „Ersatzarbeit“ verheißt die Leiharbeit in der Automobilindustrie eine attraktive Perspektive; der Leiharbeiter wiederum beneidet die befristet Beschäftigte, weil diese immerhin auf Zeit der Stammbelegschaft angehört. Und stets entscheidet die Verfügung über Zeitressourcen und soziale Kontakte mit darüber, ob man die nächste Sprosse auf der Leiter, die nach oben führt, noch erreichen kann. Auf diese Weise entsteht ein feingliedriges System der De- und Re-Privilegierung, das auch jene diszipliniert, die nicht oder noch nicht in prekären Verhältnissen leben müssen. Ob das dauerhaft so bleibt, ist ungewiss. Fest steht: Die „Vagabunden“ sind zurück. Sie müssen von prekärer und deshalb unwürdiger Arbeit leben. Sie sind aber nicht nur und auch nicht in erster Linie Opfer prekärer Verhältnisse. Sie sind aktiv. Ihre Lebensführung rationalisieren sie unter dem Diktum materieller Knappheit und mangelnder Anerkennung. Günstige Gelegenheitsstrukturen vorausgesetzt, sind sie dennoch zu Widerständigkeit, Protest und kollektivem Engagement in der Lage. Alles, was diskriminiert und diszipliniert, kann daher rasch in Gegenwehr, Beteiligung an Streiks und soziale Bewegungen umschlagen (Dörre et al. 2016; Goes 2015). Deshalb ist kritische Theorie gut beraten, das neue Prekariat nicht voreilig als deviantes Lumpenproletariat abzuwerten. Vielmehr muss ihr daran gelegen sein, Prekarität als eine herrschaftskritische Kategorie zu nutzen, um in Frage zu stellen, was in unsicherer Lage bedrückt und diszipliniert (Bescherer 2012).

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Kritische Theorie in feministischer Lesart: Perspektiven auf den Gegenwartskapitalismus Brigitte Aulenbacher

Zusammenfassung

Der Beitrag beginnt mit einem Blick auf das Verhältnis von Kritischer Theorie und Geschlechterforschung und zeigt, in welcher Weise der letztgenannte Forschungsstrang auf erstere zurückgreift. Solchen kritischen Theorien in feministischer Lesart wird dann am Beispiel des Ansatzes von Nancy Fraser unter der Frage nach sozialer Gerechtigkeit und desjenigen von Regina Becker-Schmidt mit Blick auf gesellschaftliche Reproduktions- und Sorgekrisen nachgegangen. Gezeigt wird, wie die Autorinnen den Gegenwartskapitalismus einer herrschaftskritischen Analyse unterziehen. Es geht zum einen um Fragen von Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation im Kontext sozialer, auch globaler Ungleichheiten, zum anderen um herrschaftskonsolidierende, reproduktionsgefährdende Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge, wie sie sich unter finanzmarktkapitalistischen Vorzeichen vollziehen. Schließlich wird ein Fazit dazu gezogen, wie der Gegenwartskapitalismus im Rekurs auf und in Revision und Weiterentwicklung der Begriffe, Perspektiven und Denkformen kritischer Theorie analysiert und kritisiert wird, verbunden mit Betrachtungen zu Veränderungen im emanzipatorischen Sinne. Schlüsselwörter

Kritische Theorie und Geschlechterforschung · Gesellschafts- und Erkenntniskritik · Finanzmarktkapitalismus · Andro- und Eurozentrismus · Soziale Ungleichheit und Herrschaft · Gerechtigkeit · Reproduktions- und Sorgekrisen

B. Aulenbacher (*) Institut für Soziologie, Johannes Kepler Universität Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_54

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B. Aulenbacher

Einleitung

Verwerfungen im gesellschaftlichen Gefüge und in der Sozialordnung, wie sie im Kontext der finanzmarktkapitalistischen Entwicklung beobachtbar sind, verstärken seit geraumer Zeit wieder die Suche nach Theorieperspektiven, die die Gesellschaft in ihrem inneren Zusammenhang in den Blick zu nehmen vermögen. In dieser Hinsicht ist die Kritische Theorie aus feministischer Sicht nicht erst neuerdings interessant. Der Beitrag beginnt daher mit Anmerkungen zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Geschlechterforschung (1). Anschließend arbeitet er heraus, wie mit kritischer Theorie in feministischer Lesart Gegenwartsanalyse betrieben wird (2). Eine Bemerkung zur Aktualität kritischer Theorie in feministischer Lesart schließt den Beitrag ab (3).

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Kritische Theorie in feministischer Lesart

In gewisser Weise überrascht die Bezugnahme der Geschlechterforschung auf die Kritische Theorie nicht. Innerwissenschaftlich betrachtet ist sie nicht unwesentlich aus der wissenschaftskritischen Reflexion bis dato vorliegender Erkenntnisstände hervorgegangen, deren Gemeinsames in ihrem impliziten Androzentrismus1 bestand; ihn zu transzendieren erschien mit der Kritischen Theorie durchaus möglich (vgl. Beer 1987). Kritische Theorie hatte, indem sie „[. . .] gegen das unhistorische Wirklichkeitsverständnis der positiven Wissenschaften deren gesellschaftliche Entstehungsbedingungen geltend machte [. . .]“ (Rühle 2007, S. 127; vgl. Adorno et al. 1978), neue Wege wissenschaftlicher Selbstreflexion eröffnet. Dies lässt sich beispielsweise an Max Horkheimers (1968, S. 146) programmatischer Profilierung „kritischer“ gegenüber „traditioneller“ Theorie ablesen: „Die traditionelle Vorstellung der Theorie ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert [. . .]. In dieser Vorstellung erscheint daher nicht die reale gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft, nicht was Theorie in der menschlichen Existenz, sondern nur was sie in der abgelösten Sphäre bedeutet, worin sie unter den historischen Bedingungen erzeugt wird“. Daher ist für Kritische Theorie die Reflexion auf die Erkenntnisbedingungen und damit die Verbindung von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik unverzichtbar (vgl. Adorno 1972). Der Geschlechterforschung hat sie sich somit angeboten, um wissenschaftliche Erkenntnisse in ihrer Gesellschaftlichkeit und, unter gegebenen Verhältnissen, damit auch in ihrem Andro- und Eurozentrismus kenntlich zu machen (vgl. Beer 1987; Klinger und Knapp 2007). Mit der epistemologischen Anforderung, Erkenntnis- und Gesellschaftskritik zu verbinden (vgl. hierzu auch den Beitrag von Hark/Meißner im Handbuch), geht in 1

Was als allgemeine Erkenntnis formuliert worden war, galt bei näherem Hinsehen oftmals nur für Männer, während die Lebensverhältnisse von Frauen keine vergleichbare Aufmerksamkeit erfuhren oder als das Besondere, vom vermeintlich Allgemeinen Abweichende, etikettiert wurden (vgl. Beer 1987; Woesler de Panafieu 1987), unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zugleich zu lesen als das „‚Besondere-Mindere-Andere‘“ (Knapp 1987, S. 265).

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der älteren Kritischen Theorie ferner eine in noch anderer Weise herrschaftskritische Perspektive einher. Im Zusammenhang mit der Frage der Werturteilsfreiheit von Wissenschaft bzw. der Frage nach dem Maßstab von Gesellschaftskritik formuliert Max Horkheimer (1968, S. 190) dies folgendermaßen: „Die kritische Theorie hat [. . .] keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. Diese negative Formulierung ist, auf den abstrakten Ausdruck gebracht, der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft.“ Mit dieser Form der Herrschaftskritik ist sie den emanzipatorischen Anliegen feministischer Forschung entgegen gekommen, es nicht mit der Beschreibung der Zustände bewenden zu lassen, sondern auf deren Veränderung zu zielen, wenngleich die von der Kritischen Theorie betonte „Präponderanz gesellschaftlicher Verhältnisse gegenüber dem Verhalten“ die Bezugnahme gedämpft haben mag (Knapp 1996, S. 123). Da die Kritische Theorie zwar durchaus jede Form des „Unrechts“ (Horkheimer 1968) im Blick hatte, aber ihre Vorstellung der „[. . .] ‚Veränderung des Ganzen [. . .]‘, geleitet ‚vom Interesse an vernünftigen Zuständen‘ [. . .]“ (Lang 1995, S. 403) wesentlich an den Materialismus der Marx’schen Theorie anknüpfte, traten in ihren Gesellschaftsanalysen die sozialen Austauschprozesse allerdings vorrangig unter kapitalistischen, nicht gleichermaßen auch weiteren Herrschaftsverhältnissen in den Mittelpunkt (vgl. Becker-Schmidt 1991a; Beer 1987; Knapp 1996). In der Folge ist die Geschlechterforschung, will sie die Kritische Theorie für sich nutzbar machen, auf ihre Revision und Weiterentwicklung einschließlich der Entwicklung einer feministischen Vernunftkritik angewiesen (vgl. Beer 1987; Knapp 1996, 1999, 2004; Klinger und Knapp 2007; Woesler de Panafieu 1987).2 Gudrun-Axeli Knapp (1996) blickt zusätzlich auf die Entstehungsbedingungen und Fragestellungen der Geschlechterforschung, um herauszuarbeiten, was hiervon ausgehend ihr Interesse an der Kritischen Theorie begründet hat. Sie hebt drei Punkte hervor: das Selbstverständnis der Geschlechterforschung als interdisziplinäres Vorhaben; den mit ihren emanzipatorischen Bestrebungen verbundenen Wunsch, dem Verhältnis von Objektivität und Subjektivität neue Aufmerksamkeit zu schenken; das im Kontext von Frauenforschung und -bewegung profilierte Verhältnis von Theorie, Empirie, Praxis. Übernommen habe die Geschlechterforschung unter all diesen Aspekten aus der Kritischen Theorie schließlich vor allem die „[. . .] erkenntniskritischen und methodologischen Perspektiven: 1. die wechselseitige Bezogenheit von kritischer Subjekt- und Gesellschaftstheorie; 2. die Anweisung, alle sozialen

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Wo Kritische Theorie selbst Geschlecht zum Thema gemacht hat, hat sich dies aus feministischer Sicht als problematisch herausgestellt. So haben, um nur ein Beispiel zu nennen, die „Studien über Autorität und Familie“ (Horkheimer et al. 1987) Kritik auf sich gezogen, weil sie Frauen in der Privatheit verorten und Mütterlichkeit verklären (vgl. Rumpf 1989, 1999; zu weiteren Passagen der Kritischen Theorie außerdem Becker-Schmidt 1991b, c). Die bedeutendste Leerstelle der älteren und neueren Kritischen Theorie besteht darin, dass sie unbenommen ihres herrschaftskritischen Impetus das Geschlechterverhältnis und den Androzentrismus nicht als gesellschaftlich durchgängige Herrschaftsverhältnisse und -logiken zu erkennen vermag (vgl. Becker-Schmidt 1991a; Beer 1987; Dackweiler 1995; Fraser 1992; Knapp 2004).

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Phänomene aus ihrem historischen Konstitutionszusammenhang heraus zu begreifen; 3. die Notwendigkeit, Herrschaftsbedingungen und die diversen Mechanismen der Machtdurchsetzung sowohl in der Gesellschaft als auch in den Verfassungen von Subjektivität aufzudecken; 4. den Anspruch, das gesellschaftliche Ganze als einen aus historischen Gründen widersprüchlichen Strukturzusammenhang zu bestimmen; 5. die Perspektive, Wissenschaft als Element emanzipatorischer Praxis zu verstehen und in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Theorie und Empirie als eines der wechselseitigen Konkretisierung und Anreicherung zu fassen“ (Knapp 1996, S. 124, i.O. m. Abs.). Kritische Theorie in feministischer Lesart lässt sich damit so fassen, dass Wissenschaftskritik und Theorierevisionen mit epistemologischen Orientierungen einhergehen, in deren Rahmen Denkformen und Begriffe aufgenommen, kritisiert, verworfen, weiter entwickelt werden, um daran anschließend eigene Perspektiven zu entwickeln.3 Sie kommt damit nicht umhin, sich zu den vorgefundenen Gesellschaftsbegriffen, nicht zuletzt zum Begriff der „Totalität“, und zu der Frage zu verhalten, wie Gesellschaftsanalyse zu betreiben ist, ob unter Herrschaftsbedingungen nach wie vor als Widerspruchsanalyse oder welche Perspektiven ansonsten als geeignet begriffen werden.4 Wie dies Thema wird, variiert zwischen den Generationen Kritischer Theorie, im Rahmen der internationalen Rezeptionsgepflogenheiten und abhängig von Entwicklungen in der Geschlechterforschung (vgl. Knapp 1996), wie sich auch in den folgenden Gegenwartsanalysen zeigt.

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Soziale Gerechtigkeit, Reproduktionsgefährdungen und Herrschaft: Perspektiven auf den Gegenwartskapitalismus

Feministische Gesellschaftsanalysen sind breit gefächert. Im Kontext dieses Handbuchs werden zwei Themen herausgegriffen, zu deren Bearbeitung kritische Theorie in feministischer Lesart maßgeblich beiträgt. Es handelt sich zum einen um Fragen sozialer Gerechtigkeit, zum anderen um gesellschaftliche Selbstgefährdungen, wie sie unter dem Stichwort der Reproduktionskrise angesprochen werden. Ziel ist es zu erschließen, wie kritische Theorie in feministischer Lesart gesellschaftsanalytisch vorgeht und worin ihr spezifischer Beitrag liegt. 3

Allerdings wäre das Verhältnis der Forschungsstränge unzureichend beschrieben, wenn verschwiegen würde, dass die Erkenntnisstände der Geschlechterforschung umgekehrt nicht die gleiche Resonanz gefunden haben. Es zeigen sich vielmehr in allen Generationen Kritischer Theorie Rezeptionssperren, die dann besonders deutlich werden, wenn es um Geschlecht geht, ohne Perspektiven der zum jeweiligen Zeitpunkt einschlägigen Forschung zur Kenntnis zu nehmen (so etwa auch in den profeministischen bzw. die Kontroverse suchenden Positionen von Marcuse 1975; Habermas 1981; in Fraser und Honneth 2003). 4 Diese Diskussion beschäftigt nicht nur und vorrangig die feministische Forschung, sondern durchzieht die Entwicklung der Kritischen Theorie (vgl. Beer 1987, S. 151 ff.; zum Wandel des Totalitätsbegriffs Jay 1984; zur Diskussion um die Kategorie der „Paradoxie“ versus derjenigen des „Widerspruchs“ Knapp 2009; zum Totalitätsbegriff im Kontext der Krisendiagnostik Demirović und Maihofer 2013).

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3.1

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Soziale Gerechtigkeit

Soziale Gerechtigkeit hat als Thema der gesellschaftswissenschaftlichen und -politischen Diskussion zum einen mit den Entwicklungen in den Sozialstaaten der ‚alten‘ Kapitalismen (vgl. Riegraf 2013, 2014), zum anderen mit der ganz grundsätzlich aufgeworfenen Frage, wie sie in einer globalisierten, gleichwohl polarisierten Welt denk- und erreichbar ist (vgl. Sen 2010), an Bedeutung gewonnen. Im Sinne einer kritischen Theorie in feministischer Lesart sind Nancy Frasers Arbeiten hier unhintergehbar. Ihr Hauptbezugspunkt in der Kritischen Theorie ist neben Jürgen Habermas‘ Werk (vgl. Fraser 1992) deren anerkennungstheoretische Reformulierung durch Axel Honneth und die Kontroverse, die sie um ihrer beider Ansätze ausgetragen haben (vgl. Fraser und Honneth 2003). Sie steht unter den zeitgeschichtlichen Vorzeichen der postfordistischen und -sozialistischen Entwicklung wie der Globalisierung und wird von ihnen begriffen als „[. . .] Debatte, die eine nordamerikanische Philosophin und ein deutscher Philosoph darüber geführt haben, wie das Verhältnis von Umverteilung und Anerkennung richtig zu verstehen ist. Die von beiden Autoren geteilte Prämisse ist dabei, daß ein angemessener Begriff von ‚Gerechtigkeit‘ heute zumindest zwei Klassen von politischen Belangen umfassen muß: Jene, die in der ‚fordistischen‘ Periode als Verteilungskämpfe begriffen wurden, und diejenigen, die gegenwärtig zumeist als Anerkennungskonflikte angesehen werden.“ (Fraser und Honneth 2003, S. 8 f.) Damit verbindet sich zudem eine Kritik am Zustand der Gesellschaft wie der Wissenschaft dahingehend, welche Fragen wann von wem wie relevant gemacht werden (vgl. Fraser 2003, S. 43 ff.; hierzu auch Klinger 2003). Wissenschafts- wie gesellschaftsgeschichtlich sehen sie die Ära der 1960er- und 1970er-Jahre als diejenige an, in der politisch-ökonomisch und von der „‚alten‘ Linken“ vor allem Fragen von „Ausbeutung“ und Umverteilung behandelt wurden bzw. machen sie die Ära der 1980er-Jahre als diejenige aus, in der kulturwissenschaftlich und von der „‚neuen‘ Linken“ in Kritik an der „Entfremdung“ vor allem um Anerkennung gestritten wurde (Fraser 2009, S. 481; vgl. für die Geschlechterforschung Klinger 2003). Sie streben an, solche und weitere disziplinäre Trennungen und Engführungen zu überwinden und „[. . .] die kapitalistische Gesellschaft noch einmal als ‚Totalität‘ zu konzeptualisieren“ (Fraser und Honneth 2003, S. 10), wobei dies nicht frei von Zweifeln daran ist, ob diesem Begriff Gegenwartsgehalt verschafft werden kann (vgl. Honneth 2005, 2008). Axel Honneth bewegt sich dabei in intensiverer Auseinandersetzung mit den Denktraditionen Kritischer Theorie als Nancy Fraser, die ihren Ansatz an zentralen Stellen gegen seine Vorgehensweise profiliert. Er verfolgt, so Sighard Neckel (2001, S. 303), das Ziel, „[. . .] die moralische Dimension des gesellschaftlichen Lebens und insbesondere sozialer Konflikte sichtbar werden zu lassen [. . .]“. Er verwirft nicht nur den Habermas’schen Ansatz, sondern tritt erkenntnisstrategisch auch hinter die materialistische Orientierung der älteren Kritischen Theorie zurück (vgl. Honneth 1994, S. 79 ff.), um auf die Hegel’sche Rechtsphilosophie zuzugreifen, wonach individuelle Freiheit im öffentlichen Raum durch solidarische Anerkennung ermöglicht wird (vgl. Honneth 2005). Er verbindet dies zudem mit einem Rekurs auf Meads Sozialpsychologie, um das Alltägliche und damit verbunden die Frage nach

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dem guten Leben wieder stärker in die Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken (vgl. Honneth 1998, S. 151). Ziel seines Vorgehens ist die Entwicklung einer normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie, in der er soziale Anerkennung als eine konstitutive Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft erachtet. Anerkennung oder, was das Gegenteil angeht, Missachtung, werden somit als ursächlich für gelingende Sozialität oder soziale Pathologien angesehen (Honneth 2000, S. 7). Zwar „[. . .] zielt seine anerkennungstheoretische Reformulierung der Kritischen Theorie darauf, im Rahmen einer einzigen umfassenden Konstruktion sowohl die Belange des Marxismus als auch die Bestrebungen der neuen sozialen Bewegungen zu erfassen [. . .]“, so Nancy Fraser (2009, S. 481), aber die Art und Weise, wie sie ihren Ansatz dagegen positioniert, lässt sich als Kritik an der Geringgewichtung materialistischer Perspektiven lesen. Das Kernstück des Fraser’schen Ansatzes ist eine zunächst zwei-, dann dreidimensionale Konzeption von sozialer Gerechtigkeit, welche Ökonomie, Kultur und Politik als strukturgebende und handlungsrelevante Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens in den Blick nimmt (vgl. Fraser 2003, S. 20 ff., 2007). Die gesellschaftsanalytische und -politische Brisanz ihres Ansatzes liegt meines Erachtens weniger in ihren Sozialdiagnosen als vielmehr in der Frage danach, wer sich unter den gegebenen klassen-, geschlechts- und ethnizitätsbasierten Herrschaftsverhältnissen wie Gehör verschaffen kann, welcher Vorstellungen eines funktionierenden Gemeinwesens Kapitalismuskritik bedarf und welche Wege dorthin führen. Gerechtigkeit konzipiert Nancy Fraser im Kontext von Philosophie, Moralphilosophie und Gesellschaftstheorie folgendermaßen: Sie kritisiert Trennlinien in der Philosophie, entlang derer Umverteilung als Problem der Verteilungsgerechtigkeit in der Ökonomie angesiedelt und klassentheoretisch und -politisch gerahmt werde, während Anerkennung unter dem Primat der Intersubjektivität vor der Subjektivität identitätstheoretisch und -politisch als Frage der Kultur und nicht ohne Weiteres der Gerechtigkeit aufgegriffen werde (Fraser 2003, S. 43 ff.). Moralphilosophisch betrachtet sie hingegen Anerkennung als die intersubjektive und Umverteilung als die objektive Dimension sozialer Gerechtigkeit, wobei sie den Fokus – gegenteilig zur Honneth’schen Konzeption – unter Verzicht auf psychische und psychologische auf institutionelle Aspekte verschiebt. Eine gerechte Gesellschaft bemisst sich nach Nancy Fraser (2003, S. 55) daran, inwieweit die Norm der „partizipatorischen Parität“, also der gleichberechtigten Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder, erreicht ist. „Sowohl die objektive als auch die intersubjektive Bedingung ist für die partizipatorische Parität unverzichtbar. [. . .]. Die objektive Bedingung bringt die Anliegen zur Geltung, die traditionellerweise mit der Theorie der Verteilungsgerechtigkeit verbunden sind, insbesondere dann, wenn sie die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsordnung und ein ökonomisch definiertes Klassengefälle betreffen. Die intersubjektive Bedingung bringt diejenigen Anliegen zur Geltung, auf die unlängst in der Philosophie der Anerkennung ein Schlaglicht geworfen wurde, besonders aber diejenigen, die die Statusordnung der Gesellschaft und kulturell definierte Statushierarchien betreffen. Daher umfaßt eine zweidimensionale Konzeption der Gerechtigkeit, die sich an der Norm der partizipatorischen Parität orientiert, sowohl Umver-

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teilung als auch Anerkennung, ohne dabei die eine auf die andere zu reduzieren“ (Fraser 2003, S. 56). Der Weg in eine in diesem Sinne gerechte Gesellschaft ist bei der Autorin in gesellschaftstheoretischer und -politischer Perspektive dann als Kampf um Umverteilung und Anerkennung vorgestellt, der auf dialogische Verfahren angewiesen ist. Unter gegebenen Herrschaftsverhältnissen vollzieht er sich vor dem Hintergrund einer „Klassenstruktur“ und „Statushierarchie“ (Fraser 2003, S. 70 ff.) und von Ungleichverteilungen und -bewertungen von bezahlter und unbezahlter Arbeit (vgl. Fraser 2004, S. 457 ff.), die tief „verwurzelte Formen der Unterdrückung“ zum Ausdruck bringen (Fraser 2003, S. 70). In diese Konstellation hinein müssen diejenigen, deren gleichberechtigte Teilhabe institutionell blockiert wird, ihre Forderungen nach Umverteilung oder Anerkennung geltend machen, wobei deren Legitimität sich darin erweist, dass ihre Realisierung andere Gesellschaftsmitglieder nicht behindert. Insofern entscheidet sich verbunden mit dem auszustreitenden „leitenden Idiom der öffentlichen Vernunft“ (Fraser 2003, S. 63), was gerecht ist, inwiefern universale Prinzipien gelten und partikulare Belange Raum haben sollen (vgl. Fraser 2003, S. 51 ff.). Dies gilt mit Blick auf alle „Achsen sozialer Unterordnung“, Schicht, Geschlecht, Ethnie, sexuelle Orientierung u. a. m., welche die (analytisch zu unterscheidende) „Klassenstruktur“ und „Wertehierarchie“ durchziehen und in (empirisch) vielfältigen Mischungen von Gleich- und Ungleichstellungen auftreten (vgl. Fraser 2003, S. 76) und entlang derer sich, wie sie am Beispiel der neoliberalen Vereinnahmung feministischer Vorstellungen und Politiken herausarbeitet (vgl. Fraser 2009), neue herrschaftssichernde Konstellationen ergeben können. Der Komplexität der Unrechtserfahrungen und Gerechtigkeitsansprüche trägt die Autorin Rechnung, indem sie unter dem Begriff des „perspektivischen Dualismus“ vorschlägt, jede gesellschaftliche Praxis immer aus der Perspektive der Anerkennung und der Umverteilung zu betrachten (Fraser 2003, S. 84 ff., 2009). In diesem Sinne müssten beispielsweise feministische im Kontext sozialstaatlicher Politiken nicht nur eine Umverteilung von Arbeit und Einkommen, sondern auch eine angemessene Anerkennung der von Frauen verrichteten Tätigkeiten einmahnen (Fraser 2004, S. 457 ff., 2006). Wie auch in ihren Betrachtungen zum Zusammenspiel von Feminismus und Neoliberalismus (Fraser 2009) oder im Konzept der „universellen Betreuungsarbeit“ (Fraser 1996) deutlich wird, geht es der Autorin dabei um fundamentale Kapitalismuskritik in dem Sinne, dass die bisherigen gesellschaftlichen Maßgaben dazu, was als ökonomisch und kulturell wertvoll gilt, ins Wanken geraten, wenn etwa Betreuungsarbeit wirklich universell, also zur Aufgabe aller statt zur Zumutung für einige oder viele wird. Der Kern des Fraser’schen Ansatzes spiegelt dabei zeitgeschichtlich zwar eine unter Druck geratene Sozialstaatlichkeit, aber nicht die gegenwärtigen Austeritätspolitiken, was ihn hinsichtlich so weit reichender Forderungen wie derjenigen nach einer radikalen Umverteilung aller Sorgearbeit aber nicht minder aktuell macht (vgl. Winker 2013). Unter dem Eindruck neuer Ungleichgewichte in einer „globalisierten Welt“, in der einer entgrenzten kapitalistischen Expansion vorrangig nationalstaatliche, daher in vieler Hinsicht wirkungsarme politische Regulative gegenüberstehen bzw. Wirt-

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schaftsinteressen in neuem Ausmaß auf Politik übergegriffen haben, erweitert Nancy Fraser (2007, S. 351) ihre zweidimensionale zu einer dreidimensionalen Konzeption sozialer Gerechtigkeit, indem sie neben Ökonomie und Kultur die Politik und neben Umverteilung und Anerkennung die Repräsentation einbezieht: Das „[. . .] Politische fungiert [. . .] als eine Art von Bühne auf der Umverteilungs- und Anerkennungskämpfe ausgetragen werden. Indem die politische Dimension der Gerechtigkeit Kriterien sozialer Zugehörigkeit schafft und somit festlegt, wer als Mitglied einer Gemeinschaft gelten kann und wer nicht, legt sie die Reichweite der anderen Dimensionen fest beziehungsweise spezifiziert sie: Denn hierdurch wird angezeigt, wer zu dem Kreis derer, denen Gerechtigkeit und gegenseitige Anerkennung zugestanden wird, dazugehört, und wer aus diesem Kreis ausgeschlossen wird.“ Es geht dann nicht mehr allein darum, was im Sinne der „partizipatorischen Parität“ (Fraser 2003) gefordert wird, sondern wer Forderungen erheben darf und kann (Fraser 2007). In den westlichen repräsentativen Demokratien ist diesbezüglich die „Fehlvertretung“ nach Fraser (2007, S. 353 ff.) in gewisser Weise die Normalität. Sie tritt als „gewöhnliche politische Fehlvertretung“ (Fraser 2007, S. 353), also als ungleiche oder unzureichende Repräsentanz auf, wobei dies, mit Cornelia Klinger (2013) in den Blick genommen, im Rahmen des iterativen Prinzips der Moderne prinzipiell immanent korrigierbar ist; dafür kann die Durchsetzung formal-rechtlicher Geschlechtergleichstellung als Beispiel gelten. Und sie trete als „Fehlrahmung“ auf, was bedeutet, dass Bevölkerungsteile qua Ausschluss keine Möglichkeiten haben, ihre Forderungen nach Umverteilung und Anerkennung geltend zu machen; in dieser Dimension sei die Globalisierung als Herausforderung zu sehen, über Rahmensetzungen und Grenzziehungen, damit über die moderne Staatlichkeit und Ebenen politischen Eingreifens neu nachzudenken (vgl. Fraser 2007, S. 362 ff.). Damit werden „Kämpfe für Gerechtigkeit innerhalb einer globalisierten Welt“ (Fraser 2007, S. 363) zu Kämpfen um neue Formen demokratischer Teilhabe.

3.2

Reproduktionsgefährdungen und Herrschaft

Ist Nancy Frasers Ansatz daraufhin konzipiert herauszuarbeiten, in welcher Weise Umverteilung und Anerkennung gefordert und erkämpft werden müssen und wie sich dies politisch gestaltet, so geht es nun in umgekehrter Perspektive um Reproduktionsgefährdungen und Herrschaft. Zu den überraschenden Entwicklungen der letzten Jahre gehört diesbezüglich, dass eines der traditionsreichsten Themen feministischer Forschung – Care und Care Work – von seinem vorherigen Nischendasein ins Zentrum der gesellschaftswissenschaftlichen und -politischen Aufmerksamkeit gerückt ist (vgl. Aulenbacher et al. 2014b). Das hängt unter anderem mit den Sorgegefährdungen zusammen, die sich seit der Finanzkrise vermittelt über Austeritätspolitiken in den ‚alten‘ Kapitalismen erneut und in neuer Form herausgebildet haben (vgl. Aulenbacher et al. 2014a). Mit ihnen ist auch ein Motiv wieder in den Vordergrund getreten, das die Klassiker und modernen Klassiker, darunter die ältere Kritische Theorie, in zahlreichen Varianten durchzieht: Mit dem Kapitalismus hat

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eine neue Zeitrechnung begonnen, insofern in seiner Funktions- und Reproduktionsweise – im Vorrang der Marktökonomie vor anderen Bereichen, der Verwertung vor der Existenzsicherung u. a. m. – die Selbstgefährdung der Gesellschaft angelegt ist. Dieser Gesellschaftsformation sind Reproduktionskrisen also inhärent (vgl. zum Krisenmotiv auch den Beitrag von Dörre im Handbuch). Im Rahmen einer „Vielfachkrise“, so die Diagnose von Alex Demirović et al. (2011), werden gegenwärtig verschiedene Aspekte sichtbar, unter denen das Leben und Zusammenleben in neuer Weise gefährdet ist. Sorgekrisen sind ein Teil der krisenhaften Gefährdung der gesellschaftlichen Reproduktion (vgl. Aulenbacher 2013; Klinger 2013). In der Frage, wie Sorge und Sorgearbeit von der finanzmarktkapitalistischen Entwicklung berührt werden, ist Regina Becker-Schmidts kritische Theorie in feministischer Lesart von besonderem Interesse, weil sie Veränderungen gesellschaftlicher Funktions- und Arbeitsteilungen und -bewertungen5 im Kontext sozialer Ungleichheiten nach Geschlecht, Ethnizität und Klasse theoretisch zu erschließen vermag. Ihr Ansatz ist durch das Bestreben geprägt, der älteren Kritischen Theorie Gegenwartsgehalt zu verschaffen. Regina Becker-Schmidt (2000, S. 40) geht von der Diagnose aus, dass kapitalistische Gesellschaften ein „soziales Strukturproblem“ haben. Es besteht darin, wie die Autorin die in der älteren Kritischen Theorie im Zusammenhang mit dem Begriff der „Totalität“ thematisierten Strukturierungsprinzipien von Gesellschaft aufnimmt, dass sie die Leistungen, derer sie bedürfen, um sich zu reproduzieren, nach dem Muster der gesellschaftlichen „Trennung“ von Funktionsbereichen und Arbeitsformen organisieren und in den jeweiligen Sektoren „relativ autonom“ erbringen, aber aufgrund der „Interdependenzen“ zwischen ihnen doch auf ein funktionierendes Ganzes angewiesen sind. Letzteres werde zum einen mittels „Vereinheitlichung“ erreicht, also dadurch, dass die Sektoren nach „Leitlinien“ der Verwertung, Rationalisierung u. a. m. aneinander anschlussfähig gemacht werden, erfordere aber auch ihren „Zusammenschluß“: Es geht, was die Widerspruchsstruktur der Gesellschaft zum Vorschein bringt, also um „Zusammenschluß bei gleichzeitiger Trennung, Interdependenzen bei relativer Selbständigkeit“ (Becker-Schmidt 1991a, S. 386, i. O. m. Hervorh.). Regina Becker-Schmidt (1991a, 1998) verfolgt das auf die Bearbeitung dieser Widersprüche bezogene Geschehen theoretisch weiter, indem sie Gesellschaft im Anschluss Theodor W. Adorno als „Relationsbegriff“ fasst, anders als er aber als deren „Elemente“ nicht ausschließlich die Menschen, sondern auch die Sektoren begreift. Entsprechend liegt ihr Augenmerk auf einer doppelten „Relationalität“ (Becker-Schmidt 1998, S. 109 f.): Es geht um die Frage, wie die Sektoren im Rahmen der Funktionsteilung und -bewertung ihre Gestalt und Bedeutung in Relation zueinander erlangen und wie die Menschen, die Einzelnen wie ganze Bevölke5

Wenn von Funktions- und Arbeitsteilungen und -bewertungen die Rede ist, so ist dies nicht konkretistisch zu lesen, sondern hinter meiner Begriffswahl steht, dass der Ansatz von Regina Becker-Schmidt (1987) die materielle Reproduktion und die symbolische Ordnung der Gesellschaft im Blick hat; beides kommt darin zur Geltung, welche Bedeutung Sektoren und Arbeitsformen in materieller wie ideeller Hinsicht für die gesellschaftliche Reproduktion haben.

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rungsgruppen, in der Sozialordnung in Relation zueinander positioniert sind. Als Bindeglied zwischen beidem lässt sich mit der Autorin die gesellschaftliche Arbeitsteilung und -bewertung ausmachen, also die Art und Weise wie bezahlte und unbezahlte Arbeit (Erwerbs-, Haus-, Eigen-, Subsistenz- und Freiwilligenarbeit) in und zwischen den Sektoren organisiert und nach Klasse, Geschlecht, Ethnizität verteilt sind (vgl. Aulenbacher und Riegraf 2009). Dabei vermutet sie – was sie für die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ausführt – zwischen Funktionsund Arbeitsteilungen und -bewertungen im Rahmen der gegebenen Sozialordnung „Strukturhomologien“ (vgl. Becker-Schmidt 1998);6 die Wertigkeit, die den Sektoren und Arbeiten gesellschaftlich zugebilligt wird, und die Wirkmächtigkeit, mit der sie auf das weitere Geschehen ausstrahlen und es beeinflussen, hängen nicht unwesentlich davon ab, wer darin wie eingebunden ist. Erzeugt werden diese „Strukturhomologien“ nach Regina Becker-Schmidt (1998, S. 95 ff.) durch „Vermittlungen“, so ihr weiterer Anschluss an die Begrifflichkeit Theodor W. Adornos, welche sich unter gegebenen Verhältnissen (weitgehend) herrschaftsförmig vollziehen: „In ausdifferenzierten Gesellschaften, in denen sich politische, ökonomische, kulturelle und wissenschaftliche Machtzentren herauskristallisiert haben, die verschiedene Koalitionen miteinander eingehen, wird Vermittlung pervertiert zu Unterordnung und Einpassung: dann nämlich, wenn Individuen, Geschlechtern, Klassen und ethnischen Gruppen, die nicht der Dominanzkultur und den ökonomisch privilegierten Schichten angehören, keine ausreichenden Existenzmittel gewährt, keine politische Eigeninitiative und keine kulturelle Eigenständigkeit zugestanden wird.“ (Becker-Schmidt 1998, S. 97) Solche „Vermittlungen“ sorgen dafür, dass die funktionsnotwendigen Leistungen erbracht werden, indem Arbeit herrschaftsförmig verteilt und verrichtet wird, was für die verschiedenen Bevölkerungsteile mit Privilegien und „sozialen Zwängen“ einhergeht (vgl. Becker-Schmidt 1998, S. 98 ff.). Die postfordistische und -sozialistische migrations- und geschlechtsbasierte Haushalts- und Betreuungsarbeit ist ein prägnantes Beispiel hierfür, wie benachteiligte Bevölkerungsteile für Arbeiten in die Pflicht genommen werden und dabei alle (in den Ankunftsgesellschaften) bereits erreichten Standards der Arbeitsteilung und -bewertung unterboten, etwa im Falle des live-in, und (in den Sendegesellschaften) erhebliche Sorgegefährdungen zugelassen werden (vgl. Apitzsch und Schmidbaur 2010; Lutz 2010). In Regina Becker-Schmidts Gesellschaftsanalyse ist das Phänomen Finanzmarktkapitalismus und sind seine Folgen als weitere Störung des unter gegebenen Verhältnissen ohnehin nie im Gleichgewicht befindlichen gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs zu sehen. „Soziale Krisen verschärfen sich mit wachsender gesellschaftlicher Fragmentierung. Ein Sozialgefüge, dessen Stabilität von Abstimmungsprozessen zwischen allen für seinen Fortbestand zentralen Bereichen 6

Angesichts der ökonomischen Ungleichheits- und bürgerlichen Gleichheitsordnung, die die moderne Gesellschaft charakterisiert, müssen weder Arbeitsteilungen noch Positionierungen in der Sozialordnung durchgängig hierarchisch sein; anders gesagt, auch auf Gleichheit basierende Relationen, etwa im Rahmen neuerer Entwicklungen im Geschlechterverhältnis (vgl. Demirović und Maihofer 2013), sind denkbar und vorhanden (vgl. Klinger 2003).

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abhängt, verliert an sozialem Zusammenhalt, wenn einzelne Sektoren eigenmächtig aus den Interdependenzverhältnissen ausbrechen, in die sie durch gesellschaftliche Funktionsteilung eingespannt sind. In dem Maße, wie sich der globale Finanzkapitalismus gegenüber gesellschaftlichen Bereichen verselbstständigt, in denen es um die Herstellung des individuellen und kollektiven Gutes ‚Lebensqualität‘ geht, vertieft sich der Riss zwischen marktvermittelter Wirtschaft und privaten Haushalten. Die soziale Unvereinbarkeit ihrer jeweiligen Zwecksetzungen führt zur Dissoziation von politisch-ökonomischen und lebensweltlichen Sphären.“ (Becker-Schmidt 2011, S. 9 f.) Das schließt bei der Autorin objektive wie subjektive Gefährdungslagen in allen Funktionsbereichen, der bezahlten und unbezahlten Arbeit und im weiteren Lebenszusammenhang ein, also Phänomene wie Prekarität, Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit (vgl. hierzu ausführlich Dörre im Handbuch), das schon genannte Muster migrationsbasierter Sorgearbeit, Gesundheitsgefährdungen u. a. m. Sie spricht im Ergebnis von „‚verwahrloster Fürsorge‘“, die, wie sie weiterhin im Anschluss an Theodor W. Adorno argumentiert, auf die „rücksichtslose Verfolgung von Eigeninteressen als verwilderte Selbsterhaltung“ zurück zu führen ist (vgl. Becker-Schmidt 2011, S. 8, 17). „In Herrschaftsverhältnissen gefangen, die Individuen nicht durchschauen, innerhalb derer sie aber selbstherrlich agieren, verhalten sie sich unbeherrscht. Ein pfleglicher Umgang mit gesellschaftlichen Ressourcen und menschlichen Kapazitäten, die es vor Raubbau zu schützen gilt, ist ihnen fremd. In ‚verwilderter Selbstbehauptung‘ offenbart sich eine Vernunft, die sich blind macht für die Unvernunft, die ihr immanent ist“ (Becker-Schmidt 2011, S. 17). Es ist in dieser Betrachtungsweise also das Heraustreten der Finanzökonomie aus dem Gesamt, mit dem sich die Neujustierungen des „leitenden/hegemonialen Handlungssystems der Gesellschaft: von der Politik zur Ökonomie bzw. vom (National-) Staat zum (Welt-)Markt“ (Klinger 2014, S. 32) verbinden. In der Folge werden zwar die Sorge- und damit Selbstgefährdungen der Gesellschaft in neuer Weise offensichtlich, die verschärften Machtungleichgewichte und „‚verwilderte Selbstbehauptung‘“ (Becker-Schmidt 2011 nach Adorno) machen die gesellschaftliche Situation aber nicht ohne weiteres einsichtig und einhegbar. Nun ist die „Lebenssorge“ (Klinger 2013) im Kapitalismus immer schon als nachrangig zu begreifen, da er in bereits genannter Weise nicht erst neuerdings primär anderen Orientierungen folgt. Diese Nachrangigkeit ist grundsätzlicher Art und wird sichtbar, wenn in den Blick genommen wird, was unter Sorge zu verstehen ist. Darunter lassen sich letztlich all jene Tätigkeiten fassen, die dazu dienen, die Kontingenz des Lebens zu bearbeiten, indem sie all das gewährleisten, was zwischen den Polen der Natalität und Mortalität erforderlich ist, um ein gelingendes Leben und Zusammenleben zu ermöglichen, womit sich in gewisser Weise eine ganzheitliche Orientierung auf die leibseelische Existenz verbindet (vgl. Aulenbacher und Dammayr 2014; Klinger 2013). In dieser an ihrer Lebensdienlichkeit orientierten Ausrichtung lassen sich Sorge und Sorgearbeit unter kapitalistischen, andro- und eurozentrischen Verhältnissen letztlich nie zufriedenstellend organisieren. Als Leistungen, welche dem kapitalistischen Wirtschaften zwar vorausgesetzt sind, von denen es aber absieht, sofern sie in funktionsnotwendiger Weise anderweitig – im

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Privathaushalt, staatlich, gemeinwirtschaftlich; geschlechts-, ethnizitäts-, schichtbasiert im Rahmen inner- und zwischengesellschaftlicher weltweiter Sorgegefälle – erbracht werden, sind sie in gewisser Weise gleichgültig. Werden sie privatwirtschaftlich erbracht, so ist ihre Lebensdienlichkeit nicht mehr primär das Ziel. Unter beiden Aspekten haben wir es mit einer „Sorglosigkeit“ des Kapitalismus zu tun (Aulenbacher und Dammayr 2014, S. 69), die auf Abstraktionen von Lebensnotwendigkeiten beruht. Sie drücken sich ganz unterschiedlich aus: im Konstrukt der Arbeitskraft und des Arbeitsvertrags, in dem die menschliche Existenz nur noch in ihrer Marktförmigkeit aufscheint; im andro- und eurozentrischen Lebensentwurf, der in puncto „Sorglosigkeit“ (Aulenbacher und Dammayr 2014, S. 69) – und Verlagerung der Sorgearbeit auf andere – kapitalismusaffin ist; im homo oeconomicus als Kernfigur der standardökonomischen Legitimierung des Finanzmarktkapitalismus u. a. m. (vgl. Aulenbacher und Dammayr 2014a; Becker-Schmidt 2014). Sollte ich Regina Becker-Schmidts (2011, 2014) aus meiner Sicht zentrale Diagnose zum Finanzmarktkapitalismus in einen Satz zusammenfassen, so lautete er: Die kapitalismuseigene Abstraktion von den Belangen und damit die Verdrängung der Kontingenz des Lebens, in der sich zugleich genuin andro- und eurozentrische Vorstellungen manifestieren, hat sich verschärft mit Folgen für die weitere ‚Verwahrlosung‘ des Sorgens und der Sorgearbeit. Gleichwohl müssen die Menschen weiter sorgen, weil sie leben und obwohl sie unter gegebenen Verhältnissen schlecht leben. Die erfahrbar zugespitzten Sorgekrisen scheinen mir daher der zentrale Anstoß dafür zu sein, dass Care und Care Work zu Themen geworden sind, an denen sich nicht nur massiver, sondern auch an die Grundstrukturen der Gesellschaft gehender Protest regt. So beschreibt, um nur ein Beispiel herauszugreifen, Gabriele Winker (2013, S. 130) das von ihr in die wissenschaftliche und weitere öffentliche Diskussion gebrachte politische Konzept einer „Care-Revolution“ folgendermaßen: „Mit der Care-Revolution wird für einen grundlegenden Perspektivenwechsel plädiert. Dabei geht es um nicht weniger als die Forderung, dass nicht Profitmaximierung, sondern die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen im Zentrum politischen Handelns stehen sollte. Ausgehend von der Care-Arbeit gehe es um die Verwirklichung all jener Aufgaben, die zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und für die individuelle und generative Reproduktion notwendig sind, die auf den Gebrauchswert abheben und nicht der kapitalistischen Verwertungslogik folgen.“ In dieser oder ähnlichen Formulierungen aus dem gegenwärtigen Protest wird deutlich, dass dem Thema Sorge und Sorgearbeit in zweifacher Hinsicht eine ‚auf’s Ganze‘ gehende Perspektive innewohnt: Es geht darum, die „‚verkehrten Verhältnisse‘“ (BeckerSchmidt 2011, S. 19), in denen finanzökonomische Imperative das Leben und Zusammenleben gefährden, indem sie die im Kapitalismus mit seinen affinen andro- und eurozentrischen Logiken wie überhaupt unter Herrschaftsbedingungen immer prekäre Sorge weiter gefährden (vgl. Klinger 2014), grundlegend zu wenden. Das schließt ein, über eine „sorgsame“ Gesellschaft neu nachzudenken (Aulenbacher et al. 2015), was grundlegende Herrschaftskritik, wie Regina Becker-Schmidt sie übt, ebenso erfordert wie ein Nachdenken über soziale Gerechtigkeit, wie es Nancy Fraser angeht.

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Schlussbemerkung: Zur Aktualität kritischer Theorie in feministischer Lesart

Was die hier in den Fokus gerückten Ansätze angeht, so lassen sie sich nicht zu einem ‚harmonischen Ganzen‘ fügen;7 das geht weder hinsichtlich der Art und Weise, wie sie Gesellschaft in den Blick nehmen, noch ist es Sinn der Sache. Schließlich stehen sie für verschiedene, auch unvereinbare Wege, Kritischer Theorie Gegenwartsgehalt zu verschaffen und/oder sie auf die Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen hin weiter zu entwickeln. Die Aktualität und Brisanz kritischer Theorie in feministischer Lesart zeigt sich dabei aus meiner Sicht an drei hervorzuhebenden Punkten: Es geht, erstens, was ich für gesellschaftstheoretisch und -politisch unverändert dringend geboten halte, um die ‚großen Fragen‘ der Funktions- und Reproduktionsweise einer Gesellschaftsformation, in der mindestens drei Herrschaftslogiken – Andro- und Eurozentrismus und Kapitalismus – so zusammen wirken, dass sie immer wieder an die Grenzen ihrer Selbstgefährdung getrieben wird. Eine Perspektive, die dort ankommen soll und will, kommt nicht ohne Begriffe und Denkformen aus, die in der Lage sind, das Gesamt zu erfassen und zu erschließen, und kann doch nicht auf den Blick auf das Alltägliche verzichten, wenn sie nicht an den Lebensrealitäten der Menschen vorbeigehen will. Zweitens haben kritische Theorie in feministischer Lesart und auch weitere feministische Gesellschaftsanalysen, indem sie den Blick darauf richten, in welcher Weise dem Gegenwartskapitalismus weitere Herrschaftsverhältnisse unterlegt sind und in welcher Weise seine ‚Produktionen‘ darauf aufbauen, dass darüber vermittelt von Sorgebelangen im weitesten Sinne abgesehen werden kann und wird, früh ein Sensorium für Themen entwickelt, zu denen sich jetzt zusehends Widerstand regt. Und sie verfügen auch bereits über elaborierte Erkenntnisstände dazu. Sie nicht nur weiter zu entwickeln, sondern auch breiter in die gesellschaftswissenschaftliche und -politische Diskussion zu bringen, halte ich für dringend geboten. Drittens nehmen sie mit Fragen der Gerechtigkeit, dem Blick auf Sorge im umfassenden Sinne, der Analyse komplexer Herrschaftsverhältnisse Themen auf, die seit einiger Zeit auch immer mal wieder in Kapitalismustheorien Marx’scher und Weber’scher Tradition aufgegriffen werden und bisweilen auch deren Zentralfragestellungen erreichen; umgekehrt zieht die Befassung mit dem Phänomen Finanzmarktkapitalismus in neuem Umfang in die feministische Gesellschaftsanalyse ein und steht damit auch eine erneute und neue Befassung mit Kategorien wie Ausbeutung, Entfremdung u. a. m. an. Eine neue Runde des Theorienstreits in Sachen Kapitalismustheorie und -analyse scheint mir vor diesem Hintergrund geboten und angesichts der drängenden gesellschaftlichen Problemlagen keine bloß akademische Übung zu sein. In allen drei Punkten kann Forschung zum Gegenwartskapitalismus von kritischer Theorie in feministischer Lesart profitieren. Und umgekehrt gibt sie genug

7 Regina Becker-Schmidt (2001, S. 101) übt grundsätzlich Kritik an Nancy Frasers Ansatz, dem aus ihrer Sicht die „soziologische Untermauerung“ fehlt.

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Stoff her, um die Zugänge zur Gesellschaftsanalyse auf ihren Ertrag und auf Veränderungsnotwendigkeiten hin zu überprüfen, die kritische Theorie einschließlich derjenigen in feministischer Lesart charakterisieren, denn, so will ich mit Regina Becker-Schmidt (2001, S. 94) schließen: „Kritische Theorie, welcher Provenienz auch immer, behält ihre gesellschaftsdiagnostische Schärfe nur, wenn sie von Zeit zu Zeit entrümpelt und in undogmatischer Weise weiter entwickelt wird.“

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Ansätze einer kritischen Theorie der Wissensgesellschaft Eva Kreisky und Marion Löffler

Zusammenfassung

„Wissensgesellschaft“ fungiert im politischen Diskurs als Zeit- und Zukunftsdiagnose, die auf die Vorstellung verweist, dass sich Gegenwartsgesellschaften zu wissens- und forschungsabhängigen Ökonomien entwickeln. Eine „kritische Theorie“ der Wissensgesellschaft begleitet weniger den Prozess der Politisierung des sozialwissenschaftlichen Konzepts, vielmehr rückt die Kritik am Gebrauch des Terminus ins Zentrum, weil er Herrschaftsdimensionen moderner Gesellschaften ignoriert und verschleiert. In diesem Beitrag soll die Entwicklung des Begriffs „Wissensgesellschaft“ zuerst ideengeschichtlich nachvollzogen werden, um ihn anschließend ideologiekritisch auf seinen emanzipativen Gehalt zu befragen. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Wissensgesellschaft · Ideologiekritik · Kapitalismuskritik · Neoliberalismus

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Einleitung: Die Rhetorik der Wissensgesellschaft

„Wissensgesellschaft“ ist ein vornehmlich normativ geladener, positiv konnotierter Begriff, der Ende der 1990er-Jahre in politische Programmatiken eingegangen ist, und den häufig synonym verwendeten Begriff der „Informationsgesellschaft“ weitgehend abgelöst hat (Kübler 2009, S. 16). Dieses „Label“ (Bittlingmayer 2005, S. 12) soll strukturellen Wandel westlicher Gesellschaften anzeigen, der zum einen in wissenschaftlich-technologischen Fortentwicklungen gründe, zum anderen zukünftige Bedingungen dieses Fortschritts revolutioniere. Nunmehr sei „Wissen“ zur E. Kreisky (*) · M. Löffler (*) Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]; marion.loeffl[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_55

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zentralen Ressource, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden, die sich tendenziell ökonomischer Verwertung und Kommodifizierung entzieht, zumal Wissen auch „nach dem Verkauf in den Köpfen der Wissensproduzierenden“ (Junge 2008, S. 115) – den „Wissensarbeiter_innen“ – verbleibt. Zudem wird ein nachkapitalistisches Stadium der Gesellschaft suggeriert, das demokratisierende Tendenzen in sich bergen soll: Weil Wissenserwerb prinzipiell für alle möglich ist, verschwinden angeblich Klassengegensätze und Schichtspezifika. Angeblich stehen nun auch Frauen alle Karrierewege offen und die patriarchale Gesellschaftsstruktur ist in Auflösung begriffen (kritisch dazu McRobbie 2007). „Diese Wirkweise eines Begriffes zur Beschreibung einer Gesellschaftsformation eignet sich hervorragend zur Verheißung einer neuen Ordnung, die von Positivität, Harmonie, Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit geprägt ist“ (Junge 2008, S. 115). Mittlerweile fungiert „Wissensgesellschaft“ im politischen Diskurs als Zeit- und Zukunftsdiagnose, die auf die Vorstellung verweist, dass sich Gegenwartsgesellschaften zu wissens- und forschungsabhängigen Ökonomien entwickeln oder bereits entwickelt haben. Dieser Prozess soll politisch unterstützt und forciert werden, was auch als dezidiertes Ziel der Lissabon-Strategie1 formuliert worden ist. Neue Produktivkräfte (Innovation und technische Entwicklung) sowie neue Informationsund Kommunikationstechnologien führen zu einem Strukturwandel der Arbeitsverhältnisse, da immer besser ausgebildete Arbeitskräfte in Managementpositionen benötigt werden (Steinbicker 2004, S. 91). Generell steigt im Vergleich zur industriellen Produktion die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, was einen umfassenden gesellschaftlichen Strukturwandel impliziert. Der veränderte Stellenwert von Wissenschaft in der und für die Gesellschaft erfordert Reformen in Bildungs- und Hochschulpolitik. Diese Veränderungen werden im politischen Diskurs nicht nur wahrgenommen, sondern als Modernisierungsauftrag interpretiert (Löffler 2008, S. 417). Wissensgesellschaft wird zu einem Leitbild für zahlreiche Politikfelder: von der Forschungs- und Bildungspolitik, über Umwelt- bis hin zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik.2 Eine „kritische Theorie“ der Wissensgesellschaft begleitet weniger den Prozess der Politisierung des sozialwissenschaftlichen Konzepts, vielmehr rückt Kritik am emphatischen Gebrauch des Terminus ins Zentrum, weil er Herrschaftsdimensionen moderner Gesellschaften ignoriert und damit verschleiert. In kritischer Absicht ist die These, wonach wir in einer Wissensgesellschaft leben oder auch nur auf eine solche zusteuern, grundsätzlich zu hinterfragen (Bittlingmayer und Tuncer 2010). Zudem gilt es die Herrschaftspraktiken zu entschlüsseln, die mit Verweis auf die Wissensgesellschaft etabliert und legitimiert werden. Ob Wissensgesellschaft eher „Mythos, Ideologie oder Realität“ (Bittlingmayer und Bauer 2006) ist, kann kaum Die „Lissabon-Strategie“ der Europäischen Union wurde 2000 als Programmatik zur Steigerung der Europäischen Wettbewerbsfähigkeit bis zum Jahr 2020 entworfen. Die Entwicklung sollte umfassend – ökonomisch, sozial und ökologisch – sein. Schlüsselkonzepte dabei sind Innovation, Wissensgesellschaft und Nachhaltigkeit. 2 Auffällig ausgespart bleibt Agrarpolitik, obwohl der Bedeutungszuwachs von Wissen und Forschung auch in diesem Sektor nicht zu übersehen ist. 1

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entschieden werden; klar ist aber, dass die verheißene Utopie – nämlich Arbeit als selbstbestimmte Tätigkeit3 bei gleichzeitiger Befreiung von Arbeitszwang und Ausbeutung (Gorz 2002, S. 17) – nicht realisiert wird. Stattdessen bleiben instrumentelle Vernunft und kapitalistische Verwertungslogik unausgesprochene Voraussetzungen. Indem der Diskurs der Wissensgesellschaft einen epochalen Bruch zur Industriegesellschaft und somit auch eine Revolutionierung gesellschaftlicher Verhältnisse behauptet, verspricht er eine Gesellschaftsformation, die nicht mehr auf unmittelbarer Ausbeutung lebendiger Arbeit in der Fabrik und am Fließband beruht. Es bleibt aber zu bezweifeln, dass ein tatsächlicher Bruch mit kapitalistischer Vergesellschaftung stattfindet und eine „Post-Capitalist Society“ (Drucker 1993) entsteht. Uwe H. Bittlingmayer (Bittlingmayer 2001, S. 22, Hervorh. i. Orig.) konstatiert, einen Vortrag von Theodor W. Adorno (Adorno 2003b) paraphrasierend, „dass nach dem Stand der technischen Entwicklung Gesellschaften heute als Wissensgesellschaften bezeichnet werden können, nach dem Stand der ökonomischen und politischen Struktur noch immer als kapitalistische“. Aus einer herrschaftskritischen Perspektive muss daher die Diagnose Wissensgesellschaft in den Kontext kapitalistischer Entwicklung gesetzt und auf ihre ideologischen und Herrschaft generierenden sowie stabilisierenden Implikationen hin befragt werden.

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Die Erfindung der Wissensgesellschaft

Christine Resch (Resch 2005) unterscheidet zwei Phasen der Debatte, die sie als Wissensgesellschaft I und II ausweist. Wissensgesellschaft I erfolgt in den 1960erund 1970er-Jahren vor dem Hintergrund des Endes der Industriegesellschaft und der entstehenden postindustriellen Gesellschaft und bleibt dabei dem Fordismus als dominanter Produktionsweise verbunden. Die Diskussion der Wissensgesellschaft II findet seit Anfang der 1990er-Jahre unter neoliberalen Vorzeichen statt. „Was fordistisch als Pakt der gebildeten Schicht mit den gut ausgebildeten Arbeitern begann, wird neoliberal zum Pakt der gebildeten Schicht mit den Repräsentanten der Macht und zur Abwertung von Handarbeit.“ (Resch 2005, S. 22) Gemeinsam ist beiden Phasen, dass sie einen epochalen Bruch konstatieren, der in Wissenschaft und im Umgang mit Wissen seinen Angelpunkt hat. Am Beginn des sozialwissenschaftlichen Diskurses wurde der Begriff „Wissensgesellschaft“ als Anwärter zur konzeptuellen Spezifizierung einer Gesellschaftsformation eingeführt, deren sozio-ökonomische Entwicklung nicht mehr ganz dem industriellen Zeitalter entspricht. „Knowledgeable Society“ ist die Bezeichnung, die der Politikwissenschaftler Robert E. Lane (Lane 1966) verwendet, um eine Gesellschaft zu prognostizieren, in der wissenschaftliches Wissen zunehmende 3

In diesem Sinne definiert die Heinrich-Böll-Stiftung auf ihrem Internetportal www.wissensgesell schaft.org: „Wissensgesellschaft eröffnet eine Perspektive, die auf den Willen und die Befähigung der Menschen zu Selbstbestimmung setzt – ganz im Gegensatz zum technizistischen Begriff der Informationsgesellschaft.“

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Bedeutung erlangen werde.4 Es gelte, die Vorstellungen vom Menschen und der Gesellschaft wissenschaftlich zu durchdringen, um deren Entwicklung forschungsgeleitet gestalten zu können. Politische Entscheidungen sollten nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgen und damit von Ideologien befreit werden. Lanes Überlegungen sind noch vom Fortschrittsoptimismus der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte geprägt, was sich mit den 1970er-Jahren ändern sollte. Dennoch bleibt die Vorstellung der Verwissenschaftlichung von Gesellschaft auch im heutigen Diskurs über die Wissensgesellschaft Thema. Auch neue Formen (sozial-)wissenschaftlichen Wissens und neue Wissensproduzent_innen wie z. B. Gender-Wissen und -Expert_innen werden in die Vorstellung von Wissensgesellschaft integriert (Dölling 2005; Löffler 2007; Wetterer 2008). Alain Touraine (Touraine 1971) macht permanenten Wandel zum Charakteristikum eines neuen Gesellschaftstyps, in dem soziale, kulturelle und ökonomische Prozesse zusehends verschmelzen. Diese neue Gesellschaft könne, gemessen an ihrem Abstand zur klassischen Industriegesellschaft, als „post-industriell“, in Bezug auf die Machtverhältnisse als „technokratisch“ oder, sofern auf Arbeitsweisen und wirtschaftliche Organisationsformen fokussiert wird, als „programmiert“ bezeichnet werden. Wachstum im neuen Gesellschaftstypus sei nicht nur von Akkumulation bestimmt, sondern abhängig von einem Komplex sozialer und emotionaler Faktoren. „Nowadays, it depends much more directly than ever before on knowledge, and hence on the capacity of society to call forth creativity“ (Touraine 1971, S. 5). Obwohl er den Begriff nicht verwendet, entwirft Touraine somit eine Art „Wissensgesellschaft“, die dadurch gekennzeichnet ist, dass immer mehr Lebensbereiche (Erziehung, Konsum, Information) zu Produktionsfaktoren werden. Ähnlich der Durchsetzung von Kapitalismus und Industrialisierung im 19. Jahrhundert, lösen auch diese neuen Entwicklungen Abwehrreaktionen betroffener Gruppen aus. Die programmierte Gesellschaft ist von neuen sozialen Konflikten gekennzeichnet, die nicht mehr von den Produktionsverhältnissen ausgehen und daher weniger ökonomische, sondern – wie die Studentenproteste und die neue Frauenbewegung – eher gesellschaftspolitische und kulturelle Kämpfe sind. Dass sich gesellschaftliche Konfliktlinien von ökonomischen Distributionskämpfen auf andere Bereiche verlagern, ist im Wissensgesellschaftsdiskurs konsensual (Bittlingmayer 2005, S. 35). Veränderte Wert-orientierungen und Motivstrukturen in politischen Kämpfen wurden in den 1970er-Jahren zunehmend unter dem Etikett von ‚Postmaterialismus‘ diskutiert (Dubiel 1992, S. 68) und sind darum als Vorläuferdebatten zu „Neuen sozialen Bewegungen“ der 1980er-Jahre zu sehen. Was Touraines befreiungstheoretische Sicht (Resch 2005, S. 38) vom Mainstream im Diskurs der Wissensgesellschaft abhebt, ist seine Überzeugung, dass eine neue Form des Kapitalismus entsteht (Touraine 1971, S. 8). Sein gesellschaftstheoretischer Versuch, in diesem Diskurs

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Schon Frederic W. Taylor bezeichnet sein System der Rationalisierung des Produktionsprozesses als „scientific management“ (Rehmann 1998, S. 25), womit die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft schon in der industriellen Phase eingesetzt hat.

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einen starken Konterpart zu Daniel Bells Konzept der nachindustriellen Gesellschaft zu etablieren, hat sich jedoch kaum durchgesetzt. Mit „The Coming of the Post-Industrial Society“ hat Daniel Bell 1973 das Konzept der Wissensgesellschaft popularisiert. Er baut darin auf seinen in den 1950er- und 1960er-Jahren entwickelten Thesen zur Entstehung einer postindustriellen Gesellschaft in den USA auf, die er als „Vorreiter und Modellfall vergleichbarer Entwicklungen in anderen Industriegesellschaften“ (Steinbicker 2011, S. 50) betrachtet. Den politischen Hintergrund bildet der Kalte Krieg und der durch Erfolge der Sowjetischen Raumfahrtprogramme in eine ideologische Krise geworfenen USA, denen mangelnde Integration sozial schwacher Schichten in die Mehrheitsgesellschaft vorgeworfen wurde (Bender 2013, S. 23). Bell gilt als Vertreter eines liberalen, pro-amerikanischen und anti-kommunistischen Kurses, der mit der Verheißung einer postindustriellen Gesellschaft ein Zukunfts- und Erfolgsmodell des Westens präsentiert, in dem die ideologische Kluft zwischen links und rechts keine Rolle mehr spielen soll. Er bezieht sich ausdrücklich auf Jean Fourastiés Diagnose einer „Dienstleistungsgesellschaft“ aus den späten 1940er-Jahren, in der der tertiäre die beiden anderen Sektoren (Landwirtschaft und industrielle Produktion) dominieren werde. Der technische Fortschritt befördere die Herausbildung einer „tertiären Gesellschaft“, in der es keine Arbeitslosigkeit mehr geben werde, zumal der „Hunger nach Dienstleistungen“ prinzipiell unersättlich sei. Die von Fourastié beschriebene Dienstleistungsgesellschaft weist bereits Aspekte einer Wissensgesellschaft auf. So wies er auf die steigende Relevanz wissenschaftlicher Information für richtige Entscheidungen hin (Fourastié 1954, 290 f.) und beobachtete einen gesellschaftlichen Anstieg von Bildung, was er an der Verlängerung der Schulzeit historisch aufzeigt. Mit dem Konzept der „postindustriellen Gesellschaft“ betont Bell nicht so sehr die Entstehung einer Dienstleistungsgesellschaft, denn den Bedeutungsverlust der Industrieproduktion bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs theoretischen Wissens für Wirtschaft, Technologie und Politik. Bells Betonung von theoretischem Wissen ist auf die Ausbildungssituation der nunmehr notwendigen „Wissensarbeiter_innen“ gemünzt, die im Unterschied zu gelernten Facharbeiter_innen über einen akademischen Abschluss verfügen und – so die These – die industriellen Eigentümer_innen als zukünftige Machtelite ablösen. Entsprechend sieht Christiane Bender (Bender 2013, S. 22) einen Grund für den diskursiven Erfolg des Begriffs der Wissensgesellschaft darin, dass er „bei vielen Berufstätigen, bei Schülern und Studierenden die Erwartung, über den Erwerb von Wissen gesellschaftlich aufzusteigen“ schürt. Ähnlich argumentiert Bittlingmayer (Bittlingmayer 2005, S. 332), der Bildungsaufsteiger_innen als Träger_innen des Wissensgesellschaftsdiskurses der Gegenwart identifiziert. Bells Vision einer Wissensgesellschaft ist also in erster Linie ein Elitenmodell mit expertokratischen Zügen. Eine weitere Version von „Wissensgesellschaft“ und „Wissensarbeit“ entwickelt der Managementtheoretiker Peter F. Drucker. In seinem Werk bildet diese Thematik eine Konstante, um die sich seine Erkundungen gesellschaftlicher Veränderungen und Brüche drehen, beginnend bei seinen frühen Überlegungen zum Ende des „homo oeconomicus“ bis hin zur These einer post-kapitalistischen Gesellschaft (Steinbicker 2011, S. 20). In „The Age of Discontinuity“ diskutiert Drucker (Drucker

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1969) vier Neuerungen, die er als gesellschaftliche Diskontinuitäten deutet: neue Technologien, Globalisierung, institutioneller Pluralismus und Wissensarbeit. Ähnlich wie Bell betont auch Drucker die Wissensbasierung der neuen Industrien. Er meint jedoch, dass diese eine Wachstumsphase einleiten werde, die ein „unternehmerisches“ Management im Sinne von Joseph A. Schumpeter erfordern, das Freiräume braucht, um zum Träger „kreativer Zerstörung“ zu werden. Insofern solle der Staat geeignete Rahmenbedingungen für unternehmerische Aktivitäten schaffen, womit Drucker zentrale neoliberale Forderungen antizipiert. Bell hingegen geht von steigender Abhängigkeit wissensbasierter Industrien von staatlich finanzierter Grundlagenforschung aus und unterstreicht die Relevanz theoretischen Wissens für die (sozial-)wissenschaftliche Kontrolle gesellschaftlichen Wandels, für die Erforschung der Zukunft, als Quelle von Innovation und nicht zuletzt als Ausgangspunkt gesellschaftlich-politischer Programmatiken (Höhne 2003, S. 31). Während Bell das Ideal einer „universitären Gelehrtenrepublik“ (Bender 2013, S. 26) zeichnet, fokussiert Drucker auf Erfordernisse professionellen „Wissensmanagements“ in Organisationen und Unternehmen. Drucker geht in seinen Ausführungen von einer pluralen Welt aus, bestehend aus funktional spezialisierten Organisationen (z. B. Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Gewerkschaften oder Kindertagesstätten), die keiner externen Entscheidungsinstanz bedürfen, weshalb es eine Neubestimmung der Rolle des Staates in der und für die Gesellschaft geben müsse – eine Idee, die insbesondere von Helmut Willke (Willke 1997) in seiner Lesart von Wissensgesellschaft als „Supervision des Staates“ weiterverfolgt werden sollte. Thomas Höhne (Höhne 2003, S. 34 ff.) macht auf „Kybernetisierungen“ aufmerksam, die den Diagnosen von Wissensgesellschaft inhärent seien. Durch Zentralsetzung technischen Fortschritts und Innovation werden soziale Technologien mit den gleichen systemisch-kybernetischen Theorien beschrieben, wie sie für Computer und Informationstechnologien entwickelt worden sind (Höhne 2003, S. 33). Nicht zufällig spricht auch Touraine (Touraine 1971, S. 3) von der „programmed society“. Bei Kybernetisierung geht es um Steuerung und Kontrolle komplexer Systeme durch möglichst rasche, technisch gestützte Verarbeitung großer Datenmengen zu effektiven Informationen.5 Doch komplexe Systeme entziehen sich externer Steuerung durch vielfältige Wechselwirkungen ihrer Elemente und Prozesse der Selbstorganisation. Wissensgesellschaft gilt nun als ein ebensolches komplexes System, dessen Selbststeuerungskapazität zunehmend auf Wissen beruht. Mit dieser Vorstellung tritt ein fundamentaler Wandel in der Debatte ein. Während im Diskurs der Wissensgesellschaft I ein technokratischer Planungsoptimismus vorherrscht und Konsens darüber besteht, dass das politische System entscheidende Regulationsfunktionen für die Wissensgesellschaft übernehmen muss und der Nationalstaat redistributive Aufgaben für die Gesellschaft erfüllt, ist der sozialwissenschaftliche Diskurs von Wissensgesellschaft II mit neuen Technologien,

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Byung-Chul Han (2014, S. 80, Hervorh. im Orig.) warnt vor einer neuen Ideologie, die er „Dataismus“ nennt, die durch die technische Möglichkeit, große Datenmengen in kurzer Zeit zu sammeln, entsteht. „Der Datatismus, der glaubt, jede Ideologie hinter sich lassen zu können, ist selbst eine Ideologie. Der Dataismus führt zu einem digitalen Totalitarismus.“

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Beschleunigung, „Unüberschaubarkeit und fehlenden Möglichkeiten zur planhaften politischen Steuerung semantisch gekoppelt“ (Bittlingmayer 2005, S. 43). Lediglich der Fortschrittsoptimismus wirkt fort. In der neueren Debatte zur Wissensgesellschaft betont Willke, dass es dabei nicht nur um technische Daten- bzw. Informationsverarbeitung geht (Informationsgesellschaft), sondern um den Umgang mit Wissen und Nicht-Wissen (Wissensgesellschaft). Information und Wissen unterscheiden sich darin, dass Wissen an Kontexte bzw. an Systemrationalität gebunden ist. Gesellschaftliche Subsysteme produzieren das für ihr eigenes Überleben erforderliche Wissen zunehmend selbst und erlangen damit echte Unabhängigkeit vom politischen System und dessen Versuchen einer autoritativen Steuerung. Sie emanzipieren sich von der Evolution, da zum ersten Mal in der Geschichte nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft, oder besser eine Vision der Zukunft, relevant für die weitere Entwicklung ist. Systeme beginnen strategisch zu handeln (Willke 2003, 31 f.). Das heißt sie versuchen sich selbst und andere zu steuern, indem sie unter Myriaden kontingenter Möglichkeiten relevantes Wissen strategisch auswählen (Willke 2002, S. 18). Mit diesen Entscheidungen produzieren sie zugleich Nicht-Wissen, jenes Wissen, das sie nicht wählen. Die Unfähigkeit mit Nicht-Wissen kompetent umzugehen, führt zur Krise des Wissens und damit zur Krise der Wissensgesellschaft. Politik und Staat sind nun angehalten, die Selbststeuerungs- und Verhandlungsprozesse der gesellschaftlichen Systeme (oder Organisationen) zu begleiten und zu moderieren. Was also in der zukünftigen Wissensgesellschaft vonnöten ist, sei Smart Governance (Willke 2007) – eine intelligente Regierungsweise für intelligente Systeme, die an ihrer Lenkung selbst beteiligt sein müssen. Nico Stehr (Stehr 1994) knüpft in seinen Überlegungen zur Wissensgesellschaft an die Arbeiten von Daniel Bell an. Stehr (Stehr 2001, S. 10) schlägt vor, jene Gesellschaftsformation als Wissensgesellschaft zu bezeichnen, in der Wissen nicht nur konstitutives Merkmal der Ökonomie ist, sondern zum Organisationsprinzip, aber auch zur Problemquelle der Gesamtgesellschaft geworden ist. Er definiert „Wissen“ in Anlehnung an Francis Bacon als (soziales) Handlungsvermögen, zugleich als ein Modell für die Wirklichkeit, das ermöglicht, Realität zu verändern (Stehr 2001, S. 8). Wissen wird so gesehen zum Maß für (ungleiche) Verteilung von Handlungsoptionen und versorgt Einzelne und kleine Gruppen mit erweiterten Handlungsspielräumen, die die „Macht der großen Institutionen“ (Staat, Kirche, Militär) zu unterminieren vermögen (Stehr 2001, S. 10). Wissende können somit nicht mehr durch Bürokratie oder zentrale Planung in ihren Handlungen gesteuert oder gelenkt werden. „Indem die Voraussetzungen und Chancen einer effektiven politischen Partizipation vieler wachsen, vermindert sich unter anderem die Fähigkeit des Staates, seinen Willen durchzusetzen.“ (Stehr 2001, S. 12) Das emanzipatorische Versprechen dieser Fassung von Wissensgesellschaft ergänzt Stehr durch die Forderung einer „Wissenspolitik“ (Stehr 2003), die sich als eigenes Politikfeld der Überwachung und Kontrolle des zukünftig zu generierenden Wissens widmen solle, was notwendig werde aufgrund der prinzipiellen Unsicherheit wissenschaftlichen Wissens, das nicht Wahrheit schlechthin ist, sondern lediglich Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten bereit hält. Bei Stehr wird Wissen zum Politikum.

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Sowohl Willke als auch Stehr problematisieren Unsicherheit und Kontingenz, die eine Wissensbasierung von Gesellschaft und Ökonomie mit sich bringe. Beide behaupten demokratisierende und emanzipatorische Tendenzen, die der Transformation zur Wissensgesellschaft inhärent seien, und beide gehen von einem historischen Bruch in der gesellschaftlichen Entwicklung aus: „Wissensgesellschaften repräsentieren eine soziale und ökonomische Welt, in der Ereignisse oder Entwicklungen zunehmend ‚gemacht‘ werden, die zuvor einfach ‚stattfanden‘.“ (Stehr 2001, S. 10) Die neue Qualität des Gesellschaftstypus beruhe somit auf seiner Emanzipation aus Naturzwängen und Schicksalshaftigkeit, schließlich aber auch auf der Formierung aktiver Subjekte (Systeme), die an gesellschaftlicher Gestaltung partizipieren können, weil sie sich selbst zu regieren und zu optimieren wissen (Junge 2008, S. 297 ff.). Diese Vorstellungen von gesellschaftlichen Subsystemen, Organisationen und Subjekten, die sich vorrangig selbst regieren können und sollen – keiner direkten politischen Steuerung bedürfen oder gar nicht intentional regulierbar sind – erwiesen sich als kompatibel mit dem seit den 1970er- und 1980er-Jahren hegemonial werdenden politischen Diskurs des Neoliberalismus. Die Affinität zu neoliberalen Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichte oder erleichterte zumindest das Einsickern in politische Diskurse. Im Gegensatz zum Wissensgesellschaftsdiskurs war der Neoliberalismusdiskurs von Anfang an ein politisch-strategisches Projekt (Harvey 2007, S. 29 ff.; Kreisky 2001a, b). Die nun im politischen Diskurs zirkulierenden Begriffe wie „Bildungskonto“, „Bildungsvorsorge“ oder „Humankapital“ sind über neoliberale Strategien popularisiert worden. Daher kann in politischen Programmatiken eine Ökonomisierung der Sprache und Gedankenwelt beobachtet werden. Ganz im Gegensatz zur Rhetorik marktvermittelter Selbststeuerung gesellschaftlicher Prozesse und auch im Unterschied zum sozialwissenschaftlichen Diskurs ermöglicht das Konzept der Wissensgesellschaft Anschluss an die technokratischen und expertokratischen Steuerungsfantasien der 1960er-Jahre. Gesellschaftlicher Wandel findet statt, soll aber, wenn schon nicht geplant, so doch durch diverse Steuerungsimpulse begleitet werden.

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Kritische Theorie als Forschungsprogramm

Die unter dem Label „Wissensgesellschaft“ diskutierten gesellschaftlichen Veränderungen waren früh Gegenstand herrschaftskritischer Auseinandersetzung und deshalb auch wiederkehrende Themen im Programm Kritischer Theorie. Einige dieser Debatten bilden die Verlängerungsachse solcher Probleme, die bereits in der Phase der Herausbildung des Fordismus in den 1920er- und 1930er-Jahren diskutiert worden sind. Dazu zählen u. a. • Wirkungen von technischem Fortschritt und Rationalisierung auf Produktionsund Arbeitsverhältnisse, • daraus resultierende Verschiebungen innerhalb der Sozialstruktur von Arbeit durch steigende Zahl höher gebildeter Angestellter und Manager bei gleichzeitiger Schrumpfung der Industriearbeiterschaft,

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• die Aufweichung von Klassenbewusstsein und der Abschied von der Idee des Proletariats als revolutionäre Kraft, • die Veränderung der Rolle kritischer Intellektueller, die nicht länger als Avantgarde des Proletariats imaginiert werden können, • und vor allem kulturelle und ideologische Verschiebungen, die durch neuartige Subjektpositionen zu politischen Allianzen zwischen herrschenden und Teilen der beherrschten Klassen führen. Siegfried Kracauer verfasste essayistische Studien zur neuen Mittelschicht im Berlin der 1920er-Jahre. „Die Angestellten“ (Kracauer 1971) wurde 1929 als Serie in der Frankfurter Zeitung publiziert und 1930 als Buch veröffentlicht.6 Darin beschreibt Kracauer einen durch technische Rationalisierung hervorgebrachten neuen Typus des Arbeiters,7 der sich in seinem Lebensstil (Konsum und politisches Bewusstsein) von traditionellen Industriearbeitern unterscheidet (Neckel 2006, S. 289 f.). Angestellte haben einen höheren Schulabschluss oder eine kaufmännische Lehre und gleichen in ihren Tätigkeiten eher Beamten als Arbeitern (Kracauer 1971, S. 82). Sie seien „geistig obdachlos“, denn die Masse der Angestellten lehne das Dach aus vulgärmarxistischen Begriffen ab, und „das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen worden sind“ (Kracauer 1971, S. 91). Obwohl viele Angestellte in Folge der Wirtschaftskrise ökonomisch sogar schlechter gestellt seien als manche Arbeiter, seien sie auf Distinktion zu diesen bedacht und versuchen sich kulturell dem Bürgertum anzugleichen. Mit seinen Einschätzungen nimmt Kracauer aktuelle Lesarten kommerzieller Populärkultur ebenso vorweg wie einige Thesen zur Kulturindustrie, die später von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno formuliert worden sind (Neckel 2006, S. 290). Dabei schließen Kracauers Untersuchungen bereits an vorgängige Debatten über Verbürgerlichung der Arbeiter an und akzentuieren noch einmal die bereits von Karl Marx in der Deutschen Ideologie diskutierte Trennung von Kopf- und Handarbeit. Auch in der Diskussion um die Wissensgesellschaft ist das Thema sozialen Aufstiegs und kultureller sowie symbolischer Formierung einer neuen funktionalen Bildungsschicht, die nunmehr auch Frauen zugänglich sein könnte, präsent. Während Kracauer die Durchsetzung des Fordismus und den beginnenden ManagerKapitalismus (Burnham 1951) vor Augen hatte, wird in der aktuellen Entwicklung ein neoliberaler Berater-Kapitalismus identifiziert (Resch 2005). In kritischer Perspektive wäre zudem der Zusammenhang zwischen neoliberalem Kapitalismus und einem modifizierten Maskulinismus in den Blick zu nehmen (Kreisky 2014). Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine Auseinandersetzung mit den Anfängen neoliberaler Ideologie und der Institutionalisierung von Gewerkschaf-

6 Fast zeitgleich 1929/30 wurde unter der Leitung von Erich Fromm (1980) eine Studie zur (politischen) Einstellung von Arbeitern und Angestellten in Berlin durchgeführt, in der erstmals der „autoritäre Charakter“ definiert und empirisch erhoben wurde. 7 Einige Funktionäre der Arbeiter_innenbewegung hegten die Hoffnung, dass Rationalisierung den Weg zum Soziaismus ebnen könnte (vgl. z. B. Bauer 1931).

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ten, die sich – wie Horkheimer 1947 ausführt – zu Managern der Arbeiterschaft entwickeln. „Die Arbeitskraft eines Arbeiters wird nicht nur von der Fabrik gekauft und den Erfordernissen der Technik untergeordnet, sondern auch durch die Gewerkschaften verwaltet.“ (Horkheimer 2008, S. 153) Dies vollende zwar den Prozess der Verdinglichung des Menschen, weil nun die Arbeiter noch einmal manipuliert werden von Arbeiterführern, die den Preis ihrer Arbeitskraft „so hoch wie möglich fest(zu)setzen“ (Horkheimer 2008, S. 153). Doch das (hier wäre zu ergänzen: männliche) Gewerkschaftsmonopol sieht er als Folge eines gewandelten Kapitalismus, der die „Ära des freien Unternehmens“ (Horkheimer 2008, S. 144) abgelöst habe. Obwohl Neoliberalismus erst ab den 1970er- und 1980er-Jahren zur dominanten ökonomischen Doktrin werden sollte, zeigt sich in Horkheimers Reflexionen die Relevanz dieses Denkens für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg (Plehwe und Walpen 1999). Dementsprechend warnt er vor neoliberalen Forderungen, die sich vornehmlich gegen organisierte Arbeiterinteressen des Fordismus richten: „Die Neoliberalen, die die Gewerkschaftspolitik bekämpfen, geben sich einem veralteten Romantizismus hin, und ihr Vorstoß in die ökonomische Wissenschaft ist gefährlicher als ihre Bemühungen auf philosophischem Gebiet.“ (Horkheimer 2008, S. 153) Herbert Marcuse (1994) geht in seiner herrschaftskritischen Auseinandersetzung mit der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft ebenfalls von fundamentalen Veränderungen der Klassenstruktur im Spätkapitalismus aus. Der eindimensionale Mensch untersucht die Diffundierung technologischer Rationalität in alle gesellschaftlichen Bereiche. Sämtliche Lebenssphären werden den Imperativen technischer Vernunft unterworfen, wirtschaftliche Organisation ebenso wie Politik und Kultur. Damit werde die kapitalistische Tendenz zur Versachlichung politischer Herrschaft auf die Spitze getrieben (Dubiel 1992, S. 62). Rationalisierung bedeutet bei Marcuse auch, dass sich der ausbeuterisch-unterdrückende Charakter kapitalistischer Herrschaft verliere, indem er sich „rational“ gibt, ohne dass damit politische Herrschaft verschwinde (Habermas 1969, S. 50). Während frühere Entwicklungsniveaus der bürgerlichen Gesellschaft noch Möglichkeiten politischer Transzendenz (z. B. in der Kunst) enthielten, sei in der eindimensional von technischer Rationalität beherrschten Gesellschaft politische Fundamentalkritik unmöglich geworden. „Die totalitären Tendenzen der eindimensionalen Gesellschaft machen die traditionellen Mittel und Wege des Protestes unwirksam.“ (Marcuse 1994, S. 267) In seiner Diagnose greift Marcuse auf die Kritik „instrumenteller Vernunft“, die Analysen der „Kulturindustrie“ sowie die Diskussion der Rolle der „Intellektuellen“ zurück, die Horkheimer und Adorno (Horkheimer und Adorno 1969) in der Dialektik der Aufklärung dargestellt haben. Marcuse war ein Theoretiker der Befreiung (Marcuse 1969; Claussen 1981), und in diesem Sinne davon überzeugt, dass die hoch industrialisierte Gesellschaft des Spätkapitalismus einen Punkt erreichen werde, an dem ein Umsturz der herrschenden Gesellschaftsform erfolgen könne. „Weiterer Fortschritt würde den Bruch bedeuten, den Umschlag von Quantität in Qualität. Er würde die Möglichkeit einer wesentlich neuen menschlichen Wirklichkeit eröffnen – nämlich eines Daseins in freier Zeit auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse.“ (Marcuse 1994, S. 242) Im Diskurs der Wissensgesellschaft nimmt

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vor allem André Gorz (2002) diese Vision einer utopischen Gesellschaft auf, die seiner Meinung nach eine echte Wissensgesellschaft wäre, im Unterschied zum Wissenskapitalismus der Gegenwart, in dem nicht die freie Entfaltung des Individuums angestrebt, sondern Wissen auf ökonomisch verwertbares Fachwissen reduziert werde. Schon Marcuse (Marcuse 2006, S. 42) erkannte die Gefahr, dass der quantitative Fortschritt, die Möglichkeit einer qualitativen Transformation hin zu einer freien Gesellschaft gefährden könnte. Die Autoren der Kritischen Theorie formulieren somit Herrschaftskritik und emanzipatorische Hoffnungen im Rahmen des zu ihrer Zeit sichtbaren gesellschaftlichen Wandels, ohne jedoch die männliche Hegemonie adäquat zu problematisieren.

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Kritische Theorie als zeitdiagnostisches Forschungsprogramm

Kritische Theorie ist weder als homogene Theorieschule vorzustellen, noch ist sie unabhängig von variierenden gesellschaftlichen Erfahrungen zu denken. So ist sie zunächst als Reaktion auf die Epoche faschistischer Unmenschlichkeit und – nachfolgend – als Reflexion ambivalenter „fordistischer“ Modernisierungsschritte zu lesen. Mit zunehmender Krise des Fordismus hat auch die Herrschaftskritik der Frankfurter Schule Ausweitungen erfahren und dementsprechend divergierende Strömungen Kritischer Theorie generiert.8 Kritische Theorie umfasst also unterschiedliche Zugangsweisen, die trotz aller Breite und Ausdifferenzierung einen gemeinsamen harten Kern aufweisen, eine „Schule“ bilden, indem sie Forderungen nach Emanzipation und Befreiung folgen (Steinert 2007, S. 10). Zudem weiß Kritische Theorie, dass sie selbst Teil der Gesellschaft ist, die sie analysiert (Adorno 1975) und „jede Theorie selbst eine Aktivität, eine Praxis [ist], die mit Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen will“ (Demirović 2012, S. 82). Heinz Steinert (Steinert 2007, S. 15) vertritt die These, „dass sich die verschiedenen Dimensionen dessen, wozu sich Kritische Theorie ausdifferenziert hat, unter den Bedingungen des inzwischen durchgesetzten und ‚gereiften‘ Neoliberalismus als Aktualisierung der Dialektik der Aufklärung eng führen lassen“. Dieser Schlüsseltext hält auch zur Verfolgung einer „Kritischen Theorie der Wissensgesellschaft“ relevante Konzepte und Begriffsfelder bereit: Adornos Theoriearbeit zur Kulturindustrie (Horkheimer und Adorno 1969; Adorno 2003a) und Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft (Horkheimer 2008, S. 42 ff.). Beides gilt es, im Zeitkontext des Spätkapitalismus zu verstehen, und für eine Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus zu aktualisieren. Die Vorzüge Kritischer Theorie liegen in ihrem weiten 8

Kritische Theorie umfasst aus Sicht der Autorinnen nicht nur Arbeiten der Frankfurter Schule und ihrer Schüler_innen wie z. B. Regina Becker-Schmidt, Sheila Benhabib, Nancy Fraser, Jürgen Habermas, Claus Offe, sondern auch gesellschafts- und herrschaftskritische Ansätze, die emanzipatorischem Denken verbunden sind – wie z. B. Arbeiten von Louis Althusser, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe.

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Gesellschafts- (vgl. hierzu die Beiträge in Abschn. 2.1 des Handbuchs) und ebenso weiten Kulturbegriff (vgl. hierzu die Beiträge in Abschn. 3 des Handbuchs), die zur Kapitalismuskritik eingesetzt werden. Dies erlaubt auch, politische Ökonomie gesellschafts- und kulturtheoretisch zu fassen. Kapitalismus als soziales Verhältnis – die Verwandlung von Arbeit in Ware – unterliegt gesellschaftlichen Transformationen. So entdeckt der Kapitalismus „in sich selbst Ressourcen“ (Adorno 2003b, S. 354), die seinen Zusammenbruch aufzuhalten vermögen. Der Kapitalismus erweist sich demnach „elastischer“, als ihn Marx gedacht hat (Adorno 2003b, S. 355). In diesem Sinne gilt zu fragen, inwiefern der Diskurs zur Wissensgesellschaft lediglich das „neue Gesicht des Kapitalismus“ (Hirsch und Roth 1986; Boltanski und Chiapello 2006), den Neoliberalismus, ideologisch begleitet und stützt, und Subjekte konstituiert, die einer neoliberalen illusio im Sinne Pierre Bourdieus9 unterliegen (Bührmann 2010, S. 341). Die Phänomene von Kulturindustrie und Wissensgesellschaft überlappen sich, selbst wenn sie konträren Theorietraditionen entspringen: einer neo-marxistischen Gesellschaftsperspektive und feministischer Kritik einerseits und der Theoretisierung neo-liberaler Politikprogrammatik andererseits. Kulturindustrielle Aspekte tauchen oberflächlich beschreibend auch in neoliberalen Zukunftsräumen auf. Kern des Slogans neoliberaler Wissensgesellschaft ist das uneingeschränkte Zur-WareMachen von Wissen und Kultur im „Berater-Kapitalismus“ (Resch 2005, S. 83 f.). Horkheimer und Adorno konstatierten im Laufe der 1940er-Jahre einen öffentlichen Zustand des Denkens, „in dem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 2). Die „waren- und verwaltungsförmige Zurichtung schon des Denkens“ (Steinert 2007, S. 7) sowie der gesellschaftliche bzw. diskursive Triumph instrumentellen Wissens- und Wissenschaftsgebrauchs über emanzipatorisch-kritisches Wissen (Demirović 2012, S. 81) bilden den Ausgangspunkt kritisch-theoretischer Begrifflichkeit im Umgang mit aktuellen Phänomenen der Wissensgesellschaft. „Kulturindustrie“ ist die Form gesellschaftlicher Herrschaft, die alles (Denken, Wissen, Gefühle und Kultur) in Warenform bringt und somit als Tausch- bzw. Vertragsverhältnis präsentiert, womit der Anschein von Freiwilligkeit und Mitgestaltbarkeit erweckt wird. Im Diskurs der Wissensgesellschaft wird auf postmaterialistisch orientierte mündige Bürger_innen und Konsument_innen verwiesen, die ihre Freiheit verwirklichen, indem sie aus dem unübersichtlichen Angebot von Waren (Politiken, Dienstleistungen, Kunstwerken) wählen. Dabei bleibt „zweifelhaft [. . .], ob ihre Wünsche wirklich die ihren sind“ (Horkheimer 2008, S. 70). Zudem stellt sich die Frage, inwiefern „nicht sogar Elemente alternativer und emanzipatorischer Lebens- und Arbeitsformen“ (Kreisky 2007, S. 24) in neoliberale Lebenswelten integriert worden sind, oder – umgekehrt –, ob die kapitalistische „Landnahme“ (Neckel 2008, in Anlehnung an Rosa Luxemburg 1975/1913) eine (neoliberale) Lebensform generiert, in der das ökonomische Handeln, Gefühle und

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Bourdieu bezeichnet mit illusio (abgeleitet vom lateinischen Wort ludus, das Spiel) den Sinn für das Spiel am sozialen Feld. Die illusio überzeugt den/die Spieler_in davon, dass es wert ist, das Spiel nach den Regeln des Feldes zu spielen.

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Sinnwelten regiert (vgl. zum Landnahme-Theorem ausführlich den Beitrag von Dörre im Handbuch). Ein emphatischer Begriff der Wissensgesellschaft zielt darauf, das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft, wonach jedes Individuum frei ist und zu seinem Recht kommt, einzulösen. Dabei wird der im Begriff der Kulturindustrie angelegte Fokus auf Unterwerfung zugunsten des Scheins von Freiwilligkeit und Handlungsfreiheit negiert. Immanente Kritik zeigt die Diskrepanz auf zwischen solchen Errungenschaften und deren verweigerter Verwirklichung in der kapitalistischen (Wissens-)Gesellschaft. Als Träger von Wissen und Können steht das Individuum im Fokus der Wissensgesellschaft, dessen Freiheit zur Bildung und Fähigkeit zur Selbstregierung betont, dessen Einbindung in den kapitalistischen Herrschaftszusammenhang jedoch weitgehend übersehen wird. Produktionsweisen verändern sich, können sogar radikal umgebaut werden, ohne damit den Kapitalismus zu überwinden. Kapitalistische Umbauten führen kaum zu gesteigerter Autonomie, sondern eher zur Vermehrung der Privilegien der Herrschenden. Während Horkheimer und Adorno den Wandel vom liberalen Konkurrenzkapitalismus zum autoritären Monopolkapitalismus vor Augen hatten, schlägt Steinert (Steinert 2007, S. 219) vor, den industriellen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, den Fordismus des kurzen 20. Jahrhunderts und schließlich den Neoliberalismus seit den 1980er-Jahren zu unterscheiden. Parallel dazu kann mit Resch (Resch 2005) zwischen Eigentümer-, Manager- und Berater-Kapitalismus differenziert werden, mit Klaus Dörre (Dörre 2009) und Sighard Neckel (Neckel 2010) wird der Fokus auf die rezente Rolle der Finanzmärkte gerichtet, die zu einer Konzentration des privaten Finanzvermögens in der „Beletage der sozialen Rangordnung“ (Neckel 2010, S. 5) führt. Die neue „Finanzaristokratie“ hat sich vom bürgerlichen „Sparkapitalismus“ verabschiedet und zeigt einen Hang zur Verschwendung. Die „normative Refeudalisierung im Finanzmarktkapitalismus“ löst die „protestantische Ethik“ (Max Weber) mit ihren Werten von Leistung und Sparen ab. „Stattdessen gelten ‚Selbstverantwortung‘ und ‚Eigeninitiative‘ als Leitbilder der Gegenwart.“ (Neckel 2010, S. 7) Die Wissensgesellschaft ist so gesehen von neoliberalem Finanzmarktund Berater-Kapitalismus geprägt, wobei Beratung ein Paradebeispiel für die Warenförmigkeit von Wissen abgibt, die im Wissensgesellschaftsdiskurs mitunter bestritten wird: „Wird Wissen [. . .] verkauft, so geht es wie im Fall der Ware an den Käufer über, bleibt aber ganz im Gegensatz zur Ware weiter Eigentum seines ursprünglichen Produzenten.“ (Stehr 2001, S. 9) Diese Einschätzung übersieht, dass „organisationales oder institutionelles Wissen“ wie es z. B. Willke (Willke 1998, S. 166) betont, immer schon enteignet ist, da es in „hochvergesellschafteten Arbeitszusammenhängen“ (Wolf 2004, S. 231) hergestellt wird und daher nie Eigentum der Produzent_innen ist.10 Wissensproduktion in netzwerkartigen Organisationen zielt daher nicht auf Autonomie „im Sinne einer Selbstgesetzgebung im Gemeinwesen der Arbeit“11 (Wolf 2004, S. 238), sondern setzt auf „Selbst-Organisation“, die ihrerseits als

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Auch aktuelle Debatten um Patente, Lizenzen und Copyrights zeugen von diesem Dilemma. Zentral für dieses Verständnis von Autonomie ist, dass es nicht auf die Fiktion eines autonomen Subjekts abstellt, sondern auf soziale Autonomie und reale Demokratie gerichtet ist (Wolf 2004, S. 239 f.). 11

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naturwüchsiger, evolutionärer oder marktgesteuerter Anpassungsprozess imaginiert wird (Wolf 2004, S. 230). Das warenförmige Wissen von Expert_innen und Berater_innen hat somit auch nichts mit der Suche nach gesellschaftlichen Wahrheiten zu tun. Vielmehr mutiert es „zu marktfähiger Ware, die rasch konsumiert oder durch neues Wissen ersetzt wird“ (Kreisky 2007, S. 23). Instrumentelle Vernunft ist nicht auf die Produktionssphäre beschränkt. Ihre Wirkungen können in allen Dimensionen gesellschaftlicher Organisation und individueller Existenz (Wissenschaft, Politik, Kultur, Sexualität etc.) untersucht werden. Instrumentalität zerstört ihr Anderes: instrumentelle Politik zerstört die Demokratie, instrumentelle Wissenschaft verdrängt reflexive Philosophie, intellektuelle Produktion passt sich den Imperativen der Kulturindustrie an, dem Individuum werden die gesellschaftlichen Grundlagen von Autonomie entzogen usw. (Steinert 2007, S. 220). Steinert schlägt vor, die Auswirkungen von Instrumentalität in den einzelnen Bereichen (z. B. Bildung, soziale Sicherung, Exklusion) zu untersuchen und darüber hinaus sichtbar zu machen, welche nicht-instrumentellen, nicht-warenförmigen Beziehungen vorausgesetzt oder ermöglicht werden. In Bezug auf die Wissensgesellschaft würde dies die Frage nach den Nicht-Gebildeten umfassen, den sozial Prekarisierten, aber auch nach den Sympathisant_innen ausgrenzender Politikstrategien, die Horkheimer (Horkheimer 2008, S. 130) in Bezug auf den Nationalsozialismus als „Opfer der instrumentellen Vernunft“ bezeichnet hat. Selbst Willke (Willke 1997) kennt in seiner Diskussion der Wissensgesellschaft ein „kognitives Proletariat“ oder „die neuen Dummen“, die ausgeschlossen bleiben und trotz hoher Bildungsabschlüsse die Verlierer_innen wissensgesellschaftlicher Transformationen sind. Er verwendet diese Ausdrücke, wie Resch (Resch 2005, S. 48) betont, ohne Anführungszeichen und affirmativ. Für eine kritische Analyse solcher Phänomene bietet sich der Begriff „Ticketdenken“ an (Steinert 2007, S. 232), den Horkheimer und Adorno (Horkheimer und Adorno 1969, S. 214) als „Produkt der Industrialisierung und ihrer Reklame“ bezeichnen, und der das Denken in den Kategorien „Wir“ und „die Anderen“ befördert. Ticketdenken heute sichert breite Unterstützung sozialer und politischer Ausschließungen mittels Etiketten wie „Asylbetrüger“, „Sozialschmarotzer“ oder „Wirtschaftsflüchtling“. Dies erlaubt es, die neoliberale illusio herzustellen und zu festigen. Denn der Diskurs der Wissensgesellschaft bietet Klassen und Individuen die Möglichkeit, an soziale Aufstiegschancen zu glauben und täuscht damit über die eigentlichen Machtstrukturen hinweg (Bührmann 2010, S. 341). Wer also das neoliberale Spiel mitspielt, trägt zur Reproduktion der neoliberalen Ordnung bei. Die Rolle der (kritischen) Intellektuellen kann nicht mehr darin bestehen, die Avantgarde des Proletariats zu sein. Vielmehr „geht es um Kämpfe und Konkurrenzen zwischen den Intellektuellen und ihren Fraktionen“ (Steinert 2007, S. 222), womit zugleich die Intellektuellen selbst in ihrem eigenen Bereich auf Befreiung hin arbeiten müssen, also nicht auf die Erhebung der unterdrückten Klasse oder des marginalisierten Geschlechts setzen können. Problematisch erscheint, dass sich der überwiegende Teil der Gebildeten als „Herrschafts-Funktionäre“ in der Kulturindustrie einrichten. Der „nonkonformistische Intellektuelle“ (Demirović 1999) hingegen ist in keine Apparate eingespannt, sondern gewinnt Autonomie durch „öffentliche

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Einsamkeit“. „Der nonkonformistische Intellektuelle ist nicht Herrschafts-Berater, weder Philosophen-König noch Moral-Schiedsrichter, sondern er erinnert die Gesellschaft an ihre eigenen Versprechungen und Möglichkeiten und präsentiert ihr ihre eigene herrschaftliche Wirklichkeit.“ (Steinert 2007, S. 223) In diesem Sinne haben Luc Boltanski und Ève Chiapello (Boltanski und Chiapello 2006, S. 22) die Frage aufgeworfen, „wie es kommen konnte, dass sich viele 68er in der neu entstehenden Gesellschaft in einer Art und Weise wohl fühlten, dass sie diese sogar verteidigten und diesen Umbau förderten“. Die von ihnen anvisierten Akteur_innen sind Intellektuelle, die sich in der neuen Herrschaftsarchitektur der neoliberalen Wissensgesellschaft eingerichtet haben. Für Stehr (Stehr 1994, S. 379 f.) ist dieses Phänomen geradezu ein Definitionsmerkmal der Wissensgesellschaft, denn Intellektuelle seien „Geschöpfe der Industriegesellschaft“. In der Wissensgesellschaft hingegen seien Expert_innen „die am schnellsten wachsende Berufsgruppe“. Während Intellektuelle über Allgemeinwissen verfügen, definieren sich Expert_innen über Spezialwissen, das sich leichter in marktfähige Ware verwandeln lässt. Damit wird einmal mehr die Engführung der Bildung auf ökonomisch verwertbares und instrumentelles Wissen (Demirović 2012, S. 81) als Kennzeichen der Wissensgesellschaft aufgerufen, ohne die damit verbundene Problematik zu benennen: die von Horkheimer und Adorno (Horkheimer und Adorno 1969) befürchtete Aufspaltung des Wissens in instrumentelle Wissenschaft und emanzipatorische Kritik. Es scheint, als habe „neoliberale Funktionalität affirmativ-instrumentellen Wissens über den Impetus emanzipatorisch-kritischen Wissens triumphiert“ (Kreisky 2007, S. 25). Mit der Betonung von Wissen in gegenwärtigen Gesellschaften werden immer mehr „wissensfundierte Berufe“ (Stehr 2001, S. 23) wie Berater_innen oder Gutachter_innen geschaffen. „So haben sich warenförmiges Wissen und der Typ des dienstleistenden Wissensarbeiters zum aktuellen Vergesellschaftungsprinzip verallgemeinert.“ (Kreisky 2007, S. 23) Wissensarbeiter_innen verfügen meist über eine akademische Ausbildung und folgen bereitwillig dem neoliberalen Gebot „lebenslangen Lernens“. Diese neuen Professionellen gewinnen in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft an Bedeutung (Bonß 2002, S. 5) und bilden eine neue Elite, „in ihrem Selbstverständnis gar die Avantgarde der flexiblen ‚brave new world‘, in ihrer Gesamtheit real jedoch eher die ‚prekäre Generation‘ neoliberaler Berufswelten“ (Kreisky 2007, S. 24). Bildungstitel verlieren in dem Maße an Bedeutung wie sie von immer mehr, auch sozial Schwachen, erworben werden können. Was zählt ist der Erfolg: die Umwandlung des symbolischen Kapitals eines akademischen Titels in ökonomisches Kapital (Bittlingmayer 2005, S. 291). So ist z. B. die Zahl von Frauen unter Universitätsabsolvent_innen zwar im Gefolge der Bildungsexpansion seit den 1970er-Jahren kontinuierlich angestiegen. Dieser Zuwachs findet aber keine Entsprechung im Frauenanteil an hoch dotierten Wissensberufen (Holland-Cunz 2005). Universitäre Ausbildung wird im Rahmen neoliberaler Hochschulreformen einerseits zur Ressource für die Entwicklung des individuellen Humankapitals und damit an die Erfordernisse des Arbeitsmarkts angepasst, andererseits werden Zugangsbeschränkungen verschärft, die auf Formierung einer neuen Bildungselite zielen. Geschlechterpolitische Gleichstellung entpuppt sich (nicht nur) am Bildungssektor mitunter als „rhetorische Modernisierung“ (Wetterer 2003).

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Fazit

Für die sozial rigorose Politik des Neoliberalismus leistet der Slogan von der Wissensgesellschaft gute Dienste. Denn das Phantasma neuer Eliten stimuliert die permanente Selbstoptimierung der Wissensarbeiter_innen. Anpassungen an neue ökonomische Anforderungen werden individualisiert, Fortbildung zunehmend in die Freizeit verschoben und zu einem Weiterbildungspostulat, dem sich die Subjekte unterwerfen, ausgebaut (Bittlingmayer 2005, S. 238). Die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem, zwischen Arbeit und Freizeit erodieren, und die systematische Überforderung wird in neoliberalen Arbeitswelten zur Normalität (Höhne 2003, S. 76). Speziell das „leistungselitäre Berufsbild der Berater“ ist durch Überstunden, permanente Mobilität und fehlendes Privatleben bestimmt (Leif 2006, S. 77). Die allgegenwärtige Rede von (individueller) Leistung führt zu einem „Erfolgskult“ (Neckel 2008), der mit der Betonung von Unabhängigkeit und Selbständigkeit das „unternehmerische Selbst“ (Foucault) zum allgemeinen Modell und Leitbild erhebt. „Das unternehmerische Selbst bezeichnet keine empirisch vorfindbare Entität, sondern die Richtung, in der Individuen verändert werden und sich verändern sollen.“ (Bröckling 2002, S. 178 f.) Das Subjekt der Wissensgesellschaft ist somit angehalten, sich als Ware und Produzent dieser Ware zu betrachten, sich permanent (z. B. durch Weiterbildung) zu optimieren und den eigenen Lebenslauf zu planen. Nicht nur Erfolg, auch das Scheitern wird individualisiert. Misserfolge müssen als individuelle Planungsdefizite verbucht werden (Bröckling 2007, S. 26), was eine kritische Reflexion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse blockiert. Kritische Theorie und Forschung reflektieren jedoch auch die Schattenseiten dieser Ideologie, die Allgegenwart des Prekariats (Bourdieu 1998). Prekarität meint nicht nur, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, eine befristete Stelle zu haben, in Kurz- oder Teilzeit zu arbeiten. Sie übt Druck aus, indem sie jedem/jeder Arbeitnehmer_in das Gefühl vermittelt ersetzbar zu sein und dass Arbeit zu haben ein Privileg darstellt, das zerbrechlich und bedroht ist. Darüber hinaus zeigen Studien zu Unternehmensgründungen, dass auch neue Formen der selbständigen Tätigkeit weit entfernt sind vom Bild des „Normalunternehmers“ (Bührmann 2012). Die Erwerbsform der Solo-Selbständigen, die nur die eigene Arbeitskraft reproduzieren wollen, ist so gesehen dem Leitbild des „Arbeitskraft-Unternehmers“ nicht unähnlich. Zudem durchlaufen fast alle Gründer_innen „eine Prekaritätszone zwischen Erfolg und Scheitern“ (Bührmann und Pongratz 2010, S. 12). Die Verschränkung von selbständiger und unselbständiger Arbeit trägt zum Niedergang traditioneller Klassenpolitik bei. Wissensgesellschaft verspricht demgegenüber eine Politisierung der Kultur bzw. eine Stärkung der Politik der Anerkennung. Nancy Fraser (Fraser 2002) betont jedoch, dass diese im Kontext des Neoliberalismus Gefahr laufe, die Politik der Umverteilung zu delegitimieren, und soziale Gerechtigkeit als politisches Ziel abzudrängen sowie die gesellschaftlichen Folgen zu verdrängen. „Statt bei einem vielfältigeren und reicheren Paradigma angelangt zu sein, das die Punkte Verteilung und Anerkennung gleichermaßen umfaßt, hätten wir ein beschränktes Muster gegen ein anderes

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eingetauscht: einen blinden Ökonomismus gegen einen blinden Kulturalismus.“ (Fraser 2002, S. 52) Anspruch Kritischer Theorie muss es aber bleiben, beide Aspekte zu verknüpfen. Nachdem die Rhetorik der Wissensgesellschaft zu Beginn des Jahrtausends noch politische Programmatiken zu beeinflussen vermochte – wie das Beispiel der erwähnten Lissabon-Strategie zeigt –, ist der damit verbundene Fortschrittsoptimismus spätestens seit der globalen Finanzkrise deutlich gedämpft. Trotz ökonomischer Krise bleibt jedoch neoliberale Hegemonie ungebrochen. Somit ist davon auszugehen, dass auch einige Motive der Wissensgesellschaftsdebatte aufgrund ihrer Amalgamierung mit neoliberaler Ideologie auch in Zukunft wieder auftauchen werden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass es gerade die emanzipatorischen Aspekte einer Idee der Wissensgesellschaft unter kapitalistischen Bedingungen sein werden.

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„Soziologen brauchen wir nicht“: Kritische Theorie, Arbeiterbewegung, Gewerkschaften Joachim Beerhorst

Zusammenfassung

Arbeiterbewegung und kritische Theorie der Gesellschaft stehen in einer ambivalenten Beziehung aus Nähe und Distanz, Kooperation und Konflikt, Verständigung und Verständnislosigkeit, wechselseitiger Anerkennung und Negation. Die Gewerkschaften verbinden mit Reflexion im Referenzrahmen der Kritischen Theorie die Erfahrung und die Erwartung erweiterter Möglichkeiten des Verstehens gesellschaftlicher Prozesse und der Orientierung gewerkschaftlichen Handelns – zugleich aber auch der Überforderung durch ihre Analysen und Postulate. Innerhalb der Kritischen Theorie scheint bis heute unentschieden, wie weit in der Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation die Gewerkschaften Teil der Lösung oder Teil des Problems oder ob sie überhaupt von Interesse sind. Arbeiterbewegung und Kritische Theorie haben in der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem jeweils anderen dabei als gemeinsamen Bezugspunkt nicht nur die Verarbeitung der politischen Niederlagen und enttäuschten Hoffnungen in historischen Schlüsselsituationen des 20. Jahrhunderts, sondern tragende übereinstimmende Motive. Der Beitrag zeichnet Überscheidungen und Abgrenzungen, aber auch das Motiv nach, arbeitet die gemeinsamen Motive heraus und argumentiert, dass beide in der Verfolgung ihrer Intentionen aufeinander verwiesen sind. Dabei geht es auch um die Frage, welche neueren Ansätze und Perspektiven, die aus dem Strömungszusammenhang der Kritischen Theorie hervorgegangen sind oder sich mit ihren Motiven verbinden lassen, heute für den Organisationszusammenhang der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, soweit sie an Kritik und Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse festhält, im Sinne theoretischer Konkretion und praktischer Nutzbarkeit von besonderer Bedeutung sind. Den Abschluss bilden Überlegungen zu einer normativ-kritischen Theorie der Gewerkschaften.

J. Beerhorst (*) Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_56

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J. Beerhorst

Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Arbeiterbewegung · Gewerkschaften · Michael Vester · Oskar Negt

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Einleitung

Wenn im Folgenden von Kritischer Theorie die Rede ist, dann ist damit der aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung hervorgegangene Theoriezusammenhang sozialphilosophisch fundierter Gesellschaftskritik gemeint, dessen Entwicklung man drei Generationen von politischen Intellektuellen zuschreibt. Der Text setzt sich überwiegend mit den von Adorno und Horkheimer als den prägenden Theoretikern der ersten Generation mit außerordentlicher gedanklicher Schärfe und Sprachmacht geschaffenen Grundlagen dieses politisch-philosophischen Diskurszusammenhangs auseinander, bezieht aber auch für das Thema relevante Vertreter der zweiten (Jürgen Habermas, Oskar Negt) und dritten (Alex Demirović, Axel Honneth) Generation mit ein. Mit Arbeiterbewegung ist allgemein die im Kern aus sozialdemokratischsozialistischer, später auch kommunistischer Partei und sozialistisch orientierten Gewerkschaften bestehende soziale Bewegung in Deutschland gemeint, die die aus dem Kapitalverhältnis hervorgehenden Bedrohungen und Einschränkungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängig Arbeitenden durch unmittelbare Verbesserungen und durch eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zurückdrängen und überwinden will. Da dieses Motiv nach vielen historischen Brüchen und Transformationen am ehesten und gegenwärtig bedeutsamsten noch in den der sozialistischen bzw. sozial-ethischen Traditionslinie zuzurechnenden Gewerkschaften anzutreffen ist, liegt der Schwerpunkt des Interesses bei ihnen. Dabei von „den Gewerkschaften“ zu sprechen, ist – zumindest im Hinblick auf die heutigen Gewerkschaften – eine problematische Verallgemeinerung; denn die Diskrepanz zwischen den ihnen in diesem Beitrag zugeschriebenen gesellschaftsverändernden Postulaten und Potenzialen und der realen Gewerkschaftspolitik (in einem Teil der Gewerkschaftsliteratur, auf den zurückzukommen ist, als „intermediäre“ Position zwischen den Klassen charakterisiert) ist offenkundig. Aber auch ein aus dieser Diskrepanz resultierendes Abschreiben der Gewerkschaften als möglicher Kraft von grundlegender Veränderung wäre eine falsche Verallgemeinerung – denn es ignorierte ökonomiekritische Deutungsmuster, Dynamiken, Brüche und Weiterungsmöglichkeiten in den Erfahrungen, im Bewusstsein und im Agieren von Menschen in lohnabhängiger Existenz und ihren Organisationen.1 1

Neben kapitalismuskritischen Zielbeschreibungen in Gewerkschaftssatzungen und Programmdokumenten gehören dazu gegenwärtig vor allem die Auseinandersetzungen um eine emanzipatorische Arbeitspolitik, die Orientierung auf einen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, die Re-Vitalisierung der Debatte um Wirtschaftsdemokratie, und ganz wesentlich: die gesellschaftskritische und auf praktisches Wirksamwerden gerichtete politische Bildungsarbeit in den Gewerkschaften. Auch die kapitalismuskritischen Diskurse in gewerkschaftsbezogenen Publikationen, Periodika und Netzwerken sind Ausdruck und Bestandteil dieses Motivzusammenhangs.

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Diese „zweite“ Realität und dieses Potenzial in den Gewerkschaften ist gemeint – analytisch wie normativ.

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Ambivalenzbeziehung und Verweisungsverhältnis

Arbeiterbewegung und kritische Theorie der Gesellschaft stehen in einer ambivalenten Beziehung aus Nähe und Distanz, Kooperation und Konflikt, Verständigung und Verständnislosigkeit, wechselseitiger Anerkennung und Negation. Das gilt für die Entstehung und Entwicklung der Arbeiterorganisationen insbesondere in Deutschland und der bis zum Ersten Weltkrieg aus ihnen hervorgebrachten, an sie gerichteten und in ihnen wirkenden Interpretationsangebote der sozial-ökonomischen Situation und ihrer selbst (vor allem den sozialdemokratischen Marxismus und den neukantianischen „ethischen Sozialismus“.) Das gilt auch und gerade für die bedeutendste Reflexionsform dieser Bewegungs- und Theorieentwicklung – den seit Mitte der neunzehnhundertzwanziger Jahre aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung hervorgehenden Zusammenhang der Kritischen Theorie. Offenkundig wird diese Ambivalenzbeziehung zwischen Kritischer Theorie und Organisationen der Arbeiterbewegung an den Gewerkschaften. Einerseits gelten sie der Theorie als entscheidende Kraft der Demokratisierung und Emanzipation: „Demokratie aber (. . .) lebendig zu erhalten, weiter zu entfalten und zu schützen, sind heute, wie ich meine, unter allen Schichten zuerst die Arbeiter berufen. (. . .) Natur und Menschen zu beherrschen, selbst die Wirtschaft zu verwalten, lehrt die Wissenschaft. Aber auch dafür, dass die Menschen ihre Abhängigkeit durchschauen und in steigendem Maß sich selbst bestimmen können, hält sie Methoden und Ergebnisse bereit. Sie zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, in der Richtung auf Selbsterkenntnis und größtmögliche Autonomie, gehört zur Praxis der Gewerkschaften, zur Erziehung des Nachwuchses, des Funktionärsapparates sowie der Mitglieder.“ (Horkheimer 1962, S. 214 f., S. 216)

Andererseits mutieren sie in dem sozial-ökonomischen Stadium, das die Kritische Theorie als „Staatskapitalismus“ fasst, zu in sich klassenförmig strukturierten, mit den herrschenden Mächten verwobenen, durch kriminelles Vorgehen charakterisierten Agenten der bestehenden Unterdrückung: „Zwanghaft reproduziert unten sich die Spaltung in Führer und Gefolge (. . .). Die Gewerkschaften werden zu Monopolen und die Funktionäre zu Banditen, die von den Zugelassenen blinden Gehorsam verlangen, die draußen terrorisieren, loyal jedoch bereit wären, den Raub mit den anderen Monopolherren zu teilen (. . .) Die Geschichte ist, nach dem Bilde der letzten ökonomischen Phase, die Geschichte von Monopolen. Nach dem Bilde der manifesten Usurpation, die von den einträchtigen Führern von Kapital und Arbeit heute verübt wird, ist sie die Geschichte von Bandenkämpfen, Gangs und Racketts.“ (Adorno 1942, S. 380)

Selbst, wenn man dieser Auffassung angesichts von in ihr eingefangenen Erscheinungen offener Korruption und Gewalt des Business Unionism amerikanischer Gewerkschaften im New Deal ein Körnchen zeitgebundener Empirie zuerkennt – mit ihrer theoretischen Generalisierung werden die Gewerkschaften als emanzipatorische Kraft ausgeschieden.

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Auch auf der Seite der Gewerkschaften findet sich – spiegelbildlich – diese Ambivalenz im Verhältnis der Organisation zur Theorie; der Aufnahme von Impulsen steht die Ignoranz gegenüber. Die politisch-pädagogische Schrift „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“ von Oskar Negt, dem neben Habermas politisch einflussreichsten Vertreter der zweiten Generation der Kritischen Theorie, ist seit ihrem Erscheinen Mitte der 1960er-Jahre bis zum heutigen Tage Bezugspunkt fruchtbarer Debatten und Konzepte der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit.2 Und in zugespitzten Situationen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen kommt es zur direkten Kooperation von Theoretikern und Praktikern: „Es gehört zu den historischen Glücksmomenten der Begegnungen von Repräsentanten der Arbeiterbewegung und Philosophen, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind, als Adorno in kleiner Begleitung auf dem Höhepunkt der Notstandsopposition ins Frankfurter Vorstandsgebäude marschierte und den IG Metall-Vorstandsmitgliedern in seinen Worten erörterte, wie notwendig der gewerkschaftliche Massenwiderstand gegen die Notstandsgesetze ist. Ein glücklicher Moment der Verbindung von Theorie und Praxis, weil hier nichts an den spezifischen Logiken verwischt wurde; das Handlungsfeld des Philosophen und das des Gewerkschafters musste nicht im jeweiligen Eigengewicht reduziert werden, um Übersetzungen zugänglich zu sein.“ (Negt 2004b, S. 17)

Als jedoch ein politischer Intellektueller aus diesem Theoriezusammenhang zur Einstellung in die Bildungsabteilung der IG Metall vorgeschlagen wird, lautet die abschlägige Antwort des zuständigen Vorstandsmitglieds: „Soziologen brauchen wir doch hier in der Gewerkschaft nicht.“ (Negt 2003, S. 86) Die Ambivalenzbeziehung zwischen Gewerkschaften und Kritischer Theorie lässt sich so auf den Begriff bringen: Die Gewerkschaften verbinden mit der Reflexion im Referenzrahmen der Kritischen Theorie die Erfahrung und die Erwartung erweiterter Möglichkeiten des Verstehens gesellschaftlicher Prozesse und der Orientierung gewerkschaftlichen Handelns – zugleich aber auch der Überforderung durch ihre Analysen und Postulate; das führt zumeist weniger zum bewussten Negieren als zum Ignorieren ihrer Potenziale. Innerhalb der Kritischen Theorie, jedenfalls in relevanten Strömungen, scheint bis heute unentschieden, wie weit in der Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation die Gewerkschaften Teil der Lösung oder Teil des Problems oder ob sie überhaupt von Interesse sind. Dabei kann der Kritischen Theorie die Antwort nicht gleichgültig sein. Sofern sie sich als Einheit von Analyse und Kritik am Maßstab des besseren Möglichen versteht, bleiben die Frage nach den Subjekten der Veränderung und – unter antagonistischen Verhältnissen – die Themen Klasse, Arbeiterbewegung, Gewerkschaften auf der Tagesordnung. Und für die Gewerkschaften, sofern sie ein emanzipatorisches Selbstverständnis leitet, gilt, dass sie auf einen kritischen Reflexions- und Orientierungsrahmen ihres Handelns nicht verzichten können. Beide sind in der Verfolgung ihrer Intentionen aufeinander verwiesen. Eine Beziehung von wechsel-

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Vgl. etwa die Arbeiten von Christine Zeuner (Zeuner 2014), die sich explizit in die Tradition von Negt stellt, oder die Rahmenkonzeption für die Bildungsarbeit der IG Metall (IG Metall 1998).

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seitiger Wahrnehmung, von verstetigter Kommunikation und Kooperation3 hätte einen gemeinsamen Bezugsrahmen in dem, was Müller-Doohm als das Ursprungsmotiv der Kritischen Theorie identifiziert – ein Motiv, das den Gewerkschaften jedenfalls nicht fremd ist: „die zwar von geschichtsphilosophischer Skepsis gebrochene, aber doch sozialistisch inspirierte Überzeugung einer Transzendierung des antagonistischen Zustandes der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.“ (MüllerDoohm 2014, S. 120)

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Ausgangspunkt: Scheitern und Transformation der Arbeiterbewegung

Ausgangs- und Bezugspunkt der Kritischen Theorie ist das Scheitern und die Transformation der sozialistischen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert. Nicht nur hat diese Bewegung es nicht vermocht, den Ersten Weltkrieg durch länderübergreifende Massenaktionen, durch organisierte oder spontane Arbeits- und Befehlsverweigerung zu verhindern – ihre Organisationen ergriffen vielmehr die Partei des jeweiligen vermeintlich defensiven Vaterlands, mit besonders ausgeprägter Überidentifikation beim Hauptaggressor: „Spezifisch für die Entwicklung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften bzw. ihrer Mehrheiten in Deutschland im Ersten Weltkrieg war aber, dass hier (und nur hier!) die Arbeiterorganisationen sozusagen Bestandteil der Kriegsmaschinerie selbst wurden“ (Klönne 1980, S. 136). Damit wurden nicht nur die politisch-ethischen Ziele des Anti-Imperialismus, der Humanisierung des Völkerverkehrs und der internationalen Solidarität verfehlt und ins Gegenteil verkehrt, sondern auch das elementare Interesse der Arbeiterbewegung: Friedenssicherung als Voraussetzung gesellschaftlichen Fortschritts.4 Der Weltkrieg mündete in den Verliererländern in revolutionären Situationen, die sehr unterschiedlich aufgelöst wurden – als Versuch einer radikalen sozialistischen Veränderung der ökonomischen und politischen Verhältnisse durch eine die Gunst der Stunde nutzende revolutionäre Minderheit in Russland, als politisch begrenzte Transformation des obrigkeitsstaatlichen politischen und ökonomischen Systems in eine parlamentarische Republik mit demokratisch-sozialer Verfassung und Kontinuität der Prävalenz des Privateigentums an Produktionsmitteln wesentlich durch die 3

Eine Beziehung, die wegen der Eigenlogik der Handlungssphären und der Unmöglichkeit, Theorie unmittelbar in Praxis umzusetzen, immer spannungsreich wäre – der frühe Horkheimer hat die notwendige Unabhängigkeit des Denkens treffend beschrieben: „Der Intellektuelle, der nur in aufblickender Verehrung die Schöpferkraft des Proletariats verkündet und sein Genüge darin findet, sich ihm anzupassen und es zu verklären, übersieht, dass jedes Ausweichen vor der theoretischen Anstrengung, die er in der Passivität seines Denkens sich erspart, sowie vor dem zeitweiligen Gegensatz zu den Massen, in den eigenes Denken ihn bringen könnte, diese Massen blinder und schwächer macht, als sie sein müssen. Sein eigenes Denken gehört als kritisches, vorwärtstreibendes Element mit zu ihrer Entwicklung“. (Horkheimer 1937, S. 188). 4 „Statt eines Generalstreiks führen wir für das preußische Wahlrecht einen Krieg“ – so der sozialdemokratische Abgeordnete Ludwig Frank. (Boll 1980, S. 99).

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gemäßigte Sozialdemokratie in Deutschland. Diese Republik enthielt in sich zwar, auch durch die Ausgestaltung der Verfassung (beispielsweise durch den Sozialisierungsartikel 156), die soziale und politische Potenz, in eine sozialistische überführt zu werden5 – wenngleich aus Sicht der dominierenden Kräfte auf der Linken nicht als Tages-, sondern als Zukunftsaufgabe. Diese Möglichkeit wurde jedoch nicht Realität – im Gegenteil: Die tiefe Krise des wirtschaftlichen und politischen Systems der Weimarer Republik endete, nicht zuletzt wegen der Schwäche der Linken, in einer gesellschaftlichen Konterrevolution und einer geschichtlichen Katastrophe. Aber auch die russische Revolution schlug um – unabhängig davon, auf welchen Zeitpunkt oder auf welches Ereignis man diesen Wendepunkt datiert (oder ob man ihn als schon dem bolschewistischen Revolutionskonzept inhärent ansieht): Spätestens mit der fortscheitenden Stalinisierung seit Ende der zwanziger Jahre – der Abschaffung kollektiver demokratischer Ausdrucks- und Beteiligungsrechte, der Aufhebung individuellen Persönlichkeitsschutzes bis hin zu Folter und Massenmord, der Wiederherstellung und Verewigung der „alten Arbeitsteilung“ von Anordnung und Ausführung in Politik und Ökonomie – wurde aus ökonomischer, sozialer und kultureller Revolution eine politisch-soziale Konterrevolution, eine Diskreditierung der sozialistischen Idee und eine weitere historische Niederlage der Linken im 20. Jahrhundert. Dies vierfache Scheitern der Arbeiterbewegung – Erster Weltkrieg, russische Revolution, halbierte Revolution in Deutschland, Niederlage gegenüber dem Faschismus – verändert die Bewegung selbst, aber auch die Theorie, die sich auf sie bezieht. Während die Arbeiterorganisationen und die politische Linke – jedenfalls ihre sensibleren und selbstkritischeren Teile – ihre Ansätze, Erfahrungen und Perspektiven angesichts der Niederlagen von Grund auf zu reflektieren haben (ein historisch nicht abschließbarer Prozess) und dabei analytisch, konzeptionell und normativ der Theorie bedürfen, so hat auch die Kritische Theorie, ebenfalls nicht abschließbar, ihre eigenen Voraussetzungen, ihren Gegenstand und ihre Wirkungsmöglichkeit grundlegend zu durchdenken – dies ist ihr Grundimpuls. Denn in dem sich Mitte der 1920er-Jahre konstituierenden Theoriezusammenhang nimmt ja die Arbeiterbewegung als emanzipatorische Kraft die Rolle ein, die in der idealistischen

„Die in der Verfassungsstruktur verankerten Elemente politischer Demokratie markieren die Achillesferse der Privatrechtsordnung. Öffentliche Gewalt und soziale Macht klaffen potentiell auseinander. Marx hat dies für den analogen Fall der aus der Märzrevolution von 1848 hervorgegangenen französischen Verfassung konzis analysiert: ‚Der umfassende Widerspruch dieser Konstitution (. . .) besteht darin: Die Klassen, deren gesellschaftliche Sklaverei sie verewigen soll (. . .), setzt sie durch das allgemeine Stimmrecht in den Besitz der politischen Macht. Und der Klasse, deren alte soziale Macht sie sanktioniert (. . .), entzieht sie die politischen Garantien dieser Macht. Sie zwängt ihre politische Herrschaft in demokratische Bedingungen, die jeden Augenblick den feindlichen Klassen zum Sieg verhelfen und die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Frage stellen. Von den einen verlangt sie, dass sie von der politischen Emanzipation nicht zur sozialen fort-, von den anderen, dass sie von der sozialen Restauration nicht zur politischen zurückgehen.“ (Perels 1973, S. 38).

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Aufklärungsphilosophie, deren Intentionen die Kritische Theorie in sich aufhebt, den revolutionären Teilen des Bürgertums (und dem „autonomen Ich“ als ihrem Substrat) zukommt. Arbeiterbewegung und Kritische Theorie haben in der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem jeweils anderen also diesen gemeinsamen Bezugspunkt: die – von einem „Dennoch“ geleitete – Verarbeitung der politischen Niederlagen und enttäuschten Hoffnungen in historischen Schlüsselsituationen des 20. Jahrhunderts. Dies ist es, was Adorno als „versäumten Augenblick“ reflektiert – und ihn eben deshalb auf der notwendigen Weiterführung der normativ-kritischen Theorie insistieren lässt (vgl. Rademacher 1997; Müller-Dohm 2010; Demirović 2008): „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang. Sie gewährt keinen Ort, von dem aus Theorie als solche des Anachronistischen, dessen sie nach wie vor verdächtig ist, konkret zu überführen wäre. Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang verhieß. Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, läßt nicht theoretisch sich prolongieren. Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte.“ (Adorno 1966, S. 15)

Doch nicht nur die politischen Niederlagen verändern die Arbeiterbewegung – auch der Formwandel des Kapitalismus strahlt auf sie aus, modifiziert die „Proletarität“ und damit Selbstverständnis und Wirkungsmöglichkeiten der Organisationen. Die Kritische Theorie analysiert dies im Deutungsrahmen von Pollocks Staatskapitalismus-Theorem und Adornos Bewusstseinstheorie: Danach wird mit der Entwicklung zum Monopolkapitalismus die eigene Sphäre von Zirkulation und Distribution beseitigt und die Gesellschaft direkt der monopolistischen Produktionslogik unterworfen. Der Markt als Vermittlungsebene von Produktion und Distribution, Konkurrenz und Preisbildung (und damit das Wertgesetz) werden ersetzt durch eine staatlich vermittelte Wirtschaftsplanung im Interesse der Monopolgruppen. Mit der sozial-ökonomischen Synthesis über den Markt schwindet auch – so insbesondere Adornos eher ableitungslogische denn empirische kulturkritische Verlängerung – die an ihn gebundene Sphäre der Ideologiebildung (zumindest das in ihr, was über das Bestehende hinauswies): die am Warentausch haftende Anweisung auf Freiheit und Gleichheit als überschießendes Element gesellschaftlicher Selbstidealisierung. „Die eingefangenen Arbeiter sind unmittelbar auf die verwiesen, die es eben noch sehen und sagen können. Ihr Haß gegen die Intellektuellen hat sich demgemäß verändert. Er hat sich den vorwaltenden gesunden Ansichten angeglichen. Die Massen mißtrauen den Intellektuellen nicht mehr, weil sie die Revolution verraten, sondern weil sie sie wollen könnten, und bekunden damit, wie sehr sie der Intellektuellen bedürften.“ (Adorno 1951, S. 301; zum Motiv der Ideologiekritik bei Adorno vgl. ausführlicher den Beitrag von Rehmann im Handbuch.)

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Politische Akteure, die aus der verwalteten Welt und ihrem Bann ausbrechen und Strategien zur emanzipatorischen Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln und verfolgen könnten, sind nicht identifizierbar, auch die Gewerkschaften sind integrierter Bestandteil der vermachteten Apparatur. Diese aus der Interpretation des amerikanischen New Deal (und der faschistischen Kriegswirtschaft) gewonnene und für den Spätkapitalismus schlechthin verallgemeinerte Auffassung bleibt prägend für die ältere Kritische Theorie. Zwar finden sich in Adornos soziologischen Beiträgen in den 1960er-Jahren differenziertere Reflexionen über die Ambivalenzen des Arbeiterbewusstseins und die Bedeutung der Gewerkschaften (vgl. hier den Abschn. 5.2 zur politischen Pädagogik) – eine genauere Analyse etwa der fordistischen Regulationsweise und ihrer widersprüchlichen Auswirkungen auf die Lage und das Bewusstsein der Arbeitenden, die Stellung ihrer Organisationen oder auf die Krisenverarbeitung der Ökonomie sucht man allerdings vergeblich. Hinsichtlich der Krisentheorie wurde dies dann – mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und Konsequenzen – von Jürgen Habermas und Oskar Negt geleistet, hinsichtlich der Gewerkschaftstheorie – ebenfalls mit gänzlich unterschiedlichen Zugängen und Schlussfolgerungen – von Oskar Negt und einer Gruppe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung um Walther Müller-Jentsch und Otto Jacobi – also von der zweiten und dritten Generation im Umkreis der Kritischen Theorie. Aber trotz der zuweilen hermetisch-ableitungslogischen Denkweise Adornos über die Absorption gesellschaftskritischen Bewusstseins und gesellschaftsverändernder Bewegung bleibt er theoretischer Dialektiker genug, die realen Widersprüche in der Beziehung von Kapital und Arbeit auch im wohlfahrtlich transformierten Kapitalismus und damit das Reservoir für Kritik und Bewegung nicht zu verkennen: „Die gegenwärtige Lehre vom sozialen Konflikt kann sich darauf stützen, daß subjektiv der Klassenkampf vergessen ist, wofern er je die Massen ergriffen hatte. Das tangiert auch, zumindest zeitweilig, seinen objektiven Sinn. (. . .) Aber durch die Integration ist der objektive Antagonismus nicht verschwunden. Nur seine Manifestation im Kampf ist neutralisiert. Die ökonomischen Grundprozesse der Gesellschaft, die Klassen hervorbringen, haben aller Integration der Subjekte zum Trotz sich nicht geändert.“ (Adorno 1968, S. 184 f.)

Und er zieht daraus die Konsequenz: „Heute, da der Begriff des Proletariats, in seinem ökonomischen Wesen unerschüttert, technologisch verschleiert ist, so daß im größten Industrieland von proletarischem Klassenbewußtsein überhaupt nicht die Rede sein kann, wäre die Rolle der Intellektuellen nicht mehr, die Dumpfen zu ihrem nächstliegenden Interesse zu erwecken, sondern den Gewitzigten jenen Schleier von den Augen zu nehmen, die Illusion, der Kapitalismus, welcher sie temporär zu Nutznießern macht, basiere auf etwas anderem als ihrer Ausbeutung und Unterdrückung.“ (Adorno 1951, S. 301) Also: Historische Niederlagen dementieren nicht die Motive; und auch der transformierte Kapitalismus erlaubt und erfordert das Zusammenwirken von Arbeiterbewegung und Kritischer Theorie.

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Motive und Themen

Entgegen dem Vorbehalt in Teilen der Linken, die Kritische Theorie sei esoterisch und politischer Praxis weder zugetan noch zuträglich, ist auf ihren praktisch gerichteten Intentionen und Potenzialen zu bestehen. „Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbstständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf ihre Humanität schon verzichtet.“ (Horkheimer 1937, S. 216) Nicht nur die Kritik der falschen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch „der praktische Wille zur Veränderung, der einmal die soziologische Wissenschaft inspirierte, bis über ihn das wissenschaftliche Tabu erging“ (Adorno 1968, S. 194), ist ihr Konstitutionsmerkmal.6 Allerdings ist die Beziehung zur Praxis keine unmittelbare, sie wirkt indirekt, zuweilen mit der Ungewissheit einer „Flaschenpost“, sie ist theoretische Praxis. „Die Philosophie kann von sich aus keine unmittelbaren Maßnahmen oder Änderungen empfehlen. Sie ändert gerade, indem sie Theorie bleibt. (. . .) Es hat sich unzählige Male in der Geschichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoretische Absichten verfolgen, das Bewußtsein und damit auch die gesellschaftliche Realität verändert haben.“ (Adorno 1969, S. 404, 408) Wie ambivalent in diesem Theorie-Praxis-Verhältnis die Stellung zueinander auch sein mag – zumindest vier Motivzusammenhänge sind es, die die Kritische Theorie mit der Arbeiterbewegung verbinden: Die falsche Organisation der Arbeit als Schlüsselkategorie einer falschen gesellschaftlichen Ordnung; die Diskrepanz zwischen zu erwartendem und empirischen Bewusstsein und Verhalten der dieser Arbeit Unterworfenen; der Zivilisationsbruch des Massenmords an den europäischen Juden, für den Auschwitz als Synonym steht; die Frage nach und das Festhalten an der Möglichkeit grundlegend humanisierender Veränderung der Gesellschaft.

4.1

Die falsche Organisation der Arbeit

In einer ökonomistischen Lesart der Marx’schen Theorie wurzeln Ausbeutung und Herrschaft im kapitalistischen Produktionsprozess in der Trennung der unmittelbaren Produzenten vom Besitz an und von der Verfügung über die Bedingungen der Produktion durch die Rechtsform des Privateigentums. Theoretisch – und mit der historisch sich durchsetzenden Linie des Parteikommunismus praktisch – liegt der Kern der Befreiung dann in der Abschaffung des Privatrechts an den Produktionsmitteln, an dessen Stelle die Form des öffentlichen Eigentums, repräsentiert durch Selbst die „Dialektik der Aufklärung“, überwiegend angesehen als dunkle, pessimistische, hoffnungslose Analyse und Geschichtsphilosophie, lässt sich lesen als „praktisches Buch“, das durch seine Zeitdiagnose der verwalteten Welt störend, aufklärend, aufhaltend interveniert (Demirović 1999, S. 44 ff.; vgl. auch den entsprechenden Beitrag im vorliegenden Handbuch).

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den Staatsapparat, tritt. Die Kritik an dieser Verkürzung und schließlichen Verkehrung der sozialistischen Emanzipationsvorstellungen ist zentrales Element dessen, was – in Auseinandersetzung mit dem „realen Sozialismus“ sowjetischer Prägung und seinem ideologischen Überbau – als „westlicher Marxismus“ gilt. Die Kritische Theorie ist für ihn konstitutiv – sollte das „Institut für Sozialforschung“ doch ursprünglich „Institut für Marxismus“ heißen. Dreh- und Angelpunkt ist in dieser Perspektive nicht der formal-rechtliche, sondern der tatsächliche Charakter der gesellschaftlichen Arbeit, deren bisherige Steuerung und Statuszuweisung über die marktvermittelte Verwertungslogik ersetzt werden soll durch rationale, gesamtgesellschaftliche Kriterien. „Die Trennung von Individuum und Gesellschaft, kraft deren der Einzelne die vorgezeichneten Schranken seiner Aktivität als natürlich hinnimmt, ist in der kritischen Theorie relativiert. Sie begreift den vom blinden Zusammenwirken der Einzeltätigkeiten bedingten Rahmen, das heißt die gegebene Arbeitsteilung und die Klassenunterschiede, als eine Funktion, die, menschlichem Handeln entspringend, möglicherweise auch planmäßiger Entscheidung, vernünftiger Zielsetzung unterstehen kann.“ (Horkheimer 1937, S. 181) Es geht also nicht nur um die Verteilung der Resultate der Arbeit, sondern wesentlich um ihre Organisation, um Arbeitsteilung und Kooperation. Die Entprivatisierung dieser Entscheidungen durch ihre Konzentration im Staat ist dabei – bestenfalls – Bedingung der Möglichkeit einer Transformation zum Besseren: „Wird die industrielle Produktion der Kontrolle eines Staates unterstellt, so ist das ein geschichtliches Faktum, dessen Bedeutung (. . .) jeweils erst zu analysieren ist. Ob es sich um wahrhafte Vergesellschaftung handelt, inwiefern also darin ein höheres Prinzip sich entfaltet, hängt nicht etwa nur von der Änderung bestimmter Eigentumsverhältnisse (. . .) ab, sondern ebenso sehr von Wesen und Entwicklung der Gesellschaft (. . .) Das Problem, was und wie produziert wird, ob (. . .) soziale Unterschiede festgehalten werden oder sich gar vertiefen, ferner die aktive Beziehung des Einzelnen zur Regierung, das Verhältnis aller entscheidenden, die Individuen betreffenden Verwaltungsakte zu ihrem eigenen Wissen und Willen, die Abhängigkeit aller vom Menschen beherrschbarer Zustände von wirklicher Übereinkunft, kurz, der Entwicklungsgrad der wesentlichen Momente realer Demokratie und Assoziation gehört mit zum Inhalt des Begriffs der Vergesellschaftung.“ (Horkheimer 1937, S. 223)

Denn die Fremdheit und das Eigenleben von Arbeit, Wirtschaft und Politik gegenüber den Menschen gründen nicht in ihrer formalen, sondern in ihrer realen Stellung im ökonomischen und sozialen Prozess. Nicht die Übertragung der Dispositionsgewalt auf andere Führungsgruppen oder größere Teilhabe am Arbeitsertrag, sondern erst die tatsächliche Kontrolle der Urheber über ihr eigenes Handeln, dessen Ziele und Resultate – wurzelnd in der Arbeit – überwindet die Subalternität, nimmt die Verkehrung von Subjekt und Objekt in kapitalistischen (und nachkapitalistischen) Produktionsverhältnissen zurück. „Was verschwinden soll: die Verfügungsgewalt über fremde Arbeit.“ (Horkheimer 1940, S. 314 f.) Worum es geht: „Formen der freien Assoziation“ (Horkheimer 1940, S. 305), um „in einer neuen Gesellschaft die Verwaltung (. . .) durch unnachgiebige

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Selbstständigkeit der Nichtdelegierten davon abzuhalten (. . .), in Herrschaft umzuschlagen.“ (Horkheimer 1940, S. 313). Eine Stärke der Kritischen Theorie besteht nun nicht nur in dieser sozialphilosophisch-normativen Ausrichtung, sondern auch in ihrer ganz und gar dialektischen Denk- und Argumentationsweise: im Bestehenden, trotz seiner Schwerkraft, das zu identifizieren, was über den gegebenen Zustand hinausweist. Selbst das Gegenteil der postulierten Überwindung der Arbeitsteilung, die extreme Arbeitszergliederung durch die wissenschaftliche Betriebsführung des Taylorismus, enthält dies überschießende Moment, das auf ihre Aufhebung zutreibt, indem „wer eines kann, virtuell alles kann und das Ganze versteht. Der Mann am laufenden Band bei Ford, der immer denselben Handgriff machen muß, weiß doch mit dem fertigen Wagen sehr wohl Bescheid, der kein Geheimnis enthält, das nicht nach dem Muster jenes Handgriffs vorzustellen wäre. Selbst der Unterschied zwischen dem Arbeiter und dem Ingenieur, dessen Arbeit selber mechanisiert ist, dürfte nachgerade aufs bloße Privileg hinauslaufen“ (Adorno 1942, S. 390) – die Menschen „holen die technischen Produktivkräfte ein, in denen die Produktionsverhältnisse sich verstecken.“ (S. 391) Diese auf die Emanzipation der Arbeit gerichteten Motive der Kritischen Theorie finden auf der Seite ihrer Adressaten durchaus eine Entsprechung, sowohl historisch wie aktuell (Beerhorst 2014a) – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Radikalität. „Freie Wahl der Aufseher und Werkmeister“ fordert die Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung; entschiedener sind dann die konsolidierten Gewerkschaften mit ihren Forderungen nach der „Durchbrechung des Absolutismus im Fabrikbetriebe“ zunächst durch Arbeitervertretungen, die an der Regelung der Betriebseinrichtungen beteiligt sind, als Ziel die „demokratische (sozialistische) Organisation der Betriebsstätten“, die „Übernahme der Leitung der Produktion durch die Arbeiterschaft“ (Legien 1900). Darin gründet ihre bis heute virulente Programmatik der Demokratisierung der Wirtschaft. Im Bewusstsein der unmittelbaren Produzenten ist das Motiv einer veränderten Arbeitsteilung durchaus präsent – auch gegenwärtig. In einer Untersuchung über nachtayloristische Formen der Gruppenarbeit werden beteiligte Arbeiter mit den Worten zitiert: „Dass wir das alles, was jetzt von uns verlangt wird, selbst organisieren können, wussten wir schon immer. Jetzt fragen wir uns gelegentlich schon mal: Wenn wir dazu in der Lage sind, warum sollten wir dann nicht gleich den ganzen Betrieb schmeißen können?“ (Wolf 1999, S. 224).

4.2

Das proletarische Rationalitätsparadox

Ein zentrales Problem haben Bewegung und Theorie gemeinsam: die Diskrepanz zwischen den einer subalternen sozialen Lage zugerechneten Interessen und dem Handeln derer, die in dieser Lage sind. Dieses Problem stellt sich praktisch – als Organisations-, Wahl- oder Konfliktverhalten; und es stellt sich theoretisch – als Frage nach den tieferen Gründen für dieses Verhalten, zumal wenn es in nicht genutzten historischen Chancen oder in historischen Niederlagen mündet.

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Während die Arbeiterorganisationen ausbleibendes Interessenhandeln zumeist auf durch Rückständigkeit (Kleinbetriebsstrukturen, Landarbeiter, Religion), Privilegien (Arbeiteraristokratie, Stehkragenproletarier, Verführung) oder Manipulation (staatliche oder private mediale Apparate) bedingtes „falsches Bewusstsein“ zurückführen, richtet die Theorie den Blick auf tiefer liegende Gründe, auf die Binnenausstattung der Menschen, auf ihre oft unbewussten Verhaltensdispositionen – denn rein kognitive Bewusstseinstheorien bleiben an der Oberfläche. „Je mehr das geschichtliche Handeln von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert ist, um so weniger braucht der Historiker auf psychologische Erklärungen zurückzugreifen. (. . .) Je weniger das Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja dieser Einsicht widerspricht, um so mehr ist es notwendig, die irrationalen, zwangsmäßig die Menschen bestimmenden Mächte psychologisch aufzudecken“. (Horkheimer 1932, S. 59)7 Und, konkreter auf den hoch entwickelten Kapitalismus und seine Krisenkonstellationen bezogen: „Dass die Menschen ökonomische Verhältnisse, über die ihre Kräfte und Bedürfnisse hinausgewachsen sind, aufrecht erhalten, anstatt sie durch eine höhere und rationalere Organisationsform zu ersetzen, ist nur möglich, weil das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist. Keineswegs bloß ideologische Machenschaften bilden die Wurzel dieses historisch besonders wichtigen Moments.“ (Horkheimer 1932, S. 59) Der Begriff „Triebmotorik“ zeigt es an: Konstitutiv für die Kritische Theorie ist, dass sie bei der Erforschung innerer Motive die Methodik und Erkenntnisse der Freud’schen Psychoanalyse heranzieht – diese aber nicht als bloße Individualpsychologie begreift, sondern zu gesellschaftlichen Prozessen in Beziehung setzt. Denn die „Freud’sche Linke“, die sich in den 1920er-Jahren bildet und zu deren wesentlichen Protagonisten Max Horkheimer und insbesondere Erich Fromm gehören, arbeitet inhaltlich und forschungsstrategisch eine wesentliche Gemeinsamkeit der Marx’schen und der Freud’schen Theorie und damit das Projekt einer Integration von Psychoanalyse und Materialismus heraus: Beide Theorien entwickeln historisch-konkret die bereits in der klassischen idealistischen Philosophie formulierte Dialektik von individueller und sozialer Entfremdung, sie enthüllen wahrgenommene „Natur“ (ökonomische Ordnung, neurotische Symptome) als PseudoNatur und postulieren deren Aufhebung durch die Selbstentwicklung der sich selbst nicht bewusst ansichtigen Individuen, die Wiederaneignung von Lebensgeschichte und Gesellschaft (vgl. Dahmer 1982, S. 378 ff.). Die Aufnahme der psychoanalytischen Theorie des konfliktreichen Zusammenund Gegeneinanderwirkens der un- oder vorbewussten Triebe, der Anforderungen

Wilhelm Reich fasst diesen Widerspruch in eine prägnante Formulierung: „Nicht, dass der Hungernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären, sondern warum die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt.“ (Reich 1972, S. 34).

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äußerer Realität, der inneren Normen des Gewissens und des Ich-Ideals sowie ihre gesellschaftliche Konstituierung, die Vermittlung durch Sozialisationserfahrung, als Zugang zum Begreifen politischen Tuns, Duldens oder Unterlassens – diese Perspektive auf gesellschaftliche Stabilität und Veränderung – und damit auch auf die Arbeiterbewegung – ist eine der Hauptleistungen der Kritischen Theorie (vgl. hierzu auch den Beitrag von Dahmer im vorliegenden Handbuch). Als exemplarisch für die (potenzielle) Bedeutung ihrer Befunde für die Arbeiterorganisationen kann die – erst in den 1980er-Jahren veröffentlichte – Studie von Erich Fromm „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ gelten. Ihr Ausgangspunkt war die Frage nach den Einstellungen und zu erwartenden Verhaltensweisen von Anhängern der Arbeiterbewegung in der Systemkrise der Weimarer Republik Anfang der 1930er-Jahre. Der Vermutung von Fromm und anderen, dass es unterhalb der Ebene des manifesten Wahl- und Organisationsverhaltens eine psychische Ebene von Deutungs- und Verhaltensmustern gebe, die für das gesellschaftspolitische Bewerten und Handeln mindestens genau so bedeutsam ist, wurde mit der Konstruktion einer sozialpsychologisch ausgerichteten Erhebungsmethodik (Fragebogen, Tiefenhermeneutik, Charaktertypologie) nachgegangen, die gezielt sowohl offene wie latente Dispositionen erfragte und auf ihren Zusammenhang interpretierte. Diese Vorgehensweise führte zu dem ernüchternden Ergebnis, „dass nur eine Minderheit unter den Anhängern der linken Parteien die idealtypische radikale Haltung aufwies, bei den meisten dagegen zwischen politischen Ansichten und Persönlichkeitsstruktur eine mehr oder weniger große Diskrepanz bestand“ (Wiggershaus 1988, S. 196), war doch „ der Prozentsatz ‚revolutionärer‘ Antworten häufig äußerst niedrig und nahm interessanterweise genau in dem Maße ab, wie der ‚politische‘ Gehalt einer Frage nicht mehr erkennbar war“ (Bonß 1983, S. 36). Der – nachträgliche – Erkenntniswert der Studie (sie wurde wegen institutsinterner wissenschaftlicher Vorbehalte und politischer Bedenken nicht publiziert) besteht darin, „die weitgehend geräuschlose Durchsetzung des Faschismus nach 1933 besser zu begreifen: Die nach außen getragene Verbalradikalität täuscht nämlich offensichtlich über die tatsächlichen antifaschistischen Potenziale der Arbeiterbewegung hinweg, (. . .) so dass die Weimarer Linke, so Fromms entscheidende Schlussfolgerung, trotz aller Wahlerfolge schon aufgrund der Charakterstruktur ihrer Mitglieder kaum in der Lage war, den Sieg des Nationalsozialismus zu verhindern“ (Bonß 1983, S. 38). Die durch die Integration der Psychoanalyse in die empirische Sozialforschung erarbeitete methodische Vorgehensweise und die so gewonnenen Erkenntnisse sind jedoch nicht nur auf Krisensituationen bezogen, sondern auch auf Alltagsphänomene der bürgerlichen Gesellschaft. Die insbesondere von Erich Fromm entwickelte, später von Adorno und Horkheimer aufgenommene Figur des „Sozialcharakters“ als überindividuelle Einstellungs- und Verhaltensdisposition, der in den untersuchten Konstellationen vorherrschende Typus des „autoritären Charakters“, seine Entstehung aus der Diskrepanz zwischen familialer Sozialisationserfahrung und gesellschaftlicher Dynamik, die „libidinöse Struktur“ als emotionale Bindekraft einer klassengespaltenen Gesellschaft sind, so zeitgebunden die inhaltlichen Befunde sein

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J. Beerhorst

mögen, zumindest methodisch und heuristisch unhintergehbare Schlüsselkategorien kritischer Gesellschaftstheorie.8 Eine entscheidende Konsequenz für an emanzipatorischer Veränderung interessierte wissenschaftliche und politisch-pädagogische Praxis, die ihren Adressaten zur Selbstaufklärung verhelfen will, lässt sich aus diesem Zugang ableiten: die „Wendung aufs Subjekt“ (Adorno 1967, S. 676), auf eine kritische Theorie gesellschaftlich vermittelteter Subjektivität und des subjektiv vermittelten gesellschaftlichen Objektüberhangs.

4.3

Zivilisationskraft und Zivilisationsbruch

„Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler – wer Hitler wählt, wählt Krieg“ – diese Parole, mit der die kommunistische Arbeiterbewegung 1932 gegen die Wiederwahl des Reaktionärs Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten agitierte, lässt keinen Zweifel, dass die politischen Gefahren einer autoritären Auflösung der Weimarer Republik in der sozialistischen Arbeiterbewegung bewusst waren. Dieser Klarheit steht jedoch in entscheidenden Situationen eine bemerkenswerte Unterschätzung des Destruktionspotenzials einer faschistischen Diktatur gegenüber (das am tiefsten mit dem Bonapartismus-Theorem August Thalheimers und der Kommunistischen Partei-Opposition/KPO durchdrungen wurde). So urteilt der Bundesausschuss des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) am Abend nach der Machtübertragung an Hitler: „Organisation – nicht Demonstration ist das Gebot der Stunde. (. . .) Daß die deutsche Arbeiterschaft (. . ..) sich gegen diese sozialreaktionäre Regierung am liebsten in unmittelbarer Aktion zur Wehr setzen würde, ist menschlich begreiflich, aber sachlich falsch. (. . .) Die Ruhe und die Zuversicht, die für die Verhandlungen des Bundesausschusses kennzeichnend war, kommt nicht von ungefähr, sie stammt aus der genauen Kenntnis der reichen Widerstandskräfte der deutschen Arbeiterschaft, die in ihrer jahrzehntelangen Geschichte schon manchen Gegner kommen und gehen sah, von dem die Sage ging, dass der die Arbeiterbewegung endgültig vernichten werde.“ (Gewerkschafts-Zeitung. Organ des ADGB, 43. Jg./Nr. 5, 4. Februar 1933, in: Luthardt 1978, S. 203 f.) Mag diese verharmlosende Analogie zu Bismarck und zum Sozialistengesetz auch taktisch und psychologisch motiviert sein, um einerseits die Nichtauslösung des Generalstreiks zu legitimieren, andererseits den Anhängern Mut und Durch8

Wie tragfähig die Einsichten der älteren Kritischen Theorie auch für die Gegenwart sind, lässt sich an einer Überlegung Horkheimers zu dem verdeutlichen, was heute als Phänomen bedrohlich wirkender unkontrollierter Modernisierungsschübe, ihrer Anforderungen an den „flexiblen Menschen“ und ihrer regressiven Verarbeitung diskutiert wird: „Mit der Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung können nämlich die Änderung der menschlichen Reaktionsweisen, die unmittelbar durch die Wirtschaft bedingt sind, d. h. die unmittelbar aus dem wirtschaftlichen Leben sich ergebenden Gewohnheiten, Moden, moralischen und ästhetischen Vorstellungen so rasch wechseln, dass ihnen gar keine Zeit mehr bleibt, sich zu verfestigen und richtige Eigenschaften der Menschen zu werden.“ (Horkheimer 1932, S. 68).

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haltevermögen zuzusprechen, so kommt in ihr doch eine tiefere Wahrheit zum Ausdruck: was kommen würde, konnte oder wollte man sich so nicht vorstellen. Das gilt für die Radikalität des Angriffs auf die Arbeiterorganisationen und des Terrors gegen die Aktiven, für die Radikalität der imperialistischen Kriegsführung – insbesondere aber für die Radikalität der Vernichtung des Judentums. Die realen Erfahrungen des Krieges und der Zerstörung der Arbeiterbewegung wurden dann im Widerstand, in der Emigration und in den wiedergegründeten Organisationen nach dem Faschismus Gegenstand von analytischer Auseinandersetzung, politisch-programmatischen Schlussfolgerungen (Einheitsgewerkschaft, Wirtschaftsdemokratie, erneuerter Sozialismus) und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit zur eigenen Geschichte. Die Ermordung der europäischen Juden hingegen, für die Auschwitz als Synonym steht, blieb auch in der Arbeiterbewegung seltsam unberührt – nicht was die Benennung und das Mit-Betrauern als Opfer anbelangt, wohl aber die Tiefe der Reflexion. Das dürfte zum einen daran liegen, dass sich die Shoa, bei aller Rationalität, mit der sie organisiert wurde, rationalem und emotionalem Begreifen widersetzt – sie lässt sich in Verstand und Gefühl nicht integrieren. Die Entfesselung des Weltkriegs, der Terror gegen die Arbeiterklasse waren Mittel für dahinter stehende Zwecke: Raum- und Kapitaleroberung, soziale Disziplinierung und politische Ausschaltung einer möglichen Opposition. Alle bekannten Unterdrückungsmaßnahmen der Neuzeit, alle Kriege und Unterwerfungen hatten eine über sie hinausgehende Funktion – und waren von diesen Zielen her auch begrenzbar. „Zweck von Hiroshima war die Unterwerfung der Japaner, teilweise auch die Einschüchterung der Sowjets, aber nicht die Ausrottung der Japaner. Zweck von Auschwitz war nicht die Unterwerfung der Juden (. . .), sondern ihre Ausrottung als andersartige Menschen.“ (Jahn 1990, S. 18) Dieser mit Vernunftmitteln nicht fassbare Exterminismus wurde jedoch mit höchster Rationalität betrieben: „Die Vernichtungszentren arbeiteten rasch und wirkungsvoll: Ein Mensch stieg am Morgen aus dem Zug, am Abend war sein Leichnam verbrannt, seine Kleidung für den Transport nach Deutschland verpackt. Dieser Prozess war das Ergebnis umfangreicher Planungsarbeit. (. . .) Bei näherer Untersuchung gleichen die Operationen des Vernichtungszentrums in mehrerer Hinsicht den komplexen Massenproduktionsmethoden einer modernen Fabrik. (. . .) Nie zuvor waren Menschen wie ‚am Fließband‘ umgebracht worden. Das Vernichtungslager (. . .) hat kein Vorbild, kennt keine administrativen Vorläufer.“ (Hillberg 1990, S. 927). Marcuse bringt diese Menschheitserfahrung auf den Begriff: „Das Denken erfährt den ‚Chock‘ der es unfähig macht, in den überlieferten Bahnen weiterzudenken.“ (zitiert nach Schoch 1980, S. 70) Die Äußerlichkeit der Auseinandersetzung mit Auschwitz dürfte zum anderen aber auch darin begründet sein, dass mit dem Judenmord (und der Opferhierarchie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern9) ein historischer Schuldzusammenhang aufgeworfen ist, der die Arbeiterorganisationen in besonderer Weise betrifft: „Dass die mächtige deutsche Arbeiterbewegung Auschwitz nicht verhindern konnte, 9

Vgl. Niethammer 1994.

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J. Beerhorst

ist und bleibt für den Sozialismus eine Wunde, die nur schwer verheilt.“ (Negt 1989, S. 147) Äußerlichkeit wäre also auch ein Zeichen für Verdrängung – dass die Arbeiterbewegung nicht nur Opfer des Faschismus ist, sondern dass sich die Zivilisationskraft Arbeiterbewegung die nicht abgewehrte Barbarei, den Zivilisationsbruch Auschwitz mit zurechnen muss. Wohl kaum jemand hat diesen Zivilisationsbruch so tief reflektiert wie Adorno: „Das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leipniz’schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich entzieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete. (. . .) Noch einmal triumphiert, unsäglich, das dialektische Motiv des Umschlags von Quantität in Qualität. Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war.“ (Adorno 1966, S. 354) Diese Erschütterung von transzendentalen Gewissheiten, geschichtlichem Optimismus, Weltvertrauen, sowie das, was die psychoanalytische Theorie kognitive und emotionale Trauerarbeit durch aktive Auseinandersetzung mit den Besetzungen und Verlusten nennt – und als deren Voraussetzung: die volle Wahrnehmung dieser (Selbst-)Verluste durch Faschismus, Krieg, Völkermord und eigene Verstricktheit – fand aber nicht nur in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit der Nachkriegszeit, sondern auch in den neu gegründeten Organisationen der Arbeiterbewegung weder Raum noch Ausdruck. Auch in ihnen gab es mehr kollektives Beschweigen als bewusste Auseinandersetzung – mit Folgen für die Fließrichtung und Umwandlung psychischer und politischer Energie: „Aber das Wichtigste wäre die Utopie einer Gesellschaft gewesen, in der dauerhaft öffentlich über das Geschehene geredet wird. Nicht über das Geschehene als abscheuliches System, (. . .) sondern über die persönliche Teilhabe am Verbrechen, über das, was nie mehr gutzumachen ist und nie mehr vergessen werden kann, und auch über die Albträume. (. . .) Nur so hätte die um sich greifende Arbeitswut bekämpft werden können, die seitdem die westdeutsche Gesellschaft geprägt und die ihre zerstörerische Kraft auch gegen die Arbeiterbewegung entfaltet hat: Arbeit als makabre Form der ‚Wiedergutmachung‘ (. . .) und Arbeit als Mittel der Verpanzerung und der kranken Ich-Stabilisierung (. . .) Dieser Kampf wäre die Vorbedingung des Kampfes um die (. . .) klassischen Ziele der Arbeiterbewegung (Sozialisierung usw.) gewesen. Wo er nicht aufgenommen wurde, war Abstumpfung die unausbleibliche Folge. Das Schweigen fraß sich in das Innere der Menschen und verzehrte auch die Kraft für alles andere.“ (Lucas 1983, S. 182 f., 184)

Die wirkliche Auseinandersetzung mit Auschwitz (und einem Arbeitsethos, das an ihm beteiligt war) im Referenzrahmen kritischer Theorie gehört – retro- wie prospektiv – zum Unabgegoltenen der deutschen Arbeiterbewegung.10

10

Ein seltener, meines Wissens nicht weiter verfolgter Ansatz dazu waren die berufsgruppenbezogenen (Kommunal-, Gesundheits- und Finanzverwaltung, Polizei- und Sicherheitsdienste, Bahn und Transport) Such- und Lernwerkstätten der Gewerkschaft ÖTV in ihrem Bildungs- und Begegnungszentrum Berlin aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Wannseekonferenz im Januar 1992 unter dem Titel „Judenmord und öffentliche Verwaltung“.

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4.4

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Das utopische Dennoch

Auschwitz ist kein bloßer geschichtlicher Unfall, aber es ist nicht das Ende geschichtlicher Entwicklung und möglichen gesellschaftlichen Fortschritts. Emanzipatorische Transzendenz des Bestehenden ist – wie gezeigt – ein gemeinsames Grundmotiv von Arbeiterbewegung und Kritischer Theorie. Dies Grundmotiv bleibt, wenn auch modifiziert und auf jeweils eigene Weise, in beiden Zusammenhängen virulent. In den Gewerkschaften ist die Vorstellung einer nicht kapitalistisch beherrschten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der 1950er-Jahre deutlich ausgeprägt – mit einer angezielten Trias aus betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung (auch in allen ökonomischen Fragen), volkswirtschaftlicher Rahmenplanung und Sozialisierung der Schlüsselindustrien. Diese an die gesellschaftlichen Grundlagen gehende wirtschaftsdemokratische Umgestaltungsprogrammatik schwächt sich in der bis zur Mitte der 1970er-Jahre anhaltenden Prosperitätsphase zwar deutlich ab, geht aber programmatisch, im Organisationsgedächtnis und in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit niemals ganz verloren. Dass Gerechtigkeit, menschenwürdige Arbeit, soziale Sicherheit, Mitbestimmung und Demokratie durch in die gesellschaftlichen Strukturen eingelassene Eigentums- und Verfügungsverhältnisse verletzt oder vorenthalten werden und eine daraus abgeleitete Kapitalismuskritik bleibt, wenn auch oft nur in Spurenelementen, ein Thema. Selbst das Postulat des geltenden, an systemtranszendierenden Perspektiven armen DGB-Grundsatzprogramms von 1996 – „Den Gewerkschaften geht es um Entscheidungen der Gesellschaft, wie sie leben, arbeiten und wirtschaften will. Wir wollen uns darüber verständigen, welche Werte Vorrang für unser Handeln bekommen . . .“ – lässt sich mit der weiter führenden Frage verbinden, in welchem Ausmaß dies unter Bedingungen einer kapitalistischen Marktwirtschaft realisierbar ist und welche Folgerungen sich daraus ergeben. Und in gegenwärtigen gesellschafts- und arbeitspolitischen Ansätzen und Initiativen zur Thematisierung von gutem Leben, guter Arbeit, Produktmitbestimmung, ökologischem Umbau und Demokratisierung der Wirtschaft sind – bei allem Schwanken zwischen selektiv-korporatistischer oder sozial-verallgemeinerbarer Orientierung – Keime von utopischem Überschuss enthalten (vgl. Beerhorst 2011, 2014a). Auch die Kritische Theorie lebt, bei allem Bilderverbot und aller Negativität nachmetaphysischen Denkens, das sie kennzeichnet, von einem utopischen Kern, der ihr Antrieb und Richtung gibt: „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint.“ (AGS 4, S. 283) Gerade Adorno gibt diesen Kern immer wieder zu erkennen. So wird er in einem Rundfunkgespräch mit (dem von ihm sonst des hoffnungsphilosophischen Schwadronierens geziehenen) Ernst Bloch zu einem Anwalt der Transzendenz und der Überwindung ihrer Blockaden. Die Paradoxie, dass die Individuen und ihre Daseinsformen gegen politisch-soziale Utopien immun erscheinen, obwohl ihre Voraussetzungen gegeben sind, diese vordergründig hermetische Situation, bringt er mit Freud in die erhellende Denkfigur der Identifikation mit dem Aggressor. Er ist überzeugt, „dass im Innersten alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht, wissen: Es wäre möglich, es könnte anders sein. [. . .] Gleich-

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zeitig hat ihnen gegenüber [. . .] die gesellschaftliche Apparatur sich so verhärtet, dass das, was als greifbare Möglichkeit, als die offenbare Möglichkeit der Erfüllung ihnen vor Augen steht, ihnen sich als radikal unmöglich präsentiert.“ Dass sie sich dann zum Anwalt des Anti-Utopischen machen, „kommt davon, dass die Menschen den Widerspruch zwischen der offenbaren Möglichkeit der Erfüllung und der ebenso offenbaren Unmöglichkeit der Erfüllung nur auf die Weise zu bemeistern vermögen, dass sie sich mit dieser Unmöglichkeit identifizieren und diese Unmöglichkeit zu ihrer eigenen Sache machen und dass sie also [. . .] sich ‚mit dem Angreifer identifizieren‘.“ (Traub und Wieser 1975, S. 61) Was ganz verschüttet scheint – der Wunsch nach und die objektive Möglichkeit von veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen und Beziehungen – liegt also auch ganz nah und gerade ihre Nähe verhärtet. An dieser individuellen, gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Paradoxie ließe sich politisch arbeiten – theoretisch wie gewerkschaftlich. Für die Theorie hieße es, die Entwicklungen in der Lebens- und insbesondere in der Arbeitswelt zu analysieren und ihre befreienden Potenziale aufzudecken. Für die Gewerkschaften hieße es, die Artikulation emanzipatorischer Lebens- und Arbeitsinteressen zu stärken und die sozial-ökonomischen und politischen Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Verwirklichung aufzuzeigen. Trotz Auschwitz und antiutopischem Reflex der Gegenwart ist das Dennoch der Utopie nicht aussichtslos. Zwei Postulate der Kritischen Theorie zu den Mitteln und Zielen emanzipierten Lebens sind dabei grundlegend: dass der Umschlag von Produktivkräften in Destruktivkräfte nicht ihre Entfesselung, sondern ihre Begrenzung erfordern kann,11 eine schwer zu bewältigende Herausforderung für die Gewerkschaften. Und – kategorischer Imperativ nach Auschwitz für jeden künftigen Gesellschaftszustand – die Unverletzbarkeit der Individualität: „den besseren Zustand denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.“ (Adorno 1951, S. 116)

5

Ausblick: Theorie der Praxis

Theorie, gerade das charakterisiert sie – worauf ihre Autoren immer verweisen – als kritische, hat einen Zeitkern von Wahrheit. Sie bleibt ihrem normativen Kontext, ihren Zielen und ihrem Selbstverständnis treu, wandelt sich aber mit ihrem Gegenstand, der Entwicklung der Gesellschaft. Welche neueren Ansätze und Perspektiven, die aus dem Strömungszusammenhang der Kritischen Theorie hervorgegangen sind oder sich – obwohl unabhängig und teilweise in Distanz – mit ihren Motiven verbinden lassen, sind heute für den Organisationszusammenhang der Arbeiterund Gewerkschaftsbewegung, soweit sie an Kritik und Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse festhält, im Sinne theoretischer Konkretion und praktischer „Nicht das Erschlaffen der Menschheit im Wohlleben ist zu fürchten, sondern die wüste Erweiterung des in Allnatur vermummten Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens. (. . .) Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.“ (Adorno 1951, S. 178).

11

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Nutzbarkeit von besonderer Bedeutung? Dieser Frage soll abschließend eher kursorisch nachgegangen werden.

5.1

Ein praxeologisches Klassenkonzept

Der Gedanke der Vermitteltheit von subjektiven Bewusstseins- und Handlungsformen und objektiven gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen und ihrer wechselseitigen Konstituierung liegt nicht nur der Kritischen Theorie, sondern auch anderen gesellschaftswissenschaftlichen Zugängen zugrunde. Bezogen auf soziale Klassen und Klassenkampf wird er noch klarer formuliert und ausgearbeitet von Edward P. Thompson am Beispiel der frühen englischen Arbeiterbewegung und von Pierre Bourdieu für den sozialen Raum und die sozialen (Kampf-)Felder entwickelter kapitalistischer Gesellschaften. Thompson bricht in seinen Untersuchungen und Interpretationen mit jeglichem objektivistischen Klassenbegriff, der Bildung, Bewusstsein und Handeln von Klassen aus ökonomischen Positionen ableitet oder gar prognostiziert. „Klasse“ entsteht nicht, sie erzeugt sich selbst – nicht umsonst heißt sein Hauptwerk „The Making of the English Working Class“. Thompson zufolge sind nicht die sozial-ökonomischen Bedingungen als solche Auslöser von Klassenbildung, sondern ihre unterschiedliche Verarbeitung durch die ihnen in unterschiedlicher Weise ausgesetzten Gruppen der Subalternisierten und ihrer „moralischen Ökonomie“. Daher geht, in einer Umkehrung objektivistischer Konzepte, Klassenkampf der Klasse und dem Klassenbewusstsein voraus – „Klasse selbst ist kein Ding, sondern ein Geschehen.“ (Thompson 1987, S. 963) Mit diesem praxeologischen Konzept wird der Klassenbegriff gebunden an Klassenhandeln: Wenn die Subalternisierten Gemeinsamkeiten erkennen, die Gegebenheiten nach ihren Maßstäben kritisieren, Umgestaltungsvorstellungen hervorbringen und gemeinsam gegenüber den Privilegierten für sie eintreten, bilden sie eine Klasse – wenn nicht, dann nicht. Dieses dialektische, handlungstheoretische und historisch offene Konzept von Klasse ist nicht nur nah bei der Marx’schen Vorstellung von Klasse „an sich“ und Klasse „für sich“ (vgl. Vester 2008), sondern auch – zumal es eine „negative Dialektik“ als Möglichkeit einschließt – bei den Problemen der Kritischen Theorie und der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung: Wie lässt sich das Kontinuum der Klassengesellschaft aufsprengen? Wie kommt es vom objektiven Widerspruch zum subjektiven Widersprechen? Und es konkretisiert am historischen Material wie in den theoretischen Schlussfolgerungen die subjektvermittelten Voraussetzungen für ihre Lösung. Auf ähnliche Weise – jedoch stärker bezogen auf die Schwerkraft klassengesellschaftlicher Verhältnisse – arbeitet Pierre Bourdieu an dem Thema.12 Mit seinem Schlüsselbegriff des „Habitus“ macht er deutlich, wie die gesellschaftlichen Strukturen mit dem Empfinden, Klassifizieren und Agieren der Menschen im Alltagsleben verwachsen sind. Der Habitus als innere und äußere Haltung mit ihrer Mentalität, 12

Vgl. dazu Steinrücke 2014.

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ihren Geschmacks-, Ausdrucks- und Ordnungsschemata ist zwar jeweils an das Individuum gebunden, jedoch überindividuell geprägt: durch die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus, die durch unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, symbolischem und sozialem Kapital gebildet werden. Da der Habitus das Handeln leitet, werden die gesellschaftlichen Strukturen durch dieses habituelle Handeln produziert und reproduziert: „Die vom Soziologen klassifizierten sozialen Akteure sind mithin Produzenten nicht nur von klassifizierbaren, sondern auch von klassifizierenden Akten, die ihrerseits klassifiziert sind.“ (Bourdieu 1991, S. 728) Das sozialwissenschaftliche Konzept des Habitus zielt also darauf, „dem Gegenstand das Wissen der Akteure von diesem und den Beitrag zu integrieren, den dieses Wissen zur Wirklichkeitskonstitution des Gegenstandes leistet.“ (Bourdieu 1991, S. 728) Bourdieus Analyse und Konstruktion von mit unterschiedlichen Lebensbedingungen, Machtmitteln und Habitusausprägungen ausgestatteten Großmilieus ist als materialistisch-kultursoziologisch differenzierte und dynamisierte Klassentheorie zu verstehen. Zwischen den Milieus finden auf verschiedenen Feldern im sozialen Raum permanent Kämpfe um Geltung statt – diese richten sich aber zumeist, auch bei den Unterprivilegierten, auf den Status innerhalb der Klassengesellschaft, nicht auf ihre Überwindung. Der am Habitus haftende alltagsweltliche „Geschmack“ als individuelles mentales und sinnliches Präferenzsystem hat eine zunächst durchaus konservative Funktion: „Der Geschmack ist die Gestalt des amor fati (der Liebe zum Schicksal, J.B.) schlechthin (. . .): seine eigenen Grenzen zu akzeptieren, ja zu lieben.“ (Bourdieu 1991, S. 378) Damit spricht er kultursoziologisch genau das Thema an, das Fromm und die Kritische Theorie sozialpsychologisch in die Denkfigur der „libidinösen Struktur“ als moralischer Kitt der Klassengesellschaft bringen. Und wie sie sucht er nach Voraussetzungen der Grenzüberschreitung habitueller Gewohnheit – es geht um die „Leistung von Bewusstwerdung: (. . .) die Aufhebung des unreflektierten Einverständnisses mit diesen Gegebenheiten“, so dass „der amor fati umschlagen kann in odium fati (Hass auf das Schicksal, J.B.).“ (Bourdieu 1991) Bourdieus an der französischen Gesellschaft entwickelte Theorie des sozialen Raums und der sozialen Milieus wird von der Forschergruppe um Michael Vester auf die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland übertragen, durch empirische Untersuchungen ausgefüllt und schließlich auf den Wandel von Arbeitnehmermilieus fokussiert (Vester et al. 2001, 2007; Vester 2003). Dabei richten sich insbesondere die späteren Studien auf die Frage, wie die sich modernisierenden Teilmilieus der Arbeitnehmerschaft durch betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretung erreicht werden können. Zentrale These ist, dass die Adressierung von Angeboten und Anforderungen der Interessenorganisation verfehlt wird, wenn sie sich über die mentalen Eigenheiten der jeweiligen Milieus hinwegsetzt: „Es ist daher überlebenswichtig für die Gewerkschaften, für jede Mitglieds- und Zielgruppe nicht nur die Lohn- und Leistungsbedingungen zu kennen, sondern auch die Denk- und Ausdrucksweisen, die Umgangs- und Geschmacksformen, die Weltbilder und die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, kurz: den Habitus. (. . .) Weiter entwickelt werden muss (. . .) eine nach Milieus differenzierte Ansprache, die gleichzeitig das Gemeinsame betont.“ (Vester et al. 2007, S. 99)

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Emanzipatorische Potenziale liegen in der Diskrepanz zwischen den normativen Orientierungen neuer Habitusprägungen und den Imperativen und Zwängen in der Arbeitsorganisation und im politischen System. Die als Kompetenzrevolution gefasste Höherqualifizierung (das vermehrte Bourdieu’sche kulturelle Kapital) in fast allen Arbeitnehmergruppen und in Richtung von Eigenverantwortlichkeit und Kooperation veränderte Arbeitslogiken steigern die Autonomie- und Partizipationsansprüche in Betrieb und Gesellschaft – reale Arbeitsorganisation, betriebliche Herrschaft und politische Prozesse nehmen diese Ansprüche jedoch nur selektivinstrumentell auf, kanalisieren, begrenzen oder vereiteln sie. „In den heutigen Konflikten der Arbeitswelt geht es demnach nicht allein um das materielle Entgelt für eine ungeliebte, entfremdete Arbeit, sondern immer mehr um eine sinnvolle und anspruchsvolle Arbeit, die leistungsgerecht entlohnt und den Kompetenzen entsprechend mit Rechten der Mitbestimmung und Beteiligung verbunden ist.“ (Vester et al. 2007, S. 22) Aus der Zusammenführung und Stärkung differenzierter arbeitsinhaltlicher und selbst- bzw. mitbestimmungsbezogener Ansprüche gegenüber deren verwertungsorientierter Beschränkung oder Verkehrung in Arbeit und Wirtschaft, aus der Konfrontation von moralischer und realer Ökonomie ließen sich habituelle Grenzen versetzen, libidinöse Besetzungen anders ordnen, emanzipatorisches Interessenbewusstsein und Interessenhandeln in und mit der Gewerkschaft entwickeln.

5.2

Politische Pädagogik

Eine solche Entwicklung ist Gegenstand und Resultat von Bildungsprozessen, die von individuellen Erfahrungen der Subjekte ausgehen und sie erweitern – hier liegen der materialistisch-kultursoziologische Ansatz Bourdieus und der materialistischsozialpsychologische Ansatz der Kritischen Theorie nah beieinander: Bewusstseinsveränderung durch Anstöße zur Selbstreflexion, damit amor fati umschlage in odium fati. Dabei geht es um Spurensuche im Alltagsbewusstsein und Alltagshandeln, die Keime der Transzendenz in sich tragen: „Soll Erfahrung wieder gewinnen, was sie vielleicht einmal vermochte und wessen die verwaltete Welt sie enteignet: theoretisch ins Unerfaßte zu dringen, so müßte sie Umgangsgespräche, Haltungen, Gesten und Physiognomien bis ins verschwindend Geringfügige hinein entziffern, das Erstarrte und Verstummte zum Sprechen bringen, dessen Nuancen ebenso Spuren von Gewalt sind wie Kassiber möglicher Befreiung.“ (Adorno 1968, S. 193) Für Adorno sind hier die Gewerkschaften – bei allen Vorbehalten gegenüber ihren systemadaptiven und -integrativen Tendenzen – die entscheidende Kraft. Weil sie dem Spannungsfeld des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, anders als alle anderen gesellschaftlichen Akteure, unmittelbar ausgesetzt sind und ihm nicht entrinnen können, sind sie es, die „noch kritische Elemente der Theorie im Rahmen der gewerkschaftlichen Praxis überhaupt realisieren können.“ (Adorno 2008 [1964], S. 85) Die Entwicklung von Bewusstsein, Einstellung und Haltung kann an vielen Orten und in unterschiedlichen Situationen der Erfahrungsbildung im Lohnarbeit/Kapital-

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Konflikt stattfinden – die systematische gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist ihre organisierte Form. Auf sie richtet sich, ganz im Sinne der von Adorno postulierten Spurensuche, ein Maßstab setzender Beitrag aus dem Kreis der Repräsentanten der „zweiten Generation“ der Kritischen Theorie – Oskar Negts Schrift „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“ (Negt 1975, 1978). Eher ein Entwurf als ein konsistentes Konzept, wirft dieser Text aus den neunzehnhundertsechziger Jahren einen Stein ins Wasser der gewerkschaftlichen Pädagogik, der bis heute seine Kreise zieht. Aufregend, zumindest anregend (und für nicht wenige tragend) sind nach wie vor der politische Anspruch und das subjekttheoretische Konzept: Gewerkschaftliche Bildung als politische Bildung richtet sich darauf, in den Alltagskonflikten abhängiger Arbeit die Klassenstruktur der Gesellschaft zu erkennen und als praktisch veränderbar zu begreifen. Und: Dieses Bewusstsein ist den Subjekten des (Lern-)Handelns weder durch Erweiterung oder „Berichtigung“ (so eine verkürzte, ja verkehrende Schlussfolgerung in manchen gewerkschaftlichen oder politischdogmatischen Bildungskonzepten der damaligen Zeit) von außen zu vermitteln noch entsteht es theorielos durch ein Kreisen um sich selbst, sondern es entwickelt sich durch die theoretisch reflektierte Auseinandersetzung der Arbeitenden mit den Widersprüchen ihrer eigenen Erfahrungen, in denen immer schon ein kritischer und normativer Wahrheitsgehalt über die Gesellschaft enthalten ist. Dabei geht es immer auch um die psychologische Dimensionen von Macht und Ohnmacht, Widerspruch und Widersprechen, Bindung und Abstoßung durch die Gegebenheiten. Aufklärung als pädagogisch gestützte und vermittelte Selbstaufklärung – dieser Grundgedanke, gespeist aus der Hegel’schen Dialektik der wechselseitigen Durchdringung der Widersprüche, des Marx’schen Begriffs von Ideologie als Verschränkung von richtigem und notwendig falschem Bewusstsein und seiner erkenntnistheoretischen Kritik an Feuerbach (Bewusstsein ist nicht Widerspiegelung, sondern Verarbeitung; der Erzieher selbst muss erzogen werden), ist das Leitmotiv der politischen Erkenntnistheorie und der gewerkschaftspolitischen Pädagogik, die sich der Kritischen Theorie verbunden weiß und die durch Negt geprägt wird. Die Ausgestaltung gewerkschaftlicher Bildungskonzepte ist höchst unterschiedlich und ihr politischer Anspruch umstritten – historisch wie aktuell (vgl. Beerhorst 2006). Soweit sich gewerkschaftliche Bildungsarbeit als emanzipatorisch und deshalb kapitalismuskritisch versteht, sind – auch und gerade gegenwärtig – die Negt’schen Kategorien Erfahrungsansatz, exemplarisches Lernen und soziologische und soziale Fantasie ihre gesellschaftstheoretische und konzeptionelle Grundlage.

5.3

Zur Logik und zum Zielinhalt sozialer Kämpfe

Wenn es eine Stärke der Kritischen Theorie ist, gesellschaftlich bedingte und auf das gesellschaftliche Zusammenleben bezogene Handlungsmotive der Menschen zu verstehen und zu beeinflussen und dabei einen analytischen und normativen Ökonomismus zu vermeiden, so sind es – bei aller Kritik an ihrer mehr oder minder ausgeprägten Tendenz zum Umschlagen in eine Ökonomievergessenheit – vor allem Beiträge von Axel Honneth und Jürgen Habermas, die diesen Zugang zur Logik und

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zum Ziel sozialer Auseinandersetzungen weiter ausbauen. Alex Demirovic nimmt dann insbesondere Habermas’ demokratietheoretische Konzeption auf, wendet sie kritisch und materialisiert den Demokratieanspruch durch seine Übertragung auf die Wirtschaft und die Gewerkschaften. Für Honneth sind es im Kern die Verletzungen von subjektiv bedeutsamen Anerkennungsansprüchen, die bei den Betroffenen Impulse des Empfindens, der Reflexion und des Verhaltens auslösen. Auf drei Ebenen erheben Honneth zufolge (der sich dabei an einer von Hegel postulierten Stufenleiter der Sittlichkeit orientiert) die Menschen den Anspruch auf individuelle Geltung und Achtung – diesen Ebenen entsprechen jeweils spezifische Formen der Anerkennung durch andere: Im sozialen Nahbereich der Familie mit der Anerkennungsform Liebe; im Bereich der besitzbürgerlichen Gesellschaft mit der Anerkennungsform Recht; im Bereich der Gesellschaft als soziales Gemeinwesen mit der Anerkennungsform der Solidarität und des Respekts für die Entfaltung eigener Lebensformen (Honneth 1994, S. 33 ff.). Diese dritte Ebene von Anerkennungsbeziehungen ruht auf den beiden anderen auf und ist – die beiden anderen enthaltend – die höchste Form der Sittlichkeit, d. h. des guten Lebens, bzw. seine Bedingung: „das Ingesamt an intersubjektiven Beziehungen“, die „der individuellen Selbstverwirklichung als notwendige Voraussetzungen dienen“ (Honneth 1994, S. 277). Mit diesem Konzept erweitert Honneth einen zu engen Interessenbegriff als Movens politischen Handelns in doppelter Weise: Nicht (nur) die ökonomischsozialen Infrastrukturen der Gesellschaft als Gegenstand der Kritik und Ziel der Veränderung werden in den Blick genommen, sondern die (gesellschaftlich bedingten) menschlichen Beziehungen. Und: Das moralisch-emotionale Substrat von Interessenhandeln – vorenthaltene Achtung, verletzte Würde, enttäuschte Geltung – tritt in den Vordergrund, erhält die ihm zukommende Bedeutung: „Nur weil menschliche Subjekte auf soziale Kränkungen, wie sie die physische Misshandlung, die Entrechtung und die Entwürdigung darstellen, nicht gefühlsneutral reagieren können, haben die normativen Muster der wechselseitigen Anerkennung innerhalb der sozialen Lebenswelt überhaupt eine gewisse Verwirklichungschance; jede negative Gefühlsreaktion nämlich, die mit der Erfahrung der Mißachtung von Anerkennungsansprüchen einhergeht, enthält in sich wieder die Möglichkeit, dass sich dem betroffenen Subjekt das ihm zugefügte Unrecht kognitiv erschließt und zum Motiv des politischen Widerstandes wird.“ (Honneth 1994, S. 224) Zwar neigt Honneth stark dazu, in einer umgekehrten Vereinseitigung ökonomische Konflikte um Arbeit und Verteilung lediglich als Ausdrucksform verletzter Anerkennung zu interpretieren (Honneth 1994, S. 206) und in ihrer Eigenheit und sozialen Bedeutung zu vernachlässigen. Er bleibt sich aber dennoch der jeweiligen Logik von materiellen Verteilungs- und moralischen Anerkennungskonflikten bewusst: „Dort geht es um die Analyse einer Konkurrenz um knappe Güter, hier jedoch um die Analyse eines Kampfes um die intersubjektiven Bedingungen von persönlicher Integrität.“ (Honneth 1994, S. 265). Seiner Konflikttheorie der moralischen Reaktionsbildung schreibt er – entgegen dem Fokus seiner Argumentation – sogar lediglich eine ergänzende Funktion zur Analyse rationalen Interessenhandelns zu. Für seine Schwerpunktsetzung auf die Anerkennungsthematik gibt er allerdings

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gute Gründe an – denn „die sozialtheoretische Fixierung auf die Dimension des Interesses (hat) unseren Blick für die gesellschaftliche Bedeutung moralischer Gefühle (. . .) so nachhaltig verstellt, dass dem anerkennungstheoretischen Konfliktmodell über die Ergänzungsfunktion hinaus heute zugleich die Aufgabe einer möglichen Korrektur zufällt“ (Honneth 1994, S. 265). Eben diese Korrektur macht Honneths Beitrag bedeutsam und anschlussfähig für die Vitalisierung der Gewerkschaften – es ginge darum, den emanzipatorischen Gehalt der alltags-, arbeits- und sozialethischen Motive von Würde, Anerkennung, Autonomie, Selbstwirksamkeit als den materiellen Interessenkonflikten gleichrangig zu betrachten und die Auseinandersetzungen in der Arbeit, in der Wirtschaft und in der Gesellschaft systematisch um diese Dimension zu erweitern. „Neue“ wie „alte“ Arbeitnehmermilieus sind dafür zugänglich, warten vielleicht nur darauf, Latentes zur Sprache und Wirkung zu bringen.13 Intersubjektivität und Sittlichkeit, das aufeinander bezogene Agieren von Menschen zur Herstellung menschenwürdiger gesellschaftlicher Verhältnisse, sind – kommunikationstheoretisch abstrakter als bei Axel Honneth, aber nicht minder Maßstäbe setzend – Leitmotiv der politischen Philosophie von Jürgen Habermas: „Dass man ohne Preisgabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturellen wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten; dass man aufrecht gehen kann in einer Gemeinsamkeit, die nicht die Fragwürdigkeit rückwärtsgewandter substanzieller Gemeinschaftlichkeiten an sich hat.“ (Habermas 1985, S. 202) Habermas will sowohl die auf Einsicht und Handeln des Einzelnen zentrierte und beschränkte Subjektphilosophie als auch die Theorie und Realität der Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung durch die verselbstständigten Systeme Verwaltung und Wirtschaft überwinden. In der menschlichen Sprache, die immer auf Verstehen angelegt ist, sieht er dafür die Grundlage, und das Grundmodell gelingender Kommunikation sieht er in der idealen Sprechsituation, in der auf wechselseitiger Anerkennung als Gleichen beruhenden herrschaftsfreien Verständigung über Geltungsansprüche, die in Diskursen erhoben werden. Diese Diskurse richten sich auf Wahrheitsfragen – also auf Erkenntnis dessen, was ist, wie auch auf Richtigkeitsfragen, also darauf, was sein soll – und damit auf die Berechtigung und Festlegung von Normen sozialen Zusammenlebens und von Zielen gesellschaftlicher Entwicklung. Vor der Problematik der Produktionsweise und der Produktionsverhältnisse und der in ihnen eingelagerten und aus ihnen hervorgehenden Konflikte rangiert bei Habermas die Verständigungsform

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Dies aufzunehmen ist für eine gewerkschaftliche Interessenpolitik, die sich an einer Erhöhung wirklicher Freiheitsgrade in und gegenüber der Arbeit orientiert, um so bedeutsamer, als die Gegenseite eben diese Motive zu bedienen scheint: Das moderne Management greift die „Künstlerkritik“ (Boltanski/Chiapello) an entfremdeter Arbeit auf und versucht, durch mehr Entscheidungsräume, Selbststeuerung und Kompetenzanrufung der Arbeitenden Freiheit und Verantwortung neu zu organisieren, dabei und damit jedoch den Kern und die Grenzen verwertungsgetriebener Zwecke und Organisationformen der Arbeit gegen Kritik zu immunisieren: Das Selbst wird gestärkt, allerdings das unternehmerische (Bröckling 2013) – Herrschaft durch Autonomie.

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einer Gesellschaft und deren Beeinträchtigung durch das Übergreifen der gesellschaftlichen Subsysteme Wirtschaft und Politik/Verwaltung mit ihren „Kommunikationsmedien“ Geld und Macht in das Medium des herrschaftsfreien Diskurses. Habermas’ sprachphilosophische Wendung der Kritischen Theorie, die mit der Verabschiedung inhaltlicher arbeits- und wirtschaftsgesellschaftlicher Utopien verbundene Entmaterialisierung der idealen Sprechsituation, die Trennung und Entkopplung von kommunikationsbasierter Lebenswelt und mediengesteuertem ökonomischen System, die daraus resultierende Beschränktheit des Demokratiekonzepts ist vielfacher Kritik ausgesetzt (vgl. Beerhorst 2004, S. 355 f.). Sein einst erhobener Grundanspruch an die Diskursethik einer emanzipierten Gesellschaft und an den Weg dorthin – gekleidet in eine hypothetische Frage politischer Philosophie – bleibt jedoch für die Linke und damit auch für die Gewerkschaften unhintergehbar: „Wie hätten die Mitglieder eines Gesellschaftssystems bei einem gegebenen Entwicklungsstand der Produktivkräfte ihre Bedürfnisse kollektiv verbindlich interpretiert und welche Normen hätten sie als gerechtfertigt akzeptiert, wenn sie mit hinreichender Kenntnis der Randbedingungen und der funktionalen Imperative ihrer Gesellschaft in diskursiver Willensbildung über die Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs hätten befinden können und wollen?“ (Habermas 1973, S. 156) Alex Demirović greift eben dieses Motiv auf und arbeitet Bedingungen heraus, die im Bereich der materiellen Produktion entwickelt werden müssten, um seiner Realisierung näher zu kommen, und die sowohl von Habermas wie von der sich auf ihn – wenn auch z. T. kritisch – beziehenden Demokratietheorie ignoriert werden (Demirović 2007, S. 104 ff.). Während für Habermas die Gewerkschaften zwischen System und Lebenswelt stehen und als ökonomische Interessenvertretungen eher den Partikularinteressen der Systemseite zuzurechnen sind, von denen sich kaum verallgemeinerungsfähige Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs erwarten lassen, betont er die geschichtliche Rolle, die Programmatik und das Selbstverständnis von Gewerkschaften bei der Artikulation und Durchsetzung von lebensweltlichen Ansprüchen gegenüber und in den systemischen Zusammenhängen von Wirtschaft und Politik. An den liberalen radikal-demokratischen und zivilgesellschaftlichen Demokratiekonzepten kritisiert er ihre Tendenz der „Zuflucht zu einem Ort der politischen Allgemeinheit jenseits konkreter Interessen“ (Demirović 2007, S. 118), deren zentrale Arena er nach wie vor als in den Konflikten der Arbeitswelt und der kapitalistischen Ökonomie begründet sieht. Daher haben sich Demokratietheorie und Demokratiepolitik in eben dieser Sphäre zu bewähren. Für die Theorie gilt: Sie hat ihre Arbeitsvergessenheit zu überwinden. Für die Gewerkschaften als demokratiepolitischen Akteuren gilt: Sie müssen die Praxis, die Reichweite und die Begründung der Arbeitnehmermitbestimmung politisch erweitern und hinsichtlich ihrer Beziehung zu gesamtgesellschaftlichen Interessen demokratietheoretischnormativ fundieren. Es ginge um eine weitgehende Reform der wirtschaftsdemokratischen Institutionen und Praktiken auf der Makro-, Meso- und Mikroebene (Demirović 2007, S. 254) – Schritte dahin wären u. a. die Aufwertung Europäischer Betriebsräte, die Einrichtung gestufter überbetrieblicher Wirtschafts- und Sozialräte, eine dritte Bank öffentlicher Interessen in den Aufsichtsräten von Unternehmen und deren stärkere Kontrolle durch die Beschäftigten, der Ausbau direkter Mitbestim-

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mungsrechte am Arbeitsplatz. All das zielt darauf und ist daran gebunden, den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx) und die alte Arbeitsteilung zwischen Vertretern und Vertretenen durch Diskurs und Selbstbeteiligung abzulösen: „Die wirtschaftspolitischen Maßstäbe und Ziele müssten Gegenstand der öffentlichen Diskussion und Entscheidung durch die Betroffenen sein.“ (Demirović 2007, S. 256) Nur wenn die Demokratisierung der Ökonomie gelingt, hängen diskurspolitische Demokratisierungskonzepte der Gesellschaft nicht in der Luft.

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Kritische Theorie der Gewerkschaften

Für die Begründer der Kritischen Theorie und für die meisten Repräsentanten der zweiten und dritten Generation sind die Gewerkschaften als bedeutender Teil der Arbeiterbewegung, so viel wurde deutlich, kein eigener Gegenstand von Forschung und Theoriebildung, die Beziehung ist überwiegend eine der Ambivalenz zwischen grundlegender Skepsis, Nichtbeachtung und Anerkennung ihrer Bedeutung für soziale Rationalität und Demokratie. Gleichwohl sind aus dem Zusammenhang des Instituts für Sozialforschung heraus drei relevante Stränge von Gewerkschaftstheorie entstanden, die abschließend kurz erörtert werden sollen. Unter den zeitgenössischen Ansätzen die versuchen, die Funktionen von Gewerkschaften nicht nur systematisch zu beschreiben, sondern – auf der Basis eigener empirischer Forschung am IfS über Tarifpolitik und Arbeitskämpfe in der BRD – sozialwissenschaftlich auf einen Begriff zu bringen, ist Walther Müller-Jentschs Konzept von Gewerkschaften als „intermediären Organisationen“ nach wie vor der am genauesten ausgearbeitete und am meisten zitierte. Sein Kerngedanke besteht darin, dass die Gewerkschaften jene als intermediär bezeichnete „eigentümliche Zwischensphäre im Verhältnis von Management und Belegschaft, von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften“ (Müller-Jentsch 1986, S. 17) miterzeugen, dadurch ihren ursprünglichen Charakter als authentische Klassenorganisation verändern und selbst in eine Zwischenstellung geraten: „Die modernen Gewerkschaften sind . . . intermediäre Organisationen. Nicht die (ungebrochene) Vertretung von Mitgliederinteressen, sondern deren Vermittlung bzw. Mediatisierung ist für ihre Praxis konstitutiv; . . . die Politik der intermediären Gewerkschaft (ist) Ausdruck einer pragmatischen Vermittlung zwischen Kapital- bzw. Systeminteressen auf der einen und Arbeiter- bzw. Mitgliederinteressen auf der anderen Seite . . .“ (63) – deutlicher noch: die Gewerkschaften befinden sich in einer „strukturelle(n) Schieflage“, die sie „in die vermittelnde Rolle zwischen Kapital- und Arbeiterinteressen hineinrutschen lässt“ (Müller-Jentsch 1982, S. 417). Maßstab für diese Verortung zwischen den Klassen sind offenbar authentische Lohnarbeitsinteressen, die in und mit den Gewerkschaften nicht (mehr) zum Ausdruck kommen, da sie in institutionellen Kompromissstrukturen fragmentiert werden – mit der Konsequenz, „dass die gewerkschaftliche Interessenvertretung traditioneller Art ihre Unschuld verlor“ (Müller-Jentsch 1981, S. 183). Neben zahlreichen anderen Einwänden, die gegen dieses Intermediariätskonzept zu erheben sind (vgl. Beerhorst 2005), besteht der zentrale Kritikpunkt darin, dass

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der ihm zu Grunde liegende Interessenbegriff nicht wirklich handlungs- und klassentheoretisch durchdacht ist. Denn – die von Müller-Jentsch herangezogene „Institutionalisierung des Klassenkonflikts“ (Theodor Geiger), die damit einhergehende Zentralisierung und Bürokratisierung der modernen Massengewerkschaften, die prekäre, oft formalisierte innerverbandliche Demokratie, die zunehmende Absorption des Bewegungs- durch das Organisationsmotiv zugestanden – an die theoretische Ortsbestimmung der Gewerkschaften zwischen den Klassen ist die Frage zu richten, welche Vorstellung über die Generierung von Mitglieder- und Klasseninteressen ihr zugrunde liegt. Argumentiert dieser Ansatz doch durchweg mit objektiven, originären, von den Organisationen nur gebrochen oder gar nicht aufgenommenen und vertretenen Interessen, ohne jemals auf deren Zustandekommen zu reflektieren – sie werden als vorhanden unterstellt (vgl. demgegenüber den dargestellten praxeologischen Klassenbegriff von Thompson u. a.). Was als „authentische, ungebrochene, originäre“ Interessen zu gelten hat, wie sie subjektiv bewusst und kollektiv artikuliert werden, welche Denaturierung sie schließlich durch Gewerkschaften erfahren – diese Vorgänge bleiben, indem sie an-, aber nicht ausgeführt werden, im Dunkeln; der Weg der Gewerkschaften in die Intermediariät wird gar als „gleichsam naturwüchsige(r) Prozess“ angesehen (417). Dies kann bei einer derart starken These, wie sie das Intermediaritätskonzept aufstellt, nicht befriedigen. Zwar ist die aus einer kapitalismuskritischen und emanzipatorischen Perspektive erfolgende Zurechnung von in der gesellschaftlichen Lage begründeten Klassen- oder auch nur Mitgliederinteressen, die als verallgemeinerbar und in diesem Sinne als objektiv gelten können, als Orientierungsgröße gewerkschaftlicher Politik unverzichtbar; die Denkfigur ihrer Präexistenz als bewusste, unvermittelt artikulierbare, kollektiv geteilte, wie sie im Hintergrund des Intermediaritätstheorems steht, aber hat etwas abstrakt Metaphysisches. Und die auf dieser Folie erfolgende Eintragung der modernen Massengewerkschaften zwischen den Klassen – auf einer schiefen Ebene („bias“) weg von der Lohnarbeit in Richtung des Kapitals rutschend (und wo eigentlich endend?) – ist als Wesensbestimmung der Gewerkschaften unhaltbar, sowohl historisch wie theoretisch. Mit diesen Einwänden wird keineswegs verkannt, dass Gewerkschaften – in historischen Umbruchphasen, in Tarifbewegungen, bei ‚wilden‘ Streiks, bei drohenden Betriebsschließungen, bei politischen Auseinandersetzungen – auch mäßigend und demobilisierend wirken (können); dies bedarf der jeweiligen spezifischen Analyse (und Beurteilung). Die konkrete Analyse und Kritik wird im Intermediaritätstheorem jedoch ersetzt durch eine falsche Verallgemeinerung und Typologisierung des Gewerkschaftscharakters. Demgegenüber ist festzuhalten: Nicht die Kanalisierung und Bändigung überschießender Motive ist historisch wie aktuell das Hauptproblem gewerkschaftlicher Integration, d. h. der Anerkennung, „Folgebereitschaft“ und Organisationsbindung von Mitgliedern und Nicht-Organisierten, sondern die Zusammenführung und Aufhebung partikularer, zumeist eher „konservativer“, situationsverhafteter Haltungen und Interessen. Indem das Intermediaritätstheorem aber subjektive, im Kern sozialistische, Klasseninteressen voraussetzt, an denen gemessen Gewerkschaften nur abfallen können, ignoriert es systematisch, dass sich Lohnarbeitsinteressen, aus denen – entsprechend aufgeklärt – erweiterte Ansprüche

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und gesellschaftsverändernde, das Kapitalverhältnis in Frage stellende Motive werden können, in und durch Gewerkschaften „anlassunabhängig“ erst artikulieren, austauschen, verstetigen, vervielfältigen und verallgemeinern, als Klasseninteressen also erst konstituieren (Tenfelde 1984). Bei stärkerer Würdigung und genauerer Betrachtung der innergewerkschaftlichen Prozesse und latenten Sinngehalte stieße man nicht nur auf kapitalismuskritische Motive und Potenziale, die den – von Marx und Goetz Briefs in geradezu klassischer Weise postulierten – inner- und antikapitalistischen Doppelcharakter der Gewerkschaften keineswegs obsolet machen. Man gewönne auch ein differenzierteres Bild und ein anderes Konzept von der im Intermediaritätstheorem zentralen Kategorie der Vermittlung.14 Um eben diese Vermittlung geht es im bedeutsamsten Strang der aus der Kritischen Theorie der Gesellschaft hervorgehenden und ihren Motiven verpflichteten Gewerkschaftstheorie – in den gewerkschaftstheoretischen Schriften von Oskar Negt. Auf seinen prägenden Beitrag zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit wurde bereits eingegangen – hier soll er in sein normatives Konzept von Gewerkschaft eingebettet werden. Die Negt’sche Gewerkschaftskonzeption ist nicht abzutrennen von seinem Arbeitsbegriff – nirgendwo wird seine Differenz zu Habermas als Diskurspartner und -konkurrenten der „Frankfurter Schule“ deutlicher als hier. Während „Arbeit“, insbesondere Erwerbsarbeit, für Habermas als Inbegriff instrumentellen Handelns der freien kommunikativen Verständigung nicht zugänglich ist, sondern dem nach eigenen Regeln und Imperativen funktionierenden System „Wirtschaft“ unterliegt und überlassen bleibt, ist sie für Negt die widersprüchliche Vermittlung von Subjekt und Objekt, durch die sich beide entwickeln – oder abhanden kommen, und deren subjektiven Potenziale durch Arbeitspolitik frei zu legen sind. Während Habermas arbeitsgesellschaftlichen Utopien eine endgültige Absage erteilt, hält Negt ihre Zeit gerade jetzt für gekommen. Dabei geht es ihm um dreierlei: Der Arbeitsprozess ist so zu gestalten, dass die Arbeitenden ihre fachlichen, intellektuellen und sozialen Kompetenzen entfalten können, degradierende Arbeitsteilung und die Entgegensetzung von Anordnung und Ausführung zurückgenommen werden. Da Arbeit für Negt aber sehr viel mehr ist als Erwerbsarbeit, nämlich umfassende, allgemeine gesellschaftliche Praxis von Produktion, Selbstverwaltung und Selbstverwirklichung (Negt 1985, S. 175), ist

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Im Laufe der Jahrzehnte hat das Intermediaritätskonzept einen nicht unwesentlichen Funktionswandel erfahren – bei den meisten seiner Rezipienten und bei seinem Urheber: Wurde es – auf der Folie enttäuschter Erwartungen – zunächst analytisch-kritisch auf eine sozialpartnerschaftlichintegrative Gewerkschaftspolitik bezogen, so gilt es heute – angesichts der geschwächten Stellung der Gewerkschaften im nachfordistischen Shareholder-Kapitalismus – als normativ: Gewerkschaften sollen eine mitgestaltende intermediäre Stellung im System der industriellen Beziehungen zurück gewinnen und sich durch keine antikapitalistischen, etwa wirtschaftsdemokratischen Reminiszenzen in der Perspektive der Aufhebung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse, von ihrer Systemimmanenz ablenken lassen. (Müller-Jentsch 2005, S. 194, 2012). Richtiger wird es dadurch nicht.

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der herkömmliche Arbeitsbegriff in diese Richtung zu erweitern – Aktivität im sozialen und zwischenmenschlichen Bereich, bei der Herstellung wirtschaftlicher und politischer Demokratie, bei der Entwicklung eines lebenswerten Gemeinwesens ist als gesellschaftlich notwendig zu werten und kulturell wie materiell anzuerkennen. Da Arbeit – auch solche mit höheren Freiheitsgraden und anderen Gegenständen als heute – aber immer eine Tätigkeit bleibt, die ihre Zwecke außerhalb ihrer selbst hat und mit Anstrengung, Entäußerung und der Gefahr der Vereinseitigung menschlicher Sinne verbunden ist, ist die auf sie verwendete Lebenszeit zu begrenzen und zu minimieren. Dies gilt umso mehr in einem hochproduktiven Kapitalismus, in dem sich der stoffliche Reichtum mit immer geringerem Arbeitsaufwand herstellen lässt und nicht der Mangel, sondern der rationale Umgang mit dem Überfluss zum Problem wird. Zur Negt’schen Utopie einer Transformation der Arbeitsgesellschaft gehört also nicht nur die Emanzipation in der Arbeit, sondern auch die Emanzipation von der Arbeit und der engen Bindung des Einkommens an Erwerbstätigkeit. Diese Kopplung entspricht nicht mehr dem Stand der subjektiven und materiellen Produktivkräfte, der neue Maßstäbe der Herstellung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums erfordert und ermöglicht – in Gestalt eines garantierten existenzsichernden Grundeinkommens bei einer drastisch reduzierten Lebensarbeitszeit als Anteil an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Mit diesem arbeitspolitischen Konzept ist der entscheidende Akteur gesetzt – die Gewerkschaften. Als elementare Interessenorganisationen abhängiger Arbeitskraft sind sie unverzichtbar, um den im Kapitalverhältnis Unterlegenen Stimme und Gewicht zu geben. Entsprechend dem weit gefassten Begriff von Arbeit und Arbeitspolitik schreibt Negt ihnen jedoch Aufgaben zu, die weit über eine unmittelbare Interessenvertretung hinausgehen. Das, was bei anderen „Doppelcharakter“ (Marx) oder „Doppelung der Ziele“ (Briefs) heißt, fasst Negt als „Gewerkschaftsprivileg“ (Negt 2004a, S. 146), als ihr politisches und kulturelles Mandat. Immer ist ihre primäre Aufgabe, dem „nibbling and cribbling at mealtimes“ (Marx) entgegen zu treten und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen im Hier und Jetzt durchzusetzen. Zugleich und darüber hinaus muss es ihnen aber um die emanzipatorische Perspektive einer anderen Arbeit und eines grundlegend veränderten Gemeinwesens gehen, das die Instrumentalisierung und Selbstinstrumentalisierung des Menschen als sein ökonomisches Prinzip überwindet. Deshalb sind sie auch niemals nur auf den Betrieb beschränkt, sondern ebenso außerbetriebliche, gesamtgesellschaftliche Akteure. Negts theoretischer und – durch empirische Untersuchungen, Schriften, Vorträge, Interventionen – praktischer Beitrag zur Gewerkschaftsentwicklung bezieht sich nun auf die Vermittlung von individuellen, kollektiven und historischen Interessen als dem nach wie vor entscheidendem Problem der Arbeiterbewegung: „Wie sind auf der Grundlage kollektiv erzwungener gemeinsamer Existenzbedingungen der unterdrückten und ausgebeuteten Massen, die ja im Horizont der subjektiven Einzelinteressen ihres Alltags leben, Allgemeininteressen der Klasse zu erzeugen, durch welche die individuellen Interessen nicht beseitigt, sondern aufbewahrt, aufgehoben sind?“ (Negt 1989, S. 231)

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Diese Interessen sind, über das unmittelbar Materielle hinaus, weit gefasst und haben – wie bei anderen Autoren der Kritischen Theorie auch – ihren Fluchtpunkt in der Ethik menschenwürdiger Verhältnisse. Für Negt wurzeln sie allerdings nicht in Kommunikations- und Anerkennungsbeziehungen jenseits der Ökonomie, sondern in ihrem Kern, in der Arbeitswelt: Die Würde des Menschen ist seine Würde in und gegenüber der Arbeit oder sie ist nicht. Gewerkschaften sind die entscheidende Kraft ihrer Verwirklichung – nicht zuletzt gegen Habermas gerichtet, postuliert er: „Es darf den Kolonisierungstheoretikern nicht gelingen, ihnen den Stempel gewöhnlicher Interessenverbände aufzuprägen.“ (Negt 1985, S. 96) Damit knüpft Negts Gewerkschaftsbegriff an eine Vorstellung von Gewerkschaft an, die aus einer frühen – politik- und rechtswissenschaftlichen – Seitenlinie des Instituts für Sozialforschung hervorgegangen ist, dort aber nicht weiter verfolgt und auch von Negt nicht ausdrücklich zitiert wird: Franz L. Neumanns konziser analytischer wie normativer Charakterisierung der Gewerkschaften. Er schreibt ihnen drei Kernfunktionen zu: Sie sind zum einen Selbsthilfeorganisationen zur gegenseitigen Unterstützung in Notlagen und zur Erbringung von Diensten und Leistungen für ihre Mitglieder; sie sind zum anderen Kampfverbände für die Normierung der Verkaufs- und Anwendungsbedingungen abhängiger Arbeit durch Kollektivverträge; zum dritten schließlich sind sie politische Verbände, die auf allen Ebenen des staatlich verfassten Gemeinwesens – Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung – mit den ihnen verfügbaren Mitteln agieren, einschließlich des politischen Streiks. Das Spezifische ihres politischen Charakters besteht aber nicht lediglich in der Präsenz in den politischen Arenen und in dem nur ihnen zu Gebote stehenden Instrument der politisch motivierten Arbeitsverweigerung, sondern in der Zielsetzung ihres Wirkens. Neumann spricht das kapitalistische Eigentum – und das kennzeichnet seine Theorie als kritische – als Gewaltverhältnis an, mit dem die Gewerkschaften keinen Frieden schließen können: Neben und mit der Erhöhung des Lebensniveaus der Lohnarbeiter muss es ihnen darum gehen, „den arbeitenden Menschen von den Fesseln der Eigentumsherrschaft zu befreien, die Herrschaft des Eigentums über den Menschen durch die Herrschaft des Menschen über das Eigentum zu ersetzen.“ (Neumann 1978, S. 152) Aufhebung der Verkehrung von Subjekt und Objekt, Ausgang aus selbsterzeugter Selbstentfremdung – diese Zielperspektive bleibt eine motivationale Klammer von Kritischer Theorie und Gewerkschaften. Ohne wechselseitige Wahrnehmung und Kooperation15 wird man sie verfehlen.

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Ein viel versprechender Versuch, dies in einer systematischen Weise anzugehen, war die gemeinsame Tagung der gewerkschaftlichen Otto-Brenner-Stiftung und des Frankfurter Instituts für Sozialforschung am 14. und 15. Februar 2001 unter dem Titel „Aufgaben und Perspektiven der kritischen Gesellschaftstheorie heute“, deren Beiträge dokumentiert sind in Beerhorst/Demirović/ Guggemos, 2004. Dieser Versuch harrt seiner Fortsetzung.

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J. Beerhorst

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Teil VI Kulturindustrie: Dimensionen und Aspekte eines Zentralbegriffs Kritischer Theorie

Kulturindustrie Gerhard Schweppenhäuser

Zusammenfassung

Der Begriff „Kulturindustrie“ steht für die Kritik des Kulturbetriebs der Industriegesellschaften seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Die ästhetisch-kulturelle Sphäre wird auf die Warenform ihrer Produkte reduziert; das prägt die Weisen, wie Menschen die Welt wahrnehmen. Hintergrund der Kritik ist ein normativer Kulturbegriff: Kultur war ein Bereich, der sich ökonomischen Zwängen ein Stück weit entziehen kann, insofern auch Vorschein einer befreiten Gesellschaft. Damit ist es im Zeitalter der „Kulturindustrie“ vorbei. In dieser Phase folgen Produktion und Rezeption kulturell-symbolischer Formen zur Gänze der Logik der Warenproduktion. Schlüsselwörter

Kulturtheorie · Gesellschaftstheorie · Medientheorie · Massenkultur · Populäre Kultur

1

Einleitung

„Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet“, schrieben Horkheimer and Adorno (1944/47, S. 150) Mitte des 20. Jahrhunderts. In der kritischen Theorie der Kulturindustrie geht es um Vermittlungsgestalten gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse. Dies entspricht Horkheimers Programm einer aktualisierten marxistischen Gesellschaftsanalyse, für die eine dialektische Kulturtheorie ebenso unabdingbar ist wie eine freudianische Sozialpsychologie. Deren Materialismus besteht nicht in deterministischer Ableitung von BewusstseinsgestalG. Schweppenhäuser (*) Fakultät Gestaltung, Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_57

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ten aus gesellschaftlichen Seinsgestalten, sondern in begrifflicher Rekonstruktion gesellschaftlicher Erfahrung, die sich in teilweise weitgehend autonomen Formgebilden niederschlägt und Ausdruck verschafft. Die Kulturindustriekritik verbindet Herrschafts-, Kultur und Gesellschaftstheorie auf der Grundlage einer Theorie sozialer Synthesis, in der Motive von Marx und Kant zusammengebracht werden. Erkenntnistheoretisch wird davon ausgegangen, dass es Bedingungen der Synthesisleistungen im individuellen Verstand – Wahrnehmungen, Vorstellungsbilder, Begriffe, Urteile und Schlüsse – gibt, die jeder einzelnen Erfahrung vorausgehen, weil sie zwar historisch und kulturell vermittelt, doch universal wirksam sind. Sozialphilosophisch wird angenommen, dass in der Synthesis des Verstandes, wie in allen Erscheinungen der gesellschaftlich-geschichtlichen Bewegung, eine funktionale – zwar abstrakte, aber zugleich höchst reale – warenförmige Synthesis am Werk ist. Deren Zentralkategorie ist der Tauschwert, der Äquivalenz durch Subsumtion von Nichtidentischem unter formale Identität herstellt. Die systematische Einheit der Gesellschaft kommt demzufolge funktional über den Äquivalententausch zustande, dessen Kern der – in Wahrheit ungleiche – Austausch von Mehrwertzusatz durch Arbeitskraft gegen Subsistenzmittel zur Erhaltung der Arbeitskraft als Ware ist. Im 20. Jahrhundert, lautet die leitende Annahme, nehmen auch diejenigen Produkte der ästhetischen und alltagskulturellen Sphäre vollständig die (im marxschen Sinne: fetischhafte) Form an, welche ihr zuvor noch nicht unterworfen waren und daher Wahrnehmungen und Erfahrungen zuließen, die ihren Zwängen nicht gehorchen. Heute wird das Wort Kulturindustrie häufig affirmativ, als Name für den massenmedialen Unterhaltungsbetrieb mit all seinen Facetten, verwendet. Das könnte man als eine Ironie der Kulturgeschichte verbuchen, über die Wissende schmunzeln dürfen. Doch dann würde man achtlos darüber hinweggehen, dass ein Begriff, der zum Erkenntnisinstrumentarium für das Verständnis der gegenwärtigen Stufe der kapitalistischen Gesellschaft gehört, verloren zu gehen droht. Das Ausmaß des Verlusts eines kritischen Begriffs der Kulturindustrie kommt den Folgen gleich, die der Verlust des kritischen Ideologiebegriffs mit sich gebracht hat. Dieser wird mittlerweile kaum noch zur Unterscheidung zwischen sachangemessenem, normativ-kritischem Bewusstsein und sachinadäquatem und reaktionärem Denken verwendet. Neutralisiert und sinnentleert, bezeichnet er alle Formen des Denkens, die nur noch nach sozialer Herkunft oder Standpunkt voneinander unterschieden werden; oder aber er grenzt willkürlich das vermeintlich korrekte bzw. anständige Denken der Eigengruppe von dem der Fremdgruppe ab, deren Vertreter herabsetzend als Ideologen bezeichnet werden. Ähnlich die Schieflage, in die man mit dem Wort „Kulturindustrie“ geraten kann: In der Regel wird es entweder neutral als Synonym für den Ausdruck „Kulturbetrieb“ verwendet, oder es wird mit negativer Konnotation gebraucht, um schlechte kulturelle Angewohnheiten der anderen von den eigenen, besseren (weil reflektierteren) abzugrenzen. Dies nimmt mitunter die Gestalt an, dass eigene Vorlieben aus der Populärkultur ausdrücklich vom Verdikt ausgenommen werden, bloße Versatzstücke der Kulturindustrie zu sein, während man all jene Produkte pauschal darunter subsumiert, die man selbst nicht schätzt.

Kulturindustrie

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Will man den massenmedialen Betrieb – der heute so global geworden ist, wie die Autoren der Dialektik der Aufklärung antizipierten – nicht nur wertneutral beschreiben oder geschmäcklerisch begutachten, sondern als Erscheinungsweise einer strukturellen gesellschaftlichen Veränderung begreifen, dann gilt es, die inneren Antagonismen der heutigen Kultur epistemologisch als widersprüchliche theoretische Bestimmungen zu rekonstruieren. Nur so können die aktuellen Gestaltungen des Kulturellen von seinen (mehr oder weniger verborgenen) Potenzialen unterschieden und Letztere stark gemacht werden.

2

Zum begriffsgeschichtlichen Umfeld des Terminus „Kulturindustrie“

Das lateinische Wort industria wird meist mit „Betriebsamkeit“ und „Fleiß“ übersetzt; in älteren Lexika kann man noch die Übersetzung „Gewerbefleiß“ finden. Die Wortbildung „Kulturindustrie“ kann also durchaus als Äquivalent für „Kulturbetrieb“ stehen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass auch auf den älteren kunsthistorischen Begriff der „Kunstindustrie“ – im Sinne von Kunstgewerbe – angespielt wird. „Kunstgewerbe“ ist zunächst ein neutraler Fachterminus; aber im Diskurs der ästhetischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, der für Adorno, Horkheimer und Marcuse verbindlich gewesen ist, war „Kunstgewerbe“ ein diskriminierender Begriff. Křenek (1938, S. 152) konstatierte in der Zeitschrift für Sozialforschung, dass das neue Medium Rundfunk „eine unabsehbare Untermusiksetzung der ganzen Menschheit“ betreibe, bei der die Musik als „akustisches Kunstgewerbe zur Verzierung des Alltags“ verwendet werde. Mit dem Wort „Kunstgewerbe“ wurden zweckgebundene Produkte aus dem Kreis authentischer Kunst ausgeschlossen. Nur Letztere aber enthielt aus Sicht der kritischen Theorie gleichsam eine heimliche Sprengkraft, mit deren Hilfe die abendländische Kultur ihr uneingelöstes, menschheitliches Versprechen gegen den eigenen, bürgerlich-partikularistischen Verrat vielleicht doch noch einzulösen helfen könnte. Bei reflektierter Rezeption, so der Gedankengang, könne sie zum Medium von Erfahrungen werden, welche die auf Selbsterhaltung, Konkurrenz und Konformität geeichte bürgerliche Erwerbsrationalität überschreiten. Riegl hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „Kunstindustrie“ der Spätantike untersucht: die Gesamtheit der bildenden Kunst jener Epoche, und zwar die freie wie die angewandte, also nicht nur „Sculptur und Malerei“, sondern auch „Kunstgewerbe“ (Riegl 1901, S. 11). Unter „Kunstindustrie“ verstand er zweckgebundene Designprodukte wie Schmuck und Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs (Riegl 1901, S. 139). Riegl wollte beweisen, dass die angewandte Kunstproduktion dieser Epoche keineswegs als Verfallsprodukt anzusehen sei. Zwar seien „Schönheit“ und „Lebendigkeit“ vom 4. bis ins 8. Jahrhundert n. u. Z. hinein nicht mehr die entscheidenden ästhetischen Kategorien gewesen, doch sei es ein Fehler der Kunstgeschichte, dies als künstlerischen Abstieg zu deuten. Vielmehr habe sich das Interesse der ästhetischen Wahrnehmung damals lediglich auf andere „Erscheinungsformen

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der Dinge“ gerichtet, die zwar ‚weder schön noch lebendig‘, jedoch keineswegs unwichtig sind (Riegl 1901, S. 6). Und dies sei „kein Verfall, sondern ein Fortschritt“ (Riegl 1901, S. 4). Grundlage von Riegls Kritik an der kunsthistorischen Fehleinschätzung war seine Überzeugung von der „Unterschätzung der Bedeutung der decorativen Kunst“ (Riegl 1901, S. 6). Dagegen gelte es, das post-klassische, „fernsichtig-coloristische Kunstwollen“ (S. 180) und die diesem entsprechende „Entnaturalisierung der Mustermotive“ (Riegl 1901, S. 175) als entscheidende, neue ornamentale Errungenschaften jener Epoche zu würdigen, anstatt sie weiterhin als Dekadenzprodukte einer „herabgekommenen, barbarisierten classischen Kunst“ (Riegl 1901, S. 180) misszuverstehen. Neben Riegls historistische Würdigung kunstgewerblicher Ornamente als legitime ästhetische Ausdrucksgestalten trat bald darauf Loos’ gegenwarts-kulturkritisches Verdikt über das Ornament als Stilmittel moderner industrieller Produktion. Loos beschrieb Gestaltung als Ausdruck fortschreitender Emanzipation von der Verflochtenheit menschlichen Produzierens in Naturkreisläufe. In Design und Architektur manifestiere sich die Zivilisierung und Kultivierung anthropologischer Gegebenheiten, die mit fortschreitender Freiheit von Naturzwängen einhergeht. Loos hielt die übermäßige kulturelle Verfeinerung seiner Epoche für ein Anzeichen von Dekadenz. Ornamente würden nicht mehr schlüssig aus den Verarbeitungsvorgängen von Materialien oder aus dem Kunstwollen der jeweils avanciertesten Produzenten hervorgehen, sie seien nur mehr aufgesetzte Schnörkel. Dagegen setzte er klare Zweckformen: Die „evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstand“ (Loos 1908, S. 115). Riegl war Fortschrittsoptimist: Die „Verachtung des Kunstgewerbes“ (Riegl 1901, S. 11) in der Kunsthistorikerzunft habe dazu geführt, dass man die immerfort strömende, niemals zurück-, vielmehr stets fortschreitende (S. 10) Manifestation des „Kunstwollens“ (S. 5) in mannigfachen Gestaltungen verkannte. Loos dagegen war Avantgardist: Wie der frühe Schönberg und Kraus trat er für die permanente Revolutionierung der Formensprache der Kultur ein. „Der moderne mensch verwendet die ornamente früherer und fremder kulturen nach seinem gutdünken. Seine eigene erfindung konzentriert er auf andere dinge.“ (Loos 1908, S. 120) Die musikalische und die kulturelle Moderne überhaupt waren für ihn mit utopischem Potenzial aufgeladen. Das war die Grundlage seiner Ornamentkritik: „Wir haben die kunst, die das ornament abgelöst hat. Wir gehen nach des tages last und mühen zu Beethoven oder in den Tristan“ (Loos 1908, S. 120). Die unversöhnliche Polarisierung von Autonomie und Anwendungsbezug sowie von freier Selbstzweckhaftigkeit und Alltagsnutzen in der bürgerlichen und avantgardistischen Kulturkritik bildet die Folie der „linken“ Transformation von Kultur- in Sozialkritik, die am Surrogatcharakter der Massenkultur ansetzt. Ende der 1930er-Jahre nannte Greenberg sie „Ersatzkultur“ – „für diejenigen bestimmt, die unempfänglich für die Werte der echten Kultur sind, aber dennoch nach der Zerstreuung hungern, welche nur Kultur, gleich welcher Art, verschaffen kann“ (Greenberg 1939, S. 206). Solcher Kulturersatz werde „mechanisch hergestellt“ und von einem „gewaltige[n] Verkaufsapparat“ profitabel vermarktet, „dessen Druck jedes Mitglied der Gesellschaft zu spüren bekommt“ (Greenberg 1939, S. 207). Der

Kulturindustrie

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Kitsch – für Greenberg die aktuelle Gestalt der Massenkultur, das Kultursurrogat der industriekapitalistischen Moderne – würde nicht nur die Avantgarde unterminieren, sondern auch die populäre Kultur zerstören.

3

Überlegungen und Argumente der älteren Kritischen Theorie zur Kulturindustrie

3.1

Politische Theorie der Kulturindustrie

Die Grundlagen von Horkheimers „politische[r] Theorie der Kulturindustrie“ (Steinert 1998, S. 33) finden sich in seiner Abhandlung über „Egoismus und Freiheitsbewegung“ aus der Zeitschrift für Sozialforschung. Sie beruht auf einer Rekonstruktion der Instrumentalisierung arbeitender „Massen“ für den bürgerlichen Emanzipationskampf gegen die feudale Klasse. Von Cola di Rienzo über die Reformatoren und Robespierre bis zu den faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ziele die demagogische Manipulation unterer Bevölkerungsschichten durch Volkstribune, die sich der jeweils fortgeschrittensten Massenmedien bedienen, auf Mobilisierung im Kampf gegen die Herrschaft der Aristokratie – nicht auf Befreiung der Menschen der Unterklasse. Die geschichtliche Funktion des charismatischen „bürgerlichen Führers als Funktionär besitzender Schichten“, der unter anderem durch die Inszenierung von „Symbolen und Festen“ für die „religiöse und nationale Ergriffenheit“ der Gefolgschaft sorgt, liegt Horkheimer zufolge darin, revolutionäre Stimmungen in stabile neue Herrschaftsverhältnisse umzuformen. „Massen, die unter den Parolen der Freiheit und Gerechtigkeit und mit einem [. . .] Drang nach Besserung ihrer Lage, nach sinnvollem Dasein, Frieden und Glück in Bewegung geraten sind, werden in eine neue Phase der Klassengesellschaft eingegliedert.“ (Horkheimer 1936, S. 72) Die „Ästhetisierung der Politik“, die Benjamin (1935/36, S. 384) zur gleichen Zeit diagnostizierte, bedient sich Horkheimer zufolge im nachliberalen, autoritär verwalteten Kapitalismus derjenigen kultureller Muster, von denen sich die Philosophie von Aristoteles bis Lessing und Schiller humane, moralische Lernprozesse versprechen durfte – jedoch in gegensinniger Weise, nämlich um die Beherrschten zu domestizieren und ihre Triebregungen in den Dienst der Herrschaftssicherung zu stellen. Wenn die lustvolle „Freude am Mitleiden“ (Horkheimer 1936, S. 88), welche die Zuschauer theatralischer Darbietungen empfinden sollen, kulturindustriell bedient wird, finde keine reflektierte, befreiende Auseinandersetzung mit dem eigenen Seelenleben mehr statt, sondern stereotype Reglementierung. Die humane, sozialethische Kraft ästhetischer Praxis könne sich, wenn überhaupt jemals, dann erst in einer befreiten Sozialität bewähren: „Die Katharsis durchs Schauspiel, durch das Spiel überhaupt, setzt eine veränderte Menschheit voraus.“ (Horkheimer 1936, S. 88). Die autoritären Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts wurden mit Hilfe neuester massenmedialer Errungenschaften geformt. Ein Beispiel aus der Peripherie – das in der älteren Kritischen Theorie, die sich auf die industrialisierten Zentren konzentrierte, nicht zum Gegenstand der Analyse wurde – ist die Konstruktion einer

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kulturellen Identität Brasiliens unter Getulio Vargas. Er sicherte von 1930 bis 1945 seine Diktatur ab, indem er Formen der Volkskultur, die zuvor verpönt und verboten waren – z. B. die Samba und den tänzerischen Kampfsport der Sklaven – rehabilitieren und als Medien der Nationalkultur einsetzen ließ. So stellte er sicher, dass sich die Beherrschten mit dem Herrschaftsapparat identifizieren. Daran konnte Vargas während seiner späteren Amtszeit als gewählter Präsident in den 1950er-Jahren ebenso anknüpfen wie später die Machthaber der Militärdiktatur von 1994 bis 1985; heute tun es die Medienkonzerne. In macht- und mediengestützten Inszenierungen von Politik erkannte Benjamin Ersatzbefriedigungen des Bedürfnisses nach sozialer, politischer und kultureller Selbstbestimmung. Statt zu ihrem „Recht“, nämlich der Revolutionierung der Eigentumsverhältnisse, würden die Nationalsozialisten den Massen nur zum „Ausdruck“ (Benjamin 1935/36, S. 382) verhelfen, der freilich nicht ihr authentischer eigener sei. Benjamin wollte in Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht einen neuen ästhetischen Ansatz entwickeln, der für die faschistische Ästhetisierung der Politik „vollkommen unbrauchbar“ (S. 350) ist. Dafür arbeitete er mit den Kriterien „Kultwert“ und „Ausstellungswert“, anhand derer sich archaische, religionsorientierte, feudale und bürgerliche Kunstpraxen unterscheiden ließen. Sei Kunst ursprünglich Teil des magischen und religiösen Kultus gewesen, so würden Kunstwerke in der bürgerlichen Gesellschaft gemäß ihrer Einzigartigkeit bewertet und ausgestellt. Verbürgte Echtheit und raumzeitliche Präsenz am Ort der Ausstellung bestimmten Kunsterlebnis und Wertschätzung. Benjamins Metapher dafür ist die „Aura“. Wenn Kunstwerke aber nicht mehr durch Einzigartigkeit und Authentizität ausgezeichnet sind, verliere das Kriterium „Ausstellungswert“ seinen Sinn. Die Kunsterfahrung werde vom auratischen Fetisch raumzeitlicher Einzigartigkeit befreit und „Technik“ zum Zentralbegriff am Ausgang der bürgerlichen Gesellschaft. Fotografie und Film, für Benjamin die genuinen Kunstgattungen der Moderne, sind dadurch gekennzeichnet, dass technische Reproduzierbarkeit nicht, wie in anderen Bildkünsten und in der Musik, als etwas Sekundäres hinzutritt, sondern wesentliches Merkmal ihrer Form ist. Weil es charakteristisch für die Rezeption von Kunstwerken auf der Höhe der Zeit sei, dass die Aura zerfalle, würden die neuen technischen Bildmedien die Wahrnehmungsweise urbaner Kollektive revolutionieren. Benjamin war davon überzeugt, dass dies eine revolutionäre soziale Umwälzung vorbereiten könnte. Als „unbrauchbar“ für den Nationalsozialismus erschien ihm seine Ästhetik des Films, weil sie deutlich mache, dass dieser mit seinem neuen Verhältnis zur Technik die Tradition destabilisiere. Im Film kristallisiere sich die in „gesellschaftlichen Umwälzungen“ bedingte „Veränderung im Medium der Wahrnehmung“ (Benjamin 1935/36, S. 354) als neue technische Kunstform heraus. Sie sei nicht mehr kontemplativ zu rezipieren, weil ihr Formgesetz der visuelle Schock ist; so liquidiere der Film die ästhetische Autonomie und bereite gerade dadurch die soziale Autonomie des Publikums vor. Benjamins kritische Theorie der Technik postuliert – im Sinne einer historisch-materialistischen Medien- und Informationstheorie –, dass die Massen in den Massenmedien ihrer selbst gewahr und damit ihrer selbst mächtig werden könnten. Über die Politisierung der Ästhetik könne eine „Masse“ aus zerstreuten Betrachtern kommunikativ und medial handlungsfähig werden und damit die

Kulturindustrie

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Voraussetzung für selbstbestimmtes soziales Handeln schaffen. Die Tendenz zur lebendig-spontanen „Auflockerung“ einer revolutionären Masse aus solidarisch kommunizierenden Individuen werde jedoch durch die „kapitalistische Ausbeutung“ des neuen Mediums durch die Filmindustrie blockiert. Diese korrumpiere die Massen durch den Kult der Stars. Die „Enteignung des Filmkapitals“ (Benjamin 1935/ 36, S. 372) sei daher Voraussetzung dafür, dass das neue Medium seine soziale Innovationskraft behalten könne.

3.2

Soziale Theorie der Kulturindustrie

Adorno bewertete die mediale Transformation der menschlichen Wahrnehmungsund Weltkonstitutionsweise im 20. Jahrhundert konträr zu Benjamin. In seiner Theorie der Kulturindustrie erscheint diese lediglich als Konkursverwalterin der bürgerlichen Kultur. Sie sei „dadurch definiert, daß sie dem auratischen Prinzip“, welches nach Benjamin die bürgerlich-autonome Kunst kennzeichnete, „nicht ein Anderes strikt entgegensetzt, sondern die verwesende Aura konserviert“ (Adorno 1963, S. 340). Nach Adorno liegt der innere Widerspruch jeder Kultur in der Rechtfertigung der auf Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen basierenden Privilegierung geistiger vor körperlicher Arbeit. Ihr verdanke alle Kultur ihre relative Autonomie: ihre Ideologiehaftigkeit, aber auch ihr konkret utopisches Potenzial. Dieses werde jedoch, wenn überhaupt, nur dann aktualisiert, wenn in der kulturellen Produktion und Rezeption selbst auf die innere Widersprüchlichkeit und Unwahrheit jeder bisherigen Kultur reflektiert wird. (Dabei ist freilich zu bedenken, dass die Rede von der „Unwahrheit“ bei Adorno nicht im Sinne der theoretischen Philosophie gemeint ist, sondern, wie in der praktischen Philosophie, eher „Unrichtigkeit“ im Sinne von sozialer Ungerechtigkeit bedeutet. Seine Diagnosen aus den Minima Moralia, denen zufolge das gesellschaftliche „Ganze“ das „Unwahre“ sei und es kein „richtiges Leben“ im Zusammenhang des gesellschaftlich „falschen“ Lebens gebe, belegen dies (Adorno 1951a, S. 55 und 43)). Kulturindustrie hebt nach Adorno das Wahrheitsmoment der „Trennung der Kultur vom materiellen Arbeitsprozeß“ (Adorno 1960, S. 130) in abstrakter, wenn man so will, unhegelscher Weise auf: Sie besorgt die Subsumtion der Kultur unter die Warenform fremdbestimmter Arbeit. In der „Trennung der Kultur vom materiellen Arbeitsprozeß“ stecke einerseits der Keim zur ideologischen Hypostasierung dieser Trennung, andererseits berge der „Gegensatz des Kulturellen zum praktischen Leben“ (Adorno 1960, S. 130) auch wiederum befreienden Sprengstoff. In dieser Hinsicht stehe Kultur für das Andere des auf Selbsterhaltung und -steigerung, Domination und Bemächtigung gerichteten Subjekt-Prinzips, das sich in der modernen kapitalistischen Gesellschaft als zweckrationales Prinzip der Überwältigung der Konkurrenten und als Nivellierung partikularer Qualitäten im universalen Tauschverhältnis manifestiert. Weil Kultur „der Gegensatz zu all dem“ sei, „was der Reproduktion des materiellen Lebens, überhaupt der buchstäblichen Selbsterhaltung der Menschen dient, der Erhaltung ihres bloßen Daseins“ (Adorno 1960, S. 123),

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enthalte sie das Versprechen, dass eine Lebensform möglich sei, deren Artikulation „nicht mehr vom Profit entstellt wäre“ (Adorno 1960, S. 129). In dem Maße, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr Sparten der Kultur „der materiellen Produktion sich annähern“ (Adorno 1960, S. 123), gehe diese Verheißung jedoch mehr und mehr verloren. Adorno verstand Kultur in der Moderne aber auch als objektiven „Inbegriff des Selbstbewußtseins einer antagonistischen Gesellschaft“ (Adorno 1951b, S. 21). In einem emphatischen, aufgeklärten Sinne sei Kultur insofern Ausdruck der Kritik sozialer Antagonismen und der Kritik ihrer Apologie im ideologischen Schein von kultureller Harmonie. „Kulturkritik“ dürfe deshalb nicht nur immanente, sondern müsse dialektische Kritik sein, welche das Kategorien- und Wertesystem ihres Gegenstands auch transzendieren könne. Wenn Kultur nicht als solche vergötzt, aber auch nicht als bloßes Epiphänomen der Produktionsverhältnisse unterschätzt werde, könne dialektische Kulturkritik die Produkte des spätmodernen Kulturbetriebs „als bloße Waren und Verdummungsmittel“ (Adorno 1951b, S. 22) begreifen und damit am normativen Gehalt im Begriff der Kultur festhalten. Anders als sein Zeitgenosse Greenberg hat Adorno die Massenkultur seiner Zeit nicht als Kitsch bezeichnet; er betonte vielmehr die Differenz zwischen Kitsch und Kulturindustrie. Deren Verkaufs- und Produktionsapparat ziehe nicht nur die sogenannte Hochkultur in einen homogenisierenden Strudel, sondern auch den komplementären Bereich, nämlich die populäre Kultur, und damit eben auch den Kitsch. Der Name „Kulturindustrie“ steht bei Adorno nicht für mechanisch hergestellten Kitsch, der authentische Kultur kontaminiert – vielmehr gehen ihm zufolge Tradition, Avantgarde und Kitsch gemeinsam unter. Sie werden durch eine neue, schlechthin warenförmige Kultur ersetzt, die aber nur der Produktionsform nach neu und auch inhaltlich keine „Kultur“ im emphatischen Sinne mehr sei. Volkskultur war häufig subversiv, auch deshalb, weil sie arbeitende Menschen unterstützte, die von Bildung abgeschnitten waren; vor allem aber, weil sie das Lügenhafte und Ideologische einer Kultur demonstrierte, die auf der herrschaftlichen Teilung von körperlicher und geistiger Arbeit beruht. Authentische populäre Kultur parodiert die Hochkultur und gibt sie der Lächerlichkeit preis. Dabei stellt sie ins Zentrum, was die Kunst der Hochkultur verleugnet oder bis zur Unkenntlichkeit sublimiert: die Lust und das Vergnügen. Kulturindustrie hat dieses subversive Moment nicht mehr. Sie vermarktet gleichermaßen die Konkursmasse der bürgerlichen Hochkultur und die Elemente aus der authentischen populären Kultur. Kunst ist in der bürgerlichen Gesellschaft warenförmig geworden, und das war auch unvermeidlich, weil die Künstlerinnen und Künstler nur über den Gang zum Markt, auf dem sie ihre Produkte anboten, Autonomiezuwächse für diese und sich selbst erreichen konnten. Doch die sozial teilautonom gewordene Kunst geht Adorno zufolge in der Warenform nicht auf, weil sie, als ästhetisch teilautonome, Möglichkeiten zur Erkenntnis der Borniertheit der Warenform enthält. Wird Kunst jedoch unter den Bedingungen der „spätbürgerlichen“ Kulturindustrie vollständig auf ihre Warenform reduziert, gibt sie jene Möglichkeiten preis. Grundlage der Tauschabstraktion, welche nun die letzten Bereiche ergreift, die sich ihr zuvor noch teilweise entziehen konnten, ist, wie gesagt, die Subsumtion von

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qualitativ Verschiedenem unter formal Identisches. Nach Sohn-Rethels Hypothese war dieser elementare Vorgang logischen Denkens nicht möglich außerhalb einer bereits zu einem gewissen Maß entwickelten Tauschgesellschaft, die Engels (1892, S. 170) als Beginn der Zivilisation ansah. Sie basiert auf der Ausbeutung von Arbeitskraft und auf der Vergesellschaftung über einen Markt, wo qualitativ verschiedene Waren gemäß ihrer abstrakten Wertgröße durch ein generalisiertes Medium, die Geldware, aufeinander bezogen werden können. In der entfalteten „kapitalistischen Warenproduktion, in der der Markt sich durch den ganzen Raum und die gesamte Zeit des gesellschaftlichen Lebens erstreckt“ (Sohn-Rethel 1961, S. 115), ist die Tauschabstraktion zur ausnahmslos bestimmenden Form aller Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens geworden. Der Gebrauchswert autonomer Kunst besteht darin, dass sie den Produzenten und Rezipienten, die sich interpretierend und reflektierend an ihren Produkten abarbeiten, ein Reservoir für Erfahrungen bietet, welche modellhaft für die Möglichkeit eines anderen gesellschaftlichen Umgangs miteinander sowie mit der äußeren und inneren Natur stehen können. Sie stehen damit modellhaft für eine Lebensform, in der die herrschafts- und gewaltförmige Subsumtion des Besonderen, Individuellen und Inkommensurablen unter das abstrakt-allgemeine Bewegungsgesetz der Verwertung des Werts in einer eindimensionalen kapitalistischen Gesellschaft überwunden und Freiheit praktizierbar wäre. Die Integration des künstlerischen Ausdrucks und die Regression der ästhetischen Wahrnehmung in der Kulturindustrie lösen diesen Gebrauchswert tendenziell auf, indem sie ihn zum unwichtigen, akzidentellen Anhängsel des Tauschwerts der Kulturwaren machen. Im frühen und entwickelten Kapitalismus stand der Tauschwert bei der Produktion und Distribution von Kulturwaren im Zentrum, während er bei ihrer Konsumtion – also in der Rezeption des Kunstwerks oder der Aufführung etc. – nur als Randphänomen in Betracht kam, sofern er überhaupt von Belang war. Dort ging es primär um den Gebrauchswert der kulturellen Ware, also um die geistige und sinnliche Erfahrung, die beim Betrachten und Deuten (oder auch beim performativen Realisieren) der Form, der Inhalte und des Ausdrucks von Werk, Aufführung etc. gemacht werden. Im von Adorno so genannten Spätkapitalismus dagegen steht der Tauschwert nun auch bei der Konsumtion des Produkts im Zentrum, denn nicht die wie auch immer geartete Kulturware selbst werde genossen, sondern ihr Tauschwert. Der bestehe im „sekundären Genuss von Prestige, Mit-dabei-Sein“ (Adorno 1970, S. 32 f.); also darin, dass man sich das Ticket für ein Großereignis leisten kann, das man miterleben will, oder für einen Film, den man nicht verpassen darf, oder ein Konzert, das man besucht haben muss, und auch darin, dass man sich die Bücher kaufen kann, die man lesen sollte, um mitreden zu können. Adorno bezeichnet dies als „Parodie des ästhetischen Scheins“ (Adorno 1970, S. 33). Wohlgemerkt: Selbstverständlich gelang auch in den Phasen davor nicht jede Rezeption eines Kunstwerks. Adorno dürfte vermutlich der Ansicht gewesen sein, dass sie oft fehlschlug. Aber die gelingende Rezeption – oder, in Adornos Terminologie, der reflektierende Mitvollzug – von Werk oder Darbietung war intendiert; der Gebrauchswert war gleichsam Substanz und der Tauschwert lediglich Akzidenz.

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Im Zeitalter des ökonomischen und ästhetischen Funktionalismus konstatierten Horkheimer and Adorno (1944/47, S. 144 und 145) den gleichzeitigen Umschlag von kultureller Avantgarde und populärer Kultur in ein tendenziell globalisiertes, homogenes „System“ der verwalteten und durchgeplanten „Massenkultur unterm Monopol“. Als Bestandteile des Systems der Vergnügungsindustrie identifizierten sie „Film, Radio, Magazine“, Unterhaltungsmusik und „Fernsehen“ (Horkheimer and Adorno 1944/47, S. 148), „Verwaltungs- und Ausstellungsstätten der Industrie“ sowie Wohn- und Geschäftshäuser“ (S. 144) und nicht zuletzt „Autos“ (S. 145). Kulturindustrie ist demnach die „Vollausnutzung von Kapazitäten für ästhetischen Massenkonsum“ (Horkheimer and Adorno 1944/47, S. 164 f.). Dieser ist seit der Ausbreitung der industriellen Massenproduktion von Waren erforderlich, um die Umwandlung des investierten Kapitals in neuen Mehrwert zu gewährleisten. Mit einem Wort von Gramsci wird diese regulierte Phase des Kapitalismus, die nach dem Ende des zweiten Weltkriegs zur vollen Entfaltung gelangte, heute als „Fordismus“ bezeichnet (Demirović 2005). Die Arbeitskraft der Industrieproletarier wurde nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert, bis auf den letzten Tropfen ausgepresst, sondern zur Produktion von Verbrauchsgütern genutzt, welche die Arbeitenden selbst erwerben. Ziel war nun Vergrößerung des sozialen Wohlstands und Vollbeschäftigung; dazu erfolgte eine entsprechende Anhebung des Lohnniveaus und die Kultivierung der Freizeit von Arbeitenden und Angestellten im Sinne einer warenförmigen Vergnügungs-, Sport- und Erlebnisindustrie. Rahmenbedingungen sozialer Herrschaft sind in dieser Phase die demokratische Ruhigstellung der Klasse der Nichteigentümer der Produktionsmittel durch Einbindung der Gewerkschaften oder aber die autoritäre Lenkung der Arbeiterbewegung im Sowjetsystem bzw. ihre Zerschlagung in Faschismus und Nationalsozialismus. In der „fordistischen“ Phase der kapitalistischen Produktionsweise wurde Reklame immer wichtiger, um die massenhafte Distribution der Verbrauchswaren zu gewährleisten. Dafür galt es, sie stetig zu verfeinern und enge Verbindungen zu den Errungenschaften der zeitgenössischen Kunst und ihrer Medien herzustellen, damit sie auch bei den Gebildeten und der Herrschaftselite wirken kann. Doch nicht nur das: Horkheimer und Adorno betonten, dass die eigentliche Relevanz der Reklame zunehmend jenseits der direkten Verkaufsförderung angesiedelt ist und eher darin besteht, die wirtschaftliche Macht der Unternehmen zu bekunden, die sich aufwändige, avancierte Werbemaßnahmen leisten können, um Konsumenten und Konkurrenten zu beeindrucken. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts verwandle sich Reklame in den demokratischen und autoritären Gesellschaften: Aus einem Bestandteil der Kulturindustrie werde ihr allgemeines, vorherrschendes Wesensmerkmal. Reklame werde „nun zur Kunst schlechthin“, zur „Reklame für sich selber“; und damit die „reine Darstellung der gesellschaftlichen Macht“ (Horkheimer and Adorno 1944/47, S. 191). Der Begriff der „Kulturindustrie“ wurde nicht zuletzt deshalb als terminologischer Nachfolger für den Begriff „Massenkultur“ in die kritische Theorie eingeführt, weil mit seiner Hilfe der sozialwissenschaftliche Irrglaube bekämpft werden sollte, dass die Massen einer fremdbestimmten Gesellschaft in nennenswert selbstbestimmter Weise an Produktion und Rezeption von Kunst und Design für den Alltagsgebrauch partizipieren würden. – Während volkstümliches Amüsement vor der Ära der Kulturindustrie immerhin noch hier und da „glücklichen Unsinn“ präsentiert habe,

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werde den Zwangs-Konsumenten nun „das Surrogat eines zusammenhängenden Sinns“ eingebläut: „Es klirrt nicht die Schellenkappe des Narren, sondern der Schlüsselbund der kapitalistischen Vernunft.“ (Horkheimer and Adorno 1944/47, S. 168) Der kulturindustrielle Betrieb erfülle den Tatbestand des „Massenbetrugs“, weil er das Training für die effektive Industriearbeit in die Freizeit hinein verlängert. „Nicht [. . .] daß die Kulturindustrie Amusement aufwartet, macht den Betrug aus, sondern daß sie [. . .] den Spaß verdirbt“ (Horkheimer and Adorno 1944/47, S. 168). Adorno argumentierte wenig später, die Massenkultur des 20. Jahrhunderts habe eine legitimatorische Funktion zu erfüllen, deren Form sich gegenüber dem 19. gewandelt hat. Es gehe nun nicht mehr darum, die Angehörigen des Proletariats mit spezifischen ideologischen Inhalten zu imprägnieren, um sie über die sozialen Strukturen und Mechanismen im Unklaren zu halten, auf deren Bestehen die ausbeuterische Klassenherrschaft beruht. Vielmehr komme es „in einer Welt, in der Bildungsprivileg und Fesselung des Bewußtseins“ ohnehin verhindern würden, dass die Massen eine wirkliche „Erfahrung geistiger Gebilde“ machen könnten, nur noch darauf an, „das Vakuum des expropriierten Bewußtseins“ mit irgendetwas auszufüllen, um es „vom offenbaren Geheimnis“ abzulenken (Adorno 1951b, S. 24). Soll heißen: In einer nationalsozialistischen oder einer demokratischen Industriegesellschaft erzeugt der Kulturbetrieb „Verblendung“ nicht mehr auf die alte Art und Weise, indem er – beispielsweise vermittelt über die Inhalte eines Spielfilms – falsche Konzepte und irreführende Vorstellungen in den Köpfen der Menschen verankert und sie so daran hindert, zu begreifen, dass die jeweiligen Anforderungen der Verwertung des Mehrwerts auf erweiterter Stufenleiter es z. B. in Deutschland erforderlich machen, Kriegsvorbereitungen zu treffen oder in den USA die Gewerkschaften zu Bündnisgenossen bei der Auspressung der Ware Arbeitskraft zu machen. Vielmehr erzeugt der Kulturbetrieb „Verblendung“ nun dadurch, dass er die Menschen zu Filmfans macht und dazu bringt, sich für die Schauspieler und ihr Privatleben zu begeistern. Die anscheinend harmlose „Zerstreuung“ (Adorno 1951b, S. 25) durch die audiovisuellen Massenmedien ist Adorno zufolge verhängnisvoll, weil sie die von ihnen nolens volens Abhängigen davon ablenkt, darüber nachzudenken, welche geistige Gegenwehr sie gegen Verhältnisse leisten könnten, deren Zwangscharakter sie durchschaut haben; sie wüssten mehr oder weniger klar, worauf die Zwänge basieren, hätten aber nicht zuletzt deshalb resigniert, weil der Zwang sozialer Herrschaft anscheinend kaum noch ideologisch verbrämt werden müsse.

4

Theoretische und empirische Weiterentwicklungen des Kulturindustrie-Konzepts; Verknüpfungen mit anderen theoretischen Debatten

4.1

Alle Macht der Super-8

Als der Höhepunkt der studentischen Proteste in den USA und Westeuropa gerade überschritten war, veröffentlichte Enzensberger eine Theorie der elektronischen Massenkommunikations-Medien, die an Brecht und Benjamin anschließt. Es ging ihm darum, deren Thesen an die aktuelle Entwicklung der neuen audiovisuellen,

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elektronischen Medien anzupassen. Die elektronischen Medien könnten erstmals in großem Umfang als Massenkommunikationsmittel eingesetzt werden, aber der „Kapitalismus der Monopole“ (Enzensberger 1970, S. 91) habe sie bislang daran hindert. Da jedoch inzwischen fast alle Menschen über die Geräte und Vernetzungen verfügten, die zur wechselseitigen Kommunikation nötig sind, könnte diese nun auch verwirklicht werden. Voraussetzung sei, dass die letzten technischen Beschränkungen überwunden werden und vor allem, dass die Menschen selbst ein Interesse an Veränderung haben. Stattdessen werde jedoch die klassensprengende Entfaltung der menschlichen Kommunikations- und Produktivkräfte blockiert, weil die klassenspezifischen Produktionsverhältnisse, also die ökonomischen Interessen der Medienindustrie und die servile politische Steuerung, dazu führen, dass die vorhandenen Produktivkräfte gefesselt bleiben. Wie Brecht plädierte Enzensberger dafür, dass der technische Entwicklungsfortschritt zur Grundlage eines sozialen und kulturellen Fortschritts werden könnte. Sein kulturpolitischer Schlüsselbegriff war die „Mobilisierung der Massen“ und „Selbstorganisation“ (Enzensberger 1970, S. 128). Mittlerweile hat das Internet die technischen Voraussetzungen für Enzensbergers Utopie der politisch-autonomen Medienkommunikation bereitgestellt, doch die Fesselung der medialen Produktivkraft durch die Produktionsverhältnisse dauert an und auf Seiten der Kommunizierenden scheint es mit dem Veränderungsinteresse nicht so weit her zu sein.

4.2

Ambivalenztheorie der Massenmedien

Anders als Adorno, der unter Kommunikation ausschließlich strategische Kommunikation verstand, die ursprünglich aus der ökonomischen Zirkulationssphäre stammt (und anders als Luhmann, demzufolge Massenmedien Kommunikation nicht nur nicht voraussetzt, sondern verhindert), diagnostizierte Habermas rund ein Jahrzehnt nach Enzensberger, dass die Massenmedien der Gegenwart ein „ambivalentes Potenzial“ (Habermas 1981, S. 573) besäßen. Sie würden sowohl zentralisierte Kontrolle und Manipulation ermöglichen als auch dezentrale Verständigung und Interessenartikulation der Menschen. Massenmedien könnten daher sowohl autoritären als auch emanzipatorischen Zwecken dienen. „Medienöffentlichkeiten“ würden zwar zur Ideologieproduktion eingesetzt, könnten aber auch als Steuerungsmedium egalitärer Verständigung wirken, denn sie würden „den Horizont möglicher Kommunikation“ in politische Machthierarchien und ökonomische Verwertungskriterien einbinden und somit beschränken; andererseits würden sie den Kommunikationshorizont aber auch „entschränken“ (S. 573), weil virtuell alle Kommunizierenden über die Massenmedien in Verbindung treten können. Auch in hierarchischen und kommerziellen Mediennetzen könnten Gehalte kommuniziert werden, die der machtförmig-systemischen Kolonisierung der Lebenswelt widerstehen. Habermas setzte darauf, „daß sich der Eigensinn der kommunikativen Alltagspraxis gegen einen unvermittelten manipulativen Zugriff der Massenmedien zur Wehr setzt“

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(Habermas 1981, S. 574 f.) Voraussetzung ist für ihn allerdings der Staat als Schutzmacht einer öffentlichen Sphäre, die freiem Meinungsaustausch und offener Beratung dient. Eine nicht-etatistische Ambivalenztheorie hat etwa zur gleichen Zeit Jameson formuliert (Jameson 1979, 1984). In der, wenn man so will, postmodernen kapitalistischen Gesellschaft kolonisiere die multimediale Massenkultur das visuelle Unbewusste und bringe es in Formen, die der Warenform ähneln und mit ihr kompatibel sind. Aber die Produkte der Massenkultur würden in der warenförmigen Verdinglichung des kollektiven Un- und Vorbewussten nicht völlig aufgehen; sie seien vielmehr zumeist auch ästhetisch transformierte Ausdrucksgestalten sozialer und politischer Ängste und Fantasien. Produkte der Massenkultur verwalten, unterdrücken oder verdrängen diese Ängste und Fantasien, doch wenn das gelingen soll, müssen diese auch gestaltet werden – und damit werden sie häufig erst artikulierbar gemacht. Populistische Lösungs- und Harmoniesuggestionen sind für Jameson nur eine Seite, die andere ist das gleichsam überschüssige Potenzial, das gerade auch solche Produkte der Massenkultur besitzen. Viele Erzeugnisse der Massenkultur enthalten Elemente, die der gesellschaftlichen Ordnung antagonistisch gegenüberstehen, deren warenförmige Produkte sie sind. Andernfalls könnten sie ihre ideologisch-manipulative Funktion nicht erfüllen. Sie legitimieren am Ende die bestehende Ordnung, doch damit sie das können, müssen sie auch Leid und Widerstände gegen das Bestehende sowie Hoffnung auf dessen Überschreitung ausdrücken.

4.3

Massenkultur und eigensinnige Aneignungen

Die Birminghamer Cultural Studies fragen seit den 1960er-Jahren, wie weit die Macht der Kultur- und Medienindustrie letztlich reicht, Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren. Die Warenform populärkultureller Produkte schließe nicht aus, dass ästhetischer Gebrauchswert auf komplexen Wegen erschlossen wird, weil die Nutzer Strategien entwickeln, um mit und gegen die Medien der Kulturindustrie ihre eigenen Interessen und Zwecke, nämlich Vergnügen und Persönlichkeitsentfaltung, zu erreichen. Für die Rezeptionsforschung der Cultural Studies ist Massenkommunikation ein Produktionsverhältnis, in dem Inhalte vermittels standardisierter Kodierungen in einen Verwertungskreislauf eingespeist werden. Methodologisch werden die empirischen Untersuchungen hierzu durch die Integration der ideologiekritischen Semiotik und durch das Gramsci’sche Modell eines Kampfes um hegemoniale Deutungshoheiten in der Alltagskultur abgestützt. Nach Hall (Hall 1980, S. 96 ff.) sind kulturelle Produkte „Texte“, die anders dekodiert werden können als sie enkodiert worden sind, weil verschiedene Benutzer die Bedeutungsschichten jeweils verschieden für sich aktivieren. Kellner hat im Anschluss daran hervorgehoben, dass „zwischen dem Kodieren und dem Dekodieren von Medienprodukten unterschieden und der Erkenntnis Raum gegeben werden [muß], daß ein aktives Publi-

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kum häufig eigene Bedeutungen und Verwendungsweisen der Produkte der Kulturindustrie produziert.“ (Kellner 1995, S. 346 f.) Kulturindustrie verspricht weltweit Vergnügen und verbreitet überall Langeweile. Reklame ist ihre raison dʼêtre – aber würde in Radio und TV die ganze Zeit nur Werbung gesendet, würde das Publikum abschalten. Also muss man Programme zwischen die Werbeblöcke packen, doch die sollen möglichst wenig kosten; jeder weiß das, und die meisten bleiben trotzdem „dran“. Fiske, der an die Cultural Studies anschließt, hat dies mit der Metapher einer doppelten kulturindustriellen Ökonomie beschrieben. „Fernsehen ist eine kulturelle Ware“ (Fiske 1989, S. 238), doch die Produktion und die Rezeption (bzw. das kreative re-writing) dieser Ware folgen jeweils eigenen Gesetzen. Die zur Produktion kultureller Inhalte verwendeten Zeichen und deren an dem Interesse an Unterhaltung und Belehrung orientierter Gebrauch bilden gleichsam den Stoff, aus dem die kulturellen Waren hergestellt werden. Die teilautonome Aneignung dieser Waren in der Distribution beschreibt Fiske als einen Prozess, der nicht determiniert ist. Dafür benutzt er den Vergleich, dass das Publikum vom Programm selbst wie eine Ware hergestellt wird: „aus der Ware wird ein Produzent, der eine neue Ware produziert: das Publikum. Dies wird dann seinerseits als Ware an den Werbekunden verkauft.“ (Fiske 1989, S. 238) Dieser Menschenhandel funktioniere aber längst nicht immer, denn die Menschen seien, als Publikum, Bürger der kulturellen Welt, die sich ihr eigenes Gesetz geben, das sich immerhin partielle Geltung verschaffe: „in der kulturellen Ökonomie verweigert das Publikum seine Rolle als Ware und wird zu einem Produzenten von Bedeutungen und Vergnügen.“ (Fiske 1989, S. 238). Polysemie erkennen und dekodieren wird in der Massenkultur zur ästhetischen Grundkompetenz. Output ist nicht gleich input; die Produkte der Massenkultur sind, wie alle kulturellen Produkte, grundsätzlich vieldeutig. Menschen entwickeln eigensinnige Strategien, jene auch kontraintentional zu rezipieren. Waren- und Medienkonsumenten handeln Kompromisse aus zwischen den eigenen Interessen und dem Medien- und Güterangebot. Zusammenballung der Medienmacht und Semiokratie machen es indessen schwer, selbstbestimmt zu handeln. Dennoch sind Formen der Aneignung, die diesen Erschwernissen zuwiderlaufen, also eigensinnige, selbstbestimmte Dekodierungsformen, nicht zu unterdrücken, denn ohne sie würde Medienherrschaft nicht funktionieren. Mit Fiske kann man in diesem Zusammenhang zwischen Populärkultur und Medien-Populismus unterscheiden (Fiske 1989, S. 104 ff.). Die Medienkonzerne des power bloc konstruieren sich ihr Publikum und beliefern es mit Standardwaren, die stereotype Handlungsroutinen vorgeben und in Wahrnehmungsmuster einüben, zum Beispiel indem sie Frauen- und Männerbilder festschreiben. Solche Muster werden im Zusammenspiel mehrerer Medien regelrecht trainiert, hierzulande im Verbund von Kommerzfernsehen und Boulevardpresse. Erfolgreiche Produkte der populären Kultur hingegen wirken und funktionieren anders, sie sind oft nicht nur kurzweilig, sondern auch innovativ und erweitern die Wahrnehmungsweise der Nutzer. Der Apparat des Medien-Populismus versucht dann wiederum, sich diese Innovationen zu eigen zu machen, woraufhin Künstler und Publikum versuchen, sich dem zu entziehen, und so weiter. Charakteristischerweise führt dies – nach Fiske – zu

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in sich antagonistischen Allianzen. Hier argumentiert er ähnlich wie Jameson: Die vampirartige Expropriation populärer Kultur durch den power bloc habe nur Aussicht auf Erfolg, „wenn sie dem Populären irgendeinen Raum für dessen eigene Entfaltung bietet. Und genau in dem Maße, in dem dieses Angebot auch wahrgenommen wird, kann die Ausbeutungsstrategie nie totalen Erfolg haben“ (Fiske 1999, S. 341). Die Manipulationskraft populistischer Medienprogramme ist zwar, darin ist Fiske zuzustimmen, nie ungebrochen erfolgreich, weil es offenbar zur Rezeption des kulturindustriellen Pseudorealismus gehört, sich mit dessen Suggestionen nicht völlig zu identifizieren, sondern sich auch immer wieder davon zu distanzieren (Fiske 1989, S. 251). Dennoch ist das Manipulationsangebot im Sinne des medialen power blocs auch nicht vergeblich, weil es den sozialen Konformismus verstärkt.

5

Zum aktuellen Diskussionsstand

Wer den Begriff der Kulturindustrie heute im Sinne der Überlieferung der kritischen Theorie, also auf dialektische Weise, verwendet, sollte zu bestimmen versuchen, welche „Filter“ gegenwärtig ihre schematisierende Wirkung auf Wahrnehmung, Einbildungskraft und Denkvermögen ausüben. Dabei können die Kategorien aus der Dialektik der Aufklärung selbstverständlich nicht unvermittelt auf Phänomene der Gegenwart angewendet werden. Die audiovisuellen Medien der 1940er-Jahre sind nicht nur quantitativ, sondern in mancherlei Hinsicht auch qualitativ transformiert worden. Die Produktivkräfte der Mikroelektronik sowie die telekommunikativen Kanäle der interconnected networks und der social media (die man vielleicht besser private media nennen sollte) sind geradezu explodiert. Sie werden indessen innerhalb von ähnlich oligopol- oder monopolistischen Produktionsverhältnissen betätigt, die auch schon für „die modernen Kulturkonzerne“ (Horkheimer and Adorno 1944/47, S. 156) der 1940er oder für die Verwaltungsapparaturen der 1950er- und 1960er-Jahre kennzeichnend waren. Gleichwohl scheint es, als hätte der Übergang von der vertikalen Vorherrschaft der Distributionsmedien zur horizontalen Integration der Nutzerinnen und Nutzer in netzwerkartige Interaktionsmedien ein neues „Dispositiv“ entstehen lassen. Dispositive sind in der Terminologie Foucaults Anordnungen zahlreicher Faktoren, die den Hintergrund bilden, vor dem Menschen etwas als Wirklichkeit erfahren und beschreiben. Das je eigene Weltverhältnis wird von einem komplexen „Ensemble“ soziokultureller Produkte und Praxisformen geprägt: „Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze“ (Foucault 1978, S. 119 f.). All diese „Elemente des Dispositivs“ bestehen demnach sowohl aus ‚Gesagtem‘ als auch aus ‚Ungesagtem‘; im Ganzen bilden sie ein „Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann“ (Foucault 1978, S. 120, siehe Thomas/Langemeyer 2007). Foucaults Netzwerk hat eine ähnliche Struktur wie jenes System kulturindustrieller Filter, das Horkheimer und Adorno für die Zeit von 1940 bis 1970 beschrieben

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haben. Inhaltlich hat sich manches von dem geändert, was gesagt wird und was ungesagt bleibt, aber wirkt; was diskursiv und administrativ reguliert oder unbehandelt liegengelassen wird; was politisch durchgesetzt oder ökonomischem Wildwuchs überlassen wird; und was schließlich als wissenschaftliche und moralische Lehre in die ökonomisierte Kommunikation Eingang findet. Wie könnte es auch anders sein? Damit die „willentliche Integration der Abnehmer von oben“ (Adorno 1963, S. 337) über die Medien der Kulturindustrie funktioniert, müssen diese von ihren Benutzern als die aktuellen Apparaturen schlechthin erlebt werden, ohne die Welterschließung und Interaktion kaum möglich wären. Dazu bedarf es permanenter Veränderung im Sinne der Anpassung an die jeweils neusten Erscheinungsformen des (strukturell bislang kaum veränderten) ökonomischen Betriebs und seiner politisch variierenden Herrschaftsformen. Foucaults Konzept des Dispositivs ist vage, weil allzu umfassend. Die Kulturindustrie-Theorie von Horkheimer und Adorno hat demgegenüber den Vorzug, dass sie sich auf einen Aspekt der Vergesellschaftung im 20. Jahrhundert konzentriert, der doch zugleich wie in einem Brennglas das Prinzip der Vergesellschaftung bündelt: die Subsumtion von qualitativ Verschiedenem unter ein entqualifizierendes Verwertungsprinzip. Und sie ist dezidiert normativ, weil sie ihren Gegenstand ohne Wenn und Aber als soziokulturelle Apparatur auf den Begriff bringt, deren Zweck darin besteht, Individuen mit symbolisch kodierten Gratifikationen zu versorgen, die die dabei helfen sollen, die eigene Unterwerfung unter die Fremdbestimmung abhängiger Arbeit leichter zu ertragen. Was die deskriptive Seite betrifft, so ist häufig darauf hingewiesen worden, dass die Kategorien der Dialektik der Aufklärung seinerzeit durchaus nicht immer triftig auf die zeitgenössischen Phänomene angewendet wurden. Der Medienbegriff ist, mit dem – in sich nicht konsistenten – Hinweis auf die Sparten „Kino, Radio, Jazz und Magazin“ (Horkheimer and Adorno 1944/47, S. 157), gelinde gesagt unterbestimmt. Und es kommt hinzu, dass die Theorie der Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung als konstitutiver Teil einer Theorie der nachbürgerlichen Gesellschaft entwickelt worden ist. Die warenförmige Vergesellschaftungsweise, so die leitende Annahme in jener Phase der Kritischen Theorie, könne im monopolistischen Staatskapitalismus auf die Vermittlungen durch Markt und Zirkulationssphäre verzichten. Diese Annahme ist von den Autoren der Dialektik der Aufklärung schon bald wieder fallengelassen, aber nicht explizit revidiert worden. Stattdessen beschrieb Adorno fortan, bis Ende der 1960er-Jahre, die warenförmige Totalverwandlung des kulturellen Überbaus als zentrales Merkmal eines Spätkapitalismus, der zwar administrativ durchorganisiert, doch nach wie vor marktzentriert ist (Schweppenhäuser 2013). Die Frage ist daher: Sind die Begriffe im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung plausibel, auch wenn sie nicht immer stimmig am Material entwickelt worden sind? Und eine weitere Frage lautet: Kann der massenmediale (Unterhaltungs-) Betrieb der Gegenwart mit Begriffen und theoretischen Überlegungen beschrieben und kritisiert werden, die von den politisch-ökonomischen Basisannahmen aus der Dialektik der Aufklärung ausgehen?

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Evidenz für die Gegenwart kann sicherlich die Reklametheorie beanspruchen. Am Anfang der Transformation in „reine Darstellung der gesellschaftlichen Macht“ steht der Übergang von schlichter Produktwerbung zu einem umfassenderen Ansatz, in dem nicht nur einzelne Produkte angepriesen werden, sondern Lebensgefühle und Lebenseinstellungen an Marken und Logos gebunden werden sollen. Jahr für Jahr werden riesige Geldmengen in einen Bereich gesteckt, in dem es keine nachweisbare Voraussagesicherheit über die Kaufentscheidungen der so genannten target groups gibt. Die Funktion von Reklame liegt offenbar jenseits der klassisch-ökonomischen Handlungs- und Investitionsrationalität. Wenn die freie Konkurrenz vieler Warenanbieter kaum noch keine Rolle spielt, weil global players den Markt unter sich aufgeteilt haben, müssen Kunden nicht mehr im alten Sinne umworben werden. Reklame ist nun für die Konkurrenten Potenzgebaren und für die Käufer-„Zielgruppen“ eine unausgesprochene, aber unübersehbare Drohung – im Ganzen also ein symbolischer Imperativ, die bestehende Eigentumsordnung und ihre Sozialstruktur nicht anzutasten, noch nicht einmal in der Phantasie.

5.1

Kulturindustrie und Realabstraktion

Prokop (1974, S. 107) beschreibt den kulturindustriellen Mechanismus der Inszenierungen und Narrationen erfolgsorientierter Medienprodukte als abstrahierende Reduktion: „Naturalformen, die sich aus historisch entstandenen Subkulturen herleiten (Amüsement, Tanz, Öffentlichkeit, Spiel etc.)“ würden auf „formalisierte, quantifizierte Momente“ reduziert. In zahlreichen materialorientierten Untersuchungen hat er dargelegt, wie „erfolgreiche medienkulturelle Muster“ sich heutzutage gleichsam als Realabstraktionen erweisen, indem sie „die Verkäuflichkeit, die Wertform der Medienprodukte“ (Prokop 2000, S. 288) verkörpern.

5.2

Anthropologische Aspekte der Kulturindustrie

Türcke hat die Kulturindustrietheorie kulturanthropologisch erweitert. Seine zentrale Kategorie ist der „Bildschock“, der nicht die von Benjamin erhofften Folgen habe: „Bildmaschinen wirken ständig ruckartig auf die Sinne ein. Jeder Bildschnitt ist ein kleiner Schock, eine kleine Ablenkung. Die Aufmerksamkeit wird stimuliert. Das ist eigentlich positiv, eine wichtige Kulturtechnik des Films. Aber wenn die Aufmerksamkeit durch Schnitte ständig unterbrochen wird, dann schlägt sie ins Gegenteil um“ (Türcke 2012). Die neuen audiovisuellen Medien errichten ein globales „Aufmerksamkeitsregime“ (Türcke 2008, S. 239) der „konzentrierten Zerstreuung“ (Türcke 2002, S. 271 ff.). Heute komme es in der „mikroelektronischen Reizkultur“ (Türcke 2012) zu anthropologischen Veränderungen bis in die Physiologie hinein. Der Dauerkonsum medialer Stimulationen erzeuge, wenn man ihm von Kindheit an unterworfen ist, eine Art neuronale Überforderung, die, auf Dauer gestellt, die

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konzentrierte Versenkung in Sachverhalte verhindere und „mentale Dissoziationserscheinungen“, „motorische Unruhe“ und „Beschäftigungszwang“ (Türcke 2002, S. 42) mit sich bringe.

5.3

Kulturindustrie und Popkultur

Überlegungen zu einer gegenwärtigen kritischen Theorie der populären Kultur sind unter anderem von Behrens und Büsser formuliert worden. Behrens zufolge hat „die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ihren Ausdruck in der Massenkultur“ gefunden, während sich „die fordistische und spätkapitalistische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts als Kulturindustrie“ formiert habe; für das 21. Jahrhundert sei festzustellen: „Heute hat sich die Kulturindustrie dialektisch in der Popkultur aufgelöst“ (Behrens 2004, S. 47). Die kulturindustrielle, warenförmige Vergesellschaftungsstruktur sei zum universalen Wahrnehmungsmuster auch der „Jugendkulturen“ und „Subkulturen“ mit ihren Elementen der „Rebellion“ geworden (Behrens 2004, S. 49). Weil sie sich „als Gegenkulturen auf die ‚herrschende Kultur‘ beziehen“ (Behrens 2004, S. 49), blieben sie an diese gekettet; das subversive Vergnügen, welches ihre Praxisformen verschaffen können, gehöre konstitutiv zum kulturellen Ganzen und sei keineswegs der Widerstand dagegen. Büsser hat hervorgehoben, dass die standardisierten Genres und Stile – nach Adorno Merkmal kulturindustrieller „Entmündigung und Verblendung“ – zwar vom mainstream reproduziert würden, Pop-Avantgardisten sie jedoch spielerisch zitierten, um die Rezeptionserwartungen produktiv zu enttäuschen. So seien sie in der Lage, innerhalb der Kulturindustrie „die Verdinglichung des eigenen Systems“ zu benennen und „mit dem Bruch des Standards einen befreienden Impuls auszulösen“ (Büsser 2003, S. 41). Daher sei zwischen „zielgerichtete[r] Kulturindustrie jenseits von ambitionierten Pop-Segmenten“ (Büsser 2003, S. 42) und Popkultur zu unterscheiden. Popkultur sei zu kritisch-selbstrefenzieller Sprache ebenso in der Lage wie die kulturelle Avantgarde; „zielgerichtete Kulturindustrie“ hingegen lege ihre Karten offen auf den Tisch und verzichte – zum Beispiel in Fernsehsendungen wie Deutschland sucht den Superstar – auf „das trügerische Freiheitsversprechen“ (Büsser 2003, S. 42) der alten Kulturindustrie. Ihre Verherrlichung von Opfer und Konkurrenz übe in Fremdbestimmung und Verdinglichung ein, ohne dies wie einst durch beschönigende Ornamentik zu verbrämen. Neuere Formate wie Germany’s Next Topmodel scheinen diese Lesart zu bestätigen.

5.4

Latente und manifeste Semantiken der Kulturindustrie

Im Anschluss an Königs (2005) Typologie einer älteren, repressionsmoralisch getönten Kulturindustrie und einer gegenwärtigen, die subkutan für einen amoralischnarzisstischen Hedonismus wirbt, unterscheide ich bei Produkten der Unterhaltungsindustrie zwischen einer manifesten und einer latenten Sinnebene. Bei Casting-Shows beispielsweise wird der Konkurrenzkampf auf der manifesten Ebene als spannendes

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Spiel wahrgenommen, bei dem sich die Schönste oder der Beste durchsetzt. Fernsehzuschauer und Studiopublikum erhalten die Gratifikation, attraktiven Menschen visuell dicht auf den Leib zu rücken. Gleichzeitig lassen sich über die Identifikation mit Gezeigten aggressive und destruktive Bedürfnisse befriedigen, wenn Kandidaten niedergemacht werden, die sich anscheinend freiwillig und ohne Not blamieren. Auf der latenten Sinnebene geht es bei solchen Inszenierungen des Konkurrenzkampfs um eigene Ängste und um den eigenen Sadismus. Betrachter fürchten sich vor dem Versagen und haben Freude daran, dass Versager gequält werden. Diese Formate werden wie Trainingslager für die soziale Konkurrenz erlebt. Frühere fiktionale Erzählformen eröffneten Räume für imaginäres Probehandeln; die neuen Formate funktionieren ähnlich, rücken aber näher an die Zuschauer heran, die zudem wissen, dass die Akteure keine Rollen spielen, sondern sich selbst präsentieren. Daher stimme ich Kellner zu, gegen den mainstream der Cultural Studies betont, dass eine zeitgemäße Theorie der populären Kultur ohne die Ideologiekritik undenkbar wäre, die den Kern von Adornos und Horkheimers Konzept der Kulturindustrie bildet (Kellner 1995, S. 347).

5.5

Identifikation und Warenform

Für die Gegenwart ließe sich an Adornos These, derzufolge der Genuss des Tauschwerts kultureller Waren im Vordergrund steht, mit der Beobachtung anknüpfen, dass auch die aktive Teilhabe am Betrieb der Populärmusik in höherem Maße von der seelischen Adaption der Warenform geprägt ist als die frühere bildungsbürgerliche Praxis der Hausmusik. Dort spielte die Identifikation mit gefeierten Virtuosen eine geringere Rolle – schon aufgrund des damals fast ausnahmslos tiefen Grabens zwischen der Beherrschung des Instruments oder des stimmlichen Organs, die etwa Liszt, Paganini oder Caruso auszeichneten, und derjenigen ihrer praktizierenden Verehrerinnen und Verehrer. Heute ist dieser Graben flacher geworden. Und die identifikatorische Fantasie der nachspielenden Fans wird durch das Faktum einer irrationalen Gnadenwahl des populären Musikbetriebs angefeuert, die beinahe jedermann über Nacht zum Weltstar machen kann. Die role models für Fantasien und für reales performatives Probehandeln, die ohne Frage auch befreiendes Potenzial haben können (nicht zuletzt durch die symbolische Souveränität, mit der Ausdrucksformen imperial und sozial unterdrückter Gruppen angeeignet werden), sind somit meist vorab schon durch die Warenabstraktion „gefiltert“.

5.6

Kulturindustrie und Halbbildung

Die von Horkheimer und Adorno beschriebene Tendenz zur Universalisierung der Kulturindustrie, welche die beiden Bereiche vermengt, die früher als „hohe“ und „niedere“ Kultur sorgsam getrennt wurden, scheint sich in vollem Umfang zu bestätigen. Denn die Vergnügungsindustrie ist mittlerweile auch eine Bildungsindustrie geworden, und dadurch wird die klassisch-ästhetische Spannung von Unter-

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haltung und Belehrung zur Farce. In Verbindung mit Adornos Theorie der „Halbbildung“ gewinnt die Theorie der Kulturindustrie heute ihr geschärftes Profil (Oevermann 2004, S. 220). Zum Begriff der Bildung gehört die individuelle Aneignung kultureller Errungenschaften, die ein autonomes Gestalten der sozialen und kulturellen Welt ermöglicht. Überblickswissen, der Kern kleinbürgerlicher Halbbildung, ist dagegen die Subsumtion von qualitativ Verschiedenem unter formal Identisches, das die Tauschabstraktion auf ästhetische Gebilde anwendet. „Erfahrung, die Kontinuität des Bewußtseins, in der das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiften, wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit“ (Adorno 1959, S. 115). Das aktuelle Paradigma der kulturindustriell vermittelten Bildung ist die „Power-PointPräsentation“, die einer individuellen Aneignung – im Sinne von reflektierter Erfahrung der Sachen und Vermittlung mit eigenen Zugängen – eher im Wege steht. Sie stellt weniger tatsächlich ‚lebendige Beziehung‘ (Adorno 1959, S. 103) zu den Gegenständen her, vermittelt dafür aber umso mehr Verkaufswissen (Gruschka 2008) und ist insofern das Sinnbild einer warenförmigen Bildungsökonomie, der ein ‚ökonomisierter Wissensbegriff‘ (Krautz 2007, S. 202) folgt. Vor über 20 Jahren gründete die Bertelsmann-Stiftung zusammen mit der Deutschen Hochschulrektorenkonferenz das „Gemeinnützige Centrum für Hochschulentwicklung“ (CHE), das seither die wissenschaftliche und administrative Selbstbestimmung der Hochschulen zu beschränken hilft und die Umwandlung von Bildungsinstitutionen in Wirtschaftsunternehmen vorantreibt (Wernicke und Bultmann 2007). Interessierte Politiker verschafften der Bertelsmann-Stiftung bald darauf im sogenannten Bologna-Prozess eine Schlüsselrolle. In CHE-Rankings werden seither Hochschulen und Fachbereiche belohnt, die bei der Verwandlung von Forschung, Reflexion und Bildung in angeblich messbaren Kompetenz-Output die Nase vorn haben. Bildungsinstitutionen sind Konkurrenten auf einem internationalen Markt kommerziell orientierter Ausbildungsunternehmen geworden und hängen mehr oder weniger von einem globalen Kulturkonzern ab. Dies bestätigt den Befund von Adorno (1963, S. 338): „Die [. . .] Kulturindustrie überträgt das Profitmotiv blank auf die geistigen Gebilde“. In der Kulturindustrie betätigt sich „der alles seinen Gesetzen gleichmachende Ökonomismus der kapitalistischen Gesellschaft [. . .] in der empirischen Vielfalt der Kultur als seinem Gegenteil“ (Hesse 2003). Produkte der Kulturindustrie sind permanent variierte Darstellungen der Herrschaft eines Produktionsverhältnisses, nämlich der waren- und konkurrenzbasierten Erzeugung von Mehrwert, samt der diesem Produktionsverhältnis entsprechenden sozialen Lebensformen und seiner politisch-administrativen Sicherstellung. Wichtiger als die manipulative Funktion der Kulturindustrie ist – bereits bei Horkheimer und Adorno, mehr noch in der Gegenwart – ihre integrative Funktion. Kulturindustrie, der „Komplex aus politischer Propaganda, Werbung und kommerzieller Massenunterhaltung“ (Tränkle 2013, S. 106), vereinnahmt die Konsumenten ihrer Waren durch enter-, info- und edutainment. Ihre Formate erzeugen Konformität, indem sie die wahrnehmbare Differenz zwischen der Darstellung, in all ihren medialen Formen, und der erlebten Wirklichkeit tendenziell verschwinden lassen. Die erlebte Alltagswirklichkeit

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scheint die medial dargestellte jedoch nicht bloß mehr oder weniger identisch zu reproduzieren. Mehr noch: Die mediale Wirklichkeit bildet die kommunikative Form der Welterschließung. Der Welt der Medien scheint die Warenform wie eine zweite Natur innezuwohnen. Das erschwert die Distanznahme, auf die sich die Forscher aus der Cultural-Studies-Schule verlassen.

6

Kulturindustrie im Internet-Zeitalter

Die ökonomische und kommunikationstechnologische Expansion sowie die effizienzsteigernde Flexibilisierung der Produktion und Distribution von Waren und Dienstleistungen im neoliberal deregulierten, globalistischen Kapitalismus der Gegenwart wären nicht zu haben ohne sein neues Kommunikationsmedium, das Internet. „Die Logik der neuen, ‚postfordistischen‘ Akkumulationsstrategie besteht [. . .] in einer Rationalisierung und Flexibilisierung durch Globalisierung“ (Hirsch 1995, S. 90). In der Terminologie der Kondratieff-Zyklen-Theorie kann man das Internet als Höhepunkt einer langen Konjunkturwelle innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsweise beschreiben, die durch die Entwicklung von Mikroelektronik, Computer- und Informationstechnologie ermöglicht wurde. Auf diesem Sektor konnten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stetige Wachstumsraten erzielt werden. Die kapitalistische Produktionsweise erweist sich demnach heutzutage „keineswegs als Fessel der Produktivkraftentwicklung“ (Hirsch 1995, S. 180), und das Internet ist aus dieser Perspektive betrachtet das Medium, in dem Wahrnehmung, Denken und Kommunikation in der postfordistischen Epoche in Warenform gebracht wird. Computer und Internet integrieren die textlichen, visuellen und auditiven Funktionen verschiedener herkömmlicher Medien; sie verändern, ähnlich wie Benjamin an den neuen Bildreproduktionsmedien diagnostizierte, die Wahrnehmungsweise ganzer Großgruppen von Menschen. Dabei erneuern sie die überlieferten Medienfunktionen auch – insbesondere aufgrund ihrer Gebrauchsvielfalt und der erheblich erweiterten Zugänglichkeit sowie aufgrund einer zuvor unbekannten Geschwindigkeit, in der digital komprimierte Informationen verbreitet werden können. Im Gefolge dieser technologischen Produktivkraftentfaltung entstand die Ideologie einer global vernetzten Gemeinde von simultan Kommunizierenden an allen Orten der Welt, die sich jederzeit und unbeschränkt Informationen verschaffen und neu in Umlauf bringen können. Befreit von militärischer Zweckbindung, frei von den Zwängen der Zensur und den Einschränkungen medienökonomischer Knappheitsbedingungen, würden sich Menschen miteinander austauschen und die technologischen Bedingungen ihrer Wissensproduktion selbst bestimmen. Vermöge uneingeschränkter Partizipation an allen Diskursen sei eine weltweite demokratische Revolution im Gange, welche die traditionellen Ordnungs- und Machtstrukturen unterlaufe. In den entsprechenden kulturellen Phantasmagorien kamen freilich auch ambivalente Einstellungen zum Ausdruck. Während die „Rhetorik des Neuen“ (Schumacher 2004, S. 275) – mit einem Pathos, das an Nietzsche erinnerte – die Heraufkunft des Übermediums und den Beginn eines besseren Zeitalters feierte,

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beschwor die Rhetorik des Vergangenheitsverlusts (ebd.) das Schreckbild einer Menschheit, die ihr kulturelles Gedächtnis verliert. Die neuen Speichermedien seien unsichere Kantonisten, die keine dauerhafte Haltbarkeit gewähren, und die netztrunkenen user würden im Rausch der technologischen Innovationen rasch das Interesse an Inhalten und Substanz von Kommunikation verlieren. In medientheoretischen Diskursen wurden euphorische Bilder datenverarbeitungskompetenter, freier Menschen ebenso gezeichnet wie alarmistische Szenarien einer Bedrohung der Freiheit durch große technologisch-ökonomische und staatlich-militärische Komplexe. Der aufgeklärte Citoyen der demokratischen Internet-Öffentlichkeit und der von den Zwängen des Logozentrismus befreite, posthumanistische Übermensch des Cyberspace erwiesen sich denn auch als keineswegs frustrationsresistente Utopien. Schrittmacher der Enttäuschung war – noch ehe die Angst vor Überwachung allgegenwärtig wurde – die Nutzung der neuen Technologien zur produktiveren Gestaltung von Abläufen im Produktionsprozess sowie ihrer Administration und kommerzieller Verwertung. Der Personal Computer entpuppte sich als die „Effizienzmaschine“, als die er von Anfang an gedacht war: „Aus dem universellen Zugriff der User auf Wissen wurde [. . .] der universelle Zugriff auf den User.“ (Schröter 2004, S. 94) Die Freiheit des Einzelnen bei der Anwendung der Computer und der Netzwerke war vor allem Mittel zum Zweck bei der Erledigung von zunehmend komplexen, immer effizienter genutzten Arbeitsaufträgen. Inzwischen hat sich abgezeichnet, dass das Produktionsmittel Computer, weitgehend im Privatbesitz der in abhängigen Lohn- oder Angestelltenverhältnissen Produzierenden, Produktions- und Verwaltungsstätten wie Fabrik und Büro tendenziell überflüssig macht. „Wohn- und Arbeitsraum, Privat- und Berufssphäre, Freizeit und Arbeitszeit gehen wieder ineinander über“ (Türcke 2016, S. 11) – tendenziell so, wie in der vorindustriellen Epoche, die durch Manufaktur, Fabrik und Großraumbüro abgelöst wurde. Die freien kommunikativen Funktionen, welche Menschen mit Hilfe des Internet für sich und miteinander realisieren, wie z. B. die ursprünglich so nicht vorgesehene Nutzung für private e-mails und die Bildung zahlreicher communities, die sich über politische, soziokulturelle und allerlei andere Themen verständigen, sind nicht zu unterschätzen. Das gilt auch für die Funktion des Internet als Selbstverständigungsund Koordinationsmedium sozialer Bewegungen. Wenn Internet und mobile Telefonie vernetzt werden, kann eine „radikal veränderte politische Kommunikation“ (Schmid Noer 2012, S. 198) entstehen. Sie kann „virtuelle Milieus“ schaffen, in denen „Informationen rasch vervielfältigt und durch ständige Feedbacks verdichtet“ werden können, um „dezentralisierte und doch koordinierte Organisationsformen kollektiven Handelns“ zu schaffen (Schmid Noer 2012, S. 198). Man darf freilich die ebenso triviale wie vertrackte Tatsache nicht zu gering veranschlagen, dass es sich dabei objektiv um Nebeneffekte einer Veranstaltung handelt, die primär und substanziell aus ökonomischen Interessen vorangetrieben wird. Das gilt nicht nur für den öffentlichen Informations- und Wissensraum der Suchmaschinen und der kostenlos abrufbaren Enzyklopädieartikel, sondern auch für den e-mail-Verkehr und den Austausch auf Kommunikationsplattformen, die inmitten eines gigantischen weißen Reklame-Rauschens stattfinden. Ohnehin scheint es nicht überflüssig daran zu

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erinnern, dass das Internet juristisch betrachtet kein „öffentlicher Raum“ ist, sondern ein Konglomerat von privaten Anbietern. Aus der Sicht der Nutzer ist es „ein neuer Raum, der öffentlich scheint, aber auf seine Art doch privat bleibt“ (Žižek 2012). Fraglich, ob dies mit einer ausdrücklich nichtdialektischen Ambivalenztheorie der Massenemedien zureichend zu erklären ist, wie sie seinerzeit von Habermas formuliert wurde. Dass beispielsweise die kommunikationstechnologisch gestützte „Arabellion“ nicht auf soziale Befreiung ihrer Träger im emphatischen Sinne hinauslief, sondern eine Station auf dem Weg zur Einführung zeitgemäßer Formen der kapitalistischen Marktfreiheit bildet, ist nur dialektischen Begriffen als widersprüchlich und folgerichtig zugleich beschreibbar. Kritische Medienwissenschaftler beobachten zwei konträre Tendenzen innerhalb des ökonomisch-kulturellen Raumes des Internets: Einerseits entstehen subkulturelle Gruppen, die sich horizontal organisieren, und andererseits „soziale Fabriken, in der jede unserer Handlungen Arbeit für den Profit der Eigentümer der hochgradig zentralisierten Plattformen darstellt.“ (Stalder 2012). Deren oligopolistische Infrastruktur produziere und vermarkte nicht in erster Linie kulturelle Artefakte, sondern kommunikative Relationen der Nutzer: „Mit Apple, Facebook, Google, Twitter & Co. sind mächtige Akteure einer neuen Industrie entstanden“, deren Ziel „das Herstellen und Verwalten von Beziehungen“ ist (Stalder 2012). Hier wird noch einmal deutlich, dass Marktfreiheit aufgrund der unvermeidlichen Monopolbildung dazu tendiert, sich aufzuheben (Prokop 2000, S. 197 ff.). Zwischen den soziokulturellen Hoffnungen, die mit dem Auftauchen des Internet verbunden waren, und den Zielen, die im Fortgang seiner Entwicklung zur heutigen Dominanz tatsächlich verfolgt worden sind, klafft nicht nur eine Lücke; dazwischen besteht vielmehr ein grundlegender Antagonismus. Insofern kann man durchaus sagen, dass das Internet „auch ein großer offener Kampfplatz“ ist (Žižek 2012). Die formale Freiheit der ökonomischen Rahmenbedingungen, also die Freiheit von Kontrolle etc., harmoniert nicht mit der inhaltlichen Freiheit der Benutzer, etwa zur Verständigung über gemeinsame oder unterschiedliche Interessen. Ziel und Zweck der Marktwirtschaft sind nicht Verständigung und autonome Handlungskoordination; diese sind lediglich weitere Mittel zur Gewinnmaximierung im Zeitalter des weltweit mikroelektronisch vernetzten Kapitalismus. Die Kommunikationsformen und -foren des Internets sind darauf angelegt, alle Benutzer für die Zwecke individualisierter Werbung „aufzubereiten“ und kommunikative Beziehungen durch und durch warenförmig zu machen. So kommt in der Kulturindustrie der Gegenwart das „globale Ausbeutungsverhältnis des expandierenden Kulturkapitalismus“ (Raupach 2009, S. 236) zur Erscheinung. Dieser ist nicht zuletzt durch eine Tendenz zur „Virtualisierung der Waren-Materialität“ gekennzeichnet, welche „teilweise oder ganz durch einen symbolischen Gebrauchswert abgelöst wird“ (Raupach 2009, S. 235), wie er sich in vorproduzierten Vorstellungsbildern und Lebensstilangeboten ausdrückt. Sie greifen sozialisatorisch früh zu: Über jene Branche, die Negt (Negt 1997, S. 51–64) „Kulturindustrie für Kinder“ nennt. Ihre Fiktions- und Produktketten subsumieren die Welt des Imaginären unter standardisierte Warenformen. Daran schließt sich unmittelbar die Sozialisation durch Computerspiele für Heranwachsende und infantil Gebliebene an (Müller et al. 2015).

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Betancourt (2016) geht davon aus, dass nicht nur Selbst- und Fremdwahrnehmung der Individuen, sondern auch die sozialen Relationen mittlerweile gänzlich der warenförmigen Verwertung vermittels jener digitalen Standards und Schemata unterworfen sind, die die Kommunikationsplattformen des Internets vorgeben. Wenn es in den Kommunikationsplattformen vermeintlich um „friends“ und „communities“ geht, die permanente Präsentation der eigenen Person jedoch der Logik des „Lebenslaufs“ für Personalchefs folgt, dann muss dies nicht, wie Gunzelin Schmid Noerr (Schmid Noer 2012, S. 198) mit Recht feststellt, „zwangsläufig zu einer lückenlosen Identifikation mit der ökonomischen Rationalität führen“. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass der Sinn der Veranstaltung darin besteht, Aufmerksamkeit für sich zu erzeugen und für andere wahrnehmbar zu sein. Der Aufbau von „Netzwerken“ ist auch Ausdruck der Not, sich selbst anpreisen und vermarkten zu müssen. „Für sich Reklame machen wird zu einem Imperativ der Selbsterhaltung“ (Türcke 2002, S. 36). Die Bedingungen, unter denen sich dies abspielt, sind die der Konkurrenz. Die Überprüfbarkeit des Lebenswandels in all seinen Facetten bei Bewerbungen um Arbeitsplätze; die Rekonstruierbarkeit der „Gesamtpersönlichkeit“ durch tendenziell lückenlose Erfassung des Kauf-, Konsum- und Kommunikationsverhaltens mit Hilfe der Spuren, die ein Mensch im world wide web hinterlässt; die Selbstpräsentation (und Selbstwahrnehmung) im Freizeitsektor als Person, die ein soziokulturell interessantes Leben führt – durch all diese Faktoren trägt die Internetkommunikation zur Präformation der Selbst- und Weltwahrnehmung gemäß den Erfordernissen der Warenform bei.

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Die Macht der Kulturindustrie im Spätkapitalismus Von Adorno/Horkheimer zu den Cultural Studies Rainer Winter

Zusammenfassung

Der Beitrag behandelt die konzeptuellen Facetten und den theoretischen Stellenwert des von Horkheimer und Adorno etablierten Begriffs der Kulturindustrie sowie dessen inhaltliche (Weiter-)Entwicklung in ihrem Werk nach der „Dialektik der Aufklärung“. Unterzogen wird der Kulturindustrie-Aufsatz einer kritischen Reflexion, die medientheoretisch- und vor dem Hintergrund neuerer sozial- und kulturwissenschaftlicher Einsichten zu Film, Kunst und populärer Kultur argumentiert. Gezeigt wird zudem, dass sich Frankfurter Schule und Cultural Studies seit Anbeginn (und trotz weitgehend separater Theorieentwicklung sowie unterschiedlichen Akzentsetzungen) dem Projekt einer machtzentrierten Gesellschafts- und Kapitalismuskritik mit einem Fokus auf Veränderungsspielräumen verschreiben. Schlüsselwörter

Kulturindustrie · Frankfurter Schule · Cultural Studies · Spätkapitalismus · Hegemonie · Film · Ware

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Einleitung

Der Begriff der Kulturindustrie, den Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in einem Kapitel ihrer „Dialektik der Aufklärung“ (1944/1947) einführen und verwenden, ist zentral für eine kritische Theorie der Gesellschaft geworden. So erschließt sich ein Verständnis des von Krisen, sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten Spätkapitalismus erst dann, wenn die integrierende und stabilisierende Funktion der R. Winter (*) Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_59

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Kulturindustrie berücksichtigt und analysiert wird. Sie trägt zur Institutionalisierung und Aufrechterhaltung strukturell asymmetrischer Machtbeziehungen bei. In Adorno und Horkheimers Interpretation unterstützt und trägt die Kulturindustrie den Prozess der Verdinglichung, der zunehmend alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt und seinem unerbittlichen Diktat des „Zur-Ware-Werdens“ und der Kommerzialisierung unterwirft. Jedes Ding und jede Aktivität kann zu einer Ware und als solche konsumiert werden. Es hat dann keinen qualitativen Wert an sich mehr, sondern wird ein quantifizierbares Mittel zum Zwecke der Konsumbefriedigung (vgl. Jameson 1982, S. 111). Kernpunkt der Argumentation von Horkheimer und Adorno ist, dass die Massenkultur eine Warenstruktur hat und von einer instrumentellen Vernunft geprägt wird. Zudem haben sich auch die Mittel des wissenschaftlich–technischen Fortschritts in der spätkapitalistischen Welt verselbständigt und vom Zweck der Selbstverwirklichung des Menschen gelöst. So ist das zentrale Thema der „Dialektik der Aufklärung“ das Verschwinden der Freiheit in einer zunehmend verwalteten Welt, die durch den Siegeszug der instrumentellen bzw. wissenschaftlichen Vernunft gekennzeichnet ist und effiziente Planung bzw. Bürokratisierung forciert. Dennoch halten Adorno und Horkheimer an den Möglichkeiten einer philosophisch betriebenen Ideologiekritik und auch des Widerstands in der alltäglichen Praxis fest, die das Bestehende transzendieren und zumindest an die verlorenen Hoffnungen eines befreiten Lebens erinnern können. Deshalb zielt die Ideologiekritik auf eine interpretative Transformation kultureller Selbstverständlichkeiten, eingeübter Interpretationsmuster und habituell übernommener Vorstellungen, die das Verständnis der sozialen Welt bestimmen. Adorno und Horkheimer glauben an das transformative Potenzial kritischer Reflexion, die Herrschaft in Frage stellt. Diese Lesart erschließt sich freilich erst bei genauerer Betrachtung ihres Werks und seiner Einordnung in die theoretische Kontinuität der akademischen Praxis der beiden Autoren, vor allem der von Adorno. Im Folgenden werde ich zunächst die wesentlichen Elemente der Theorie der Kulturindustrie bestimmen (Abschn. 2.1–2.4). Dann werde ich auf wesentliche Kritikpunkte eingehen (Abschn. 2.5). Schließlich werde ich untersuchen, wie das Verhältnis von Kulturindustrie und Herrschaft in den von Antonio Gramscis Hegemonieanalysen geprägten Cultural Studies behandelt wird. Auch die Cultural Studies stehen in der Tradition des westlichen Marxismus und verbinden Herrschaftskritik mit dem Ziel der Emanzipation (Abschn. 3).

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Elemente der Theorie der Kulturindustrie

2.1

Kulturindustrie im Kontext der Dialektik der Aufklärung

Die Theorie der Kulturindustrie beschreibt und interpretiert eine gesellschaftliche Situation, in der Massenkommunikation und Massenkultur sich in der gesellschaftlichen Organisation durchgesetzt haben und eine zentrale Rolle bei der Sicherung und Legitimierung von Herrschaft spielen. Horkheimer und Adorno beobachteten in den 1940er-Jahren Tendenzen, die sich dann fortgesetzt, verstärkt und intensiviert

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haben. Den Faschismus vor Augen, wussten sie, wie totalitäre Regimes sich effektiv der Kulturindustrie bedienen können. Deshalb formulierten sie ihre Einsichten und Diagnosen provokativ und apodiktisch. Ihre Theorie der Kulturindustrie ist das wichtigste Beispiel für die weit verbreitete negative Einschätzung der Rolle der Massenmedien und ihres manipulativen Einflusses in der kapitalistischen Gesellschaft. Theoretisch elaboriert und stringent, versuchen Adorno und Horkheimer zu zeigen, dass die Massenmedien als soziale Kontrollinstrumente zur Integration der Konsumenten beitragen. Das ihnen versprochene Vergnügen müssen die Konsumenten mit einer Manipulation ihres Bewusstseins und – wegen der standardisierten Warenproduktion kultureller Formen – mit der Verkümmerung ihrer Einbildungskraft, ihres unabhängigen Denkens und schließlich dem Verlust ihrer Individualität begleichen. Wie die zur gleichen Zeit entstandene und betriebene Wirkungsforschung ist diese im amerikanischen Exil unter dem Eindruck von Faschismus und Stalinismus entwickelte Manipulationstheorie an einer durch Herrschaftsinstanzen außengeleiteten Masse orientiert. Die Funktion der Propaganda in totalitären Regimes werde im liberalen Amerika des New Deal von der Kulturindustrie übernommen. Diese trage zur Reproduktion des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bei, indem sie die unterdrückten Subjekte dazu animiere, das Herrschaftssystem mitzutragen. Die Bedeutung der Theorie der Kulturindustrie lässt sich freilich nur dann angemessen erfassen, wenn man ihren Stellenwert innerhalb der Kritischen Theorie berücksichtigt, die nach dem Programm Max Horkheimers (1937/1970) soziologische Analysen mit philosophisch orientierten Zeitdiagnosen verknüpfen soll (vgl. Honneth 1985, S. 11). So ist die in die Dialektik der Aufklärung eingebundene Theorie der Kulturindustrie gleichzeitig Teil einer geschichtsphilosophischen Argumentation, die sich bemüht, aufzuzeigen, wie die Herrschaft über die äußere Natur unweigerlich die über die innere nach sich zieht. Horkheimer und Adorno betrachten die instrumentelle Vernunft als Kern und Motor der Aufklärung. Der Kapitalismus, die Bürokratie und auch die Wissenschaft verkörpern sie. Sie führt dazu, dass die Aufklärung in ihr Gegenteil umkippt. Aus Freiheit wird Entfremdung, die Natur wird zu einem Objekt, das genutzt, manipuliert und ausgebeutet wird. Der Fortschritt in der Emanzipation aus der Naturverfallenheit ist mit der gleichzeitigen ‚Verleugnung der Natur im Menschen‘, also mit deren Unterdrückung gekoppelt. So schreiben Horkheimer und Adorno (1947/1971, S. 70 ff.): „Eben diese Verleugnung, der Kern aller zivilisatorischen Rationalität, ist die Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität; mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig. (. . .) Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht“.

Diese zivilisationsgeschichtliche Regression münde in eine „Logik des Zerfalls“ (Lüdke 1981). Die Geschichte der Menschheit wird von Horkheimer und Adorno durch die Herrschaft der technisch-instrumentellen Vernunft nicht als Geschichte des

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Fortschritts, sondern als Verfallsgeschichte begriffen. Die Aufklärung führt nicht zu Freiheit und Autonomie, sondern zu Standardisierung und Kontrolle. Die Warenform ist in alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen und hat das Prinzip des Tauschwerts universalisiert. So produziert die Kulturindustrie Waren, die von Anfang an für den Verkauf bestimmt sind. „The distinction between art and advertisement (. . .) was obliterated, as cultural products were created for exchange rather than to satisfy any genuine need“ (Jay 1984, S. 122). Die Kulturindustrie beraubt sowohl die Objekte als auch die Subjekte ihrer Individualität (Kipfer 1999). Diese pessimistische Gesamteinschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung und des Schicksals des Individuums in der spätkapitalistischen Gesellschaft muss berücksichtigt werden, um die Theorie der Kulturindustrie einer angemessenen Würdigung und Kritik unterziehen zu können. Diese Perspektive impliziert nicht, dass Widerstand unmöglich ist. Er ist dann realisierbar, wenn Subjekt und Objekt nicht miteinander identisch sind. Es ist der Einzelne, dessen „präsoziale“ Triebstruktur ihn nicht kompatibel mit den Anforderungen der spätkapitalistischen Gesellschaft macht und ihn rebellieren lässt. Adorno (1966) hält auch in seinen späteren Arbeiten an diesem Antagonismus fest, der angesichts des Fehlens oppositioneller Gruppen den Einzelnen zum Platzhalter des möglichen Widerstandes macht. Im weiteren werden wir zunächst das Verhältnis der Kulturindustrie zur ‚authentischen Kultur‘ behandeln (Abschn. 2.2). Anschließend werden die besonderen Merkmale der Waren der Kulturindustrie herausgearbeitet und dann die massenkulturelle Erfahrung näher bestimmt. Daraus lässt sich die implizite Konzeption der Rolle der Massengesellschaft und der Rolle des Einzelnen ableiten (Abschn. 2.3). Sodann werden die von Adorno vorgenommenen Revisionen der Theorie der Kulturindustrie diskutiert (Abschn. 2.4). Die externe Kritik an ihr soll aufzeigen, inwiefern die Diagnosen heute noch hilfreich sind und inwiefern sie revidiert werden müssen (Abschn. 2.5).

2.2

Kulturindustrie versus ,authentische Kultur‘

Horkheimer und Adorno verwenden in der Dialektik der Aufklärung nicht den naheliegenden Begriff der Massenkultur, wie es Horkheimer noch 1941 in seinem Artikel „Art and Mass Culture“ (Horkheimer 1941) tat, sondern den Begriff Kulturindustrie, um gerade deren synthetischen, nicht vom ,Volk‘ bzw. der ,Masse‘ bestimmten Charakter herauszustellen. Unter Kulturindustrie verstehen sie die gesellschaftlich verfügbaren und der Unterhaltung dienenden Reproduktionstechnologien (Kino, Radio, populäre Musik, Magazine etc.), die mit der im späten 19. Jahrhundert entstandenen Vergnügungsindustrie im 20. Jahrhundert zu einem System verschmolzen sind, das durch Standardisierung und Serienproduktion von Kulturprodukten gekennzeichnet ist. Der Begriff Kulturindustrie überrascht zunächst, da er scheinbar präsupponiert, dass Kultur industriell herstellbar sei. Im Kontext der Aufklärung steht die Kultur aber der industriellen Zivilisation entgegen, kritisiert sie und transzendiert sie. Adorno hat in einer späteren Arbeit diesen Zusammenhang näher erläutert.

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„Der Ausdruck Industrie ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich auf die Standardisierung der Sache selbst – etwa die jedem Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Produktionsvorgang“ (Adorno 1967/1977a, S. 339).

So weist die dem Western als einem Genrefilm inhärente Standardisierung ihn als Ware, aber gerade nicht als Kultur im herkömmlichen Sinn aus. Unter Bedingungen umfassenderer Kommodifizierung und intensivierter Massenkommunikation, die zu einer Allgegenwart von Waren führt, hat sich die Kultur nämlich in die Bereiche der „authentischen Kunst“, beispielsweise der Prosa von James Joyce oder der Malerei von Pablo Picasso (vgl. Horkheimer 1941, S. 294), und der Kulturindustrie aufgespalten. „Solch ein Ansatz verlangt von uns, Hoch- und Massenkultur als objektiv verbundene und als dialektisch voneinander abhängige Phänomene zu verstehen, als Zwillings- und somit untrennbare Formen der Spaltung der ästhetischen Produktion unter den Bedingungen des Spätkapitalismus“ (Jameson 1982, S. 115).

Hinter der Begriffswahl ‚Kulturindustrie‘ versteckt sich eine dialektisch gemeinte Ironie (vgl. Kellner 2012, S. 406). Denn die Bedeutung von Kultur ist nach der Auffassung von Horkheimer und Adorno durch ihre Verwandlung in Kulturindustrie nämlich gerade in ihr Gegenteil umgeschlagen. Während authentische Kunst als Leistung eines schöpferischen Individuums die gesellschaftlichen Verhältnisse symbolisch transzendiere und deshalb in Opposition zum repressiven Allgemeinen trete, würden der Kulturindustrie ihre Produkte im Prozess des „Zur-Ware-Werdens“ zum bloßen Mittel ökonomischer Zwecke, was verhindere, dass sie den Belangen und den Interessen des Einzelnen, so seiner Freiheit und Autonomie, dienen könnten. Bei Kant und im klassischen deutschen Idealismus war die Kunst der Bereich interesselosen Wohlgefallens, in dem sich eine nicht entfremdete Subjektivität entfalten konnte. „Genau diese Enklave wird nun – als eine Art letzter Grenze und unerforschtem Territorium für die Dialektik der Aufklärung – von der Kulturindustrie allmählich kolonisiert“ (Jameson 1991, S. 138). Hierdurch kommt es zu einer Herabminderung bzw. Auslöschung von Subjektivität. Die Aufklärung bzw. der Positivismus haben sie durchdrungen und aufgesogen. Kulturelle Waren werden massenhaft und standardisiert produziert. Jameson (1991, S. 138) hält fest, dass für Horkheimer und Adorno die Kulturindustrie „weder Kunst noch Kultur (ist-RW), sondern reines Geschäft und von daher ein Bereich, an dem die tendenzielle Konvergenz von Monopolisierung und Instrumentalisierung deutlicher sich zeigt als in anderen Sparten des Warenaustauschs“.

2.3

Merkmale der Waren der Kulturindustrie und ihre Wirkungen

Das Streben nach Profitmaximierung ist auf der Basis eines monopolistischen Wirtschaftssystems fordistischer Prägung organisiert. Die Produktion kultureller Waren folgt denselben Gesetzmäßigkeiten wie in der Industrie selbst.

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„Die Abhängigkeit der mächtigsten Sendegesellschaft von der Elektroindustrie, oder die des Films von den Banken, charakterisiert die ganze Sphäre, deren einzelne Branchen wiederum untereinander ökonomisch verfilzt sind (. . .) Die rücksichtslose Einheit bezeugt die heraufziehende der Politik“ (Horkheimer und Adorno 1971, S. 110).

Die unter diesen Bedingungen produzierten Kulturgüter besitzen nicht die ästhetischen Eigenschaften, die die authentische Kunst kennzeichnen und die deren Logik von der des gesellschaftlichen Systems radikal trennen. Mit ihrer Abhängigkeit von den Gesetzen des Marktes haben die Artefakte der Kulturindustrie nämlich die für den Ausdruck von Leiden, Widerspruch und der Idee eines guten Lebens notwendige Distanz zu ökonomischen Tauschbeziehungen verloren. Sie sind von den der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Kapitalismus kritisch gegenüber stehenden Elementen gereinigt. Ausgehend von den Genrefilmen und Seifenopern im Radio aus den 1930er- und 1940er-Jahren zeigen Adorno und Horkheimer, dass die Standardisierung der Kulturprodukte zu einer Einebnung der Differenzen bei gleichzeitiger Etablierung von konventionalisierten Formeln und Stereotypen geführt hat. Es entsteht eine für Waren typische Uniformität und Schematisierung, die sich an den Handlungsabläufen, den Themen und den Charakteren ablesen lässt. Auf diese Weise ist die Kulturindustrie durch eine monolithische, nur oberflächlich variierende Warenproduktion gekennzeichnet, die Kreativität sowohl auf Seiten der Produktion als auch der Rezeption geradezu ausschließt. „Durchweg ist dem Film sogleich anzusehen, wie er ausgeht, wer belohnt, bestraft, vergessen wird, und vollends in der leichten Musik kann das präparierte Ohr nach den ersten Takten des Schlagers die Fortsetzung raten und fühlt sich glücklich, wenn es wirklich so eintrifft. An der durchschnittlichen Wortzahl der Short Story ist nicht zu rütteln. Selbst Gags, Effekte und Witze sind kalkuliert wie ihr Gerüst“ (Horkheimer und Adorno 1971, S. 112).

Auch wenn sich bei Filmen zwischen Western, Krimis oder Komödien differenzieren lässt, so stimmen doch alle Genres nach der Auffassung von Adorno und Horkheimer zwangsläufig mit den herrschenden gesellschaftlichen Normen und Werten überein und bestätigen diese. Die typische Eigenschaft des Films verbindet sie nämlich alle: Sie verdoppeln die gesellschaftliche Realität, einschließlich ihrer Gesetze und Regeln. Für authentische Kunstwerke dagegen ist diese nur der Ausgangspunkt für die ästhetische Konstruktion, die im Sinne Nietzsches auf einer „Verklärung des Gewöhnlichen“ (Danto 1984) beruht und nach Autonomie strebt. Daher ermöglichen die Kulturwaren bei der Rezeption nicht die Erfahrung ästhetischer Distanz, vielmehr animieren sie den Rezipienten zu einer Identifikation mit der sozialen Wirklichkeit. Von dieser Wirklichkeit abweichende oder sie in Frage stellende Vorstellungen sowie gegen sie opponierende Gefühle werden in den Produkten der Kulturindustrie und nachfolgend – quasi automatisch – vom Zuschauer selbst zensiert. Der ,Pseudo-Realismus‘ der Kulturindustrie erzeugt bzw. befördert in der Totalität seiner Effekte einen konformen Konsumenten, dem das selbstständige Denken, Fantasie und Spontaneität weitgehend abhanden gekommen sind.

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„Die Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten heute bracht nicht auf psychologische Mechanismen erst reduziert werden. Die Produkte selber, allen voran das charakteristischste, der Tonfilm, lähmen ihrer objektiven Beschaffenheit nach jene Fähigkeiten. Sie sind so angelegt, dass ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, dass sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbei huschenden Fakten versäumen will“ (Horkheimer und Adorno 1971, S. 114).

Da jede Kulturware lediglich ein Modell des Systems ist, werden die Konsumenten unweigerlich an das System und dessen Erfordernisse gebunden. Die Standardisierung führt dazu, dass das Allgemeine über das Besondere dominiert. Das Bedürfnis nach solchen Produkten entsteht freilich bereits in der Sozialisation, in der das Streben nach Autonomie und Individualität zunehmend verunmöglicht wird. Daher unterscheidet sich für Adorno und Horkheimer die Erfahrung der Massenkultur ganz entschieden von der genuin ästhetischen Erfahrung. Bereits in seiner Arbeit „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“ (Adorno 1938) hatte Adorno die These vertreten, dass im Bereich der Kulturgüter der Tauschwert den Gebrauchswert verdrängt. „Der Schein von Lust und Unmittelbarkeit bemächtigt sich des Tauschwerts selber. Setzt die Ware allemal sich aus Tauschwert und Gebrauchswert zusammen, so wird der reine Gebrauchswert, dessen Illusion in der durchkapitalisierten Gesellschaft die Kulturgüter bewahren müssen, durch den reinen Tauschwert substituiert, der gerade als Tauschwert die Funktion des Gebrauchswerts trügend übernimmt (. . .) die Affekte, die auf den Tauschwert gehen, stiften den Schein der Unmittelbarkeit, und die Beziehungslosigkeit zum Objekt dementiert ihn zugleich“ (Adorno 1938, S. 331).

Adorno versucht die Fetischisierung nicht nur auf der Produktionsseite des Musikbetriebs, sondern auch bei den Rezipienten nachzuweisen, die zu vollständiger Konzentration nicht mehr fähig seien und so die Konstruktionsprinzipien eines Musikstücks nicht mehr erfassen könnten. Dagegen ist die authentische Kunst am Gebrauchswert orientiert. Für Horkheimer und Adorno verweist Kunst auf einen zukünftigen Zustand des Glücks. Im Anschluss an Stendhal stellt sie ein promesse de bonheur dar: „Das ist das Geheimnis der ästhetischen Sublimierung: Erfüllung als gebrochene darzustellen“ (Horkheimer und Adorno 1971, S. 125). Die Negierung der unmittelbaren Lust in der authentischen Kunst verweist auf deren Unmöglichkeit in der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. So wird deutlich, wie ideologisch und illusionär die Versprechen der Kulturindustrie sind, die Glück und Vergnügen verheißen. Adorno und Horkheimer orientieren sich mit ihrer Analyse der Kulturindustrie sowohl an Marx/Lukács als auch an Weber, da sie deren Funktion als Teil der Rationalisierungs- und Verdinglichungsprozesse in kapitalistischen Gesellschaften betrachten. Die Kulturindustrie ist Teil der „verwalteten Gesellschaft“, die ein „ehernes Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber) errichtet. Standardisierten und identischen Waren ausgeliefert, entwickeln die Konsumenten die vom System „gewünschten“ Bedürfnisse.

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„Die Konsumenten sind die Arbeiter und Angestellten, die Farmer und Kleinbürger. Die kapitalistische Produktion hält sie mit Leib und Seele so eingeschlossen, dass sie dem, was ihnen geboten wird, widerstandslos verfallen (. . .) Sie haben ihre Wünsche. Unbeirrbar bestehen sie auf der Ideologie, durch die man sie versklavt“ (Horkheimer und Adorno 1971, S. 120).

Das „von oben ergriffene“ Amusement wird durch immer besser gemachte Waren zur gewünschten Freizeitbeschäftigung, zur industriell ermöglichten Regression. Auf diese Weise verdammt die Kulturindustrie die Konsumenten nicht nur zur Passivität, ihr gewähltes Vergnügen selbst ist nur noch vor dem Hintergrund ihrer entfremdeten Arbeitsbedingungen und ihrer missglückten Sozialisation, in der das Ideal der Mündigkeit nicht erreicht wurde, zu verstehen. „Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein (. . .) Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur durch die Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amusement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgleisen sich bewegt“ (Horkheimer und Adorno 1971, S. 123).

An verschiedenen Beispielen versuchen die Autoren zu zeigen, dass die schematisierten Kulturwaren den Konsumenten eine unproduktive und stumpfsinnige Reaktion verordnen. Oft fehlt ihnen sogar ein logischer Handlungsaufbau, weil er kurzfristigen Effekten weichen muss. So gehe es in Kriminalfilmen nicht mehr primär um die Aufklärung eines Verbrechens. Stattdessen dominiere die blanke Inszenierung des Schreckens in narrativ kaum miteinander verbundenen Szenen. In den Trickfilmen solle den Zuschauern deutlich gemacht werden, dass „die kontinuierliche Abreibung, die Brechung allen individuellen Widerstandes, die Bedingung des Lebens in der Gesellschaft ist“ (Horkheimer und Adorno 1971, S. 124). Stereotype Bilder und schematisierte Handlungen sollen verhindern, dass das Bestehende in Frage gestellt und über es hinausgedacht wird. Deshalb ist im System der Kulturindustrie Individualität illusorisch, zumal sie die bürgerliche Gesellschaft allenfalls in gebrochener Gestalt zuließ. In früheren Studien hatten die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung bereits gezeigt, dass der gesellschaftliche Funktionsverlust der Familie die Ausbildung von individueller Autonomie in der Sozialisation erschwert, da die Autorität des Vaters nur noch schwer verinnerlicht wird. Dahinter steckt der Sachverhalt, dass im Monopolkapitalismus mit dem Verlust der wirtschaftlichen Freiheit des Unternehmertums auch die väterliche Autorität schwindet. Deshalb erfolgt die Verhaltenskontrolle nicht mehr durch eine in Auseinandersetzung mit dem Vater ausgebildete individuelle Gewissensinstanz, die Autonomie und Selbständigkeit möglich macht. Vielmehr wird die Innenlenkung durch die Orientierung an äußeren Leitbildern ersetzt. So können den Platz des nur rudimentär ausgebildeten Über-Ichs die synthetisch erzeugten Normen und Werte der Kulturindustrie einnehmen. Die kapitalistischen Funktionsimperative können unmittelbar in das Triebleben eingreifen. Was in

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Europa Faschismus und Stalinismus bewirkt hat, die totale Manipulation der Beherrschten und die Stützung totalitärer Herrschaft durch diese selbst, erzeuge im Kapitalismus amerikanischer Prägung der kulturindustrielle Komplex.

2.4

Adornos Differenzierungen in der Betrachtung der Kulturindustrie

Auch in ihren späteren Arbeiten hielten Horkheimer und Adorno weitgehend an ihren Diagnosen vom Massenbetrug und von der Degradierung der Rezipienten zu bloßen Objekten fest. So schrieb Adorno beispielsweise 1966 in einer seiner wenigen Arbeiten über den Film: „Die Konsumenten sollen bleiben, was sie sind, Konsumenten; deshalb ist die Kulturindustrie nicht Konsumentenkunst, sondern verlängert den Willen der Verfügenden in ihre Opfer hinein“ (Adorno 1966, 1977b, S. 361). Weiterhin sei der Film – wie die gesamten symbolischen Formen der Kulturindustrie – gerade durch die „Negation von Stil“ gekennzeichnet. Überdies war Adorno skeptisch, ob der Film – auch in seiner avancierten Form – überhaupt Kunst sein kann. Da er primär auf die Abbildung von Wirklichkeit angewiesen sei, stelle er immer schon Gesellschaft dar, die unabhängig von ästhetischen Intuitionen ist. „Keine Ästhetik des Films, auch keine rein technologische, die nicht seine Soziologie in sich einschlösse“ (Adorno 1966, 1977b, S. 357). Deshalb könne im Film niemals das ästhetische Material systematisch durchgearbeitet und der Film eine „absolute Konstruktion“ werden, was das wesentliche Merkmal avancierter modernistischer Kunst sei. Nach Adorno kann aber der Avantgardefilm authentische Kunst sein, und zwar wenn es ihm gelingt, jenseits eines erzählerischen Realismus die Erfahrung des inneren Monologs wiederherzustellen (Adorno 1966, 1977b, S. 355). So wie einem Reisenden am Abend die erlebten Landschaftsbilder wieder in den Sinn kämen, müssten Kunstfilme aus montierten, diskontinuierlichen Bildern bestehen, die gerade nicht in eine lineare, zeitliche Abfolge gebannt seien. Adorno weist auch darauf hin, dass die Kulturindustrie Widersprüche und Ambivalenzen inkorporiert, um möglichst viele Zuschauer zu erreichen. Ähnlich wie Vertreter der Cultural Studies sieht er hierin positive Möglichkeiten. „Will sie die Massen ergreifen, so gerät selbst die Ideologie der Kulturindustrie in sich so antagonistisch wie die Gesellschaft, auf die sie es abgesehen hat. Sie enthält das Gegengift ihrer eigenen Lüge. Auf nichts anderes wäre zu ihrer Rettung zu verweisen“ (Adorno 1966, 1977b, S. 356).

In einem seiner letzten Radiovorträge, der dem Thema der Freizeit gewidmet ist, kommt Adorno, ausgehend von einer empirischen Untersuchung am Frankfurter Institut für Sozialforschung, auch zu einer neuen Einschätzung der sozialen Integrationsfunktion der Kulturindustrie. Nun bezweifelt er, dass das Konsumentenbewusstsein ihr entsprechen würde (Adorno 1969/1977c, S. 653). Die Produkte der Kulturindustrie werden.

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„zwar konsumiert und akzeptiert, aber mit einer Art von Vorbehalt (. . .) Mehr noch vielleicht: es wird nicht ganz daran geglaubt. Die Integration von Bewusstsein und Freizeit ist offenbar doch noch nicht ganz gelungen. Die realen Interessen der Einzelnen sind immer noch stark genug, um, in Grenzen, der totalen Erfassung zu widerstehen“ (Adorno 1969/ 1977c, S. 655).

Adorno geht davon aus, dass die weiter bestehenden Widersprüche der spätkapitalistischen Gesellschaft auch im Bewusstsein der Einzelnen ihre Spuren hinterlassen. „Ich verzichte darauf, die Konsequenzen auszumalen; ich meine aber, dass darin eine Chance von Mündigkeit sichtbar wird, die schließlich einmal zu ihrem Teil helfen könnte, dass Freizeit in Freiheit umspringt“ (ebd., S. 655). Ergänzend weist Deborah Cook (1996, S. 72 ff.) darauf hin, dass Adorno an einigen Stellen seiner Essays zeigt, dass Aufklärung nicht nur in Herrschaft und Kontrolle umschlägt. Zweifellos führt sie auch dazu, dass einzelne aufgeklärt sind und zumindest unbewusst den Betrug und die Manipulationen der Kulturindustrie durchschaut haben und diese auch in Frage stellen. Deshalb sind sie nicht völlig manipulierbar und beherrschbar. Gerade die negative Dialektik, die Adorno (1966) entwickelt hat, ist eine Form der Ideologiekritik und damit einer kritischen intellektuellen Praxis, die das Bestehende verändern möchte, indem sie über es hinausdenkt. Sie hält die Unterscheidung zwischen dem Begriff und dem Objekt aufrecht. Dieses soll nicht subjektiven Kategorien oder Konzepten untergeordnet werden, wie es im Identitätsdenken des Positivismus der Fall ist. Denn Individualität und begriffliches Denken widersprechen sich. „Begriffe sind . . . Teil der gesellschaftlichen Strukturen, besonders der Herrschaftsbeziehungen“ (Steinert 1998, S. 82). Auch die Kulturindustrie folgt dem Identitätsdenken, weil das Partikulare dem Universalen untergeordnet wird. Ihre Produkte stellen realistisch die Welt des Partikularen dar, die freilich standardisiert, stereotypisiert und schematisiert wird (Cook 1996, S. 78). So werden die verdinglichten Beziehungen und Verhältnisse repräsentiert. Fredric Jameson (1991, S. 35) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Adornos Verwendung des Identitätsbegriffes den Marxschen Begriff des Tauschverhältnisses voraussetzt. Im reflexiven Denken aber kann diese Identifikation in Frage gestellt, das Bestehende transzendiert und spekulativ nach Alternativen gesucht werden. Auf diese Weise ist auch ein radikaler Wandel vorstellbar. Daher bezeichnet Heinz Steinert (2007, S. 12) das in der „Dialektik der Aufklärung“ angelegte Forschungsprogramm als eine „besonders elaborierte Variante von Befreiungstheorie – und, weil von keinerlei Fortschritts-Euphorie verblendet, eine besonders realistische“. Sie möchte nicht bei dem verharren, was ist, sondern die Herrschaftsverhältnisse reflexiv durchdringen und in Frage stellen, die es hervorbringen und als alternativlos darstellen (Steinert 2007, S. 166). Darüber hinaus strebt Adorno nach einer mimetischen Theorie, die das Besondere erfasst, ohne es begrifflich zu bestimmen. „Stattdessen versucht sie, sich in ihn zu versenken, sich ihm anzugleichen. Wie Benjamin fasst Adorno Mimesis zunächst somatisch auf: als körperliche Mimikry, als körperliche Angleichung an den Gegenstand“ (Zima 1991, S. 152).

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2.5

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Kritik an der Theorie der Kulturindustrie

Die bisherige Diskussion der Theorie der Kulturindustrie hat deutlich gemacht, dass Adorno und Horkheimer der Massenkommunikation und Massenkultur eine zentrale Rolle in der Stabilisierung und Reproduktion des Spätkapitalismus zusprechen. Vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftstheoretischen und geschichtsphilosophischen Überlegungen reiht die Kulturindustrie sich als Instrument sozialer Kontrolle und Integration in den Verfallsprozess der Zivilisation ein, der mit steigender Naturbeherrschung auch das Herrschaftspotenzial in der Gesellschaft anwachsen lässt. So suggestiv einleuchtend und aufschlussreich diese Einschätzung an vielen Stellen sein mag, gibt es doch auch wesentliche Kritikpunkte. Der theoretische Rahmen von Horkheimer und Adorno ist trotz oder gerade wegen seiner geschichtsphilosophischen Verankerung zu eng gestrickt. Sicherlich wird über die symbolischen Formen und Institutionen der Massenmedien soziale Kontrolle ausgeübt, nur diese funktionieren nicht so lückenlos und einheitlich, wie sich Adorno/Horkheimer dies in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ im Anschluss an die Diagnosen der kapitalistischen Moderne von Lukács/Marx und Weber vorstellen. Auch wenn die durch die Kulturindustrie produzierten symbolischen Formen Waren sind, heißt das nicht, dass sie nur das sind. So stellt z. B. Jürgen Habermas fest: „Eine Analyse, die von der Warenform der Kulturgüter ausgeht, assimiliert die neuen Massenkommunikationsmittel an das Medium des Tauschwertes, obwohl die strukturellen Ähnlichkeiten nicht weit genug reichen. Während das Geldmedium sprachliche Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung ersetzt, bleiben die Medien der Massenkommunikation auf sprachliche Verständigung angewiesen“ (Habermas 1981 Bd. 1, S. 496 ff.).

Da Horkheimer und Adorno dies unterschätzen, verkennen sie den ambivalenten Charakter der Massenkommunikation, der eine einseitige autoritäre Steuerung gerade verhindert. Außerdem vernachlässigen Adorno und Horkheimer auf der Suche nach Rationalisierungs- und Verdinglichungseffekten die Unterschiede zwischen den verschiedenen Medien (vgl. Winter und Eckert 1990), und ebenso untersuchen sie die soziale Organisation und die alltäglichen Praktiken der Medienproduktion und -institutionen nicht näher (vgl. Thompson 1990, S. 103). Ihre düstere und pessimistische Diagnose vom zivilisatorischen Niedergang verstellt ihnen in der Folge auch größtenteils den Blick für die auftauchenden Veränderungen in den Formen der Kulturindustrie, in der die für die fordistische Phase der 1930- und 1940er-Jahre typische Standardisierung von Waren durch eine Differenzierung ergänzt (vgl. Kellner 1982; Erd 1989, S. 227) bzw. ersetzt wurde. Die Homogenität der zur Massenkultur gewordenen Kulturindustrie, vor allem der Genrefilme der 1930er- und 1940erJahre, die Adorno vor Augen hatte, ist heute nämlich angesichts einer differenzierten und pluralisierten Kultur nicht mehr gegeben (vgl. Collins 1989; Winter und Eckert 1990).

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Deshalb ist die Vorstellung, dass populäre Filme als Teil der Kulturindustrie wiederholend und in ,pseudo-realistischer‘ Weise die Ideologie der bestehenden Gesellschaft nur reproduzieren, nicht zutreffend. Fredric Jameson (1982) hat in einer eindringlichen Analyse von „Der weiße Hai“ (1975) und den ersten beiden Teilen des „Paten“ (1972/1974) gezeigt, dass Texte der Massenkultur immer auch eine utopische Dimension enthalten, die der bestehenden Gesellschaftsordnung opponieren und sie in Frage stellen. „Hier ist daher die Hypothese aufzustellen, dass die Werke der Massenkultur nicht ideologisch sein können, ohne zugleich implizit oder explizit auch utopisch zu sein: sie können nicht manipulieren, wenn sie nicht einen echten Inhaltsrest – quasi als Bestechung oder Fantasie – dem Publikum anbieten, das gerade manipuliert werden soll“ (Jameson 1982, S. 135).

Er hat hier vor allem Vorstellungen von Kollektivität im Blick, die in der spätkapitalistischen Gesellschaft, die durch Warenströme, die ideologischen Slogans der Konzerne und durch eine zunehmende Privatisierung wie Individualisierung gekennzeichnet ist, verdrängt und verschüttet sind. An vielen Filmen lässt sich zudem zeigen, dass gerade die monolithische Manipulierung und Kontrolle von Gesellschaften zum Thema gemacht wird (vgl. Jameson 1992). Nach der Theorie der Kulturindustrie, die weitgehend einen undurchdringbaren Verblendungszusammenhang unterstellt, soll dies gerade nicht möglich sein. Es lässt sich daher bezweifeln, ob die Veränderung der Inhalte und Formen der Mainstreamfilme seit den 1940er-Jahren wirklich „eine Reproduktion des Immergleichen“ und den „Ausschluss des Neuen“ (Horkheimer und Adorno 1971, S. 160) bedeutet. Nichtsdestotrotz bleibt es das Verdienst von Adorno und Horkheimer die Warenstruktur der Massenkultur ins Zentrum der Analyse gerückt zu haben. Allerdings ist die Dichotomisierung von „hoher“ und „niederer“ Kultur, die sich aus der historisch entstandenen Gegenüberstellung von modernistischer Kunst und Massenkultur ergibt, entschieden in Frage zu stellen. So verweist Jameson (1982, S. 114 ff.) z. B. auf die gegenseitigen Verschränkungen von Hoch- und Massenkultur in der Postmoderne, so z. B. im Hyper- und Photorealismus der bildenden Kunst, in den Romanen von Thomas Pynchon oder in der „new music“ von Terry Riley oder Phil Glass. Vor diesem Hintergrund plädiert Douglas Kellner (2012, S. 413) für ein einheitliches Modell, „das Kultur als ein Spektrum erfasst und ähnliche Methoden auf alle kulturellen Artefakte anwendet, von der Oper bis zur populären Musik, von der modernen Literatur bis zu den Seifenopern“. Subversive und emanzipatorische Elemente sind dann nicht auf die modernistische Kunst beschränkt, sondern lassen sich auch z. B. in Filmen oder Fernsehserien finden. Es wird auch argumentiert, dass der Theorie der Kulturindustrie eine historische Differenzierung fehle. So ist Kellner (1982) der Auffassung, dass Adorno und Horkheimer Erfahrungen der Weimarer Zeit, des Faschismus und des New Deal unterschiedslos verallgemeinern würden und ihre Theorie so ahistorisch sei. Er weist daraufhin, dass die Einzelnen dem System der Kulturindustrie keineswegs bedin-

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gungslos unterworfen und zur Passivität verdammt sind. „Doch entgehen dieser Analyse die Widersprüche im Bereich von Bewusstsein, Politik und Alltag sowie die gesellschaftlichen und individuellen Krisen, die diese vermeintliche Einheit und unverbrüchliche Integration unterminieren“ (Kellner 1982, S. 508). Ferner schließen Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ zu schnell von den Produkten der Kulturindustrie auf die Reaktionen der Konsumenten. Selbstkritisch räumt Adorno später ein: „(. . .) obwohl die Identität von beidem nicht so über jedem Zweifel ist, wie der Kritische denkt, solange er auf der Produktionsseite verbleibt und nicht die Rezeption empirisch überprüft“ (Adorno 1966, 1977b, S. 361). Die Vorstellung einer monolithischen Manipulation sollte auch empirisch überprüft werden. Adorno vertrat später die Position, dass die Ideologie der Kulturindustrie „keineswegs automatisch das sein“ müsse, „was in die Zuschauer eindringt“ (Adorno 1966, 1977b, S. 356). Alexander Kluge knüpft hier an und meint, dass Adorno sich nicht angemessen mit der Ware Film auseinandergesetzt hat, sondern lediglich „eine Propagandamaschine eines Verleihsystems Hollywood, eine mittels der Werbung hergestellte Erscheinung kritisiert“ (Kluge 1989, S. 112). Er versäume es, so Kluge, der sicherlich übertreibt und überpointiert, aus einer „inneren Verachtung für Bilder und den Film“ heraus, sich systematisch mit Filmen zu beschäftigen, die er nur als Teil eines riesigen Systems der Kontrolle in den Blick bekäme. So entgehe Adorno, dass auch die von ihm geschmähten Genrefilme, bei denen der Zuschauer infolge seiner Seherfahrung bestimmte Erwartungen hegt, auf plötzlichen Überraschungen und neuen Erfahrungen aufbauen. „Die Menschen sind nicht industrialisierbar. Deshalb sind es die sich auf Film richtenden Bedürfnisse, Präsenzen im Alltag, Verkäuflichkeiten und die wesentlichen Teile des Herstellungsverfahrens auch nicht“ (Kluge 1983, S. 40). Wegen dieser undifferenzierten Einschätzung des Films und seiner Wirkung (und auch der anderen Medien) hätten Horkheimer und Adorno die Integrationskraft der Kulturindustrie überschätzt. Adorno hat freilich seine Position, wie wir bereits gesehen haben, später nuanciert. So war er dann der Auffassung, dass ein „tief unbewusstes Misstrauen“ die Konsumenten davor schützen kann, die Welt so zu sehen und zu akzeptieren, wie sie von der Kulturindustrie dargestellt wird (Adorno 1977a, S. 344). Angela Keppler (2011) hat diese Ambivalenzen in Adornos Betrachtung, die sich bereits in der „Dialektik der Aufklärung“ finden, deutlich herausgestellt: „Auch das Kapitel über Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung ist trotz seiner grimmigen Forciertheit ständig auf der Suche nach Lücken im System. Hier bereits ist die These angelegt, die Adorno vor allem in seinen Beiträgen in den 60er-Jahren mit unterschiedlichem Nachdruck vertritt. Sie besagt, dass die durch die Kulturindustrie ausgeübte Manipulation aus internen Gründen so verfasst ist, dass in ihr überall Kräfte zu einem Durchschauen der Täuschung wirksam sind und somit Anstöße zu Verhaltensweisen, die eine Fremdsteuerung des individuellen Lebens wenigstens zu lockern vermögen“ (Keppler 2011, S. 257).

Die immanente Kritik kann zeigen, dass kulturelle Texte immer auch Widersprüche und widerstreitende Elemente enthalten. Deshalb ist eine vollständige Ent-

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mündigung des Rezipienten nicht möglich. Keppler zeigt, dass Adorno dies vor Derrida und den Cultural Studies bewusst war. Adornos differenziertere Betrachtung und späte Revision der Theorie der Kulturindustrie sind sinnvoll und werden durch andere Studien, vor allem im Umkreis der Cultural Studies bestätigt. Ergänzend hält John B. Thompson in seiner theoretischen und systematischen Studie „Ideology and Modern Culture“ (1990) kritisch fest: „That is, it is by no means clear that, by receiving and consuming these products, individuals are impelled to adhere to the social order, to identify with the images projected and to accept uncritically the proverbial wisdom that is meted out“ (Thompson 1990, S. 104).

Auch wenn die symbolischen Formen der Kulturindustrie Züge von Standardisierung und Schematisierung aufweisen, bedeutet das nicht, dass sich an den Produkten selbst die Rezeption und deren Wirkungen ablesen lässt (vgl. Winter 1995). Thompson (1990, S. 105) nennt dieses in der Medienforschung oft anzutreffende Missverständnis „fallacy of internalism“. Die in der Beobachterperspektive festgestellten Merkmale medialer Produkte und ihre daraus abgeleiteten potenziellen Konsequenzen müssen ihre Gültigkeit und Effektivität erst in der Rezeption und Aneignung dieser Produkte in alltäglichen Kontexten erweisen. „The reception and appropriation of cultural products is a complex social process which involves an ongoing activity of interpretation and the assimilation of meaningful content to the socially structured background characteristics of particular individuals and groups“ (Thompson 1990, S. 105).

Deshalb ist davon auszugehen, dass verschiedene Individuen und soziale Gruppen mit unterschiedlichen Interpretationen, Reaktionen und Aktivitäten auf mediale Produkte reagieren. Da die Theorie der Kulturindustrie über kein elaboriertes Modell der Decodierung verfügt, kann sie gerade nicht erfassen, wie die symbolischen Formen in den gruppenspezifischen Welten der Rezipienten zu Texten mit je spezifischen Bedeutungen werden und unterschiedliche Formen des Vergnügens entfalten. Eine solche kulturelle Interpretationspraxis aber verhindert, dass die Botschaften der Kulturindustrie den Alltag so kolonialisieren, wie Horkheimer und vor allem Adorno sich das vorgestellt und befürchtet haben. „Adorno ist auf der Ebene seiner Strukturanalyse des Spätkapitalismus von dem Zerfall sozial vermittelter Handlungsweisen viel zu sehr überzeugt, als dass ihm auf der Ebene seiner Analyse der Massengesellschaft die Sperren auffallen könnten, die subkulturelle Interpretationsstile und Wahrnehmungsformen, also kooperative Deutungsleistungen, der kulturindustriellen Manipulation entgegensetzen“ (Honneth 1985, S. 94).

Das entscheidende Manko der Theorie der Kulturindustrie ist in der Lesart von Honneth und auch von Dubiel (1982, S. 471), dass sie keine differenzierte Theorie der Kultur darstellt, die beispielsweise den Bereich des sozialen Alltagshandelns und der darin eingebetteten symbolischen Expressionen zum Thema machen kann. Dieser Befund stimmt, unterschlägt aber, dass Adorno und Horkheimer Kultur im

Die Macht der Kulturindustrie im Spätkapitalismus

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Ästhetischen verankern. Erst die durch Konsum und Medien herbeigeführten kulturellen Veränderungen in den 1960er und 1970er-Jahren erforderten komplexere und elaboriertere Kulturtheorien, um sie verstehen zu können. Horkheimer und Adorno hatten schlicht ein bescheideneres Ziel, wie Jameson (1991, S. 182) lapidar festhält: „(. . .) die Theorie einer Industrie, eines Zweiges der miteinander verquickten Monopole des Spätkapitalismus, der Geld aus dem schlägt, was für gewöhnlich Kultur genannt wurde“. Sie untersuchen die Kommerzialisierung des Alltagslebens. Als sie unter dem Eindruck des Faschismus die „Dialektik der Aufklärung verfassten, war die Kulturalisierung des Sozialen, die in der Nachkriegszeit deutlich an Fahrt gewann, noch nicht klar zu erkennen. Horkheimer und Adorno betreiben Ideologiekritik im Kontext der Moderne (Jameson 1991, S. 182), kritisieren die Formen der Verdinglichung und Selbstverkennung, mit dem Ziel zur Emanzipation beizutragen (vgl. Demirovic 1999).

3

Hegemonie und der Kampf um das Populare. Der Ansatz der Cultural Studies

3.1

Antonio Gramsci und die Herausbildung der Cultural Studies in Großbritannien

Auch die Cultural Studies, die in den 1960er-Jahren in Großbritannien entstanden und heute ein weltweites Projekt sind, hatten von Anfang an das Ziel, Herrschaft kritisch zu analysieren und Emanzipation zu verwirklichen. Das Werk von Adorno und Horkheimer war in der englischsprachigen Welt damals kaum bekannt und übte keinen Einfluss bei der Herausbildung ihres Ansatzes am Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham aus. Wegweisend waren die Arbeiten von Antonio Gramsci, vor allem seine „Gefängnishefte“ (1991 ff.), in denen er die historische Konstellation im Italien der Zwischenkriegszeit beschreibt und analysiert, wie verschiedene Kräfte sie gestalten. Allerdings lehnen Hall und seine Mitstreiter eine einfache Übertragung oder Generalisierung von Gramscis Ergebnissen entschieden ab. Dieser habe jedoch Fragen gestellt und nach Antworten in einer historischen Situation gesucht, die mit der von Großbritannien Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts durchaus vergleichbar sei. Es ist vor allem die Frage, wie durch eine Transformation des Popularen, des kulturellen Feldes, auf dem die verschiedenen Ideologien einer Epoche zusammentreffen, eine neue (politische) Kultur geschaffen werden kann. So stellt Stuart Hall (2000, S. 40) rückblickend fest: „Von einem bestimmten Moment an waren die Fragen, denen ich mich zuwenden wollte, für mich nur noch über einen Umweg über Gramsci zugänglich. Nicht, weil Gramsci sie löste, sondern weil er sich zumindest einigen von ihnen zuwandte. Ich möchte jetzt nicht alles behandeln, was Cultural Studies im britischen Kontext zu einer bestimmten Zeit meiner Ansicht nach von Gramsci gelernt haben: unglaublich viel über die Natur von Kultur selbst, über die Ordnungen der jeweiligen Konjunktur, über die Bedeutung geschichtlicher Spezifik, über die enorm produktive Metapher der Hegemonie“.

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Nach Gramsci beruht Herrschaft nicht nur auf Zwang, sondern auch auf Konsens. Hegemonie ist eine Beziehung, in der eine gesellschaftliche Gruppe die Führung übernommen hat. Hierzu muss sie ihre von Eigeninteressen geprägte, partikulare Position transzendieren und Interessen formulieren, die verallgemeinerungsfähig sind. In diesem Prozess nimmt sie Interessen der subalternen Gruppen in sich auf, und diese definieren ihre Interessen und Bedürfnisse neu, so dass sie sich in dem hegemonialen Projekt wiedererkennen und auch Vorteile von ihm erwarten. So wird verständlich, warum die sich in einer subalternen Position Befindlichen ihrer Unterwerfung aktiv zustimmen können.

3.2

Zivilgesellschaft, Medien und Hegemonie

Der Kampf um die Hegemonie findet in der Zivilgesellschaft statt, die zum Überbau zu zählen und zwischen Ökonomie und Staat anzusiedeln ist. Zu ihr gehören z. B. politische Organisationen, Verbände der Wirtschaft, die Kirche, die Familie, das Schulsystem, die Universität und die Medien. Der Begriff der Kulturindustrie wird von Hall nicht verwendet. Ein zentrales Thema seiner Arbeiten ist aber die Herstellung von Hegemonie mit und durch die Medien. Sein leitendes Interesse ist durchgehend, wie eine bestehende Hegemonie in Frage gestellt werden und eine neue errichtet werden kann, die die Voraussetzung für eine demokratisch und sozialistisch orientierte Gesellschaft sein kann. In seinem theoretisch zentralen Beitrag „Die zwei Paradigmen der Cultural Studies“ (1999) legt Hall dar, wie Gramscis Arbeiten genutzt werden können, um die Schwächen von Kulturalismus und Strukturalismus aufzuzeigen und die beiden Paradigmen produktiv aufeinander zu beziehen. Die „Gefängnishefte“ zeichnen sich durch historische Konkretheit und Kontextualität aus. So werden soziale und kulturelle Kämpfe in ihrer sozialen und historischen Verankerung untersucht, was den abstrakten Formalismus und die Ahistorizität des Strukturalismus bei Claude LéviStrauss oder Louis Althusser vermeiden lässt. Der Kulturkampf findet nicht nur in Institutionen, Medien und Diskursen statt, sondern auch im gewöhnlichen Leben, in seinen Ritualen, Gewohnheiten und Praktiken. Daher knüpft die Untersuchung von Hegemonie als einer aktiven ideologischen Auseinandersetzung an die Konzeption der Handlungsfähigkeit im Kulturalismus an, ohne wie dieser postulieren zu müssen, das Individuum sei fast gänzlich frei von strukturellen Zwängen. Durch die Rezeption von Gramsci gelang es dem Centre vor allem, sich gegen die funktionalistischen Tendenzen in der Theorie Althussers, die eine Zeit lang in Großbritannien große Bedeutung hatte, abzugrenzen. So wurde kritisiert (vgl. Hall 1999), dass Althusser Ideologien als relativ homogen und primär als funktionale Unterstützung für Herrschaftsverhältnisse analysiert, zu deren Reproduktion sie beitragen. Hingegen erlaubt es das Konzept der Hegemonie, Widersprüche und Konflikte im Bereich des Ideologischen zu erfassen. Demnach wird Ideologie nicht von oben auferlegt, sondern ist umkämpft und umstritten. Dominante und subalterne Gruppen stehen im Disput miteinander, was zu vielfältigen und komplexen Aushandlungsprozessen führt.

Die Macht der Kulturindustrie im Spätkapitalismus

3.3

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Exemplarische Analysen

Sowohl die Jugend – als auch die Medienstudien, die das Centre über die Landesgrenzen hinweg bekannt gemacht haben, sind sehr stark durch Gramsci bestimmt. So lassen sich z. B. die Arbeiten zu den jugendlichen Subkulturen als Versuch begreifen, deren Spezifität und Problematik als symbolische Antwort auf den besonderen historischen Kontext des Nachkriegsenglands zu bestimmen. Die Mitarbeiter des CCCS konnten zeigen, wie Jugendliche sich dem durch die Kulturindustrie mitgeschaffenen hegemonialen Konsens verweigerten und sich durch ihre Rituale, Praktiken und ihr Gruppenleben auf unterschiedliche Weise Raum verschafften (vgl. Clarke et al. 1979). Ihre subkulturellen Strategien, die in eigenen Jugendstilen mündeten, waren Ausdruck ihres gegenhegemonialen Eigensinns und ihrer kreativen Handlungsmächtigkeit (vgl. Winter 2001). In „Policing the Crisis“ (Hall et al. 1978) wird die medial erzeugte moralische Panik angesichts des Phänomens des jugendlichen Strassenraubes zum Ausgangspunkt für eine differenzierte Analyse des Alltagsverstandes und seiner Veränderungen. Es wird herausgearbeitet, dass die damit verbunden Ängste und Befürchtungen Ausdruck einer sozialen und ökonomischen Krise waren, auf die mit einer durch die Kulturindustrie popularisierten „law and order“-Politik reagiert wurde. Ergänzend legt Hall (1974/1993) dar, dass mediale Texte der Kulturindustrie wie z. B. Westernfilme oder Nachrichtensendungen in der Regel so organisiert sind, dass sie den Zuschauern eine Vorzugslesart nahelegen, die mit den herrschenden kulturellen Vorstellungen, der Hegemonie, übereinstimmt. Nichtsdestotrotz können die Zuschauer, je nachdem, wie sie sozial und kulturell positioniert sind, die Texte anders interpretieren, als es von den Machern vorgesehen war. Dies beruht auch darauf, dass mediale Texte immer auch andere Bedeutungen enthalten und polysem strukturiert sind. So können dominante Bedeutungen in Frage gestellt und transformiert werden. Auf diese Weise entstehen zum einen ausgehandelte, zum anderen oppositionelle Lesarten. Auch in der Medienrezeption und -aneignung spielt sich also ein Kampf um Bedeutungen und somit um die Definition der Wirklichkeit ab (vgl. Winter 2001). Gramscis Konzept der Hegemonie bestimmt auch die Arbeiten zur Popularkultur, auf deren kulturellen Terrain um Hegemonie gekämpft wird. Hall (1981) zeigt, dass das Populare nicht durch gleichbleibende intrinsische Bedeutungen, Qualitäten und Werte wichtiger Werke bestimmt wird. Stattdessen gewinnt es seine spezifische Bedeutung durch die jeweils besonderen historischen Umstände hegemonialer Kämpfe in der Zivilgesellschaft. Es konstituiert einen alltäglichen Raum voller Gegensätze, Ambivalenzen und Spannungen, in dem die Bemühungen des „ruling bloc“, die ideologische Herrschaft aufrecht zu halten, unterlaufen und subvertiert werden können. Auf Akte der Rebellion und des Widerstands wird aber mit kulturindustriellen Strategien der ideologischen und kommerziellen Inkorporation reagiert, was Dick Hebdige (1979) eindrucksvoll am Beispiel der Punk-Subkultur gezeigt hat. In seiner Nachzeichnung der historischen Entwicklung der Popularkultur legt Hall dar, dass sie immer in einem konfliktbeladenen und kämpferischen Verhältnis zur dominanten Kultur stand.

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Auch John Fiske schließt in seiner Analytik des Popularen eng an Grasmsci an. So betont er z. B., dass die Analyse hegemonialer Kämpfe es erforderlich macht, die Bedeutung popularer Handlungsfähigkeit zu beachten sowie soziale und historische Differenzen zu berücksichtigen (Fiske 1993, S. 41). Er zeigt an kulturellen und medialen Auseinandersetzungen in den USA der 90er-Jahre, wie vielfältig, kreativ und widerständig subordinierte Formationen sein können. In den Kämpfen mit dem „power bloc“ verfolgen sie in räumlich-zeitlich bestimmten sozialen Kontexten, Momenten und Praktiken ihre Interessen auf eigensinnige Weise. Stuart Halls vehemente und unablässige Analyse der neoliberalen Politik von Margaret Thatcher (Hall 1988), deren Fortsetzung bei Blair und auch in der heutigen Regierung er ebenfalls kritisiert hat (Hall 2011), ist ebenfalls eine Hegemonieanalyse. Der „autoritäre Populismus“ von Thatcher war ein Projekt, das nach Hegemonie strebte, dieses nicht nur durch Konsens, sondern auch durch Zwang verwirklichen wollte. Es gelang ihm mit Hilfe der Kulturindustrie tatsächlich, die kulturelle und soziale Wirklichkeit neu zu definieren, sich mit den Erfahrungen der Menschen zu verknüpfen und sie zu artikulieren. So wurde ein neuer Alltagsverstand geschaffen. Besonders in der „New Times-Debatte“ forderte Hall (1996), dass auch die Linke neue populare demokratische Projekte entwickeln müsse, die hegemonial werden können und sollen. Die Auseinandersetzung und Aneignung der Positionen von Gramsci sind zentral für die Cultural Studies, die Kultur- und Medienanalyse mit Gesellschaftskritik und Intervention verknüpfen.

4

Schlussbetrachtung

Der Begriff der Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer ist bis heute grundlegend, um verstehen zu können, wie Herrschaft im Spätkapitalismus organisiert ist und aufrechterhalten wird. Die Möglichkeiten einer Transformation dieser Herrschaft und den Übergang zu einer nicht kapitalistischen Gesellschaft schätzen sie sehr pessimistisch ein. In der „Dialektik der Aufklärung“ zeigen sie, dass die Kulturindustrie in den Prozess der westlichen Rationalisierung eingebunden ist, der bereits mit der Trennung von Subjekt und Objekt bzw. mit der von Begriff und Objekt beginnt. Im kulturellen Bereich führt er zu Standardisierung und Kommodifizierung. Nur die authentische Kunst des Modernismus kann der Logik der Massenkultur durch Distanzierung Widerstand leisten, bleibt aber dennoch wie die Kulturindustrie in die Dialektik der Aufklärung eingebunden (vgl. Hohendahl 1995, S. 137). Hall und die Cultural Studies knüpfen an Gramsci an, der kein Berufsphilosoph war, sondern ein politischer Aktivist. Ihre zentrale Fragestellung ist, wie eine subalterne Klasse die Macht übernehmen und zur führenden Klasse werden kann. Deshalb wird die Massenkultur nicht nur als ein Bereich betrachtet, in dem Herrschaft durch Ideologien ausgeübt wird, sondern, in dem diese auch in Frage gestellt und ihr opponiert werden kann. In der Lesart der Cultural Studies kann die Kulturindustrie kein monolithisch geschlossenes System der Kontrolle errichten. Es gibt

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immer Widersprüche, Ambivalenzen und Polysemie. So spielt sich ein unaufhörlicher Kampf von Bedeutungen ab. Auch Adorno hat mit seiner eigenen Praxis als nonkonformistischer Intellektueller, wie Alex Demirovic (1999) gezeigt hat, eine Wahrheitspolitik betrieben, die in der bundesrepublikanischen Zivilgesellschaft eine beträchtliche Wirkung entfaltet hat. Anders als Hall ging er aber nicht davon aus, dass seine Politik einen konkreten Adressaten hat. Deshalb hatte er keine optimistischen oder populistischen Erwartungen. Dennoch ist der Ansatz der Cultural Studies der Theorie der Kulturindustrie näher, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Beide stehen in der Tradition des westlichen Marxismus, die Herrschaftskritik mit der Hoffnung auf Befreiung verbindet.

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The Culture Industry and its Critics: The English Way Oded Heilbronner

Abstract

The article suggests a close reading of an opposition towards the concept and theory of capitalist culture and culture industry. That opposition rose during the 1970s in the UK among left intellectuals and social critics. They were deeply affected to a large extent by European – Marxist intellectuals such as Althusser and Gramsci, and Englishmen from the New Left group such as E. P. Thompson and Raymond Williams. The group centered at the University of Birmingham established and was operated in The Centre for Contemporary Cultural Studies. The group reevaluated the term “culture” as a central component of the Gramscian term “cultural hegemony”. Highly influenced by the political and social atmosphere in 1970s’ Britain, they learned the processes in which hegemony tries to impose various ways of life (i.e. culture) on the subalterns, but at the same time they display flexibility to let them live in accordance with their ways of life, and even show tolerance towards opposition, protest, cultural subversion and demonstrations of independence by lower classes, as long as they do not imperil their control of means of production. Keywords

Culture industry · England · 1970s · Gramsci · Birmingham school · The centre for contemporary cultural studies · Left-intellectuals Relationship between the culture industrialists or members of the hegemonic class – and their clients, has been criticized profoundly for several decades. Neo-Marxist scholars have focused on the aggressive mechanisms used by owners of mass media O. Heilbronner (*) Shenkar College, Ramat Gan, Israel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_60

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in order to publish their ideology among the passive public. These media producers usually express male, white, rich and heterosexual hegemony, associated with the Culture Industry. According to the Frankfurt School, (Adorno, T. W. and Horkheimer, M.), the culture industrialists’ interest is to distribute their products to as wide a public as possible, in order to maximize their profits. To achieve this goal, they must address the lowest common denominator and to adhere to the most simplistic and vulgar formulas. Any appearance of spontaneity, of originality or of innovation that deviates from the central stream, faces immediate economic resistance. Any attempt to deviate from the accepted processes of marking and tagging encounters financing, marketing, and distribution hurdles. This is a sphere of business, not of spiritual elevation; it is an environment of industrialization, not of inspiration; a place of consumption, not of art. Adorno and Horkheimer suggest that the production mechanisms flood the culture consumer with infinite variations of the same content that complies with the standard set by the industry itself, or the hegemonic forces. Moreover, as Adorno and Horkheimer say: “ . . .. In addition there is the agreement – or at least the determination – of all executive authorities not to produce or sanction anything that in any way differs from their own rules, their own ideas about consumers, or above all themselves. (Adorno and Horkheimer 1979, p. 78), and they add that the democratic pluralism is revealed as a disguise of certain interests of the hegemonic class who succeeds in forcing a consensus produced in accordance with its needs. Actually, the opinion of Adorno and Horkheimer agree with that of Walter Benjamin, that the popular culture is used as a tool mainly by capitalists for subjugation of the mind of the masses. Benjamin does not deny that films, might in several cases encourage and promote revolutionary criticism of the state of the society, and even of property arrangements, but, argues Benjamin, it is not the focus of the Western European film industry, which is interested in profit while subjugating the masses (Benjamin 2008). Real opposition towards the concept and theory of the capitalist culture rose during the seventies and among other things was expressed in the critique of Louis Althusser (1971; EisenbergEisenberg and Gestrich 2012) on “The Ideological State Apparatuses”. In this expression he intends to define several realities that present themselves to the direct observer in the form of specific and designated institutions. Among these systems we can find the educational system, the legal system, the political system, workers unions, culture institutions, and of course, the media. Althusser suggests that these ideological apparatuses operate massively, first and foremost by means of ideology. In addition, they also function through oppression, even though it is apparently hidden in the symbolic layer. Althusser, to a large extent, follows on the theory of Antonio Gramsci. Althusser suggests that the imposition of the consensus on various parts of the society is performed by means of annexation mechanisms that incorporate the opponents into the economic – social system they oppose. Gramsci suggests that the hegemony is composed of the combination of lingual power and consensus that maintain mutual equilibrium. He identifies the cultural – ethical hegemony with the civil society and

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argues that the state is the one that contains both state apparatuses (control and coercion) as well as the apparatuses of the private, hegemonic civil society that produces the consensus (Gramsci 1991). Another source of critique is Great Britain and scholars of the Birmingham School that influenced greatly the study of popular culture and media, and that were affected to a large extent by European – Marxist intellectuals such as Althusser and Gramsci, and Englishmen from the New Left group such as E. P. Thompson and Raymond Williams. Birmingham School members who operated in The Centre for Contemporary Cultural Studies, including center principles such as Richard Hoggart and mainly Stuart Hall, perceive the term “culture” as a central component of the Gramscian term “cultural hegemony”. This hegemony is a perpetual process of discourse and negotiations among various social groups that comprise both the subjects as well as the rulers. In this process the rulers tries to impose various ways of life (i.e. culture) on the subjects, but at the same time they display flexibility to let them live in accordance with their ways of life, and even show tolerance towards opposition, protest, cultural subversion and demonstrations of independence by lower classes, as long as they do not imperil their control of means of production. Under the influence of Gramsci, the Birmingham School suggested that in capitalist regimes, the dominant patterns of opposition and protest are expressing themselves through a representative set of imaging from the area of life styles: language, fashion, music, way of speaking and body language. In this way the individual can – even in a society where the bourgeois – capitalist levels maintain their dominance through their control of the means of production, of punishment and enforcement – to challenge the oppressive system with the help of the “style culture”. On its part, the dominant class, is ready to meet this challenge while negotiating with these protest cultures and listening to them, because after all, these stylistic – protesting components are neutralized by the hegemonic classes by means of absorbing them into the capitalist economic system. Perception of the Birmingham School was based to a considerable degree on the Neo – Marxist thinking of the Frankfurt School, which identified the unification, neutralization, and consensus establishing and conservation mechanisms of the culture industrialists. Unlike the thinkers of this school, Birmingham School scholars aspired to challenge the “Culture Industrialists”. The Center did it with the help of the consumers, the subaltern, the lower classes and the young. The Center performed it while analyzing attributes of the popular culture in Britain of the post Second World War period and through series of publications that dealt with the role of the media, cultures of ethnic groups, gender identity, urban culture and popular music. As mentioned, the Center’s scholars followed mainly the Marxist or Gramscian orientation, led by Stuart Hall, perceived the term “culture” in different way than it was accepted until that time in Britain or in the West. For them, “culture” was not haute culture, art and exemplary works or “Culture [. . .] is a study of perfection” – definitions that were accepted by British culture scholars such as Matthew Arnold in the nineteenth century (Arnold 1869, p. 7) the Bloomsbury Set at the beginning of the twentieth century, or F. R. Leavis in the fourth decade of the twentieth century. Under the influence of thinkers from the English New Left mentioned above, as well

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as the culture revolution generated by the working classes in Britain in the fifties, the Center’s scholars perceived the term “culture” as way of life, as all the relations between various mediators to daily life of the people (including lower classes). Scholars of the Birmingham Center who adopted the agenda of the New Left culture scholars who imbibed their work method and their theoretical motivation outside of the academy (Hoggart, Thompson, and Williams taught in adult education institutions and extra university teaching frameworks, whose basic philosophy was equal opportunity to all). Under the influence of the welfare state of the Labor and Conservative governments after the war, “culture” was perceived as a product for all social classes, and it even can be produced, not only consumed, by the lower classes. The Center’s scholars focused on ways of life (cultures) of young people that flourished after the Second World War in Britain. They suggested that the attitude towards these cultures (named “sub cultures”) is an example of the way the Gramscian “cultural hegemony” works under the conditions of the British capitalist system. Members of these “sub cultures” were young people in their teens most of the scholars suggest that young women were negligible minority in these sub cultures) who refused to spend their free time according to the code of conduct of the hegemonic culture of their parents culture. Unlike the research of “sub culture” developed in the United States by sociologists and anthropologists associated with the “Chicago School” whose goal was to understand the characteristics of the American juvenile delinquency and of the street gangs in an urban environment, and unlike the Frankfurt School and its cultural industry theory presented above that studied the “culture of masses” top down and which combined study methods from the areas of the Marxist thinking, philosophy, psychoanalysis and sociology in order to understand the material world of mass culture consumers – the Birmingham Center looked at the expression patterns of young people from the working class and of non-white immigrants that appeared in the British urban centers, and which changed their look and were expanded considerably after the war. Emergence of these centers, suggested the Center’s scholars, “signified the breaking of the consensus that emerged after the war” (Nathaus 2015, p. 42). Following French Semiotics scholars and anthropologists such as Roland Barth and Claude Levy – Strauss, the Center’s scholars focused on “style”. The style was perceived as form of refusal and as the most conspicuous characteristic of the British youth “sub culture”. The Center’s scholars noticed a set of symbols and their meaning that were created by the English “sub cultures”, as well as rituals and their tangled set of associations that comprise system of meaning with cultural value. They argued, that unlike the American youth, the British working class youth expressed their resistance to their parents’ culture not through violence, but rather through unique style – fashion, clothing, hair style, and ways of spending their pastime. The Center’s scholars were first to focus attention to the symbolic value of “style”, to the meaning hidden in it and to its contribution to the “sub cultures” of the twentieth century. They suggested, following writings of Roland Barth, that different cultural – design styles are more than just fashion, new musical tempo, way of

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walking and moving; for them it was a new cultural signifier that has to be taken into account when mapping the post war society. The new youth culture especially that of Britain, was authentic, autonomous and with specific English attributes, i.e. with class characteristic with central hegemonic – subaltern forces relations. Phil Cohen, one of the Center’s scholars, argued, and rightly so, that the middle class cannot create “sub cultures” since these are generated by the subaltern culture, not by the hegemonic one. The “sub cultures” of lower class youth became a cultural ritual, style and ceremonies whose purpose is to mark its members, both internally (to imbue a feeling of pride and belonging), as well as externally, (the style, fashion and symbols outline the boundaries of the sub culture to the hegemonic culture). The Center’s scholars made a significant contribution to the critique of “cultural industry”, when they suggested that this “stylistic” protest (as expressed, for example, by music and the Punk fashion) was not perceived as a threat to the hegemonic class since they learned how to adopt material elements of the protest culture (from the areas of music and fashion), to turn them into consumer products and to encourage people to acquire them (Jefferson 2015). This way the subversion was stripped of any threatening element and served the capitalistic system. Therefore, the culture industrialists has central role in the culture industry, but this role was defined not by their ability to address the lowest common denominator and to adhere to the most vulgar and simplistic formulas in order to maintain control, rather through their ability to digest and integrate elements of the subjects culture thus neutralize their protest. Stuart Hall and Tony Jefferson (of the main pillars of the Center) called this “sub culture” of the English urban lower class youth of the fifties through seventies of the twentieth century “resistance through rituals”. Together with other scholars such as Paul Willis, John Clark, Bill Osgerby, Lawrence Grossberg, Ian Chambers, Phil Cohen, Stanley Cohen, Angela McRobbie, Jeff Pearson, Jeff Mungham and one of the prominent scholars of the Center – Dick Hebdige, they described the spectacular visual style of the sub culture. They studied the world of working class youth in the era of flourishing and economic prosperity in the fifties and sixties, and in the era of economic crisis and social uncertainty in the seventies and beginning of the eighties. Moreover, they dealt a great deal with relationship woven between working class youth and youth of the black community of immigrants from the Caribbean Islands and the mutual influence of both groups on their lifestyles. The Birmingham Center’s scholars blossomed during the seventies and beginning of the eighties. Frequent crises in Britain and flourishing of the “sub cultures” constituted fertile ground for activity of the Center. With the rise to power of Margaret Thatcher and the slow elimination of the welfare state and the unions, as well as deepening of privatization processes in the British society, the focus of studies of the Birmingham Center has changed. Following change of generations in the Center and influence of post structuralism theories on the young scholars, the “sub culture” theory of the founding fathers received crossfire critique, especially due to the deterministic nature of their work method, ignoring of the role of women in the “sub cultures” and the emphasis of the class nature of the sub natures.

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With the exception of the gender aspect that lies in the heart of the critique on Birmingham Center’s papers, the post sub culturalist theory critique tries mainly to suggest that in the last decades it is difficult to find a coherent and dominant culture against which the sub cultures protested, therefore one should notice the fragility and inconsistency of the phenomenon. The post sub cultures critique tries to over stress visual – global factors based on the market and advertisement culture when analyzing phenomena of youth cultures. As opposed to Hebdige and assertions of the Birmingham Center Scholars, members of the “sub cultures” express protest against visual phenomena such as fashion or hairstyle, which are products of the advertising and consuming mechanism that impose itself on them – they adopt characteristics of this market as regular consumer and not out of some desire of freedom or protest. The critique (Bennett 1999; Bennett and Kahn-Harris 2003; McRobbie 1991) tries to minimize the value of local authentic phenomena originated in social – class factors, as Hall and friends are trying to do. In addition, the traditional “sub culture” theory from the school of Hall and company, tries to describe linear development of the phenomenon from the fifties to the end of the seventies, with “punk” culture as its peak. Their critics argue that there is no such linear development. They describe phenomena where youth cultures rise, fall and are revived during the same period. Others (Bennett 1999; Gelder and Thornton 1997) even say that taking part in the “sub culture” in the visual style’ is not total, i.e. young people dedicate only part of their time to rituals and sub culture fashion. Finally, many of the Birmingham School critics describe “sub cultures” that include opposing and contradictory elements that do not always express protest against dominant culturalism, sometimes they even cooperate with them, for example the use of the Internet culture in structuring of a virtual youth culture. In the first wave of publications of the Birmingham Center’s scholars, we could feel their fierce criticism of the “Culture Industry” ideology from the school of Adorno and Horkheimer and their heirs. In the mid – seventies the Center’s scholars stressed the protesting nature of the “sub culture” against the capitalist system, culture of the parents and against the establishment’s use of “style” and fashion (Hebdige with his book “Punk: The Meaning of Style” was among the most conspicuous in this wave). It seems that the “Culture Industry” ideology matched better the Central European Marxist or the Jewish – American thinking and less that of the English left and socialism, who due to its geographic location, tradition of cooperation between the classes (the English Ideology), and as Robert Colls pointed out, the hegemonic approach of the English ruling block since the seventeenth century, never took seriously the “Culture Industry” approach. The second wave of publications of the Birmingham Center’s scholars criticized the first wave’s approach and references to the “Culture Industry” were marginal, if at all. The response of the hegemonic – consumer system towards the “sub cultures” of white working class youth was emphasized. Scholars such as Phil Cohen, Angela McRobbie as well as later studies of Hebdige indicated the importance of the consumer culture and of consumer products among the “sub cultures”. Hebdige (in his later studies) shows how punk culture, which started as an Avant-garde culture and as a protest against “parents culture”, very quickly absorbed consumer products that were produced by the hegemonic culture, thus neutralizing the protest.

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Abandonment of the “Culture Industry” tradition in recent decades characterizes studies of capitalistic hegemony at its relations with its customers. Late papers of Stuart Hall, the dominant figure of the Birmingham Center and of the important secondary cultures scholar Andy Benett, point out the centrality of young people – the colorful consumers in the British consumer culture and in the creation of consumer sub culture. In the nineties Hall started to study the contribution of the modern, capitalist and neo – liberal media to mass control, mainly through creation of fear atmosphere (Moral Panic) against deviation trends among youngsters of the lower class and black immigrants. In addition, in the field of post – colonialism Hall initiated series of studies that dealt with the colonialist culture in Britain in the second half of the twentieth century, long time after the demise of the empire and its relationship with the capitalist hegemony. Benett studies the tribal element of the young Brits’ sub cultures and the way this element unifies, preserves and strengthens their resistance toward the Parent Culture. It looks like the “Culture Industry” ideology and its successors (for the time being) have disappeared from Britain, which until the twentieth century was “The Capitalist Workshop of the World”.

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Vereinnahmung und Widerständigkeit: Anmerkungen zu den Kritischen Theorien von Kultur(industrie) Christine Resch

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden die verschiedenen Positionen und Debatten der Älteren Kritischen Theorie (namentlich die von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse) nachgezeichnet und diskutiert. Dabei wird nach den Möglichkeiten gefragt, wie Kulturindustrie-Theorie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen für die Analyse der gegenwärtig herrschenden Bedingungen aktualisiert werden kann. Bei allen, zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen, die die Protagonisten der Kritischen Theorie um eine adäquate Theorie von Kultur(industrie) ausgefochten haben, bleibt die gemeinsame Klammer das Bestehen auf einer ideologiekritischen Deutung von Kultur im Rahmen einer Produktionsweise. „Aufklärung als Massenbetrug“ ist für die verschiedenen Varianten der kapitalistischen Produktionsweise eine Formel, die passend geblieben ist. Schlüsselwörter

Kultur · (Erweiterte) Kulturindustrie · Gesellschaftsbiografie · Kulturindustrietheorie von Politik · Kritische Theorie und Cultural Studies · Befreiung und Anpassung · Ideologiekritik

C. Resch (*) Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_62

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Einleitung

„Kulturindustrie“ ist ein Begriff, den, das legen jedenfalls Anmerkungen in einem Typoskript nahe, Max Horkheimer erfunden,1 dessen inhaltliche Analyse aber Theodor W. Adorno geprägt hat. Das Adorno zugeschriebene Kap. ▶ „Kulturindustrie“ aus der gemeinsam mit Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung (Horkheimer und Adorno 1944/47) ist nur das bekannteste Beispiel dafür. In Adornos Denken existiert, wenn schon nicht der Begriff, so doch die Sache sehr viel länger. Seine Analysen von Kulturindustrie beginnen in den 1920ern, umfassen die Jazz- und Wagner-Interpretationen, die in den 1930ern verfasst wurden, setzen sich in den USA fort, nicht nur, aber auch nicht zuletzt im Kapitel der Dialektik der Aufklärung, und werden bis zu seinem Tod von ihm reflektiert und durch weitere Beispiele ergänzt (wenn auch theoretisch kaum noch weiterentwickelt). Es mag angesichts der Bedeutung, die Adorno bei diesem Thema einzuräumen ist, ungewöhnlich erscheinen, einen Beitrag zur Theorie von Kulturindustrie für ein Handbuch mit Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse und Max Horkheimer zu bestreiten.2 Dass ich genau das tun werde, hat damit zu tun, dass die Überlegungen von Kracauer, Löwenthal und Marcuse in der deutschsprachigen Rezeption nur nachgeordneten Status haben. Die verschiedenen Positionen und Debatten der Protagonisten der Älteren Kritischen Theorie nachzuzeichnen und zu diskutieren, scheint mir geeignet, nach den Möglichkeiten zu fragen, wie Kulturindustrie-Theorie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen für die Analyse der gegenwärtig herrschenden Bedingungen aktualisiert werden kann. Adornos Theorie, um auch das noch einleitend zu erwähnen, durchzieht gleichwohl als unhintergehbare Referenz den gesamten Artikel. Dieser Artikel gliedert sich in sechs (genau genommen fünfeinhalb) Abschnitte, in denen ich wichtige Positionen der Kritischen Theorie zu Kultur(industrie) nach1

Es handelt sich um die Anmerkungen Horkheimers in einer frühen Version des KulturindustrieKapitels der Dialektik der Aufklärung. Schon in Horkheimers „Neue Kunst und Massenkultur“ (Horkheimer 1941, S. 435) kommt (in der deutschen Übersetzung) der Begriff „Kulturindustrie“ vor. Dieser Aufsatz gehört zu den Arbeiten Horkheimers, in denen einzelne Motive schon vorkommen, die dann im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung ausgearbeitet worden sind. 2 Walter Benjamin, insbesondere der Aufsatz „Über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Benjamin 1936) hätte in diesem Zusammenhang eine kritische Würdigung verdient. Er wird häufig so gelesen, als würde Benjamin den Verlust der Aura beklagen, während, so meine Interpretation, er mit „technischer Reproduzierbarkeit“ die Chancen einer distanzierten, kritischen Rezeption, Potentiale einer politisierten Kunstrezeption, aber auch Gefahren einer Ästhetisierung von Politik (durch die Nazis) auslotet. Dabei verkennt er, dass die technische Reproduzierbarkeit, dass Kulturindustrie „Aura“ nicht abschafft, sondern zum allgegenwärtigen Phänomen macht. Vgl. dazu genauer Resch (2000). Dass „l’art pour l’art“ kulturindustriell vereinnahmt ist, daran lässt er an anderer Stelle keinen Zweifel: „Dieser Parole entspringt die Konzeption des Gesamtkunstwerks, das versucht, die Kunst gegen die Entwicklung der Technik abzudichten. Die Weihe, mit der es sich zelebriert, ist das Pendant der Zerstreuung, die die Ware verklärt. Beide abstrahieren vom gesellschaftlichen Dasein des Menschen. Baudelaire unterliegt der Betörung Wagners.“ (Benjamin 1935, S. 181)

Vereinnahmung und Widerständigkeit: Anmerkungen zu den Kritischen. . .

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zeichnen und reflektieren werde. (1) Zuallererst werden die wichtigsten Bestimmungsstücke von Adornos Theorie in einer kurzen Replik skizziert. (2) Insbesondere Kracauers sozialhistorische Interpretationen bieten Dimensionen des Nachdenkens an, die Adornos stärker begrifflich und theoretisch akzentuierte Theorie erweitern. Am Beispiel des Konfliktes zwischen Adorno und Kracauer anlässlich der Untersuchung von Kracauer über Jacques Offenbach wird das bearbeitet. (3) Im nächsten Abschnitt steht kulturindustrielle Politik im Zentrum. Horkheimer und in Folge Habermas erschließen diesen Gegenstandsbereich, der von Adorno kaum bearbeitet wurde. (4) Die inhaltsanalytischen und programmatischen Aufsätze von Leo Löwenthal, die im nächsten Unterkapital diskutiert werden, haben sich insbesondere durch die Verbindung mit den Cultural Studies als interessante Alternative einer Erforschung von Kulturindustrie erwiesen. (5) An einigen ausgewählten und sich auf den ersten Blick widersprechenden Aufsätzen von Marcuse soll dann vorgeführt werden, dass und wie (in der Linken dominierende) Kunstbegriffe von ihm ideologiekritisch interpretiert und soziale Bewegungen auf Reflexionsdefizite hingewiesen werden. (6) Schließlich wird unter dem Stichwort „erweiterte Kulturindustrie“ bilanziert, dass gerade aus der Vielfalt der Theorien, die als Kritische Theorie zusammengefasst werden, das begriffliche und theoretische Instrumentarium für die Analyse der gegenwärtigen Kulturindustrie gewonnen werden kann. Bei einem so umfassenden Gegenstand bleiben es, der Titel ist nicht kokett gemeint, notwendig Anmerkungen. Bei allen, zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen, die die Protagonisten der Kritischen Theorie um eine adäquate Theorie von Kultur(industrie) ausgefochten haben, bleibt die gemeinsame Klammer das Bestehen auf einer ideologiekritischen Deutung von Kultur im Rahmen einer Produktionsweise. „Aufklärung als Massenbetrug“ ist für die verschiedenen Varianten der kapitalistischen Produktionsweise eine Formel, die passend geblieben ist.

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Eine ganz kurze Replik auf Theodor W. Adornos Theorie von Kulturindustrie

Für einen Handbuch-Artikel unüblich, setzt dieser Beitrag voraus, dass Adornos Theorie von Kulturindustrie bekannt ist. Adorno bildet das „Gravitationszentrum“ dieser Darstellung, seine Theorie wird aber nicht im Einzelnen nachvollzogen und interpretiert. Einige Bestimmungsstücke von Kulturindustrie in Adornos Denken sollen hier aber zumindest benannt werden, um sie für die Vergleiche mit den anderen Theoretikern zu vergegenwärtigen. Ich tue das, indem ich anhand eines früheren Aufsatzes (Resch und Steinert 2003a; vgl. auch Steinert 1998) einige „Merksätze“ wiederhole: Kulturindustrie ist nicht nur eine Medientheorie, sondern umfasst, was herkömmlich nicht unter dem Begriff „Medien“ subsumiert wird – das Kapitel beginnt mit Beispielen aus der Architektur. Kulturindustrie meint auch nicht, wie es dieser Tage häufig verwendet wird, das Management von Kultureinrichtungen oder die Herstellung von kulturellen Inhalten. Es geht um die öffentliche Produktion von Wissen

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unter Imperativen von Warenförmigkeit, nicht um die Produktionsform der Wissensökonomie. Kulturindustrie ist nicht der Gegensatz zu ewiger Kunst. Vielmehr beschreibt Adorno, wie sich Künstler gegen Kulturindustrie versuchen aufzubäumen und auch, dass sie sich bereitwillig anpassen. Besonders gegen Letzteres richtet sich seine Kritik. Kulturindustrie ist keine Beschimpfung der Massen als verblödet. Wenn jemand beschimpft wird, dann sind es die Intellektuellen, die sich schon bei der Produktion an den Kriterien orientieren, für die es (vermeintlich) einen Markt gibt. Es ist das Schielen nach Verkäuflichkeit statt der Entwicklung der (ästhetischen) Produktivkräfte, das Adorno als das Kulturindustrielle analysiert. Kritik der Kulturindustrie meint nicht, dass Unterhaltung abgelehnt wird. Adorno schätzt den „glücklichen Unsinn“, die konsequente Unterhaltung also, und die körperliche Kunst im Zirkus als das „Bessere“ an Kulturindustrie. Adorno kritisiert Kulturindustrie als schlechte Unterhaltung, die die Rezipienten um relevante Erfahrungen betrügt. Das Kernstück der Kritischen Theorie und somit auch der Theorie von Kulturindustrie ist Ideologiekritik. Ideologiekritik ist nicht einfach eine Analyse der impliziten (und zunehmend ohnehin explizit gemachten) Interessen. Vielmehr setzt ideologiekritisches Denken Herrschaftsanalyse voraus. Unter Bedingungen von Kulturindustrie, und das meint nicht zuletzt, dass die gebildete Schicht einen privilegierten Zugang zu diesen Produktionsmitteln hat und sie als Apparat nutzt, um ihre HegemonieAnsprüche durchzusetzen, kann von Ideologiekritik nur dann die Rede sein, wenn die gebildete Schicht selbstreflexiv ihre gesellschaftliche Position in die Kritik des Gegenstands einbezieht. Die relevanten Erfahrungen, die von Adorno begrifflich gefasst werden, bezieht er aus der fordistischen Phase von Kapitalismus: Massenproduktion und -konsum sind für diesen Kontext relevante Stichworte. Klassengesellschaft wurde zugunsten einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) oder einer „Verbürgerlichung des Proletariats“, wie es im angelsächsischen Kontext hieß, ad acta gelegt. Horkheimer und Adorno analysieren wie Massen hergestellt und zugleich Klassengesellschaft reproduziert werden. Die Studie von Kracauer, um auch das vorwegzunehmen, bezieht sich mit Jacques Offenbach auf eine frühere Variante von Kulturindustrie, die liberale Phase von Kapitalismus, in der Klassengesellschaft offensichtlich war.

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Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit – und der Konflikt mit Theodor W. Adorno über eine angemessene Analyse von Musik

Im Vorwort zu seinem Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit schreibt Kracauer: „Das heißt unter anderem, daß hier die rein musikalisch interessierten Leser zu kurz kommen werden. Sie seien gewarnt: wenn auch dieses Buch von der Operettenmusik Offenbachs nicht absieht, enthält es sich doch, seinem Vorhaben getreu, der innermusikalischen Analysen und Interpretationen.“ (Kracauer 1937a, S. 9)

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Sein Vorhaben besteht darin, eine „Gesellschaftsbiografie“ vorzulegen in dem Sinne, „daß es mit der Figur Offenbachs die der Gesellschaft erstehen läßt, die er bewegte und von der er bewegt wurde, und dabei einen besonderen Nachdruck auf die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und Offenbach legt“. (Kracauer 1937a, S. 9) Unter dem Fokus „Kulturindustrie“ soll hier nur kurz bilanziert werden, wie Kracauer die Arbeit bewerkstelligt. Er verortet Offenbachs Schaffen, wie der Untertitel schon sagt, im Paris seiner Zeit. Neben der Analyse der Stoffe, die Offenbach und, so könnte man hinzufügen, die Librettisten in den Operetten bearbeiten, legt Kracauer eine Sozialgeschichte vor. Er bezieht den (Miss-)Erfolg von Offenbach auf politische Entwicklungen und verortet ihn sozialstrukturell in den Konflikten zwischen Adel, Bürgertum, Bohème und (dem vom Bürgertum instrumentalisierten) Proletariat. Für den vorliegenden Kontext sind die vielen Facetten aufschlussreich, in denen er, ohne diesen Begriff zu verwenden, die Entstehung von Kulturindustrie beschreibt – lange vor dem Fordismus. Dazu gehört, dass sich Offenbach als Unternehmer betätigt, Konkurs inklusive. Dazu gehört der Starkult: um seine Person, aber auch um bestimmte Sängerinnen. Reklame (auch für die Künste) wurde allgegenwärtig. Dazu gehören auch Journalisten und wie sich das Gewerbe verändert, wenn findigen Herausgebern einfällt, dass sich Zeitungen über Anzeigen statt über den Verkaufspreis finanzieren lassen. Nicht zuletzt Börsenmagnaten nutzten die Presse, um ihre Tipps zu lancieren. Vieles erinnert an Glücksspiel. Die Attraktivität der Kurorte, das kann man in diesem Zusammenhang noch erwähnen, bezieht Kracauer in einer kleinen Notiz auf Casinos, die es in Kurbädern überall gab – Dostojewskijs Der Spieler sei in Erinnerung gerufen. Das Leben von Leuten, die schnell zu Geld gekommen waren und im Luxus schwelgten, glich, so Kracauer, einer Offenbachiade. Schilderungen von Konkurrenzen zwischen Salons und Theatern, aber auch etwa der zwischen Offenbach und Johann Strauß vervollständigen das Bild des „Kulturindustrie-Komplexes“. Kracauers Gesellschaftsbiografie kann mit Gewinn als Studie über kulturindustrielle Produktions- und Rezeptionsbedingungen gelesen werden. Offenbach wird als jemand geschildert, der diese Bedingungen in vielerlei Hinsicht geschickt zu nutzen weiß. Lässt er sich deshalb ganz simpel als Kulturindustrie-Arbeiter oder treffender als Kulturindustrie-Unternehmer kategorisieren? Sein Metier ist die Ironie und die Parodie. Er macht sich über (etablierte) Musik und seine Zuhörerschaft gleichermaßen lustig und führt die Konventionen vor, denen er zugleich folgt. Offenbach, so Kracauer, hält der französischen Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs den Spiegel vor und macht die Lebensweisen seiner Rezipienten und ihren Kulturkonsum damit einer Reflexion zugänglich. Das ist eine Form der ironischen Kritik.3

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Steinert (1992/2003) hat eine solche Kritik für den Jazz und im Unterschied zu Adornos Verständnis davon herausgearbeitet. Auch mit dem Surrealismus hat sich Adorno aus dem gleichen Grund schwer getan. Das ironische Spiel mit dem Publikum, das die Dadaisten und Surrealisten getrieben haben, passt nicht zu Adornos Kunstbegriff, der „öffentliche Einsamkeit“, also die NichtBeachtung bis Abwendung vom Publikum als Kriterium für Autonomie enthält. Jede Orientierung an den Rezipienten gilt ihm als Schielen nach Verkäuflichkeit zulasten der Wahrheit und eines anzustrebenden Fortschritts der ästhetischen Produktionsmittel.

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Adorno, der eine strenge Werkästhetik forciert und einen Begriff von Kunst verfolgt, dem zufolge sich die gesellschaftlichen Widersprüche im gelungenen Werk zeigen, das Kritische (und Angepasste) an der Kunst sich deshalb auch nur durch eine Analyse des Werks erschließen lasse, kann solches Spiel mit kulturindustriellen Gelegenheiten einerseits nicht schätzen, andererseits ist ihm die Beschreibung davon „wertlos“, wenn sie nicht auf einer Interpretation des musikalischen oder allgemeiner formuliert des ästhetischen Materials beruht.4 Retrospektiv, nachdem die harsche Kritik, die Adorno in einem Brief an Kracauer formuliert, zugänglich ist, lesen sich die oben zitierten einleitenden Worte Kracauers fast wie eine für seinen Freund Teddie5 geschriebene Leseanleitung und vorweggenommene Entschuldigung, dessen Erwartungen antizipiert, aber begründet nicht erfüllt zu haben. Adorno bleibt davon unbeeindruckt: Neben vielen anderen Schwächen, penibel mit Beispielen illustriert (Sprache, Konformismus, Naivität), moniert Adorno nämlich doch die fehlende musikalische Analyse: „Soll wirklich die Epoche im Werk ‚auskonstruiert‘ werden, so kann das nur dort geschehen, wo beide wahrhaft sich ineinander verschränken: nämlich in der musikalischen Gestalt, genauer der technischen Analyse. Auf sie verzichten heißt nicht weniger als Analogien oder vage Relationen anstatt der bündigen Bestimmung setzen. (. . .) Die Musik wird in der allgemeinsten Weise charakterisiert und oft in einer Trivialität, die erschrecken macht; wenn mit Mozart verglichen wird, wobei das allerkonventionellste Mozartbild vorausgesetzt bleibt; oder wenn Du die Musik mit so unverbindlichen Metaphern wie der des Luftgeistes überspinnest.“ (Adorno und Kracauer 2008, S. 354)6

Seine Kritik gipfelt in den Worten, dass in den „Schwächen des Buches eine furchtbare Menschenverachtung zu fühlen“ sei, „daß das Buch ‚auch gute Partien‘ enthält“, möge Kracauer ihm erlassen zu sagen. (Adorno und Kracauer 2008, S. 359) Für Adornos Ausarbeitung der Theorie von Kulturindustrie wird Kracauers Gesellschaftsbiografie dann auch keine Rolle spielen. Wenn man vom Tonfall 4

Dass Kracauer der kulturindustriellen Ästhetik im Unterschied zu Adorno einiges abgewinnen kann, zeigt sich nicht zuletzt in seinem kleinen Aufsatz (13 Seiten) „Das Ornament der Masse“ (zuerst veröffentlicht 1927 in der Frankfurter Zeitung). Das gleichnamige Buch, in dem Essays versammelt sind, widmet er Adorno. Zwischen den Tillergirls (einer Tanz- und Showgruppe) und Fabrikarbeit zieht er eine Analogie, die in der ästhetischen Überlegung kulminiert, dass das Massenornament dem Realitätsgrad nach über den künstlerischen Produktionen stehe, die abgelegene höhere Gefühle in vergangenen Formen nachzüchten (Kracauer 1963, S. 54 f.). Adorno war Avantgardist – nachgezüchtete Formen hat er immer kritisiert, die kulturindustriellen Entsprechungen in den Künsten zum Kapitalismus allerdings auch. Kracauer verwendet das Ornament der Masse, um die fordistische Ratio zu kritisieren. Sein Plädoyer gilt der Vernunft (gegen die mythologische Aufwertung von Natur, wie sie sich im Ornament der Masse manifestiere und als Kritik der instrumentellen Vernunft). 5 „Teddie“ war die Anrede, die Kracauer in den Briefen an Adorno verwendete. 6 Ernst Křenek, der das Buch zweimal besprochen hat, kommt unter dem Titel Musikerbiographie ohne Musik zum gleichen Ergebnis, ist im Duktus aber deutlich zurückhaltender. Adornos Verriss, so könnte man es formulieren, ist „überdeterminiert“, neben der Sache schwingt in diesem Brief Persönliches mit. Karsten Witte, der in der Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von 1994 das Nachwort geschrieben hat, referiert Kritiken auf den Seiten 366 ff.

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absieht, steht die inhaltliche Kritik durchaus im Einklang mit Adornos theoretischen Interessen, seinen Reflexionen und seiner Vorgehensweise: Nur durch das genaue Studium der Partitur lassen sich kulturindustrielle Dimensionen und gesellschaftskritische Momente in den Werken identifizieren. Genau das leistet Kracauer nicht. Aber rechtfertigt das schon einen derartigen Verriss? Die unterschiedlichen Zugänge zum Feld, die Adorno und Kracauer wählen, lassen sich bestimmt nicht ausschließlich biografisch erklären, ein Bezug zur jeweiligen Lebenssituation liegt aber doch nahe. Kracauer schätzt eine Biografie aus der Zeit des Zweiten Kaiserreichs als marktsicherer ein als Romane und rechnet sich internationale Chancen aus.7 Aufgrund seiner ökonomisch prekären Situation greift Kracauer, wie Jacques Offenbach seinerzeit auch, Möglichkeiten auf, die Kulturindustrie (hoffentlich) bietet. Für Adornos Selbstdarstellung ist dagegen die mir durch Heinz Steinert bekannte Anekdote aufschlussreich: „But Dr. Adorno, which public are you aiming at? Adorno blickte den Verleger traurig an, packte wortlos sein Manuskript zusammen und verließ das Verlagshaus.“ (Steinert 2007, S. 24) Zur Randglosse, so scheint mir, lassen sich die finanziellen Ressourcen, die Intellektuelle zur Verfügung haben, nicht abqualifizieren: Adorno gelang es mit Horkheimers Hilfe auch in Amerika relativ schnell, sich materiell abzusichern – wenn auch mit erzwungenen drittmittelfinanzierten Projekten. Selbst unter diesen schwierigen Bedingungen, seinem Essay „Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“ (1968) ist das zu entnehmen, hat er Konflikte riskiert, um Autonomie (gegen die Vorgaben des Projektformats) zu gewinnen. Kracauer musste um seine Existenz seit seiner Vertreibung durch die Nazis kämpfen. Für seine Bestrebungen, autonome Projekte zu betreiben, war Kulturindustrie ein möglicher Bezugspunkt. Er lotet Marktchancen aus und versucht zugleich innerhalb von Kulturindustrie, seine inhaltlichen Anliegen zu realisieren. Solche Erfahrungen machen es wahrscheinlich, dass Kulturindustrie als Produktionsmittel und als Gegenstand der Analyse anders wahrgenommen wird. Mir scheint aber ein zweiter Aspekt in diesem Konflikt interessant: die Frage, ob sich Adorno selbst tatsächlich konsequent an seine eigenen theoretischen Vorgaben hält. Für seine musikalischen Schriften wage ich es aufgrund mangelnder Kompetenz nicht, das auszuführen.8 Am Beispiel seiner Deutung von Horoskopen habe ich (Resch 2007) argumentiert, dass die inhaltsanalytische Genauigkeit, mit der er sich 7

Karsten Witte zitiert im schon erwähnten Nachwort diese Einschätzung Kracauers. Die Briefe, die er zusammenfasst, sind an Ernst Bloch, Leo Löwenthal und Friedrich T. Gubler adressiert. (Witte 1994, S. 363 f.) In den Briefen an Adorno vermisst man derartige Passagen. 8 Offenbach (und Johann Strauß) rettet Adorno in seiner Vorlesung über „Leichte Musik“: „Bei Offenbach verband höchst originelle und doppelbödige Erfindung, bunte Phantasie, glücklich leichte Hand sich mit Texten, an deren sinnvollem Unsinn die Liebe von Karl Kraus entflammen durfte. Bei Johann Strauß, dessen eigentliche Kompositionsbegabung vielleicht die Offenbachs noch übertraf – wie genial ist das Thema des Kaiserwalzers wider das Gefälle des Walzerschemas erfunden –, kündigt der Niedergang sich an in den abgeschmackten Libretti (. . .).“ (Adorno 1962, S. 200) Benjamin (1935, S. 177) formuliert dagegen lakonisch: „Offenbach schreibt dem Pariser Leben den Rhythmus vor. Die Operette ist die ironische Utopie einer dauernden Herrschaft des Kapitals.“

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diesem Material widmet, auch ihre Schwächen hat: Horoskope werden zur Unterhaltung gelesen, Inhalte werden damit beliebig. Amüsement (im Sinne Adornos) als kulturindustrielle Haltung, die gegen Inhalte gleich-gültig ist, bricht die ideologische Bedeutung, die er gleichwohl detailliert darstellt. Horoskope können als Reinform dieses Prinzips charakterisiert werden, weil es das Genre erfordert, dass der Text so verfasst sein muss, dass sich ein konkreter Inhalt kaum benennen lässt. Als methodisches Vorgehen hätte es daher eher nahegelegen, auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen und -situationen zu fokussieren denn auf Inhalte. An anderen Sparten von Kulturindustrie – dem Sport und der Reklame – konzentriert sich Adorno nicht auf Artefakt-Analysen, sondern verwendet sie als Metapher für Kulturindustrie überhaupt ohne in Einzelheiten vorzuführen, warum gerade sie sich dafür eignen. Zwischen Sportarten wird nicht unterschieden, an Sport (ganz allgemein) veranschaulicht er Kulturindustrie als Vergesellschaftungsform, als Reproduktion der (fordistischen) Arbeitsmoral, als Vereinnahmung der Zuschauer, die in eine johlende Masse verwandelt werden (vgl. dazu detailliert Resch und Steinert 2010). Er „beschränkt“ sich darauf, die Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen darzustellen – das entspricht, abstrakt gesprochen, dem, was Kracauer als Anspruch seiner Gesellschaftsbiografie formuliert. Offenbachiaden spiegeln und ironisieren Lebensweisen im Paris seiner Zeit, so Kracauer; das ganze Leben werde als System sportlicher Wettkämpfe abgebildet, dadurch werde der Sport als Leben selber inthronisiert, so Adorno. Wenn man sich derartige Übereinstimmungen klar macht, könnte es dann nicht sein, dass Kracauer sich nur des Vergehens schuldig gemacht hat, in Adornos ureigenem Gebiet – der Musik – zu wildern und dafür gerügt wurde? Das ist sicherlich der Konkurrenz zwischen Intellektuellen geschuldet und kaum Adorno persönlich vorzuwerfen, aber erwähnen wird man dürfen, dass Adorno in seiner Kritik an Kracauers Arbeit darauf nicht reflektiert. Ich will die Frage, wie Adornos Tonfall gegenüber Kracauer zu verstehen ist, aber gar nicht abschließend beantworten, mir geht es darum, Kracauers Modell in eine Theorie der gegenwärtigen Kulturindustrie einzubeziehen. Mehrere Gründe sprechen dafür: Kracauer hat eine historisch frühere Variante von Kulturindustrie genau recherchiert. Damit gelingt es, auf andere kulturindustrielle Mechanismen aufmerksam zu machen. Kulturindustrie-Unternehmer wie Offenbach (und Johann Strauß)9 konnten und mussten aber anders agieren als das im 20. Jahrhundert der Fall sein wird. Mit dem gegenwärtigen Neoliberalismus, der Arbeitskraft-Unternehmertum als Arbeitsmoral propagiert, gewinnt das an Aktualität. Kracauer bindet die Rezeption von Offenbachs Musik an soziale Positionen zurück. Im 19. Jahrhundert stellte Kulturindustrie keine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ mit her, ihr kam nicht die ideologische Funktion zu, eine unspezifische 9 Für die Malerei ist die Studie von Chu (2007) aufschlussreich, in der an vielen Beispielen ausgeführt wird, wie Gustave Courbet Selbstdarstellung inszeniert und kulturindustrielle Vorgaben zugleich unterläuft. Kulturindustrie in ihrer Erscheinungsform im 19. Jahrhundert, in der liberalen Phase des Kapitalismus bietet einiges an Erkenntnissen, die sinnvoll ergänzen, was im Fordismus, in der Hoch-Zeit von Kulturindustrie dann bis zur Kenntlichkeit entstellt, sichtbar wird und sich im gegenwärtigen Neoliberalismus noch einmal erweitert hat.

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Masse zu behaupten und damit Klassengesellschaft zu leugnen und zugleich zu reproduzieren. Soziale Kämpfe waren der Gegenstand von Offenbachs Operetten und damit ein Angebot für die Rezipienten, ihre gesellschaftliche Position in diesen Kämpfen zu reflektieren. Das geschah nicht in Form von „engagierter Literatur“, für die Adorno nichts übrig hat, sondern in Form von Ironie, für die Adorno allerdings auch nicht viel übrig hat. (Vgl. zur Analyse von Adornos Verständnis von Ironie Steinert 1992/2003, S. 174 ff.) Die verstärkte Gesellschaftsspaltung, die die neoliberale Variante von Kapitalismus forciert, macht es sinnvoll, gegenwärtige Kulturindustrie auch daraufhin zu befragen, welche ideologischen und aufklärerischen Momente sie anbietet, um politisch gewollte Verächtlichmachung von Armen und soziale Ausschließung auf der einen, Verherrlichung von erfolgreichem Glücksrittertum und geforderte Anpassung durch Leistungsdruck auf der anderen Seite zu (re-)produzieren oder aber verstehbar zu machen. Schließlich beschreibt Kracauer anschaulich das Spiel, das Jacques Offenbach mit den Stoffen, die er bearbeitet, und mit den sozialstrukturellen Gegebenheiten treibt. Sosehr er sich über die etablierte Kultur und über Herrschaft lustig macht, sosehr braucht er Adel, aufsteigendes Bürgertum und Bohème auch als Publikum. Mit feinem Gespür weiß er die Gelegenheiten zu nutzen, die Kulturindustrie bietet – Irrtum nicht ausgeschlossen – und unterläuft sie zugleich mit Schalk. Adornos Modell von Autonomie steht der öffentlichen intellektuellen Produktion in Kunst und Wissenschaft, in Medien und populären Künsten dieser Tage nicht mehr zur Verfügung. Selbst die historischen Varianten von „autonomer Kunst“ sind inzwischen hoffnungslos vereinnahmt, haben den kulturindustriellen Vermarktungen immanent besonders wenig Widerstand entgegenzusetzen. Mozarts Musik ist bestimmt nicht kulturindustrieller als die von Offenbach, als Aufhänger für kulturindustrielle Ereignisse, aber weitaus verbreiteter. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die kulturindustriellen Modi genau gekannt werden wollen. Wer sich ihnen nicht naiv ausliefern will, ist darauf angewiesen, sie zu durchschauen. Von Kracauer lernen wir, wie Offenbach um die kulturindustriellen Produktionsmittel kämpft: Er will davon leben und trotzdem seine Interessen und Anliegen realisieren. Das geschieht mit Pomp (etwa in der Ausstattung der Stücke, durch Virtuosentum) und Ironie (in der Sache). Kracauer legt das Augenmerk auf den Widerspruch zwischen Anpassung und Widerstand. Wenn es kein außerhalb von Kulturindustrie gibt, dann ist für die Interpretation gegenwärtiger Kulturindustrie und möglichen Widerständigkeiten, die in ihr zu realisieren sind, nicht zu unterschätzen, wie sich Kracauer dem Gegenstand nähert.10 10

Kracauers Arbeit über Offenbach kann mit Gewinn in die Tradition der französischen Aufklärung gestellt werden: Offenbach wird als jemand beschrieben, der mit den Herrschenden Hohn und Spott treibt. Voltaire und Diderot haben im Modus von Ironie Aufklärung betrieben. Bei Horkheimer und Adorno ist von den französischen Aufklärern de Sade derjenige, der prominent behandelt wird – zwar auch ein Kritiker der herrschenden Unmoral, aber einer, der zynisch den Erfolg dieser Strategie konstatiert/seziert. Es gibt eben keine aufgeklärte Moral. Die Dialektik der Aufklärung, die Horkheimer und Adorno analysieren, kritisiert die angelsächsische Variante von Aufklärung: instrumentelle Projektemacherei im vermeintlichen Dienste der Menschheit. Die deutsche Version, die neben Anerkennung vor allen Dingen Reflexivität hochgezüchtet hat, setzen sie als Kritik der instrumentellen Vernunft im Namen einer „wahren“ Vernunft fort. (Vgl. zu den verschiedenen Aufklärungen Steinert 2007)

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Max Horkheimer und Jürgen Habermas: eine Kulturindustrietheorie der Politik

Kulturindustrie betrifft nicht nur hohe Kunst und populäre Unterhaltungen, sondern alle Formen der öffentlichen Wissensproduktion, darunter auch Politik und Wissenschaft.11 Mit „Egoismus und Freiheitsbewegung“ (1936) hat Horkheimer, freilich ohne den Begriff zu verwenden, eine historische Analyse von kulturindustrieller Politik vorgelegt. Jürgen Habermas hat in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) an einer Theorie von (politischer) Bildung und Aufklärung weitergearbeitet – im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft unter veränderten Bedingungen von Öffentlichkeit, in der Diskussionen zunehmend unter Imperativen von Kulturindustrie ablaufen und inszeniert werden. Im Aufsatz „Egoismus und Freiheitsbewegung“ argumentiert Max Horkheimer am Beispiel von bürgerlichen Befreiungsbewegungen (beginnend mit Cola de Rienzo im 14. Jahrhundert in Rom über Girolamo Savonarola im 15. Jahrhundert in Florenz und Luther und Calvin im 16. Jahrhundert bis zur französischen Revolution im 18. Jahrhundert), dass selbst die fortschrittlichen Fraktionen des Bürgertums die unteren Klassen immer nur instrumentalisiert haben, um ihre, also die bürgerlichen Interessen durchzusetzen. In diesen Fallstudien analysiert Horkheimer die Herrschaftstechniken, beschreibt politische Agitation, die die (An-)Führer einsetzen, um die Massen für ihre Anliegen zu gewinnen – das Spektrum reicht von Verführungen bis Drohungen.12 Es sind Mittel, die im Kampf gegen die Herrschenden verwendet werden. Populisten berufen sich auf die Massen, um ihren eigenen Machtanspruch durchzusetzen. Dieser Aufsatz kann mit Gewinn als Beitrag zu einer Kulturindustrietheorie der Politik gelesen werden. Heinz Steinert (1999) hat unter Rekurs auf „Egoismus und Freiheitsbewegung“ und unter Einbeziehung aktueller Techniken, derer sich Berufspolitiker bedienen, theoretische Dimensionen benannt, die bei der Analyse von Populismus als kulturindustrieller Politik zu beachten sind. Ich will sie an dieser Stelle nur kurz referieren, ansonsten auf den genannten Aufsatz von Steinert verweisen.

Was die Wissenschaft anbelangt, heißt das Stichwort der Kritischen Theorie dafür „Positivismus“. Argumente und Denkmodelle, die gegen „traditionelle Theorie“ geführt werden, mit denen zu vergleichen, wie Kulturindustrie kritisiert wird, wäre eine wünschenswerte Studie. Dass positivistische Wissenschaft wie Kulturindustrie Realität nur abbildet und damit verdoppelt, was sie als „schlechte Wirklichkeit“ vorfindet, ist nur die offensichtlichste Übereinstimmung. Für eine Theorie von „kulturindustrieller Wissenschaft“ wäre ein solcher Überblick ein nützliches Unterfangen. Vgl. dazu auch Martin und Resch 2014, wo die Autorinnen und Autoren verschiedene Haltungen zur Kulturindustrie reflektieren, die in Produktion, Vermittlung und Rezeption von Sozialwissenschaft, in theoretischen und empirischen Arbeiten insbesondere nach der Bologna-Reform auffällig sind. 12 Kracauers Untersuchung Totalitäre Propaganda (Kracauers 1937b) spielt in der Rezeption der Kritischen Theorie kaum eine Rolle. Er bezieht sich in den theoretischen Teilen seiner Beschreibung der Mechanismen, derer sich der italienische Faschismus und deutsche Nationalsozialismus bedient haben, mehrmals auf Horkheimers Aufsatz. In einem Gutachten lässt Adorno, dieses Mal ohne dass Kracauer dieses Gutachten zugeschickt bekommen hätte, kaum ein gutes Haar an dieser Studie. (Kracauer Werke, Band 2.2, S. 821 ff.) 11

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Kulturindustrielle Politik organisiert sich nach dem Prinzip von Volks- statt nach Interessenparteien; Populismus stellt – im Gegensatz zu Interessenpolitik – Identifikation mit einem Großen & Ganzen her, ist Identitätspolitik; statt politischer Programme dominieren Persönlichkeiten, mit denen man sich identifizieren soll; das politische Subjekt wird als passives konzipiert, das nur als Inhaber einer Wahlstimme interessant ist, sich aber als Zugehöriger einer großen und mächtigen Gruppe selbstbewusst fühlen soll („wir Deutsche“, „wir Frauen“, „die rechtschaffenen kleinen Leute“ usw.) und kulturindustrielle Politik produziert soziale Ausschließung oben und unten („die Ausländer“ und die „Freunde der Ausländer in der Regierung“).13 Populismus stellt eine spezifische Politikform dar, die sich daran erkennen lässt, wie die Bevölkerung adressiert wird: möglichst große Gruppen sollen angesprochen werden. Über Inhalte kann Populismus nicht begrifflich gefasst werden. Daher ist eine Unterscheidung in Links- und Rechts-Populismus problematisch. Vielmehr geht es um Identitäts- versus Interessenpolitik. Wie schon diese kurze Darstellung andeutet, sieht kulturindustrielle Politik keine Situationen vor, in denen Interessen geklärt werden könnten. Fortschrittliche Politik, auch das kann man von Horkheimer lernen, zeichnet sich immer dadurch aus, dass Gelegenheiten hergestellt werden, die dazu beitragen, sich die eigenen Interessen (so sie nicht ganz borniert waren; „egoistisch“ konnotiert Horkheimer positiv) überhaupt erst zu vergegenwärtigen. Jürgen Habermas untersucht genau das für die bürgerliche Gesellschaft. Strukturwandel der Öffentlichkeit beschäftigt sich mit der Frage, wie sich demokratische Institutionen unter kulturindustriellen Bedingungen transformieren und so eine eigenständige Meinungsbildung der Bürger, des kulturräsonierenden Publikums zumindest erschweren.14 Er beschreibt, wie sich Privatsphäre und Öffentlichkeit verbinden: zu einer Allianz, die man heute als populistisch bezeichnen würde. Privatsphäre meint bei Habermas nicht nur das Intime, das vor öffentlichen Zugriffen geschützt werden soll/muss, wie es dieser Tage im Zusammenhang mit Datenschutz, aber auch als die bereitwillige Veröffentlichung persönlicher Details in sozialen Netzwerken diskutiert wird. Das Private und private Interessen sind Teil seiner Kapitalismus-Analyse. Bezogen auf den Liberalismus als Phase der kapita-

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Wenn man das Konzept aus der Berufspolitik in andere Bereiche überträgt, ist es sinnvoll von „strukturellem Populismus“ zu reden, der andere Sparten von Kulturindustrie auszeichnet (vgl. Steinert 1998). Cremer-Schäfer und Steinert (1998) haben Wissenschaft, genauer die Kriminologie als populistische kritisiert. 14 An dieser Stelle ist es angebracht, an den Essay von Herbert Marcuse „Repressive Toleranz“ (1965) zu erinnern, den Marcuse den Studenten der Brandeis University zueignet. Er argumentiert dort, dass die Medien die Informationen, die einem autonomen Denken vorausgesetzt wären, überhaupt nicht zur Verfügung stellen. Er zeigt, wie in Demokratien „Toleranz“ zur Aufrechterhaltung der repressiven Gesellschaft dient, sie werde im Dienste von Herrschaft ausgeübt und dulde die etablierte Politik. Bedingungen, in denen Toleranz eine befreiende und humanisierende Kraft sein könnte, müssten erst geschaffen werden – im Zweifelsfall gewaltförmig. Repressive Toleranz wird zur populistischen Technik – und wäre für gegenwärtigen Populismus als Strategie zu untersuchen. In den Minima Moralia im Aphorismus „Melange“ argumentiert Adorno gegen die „unitarische Toleranz“. „(. . .) den besseren Zustand denken aber als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann“ – nicht als Gleichheit aller Menschen. (Adorno 1944–47, S. 116)

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listischen Produktionsweise heißt es: „Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre implizierte, daß die Konkurrenz privater Interessen grundsätzlich dem Regulativ des Marktes überlassen und aus dem öffentlichen Streit der Meinungen herausgehalten wurde.“ (Habermas 1962, S. 284) Zugleich interessieren ihn Bürger15 als Privatleute in einer räsonierenden Öffentlichkeit, die dort nicht ihre privaten (= ökonomischen Klassen-)Interessen verfolgen. Der Verfall der bürgerlichen Möglichkeiten, dass sich Privatleute kulturräsonierend zusammentun und sich in Diskussionen eine öffentliche (von Herrschaft unabhängige) Meinung bilden, ist eines der zentralen Themen des Buches. Habermasʼ Studie ist, wollte man sie mit dem Kulturindustrie-Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung vergleichen, empirisch „gesättigt“. Er beschreibt etwa Besitzverhältnisse von Zeitungen und anderen Medien und legt Zahlen über Leser und ihre sozialstrukturelle Zugehörigkeit vor. Und er beschäftigt sich, anders als Adorno, mit Prozessen der politischen Meinungsbildung und wie sie kulturindustriell zur Unterhaltung gemacht und zugleich refeudalisiert werden: PR etwa trete mit einem autoritären Gestus auf, wie er für die repräsentative (vorbürgerliche) Öffentlichkeit charakteristisch war (Habermas 1962, S. 288 ff.). Ein anderes Beispiel bezieht sich auf Podiumsdiskussionen, die die Gestalt von warenförmigen Kulturgütern annehmen würden (Habermas 1962, S. 252 ff.). Für Analysen, wie „öffentliche Meinung“ interessengeleitet hergestellt und das Publikum in (passive) Konsumenten verwandelt wird, enthält die Studie, mag der Autor sie auch grundsätzlich revidiert haben,16 wertvolle Anregungen.17 Die Analysen von Kulturindustrie, und Strukturwandel der Öffentlichkeit rechne ich mit Abstrichen zu diesen, haben nichts an Aktualität eingebüßt, im Gegenteil, sie sind aktueller denn je – nicht zuletzt weil Populismus zur dominanten Politikform geworden ist.

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Dass Alexander Kluge und Oskar Negt (1972) in Kritik dieser Untersuchung früh eine Studie zur proletarischen Öffentlichkeit vorgelegt haben, ist inzwischen hinreichend bekannt und muss hier nicht eingehend behandelt werden. Auf diese Kritik, wie auch auf die Untersuchung von Edward P. Thompson (1963), geht Habermas in seinem Vorwort zur Neuauflage (1990) ein. 16 1990 im Vorwort zur Neuauflage heißt es unter anderem, dass sie sehr stark von Adornos Theorie der Massenkultur geprägt sei. (Habermas 1990, S. 29) Den theoretischen Rahmen, den er jetzt bevorzugt, hat er in der Theorie des kommunikativen Handels entwickelt und der macht ihn zuversichtlicher (nicht zuletzt unter Bezug auf empirische Untersuchungen von Rezeptionen, wie sie von den Cultural Studies durchgeführt wurden), dass auch unter kulturindustriellen Bedingungen Kritik und vernünftige Diskussionen möglich seien. 17 Neuerdings bezieht sich Sighard Neckel (2013) auf „Refeudalisierung“, wie sie Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit entwickelt hat, um den gegenwärtigen Kapitalismus zu beschreiben. Neckel konzentriert sich dabei auf die Organisationsprinzipien der Ökonomie und weniger, worauf Habermas seinerzeit den Schwerpunkt gelegt hat, die Aushöhlung demokratischer Institutionen. Wenn man den Einfluss bedenkt, den Politikberatung und Lobbyismus in den letzten beiden Jahrzehnten erreicht haben, lässt sich durchaus ein „Fortschritt“ an nicht-demokratisch legitimierter Politik konstatieren (vgl. dazu genauer Resch 2005, S. 208–226).

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Leo Löwenthal: Populärkultur und die Verbindung von Kritischer Theorie und Cultural Studies

Es gehört zu den Verdiensten von Leo Löwenthal immer wieder nachdrücklich darauf hingewiesen zu haben, dass es für die Bestimmung von gelungener Kunst einerseits und bloßer Unterhaltung andererseits, keine „todsichere Formel“ gibt. Wenn man, wie Löwenthal das getan hat, Debatten über Kunst und Massenkultur, über „kulturelle Standards“ zu verschiedenen historischen Zeitpunkten und in verschiedenen Ländern aufarbeitet, wird schnell ersichtlich, dass jede dieser Diskussionen und Definitionen gesellschaftlich verortet und, noch spezifischer und banaler, als interessierte Äußerungen von Intellektuellen interpretiert werden müssen. In Kunstbegriffen transportieren sich mehr oder weniger reflektiert Ansprüche der Intellektuellen bezüglich ihrer sozialen Position mit. Künstler, Unterhalter, Kritiker, Philosophen und Theoretiker klären mit Kunstbegriffen ihre Beziehung zu den unteren Schichten, die von Zerstreuung und Flucht vor der Realität abgehalten, die erzogen oder belehrt, aufgeklärt oder unterhalten werden sollen, die verachtet oder bemitleidet werden, und zu ihrem Publikum, das auch nicht immer so gebildet ist, wie der Künstler es sich wünscht. Das ist nicht erst im 20. Jahrhundert der Fall, sondern begleitet bürgerliche Kunst von Anfang an. Löwenthal veranschaulicht letzteres etwa anhand des „Vorspiel(s) auf dem Theater“ aus Goethes Faust: dem Gespräch zwischen dem Theaterdirektor, der kommerziell erfolgreich sein will, und dem Dichter, der sich auf seine „künstlerische Sendung“, wie Löwenthal es nennt, beruft (und nicht mehr auf religiöse oder geistige Werte, wie das vor der Aufklärung der Fall war). (Löwenthal 1964, S. 32 ff.) Was bei Löwenthal überraschender Weise keine dominante Rolle spielt: mit Fragen, ob man dem Publikum entgegenkommen darf oder wie streng ästhetische Maßstäbe gesetzt werden, bearbeiten die Intellektuellen auch ihre Konkurrenzen untereinander. Die Darstellung dieser Debatten folgt einem soziologischen Kunstbegriff. Schon die frühe programmatische Schrift „Aufgaben einer Literatursoziologie“ (Löwenthal 1948) besticht dadurch, dass verschiedene Perspektiven berücksichtigt werden: gesellschaftliche Vorstellungen von Literatur und ihrer sozialen Funktion, Position und Haltung des Schriftstellers, Rezeptionshaltungen und Vorlieben für unterschiedliche Medien (Bücher, Zeitschriften, Filme), Politiken von Verlegern, (ideologische) Stoffe und gesellschaftliche Voraussetzungen für Erfolg (seien es staatliche Förderungen, Preise oder Marktgängigkeit). Adornos Einwand gegen einen solchen soziologischen Kunstbegriff soll hier kurz erinnert werden. Soziologische Analysen werden von ihm kritisiert, weil sie sich nicht auf die Dynamik des Werks einlassen, sondern Artefakte kategorisieren und sie sozialen Positionen zurechnen, ohne das inhaltlich zu begründen. Kunst ist dann, was in Kulturindustrie als solche vermarktet und von der Oberschicht konsumiert wird. Das aber ist ein zugeschriebenes Label. Dagegen gelte es anhand der Struktur des „Werks“ zu zeigen, ob sich eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, und das ist der Anspruch, den Adorno an gelungene Kunst stellt, im Artefakt materialisiert. Mit seiner ästhetischen Theorie trifft Adorno eine Schwäche von Kulturanaly-

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sen – die vorwiegend und zunehmend auf die Rezeption konzentrierten Cultural Studies ebenso wie die prominent gewordenen Studien von Bourdieu. Ich belasse es bei dieser kursorischen Darstellung von Löwenthals Kulturtheorie und konzentriere mich auf die Analogien zu den Cultural Studies, die für die Erforschung von Medien und Populärkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung hatten. Löwenthals Programm korrespondiert mit der kulturtheoretischen Gesellschaftskritik, die die „erste Generation“ der Vertreter der Cultural Studies in den 1950erJahren in Großbritannien entwickelt hat. Kultur wurde hier als „Lebensweise“ konzipiert und nicht mit Hochkultur gleichgesetzt. Seinerzeit – Populärkultur war bis dato kein Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen – war das zweifelsohne eine revolutionäre Idee. Der Begriff der Erfahrung steht im Zentrum der sozialhistorischen und begriffsgeschichtlichen Studien. Exemplarisch kann das an der Arbeit von Raymond Williams (1958) Culture and Society 1780–1950 veranschaulicht werden. Williams verbindet die Begriffsgeschichte von Kultur mit der Analyse von „Industrie“, „Demokratie“, „Klasse“ und „Kunst“. „Kultur“ versteht er dabei gerade nicht als die „geistigen Spitzenprodukte“, vielmehr interpretiert er die Erfindung dieser Idee. Damit verbunden ist eine Kritik von „Masse“, die als Haltung der Intellektuellen beschrieben wird: „Es gibt in der Tat keine Masse, es gibt nur Möglichkeiten, Menschen als Masse zu betrachten.“ (Williams 1958, S. 359) Als Konsequenz folgt, dass Medieninhalte zu den Erfahrungen des Publikums ins Verhältnis gesetzt werden müssten. Die Massenkommunikation versage in ihren ideologischen Vorgaben, „wenn ihre Übermittlungen statt auf eine konfuse Vagheit auf eine wohldurchdachte und ausformulierte Erfahrung treffen“. (Williams 1958, S. 375)18 Obwohl Adorno für die Cultural Studies kaum eine Rolle spielt, er vielmehr, besonders auch in der deutschsprachigen Rezeption als „elitärer Bildungsbürger“ abgewehrt wurde, besteht in diesen Grundhaltungen durchaus Übereinstimmung: Von den Protagonisten der Cultural Studies und denen der Kritischen Theorie wird die Perspektive der Intellektuellen kritisiert, die die „Massen“ verachten und den „Schund“, den sie konsumieren, wahlweise legitimieren oder verunglimpfen. Zugleich sind es aber diese Intellektuellen, die den Schund herstellen – tatsächlich (sie haben den privilegierten Zugang zur Kulturindustrie und verdienen damit ihr Geld) oder als abwertende Kategorisierung für die Vorlieben der handarbeitenden Klasse. Anders verhält es sich mit dem Erfahrungsbegriff: In der Kritischen Theorie stehen herrschaftliche Verhinderungen von Erfahrungen eher im Zentrum als subversive Herrschaftsabwehr, die in der Tradition der Cultural Studies betont wird. Auch die

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Stuart Hall (1980) legt zwei Jahrzehnte später einen programmatischen Aufsatz vor, der dann für viele Rezeptionsstudien den Ausgangspunkt bildet. Er unterscheidet am Beispiel von Nachrichten drei hypothetische Positionen der Rezeption: 1) „preferred readings“, 2) „negotiated readings“ und 3) „oppositional readings“. In der ersten Lesart realisiere sich das Angebot, die zweite stimme dem nahegebrachten Anliegen grundsätzlich zu, widerspreche aber, wenn eigene Interessen betroffen seien und man über eigene Erfahrungen verfüge, und die oppositionelle Lesart identifiziere die Nachricht als partikulares Klasseninteresse, das als allgemeines formuliert werde.

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Befreiungsmodelle weisen deutliche Differenzen auf: Adornos Modell setzt eine privilegierte Position voraus, in der die Ressourcen vorhanden sind, sich die Bildung anzueignen, die Gesellschaftskritik und Reflexion überhaupt erst ermöglichen, während in den Cultural Studies an der traditionelleren Vorstellung einer möglichen Befreiung „von unten“ festgehalten wird.19 Die Cultural Studies favorisieren daher eine Forschung, die die kulturellen Erfahrungen in sozialen Positionen aufzeigt, die nicht über konventionelle Bildung verfügen. Eigenwillige Aneignungen von Werbung, Fernsehen, Mode, Filmen uswusf. waren dann bis in die 1990er-Jahre Themen von vielen Studien.20 Aber hier soll keine Geschichte der Cultural Studies referiert, vielmehr die Verbindung zu den Kultur-Analysen der Kritischen Theorie nachgezeichnet werden.21 Die ursprünglich formulierte Kritik an „Culture with a capital C“ hat in der weiteren Entwicklung der Cultural Studies kurioserweise dazu geführt, dass Hochkultur, dass Kunst überhaupt kein Gegenstand der Untersuchungen war. Das hat sicher auch mit der „open university“ zu tun, einer Einrichtung, die bildungsfernen Schichten, wie es dieser Tage heißt, ein Studium ermöglichte. Die dort engagierten Kulturwissenschaftler haben die Lehre nicht mit dem Kanon, sondern anhand der kulturellen Erfahrungen der Studierenden generiert und bestritten. Udo Göttlich (1996) greift dieses Defizit auf und fordert, die Arbeiten zur Massenkultur von Löwenthal und Williams zusammenzuführen. Es gilt Hoch- und Populärkultur einzubeziehen: Das jeweils spezifisch historische Verhältnis dieser beiden Sparten müsse berücksichtigt werden. Fragen könnten nicht einfach anhand von Nutzungsund Aneignungsformen des Publikums bearbeitet werden, sie bedürfen einer „auf den strukturellen Rahmen des Kulturwarenangebots bezogenen Analyse“. „Und dazu gehört nun einmal die Hierarchie bzw. das Spannungsverhältnis von Kunst und Massenkultur.“ (Göttlich 1996, S. 307) Für diese Position spricht, dass unter dieser theoretischen Prämisse ein empirisches Design entworfen werden kann, das geeignet ist, Kunst und populäre Künste mit denselben methodischen Verfahren zu untersuchen. Wenn Hochkultur werkästhetisch interpretiert wird, für Populärkultur aber im besten Fall Nutzungen erforscht werden, so sie nicht, wie bis in die 1960er-Jahre üblich, generell unter Ideologieverdacht gestellt wurde, beteiligt sich Wissenschaft daran, die Hierarchie zwischen Kunst und Populärkultur naiv zu reproduzieren statt über diese Hierarchie

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Cultural Studies waren in Großbritannien wohl auch plausibel, weil es dort eine Arbeiterkultur gab, die erst später, unter der Thatcher-Regierung wirtschaftlich und politisch sowie unter Einsatz von Gewalt geschwächt wurde (Stichwort Bergarbeiterstreik). In Deutschland dagegen wurde diese schon im Nationalsozialismus aufgelöst und die Arbeiterschaft ließ sich leicht vereinnahmen. Damit drängten sich andere Fragen auf als die der Widerständigkeit „von unten“. 20 Es spricht für lebendige Debatten, dass der Vorwurf, Cultural Studies betrieben zunehmend „cultural populism“ aus ihren eigenen Reihen erhoben wurde. (McGuigan 1992) McGuigan bedauert es auch, dass die Kritische Theorie vorschnell ad acta gelegt wurde. 21 Zur Entwicklung und Rezeption der Cultural Studies zu verschiedenen historischen Zeitpunkten und in verschiedenen Ländern (GB, USA und D) vgl. genauer Resch 1999, S. 94–129.

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zu reflektieren. Ein Vergleich wird erst möglich, wenn beide kulturellen Formen auf analoge Weise untersucht werden.22 Warum aber fungiert bei Göttlich, einem Autor, der sich in die Tradition der Cultural Studies stellt, gerade Löwenthal als Gewährsmann für die angestrebte Synthese von Cultural Studies und Kritischer Theorie? Ich meine, die Antwort liegt in den Kunstbegriffen begründet. Williams und Löwenthal forcieren, ich habe es bereits erwähnt, einen soziologischen Kunstbegriff: Kunst ist, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gesellschaftlich als Kunst verstanden wird, also von durchsetzungsmächtigen Akteuren als Verallgemeinerung ihrer Interessen als solche definiert und als relevante ästhetische Norm durchgesetzt werden kann. Adornos Kunstbegriff ist „substanzieller“. Er beansprucht „im Werk“ zeigen zu können, ob sich darin ein Fortschritt in der Verfügung der ästhetischen Produktionsmittel ausdrückt und sich die gesellschaftlichen Widersprüche manifestieren, in denen zugleich Möglichkeiten von Befreiung aufgehoben sind. Substantiell meint also nicht a-historisch, es indiziert nur, dass Adorno soziale Zuschreibungen und/oder kulturindustrielle Kategorisierungen nicht hinnimmt, sondern anhand von Werkinterpretationen „gelungene Kunst“ identifiziert und derartige Labels korrigiert. Die Cultural Studies fokussierten ihre Forschungen auf das Widerständige „unten“, das in privilegierten Positionen, worauf Adorno den Akzent legt, passte nicht in ihren theoretischen Rahmen. Bei dieser Form von Herrschaftskritik lag ein Rekurs auf Löwenthal eher als auf Adorno nahe.

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Herbert Marcuse: Kunst zwischen Affirmation und Revolution

Marcuses Kultur(industrie)theorie nimmt eine mittlere Position ein. Sein „substanzieller“ wie sein ideologiekritischer Kunstbegriff sind politischen Kontexten geschuldet: Er bezieht sich nicht zuletzt auf Theorien zur Kunst von sozialen Bewegungen, die er freimütiger als etwa Adorno als neues revolutionäres Subjekt identifiziert. In der Zeitschrift für Sozialforschung erscheint 1937 Marcuses Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie unter dem Titel „Über den affirmativen Charakter der Kultur“, 1977 veröffentlicht Marcuse „Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik“. Wie lässt sich der Widerspruch zwischen diesen beiden Aufsätzen verstehen, der sich schon in den Titeln spiegelt? Dass der Untertitel des späteren Aufsatzes „Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik“ (Hervorhebung ChR) lautet, indiziert jedenfalls keine Abkehr von materialistischen Positionen.

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In meiner Untersuchung (1999) habe ich genau das versucht. Dabei zeigt sich, dass Hochkultur als Gelegenheit für Selbstdarstellungen und Konkurrenzen der Gebildeten genutzt wird, während Populärkultur verwendet wird, um Zugehörigkeit zu zelebrieren.

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In den 1930er-Jahren galt es die Bedingungen zu verstehen, die den Aufstieg von Faschismus ermöglichten. Dazu gehörten Fragen, wie Anpassung hergestellt bis erzwungen wurde. In diesem Kontext – noch vor Kriegsbeginn und Shoah – entstand der erste der beiden genannten Aufsätze. Seine Überlegungen „Über die Permanenz der Kunst“ gehören in eine historisch völlig andere Situation: In Folge der Studentenbewegung setzte sich in der Linken eine Position durch, die die bürgerliche Kunst undifferenziert als Ideologie kategorisierte und für ihre Abschaffung plädierte. Marcuse kontert, indem er einer Autonomie der Kunst das Wort redet und an Kunst unter Rekurs auf Adornos Ästhetische Theorie als Statthalter von Befreiung festhält.23 Unter diesen veränderten politischen Konstellationen und an andere Adressaten gerichtet, interpretiert Marcuse seine beinahe gleichbleibende ästhetische Grundannahme verschieden. Über die affirmative Kultur heißt es: „Aber der bürgerliche Idealismus ist nicht nur eine Ideologie: er spricht auch einen richtigen Sachverhalt aus. Er enthält nicht nur die Rechtfertigung der bestehenden Daseinsform, sondern auch den Schmerz über ihren Bestand; nicht nur die Beruhigung bei dem, was ist, sondern auch die Erinnerung an das, was sein könnte.“ (Marcuse 1937, S. 66 f.)

In „Die Permanenz der Kunst“ gibt es eine Reihe von Zitaten, die diese Grundannahme variieren: „Die ästhetische Form konstituiert die Autonomie der Kunst gegenüber dem ‚Gegebenen‘. Diese Trennung schafft jedoch kein ‚falsches Bewußtsein‘ oder bloße Illusion, sondern eher ein Gegenbewußtsein, die Negation der realistisch-angepassten Haltung.“ (Marcuse 1977, S. 202 f.) „Kunst steht unter dem Gesetz des Gegebenen und überschreitet dieses Gesetz zugleich. Der Begriff der Kunst als wesentlich autonomer, negierender Produktivkraft widerspricht der Vorstellung von einer Ästhetik, der zufolge Kunst wesentlich eine abhängige, affirmativideologische Funktion erfüllt, das heißt die bestehende Gesellschaft verklärt und entschuldigt.“ (Marcuse 1977, S. 204)

In beiden Aufsätzen, so kann man zusammenfassen, hebt Marcuse den Widerspruch hervor: Kultur/Kunst sei ideologisch und wahr, Kultur/Kunst erfülle affirmative Funktionen und sei der Befreiung verpflichtet. Der kleine Unterschied und seine großen Folgen liegen darin, dass er im ersten Aufsatz die Wahrheit des Idealismus der bürgerlichen Gesellschaft zuordnet, der Aufstieg des Faschismus markiere daher den Beginn der Selbstaufhebung der affirmativen Kultur (Marcuse 1937, S. 92), während im zweiten unterstellt ist, es handle sich um eine ewige Wahrheit. In seiner Interpretation von Goethes Werther formuliert er das wie folgt: „Aber das Werk als

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Bei aller Kritik an Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974), die ich 1999 durch eine genaue Re-Interpretation seiner Beispiele vorgelegt habe, machte genau dieses Anliegen, Kunst nicht von vornherein kategorisch abzulehnen, das schmale Büchlein seinerzeit so brisant und für Debatten über eine materialistische Ästhetik wichtig.

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Ganzes ist so sehr als das Schicksal der Liebenden und ihrer eigenen Umwelt gestaltet, daß das Schicksal des Bürgers eine Episode bleibt.“ (Marcuse 1977, S. 213) Oder: „Die Permanenz der Kunst, ihre historische Unsterblichkeit durch die Jahrtausende bezeugt diese Verpflichtung.“ (Marcuse 1977, S. 204; die Verpflichtung meint diejenige gegenüber dem Eros in ihrem Kampf gegen Triebunterdrückung und gesellschaftliche Unterdrückung;24 ChR) Der erste Aufsatz endet mit einer Utopie, in der die Aufgaben von Kultur in einer befreiten Gesellschaft angedeutet werden: die Gestaltung unerfüllter Sehnsüchte, weil Tod und Vergänglichkeit auch in einer befreiten Gesellschaft Trauer und Leid hervorrufen (Marcuse 1937, S. 99 ff.), der zweite mit einem Plädoyer für Erinnerung an auch vergangenes Leid als Voraussetzung für eine vielleicht mögliche Revolution und Befreiung. In der Kunst sei die „Unfreiheit der Individuen in der unfreien Gesellschaft“ reflektiert, das (vergangene) Leid könne vor dem Vergessen und seiner Verdinglichung bewahrt werden. (Marcuse 1977, S. 241)25 Marcuse legt in diesen Schriften den Akzent auf jeweils eine Seite des Widerspruchs: Während im „affirmativen Charakter der Kultur“ die ideologische Vereinnahmung der bürgerlichen Kultur als Analyse-Raster dominiert, interpretiert er in der „Permanenz der Kunst“ die Widerständigkeit, die in den „Werken“ als humanistische und daher klassenlose und a-historische Wahrheit aufgehoben ist. Anders formuliert: Im „affirmativen Charakter“ hebt er das Kulturindustrielle hervor, während das „Permanente“ der Werkästhetik Adornos verpflichtet ist. Im „affirmativen Charakter“ beschreibt Marcuse (herrschaftliche) Verwendungen von Kultur. Zwar gibt es Bemerkungen, dass sich diese Verwendungen im Artefakt auf ein inhaltliches Gegenstück beziehen können müssen, konsequente „Werk“-Interpretationen legt er aber nicht vor. Dass etwa der Idealismus die „Freiheit der Seele“ (statt der des Geistes – mit Hegel als Ausnahme) gegen das Reich der Notwendigkeit akzentuiere, ist ihm Indiz, dass die affirmative Kultur auch zum faschistischen Gebrauch gut sich schickt. In der „Permanenz“ sucht er die befreienden Momente dagegen im Werk. Ob sie sich in der Rezeption realisieren, ist mindestens nachrangig: „Revolutionäre Kunst kann sehr wohl zum Volksfeind werden.“ (Marcuse 1977, S. 219; Hervorhe-

24 In Triebstruktur und Gesellschaft (dt.: Marcuse 1957) hat Marcuse dieses Motiv in seiner Beschäftigung mit Freuds Das Unbehagen in der Kultur genau ausgearbeitet: Bekanntlich hat Freud von notwendiger (Trieb-)Unterdrückung als Bedingung der Möglichkeit von Kultur und Zusammenleben gesprochen. Marcuse wird dieses Realitätsprinzip verdoppeln: in notwendige Unterdrückung, wie von Freud vorgeschlagen, und zusätzliche Unterdrückung, die der jeweils historisch-konkreten Herrschaft geschuldet ist und in einer befreiten Gesellschaft abgeschafft sein würde. 25 Dieses Motiv ist für das Denken von Walter Benjamin zentral. Wir kennen es etwa aus der Interpretation des Bildes „Angelus Novus“ von Paul Klee. Der Engel hat sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet, die er als eine einzige Katastrophe sieht, „die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“. Es gelingt ihm nicht, ein Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft und der Trümmerhaufen wächst immer weiter. Dieser Sturm, so Benjamin, ist das, was wir Fortschritt nennen. (Benjamin 1940, S. 255) Bezogen auf die Kultur schreibt er: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“ (Benjamin 1940, S. 254)

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bung im Original) Welche Kunst „für die Menschlichkeit und gegen die Unmenschlichkeit aller Zeiten“ (Marcuse 1977, S. 212) steht, darüber fällt er schnelle und sichere Urteile. Andy Warhol zählt er nicht dazu: „die ausgestellte Suppenbüchse vermittelt nichts über das Leben des Fabrikarbeiters, der sie hergestellt hat“. (Marcuse 1977, S. 228) Das stimmt soweit zwar schon, aber als Kritik an Kulturindustrie re-interpretiert, lässt sich Warhols Suppenbüchse dagegen einiges abgewinnen. Das ist jedoch eine andere Geschichte. Im Unterschied zu Adorno, der in seine Analysen einbezieht, dass die herrschende Arbeitsteilung und damit verbunden Bildungsressourcen das entscheidende Kriterium sind, dass das Proletariat, die Massen, die Unterschicht von einer adäquaten Kunstrezeption ausgeschlossen sind, bleibt das bei Marcuse unbestimmt. So ist die Ironie dieses zweiten Aufsatzes, dass er gegen „sozialistische Intellektuelle“, die die bürgerliche Kunst als Ideologie verdammen, zwar inhaltliche Argumente vorbringt, aber ihr Modell von Avantgarde übernimmt: Der Intellektuelle, in diesem Fall Marcuse weiß am besten, was für die Arbeiterklasse, das Volk, die Unterdrückten – bei Marcuse zur Menschheit überhöht – gut ist: wahrhaft revolutionäre Kunst, ich wiederhole es, kann zum Volksfeind werden. Dass auch Kunst kulturindustriellen Bedingungen unterworfen ist, wie das Adorno in seiner Theorie scharf kritisiert, geht zugunsten einer Belehrung linker Ideologiekritiker wieder verloren. Marcuse argumentiert eindimensionaler.26 Den (dialektischeren) Vorschlag zur Güte hat er freilich auch selbst ausgearbeitet: in Konterrevolution und Revolte (Marcuse 1973). Dort argumentiert er in dem Aufsatz „Kunst und Revolution“, an die kulturrevolutionäre Studentenbewegung adressiert, dass Kunst, ihrer eigenen Logik nach, für Befreiung eintritt und nicht einfach abbilden kann, was politische Kräfte als Anliegen ausdrücken: „Die Kunst kann nicht die Revolution darstellen, sie kann sie nur in einem anderen Medium signalisieren, in einer ästhetischen Form, in der der politische Inhalt metapolitisch wird und von der inneren Notwendigkeit der Kunst bestimmt ist.“ (Marcuse 1973, S. 123)

Kunst wird als grundsätzlich antagonistisch bestimmt: die Affirmation habe ihre eigene Dialektik; sie durchbreche durch die „Macht des Negativen“ die affirmative Einstellung (Marcuse 1973, S. 110). Sie bleibt bei Marcuse auch Ausdruck einer condition humaine (Hervorhebung im Original; Marcuse 1973, S. 104), daher historisiert und a-historisch zugleich, sie habe Klassencharakter und überschreite ihn zugleich. Und er rettet hier, im Unterschied zu seinem Aufsatz über die „affirmative Kultur“, die Produktion gegenüber der Rezeption: „Trotz ihrer (feudalen und bürgerlichen) Verwendung als Statussymbol, Element ostentativen Konsums, bewahrt die

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Das ist auch in Der eindimensionale Mensch (dt.: Marcuse 1967) im Vergleich zur Dialektik der Aufklärung, als deren Fortsetzung, wenn nicht bessere Variante sie in der (amerikanischen) Rezeption gefeiert wurde, der Fall. Dieses Buch in der deutschen Rezeption kaum noch zur Kenntnis zu nehmen, unterschätzt freilich auch den Erkenntnisgewinn, den es bietet. Tatjana Freytag (2008) gehört zu den Ausnahmen, die eine Aktualisierung für die neoliberale Variante von Kapitalismus vorgelegt hat.

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Kunst jene Entfremdung von der etablierten Wirklichkeit, die ihr Ursprung ist.“ (Marcuse 1973, S. 115) In einer Bilanz dieser drei Aufsätze zeigt sich: bei Marcuse dominiert eine politische Argumentation. Er übernimmt die Position eines wohlwollend-kritisch intellektuellen Ratgebers gegenüber politischen Befreiungsbewegungen. Sein Kunst- und Kultur(industrie)-Begriff erhält seine Konturen, wenn man die jeweiligen Adressaten seiner Aufsätze in die Analyse einbezieht. Adorno vertritt eine „absolutere“ Position.27 Da aber Debatten über Kultur(-industrie) in der wissenschaftlichen wie journalistischen Öffentlichkeit häufig normativ geführt werden, bleibt Marcuses zentrale Frage „Wer spricht mit welchen Erfahrungen und Interessen?“ aktuell.

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Erweiterte Kulturindustrie

Die Theorie von Kulturindustrie, so haben wir, Heinz Steinert und ich, immer wieder argumentiert, hat nichts an Aktualität eingebüßt – der ohnehin schon zitierten Literatur (und besonders auch dem Entwurf einer Interaktionsästhetik, Resch und Steinert 2003b) sind die Beispiele dafür leicht zu entnehmen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Im Vergleich zum Fordismus hat sich Kulturindustrie erweitert: immer mehr Bereiche der intellektuellen Produktion (im weiten Sinn als „Kopfarbeit“) werden den Prinzipien von Waren- und Verwaltungsförmigkeit unterworfen; Populismus als Politikform macht auf strukturellen Populismus aufmerksam, der sich etwa in der Logik von „Einschaltquoten“ ausdrückt; auch in der Wissenschaft gewinnt das Standardisiert-Messbare gegenüber Inhalten an Bedeutung.28 In der „erweiterten Kulturindustrie“, die zur gegenwärtigen Phase des Kapitalismus gehört, gibt es für Wissensarbeiter kein außerhalb. Kulturindustrie gibt ihnen die Produktionsmittel vor, die aber zumindest in bestimmten Berufsgruppen umkämpft bleiben und mit dem Anspruch von möglichst selbstbestimmtem Arbeiten kollidieren. Für die wissenschaftliche Analyse von Kulturindustrie sind daher die vielfältigen Strategien interessant, sich in ihr zu bewegen: von angepassten über ironische bis zu (vermeintlich) verweigernden Haltungen. Auch für aktuelle Studien über Kulturindustrie bleiben die Arbeiten von Adorno zu diesem Thema der theoretische Referenzpunkt. In dem Ausmaß wie sich aber der Gegenstand Kulturindustrie verändert hat, ist es auch notwendig, die Theorie über diese zu aktualisieren. Die Impulse aus anderen Kulturtheorien und -soziologien in 27

Susanne Martin (2013) ist daher zuzustimmen, wenn sie darauf besteht, dass die nonkonformistischen Intellektuellen, insbesondere Adorno, die Haltung der „öffentlichen Einsamkeit“ repräsentieren – sosehr er sich auch auf Kulturindustrie, etwa in Form von Rundfunkvorträgen eingelassen hat. Seine Zuhörer bleiben im Unterschied zu Marcuse unbestimmt, er erteilt keine theoretischen Lektionen zum Überdenken der politischen Praxis an „sympathische Akteure“, sondern analysiert die Widersprüche, wie er sie wahrnimmt und dann begrifflich fasst. 28 Einige Aufsätze in Martin und Resch (2014) beschäftigen sich damit, insbesondere der von Kendra Briken (2014).

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Untersuchungen einzubeziehen, scheint mir das sinnvolle Vorgehen. Am Beispiel der Cultural Studies (Resch 1999) und Bourdieu (Resch 2012) habe ich das versucht.29 In diesem Beitrag wurde ausgelotet, was sich von der Protagonisten der Kritischen Theorie für eine zeitgemäße Theorie von Kulturindustrie lernen lässt. Wenn auf Zustimmung trifft, dass es sich bei Kulturindustrie um eine umfassende Vergesellschaftungsform handelt, müssen Produktion (inklusiv der Artefakt-Deutungen), Distribution und Rezeption der Gegenstand von Studien sein. Hinzu kommt, dass Kulturindustrie durch spezifische historische und gesellschaftliche Bedingungen gekennzeichnet ist. Die Vertreter der Kritischen Theorie haben bei ihren Untersuchungen unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: Kracauer war eher sozialhistorisch und sozialstrukturell orientiert; Löwenthal ist inhaltsanalytisch vorgegangen und hat zumindest programmatisch die Rezeption einbezogen (die wiederum von den Cultural Studies ins Zentrum gestellt wurde); Marcuse übernimmt am stärksten die Position des intellektuellen Beraters für linke politische Gruppierungen und reflektiert deren selbstverständliche, manchmal nur vermeintlich widerständige Haltungen; Horkheimers frühe Aufsätze stellen ein Modell bereit, um kulturindustrielle Politik zu beschreiben; Benjamin kann neben Kracauer kulturindustriellen Formen schon früh Möglichkeiten von Widerständigkeit abgewinnen; Adorno schließlich spürt in Artefakten das Kulturindustrielle und das Kunstvolle (als Widerständiges und Kritisches) auf. Jetzt, als ich die Schriften der Vertreter der Kritischen Theorie im Vergleich wieder gelesen habe, fällt auf: Marcuses Duktus ist belehrender, er weist seine Adressaten auf Reflexionsdefizite hin; Kracauer bleibt deskriptiver, was ihm von Adorno als Theoriedefizit vorgeworfen wird, zugleich denkt er aber „soziologischer“, bezieht auf soziale Positionen und die dazugehörigen Interessen und Lebensweisen, was in Kulturindustrie gerade „gut läuft“ oder „nicht gut läuft“; Löwenthal forciert einen soziologischen Kunstbegriff und bewerkstelligt so Herrschaftskritik, es ist eine unspektakuläre Haltung, die er den Lesern anbietet, eher Information als ein dezidiertes Anliegen; Adorno verwehrt sich mit seinem Stil einer schnellen Konsumption, was die Hörer und Leserinnen mit seinen Vorträgen und Texten anfangen, ist seine Sache nicht. Bei allen Unterschieden in den Inhalten und im Duktus: Das Bestehen auf der Notwendigkeit von Ideologiekritik hält ihre Arbeiten zusammen und verbindet sie mit den gegenwärtigen Anforderungen an Kultur-Analysen. Trotz der Konflikte, die die Vertreter der Kritischen Theorie miteinander ausgefochten haben: Gemeinsam haben sie zu einer Theorie der Kulturindustrie beigetragen, die für heutige Analysen einen Maßstab setzt. Ich meine daran ist weiterzuarbeiten,30 oder wie Adorno am 29 Alex Demirović (2002) bearbeitet das Verständnis von Intellektuellen und Kultur in der Kritischen Theorie und bei Gramsci. Er tut das in Rekurs auf die Cultural Studies, für die die Hegemonie-Theorie von Gramsci zunehmend wichtig wurde, während die Kritischen Theoretiker als „elitär“ abgewertet wurden und stellt verblüffende Gemeinsamkeiten zwischen Gramsci und Adorno heraus. 30 In „Das Schema der Massenkultur“ hat Adorno (1942) das selbst getan. Das Manuskript fand sich im Nachlass, es wurde 1942 abgeschlossen und dann nicht mehr bearbeitet.

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Ende des Kapitels in der Dialektik der Aufklärung, im in der ersten Veröffentlichung erwähnten, dann aber gestrichenen Zusatz, kurz bemerkt: „fortzusetzen“.

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Der individuelle Ausdruck der Kulturindustrie Steffen Hendel, Monique Lathan und Doreen Trümpler

Zusammenfassung

Adorno und Horkheimer fragten bereits 1944, woraus sich eine schier widerstandslose Akzeptanz der Adressaten von Massenmedien ergibt. Die kapitalistische Formationsspezifik massenmedialer Standards seien dabei nicht unmittelbar aus Konsumentenbedürfnissen hervorgegangen, sondern aus einem Zirkel von systematischer Manipulation und rückwirkenden Bedürfnissen, woraus eine homogenisierte Bedürfnislage entstehe, die nach ökonomischen Maßgaben allein dem Nutzen des Kapitalinteresses dient. Der mediale Zugriff auf subjektive Konsumenteninteressen vollziehe sich durchaus entlang liberaldemokratischer Rationalität und bedeute im kulturindustriellen Kontext, dass die (Medien-) Teilnehmer als Subjekte anerkannt werden. Anerkannt insofern, als sie frei agierende Rezipienten, jedoch gleichermaßen Konsumenten kulturindustrieller Produkte sind. So verengt sich Subjektivität auf die Sphäre der Konsumption, um die Subjekte der autoritären Struktur der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen zu subsumieren, denen sie zum einen alltäglich selbst unterworfen sind, die aber gerade in den Produkten der Massenindustrie ihre Entsprechung finden. Die Logik der liberalen Handlungsfreiheit hingegen basiert auf der Annahme, nur wer frei ist, kann handeln und nur wer handeln kann, ist regier- bzw. beeinflussbar – „die neue gouvernementale Vernunft braucht also die Freiheit, die neue Regierungskunst vollzieht Freiheit. Sie vollzieht Freiheit, d. h., sie ist verpflichtet, Freiheiten zu schaffen. Sie ist verpflichtet, sie zu schaffen und sie zu organisieren“ (Foucault 2006, S. 97). Vor diesem Hintergrund geht es entspreS. Hendel (*) Germanistisches Institut, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Lathan · D. Trümpler Hochschule Magdeburg-Stendal, Stendal, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_64

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chend nicht um die repressive Einpassung der Subjekte in bestehende Verhältnisse, sondern darum, wie sie sich selbst einpassen: „Warum sollte es nötig sein, individuelle Freiheiten und Gestaltungsspielräume einzuschränken, wenn sich politische Ziele wesentlich ‚ökonomischer‘ mittels individueller ‚Selbstverwirklichung‘ realisieren lassen“ (Lemke et al. 2000, S. 30)? Angesichts problematischer Teilhabebedingungen und chancenwidriger Existenzvoraussetzungen scheinen gesellschaftliche Zurichtung auf der einen und individuelle Selbstmodellierung auf der anderen Seite in einem gnadenlosen Willen zur Aneignung neuartiger sozialer Spielregeln aufzugehen. Praktisch evident und insofern paradigmatisch dafür sind TV-Formate wie Trash Talk, Konkurrenzshows, RealitySoups oder Makeover-Shows. Schlüsselwörter

Kritische Theorie · Kulturindustrie · Massenmedien · Subjektivität · Selbstmodellierung · Öffentlichkeit · Gouvernementale Vernunft · Oskar Negt · Alexander Kluge · Soziale Klasse

Die Öffentlichkeit ist ein wichtiger Problemgegenstand linker Theoretiker. Deren Interessen gelten der Öffentlichkeit indes nicht als solcher, sondern diese in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Realität. Dreierlei ist im Ansatz aller geteilt: Politischer Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind die kritischen Auswüchse der bürgerlichen Gesellschaft, sei es das soziale Elend, ein gerade stattfindender Krieg oder der Holocaust; diese Phänomene werden nicht als naturgegeben akzeptiert, sondern kritisch auf ihre Gründe hin befragt. Zweitens haben diese Theoretiker festgestellt, dass jene, für die diese Verhältnisse ebenso kritikabel sein müssten, trotzdem an ihnen festhalten und also offensichtlich widersprüchlich für diese Verhältnisse sind, zumindest aber nicht gegen sie Partei zu ergreifen scheinen. Die fast schon traditionell von der Linken gestellte theoretische wie praktische Frage nach der ‚Notwendigkeit des falschen Bewusstseins‘ wird von den im Folgenden vorgestellten Schlüsseltexten – drittens – in einer Hinsicht schon beantwortet: Der beobachtete widersprüchliche Wille der Individuen zu dem modernen westlichen Gemeinschaftswesen bzw. die Abwesenheit eines grundsätzlich kritischen Bezugs auf es, sei durch den Zugang zur Öffentlichkeit, insbesondere zu den historisch spezifischen Verfasstheiten, etwa der Massenmedien, vermittelt und gar gestiftet. Dieses Spannungsfeld zwischen materieller bzw. sozialer Problemlage und der spezifischen Verfasstheit medialer Öffentlichkeiten wird in den folgenden Texten in Anerkennung des jeweiligen historischen Kontexts und im gegenseitigen kritischen Bezug produktiv und konstruktiv erörtert. Der abschließende Teil dieses Artikels möchte ein Angebot für das hier aufgeworfene Problem nach der ‚medialen Notwendigkeit des falschen Bewusstseins‘ unterbreiten und für eine kleine Revision werben: Angesichts einer durch rechtliche, ökonomische und technische Entwicklungen sich etablierenden frei zugänglichen, demokratischen, mithin inklusiv ‚proletarischen‘ Öffentlichkeit erscheint das Ideal einer solchen Öffentlichkeit technisch, aber keineswegs politisch in der Art eingelöst, wie es die Autoren antizipierten. Die vom

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Diskurs ehemals Ausgeschlossenen formulieren als Subjekte des Diskurses keine dissente Position, sie produzieren sich vielmehr als an diesen Verhältnissen Interessierte. Die Frage nach dem Grund der Zustimmung der Individuen für kritikwürdige Verhältnisse sollte sich demnach weniger an der Verfasstheit ihrer öffentlichen Repräsentation abarbeiten als an den Inhalten ihres Wollens. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (2003) identifizierten in den 40erJahren des 20. Jahrhunderts in demokratisch verfassten Gesellschaftsordnungen der spätkapitalistischen Ära ein unkritisches mediales Rezeptionsverhalten breiter Bevölkerungsschichten. Sie erklärten dies strukturell und immanent notwendig durch die kapitalistischen Bedingungen bestimmt, in denen Kultur stattzufinden hat, wodurch diese eben erst kapitalistisch werde. Eine Medien-Kulturprodukte hervorbringende kapitalistische Industrie unterliegt wie jeder andere Produktionszweig den ökonomischen Prinzipien der Kapitalakkumulation. So werde es ihr notwendig eigenes Hauptanliegen, jeden Einzelnen als Hörer bzw. Zuschauer mit einer möglichst unbegrenzten Kulturproduktvielfalt zu erreichen. Daraus folge nicht nur eine absolute Vereinnahmung aller Kultur unter das Diktat des Kapitals als Ware. Ebenso sei in einer derart etablierten Kulturindustrie eine entsprechende gesellschaftliche Ideologie hervorgebracht. Schließlich sei damit die Transformation des Rezipienten zum Konsumenten bzw. Kunden untrennbar verbunden und so die zwangsläufige Vergesellschaftungsform individueller Entwicklung und Erfahrung praktisch durchgesetzt. Somit projizieren sich die Prinzipien der ökonomischen Reproduktion auf Alltagswahrnehmung, Alltagsgewohnheiten und Alltagshandeln; die Kulturindustrie ist schließlich zum „Filter“ der gesamten Lebenswelt geworden. Durch die dadurch vermittelte Homogenität trägt das gesamte Dasein den Stempel des Jargons.1 Differenzen zwischen intellektuellem und kulturindustriellem Denkangebot, zwischen Praxis und Theorie, Alltag und Ideologie sind nicht weniger nivelliert als die Beziehungen zwischen Wirtschafts- und Staatsmacht, die im Produktionsprozess der Kultur einen gemeinsamen sozialkonstitutiven Nenner finden. Aufgrund des immer gleichen Stils der Kulturprodukte zeichne sich deren ästhetische Beschaffenheit dadurch aus, dass Form und Inhalt im kulturellen „Reich der Administration“ und in dessen Kategorisierungsmustern zusammenfallen. Auf diese Weise spiegle die in der Kultur-als-Ware erzwungene Identität stets nur bestehende gesellschaftliche Hierarchien wider – deren absolute Imitation in der Kunst, wo sie keinen autonomen Bereich zwischen Subjekt und Produktions-, Kultur- und Gesellschaftsstruktur mehr zu schaffen vermag. Die Realität sei gedoppelt: Die Welt verlängere sich im Kinofilm. Die Individuen verhalten sich entsprechend. Sie seien zum einen blinde Akteure der Produktionsverhältnisse, denen sie unterworfen sind; zum anderen erweisen sich auch die ‚freien‘ Zeiten außerhalb der Produktion als bloße Reproduktionszeiten der Arbeitskraft, und zwar dergestalt, als sich in der kulturellen Zerstreuung des Publikums der „stählerne Rhythmus“ der Maschine fortsetzt und die

„Alles Erscheinende ist so gründlich gestempelt, daß nachgerade nichts mehr vorkommen kann, was nicht vorweg die Spur des Jargons trüge, auf den ersten Blick als approbiert sich auswiese“ (Adorno und Horkheimer 2003, S. 136).

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Routine der Produktionsverhältnisse widerholt. Für Adorno und Horkheimer hat sich damit ein ‚zirkulärer‘ Wirkungszusammenhang etabliert: Die kapitalistische Kultur gebäre sich als ein quasi subjektloser, gesamtgesellschaftlich wirkungsmächtiger repressiver „[. . .] Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschließt. [. . .] Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft“ (Adorno und Horkheimer 2003, S. 129). In einem derart utilitaristisch organisierten gesamtgesellschaftlichen Gefüge werde nun alles affirmiert, was in Form der Unterhaltung das Interesse und die Nachfrage der Konsumenten erreicht, bis hin zur Nivellierung politischer Gegensätze, die aus der Verquickung der politischen mit der wirtschaftlichen Sphäre in der Kulturindustrie hervorgehe: „Ihr Sieg ist doppelt: Was sie als Wahrheit draußen auslöscht, kann sie drinnen als Lüge beliebig reproduzieren“ (Adorno und Horkheimer 2003, S. 143). Kultur werde so allein durch ihre Verfasstheit als Industrie zur flächendeckenden Bewusstseinsindustrie und damit zum Massenbetrug. Unter dieser Perspektive von Adorno und Horkheimer scheint jegliche bewusste und emanzipative Stellung des Individuums zur Welt von vornherein obsolet; das Subjekt beweise sich zum einen als Abziehbild und zum anderen in Form des Kultur-Konsumenten als ideeller Auftraggeber der kapitalistischen Gesellschaft. Neben dem immanenten Widerspruch, wonach Adorno und Horkheimer eine absolute, gar ‚repressive‘ Bedingtheit ihrer Mitmenschen innerhalb der kapitalistischen Kulturverhältnisse postulieren, ihnen selbst aber eine Emanzipation daraus in Form eines gar elaborierten theoretischen Texts möglich ist, erscheint die Frage nach der unbedingten Parteinahme der Subjekte für die Verhältnisse auch dahingehend fragwürdig, als sie die Zustimmung zu den politischen und ökonomischen Verhältnissen un-eigentlich, nämlich durch die Bedingungen der strukturellen wie formalen Verfasstheit als Kultur-Ware zu erklären versuchten, ihnen also die Frage nach einer eigentlichen, willentlichen Zustimmung des Subjekts zu dieser seiner Umwelt abwegig erschien. Bei aller sensiblen Kritik gegenüber den Erscheinungen der kapitalistischen Kulturindustrie und -ideologie fußt ihr Verständnis der Mitmenschen auf einer überraschend gutmeinenden Unterstellung. Das bürgerliche Individuum ist ihnen zufolge im Grunde schon kritisch gegenüber den Verhältnissen, in denen es, nunmehr praktisch hineingeworfen, bloß zur Parteinahme manipuliert wird. Zu Beginn der 1960er-Jahre analysierte Habermas (1990) die liberalen Elemente einer sozialstaatlich verfassten bürgerlichen Öffentlichkeit und deren Transformationen vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung in Frankreich, England und Deutschland. Zur Folie dieser Analyse wird der normative, mithin politische Begriff einer Öffentlichkeit, die, mit allen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft realisiert, in sich das Versprechen eines einvernehmlichen Miteinanders einlöse. Danach ist Öffentlichkeit der funktionelle Raum, in dem alle gleichermaßen ihre subjektiven Belange mit-, unter- und gegeneinander organisieren und bündeln, um kritisch auf sie einwirken können. Anders gesagt: Ein Einwand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse einzelner Mitglieder resultiere aus der unvollständig verwirklichten öffentlichen Rede. Diese Identifikation ist gemeint, wenn Habermas grundsätzlich schreibt: „Die bürgerliche Öffentlichkeit steht und fällt mit dem

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Prinzip des allgemeinen Zugangs. Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit“ (Habermas 1990, S. 156). Habermas entwickelt dieses Ideal, das er hier erstmals ausformuliert und das Grundlage seines philosophischen Gesamtwerks wird, angesichts dessen, dass es sich historisch noch nicht bewahrheitet habe, mithilfe des Nachvollzugs eines historischen Strukturwandels. Der zentrale Wandel, dem sich die Entstehung bzw. die politische Profilierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit verdanke, fällt mit dem Ende des aristokratischen und der Herausbildung des bürgerlichen Staats am Ende des 18. Jahrhunderts im Übergang zum 19. Jahrhundert zusammen. In Deutschland sei jene kleine, aber kritische bürgerliche Öffentlichkeit dem städtischen Kleinbürgertum entsprungen. Dieses habe gegenüber dem noch vorherrschenden Typus der repräsentativen Öffentlichkeit, die allein den feudalen Herrschaftsständen als Agitationsplattform gedient habe und die das Volk lediglich adressierte, politische Geltung beansprucht. Inhalt dieses Aufbegehrens galt der Kritik daran, dass bisher Stand und Geburt über die Rechtsstellung der Einzelperson entschieden hatten, nun indes allgemeine Grundfreiheiten gewährt werden sollten. Diese Grundfreiheiten bezogen sich auf die Gleichheit vor dem Gesetz von Person und Eigentum, insbesondere der Intimsphäre der patriarchalischen Kleinfamilie, dem Verkehr der Privateigentümer untereinander sowie der Meinungs-, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Eine entscheidende Voraussetzung dieses Wandels der bürgerlichen Klasse zu einem aktiven, gestaltenden Moment der politischen Verhältnisse war mit den Medien gegeben. Als mediale und funktionelle Basis der sich entwickelnden kritischen bürgerlichen Öffentlichkeit diente ein zunehmend verdichtetes Zeitungs- und Verlagswesen. Mittels einer solchen durch Presse etablierten Öffentlichkeit verstand sich das Bürgertum nun nicht mehr als Adressat, sondern als Gestalter eines Gemeinwesens, das zunehmend ‚bürgerlich‘ wurde, und gar als Subjekt desselben. Dieser Öffentlichkeit, so Habermas, kam fortan der normative Status eines Organs der Selbstvermittlung zu, sie fungierte als Organisationsprinzip des bürgerlichen Rechtsstaats: Nur was die öffentliche Meinung beauftragte, sollte der bürgerliche Staat verwirklichen. Dass die kritischen Lebensverhältnisse – vornehmlich die soziale Frage – mit dem Ende personaler und willkürlicher Regentschaft und der Etablierung des auf Freiheit sich berufenden und auf Gewährung von Freiheitsrechten sich verpflichtenden bürgerlichen Staats nicht endeten und dieser damit seinem eigenen Anspruch zu widersprechen schien, erklärt sich Habermas getrennt von der politischen und ökonomischen Verfasstheit des bürgerlichen Staats, nämlich mit der unvollständigen Realisierung des öffentlichen Kritikwesens in ihm: Die rechtliche Sicherung des freien Gebrauchs des Privateigentums, und damit des ökonomischen Prinzips des kapitalistischen Markts, wurden zwar für jeden Staatsbürger verbindlich, und selbst der bürgerliche Staat als solcher verpflichtete sich in seinen Grundgesetzen auf den Schutz dieser Freiheiten; der Erfolg in diesen Sphären und nicht Sonderabsprachen und -ansprüche sollten über das individuelle Lebensglück entscheiden. Die Freiheit in der Anwendung des Privateigentums zeigte sich jedoch für wenige ertragreich und erträglich. Habermas sieht dieses ungleiche Auskommen nicht in der Parteilichkeit

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der bürgerlichen Ordnung für das Privateigentum, sondern diskursiv verschuldet und dies letztlich politisch kompensiert: Während die bürgerliche – kapitalisierendes Eigentum besitzende – Öffentlichkeit innerhalb der medialen Rahmenbedingungen in der Lage war, Publikum zu erreichen und öffentliche Kommunikationsmedien der Berichterstattung wie die Zeitungen- und Zeitschriftenproduktion als Organ öffentlicher Meinungsartikulation und -bildung zu etablieren, bliebt ihr Publikum lediglich eines ihresgleichen. Ökonomisch abhängige gesellschaftliche Gruppen wie u. a. die der Lohnarbeiter waren von dieser spezifischen bürgerlichen Öffentlichkeit nicht angesprochen bzw. nicht Bestandteil der existierenden diskursiven Öffentlichkeit. Weil es diesen Gruppen an den Mitteln mangelte, für staatsbürgerliche Rechte nach eigenem Zuschnitt kritische Mit- und Einsprache zu erheben, sollte für sie im Rahmen einer demokratischen Kontrolle durch den sozialen Staat ihre Privatautonomie gesichert werden. Dass der von Habermas kritisch betrachtete, grundsätzlich sich polemisch ausschließende Nutzen bürgerlicher Rechte für die Besitzenden und Arbeiter im bürgerlichen, selbst im sozialen Staat nicht der bürgerlichen Ordnung mitsamt den bürgerlichen Freiheiten geschuldet, sondern in der unvollständigen Realisierung der kritischen, emanzipatorischen Öffentlichkeit innerhalb dieser Ordnung zu verorten ist, sei durch eine zweite – negative – Voraussetzung der historischen bürgerlichen Öffentlichkeit bedingt gewesen: Habermas rekurriert dafür auf den Gedanken, den er von seinen Lehrern Adorno und Horkheimer entlieh, wonach die wirtschaftliche Verfasstheit der Öffentlichkeit bzw. die ihrer technischen Medien in deren Organisation und Vertrieb zugleich deren Inhalte vorstrukturiere bzw. korrumpiere. Durch die massenhafte Produktion der bürgerlichen Medienöffentlichkeit sei diese darüber hinaus von wachsenden Kapitalinvestitionen abhängig geworden, die angesichts marktwirtschaftlicher Erfordernisse wachsender Effizienz zu einer Zuspitzung ihrer selektiven Mechanismen führte. Zusammen bedeutete dies also nicht nur, dass die Medienmacht aufgrund ihrer wirtschaftlichen Konstitution die Öffentlichkeit im privatwirtschaftlich bürgerlichen Sinne mit zunehmender Intensität vorstrukturiere, sondern auch, dass freie Zugangsmöglichkeiten zum Mediensystem und damit zum Schlüssel gesellschaftlicher Emanzipation praktisch nicht existierten. Für Habermas sind dies ergänzende Faktoren dafür, die prekäre Situation der bürgerlichen Öffentlichkeit weiterhin vor dem Hintergrund des idealen, per se emanzipatorischen Versprechens des öffentlichen Diskurses zu bewerten. Die durch den bürgerlichen Staat fixierten Bedingungen des Rechts und so des Eigentums seien nicht der Grund für die in seinen Augen kritikablen materiellen Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft, sondern angesichts der neuen kultur-historischen Entwicklungen seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die massive Einschränkung politischer Öffentlichkeit, deren „Refeudalisierung“ und deren Miss- bzw. lediglich parteilicher Gebrauch für oligopolartige Interessen einzelner Großinvestoren. Das zeigte sich in den Phänomenen von aufkommender und sich ausdifferenzierender Werbe- und Konsumkultur oder auch massenmedialer Wahlkampagnen. Habermas spricht hier von einem erneuten Strukturwandel der Medien, die nun eine lediglich ‚manipulative‘ Öffentlichkeit herstellten und so nur die Rudimente eigentlicher, emanzipatorischer Privatautonomie bedeuteten. Die durchaus kritische Bilanz über die Gegenwartskultur, die Habermas selbst zieht, basiert einerseits auf dem Festhalten

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an politisch-emanzipatorischer Willensbildung der Gesellschaft mittels einer umfassenden Öffentlichkeit, auf der verbindlichen gesamtgesellschaftlichen Relevanz der Öffentlichkeit als konstruktives politisches Ordnungsmoment des bürgerlichen Staats und nimmt andererseits die durchgängig widersprüchlichen Resultate in den Blick; die technische Verwirklichung einer allgemein verfügbaren medialen Öffentlichkeit muss sich mit ihrer politischen Wirkungslosigkeit konfrontieren: „Tendenzen des Zerfalls der Öffentlichkeit sind unverkennbar: während sich ihre Sphäre immer großartiger erweitert, wird ihre Funktion immer kraftloser. Gleichwohl ist Öffentlichkeit nach wie vor ein Organisationsprinzip unserer politischen Ordnung“ (Habermas 1990, S. 57). Der faktischen Öffentlichkeit stehe damit ihr eigenes Ideal gegenüber. Öffentlichkeit sei indes kein starres Gebilde, emanzipatorisch sei sie in potentia. Angesichts ihrer historischen Entwicklungsbedingungen sei davon auszugehen, dass die Öffentlichkeit ihre eigentlichen gesellschaftlich emanzipatorischen Möglichkeiten noch entfalten werde. Um dies herbeizuführen, sei aber ein Eingriff in diese Öffentlichkeit von außen notwendig: Der bürgerliche Staat müsse gegen das „nicht mehr intakte Publikum“ (Habermas 1990, S. 337) nicht mit der Abschaffung der ‚desintegrierenden‘ Gründe infolge des im eigentlichen Sinn ‚konstitutionellen‘ freien eigentumsbedingten Mit- bzw. Gegeneinanders vorgehen, sondern könne bei Beibehaltung der Gründe mit den entsprechenden Mitteln zum Ausbau und Schutz des Diskurses politisch integrieren. Dieser praktische Wandel vom liberalen zum (sozial-) politischen Selbstverständnis sei ideell legitimiert durch das ihm zugrunde liegende Prinzip des Allgemeininteresses und müsse durch den freien Zugang jedes Individuums zum Mediensystem gesichert und auch durch öffentliches Mitspracherecht innerhalb desselben durchgesetzt werden. Aus der Sicht Habermas’ würde die bürgerliche Öffentlichkeit erst dann zu einer gesellschaftlichen Macht, in der individuelle Interessen und gesellschaftlicher Diskurs wieder zusammengingen und sich miteinander vermittelten, zu einer eigentlichen, kritischen, emanzipatorischen Öffentlichkeit (Habermas 1990, S. 337).2 So bietet der Strukturwandel der Öffentlichkeit Habermas eine in sich widersprüchliche Antwort auf seine historische Beobachtung, wonach Individuen einerseits die bürgerliche Gesellschaft konstituieren, sie aber andererseits mitnichten gleichermaßen als Subjekte derselben erscheinen. Die Frage nach dem Grund der Zustimmung der Individuen zu den ihnen zumeist widrig gegenübertretenden Verhältnissen versteht Habermas nicht wie Adorno und Horkheimer als Resultat einer Repression. Stattdessen antwortet er auf die gemeinsame Problemlage mit der Annahme einer quasi-individuellen Freiheit, die als Möglichkeitsform auf einer liberal-demokratischen gesellschaftlichen Freiheit beruht. Dass die Bedingung für diese Möglichkeit entweder über das Privateigentum ökonomisch vermittelt ist oder erst durch den Staat kompensatorisch erzwungen werden muss, „Anstelle eines nicht mehr intakten Publikums individuell verkehrender Privatleute [würde] ein Publikum der organisierten Privatleute treten. Nur sie könnten unter heutigen Verhältnissen über die Kanäle der innerparteilichen und verbandsinternen Öffentlichkeit, und auf Grund der für den Verkehr der Organisationen mit dem Staat und untereinander in Kraft gesetzten Publizität, wirksam an einem Prozess öffentlicher Kommunikation teilnehmen. An diesem hätte sich die Bildung politischer Kompromisse zu legitimieren“ (Habermas 1990, S. 337).

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bedeutet für Habermas’ Modell emanzipatorischer Öffentlichkeit keinen Mangel an der darin zu verfolgenden ‚Freiheit‘. Denn das bedeutet eben auf der anderen Seite, dass der ‚notwendige‘ Grund der Frage nach der Parteinahme der bürgerlichen Individuen für die ihnen zunächst widrigen Verhältnisse sich auf die positive ‚Potenz‘ der gesellschaftlichen Bedingungen beziehe. Freie Entfaltung sei praktisch, wenngleich nur in der diskursiven Teilhabe am öffentlichen Kommunikationsprozess, eingelöst. Oskar Negt und Alexander Kluge (1972) legten sich ebenso das Problem vor, dessen sich schon Horkheimer, Adorno und Habermas angenommen hatten: „Warum nehmen die unterdrückten Klassen hartnäckig an einer Öffentlichkeit teil, die ihre wichtigsten Interessen ausschließt?“ (Negt und Kluge 1972, S. 136). Indes ist die Frage, inwiefern die Partizipation an der Öffentlichkeit die Lebenswirklichkeit der in ihr Gefassten existenziell bewirkt, pointierter formuliert. Negt und Kluge gehen von ‚Wirksamkeiten‘ dieser Öffentlichkeit aus, die sie von der Sache her und in ihrer Geschichte im Wesentlichen polit-ökonomisch begreifen. Grundlage ihrer Analyse ist ein Blick auf den Staat als bürgerlichen bzw. kapitalistischen, welcher durch einen profunden ökonomischen Gegensatz der Klassen und darin in der Relativierung von Lebensinteressen der proletarischen Klasse, konstituiert ist. Negt und Kluge verweisen ausführlich auf die Geschichte des bürgerlichen Staats, in welchem im Verlauf des 17., 18. und 19. Jahrhunderts Eigentums- und Freiheitsrechte kodifiziert und exekutiert wurden, und zwar zugunsten der das produktive Eigentum besitzenden Klasse des Bürgertums und gegen die Klasse der mittellosen proletarischen Existenzen. Diese unterdrückte Klasse der Proletarier war folgend doppelt von der Öffentlichkeit und, so Negt und Kluge, damit substanziell von der Realisierung ihrer Bedürfnisse ausgeschlossen: zunächst reell, indem sie selbst weder aktiv noch passiv an der existierenden Öffentlichkeit partizipierten, und schließlich formal, indem sie sich als Partizipierende lediglich mit bürgerlichen Legitimationsformen in ihr bewegten und somit die Repräsentation eigener Interessen vereitelten und zu diesen eigenen gar ‚quer‘ agierten. Die historischen Kämpfe der proletarischen Klasse um Anerkennung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft sei von dieser „Schwäche“ (Negt und Kluge 1972, S. 11) gekennzeichnet: ob in Gewerkschaften, Parteien, Verbänden oder in Massenmedien habe sich die proletarische Öffentlichkeit als ausdrucks- bzw. wirkungslos erwiesen; Öffentlichkeit sei eine „Legitimationsfassade“ der politischen Interessen des Bürgertums geblieben. So diagnostizieren Negt und Kluge für die mittlerweile entwickelte kapitalistische Gesellschaft folgenden Stand: Die aktuelle Öffentlichkeit entbehre politisch linker Positionen und sie weise keine immanent proletarischen Formen öffentlicher Äußerungsmöglichkeiten auf. Sie stellen sich die Frage, „ob es überhaupt zur bürgerlichen Öffentlichkeit wirksame Formen von Gegenöffentlichkeit geben kann“ (Negt und Kluge 1972, S. 7). Mit dieser Perspektive, erstens Formen und zweitens ihre Wirksamkeit zu thematisieren, haben Negt und Kluge die ‚soziale Frage‘, Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, zur Frage nach den Bedingungen, insbesondere nach den zur Verfügung stehenden Formen des Zursprachekommens und Aushandelns, gemacht. Der zunächst offenen Frage nach der Existenz solcher Formen steht deren finite Funktionalität bei. Negt und Kluge konstatieren, proletarische Formen

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gibt es gegenwärtig nicht. Die stattdessen gültigen bürgerlichen Formen aber ‚blockierten‘ ein proletarisches Selbstbewusstsein wie sie eine theoretische und praktische Distanzierung der Proletarier zur bürgerlicher Öffentlichkeit verhinderten: In den Einteilungen, d. h. den Formen dieser Öffentlichkeit, drückt sich die ‚Diktatur der Bourgeoisie‘ aus. [So] verhindern die Formen, z. B. die Gewaltenteilung, die Trennung zwischen öffentlich und privat, zwischen Politik und Produktion, zwischen Verkehrssprache und wirklichem gesellschaftlichen Ausdrucksvermögen, zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst einerseits und Interessen und Erfahrungen der Massen andererseits, schon den bloßen Ausdruck von Gesellschaftskritik, Gegenöffentlichkeit und Emanzipation der Mehrheit der Bevölkerung. Es ist ausgeschlossen, daß Erfahrungen und Interessen der proletarischen Klasse im weitesten Sinne sich unter den Bedingungen dieser Zerspaltung aller zusammengehörigen qualitativen Elemente von Erfahrung und gesellschaftlicher Praxis organisieren können. (Negt und Kluge 1972, S. 14; Herv. i. O.)

Negt und Kluge sehen in den Formen, mit denen man Öffentlichkeit ergreift, notwendige Bedingungen für eine inhaltliche, materielle Änderung. Dass diese eigenen Formen nicht etabliert sind, wird als Entfremdung der proletarischen Massen von sich wie von der existenten, sie exkludierenden, somit ‚Schein‘Öffentlichkeit verstanden; außerdem wird an diesen nicht existenten Formen die mangelnde Bedingung emanzipatorischer politischer Praxis herausgestellt. Dem Mangel dieser formalen Bedingung für einen gesellschaftlichen Wandel der Proletarier widmen Negt und Kluge einen Großteil ihrer Analyse, sie wollen herausstellen, erstens inwiefern dieser Mangel selbst unbedingtes Produkt der bereits gelaufenen kapitalistischen Verwertung ist und zweitens wie dies dem ‚dialektischen‘ Kapitalismus genauso eigen ist wie die Existenz der bürgerlichen Formen. Negt und Kluge machen verschiedene Angebote, die (reelle) Nichtexistenz und (formale) Wirkungslosigkeit proletarischer Öffentlichkeit durch die ihr vorausgesetzten Verhältnisse, bürgerliche bzw. kapitalistische, zu erklären. Das diskutieren sie unter zwei Perspektiven: zum einen bezogen auf sozio-psychologische und zum anderen bezogen auf polit-ökonomische Bedingungen. Zu den ersten „Sozialisationsdeterminanten“ zählen sie u. a. die schon durch die Verhältnisse ‚dialektisch‘ kontaminierten Instanzen der individuellen triebökonomischen Struktur, frühkindlichen Erziehung, Familie oder Sprache. In ihnen ist das Individuum den ökonomischen Verhältnissen ohnmächtig, denn als bereits ‚geprägtes‘ ausgeliefert, wie es diesen Verhältnissen zugleich sein Eigentliches, sei es bewusst oder nicht, entgegenhält. Diese Verinnerlichung des gesellschaftlichen Gegensatzes in den Arbeitern bewirke die Entfremdung von ihrem übergeordneten Bedürfnis, nämlich das nach Erfahrung von gesellschaftlicher Ganzheit. Illustrer Beleg der Entfremdung innerhalb der kapitalistischen Verwertung, in der sich das Individuum ansonsten praktisch erfolgreich bewegen mag, und zugleich der psychologischen Widerständigkeit dagegen ist die Fantasie. Diese sei ferner weniger ihrem Inhalt nach kritisch verfasst denn formal „praktische Kritik“ (Negt und Kluge 1972, S. 67). Zu der anderen Gruppe der polit-ökonomischen Bedingungen zählen Negt und Kluge insbesondere die Instanzen der kapitalistischen Verwertung. In Referenz zu Marx sehen Negt und Kluge die Ware als „Grundlage und Indiz für die Verkehrung und Verschleierung

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des gesellschaftlichen Bewußtseins der Massen“ (Negt und Kluge 1972, S. 144). Im Alltag, außerhalb der Fabrik, wirke diese entfremdend hinein bis in die individuellen Bedürfnisse; am Arbeitsplatz sind es die Produktionsverhältnisse, die eine „industrielle Produktionsöffentlichkeit“ etablieren, die unmittelbar sogar die Privatbereiche und das Bewusstsein der Proletarier besetzen. Der Staat selbst, im 19. Jahrhundert noch politische Gewalt der Ökonomie, erscheint mittlerweile als ‚pouvoir neutre‘, offen und empfänglich für die einzig existente Öffentlichkeit des Bürgertums (Negt und Kluge 1972, S. 117 ff.). Diese Bedingungen änderten, so Negt und Kluge, nicht „die Gesamtsituation der Klassenkämpfe“, jedoch würde damit der nur scheinbar transparenten politischen Öffentlichkeit „eine höhere undurchsichtige Ebene“ hinzugefügt (Negt und Kluge 1972, S. 43). Das Kapitalinteresse sei somit nicht nur in alle Lebensbereiche und -zusammenhänge vorgedrungen, sondern müsste selbst gar nicht mehr gegen den Souveränitätsanspruch des Staats und gegen eine proletarische Öffentlichkeit zur Geltung gebracht werden. Die gesamte gesellschaftliche Erfahrung, da sie allein in der bürgerlichen Öffentlichkeit repräsentiert ist, sei darin bestimmt und reproduziere aus sich heraus ihre Verhältnisse. Somit wechselte letztendlich das Verhältnis von oben und unten, von Zwang und Wille nach ihm, von Gewalt und Schein. Gewalt bzw. Wirklichkeitsmacht gehe nicht mehr von einer aufgenötigten staatlichen Eigentumsordnung aus, sondern von einem un-eigentlichen Bedürfnis aller Bürger. Dieses – falsche, un-eigentliche – Bedürfnis aller, zuvorderst aber der Proletarier nach einer exklusiv ihnen schadenden kapitalistischen Verwertung ist so sehr zur ‚zweiten Natur‘ geworden, dass ihnen selbst nach der „Auflösung des Scheins der Öffentlichkeit“ etwa in historischen Brüchen „nach räumlich verstandener Kontinuität und Identität“, also erneut nach der Re-Installation eines kapitalistischen Staats verlange (vgl. Negt und Kluge 1972, S. 139 ff.). Mittlerweile sei die kapitalistische Gesellschaft in einem Maß fortgeschritten, dass die „kapitalistische Verwertung des Arbeiterbewußtseins“ nur nicht die „Ausdrucksmittel für das Bewußtsein seiner Klassenlage“ entwendet habe, darüber hinaus sei zu dieser „objektiven Entfremdung [. . .] die Entfremdung vom Bewußtsein dieser Entfremdung“ dazugekommen (Negt und Kluge 1972, S. 306). Die anfängliche Setzung, nur eine immanent proletarische Erfahrung könne eine ihnen eigene Öffentlichkeit konstituieren und die dem Proletariat angemessenen Verhältnisse bereiten, und die Frage, ob es dem gemäße „wirksame Formen von Gegenöffentlichkeit“ gebe, sind damit beantwortet: Theoretisch scheint eine Emanzipation möglich, denkbar und in die praktischen Verhältnissen der Gesellschaft, der Waren und der Erfahrung selbst ‚dialektisch‘ eingeschrieben bzw. über sich hinausweisend; praktisch indes – und das haben Negt und Kluge theoretisch nachgezeichnet – erscheint die kapitalistische Gesellschaft aufgrund ihrer auch für Arbeiter unentfliehbaren bürgerlichen Erfahrung als sich immerzu selbst beauftragende, reproduzierende gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Analyse endet somit selbst ambivalent – der letzte Satz macht theoretisch eine Bedingung auf, die praktisch unmöglich einzuholen scheint: „Wird die Erfahrung nicht in den Formen proletarischer Öffentlichkeit organisiert, so bildet sie den Rohstoff für immer neue Aneignungsprozesse des Kapitals“ (Negt und Kluge 1972, S. 310).

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Negt und Kluge haben die kapitalistische Gesellschaft in ihren ökonomisch und politisch gesetzten Gegensätzen und mit ihren schadhaften Folgen für einen Teil der kapitalistischen Gesellschaft, der proletarischen Klasse, deutlich herausgestellt und problematisiert – die Gründe für diese Gegensätze und Folgen, also vor allem auch der Grund für die ‚hartnäckige Zustimmung‘ zu diesen wurden indes in die Bedingungen für all sie verlagert. Dadurch erscheint etwa die Zustimmung nicht geklärt mit dem Inhalt der Zustimmung, sondern mit den Bedingungen für sie, und zwar in notwendige. Darin scheinen Negt und Kluge den Gedankengang von Horkheimer und Adorno aufzugreifen. Deren ‚repressiver Zirkel‘ von kapitalistischer Produktion und Öffentlichkeit findet sich hier zum einen wieder – wie Negt und Kluge zum anderen die Idee der Öffentlichkeit als Möglichkeitsform miteinbeziehen, für die sich Habermas ausgesprochen hat. Die Repression durch Öffentlichkeit wie die Möglichkeit zur Öffentlichkeit vermitteln Negt und Kluge dialektisch und als ‚Widerspruchstendenz‘ der kapitalistischen Gesellschaft. In keinem theoretisch ausschließendem Verhältnis stehen diese beiden Erklärungen zueinander, sondern sind sowohl als auch essenzielle Bestimmung der Sache. Zwang auf der einen und Freiheit auf der anderen Seite werden vermittelt zur bedingten Freiheit. Indes, das ist die Leistung von Negt und Kluge, ist die Bedingung nicht durch ein Drittes der Gesellschaft und seiner Individuen gesetzt, sondern ist eine mittlerweile ihr hineingeschriebene Eigenschaft. Die kapitalistische Gesellschaft weist kritikable Verhältnisse auf, die nicht durch den repressiven Zirkel als ausweglose Situation gesetzt sind, aber genauso wenig als Freiheit-in-spe gewertet werden. Die Analyse von Negt und Kluge endet indes in einem praktischen Defätismus, wonach es einen einfach gefassten Willen gegen die Existenzbedingungen der proletarischen wie bürgerlichen Klasse, die Konstituenten der kapitalistischen Gesellschaft, allein wegen der Existenz dieser Klassen und ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs nicht geben kann. Negt und Kluge wenden sich in ihrem Buch den Massenmedien im Besonderen zu. Relevanz vor anderen hat diese Sphäre für sie deshalb, weil in den Massenmedien bzw. dem aktuellen Medienverbund genau der Stoff behandelt wird, der zugleich „Rohstoff“ einer potenziellen proletarischen Öffentlichkeit nur sein kann (Negt und Kluge 1972, S. 246). In der Sphäre der Medienindustrie als Teil der ‚industriellen Produktionsöffentlichkeit‘ gehe potenziert die Entfremdung der Gesellschaft und ihre ‚falsche‘ Reproduktion vonstatten. Den kritischen Blick auf die Medien als Teil praktischer Öffentlichkeit haben ebenso Horkheimer und Adorno sowie Habermas geteilt. Auch sie haben in der stofflichen und formellen Verfügbarkeit von Zeitungswesen, Kinoindustrie oder Fernsehen das entscheidende und politisch problematische Moment der Willensbildung begriffen. Im Unterschied zu ihren Vorgängern machen Negt und Kluge keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen den kapitalistischen Bedingungen und Freiheit auf. So wie Foucault, der über die „neue gouvernementale Vernunft“ schreibt, dass diese „also die Freiheit“ braucht und diese tatsächlich auch exekutiert – „Sie vollzieht Freiheit, d. h., sie ist verpflichtet, Freiheiten zu schaffen. Sie ist verpflichtet sie zu schaffen und sie zu organisieren“ (Foucault 2006, S. 97) –, sehen auch Negt und Kluge Freiheit als ein Mittel, das vom bürgerlichen Staat gesetzlich kodifiziert, im wahrsten Sinn bewirtschaftet und

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(zunächst) politisch gegen den Willen vor allem der proletarischen Individuen durchgesetzt wurde. „Warum sollte es nötig sein, individuelle Freiheiten und Gestaltungsspielräume einzuschränken, wenn sich politische Ziele wesentlich ‚ökonomischer‘ mittels individueller ‚Selbstverwirklichung‘ realisieren lassen“ (Lemke et al. 2000, S. 30) – Freiheit und ökonomische Repression erscheinen so nicht als Gegensätze, sondern neben Staat und Kapitalisten eben auch für die Lohnarbeiter in einem praktischen, nützlichen Verhältnis. Damit haben Foucault sowie Negt und Kluge – im Unterschied zu Horkheimer et al. – Wesentliches an der besonderen Form Herrschaft, wenn sie ‚bürgerlich‘ ist, festgehalten. Die Herrschaft ist nicht durch einen partikularen Willen z. B. eines Monarchen oder vermittels einer religiösen Sendung bestimmt. Bürgerliche Herrschaft setzt sich durch mit dem von der Politik für die Gesellschaft als verpflichtend bestimmten Reproduktionsprozess, der sich im Kapitalismus Verwertung zum Zweck gesetzt hat. In diesem sind die Subjekte nicht Diener eines fremden Willens, sondern nehmen sich ihres eigenen Fortkommens willen aller ökonomischen Umstände zunächst praktisch an. In Bezug auf diesen Willen, in Bezug auf die Subjektmächtigkeit der kapitalistischen Individuen, stellen nun Negt und Kluge eine systemimmanente Bedingtheit heraus, die eine ‚geistige‘ Vereinnahmung der klassenmäßigen Denkfähigkeit postuliert (Negt und Kluge 1972, S. 307). Gegen das Verständnis gerichtet, der Mensch im Kapitalismus funktioniere als „totes Ding“, stärken sie zum einen zwar das freie Denken und Verhalten, sehen dies zum anderen aber massiv und restlos durch die Verhältnisse bedingt. Somit ist das Subjekt zwar nominell behauptet, praktisch aber tritt es nur als Objekt seiner vorausgesetzten Bedingungen in die Welt. Nimmt man die eingestandene Denkfähigkeit, den Subjektstatus der Individuen ernst, müsste man also wieder zurückverweisen auf den Willen und seinen Inhalt, also die Frage nach der individuellen Erklärung und Rationalisierung dessen, worauf sich das freie Individuum zum Beispiel ökonomisch bezieht. Die medialen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte scheinen die WillensFrage, also die Frage nach den Gründen, weshalb eine in den kapitalistischen Verhältnissen ‚unterdrückte‘ Klasse selbst ‚hartnäckig‘ an diesen festhält, zu stärken. Die Begründung, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die proletarischen Massen von den Medien ausgeschlossen bzw. in ihnen unterrepräsentiert seien – so wie es zumindest Horkheimer, Adorno und Habermas vertraten –, ist historisch eingeholt, wenngleich sich die polit-ökonomische Lage der Arbeiter vom Prinzip her nicht gewandelt hat: Die Medienangebote haben sich vervielfältigt. Das hat zum einen technische Gründe z. B. in der dramatischen Verbilligung von Druck- und Sendetechnik. Hinzu kamen politische Überlegungen, wonach die quasi-Monopolisierung der Meinung durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten als obsolet empfunden wurde. So haben sich die Medienangebote in einem Maße ausgefächert, dass vor allem mit Blick auf die seit den 1980er-Jahren rechtlich zugelassenen privatwirtschaftlichen TV-Unternehmen und politisch geförderten kommunalen TV- und Radiomedien eine Zunahme immanent publikumsaffiner Kanäle zu konstatieren ist. Innerhalb dieser neuen wie auch der bereits etablierten, so zumindest auch öffentlich-rechtlichen Sender, haben sich Formate herausgebildet, die sich explizit der

Der individuelle Ausdruck der Kulturindustrie

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Lebenswirklichkeit der arbeitenden Bevölkerung annahmen. Unter ihnen sind zahlreiche Formate zu finden, die wie Dokusoaps aller Art sich gar um einen möglichst nahen, authentischen Blick auf die Lebenslage auch des Prekariats befleißigen. Zusätzlich stehen im Zuge der Digitalisierung den Arbeitern Medien im Wesentlich zugangsfrei zur Verfügung, in denen sie nicht nur passiv die Inhalte von Beitragenden ihresgleichen rezipieren, sondern sich selbst aktiv öffentlich betätigen können. Die zahlreichen Formate der Daily- und Dokusoaps (GZSZ und Super Nanny), der Reality- und Talk-Shows (Big Brother, Popstars und Arabella), der Blogs und der Vielzahl sozialer Netzwerke (Twitter und Facebook) basieren auf der erfahrungsbasierten Aneignung von Alltagsrealität auch der Nicht-Eigentümer, richten sich zum Teil explizit an diese und fordern deutlich zur Partizipation auf. So sind Lebensbereiche in den Fokus genommen worden, „die unter fordistischen Verhältnissen weitgehend der öffentlichen Wahrnehmung verborgen waren: persönliche und intime Beziehungen sowie individuelle Strategien in der Bewältigung von Arbeitsanforderungen“ (Kaindl 2005, S. 347). Dieser Einschluss der proletarischen Rezipienten und Produzenten in den öffentlichkeitsbildenden Medien, gemessen an der Zahl und gemessen der Intensivisierung der Befassung damit, fördert indes in deren Interessen nichts prinzipiell Verschiedenes zu ihren ‚bürgerlichen‘ Mitmenschen und zu den kapitalistischen Rahmenbedingungen zutage. Öffentlichkeit ergreifend, besetzend oder gar etablierend zeigt sich, dass nicht der technische Mangel, Willen herauszubilden oder diesen zu repräsentieren, Grund für den ‚un-eigentlichen‘ Willen zu diesen kapitalistischen Verhältnissen zu sein scheint. Stattdessen zeigt sich ein profundes Bemühen der medial Agierenden. Erstaunlich ist in jedem dieser Formate, dass sich darin ein unbedingter Wille nicht nur zur Bewältigung dieser Verhältnisse in ihnen ausdrückt; darüber hinaus lassen die Formate erkennen, wie sich die nun tatsächlich eindeutig frei und für sich sprechenden proletarischen Subjekte darum bemühen, der Öffentlichkeit und zuweilen im Wettbewerb untereinander zu beweisen, inwiefern sie im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten das „Alltagsgeschäft der Selbstbehauptung in der Konkurrenz“ (Kaindl 2005, S. 351) beherrschen. Die proletarischen Individuen scheinen somit keinen un-eigentlichen Willen als Zustimmung zu diesen Verhältnissen zu formulieren; umgekehrt verweist ihre Praxis unmittelbar darauf, dass sie willentlich eine positive Haltung zu dieser Gesellschaft einnehmen. Darin drückt sich für sie genau der zustimmungswürdige Identitätszusammenhang der bürgerlichen mit der proletarischen Klasse aus. Inwiefern darin nun der ‚Fehler des Bewusstseins‘ von sich in diesen Verhältnissen besteht, das wäre also nicht an den Bedingungen des Erfahrens, des AussprechenKönnens, jedoch an dem Inhalt ihres Willens zu führen. Das müsste mit den Argumenten geleistet werden, die sachlich begründen, worin die Proletarier sich einen falschen Begriff machen, wenn sie glauben, dass sie den notwendig schlechten Stand ihrer Klasse im Kapitalismus überwinden, wenn sie sich als Proletarier in diesem Kapitalismus nur vorzüglich betätigten. Nicht eine Öffentlichkeit per se, sondern eine Öffentlichkeit eines begründeten Einwands wäre im eigentlichen Sinn die Gegen-Öffentlichkeit, von der auch der praktische Einwand gegen die durchweg beanstandeten kapitalistischen Verhältnisse denkbar ausgehen könnte.

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Literatur Adorno, T. W., & Horkheimer, M. (2003). Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug. In T. W. Adorno & M. Horkheimer (Hrsg.), Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (S. 128–176). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2006). Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J. (1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kaindl, C. (2005). „Du musst ihn fühlen, den Scheiß!“ Neoliberale Mobilisierungen im Imaginären und der Kampf um neue Lebensweisen am Beispiel von Big Brother und Popstars. Das Argument, 261, 347–360. Lemke, T., Krasmann, S., & Bröckling, U. (2000). Gouvernementaliät, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In U. Bröckling, S. Krasmann & T. Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen (S. 7–40). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Negt, O., & Kluge, A. (1972). Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Medien im Spannungsfeld zwischen Kulturindustrie, Neoliberalismus und Medienhandeln Das Spektrum kritischer Medienanalyse Ricarda Drüeke und Elisabeth Klaus

Zusammenfassung

Die derzeitigen gesellschaftlichen Umbrüche sind in vielfältiger Weise mit Medien- und Kommunikationsprozessen verwoben. Der Beitrag gibt einen Überblick über kritischen Gesellschafts- und Kulturtheorien, die heute in der deutschsprachigen Kommunikations- und Medien-wissenschaft Verwendung finden und von besonderer Relevanz für die Bearbeitung aktueller Problemstellungen sind. Dabei werden ausgehend von Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Thesen zur Kulturindustrie weitere theoretische Ansätze vorgestellt, die explizite und implizite Anknüpfungspunkte an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule aufweisen. Schlüsselwörter

Kommunikationswissenschaft · Kritische Medientheorien · Kulturindustrie · Medienanalyse · Publikumsforschung

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Kritische Medien- und Kommunikationswissenschaft – eine erste Annäherung

Die derzeitigen gesellschaftlichen Umbrüche, die häufig auf Prozesse der Globalisierung und Neoliberalisierung zurückgeführt werden, sind in vielfältiger Weise mit Medien- und Kommunikationsprozessen verwoben. Mediatisierung, die Durchdringung aller gesellschaftlichen Teilbereiche und menschlichen Handlungsmuster durch Medien, hat Friedrich Krotz (2001, 2007) als einen weiteren jener Metaprozesse gesellschaftlichen Wandels beschrieben, die die gesellschaftliche UmgestalR. Drüeke (*) · E. Klaus Fachbereich Kommunikationswissenschaft, Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_65

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tung vorantreiben. Damit rücken Konzepte in den Fokus der Medien- und Kommunikationswissenschaft, die erstmals im Rahmen der Medienanalyse der Frankfurter Schule ausgearbeitet wurden. Interdisziplinarität, Geschichtlichkeit und Kritik – so die Kennzeichen der Kritischen Theorie1 (Demirovic 2007) – finden sich neben der politökonomisch orientierten Medienforschung, die der Kritischen Theorie am nächsten steht, auch in anderen Ansätzen „kritischer“, häufig auch transnational orientierter, Medienforschung (Hepp 2004, S. 47). Kritische Theorien entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit dem sozialen, politischen und ökonomischen Status quo, nehmen darüber hinaus die sozialen Bedingungen von Kommunikation in den Blick, um so weitreichende Mechanismen der Ungleichheit zu analysieren (Honneth 2007). Die Normen und Werte einer Gesellschaft sowie die Herstellung hierarchischer Machtverhältnisse, Inklusionen und Exklusionen sind auch immer an mediale und kommunikative Prozesse geknüpft. Theodor W. Adornos Diktum „Theorie ist unabdingbar kritisch“ (Adorno 1957/1970, S. 81) beinhaltet die Erkenntnis, dass es eine objektive, wertfreie Gesellschaftswissenschaft nicht geben kann. Weil die kapitalistische Gesellschaft durch antagonistische Beziehungen gekennzeichnet ist, bedeuten „Objektivität“ und „Wertfreiheit“ stets die Affirmation des Bestehenden und damit eine Parteinahme für die gesellschaftlichen Eliten. Alle kritischen Theorien sind deshalb normative Theorien. Ihr Ziel ist die Bereitstellung von Wissen für gesellschaftliche Interventionen im Interesse einer umfassenden Gesellschaftsveränderung und einer Ermächtigung unterdrückter und marginalisierter Gruppen (Fuchs 2011, S. 12). Unser Beitrag gibt einen Überblick über jene kritischen Gesellschafts- und Kulturtheorien, die heute in der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft Verwendung finden und von besonderer Relevanz für die Bearbeitung aktueller Problemstellungen sind. Ausgehend von Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Ausführungen zur Kulturindustrie und zur Rolle des Publikums sowie ihrer erkenntnistheoretischen Positionierung stellen wir im Weiteren jene Theorien bzw. theoretischen Ansätze oder Theorieprojekte in ihren Grundzügen vor, die in der Medien- und Kommunikationswissenschaft Resonanz erhalten haben. Wir erläutern die expliziten und impliziten Anknüpfungspunkte an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, diskutieren Unterschiede und Weiterentwicklungen. Unter kritischen Gesellschafts- und Kulturtheorien verstehen wir also in diesem Beitrag nicht nur solche Ansätze, die sich explizit auf die Kritische Theorie und ihre Hauptvertreter beziehen, sondern ebenso jene normativen Entwürfe, die eine gerechtere, demokratischere Gesellschaft zum Ziel haben und die sozialen und kulturellen Mechanismen der Herstellung gesellschaftlicher Ungleichheit untersuchen. Eine Analyse von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Ungleichheiten leisten in Zur Schreibweise: Wenn wir im Folgenden die Großschreibung, also „Kritische Theorie“, verwenden, dann ist damit der sich um die Frankfurter Schule gruppierende Forschungs- und Wissenschaftszusammenhang gemeint. Sprechen wir hingegen von „kritische Theorie(n)“ in der Kleinschreibung und auch im Plural, dann meinen wir das viel breitere Spektrum gesellschaftskritischer Positionierungen.

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diesem Verständnis neben den Arbeiten von Jürgen Habermas auch die Cultural Studies, die Gender Studies, Vertreter_innen einer kritischen politischen Ökonomie der Medien wie Noam Chomsky sowie die Kulturtheoretiker Pierre Bourdieu und Michel Foucault. Dies entspricht weitgehend der von Craig (1999, S. 147) vorgelegten Beschreibung kritischer Theorien: „The tradition of critical social theory (broadly construed) runs from Marx through the Frankfurt School to Habermas, or alternatively through other strands of late Marxism and post-Marxism to current theories of political economy, critical cultural studies, feminist theory, and related schools of theory associated with new social movements (such as postcolonial theory and queer theory).“ Immer beinhalten solche Festlegungen auch Ausschlüsse und Vereinfachungen: Längst nicht alle Arbeiten, die sich etwa auf die Cultural Studies oder auf Pierre Bourdieu beziehen, sind einem gesellschaftskritischen Anspruch verpflichtet. Andere Beiträge wiederum, die beispielsweise den Symbolischen Interaktionismus oder die Systemtheorie zugrunde legen, haben durchaus einen aufklärerischen Anspruch, auch wenn deren wissenschaftstheoretische Verankerung nicht-normativ ist. Besonders offenkundig ist eine solche wissenschaftstheoretische Uneindeutigkeit im (sozialen) Konstruktivismus. Unsere Ausführungen umreißen damit ohne Anspruch auf Vollständigkeit das Spektrum kritischer Theorien, das in aktuellen Medienanalysen Verwendung findet.

2

Die Kritische Theorie als eine Grundlage kritischer Medienund Kommunikationswissenschaft

Zentral für die Analyse und Einschätzung von Medien in Horkheimers und Adornos Werk ist das Kapitel zur Kulturindustrie in der „Dialektik der Aufklärung“ (1989). Die Aufklärung, so Adorno und Horkheimer, ist durch das Aufkommen der Kulturindustrie und der industriellen Reproduktion sowie Vermarktung kultureller Güter existenziell bedroht. Mit dem Begriff der Kulturindustrie bringen Adorno und Horkheimer zum Ausdruck, dass die Sphäre der Kultur ihre Eigenständigkeit verloren hat und Kulturgüter nunmehr als Massenware produziert und an Zielgruppen von Konsument_innen marktförmig verteilt werden. Populärkulturelle Inhalte tragen dann dazu bei, dass die Gesellschaft entpolitisiert und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse legitimiert werden. Adorno und Horkheimer gehen davon aus, dass die Menschen durch die Verbreitung der Unterhaltungskultur getäuscht werden, da diese das Vergnügen von Rezipient_innen standardisiert und sie darüber hinaus von einer Einsicht in ihre Situation abhält, wodurch eine relative Zufriedenheit mit dem kapitalistischen System aufrechterhalten wird. Die Menschen werden zum Teil einer ent-individualisierten „Masse“, die ihre wirklichen Bedürfnisse nicht mehr kennt, sondern im immer neuen Amüsement Befriedigung sucht (Horkheimer und Adorno 1989, S. 208). Die Kulturindustrie gaukelt zwar vor, dass die Menschen zwischen verschiedenen Produkten und Angeboten frei wählen können, faktisch wird jedoch das „Immergleiche“ angeboten und triviale Inhalte im Interesse der Mächtigen und zum Erhalt des Status quo produziert. Müller-Doohm (2000, S. 79) identifiziert

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entsprechend drei Tendenzen, die die Wirkungen der Kulturindustrie kennzeichnen: Konformismus, Trivialisierung und Standardisierung. Der Zusammenhalt der durch antagonistische Interessen bestimmten Gesellschaft basiert Adorno und Horkheimer zufolge auf Manipulation und Verführung der Masse durch die Kulturindustrie, die eine „globale, standardisierte und antiindividuelle Kultur“ vermittelt (Hepp 2004, S. 52). Dadurch werden die Menschen als Konsument_innen entmündigt und verlieren darüber hinaus die Möglichkeit als Staatsbürger_innen die Gesellschaft mitzugestalten. Die gezielte Vermittlung kultureller Inhalte – das, was Adorno mit „Aufklärung als Massenbetrug“ bezeichnet – hat eine funktionale Seite: Im Gewande der Aufklärung bzw. Informationsvermittlung werden die Massen getäuscht, indem hegemoniale Realitätsdeutungen beispielsweise durch Zeitungen, Film, Rundfunk und Fernsehen produziert, verbreitet und legitimiert werden. Daran sind besonders mediale Unterhaltungsangebote beteiligt. Als Folge davon wird die bestehende Ordnung affirmativ bestätigt und die Bildung einer kritischen Öffentlichkeit nachhaltig verhindert. In seinem Aufsatz „Kann das Publikum wollen?“ fragt Adorno (1963, S. 55), ob das Publikum „überhaupt wollen [soll]“ und wenn ja: „Was soll es wollen“? Die vom Publikum geäußerten Wünsche, Programm- bzw. Konsumpräferenzen, so Adornos Schlussfolgerung, sind dabei keineswegs Ausdruck eines originären oder aktiven Wollens der Rezipient_innen, da statt ihrer wahren Bedürfnisse durch die Kulturindustrie erzeugte Scheinbedürfnisse befriedigt werden. Müller-Doohm (2008, S. 54 f.) sieht vor allem in Adornos späteren Arbeiten einige Indizien dafür, dass dieser dem Publikum durchaus zutraut, die Manipulation zu durchschauen und dadurch Rezipient_innen dem durch die Kulturindustrie bestimmten Teufelskreis entkommen könnten (Winter und Zima 2007, S. 143 ff.). Nähere Ausführungen von Adorno, an die eine kritische Publikumsforschung sinnvoll anknüpfen könnte, finden sich dazu aber nicht. Bis heute werden unter Bezugnahme auf die Kritische Theorie Unterhaltung und unterhaltende Medienformate in den sozial- und medienwissenschaftlichen Debatten als Bedrohung gesehen und keineswegs als Bereicherung einer öffentlichen Kommunikationskultur interpretiert. Solche in der Tradition der Kritischen Medientheorie stehenden Kommunikationswissenschaftler_innen betonen, dass eine Manipulation durch die Kulturindustrie mit Hilfe primär unterhaltsamer, populärkultureller Medieninhalte erfolgt und die Herausbildung autonomer, selbstständig und bewusst urteilender und sich frei entscheidender Individuen damit nachhaltig verhindert wird. Massenmedien avancieren dann zu Instanzen des Massenbetruges, die die Träume und Sehnsüchte der Menschen durch kommerzielle Angebote zu befriedigen suchen, jedoch faktisch zu ihrer Entmündigung beitragen. Kerstin Goldbeck (2004) zeigt in einer Diskursanalyse der Fernsehkritiken in den Feuilletons deutscher Qualitätszeitungen, dass die bürgerliche Fernsehkritik bis heute auf das Vokabular und die kulturpessimistischen Bewertungen der Kritischen Theorie zurückgreift, wenn es um Unterhaltungsformate geht, die als trivial, banal oder als „trash“ angesehen werden. Damit wird zugleich eine Eliteorientierung festgeschrieben, die bei Adorno durch die strikte Trennung zwischen Hochkultur und Populär-/Unterhaltungskultur, der Unterscheidung zwischen dem authentischen Kunstwerk und

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seiner bloßen Reproduktion angelegt ist. An diese Tradition haben in der Medienund Kommunikationswissenschaft vor allem jene Forscher_innen angeknüpft, die den Zusammenhang von Medientechnologie und Gesellschaftsentwicklung thematisieren, wie es etwa für Marshall McLuhans bekannte Setzung „The Medium is the Message“ (1964/1994) oder Neil Postmans Überzeugung „Wir amüsieren uns zu Tode“ (1985/2008) gilt. Bekanntermaßen wurden im Kontext der Frankfurter Schule aber nicht nur kulturpessimistische Blicke auf die Entwicklung der Medien geworfen. So sah etwa Walter Benjamin (1963) die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken als Chance für eine Demokratisierung der Gesellschaft, woran wiederum die Brechtsche Radiotheorie und später Hans-Magnus Enzensberger (1970) mit seinem „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ anknüpften. Überlegungen zur Teilhabe der Menschen an der Gestaltung der Angebote der Massenmedien haben durch das Internet und die prinzipiellen Möglichkeiten einer dialogischen Kommunikation und einer umfassenderen Partizipation neue Relevanz erhalten (Winter 2010). Die beiden Mediensoziologen Stefan Müller-Doohm, der u. a. bei Adorno, Horkheimer und Jürgen Habermas studiert hat, sowie Dieter Prokop (2002, 2005), der seit 2000 in einer Reihe von Bänden eine „neue kritische Medienforschung“ bzw. „neue kritische Kommunikationsforschung“ vertritt, haben die Medienanalyse der Frankfurter Schule in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten gestellt.

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Ansätze einer kritischen Kommunikations- und Medienwissenschaft heute

Während in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft das Erbe Adornos und Horkheimers nicht zuletzt durch den Einfluss der konservativen Meinungsforscherin und Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann aktiv verdrängt und damit fast vergessen wurde (vgl. Scheu 2012, S. 296)2 hat die durch die Frankfurter Schule begründete Medientheorie eine sehr viel größere Rolle im französischsprachigen Raum gespielt und gilt hier wie auch in anderen europäischen Ländern als eine der wesentlichen Theorien, die die Medien- und Kommunikationswissenschaft als Disziplin mit fundiert haben (Averbeck 2008). Insbesondere durch die Arbeiten von Pierre Bourdieu und Michel Foucault stellt die französische Forschung heute einen wichtigen Bezugspunkt für die deutschsprachige Medienund Kommunikationswissenschaft dar. Explizit in der Tradition der Kritischen Theorie stehen Habermas’ Kommunikations- und Öffentlichkeitstheorien sowie materialistische Ansätze einer kritischen politischen Ökonomie der Medien. Habermas fragt dabei insbesondere nach den Möglichkeiten der Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit, während die kritische politische Ökonomie an die durch Andreas Scheu (2012) hat die Frage „Ist die ‚Kritische Kommunikationsforschung‘ aus der deutschen Kommunikationswissenschaft verdrängt worden?“ in den Mittelpunkt seiner Untersuchung gestellt. Er kommt zu dem Schluss, dass dies nicht eindeutig zu beantworten wäre. Allerdings sprechen u. a. das Berufsverbot für Horst Holzer, auch Einmischungen in Berufungsverfahren für eine aktive und bewusste Verdrängung. 2

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Adorno und Horkheimer begründete Ideologiekritik und deren Manipulationsthese anknüpft. Schließlich sind mit den Cultural Studies und den Gender Studies zwei kritische Theorieprojekte entstanden, die ein breites disziplinäres Spektrum umfassen sowie vielfältige theoretische Bezugspunkte integrieren. Im Folgenden skizzieren wir diese Ansätze, verdeutlichen deren jeweiligen Bezug zur Kritischen Theorie und zeigen beispielhaft auf, in welchen Problembereichen sie im Rahmen einer kritischen Medienanalyse aktuell Verwendung finden.

3.1

Jürgen Habermas: Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeiten

Als Schüler Adornos und Nachfolger von Horkheimer am Frankfurter Institut für Sozialforschung steht Jürgen Habermas in einer direkten Traditionslinie mit den Begründern der Kritischen Theorie. So griff Habermas (1968) etwa in den Positivismusstreit ein, stützte darin die Position Adornos und argumentierte für eine historisch und philosophisch verankerte sowie dialektisch vorgehende Sozialforschung. Die Sorge um die Demokratie ist zentraler Motor des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns von Habermas, deshalb liegt seinen Arbeiten weniger als bei Adorno und Horkheimer ein ideologiekritischer Impetus zugrunde als vielmehr ein demokratiekritischer. Ihn interessieren die Grundlagen und Bedingungen für eine deliberative Demokratie, in der die Bürger_innen mitreden und mitbestimmen können (dazu auch Müller-Doohm 2008, S. 56). Seine beiden Hauptwerke „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962/1990) und „Theorie des Kommunikativen Handelns“ (1981a, b) beschäftigen sich zentral mit der Frage wie eine demokratische Öffentlichkeit hergestellt werden kann, welche Gefahren ihr drohen und an welchen kritisch-normativen Maßstäben sich der politische Diskurs messen lassen muss. Damit berühren Habermas’ Arbeiten Kernthemen der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962/1990) untersucht Habermas die bürgerliche Öffentlichkeit als historischen Ausgangspunkt der westeuropäischen Demokratien. Die Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit ist demzufolge durch einen gemeinsamen und von Herrschaftszwängen freien kommunikativen Austausch der Bürger_innen gekennzeichnet. Doch schon bald verkommt die bürgerliche Öffentlichkeit „zum Selbstzweck kommerziell fixierter Verbraucherhaltung“ (Habermas 1990, S. 258), u. a. weil die Presse zum „Einfallstor privilegierter Privatinteressen in die Öffentlichkeit“ wird (Habermas 1990, S. 260). Das zweckrationale, technisch-organisatorische Handeln wird dominant und bedroht die Lebenswelt als die im kommunikativen Handeln erzeugte Sphäre, die kulturelle und soziale Verständigung ermöglicht. Politische Öffentlichkeit ist für Habermas ein zentraler Sektor der Lebenswelt und bildet zugleich das herrschaftsfreie Fundament der Demokratie, da sie „keine Arena marktförmiger, sondern diskursiver Beziehungen“ darstellt (Fraser 2001, S. 109). Habermas’ Öffentlichkeitsmodell, seine spezifischen Konzepte von deliberativer Demokratie und politischer Öffentlichkeit entwerfen einen normativen Idealtypus, anhand dessen er Schwachstellen der europäischen Demokratien aufzeigen kann (siehe auch den Überblick in Burkart und Lang 2011, S. 42 ff.).

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Wie Adorno und Horkheimer mischt sich Habermas in öffentliche politische Debatten ein und kritisiert die Verabsolutierung zweckrationaler Herrschaft. Zugleich lehnt er jedoch die in der „Dialektik der Aufklärung“ begründete Manipulationsthese in ihrer Rigorosität ab. Habermas interessiert sich – damit die essentialisierende Vorstellung von einer ununterscheidbaren „Masse“ hinter sich lassend – für Sozialisations- und Verständigungsprozesse der Menschen, wobei er auf Max Weber, George Herbert Mead und auch auf die neuere Linguistik zurückgreift sowie mit Stuart Hall einen der zentralen Vertreter der Cultural Studies zumindest erwähnt. Habermas will zeigen, dass in der bürgerlichen Gesellschaft Möglichkeiten ihrer Kritik angelegt sind, und er erkundet die Bedingungen für die Aktivierung dieses kritischen Potenzials. Viel klarer als Adorno, bei den Äußerungen zur negativen Wirkung der Unterhaltungs- und Massenkultur auf ihre Konsument_innen eindeutig überwiegen, attestiert Habermas den Massenmedien ein ambivalentes Potenzial. Zwar bestätigten Rezeptionsforschung und Programmanalysen, so Habermas (1981b, S. 573), „jene kulturkritischen Thesen, die vor allem Adorno mit einer gewissen Überprägnanz entwickelt hat. Inzwischen sind aber ebenso die Widersprüche herausgearbeitet worden“, die u. a. aus konkurrierenden Interessen, journalistischem Auftrag, der Notwendigkeit der Publikumsbindung und den technischen Entwicklungen resultieren. Habermas (2008, S. 137) hat sich für die Beibehaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingesetzt wie auch für eine öffentliche Subventionierung von Qualitätszeitungen plädiert, da er unabhängige Informationsmedien als „Rückgrat der politischen Öffentlichkeit“ ansieht. Habermas’ historisch verankerte Vorstellungen von Öffentlichkeit haben zu einer Reihe kritischer Auseinandersetzungen und auch zu Vorschlägen für ihre Weiterentwicklung geführt. Oskar Negt und Alexander Kluge (1972) weisen auf die Bedeutung von Erfahrungen für die Herausbildung von Alternativen zur bürgerlichen Öffentlichkeit hin und stellen der bürgerlichen Öffentlichkeit eine proletarische Öffentlichkeit gegenüber. Im Rahmen der sozialen Bewegungsforschung ist ihr Beitrag intensiv rezipiert worden. Nancy Fraser (2001, S. 107–109) hat ausgearbeitet, dass die bestehenden Ungleichheitsverhältnisse die Existenz verschiedener, von ihr „subaltern“ genannte Gegenöffentlichkeiten bedingen und diese eine wichtige demokratische Funktion erfüllen. Kritik feministischer Wissenschaftlerinnen hat sich daran entzündet, dass Habermas den Ausschluss von Frauen aus der frühen bürgerlichen Demokratie zunächst ausgeblendet hat, den er jedoch in der Neuausgabe des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ (1990, S. 18) konstatiert. In Habermas’ neueren Beiträgen erhalten Bürgerinitiativen und Interessengruppen einen bedeutenden Platz für die Verwirklichung der Demokratie (Habermas 2008, S. 163–165). Mit dem Internet und den damit gegebenen dialogischen, interaktiven und transnationalen Kommunikationsformen sind Fragen nach neuen Deliberations- und Partizipationsmöglichkeiten virulent geworden. Dabei schwankt die Bewertung des Internets für die Entwicklung einer politischen Öffentlichkeit zwischen zwei Polen: einer grundlegenden Skepsis und eher optimistischen Prognosen. Interessanterweise wird Habermas’ Vorstellung einer deliberativen Öffentlichkeit von Anhänger_innen beider Pole zitiert. Habermas selbst hat über das Internet im Kontext

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liberaler Demokratien eher skeptisch geurteilt, da er durch die Internetkommunikation eine Fragmentierung des Publikums und damit eine Unterminierung nationaler Öffentlichkeiten befürchtet (Habermas 2008, S. 161–162). Diese Position findet sich auch bei jenen, die die Veränderungen im heutigen Journalismus, die Krise der Printmedien und die geringere Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa als ein Indiz für einen „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ anführen, der eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie darstelle (z. B. Imhof 2006). Dieser Position stehen jene gegenüber, die in der Internetkommunikation Chancen für die Herausbildung neuer, transnationaler Gegenöffentlichkeiten sehen, wie es etwa für Rainer Winters Untersuchung „Widerstand im Netz“ (2010) gilt. Nicht nur verweist Winter auf Habermas’ Konzept einer deliberativen Demokratie, er stimmt mit Habermas auch in der Einschätzung zivilgesellschaftlicher Bewegungen wie Attac oder Occupy überein. Beide sehen darin transnational organisierte und der Demokratie förderliche Gegenöffentlichkeiten. Mehrheitlich wird in der Medien- und Kommunikationswissenschaft heute aber die Ambivalenz des Internets hervorgehoben, das neue Formen der Deliberation ermöglicht, aber auch neuen menschenfeindlichen Positionen ein Forum verschafft. Dass politische Kommunikationsräume im Internet zwar ein größeres politisches Meinungsspektrum zeigen, damit aber nicht zugleich auch ein nachhaltiger demokratischer Diskurs ermöglicht wird, hat etwa Ricarda Drüeke in ihrer Diskursanalyse zu einer österreichischen Migrationsdebatte gezeigt (Drüeke 2013).

3.2

Noam Chomsky und das Propagandamodell: Ein Schlüsseltext der kritischen Politischen Ökonomie der Medien

Noam Chomsky und Habermas sind gleichermaßen prominente und öffentlich präsente Intellektuelle, die zu einer Vielzahl an gesellschaftlichen Themen Stellung beziehen und dabei über Medien und in Medien kommunizieren. Habermas’ positive Haltung zu überregionalen Qualitätszeitungen und Nachrichtenmedien steht jedoch in eklatantem Gegensatz zu deren Bewertung durch Chomsky, für den diese in besonderem Maße die Propagandafunktion von Massenmedien im Kapitalismus demonstrieren. In „Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media“ (1988/2002) führen Edward S. Herman und Noam Chomsky aus, dass es gerade Medien wie die New York Times, Time, Newsweek oder CBS News sind, die an der Herstellung eines gesellschaftlichen Konsens’ im Sinne der wirtschaftlichen und politischen Eliten entscheidend beteiligt sind. Neben einer spezifischen Auswahl und beruflichen Sozialisation von systemkonformen Journalist_innen identifizieren Herman und Chomsky fünf Strukturmerkmale kapitalistischer Medien, die als Filter für deren Nachrichtenselektion dienen: die Größe und Eigentumsstruktur der Medienunternehmen, die Werbefinanzierung der Medien, deren Fokus auf etablierte organisierte Interessen, das Droh- und Machtpotenzial der großen Wirtschaftsunternehmen und schließlich ein durch den Antikommunismus – dessen Funktion, Chomsky zufolge, heute teilweise der „Krieg gegen den Terror“ übernommen hat –

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legitimierter Doppelstandard in der Auswahl, Begründung und Bewertung von Nachrichten. „Manufacturing Consent“ ist ein Schlüsseltext der kritischen Politischen Ökonomie der Medien, eines Ansatzes, der inhaltlich durch den Bezug auf Marx und im deutschsprachigen Raum auch auf die Kritische Theorie gekennzeichnet ist, dessen Protagonist_innen jedoch personell nur relativ lose untereinander vernetzt sind. Christian Fuchs (2011) hat argumentiert, dass Marx für jedwede kritische Kommunikationsforschung heute von fundamentaler Bedeutung ist, weil er das Instrumentarium entwickelt hat, um die Kapitalakkumulation der Kulturindustrie und den Warenfetischismus zu analysieren und ideologiekritische Forschung zu betreiben. Weiters sind Ideologiekritik, Manipulation und Repression durch und mit Hilfe von Medien in der kritischen Politischen Ökonomie wichtige Konzepte, die mit Adornos und Horkheimers Vorstellungen vom Wirken der Kulturindustrie übereinstimmen. Dabei wird, ähnlich wie in der „Dialektik der Aufklärung“, keine Verschwörung oder bewusste Manipulation des Publikums bzw. der Konsument_innen vorausgesetzt. Propaganda, Verführung, Manipulation sowie Standardisierung in und durch Medien ergeben sich vielmehr als eine Folge des kapitalistischen Gesellschaftssystems allgemein sowie der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in den Medien im Besonderen. Anders als bei Adorno und Horkheimer liegt der Fokus der kritischen Politischen Ökonomie nicht nur auf dem Unterhaltungsangebot der Medien, sondern zumindest ebenso stark auf Nachrichten und Informationsangeboten. Während die Manipulationsthese geteilt wird, gibt es zwischen den heutigen Vertreter_innen der kritischen Politischen Ökonomie der Medien unterschiedliche Positionen dazu, ob Alternativmedien und widerspenstige Erfahrungen von Konsument_innen ein emanzipatorisches Medienhandeln ermöglichen können oder nicht (Fuchs 2011). Im deutschsprachigen Raum ist die kritische Politische Ökonomie der Medien heute vor allem mit den Namen Horst Holzer, Manfred Knoche, Andrea Grisold und Werner A. Meier sowie Christian Fuchs verbunden. Diese setzen in ihren Forschungsagenden unterschiedliche Schwerpunkte. Als Soziologe hat sich Holzer vor allem für die unterschiedlichen Organisationsformen und verschiedenen Funktionsbereiche kapitalistischer Medien interessiert (Holzer 1973). In „Medienkommunikation“ (1994) hat er erstmals, die historisch-materialistische Medientheorie mit handlungstheoretischen Ansätzen in Verbindung gebracht, etwa mit der Habermasschen Kommunikationstheorie. Knoche (u. a. 2013) sowie Meier (u. a. 2003, 2007) analysieren aus einer medienökonomischen Perspektive die Monopolisierung der Produktionsbedingungen sowie die fortschreitenden Konzentrationsprozesse in den Medien. Knoche (2005, S. 407) verwendet den Begriff der „Kritischen Politischen Ökonomie der Medien“ in Großschreibung in bewusster Anspielung auf Marx’ Hauptwerk „Das Kapital: Zur Kritik der Politischen Ökonomie“. Unter „Kritischer Politischer Ökonomie“ subsumiert er die historisch-materialistische Medientheorie, wie sie im deutschsprachigen Raum vor allem in den 1970er-Jahren neben Holzer etwa von Franz Dröge, Jörg Huffschmid und Wulf D. Hund entwickelt wurde, die Arbeiten zur proletarischen Öffentlichkeit von Negt und Kluge sowie die sich auf die US-amerikanische kritische Politische Ökonomie beziehenden Arbeiten von Grisold und Meier (2007) (ausführlich dazu Klaus und Thiele 2007).

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Die kritische Politische Ökonomie ist eine Makrotheorie, in deren Mittelpunkt das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und (Massen)Medien, von Demokratie, Ökonomie und meinungsmachender Industrie steht. Durch globalisierungs- und kapitalismuskritische Bewegungen, durch die Verschärfung und die neue Sichtbarkeit globaler und lokaler Ungleichheiten sowie durch Monopolisierungs- und Umbauprozesse innerhalb der Informations- und Medienindustrie hat der Ansatz neue Aktualität erhalten. Das Internet hat darüber hinaus die Mediensysteme stark verändert und neue Formen der Warenproduktion und -zirkulation hervorgebracht. Dabei unterliegen auch digitale Medien ebenso wie die klassischen Massenmedien den Strukturen und Logiken einer kapitalistischen Gesellschaftsorganisation. Eine Erforschung der mit dem Internet aufgeworfenen politökonomischen Fragen steht im Mittelpunkt von Fuchs’ zahlreichen Arbeiten, in denen er die Tendenzen der Kommerzialisierung und Monopolisierung des Internets und seiner Angebote im Dienste der kapitalistischen Eliten analysiert (Fuchs 2009, 2011, 2015). Danach wird insbesondere die im Internet erzeugte Ware (persönliche) Information den Produzent_innen enteignet und folglich privatisiert. Alternative Umdeutungen werden dadurch erschwert, sind aber trotz des antagonistischen Charakters von Medien möglich (Fuchs 2011, S. 5).

3.3

Pierre Bourdieu: Ein kritischer Soziologe der Ungleichheitsforschung

Pierre Bourdieu fragt in seinen Arbeiten danach, wie kulturelle Manifestationen, z. B. Kunst, Medien und Fernsehen, und der damit verbundene scheinbar individuelle Geschmack mit Strukturen der Ungleichheit und mit Machtverhältnissen zusammenhängen. In seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ untersucht Bourdieu (1987) empirisch, wie soziale Ungleichheiten in der französischen Gesellschaft fortlaufend hergestellt werden und begründet damit eine Kultur- und Gesellschaftstheorie, die auf der Unterscheidung verschiedener Klassen und der Herausbildung eines jeweils klassenspezifischen Geschmacks fußt. Klassen unterscheiden sich nach Bourdieu durch symbolische Differenzierungen und ungleiche soziale Positionen, die sich im Habitus manifestieren und in spezifischen Geschmackskulturen sichtbar Ausdruck finden. Den Habitus beschreibt Bourdieu als ein „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, die als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen dienen“ (Bourdieu 1987, S. 90–91) und so die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer bestimmten Klasse verdeutlichen. Die Position, also die soziale Stellung, eines Individuums in einer Gesellschaft ist des Weiteren abhängig von dem jeweiligen – sozialem, ökonomischem und kulturellem – Kapital, über das ein Individuum verfügt. Das Kapital kommt auf den verschiedenen Feldern, die die Gesellschaft strukturieren, zum Einsatz und bestimmt wesentlich die Position der sozialen Akteur_innen darin. Bourdieu überwindet mit dieser Konzeptionierung den Dualismus von Subjekt und Objekt, von Individuum und Struktur, da Subjekte mit ihrem Habitus essenzieller Teil des jeweiligen Feldes sind, auf dem sie agieren, und ihre Handlungen zugleich von den Strukturen des Feldes bestimmt werden. Die Einnahme verschie-

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dener Positionen im Feld hat wenig mit der individuellen Ausgestaltung von Rollen, dem role-taking und role-making der Rollentheorie, zu tun, sondern ist durch zwei interagierende Faktoren bestimmt: einerseits vom jeweiligen Habitus und den individuell zur Verfügung stehenden Kapitalsorten, und andererseits von den im Feld wirkenden Strukturen und Machtverhältnissen. Damit werden die Bereiche der (kulturellen) Produktion und Rezeption verbunden und eine Brücke zwischen Makro- und Mikroprozessen sozialen Handelns gebaut. Bourdieu bezieht „populäre“ Kultur in seine Überlegungen ein, wobei er den Fokus auf jene künstlerischkulturellen Formen legt, die jenseits der „kulturellen Zentren“ entstehen. Zugleich schätzt er aber deren Potenzial, die dominante Kultur und damit Machtverhältnisse zu verändern, als gering ein. Sozialer Wandel ist aufgrund des strukturellen Determinismus, der Gesellschaft und Kultur prägt, kaum möglich, da Handlungsmöglichkeiten demnach immer vom jeweiligen Feld, dem eingebrachten Kapital und dem Habitus der darin Agierenden abhängig und dadurch auch begrenzt sind. Bourdieu und Adorno teilen die Sichtweise, dass materielle Ungleichheiten in einem engen Zusammenhang mit kulturellen Prozessen stehen. Beide Theoretiker kritisieren die herrschende Kultur, in der sie ein Mittel sehen, um Unterdrückung und Ungleichheit zugleich zu legitimieren und zu (re)produzieren. Das Vergnügen etwa an Medienangeboten sieht Bourdieu wie Adorno nicht als einen authentischen Ausdruck wahrer Empfindungen an, sondern durch die jeweilige Klassenzugehörigkeit geprägt. In der Hochkultur sieht Bourdieu ein Produkt gesellschaftlicher Machtkämpfe, das die Dominanz bestimmter Gruppen zeigt. Inhalte, Formen und Gegenstandsbereiche der Hochkultur sind damit nicht dauerhaft fixiert. Demgegenüber vertritt Adorno einen eher universalistischen Anspruch an eine Kultur der Aufklärung. Zugleich weist Bourdieus (1987, S. 36) Ausdruck „legitimer gesellschaftlicher Geschmack“ eine Affinität zu Adornos Begriff der Hochkultur auf, da sich beide auf einen bestimmten Musik- und Kunstgeschmack beziehen, der höher als andere Stile bewertet wird. Dennoch sind bei Bourdieu die Unterschiede zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen weniger durch den Gegensatz von Hoch- und Populärkultur gekennzeichnet als vielmehr durch soziale Gegensätze, die durch den Habitus reproduziert werden und in der Alltagskultur ihren Ausdruck finden. Bourdieu ist wie Habermas daran interessiert die Bedingungen für einen herrschaftsfreien Diskurs aufzuzeigen. Allerdings betont er, dass ein gegenseitiges „Verstehen“ (1998a, S. 58) durch die gesellschaftlichen Hierarchien erschwert wird und verweist damit auf die Bedingungen, die einem herrschaftsfreien Diskurs entgegen stehen. Diese Überlegungen führt Bourdieu in seinen späteren Werken weiter aus, indem er insbesondere jene gesellschaftlichen Gruppen in den Blick nimmt, die nicht gehört bzw. in öffentlichen Debatten marginalisiert werden (Bourdieu 2009). Deutlich zeigen sich dabei Parallelen zu den Gender Studies und den postkolonialen Theorien. Bourdieus Arbeiten sind für vielfältige Forschungsfelder der Medien- und Kommunikationswissenschaft relevant. Seine Verbindung von klassenspezifischem Habitus und einem bestimmten kulturellen Geschmack bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die heutige Medienforschung. Bourdieu teilt mit Adorno die Auffassung, dass die banalen und trivialen Medienangebote zur Konformität und Depolitisierung

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beitragen (Winter und Zima 2007, S. 119–223). In „Über das Fernsehen“ (1998b) setzt sich der Soziologe kritisch mit der Rolle des Fernsehens auseinander, das er als ein relativ homogenes Medium ansieht, welches sich stärker an anderen Medienangeboten als an tatsächlichen Ereignissen orientiert. Insbesondere zwei Mechanismen werden bei der Homogenisierung von Fernsehsendungen wirksam, zum einen die „zirkuläre Zirkulation der Nachrichten“, zum anderen die „Diktatur der Einschaltquote“ (Bourdieu 1998b, S. 24). Journalist_innen auch unterschiedlicher Medien greifen auf dieselben Nachrichtenquellen zurück, und die Orientierung an Einschaltquoten als „Währung“ im privat-kommerziellen Rundfunk führt trotz der Zunahme von Sendern zur Ausstrahlung ganz ähnlicher Angebote. In der Kommunikationswissenschaft spielt der Ansatz Bourdieus in der Journalismusforschung eine immer größere Rolle (Schäfer 2007; Weish 2002; Hummel 2009; Lueg 2012). Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Journalist_innen werden unter Bezug auf die Habitus- und Feldtheorie hinsichtlich jener Mechanismen und Prinzipien analysiert, die im journalistischen Feld wirken. Dabei entscheidet die jeweilige Konfiguration von erworbenen beruflichen Erfahrungen, Ausbildung, sozialer Herkunft, Geschlecht, etc. über die spezifische Position der Akteur_innen im sozialen Feld Journalismus. Ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld stellt die Publikums- und Rezeptionsforschung dar, weil es Bourdieus Überlegungen erlauben, unterschiedliche Medienauswahl, Rezeptionsvorlieben und Nutzungsmuster zu erklären und ihren sozialen Zusammenhang zu erhellen. Dabei werden insbesondere alltagskulturelle Rezeptionspraktiken hinsichtlich ihrer sozialen Strukturierung untersucht. So erarbeitet Müller-Doohm (1990) den Zusammenhang zwischen milieuspezifischer Mediennutzung und der sozialen Situiertheit von Rezipient_innen. Das Vergnügen und der Gefallen an bestimmten Musikrichtungen, Fernsehsendungen oder Künstler_innen sind nicht individuell gewählte Vorlieben, sondern werden durch den jeweiligen klassengebundenen Habitus bestimmt. Diese Perspektive erweitert die Mediennutzungsforschung, da auch das habitusspezifische Wissen und damit inkorporierte, kollektiv geteilte und milieuspezifische Wissensbestände in die Rezeptionsforschung einbezogen werden (Weiß 2000). Klassenspezifische Strukturierungen und ökonomische Verhältnisse sind dann zentraler Bestandteil von Rezeptionsanalysen. Allerdings findet in der Marktforschung häufig, und auch teilweise in der akademischen Forschung, eine „Entpolitisierung“ der Bourdieuschen Begrifflichkeiten statt, indem der Habitus auf eine bestimmte Einstellung bzw. persönliche Haltung verkürzt wird (Diaz-Bone 2004). Damit bleiben die für Bourdieu so zentralen sozialen Strukturen des jeweiligen Feldes sowie die den Akteur_innen zur Verfügung stehenden Kapitalsorten und die ihren Habitus begründenden sozialen Ungleichheiten unberücksichtigt.

3.4

Michel Foucault und die Archäologie des Wissens

Michel Foucault im Besonderen und den poststrukturalistischen Ansätzen im Allgemeinen geht es stets um eine Historisierung und Kontextualisierung von Begriffen

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und Theorien. Auch wenn sich diese Ansätze zumeist nicht explizit mit Medien auseinandersetzen, hat die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit in der Medien- und Kommunikationswissenschaft in den letzten Jahren stark zugenommen. Im Zentrum der Arbeiten Foucaults steht die Frage danach, wie Wahrheit und Wissen entstehen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass eine Gesellschaft durch Machtverhältnisse strukturiert ist, die dem Subjekt nicht nur äußerlich entgegentreten, sondern von diesem auch verinnerlicht werden. Das Subjekt ist also immer in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Strukturen, die sich durch Macht, Herrschaft und hegemoniales Wissen strukturieren, zu sehen (Foucault 1993). Foucaults Interesse liegt dabei insbesondere auf der Entstehungsgeschichte dieser Strukturen und den darauf aufbauenden Naturalisierungen von Wissen und Wahrheit. Um diese zu ergründen, beschreibt Foucault seine Vorgehensweise mit den Begriffen der „Archäologie“ und der „Genealogie“. Unter Archäologie versteht Foucault die Spurensuche in der Geschichte nach der Entstehung von Diskursen. Mit Hilfe der Genealogie nimmt Foucault die mit der Durchsetzung bestimmter Diskurse verwobenen Machtverhältnisse und Normalisierungsstrategien in den Blick, um deutlich zu machen, dass es auch alternative Möglichkeiten der Entwicklung geben kann (Foucault 1981, 1987). Diskurse, die bei Foucault sowohl sprachliche als auch nicht-sprachliche Objekte wie Institutionen, Gesetze etc. umfassen, bilden ein Dispositiv, also eine heterogene Gesamtheit, das eine strategische Funktion hat und in Machtverhältnisse eingebunden ist (Agamben 2008). Die Genealogie deckt dabei die verborgenen Mechanismen auf, die den sozialen Praktiken und damit den Diskursverläufen zugrunde liegen, so dass diese der Reflexion zugänglich werden und in Frage gestellt werden können (Hoy 1998). Indem Foucault aufzeigt, dass die spezifische Verbindung von Macht, Herrschaft und Wissen(schaft) stets raum-zeitlich produziert ist, also an eine bestimmte Gesellschaft, Kultur und Zeit gebunden ist, können diese Strukturierungen hinterfragt und verändert werden. Jedoch ist das Subjekt in die Machtstrukturen so verstrickt, dass eine Befreiung daraus kaum möglich erscheint. Das Subjekt ist in dieser Sichtweise also nicht Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte, sondern es ist eingebunden in gesellschaftliche Diskurse und Machtbeziehungen und damit nicht unabhängig von diesen zu denken. Die Allgegenwart von Macht und Herrschaft – also deren „Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken“ – fasst Foucault dabei unter den Begriff der „Gouvernementalität“ (Foucault 2005, S. 171, 2006). Durch ein Aufzeigen des engen und unentwirrbaren Zusammenhangs zwischen den Macht- und Herrschaftsverhältnissen und der Konstituierung von Subjekten eröffnet Foucault eine neue Perspektive auf Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten (Moss 1998, S. 6–8). Foucaults Bemühen allgegenwärtige Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzudecken, steht in der Tradition der Machtkritik der Kritischen Theorie. So stellt insbesondere die Methode der Genealogie eine Weiterentwicklung der Analyse von Machtverhältnissen durch die Kritische Theorie dar. Dass die Kritik an der (Zweck-)Rationalität, die Historisierung von Diskursen sowie die Analyse der Entwicklung von Machtbeziehungen beide Ansätzen verbindet, zeigt beispielhaft

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Benjamins Essay „Ausgraben und Erinnern“ (Benjamin 1932/2007). Jedoch stellt Foucaults kritische Sichtweise auf das Subjekt einen fundamentalen Unterschied zur Kritischen Theorie dar, da er die Möglichkeit eines universalistischen Denkens negiert, indem er – ähnlich wie Judith Butler (1995) – die Essenz von Kategorien in Frage stellt. Trotz des unterschiedlichen Subjektbegriffs sind sich die poststrukturalistischen Ansätze sowie die Kritische Theorie darin einig, dass für das Individuum kaum Möglichkeiten eines eigenständigen oder widerständigen Handelns bestehen. Für beide Ansätze ist das den gesellschaftlichen Verhältnissen ausgelieferte Individuum ein zentrales Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaften. Foucault argumentiert dabei auf der Mikroebene der Ausübung gesellschaftlicher Gewalt, während die Kritische Theorie den Fokus auf die Makroebene und damit vor allem auf die ökonomischen Strukturen legt. In Bezug auf den Subjektbegriff sieht Hoy (1998, S. 26 f.) Foucault als einen „truer representative of that [early critical theorists’] tradition“ an als Habermas. In der neueren Medienforschung, die sich verstärkt mit neoliberalen Praktiken auseinandersetzt, sind Foucaults Werke und insbesondere seine Überlegungen zum Konzept der Gouvernementalität als allzeit präsente Herrschaft auf große Resonanz gestoßen. Das von Foucault entwickelte begriffliche Instrumentarium wird insbesondere zur Analyse von Formaten des Reality-TV herangezogen. Demnach beinhaltet das Reality-TV Praktiken der Gouvernementalität, da es Richtlinien für eine Lebensführung jenseits wohlfahrtsstaatlicher Absicherung entwirft und in Übereinstimmung mit einer neoliberalen Ideologie die Notwendigkeit der fortwährenden „Arbeit am Selbst“ demonstriert (Thomas 2007, 2008). Andrejevic (2004) spricht von einer Selbstdisziplinierung mittels Reality-TV, das ein umfassendes Versprechen der Demokratisierung gibt, tatsächlich aber die Überwachung des Menschen perfektioniert, indem diese zur Selbstüberwachung wird. Die Parallelen zur Kritischen Theorie sind offensichtlich: Auch wenn es nicht das „falsche Bewusstsein“ ist, das zum Konsum und zur Akzeptanz „populärer Unterhaltungsangebote“ und von Fernsehformaten führt, sondern die gouvernementalen Praktiken, so wird das Individuum von Machtverhältnissen bestimmt, die durch Technologien bzw. Medien vermittelt werden. Gleichermaßen erscheint die Anpassung der Menschen an die durch diese Medienangebote vermittelten Normen und Übereinkünfte nicht als Disziplinierung, sondern als selbstgewollt. Mit der „Archäologie des Wissens“ hat Foucault eine „Werkzeugkiste“ hinterlassen, die es ermöglicht, Diskurse als Ketten von Aussagen zu analysieren und diese durch ihre Kontextualisierung zu hinterfragen (Jäger und Jäger 2007, S. 7; Fiske 1996). Die kritische Diskursanalyse ist in der Kommunikationswissenschaft ein wichtiges Instrument für die Analyse von Medienangeboten geworden. Ziel der Diskursanalyse ist es vor allem, zu erschließen, unter welchen Bedingungen und Machtverhältnissen welche Aussagen von wem und über wen getroffen werden. Unter Bezugnahme auf Foucault, und damit auf die kritische Diskursanalyse, werden Medien als zentrale Agenten von Diskursen analysiert. Komplexe Phänomene wie Wissensordnungen und Wahrnehmungen werden so beispielsweise von Jäger und Jäger (2007) anhand der Kopftuchdebatte, der Printberichterstattung zur RAF oder öffentlicher Diskurse zum Karrikaturenstreit durchgeführt.

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Auch in Bezug auf das Internet findet sich ein Rekurs auf Foucault. Aus der Perspektive einer medienwissenschaftlichen und linguistisch orientierten Diskursforschung lässt sich das Internet als Teil der Wissensordnung einer Gesellschaft betrachten, in der digitale vernetzte Medien zum Alltag gehören (Fraas et al. 2013). Dabei bleibt das Internet aber in soziale Praxen der Normalisierung eingebunden und stellt als Kommunikationsdispositiv kein unabhängiges und emanzipatorisches Medium dar (Dorer 2008).

3.5

Cultural Studies: Die Bedeutung des Publikums im Medienprozess

Goldbeck hat die Cultural Studies wie folgt definiert: „Bei den Cultural Studies handelt es sich um ein intellektuelles Projekt, das sich alltäglichen kulturellen Praktiken widmet und sie in ihrer kontextuellen Einbettung mit besonderem Blick auf die kontextspezifischen Machtverhältnisse analysiert. Cultural Studies arbeiten interdisziplinär und wollen politisch Möglichkeiten bereitstellen, die eigenen gesellschaftlichen Kontexte zu verändern“ (Goldbeck 2004, S. 28). Die Charakterisierung der Cultural Studies als Projekt verdeutlicht, dass es sich nicht um einen homogenen theoretischen Ansatz mit einheitlichen Begrifflichkeiten und kanonisierten Denktraditionen handelt (Hepp et al. 2009). Das große Spektrum an theoretischen Bezügen sowie die Vielfalt inter- und transdiziplinärer Verortungen wird durch ein spezifisches Interesse an den alltagskulturellen Effekten gesellschaftlicher Machtverhältnisse sowie durch ein interventionistisches Wissenschaftsverständnis gebändigt. Der weite Kulturbegriff der Cultural Studies – „culture as a whole way of life“ (Raymond Williams) – unterscheidet sich stark von dem Adornos. Der von Adorno geprägte Dualismus von Hochkultur, die den authentischen Ausdruck erlaubt, und den Produkten der Kultur- und Unterhaltungsindustrie, die die Menschen verblenden, wird in den Cultural Studies aufgehoben. Kultur wird als die Sphäre verstanden, in der im Alltag das Ringen um Macht und Bedeutung stattfindet. Gleichwohl sind die englischen Cultural Studies in der kritischen Theorie verwurzelt und bestechen vor allem durch die Verzahnung von theoretischen Ausführungen und empirischer – vor allem ethnografisch ausgerichteter – Forschungstätigkeit (Bromley et al. 1999; Göttlich et al. 2001; Hepp 2010; Lutter und Reisenleitner 2005; Marchart 2008). Die Cultural Studies sind eng mit dem Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham verbunden und verstehen sich als kritische Medientheorie. Den Ausgangspunkt für die Studien am CCCS bildete eine Auseinandersetzung mit dem Klassenbegriff von Marx, der letztlich als zu ökonomistisch und deterministisch abgelehnt wurde, zudem mit dem Primat der Ökonomie andere Strukturkategorien wie „Rasse“ und Geschlecht häufig als nachrangig behandelt wurden. Stattdessen wurden Gramscis Hegemoniekonzept und Althussers Ideologiebegriff zentral für die Bestimmung des Verhältnisses von Macht und kulturellen Manifestationen. Im Rahmen der Cultural Studies erfährt der Ideologiebegriff der Frankfurter Schule eine Überarbeitung. Die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse müssen, um stabil zu sein, ideologisch abgesichert werden und so als „natürlich“

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erscheinen. Dabei ist Ideologie im Verständnis des CCCS den Menschen jedoch nicht in erster Linie von außen aufoktroyiert, sondern wird vielmehr von den Menschen selbsttätig angeeignet und reproduziert, ist im Alltag gelebte und entwickelte Kultur und kann gerade deshalb auch modifiziert werden. Ideologie wird in den Cultural Studies zu der sozialen Sphäre, in der Macht und Bedeutung zusammentreffen. Die Bedeutungs- und Sinnproduktion der Menschen erfolgt selbsttätig, allerdings nicht frei und selbstbestimmt, weil die bestehenden Machtkonstellationen und Dominanzverhältnisse vorgeben, dass manche Bedeutungen vor anderen favorisiert werden, manche Sinnproduktionen wahrscheinlicher sind als andere, manche Gesellschaftskonstruktionen verbindlicher als ihre Alternativen. Hegemonie ist jene Macht der gesellschaftlichen Eliten, ihre Partikularinteressen als Allgemeininteressen zu setzen und damit konsensfähige dominante Bedeutungen vorzugeben. Hegemoniale Bedeutungen können aber – insbesondere in den kulturellen Randbereichen der Gesellschaft – auch durchbrochen werden, weil sie keine allumfassenden und exklusiven Beschreibungen liefern. Das erklärt, warum sich die Cultural Studies vor allem mit der gering geachteten Populär- und Massenkultur auseinandergesetzt haben. Für die Entwicklung der Medien- und Kommunikationswissenschaft waren die Cultural Studies von großer Bedeutung, da sie eine neue Phase der Publikumsforschung einleiteten, in deren Folge ältere Ansätze in Frage gestellt wurden. Die Cultural Studies richten sich sowohl gegen eine Betrachtungsweise des Publikums als eine undifferenzierte und passive Masse, von der die klassische Wirkungsforschung implizit ausgeht, als auch gegen die individualistischen Vorstellungen wie sie im so genannten Uses-and-Gratifications-Ansatz vorherrschen. In expliziter Abgrenzung von diesen beiden Strömungen der Kommunikationswissenschaft hat Stuart Hall 1974 sein Encoding/Decoding-Modell vorgestellt, das die Medientheorie der Cultural Studies begründete. Im Modell findet sich die geläufige Aufteilung des Kommunikationsprozesses in eine Produktionsseite, die Programm/Text/Repräsentations- oder auch Zirkulationsseite und die Rezeptions- bzw. Reproduktionsseite. Im Unterschied zur klassischen Medienwirkungsforschung betont Hall im Rückgriff auf die neuere Linguistik, dass neben der Kodierung von Medientexten im Produktionsprozess, auch eine eigenständige Dekodierung notwendig ist, die zwar häufig, aber längst nicht immer mit den darin eingeschriebenen Bedeutungen identisch ist: Entschlüsselung muss nicht gleich Verschlüsselung sein. Kodierung und Dekodierung sind jeweils vom Wissensrahmen, in den sie eingebettet sind, von den Produktionsverhältnissen des Wissens und der technischen Infrastruktur der Medien beeinflusst. Der Medientext kann damit nicht länger als kontextfreien Signal, das möglichst störungsfrei an die Empfänger_innen übermittelt und von diesen aufgenommen werden muss, konzipiert werden. Vielmehr bestimmen die kulturellen und sozialen Kontexte des Produktions- und Rezeptionsprozesses über die spezifischen Bedeutungszuschreibungen an Medientexte. Von der Polysemie der Zeichen ausgehend wird damit der Rezeptionsvorgang zu einem eigenständigen Moment im Kommunikationsprozess. Das Encoding/Decoding-Modell ist im Kreislaufmodell der Kultur von Johnson (1985) und Hall et al. (1997) weiterentwickelt worden, in dem die Vermittlung zwischen Mikro- und Makroebene, die Regulation des Kom-

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munikationsprozesses sowie auch seine identitätsstiftenden Aspekte stärkere Beachtung gefunden haben. Die Cultural Studies können nicht nur in Bezug auf ihren Kulturbegriff als der Medienanalyse der Kritischen Theorie diametral entgegenstehend verstanden werden. ‚Apokalyptiker‘ hat Umberto Eco (1964/1994) mit direktem Bezug auf Adorno und Horkheimer die Konstrukteure eines passiven Publikumsbildes genannt. Masse und Kulturindustrie seien Begriffsfetische, die der kritischen Elite suspekt blieben (Eco 1994, S. 38–39). Führt man Ecos Argumentation weiter, dann liegt der entscheidende Fehler solcher Positionierungen darin, die eigenen Vorurteile gegen populärkulturelle Ausdrucksformen zum Ausgangspunkt der Medienund Gesellschaftstheorie zu machen. Um wirkliche Menschen, die sich Medien zuwenden, geht es ebenso wenig wie um die tatsächliche Nutzung und die alltäglichen Aneignungsweisen von Medienangeboten. Ecos Differenzierung zwischen „geschlossenen“ und „offenen“ Texten ist deshalb auch in die Vorstellungen der Cultural Studies eingeflossen. Insbesondere John Fiske (1987, 1989) hat die semiotischen Aspekte von Populärmedien weiter ausgearbeitet. Weil der „readeras-writer“ fungiert, Rezipient_innen nunmehr als aktive Konsument_innen in den Medienprozess einbezogen sind, sieht Fiske gerade im Vergnügen an der Populärkultur die Möglichkeit des Widerstandes gegenüber der dominanten Ideologie oder ihrer Unterlaufung gegeben. In seinen späteren Medienanalysen hat Fiske unter Bezugnahme auf Foucault zwischen „the power bloc“ und „the people“ unterschieden, die je nach sozialer Fragestellung aus wechselnden Akteur_innen bestehen und auch dessen Diskursanalyse aufgegriffen (Fiske 1993, 1996). Allerdings weicht Fiske von Foucaults Subjektbegriff insofern ab, als seine Arbeiten sich auf sozial eingebundene Menschen beziehen, die sich aus je spezifischen Machtverhältnissen befreien wollen. Zwischen Cultural Studies und Kritischer Theorie gibt es – bei allen Unterschieden im Kultur- und Ideologiebegriff wie auch in Bezug auf die Rolle von Rezipient_innen im Medienprozess – aber auch wichtige Gemeinsamkeiten wie den Bezug auf die Marxsche Gesellschaftstheorie, die Ablehnung der Zentralität ökonomischer Machtund Produktionsverhältnisse im Marxismus bei gleichzeitiger die Hinwendung zu Kultur und Medien als zentralen Vermittlungsinstanzen und Ideologieproduzentinnen. Als transdisziplinäres und relativ offenes Projekt haben die Cultural Studies darüber hinaus auf eine Vielzahl von weiteren Theorien Bezug genommen. Ausgesprochen produktiv haben sich Gender Studies und Cultural Studies miteinander verschränkt (ausführlich Klaus 2006). In der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft liegen inzwischen in allen Forschungsfeldern Arbeiten vor, die die Cultural Studies zur Neuformulierung theoretischer Positionen nutzen bzw. zur Bearbeitung empirischer Fragestellungen heranziehen (Hepp und Winter 2006; Hepp et al. 2015). Aus einer Vielfalt an produktiven und relevanten Aneignungen seien lediglich drei Beispiele genannt: Andreas Hepps Arbeiten zur transkulturellen Kommunikation (2006), Jutta Rösers Ausarbeitung des Domestizierungsansatzes (2007), mit dem der Prozess der Einschreibung des Internets und neuer Medien in die Haushalte untersucht werden kann, sowie Margreth Lünenborgs Vorschlag einer kulturorientierten Journalistik (2005), die das Publikum der Medien nicht länger ignoriert.

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3.6

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Gender Studies: Soziale Differenzierungen

Wie die Cultural Studies handelt es sich auch bei den Gender Studies um ein Theorieprojekt, das sich aus zahlreichen Traditionen und theoretischen Strömungen speist. Die Bewegung von der frühen Frauenforschung hin zu den heutigen Gender Studies ist von einem Ringen um ein angemessenes Verständnis der Kategorie Gender begleitet. Die ursprüngliche Fokussierung auf Frauen als Gegenstand der Forschung wurde von der Erkenntnis der notwendig relationalen Qualität der Mann/ Frau-Dichotomie abgelöst, da Frauen kulturell und historisch als das „andere Geschlecht“ definiert wurden. In einem weiteren Schritt löst sich das Verständnis von Gender als Strukturkategorie von der Bindung an soziale Subjekte, um schließlich zu der Einsicht zu gelangen, dass das symbolische System der Zweigeschlechtlichkeit diese binären Unterscheidungen erst produziert. Zu einer disziplinübergreifenden Diskussion trugen feministische Wissenschaftler_innen Überlegungen aus der Philosophie und Erkenntnistheorie, der Wissenschaftsgeschichte, der Geschichte, der Soziologie und anderen Sozial- und Kulturwissenschaften bei. Wenn Gender als Klassifikationssystem, als Strukturkategorie und als Ideologie zugleich verstanden wird (Robinson 1992, S. 135; Klaus 2005), dann liefert das ebenso Vorlagen, um andere vieldimensionale soziale Kategorien zu erforschen. Gender als Klassifikationssystem zeigt die Zuweisung von hierarchischen Positionen, z. B. an die Kommunikator_innen in den Medienbetrieben oder an die Konsument_innen von Medienangeboten mittels der Bewertung ihrer Rezeptionsinteressen auf. Gender als Strukturkategorie verweist darauf, dass der binäre Geschlechtercode, die Entgegensetzung von männlich und weiblich, jenseits des Wollens und oft sogar des Bewusstseins der gesellschaftlichen Subjekte wirksam ist. Als Ideologie liegt der Genderkategorie eine Naturalisierung von Unterscheidungen zugrunde, die Unterschiede überhaupt erst „machen“ bzw. hervorbringen. In den Gender Studies wird deshalb der Verwobenheit des Genderdualismus mit anderen Diskursen Aufmerksamkeit geschenkt. Die von der Frauen- und Geschlechterforschung im Laufe ihrer Entwicklung erarbeitete Vielschichtigkeit von Gender gilt analog für die Auseinandersetzung mit anderen sozialen Strukturkategorien. Aus einer intersektionalen Perspektiven werden dann Verschränkungen von Gender mit anderen Ungleichheit generierenden Kategorien bzw. Diskursen wie Race, Ethnie, Klasse etc. erforscht (Drüeke et al. 2014). Die Gender Studies haben zu einer Modernisierung der Medien- und Kommunikationswissenschaft beigetragen, da viele der Begriffe, die zentral zur Beschreibung gegenwärtiger Medienentwicklungen dienen, eine diskursive Bindung an Männlichkeit und Weiblichkeit und die mit ihnen verbundenen Wertungen aufweisen. Das gilt für die Dualismen von Information und Unterhaltung oder von Fakt und Fiktion (Klaus 1996; Klaus und Lünenborg 2002) ebenso wie für die Klassifizierung von Medieninhalten als „soft news“ und „hard news“ oder die grundsätzliche Entgegensetzung von öffentlich-rechtlichen und privaten Programminhalten. Eine erkenntnistheoretisch formulierte Skepsis gegenüber Dualismen und Versuche von Grenzverschiebungen und Grenzverwischungen sind für alle emanzipatorischen Projekte geboten, da ansonsten Differenzen essentialisiert bzw. naturalisiert werden.

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Die Bezüge zur Kritischen Theorie, aber auch deren Weiterentwicklung durch die Gender Studies, lassen sich beispielhaft anhand von drei Bereichen aufzeigen. So wird die Herrschafts- und Wissenschaftskritik aufgenommen, das Konzept von Öffentlichkeit weiter entwickelt, sowie vor allem in den Cultural Gender Studies die Rolle des Publikums neu bestimmt. Der von Gudrun-Axeli Knapp (1999b) herausgegebene Sammelband „Kurskorrekturen. Feminismus zwischen Kritischer Theorie und Postmoderne“ beschäftigt sich mit den theoretischen Implikationen der Kritischen Theorie für die feministische Theoriebildung. Im Spannungsfeld von Feminismus, Kritischer Theorie und postmoderner Theorie ergeben sich nach Knapp (1999a, S. 14) wichtige Anknüpfungspunkte für die Reformulierung und Ausdifferenzierung feministischer Herrschaftskritik. Eine dialektische Sichtweise auf Differenzen und Dichotomien wie Natur/Kultur und öffentlich/privat eröffnet, so Regina Becker-Schmidt (1999, S. 122–124), Perspektiven einer Neuformulierung. Zwar beanstandet auch Becker-Schmidt die Nichtbeachtung von Problemen des Geschlechterverhältnisses bei Adorno und Horkheimer, dennoch sieht sie Möglichkeiten, mit Hilfe der Kritischen Theorie die gesellschaftskritische Funktion der Gender Studies auszuarbeiten. Feministische kritische Theorie, so Cornelia Klinger (1999, S. 254–255), ist damit überwiegend als eine „Denkform“ zu verstehen, die sich zentral auf das normative Konzept von Gerechtigkeit bezieht. Die traditionellen Konzepte von Gerechtigkeit und Befreiung blenden allerdings Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern aus, so ein zentraler Kritikpunkt der Gender Studies. Insbesondere Donna Haraway (1995) hat sich kritisch mit den Wissensbeständen einer Gesellschaft auseinandergesetzt und mit dem Begriff des „situierten Wissens“ betont, dass wissenschaftliche Objektivität und Grenzziehungen radikal in Frage zu stellen sind. Da immer nur von einem bestimmten Standpunkt aus gesprochen werden kann, stellt sich die Frage nach den Bedeutungen von grundlegenden Konzepten wie Vernunft, Universalität, Objektivität, Gerechtigkeit oder Wahrheit. Poststrukturalistische Ansätze wie auch die Queer Studies und die Postcolonial Studies entwickeln diese erkenntnistheoretischen Zugänge weiter; nicht mehr die gemeinsame Erfahrung von Frauen steht im Mittelpunkt, sondern eine engagierte Position, die von marginalisierten Standpunkten aus eingenommen wird. Weitergehend greifen die Gender Studies die Kritik der Kritischen Theorie an der bestehenden Gesellschaftsformation auf und diskutieren die Rolle sozialer Bewegungen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen. Insbesondere Nancy Fraser (2001, S. 12–14) hat den Fokus auf soziale und damit auch auf feministische Bewegungen gelegt. In diesem Zusammenhang ist eine Weiterentwicklung und Erweiterung des von Habermas in seinem Öffentlichkeitsmodell zugrunde gelegten Politikbegriffs durch feministische Theoretikerinnen zentral. Politische Öffentlichkeit wird dadurch nicht mehr nur als Herrschaftssphäre begriffen, die vor allem der Exekutive oder einer gesellschaftlichen Elite vorbehalten ist, sondern wird als Prozess gesehen, der durch politische, soziale, kulturelle oder ökonomische Veränderungen permanent in Bewegung bleibt. In direkter Anknüpfung an das Habermassche Modell plädiert Nancy Fraser für dessen Erweiterung, um auch nicht-bürgerliche und konkurrierende, subalterne Öffentlichkeiten darin einzubeziehen. Weitergehend stellt Öffentlichkeit dann einen „gesellschaftlichen Selbst-

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verständigungsprozess“ dar, in dem auf verschiedenen Ebenen über die Durchsetzung der jeweiligen Gesellschaftsvorstellung gerungen wird (Klaus 2005, S. 22–24). Je nach Beziehungsgeflecht bzw. Komplexitätsgrad bezeichnet Klaus die jeweilige Ebene als „einfache“, „mittlere“ und „komplexe“ Öffentlichkeitsebene. Auf allen drei Öffentlichkeitsebenen werden gesellschaftliche Übereinkünfte erzielt und jede Ebene wirkt am Prozess Öffentlichkeit mit. Zwar nimmt die Reichweite der Öffentlichkeiten je nach Komplexitätsgrad zu, dennoch können auch einfache und mittlere Öffentlichkeiten gesellschaftlich und politisch öffentlichkeitswirksam werden, denn auch alltägliche Praxen dienen der Verhandlung gesellschaftlicher Normen und Werte und ermöglichen so subkulturelle Identitätsbildung (Klaus 2001, S. 19–20). Hier zeigen sich Parallelen zu Fraser (2001), die den Gegenöffentlichkeiten eine „Brückenfunktion“ zwischen Bürger_innen und dominanter Öffentlichkeit zuspricht. Solche Überlegungen feministischer Öffentlichkeitstheorie sind in die Arbeiten von Ulla Wischermann (2003) zu den Erfolgsbedingungen der Frauenöffentlichkeiten um 1900 sowie von Drüeke (2013) zu den politischem Kommunikationsräumen im Internet zentral eingeflossen. Wie die Cultural Studies betonen auch die Gender Studies die aktive Rolle des Publikums. Dass die Zuschauer_innen während der Rezeption von Soap Operas oder anderen populärkulturellen Texten Vergnügen empfinden, war wichtiger Ausgangspunkt einer Forschung, die sich dem Handeln konkreter sozialer Subjekte im Alltag zuwandte. Die dem Vergnügen an spezifischen kulturellen Formen zugrunde liegenden „structures of feeling and sensibility“ (Lovell 1981) sind als bloße Manipulationen nicht zu begreifen. Sie beruhen vielmehr auf Positionierungen, die gesellschaftlich vorgegeben sind, aber als Selbstpositionierungen der Subjekte zugleich Keime des Widerstandes in sich tragen (O’Connor und Klaus 2000). Das Vergnügen von Rezipient_innen an populären Genres bleibt kein abstraktes Amüsement wie in der Kritischen Theorie, sondern wird konkret an bestimmte Texte und deren Genrekonventionen, an die Geschichten und die Gefühle, die sie auslösen und an die Kontexte der Rezeption gebunden. Über Ideologie, so zeigen die Ergebnisse der Rezeptionsstudien, kann nicht sinnvoll gesprochen werden ohne über Vergnügen zu sprechen, weil Ideologie, wie bereits Adorno und Horkheimer ausgeführt haben, unter anderem durch das Vergnügen wirkmächtig wird und dieses wiederum im Kampf um Bedeutungen eine wichtige Ressource ist. Hier schlagen die Gender Studies also eine Überarbeitung der Cultural Studies vor, die an deren zentralen Kategorien Ideologie, Vergnügen, Intervention und ihren Verbindungen arbeitet. In Bezug auf das für die Cultural Studies so wichtige Genrekonzept sind dessen Schnittstellen zum Genderkonzept verschiedentlich diskutiert worden (Schneider 2001; Braidt und Jutz 2002). Die Gender Studies stellen also einen eigenen Forschungsbereich innerhalb der Kommunikationswissenschaft dar und bereichern diese im doppelten Sinne: Erstens durch ihre Wissenschaftskritik, die im Sinne der Kritischen Theorie die Standpunktbezogenheit von Wissen betont; zweitens, indem sie neue Forschungsbereiche aufzeigen und die Medien- und Kommunikationswissenschaft weiterentwickeln, wie etwa durch eine neue Sicht auf die Dichotomie von Information und Unterhaltung oder in Bezug auf die Rolle des Publikums im Medienprozess.

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Vielfältige Perspektiven für komplexe kommunikationswissenschaftliche Herausforderungen

Die aktuelle Medien- und Kommunikationsforschung greift für die Bearbeitung besonders virulenter kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen – etwa nach den Möglichkeiten alternativer Öffentlichkeiten, der Bedeutung neuer Genres wie Casting Shows oder Reality-TV, der Zukunft des Journalismus und dem Handeln seiner Akteur_innen, dem Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, den Partizipationsmöglichkeiten im Netz, etc. – auf unterschiedliche gesellschafts- und kulturkritische Perspektiven zurück. Entsprechend plädieren wir für eine kritische Medienanalyse, die ihre theoretischen Bezugspunkte nicht vorab fixiert, sondern diese stets anhand der zu behandelnden Problemstellungen wählt. Für die „alten“ wie die „neuen“ Ansätze kritischer Theorie bezieht sich Adornos eingangs zitierte programmatische Aussage, dass diese „unabdingbar kritisch“ seien, insbesondere auf vier Momente der Kritik: auf Ideologie- und Herrschaftskritik sowie eine damit verbundene grundlegende Gesellschaftskritik; auf Kulturkritik, die der (Re-)Produktion und den Effekten der sozialen und ökonomischen Ungleichheitsverhältnisse in der Kultur nachspürt; auf eine Kritik an der hegemonialen Öffentlichkeit und der Beschäftigung mit den Möglichkeiten und Bedingungen der Etablierung von alternativen Gegenöffentlichkeiten. Schließlich beinhalten die kritischen Theorien, viertens, eine Wissenschaftskritik, die die Möglichkeiten negiert, in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften zu objektiven, wertfreien Erkenntnissen zu gelangen. Stattdessen sind sie einem normativen Wissenschaftsverständnis verpflichtet, das die Standpunktbezogenheit jedweden Wissens betont. Alle vier Kritikfelder sind von großer Relevanz für die Analyse von Medienprozessen, da sie den Reflexionshintergrund bereitstellen, um Medienanalysen gesellschaftskritisch zu fundieren. Die verschiedenen von uns vorgestellten kritischen Medien- und Kommunikationstheorien verbindet des Weiteren eine auf Intervention angelegte Medienkritik, weil Medien und Kommunikation zugleich zentrale kulturelle Vermittlungsinstanzen und wichtige Mittel zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen. Neben diesen zentralen, sie verbindenden Elementen nehmen die verschiedenen Ansätze kritischer Medien- und Kommunikationswissenschaft jedoch in Bezug auf eine Reihe wichtiger Fragestellungen unterschiedliche Positionen ein und haben die Kritische Theorie durch ihre je spezifische Herangehensweise modifiziert und weiterentwickelt. So interessieren sich manche Ansätze stärker für die Mikroebene gesellschaftlichen und kulturellen Handelns, während andere, wie die Kritische Theorie selbst, die Makroebene betonen. Die Möglichkeiten einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse werden, wie schon in der Tradition der Frankfurter Schule, dabei sehr unterschiedlich beurteilt: Betonen die einen Möglichkeiten der Partizipation und Emanzipation, fokussieren die anderen stärker die Mechanismen der Verblendung und Manipulation. Das hängt auch damit zusammen, dass unterschiedliche Ansätze auf unterschiedliche Momente im Medien- und Kommunikationsprozess fokussieren und verschiedene Methoden zu ihrer Analyse einsetzen. Erstaunlich ist die Bandbreite der Theorietraditionen, an die dabei angeknüpft wird, so dass heute

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weniger denn je von einer geschlossenen Kritischen Theorie, als vielmehr von einem theoretischen Projekt auszugehen ist, in dem für die Bearbeitung spezifischer Problemstellungen auf eine Vielzahl von Konzepten und Vorstellungen auf verschiedenen Analyseebenen und aus ganz unterschiedlichen Fächern zurückgegriffen wird. Angesichts des großen Spektrums kritischer Theorien, ihrer Vielfalt und Vielgestaltigkeit, ist es vielleicht angemessen, von kritischen Medien- und Kommunikationstheorien allgemein als einem interventionistischem Wissenschaftsprojekt zu sprechen, das durch eine seiner Wurzeln in der Kritischen Medienanalyse Adornos und Horkheimers verankert ist.

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Teil VII Zur Aktualität der Kulturindustrie

Erinnerungskultur und Kulturindustrie Moshe Zuckermann

Zusammenfassung

Das Holocaust-Gedenken ist in Ländern wie Israel, Deutschland und den USA zu einem zentralen Anliegen der zivilen Öffentlichkeit und staatlicher Institutionen geronnen. Kunst und Ästhetik nahmen dabei eine bedeutende Rolle ein, besonders wenn es um Denkmäler und filmisches Schaffen ging. Dies hatte zur Folge, dass die Rolle des rezipierenden Publikums zunehmend an Gewicht gewann, namentlich als Adressat und als Träger der Erinnerung des Geschichtsereignisses. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten in den Bereichen der Vermittlung, der formalen Angemessenheit der Erinnerungswerke und der Anpassung an die Möglichkeiten des rezipierenden Publikums werden hier anhand der theoretischen Zugänge Theodor Adornos und Walter Benjamins sowie einiger konkreter Fallbeispiele erörtert. Schlüsselwörter

Adam Baruch · Claude Lanzmann · Denkmal für die Shoah und die Auferstehung (Tel Aviv) · Holocaust (TV-Miniserie) · Holocaust-Gedenken · Kulturindustrie · Kunstwerk-Aufsatz · Minima Moralia · Negative Dialektik · Paul Celan · Schindlers Liste (Film) · Shoah (Film) · Theodor Adorno · Todesfuge · Verfall der Aura · Walter Benjamin · Yigal Tumarkin · Zivilisationsprozess Der Anhang zu Theodor Adornos „Minima Moralia“ enthält einen „Der Paragraf“ betitelten Aphorismus, in welchem es heißt: „Was die Nazis den Juden antaten, war unsagbar: die Sprachen hatten kein Wort dafür, denn selbst Massenmord hätte gegenüber dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers. Und doch musste M. Zuckermann (*) Faculty of Humanities, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_77

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M. Zuckermann

ein Ausdruck gefunden werden, wollte man nicht den Opfern, deren es ohnehin zu viele sind, als dass ihre Namen erinnert werden könnten, noch den Fluch des Nichtgedacht soll ihrer werden antun. So hat man im Englischen den Begriff genocide geprägt. Aber durch die Kodifizierung, wie sie in der internationalen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das Unsagbare kommensurabel gemacht. Durch die Erhebung zum Begriff ist die Möglichkeit gleichsam anerkannt: eine Institution, die man verbietet, ablehnt, diskutiert. Eines Tages mögen vom Forum der United Nations Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neuartige Untat unter die Definition des genocide fällt, ob die Nationen das Recht haben einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Praxis der ganze Begriff des genocide aus den Statuten zu entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen in der Zeitungssprache: Genocidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu durchgeführt“ (Adorno 1951, S. 335).

Der Aphorismus darf als paradigmatisch gelten für ein Grunddilemma im Umgang von Politik und Kultur mit dem Holocaust-Gedenken und seiner der Erinnerung dienenden Darstellung. Schon die Benennung dessen, was Adorno als unsagbar apostrophierte, stellte ein Problem dar. Nicht nur, weil das jüngst Geschehene präzedenzlos war, sich mithin keine Kategorien für dessen Nomenklatur anboten, sondern auch, weil der schiere Benennungsakt das Unfassbare so einzufassen vermag, dass das, was als letztlich unbegreiflich zu bleiben hätte, zur rhetorischen Formel, ja zum Debattenparagrafen einer routinemäßig gehaltenen politischen Tagesordnung verkommen mag. Adorno war sich wohl bewusst, dass das Unbegreifbare eines Begriffs oder zumindest doch eines Namen bedurfte. Aber er meinte auch, darauf hinweisen zu sollen, mit welch unerträglicher Leichtigkeit das Monströse, das sich nicht einfach dekodieren lässt, durch Kodifizierung verdaubar gemacht, gleichsam veralltäglicht werden kann. Was ist das für eine Welt, in der es selbstverständlich geworden ist, dass in ihr ein Genozid stattfinden kann, über dessen Benennung man „debattiert?“. Was sich für Adorno bereits kurze Zeit nach dem historischen Ereignis als Problem der sprachlichen Repräsentation darstellte, muss umfassender problematisiert werden. Der israelische Kulturkritiker und Publizist Adam Baruch hat im Jahre 2002 einen Artikel über das vom renommierten israelischen Künstler Yigal Tumarkin Anfang der 1970er-Jahre in Tel-Aviv errichtete „Denkmal für die Shoah und die Auferstehung“ veröffentlicht (vgl. Baruch 2002, S. 30–34). Gleich zu Beginn heißt es in ihm: „[. . .] Seit etwa dreißig Jahren leben wir bereits mit Tumarkins gegenüber der Stadtverwaltung von Tel-Aviv-Yaffo postierten ‚Denkmal für die Shoah und die Auferstehung‘. Es ist ein Leben ohne Respekt, ohne Gegenseitigkeit. Ein ödes Leben. Wir versammeln uns nicht vor ihm am Holocaust-Gedenktag. [. . .]“. Gleichwohl, vielleicht aber auch gerade deshalb hielt Baruch das Denkmal bzw. seine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte grundlegender Erörterung würdig. Denn: „Der Diskurs über das Denkmal ist der Diskurs darüber, wer wir hier in den 1960er und Anfang der 1970er-Jahre waren. Wer waren wir? ‚Alte Juden‘ mit neuen Waffen? ‚Neue Israelis‘, die aus dem Meer geboren wurden, ohne Vergangenheit also, ohne Geschichte? ‚Neue Israelis‘, die die westliche Moderne inthronisierten, ohne sie freilich in ihrem Wesen begriffen zu haben? ‚Neue Israelis‘, die zwar das Shoah-Andenken verewigen wollten, die Dinge jedoch verzerrten, mithin die Ver-

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ewigung mit Gewalt einem abstrakten, modernistischen Konzept unterwarfen, dabei allerdings jegliches wirklichkeitsgetreue, gegenständliche, narrative, handlungsmäßige, gefühlsgetragene Anzeichen [der Gestaltung] eliminierend? Das Phänomen des Denkmals war integraler Bestandteil des Machtreglements der Tel-Aviver Elite und seiner Anwendung in den 1960er und 1970er-Jahren. ‚Die Juden‘ wurden damals aus der lokalen Kunstwelt verjagt [. . .]“. Baruch behauptete gar, in der gesamten Geschichte der israelischen Kunst habe es kein dem des Denkmals vergleichbares „Ereignis“ gegeben. Ein „Ereignis“ sei es gewesen, in welchem Geschichte, Erinnerung und Macht, Öffentlichkeit, Publikum und Politik, Moderne, Säkularismus und westliche Kultur, zugleich aber auch Abstraktion, Symbolik, „das Israelische“, ein Beschweigen, Debatte, Bürokratie, öffentliche Finanzierung und deutlich zentrale Verortung des zu Erinnernden kodiert worden seien. All dies habe in dieses „Ereignis“ seinen Eingang gefunden. Zudem sah Baruch in der Debatte um das Tel-Aviver Shoah-Denkmal einen die Errichtung aller Holocaust-Denk- bzw. Mahnmäler in der Welt kennzeichnenden Diskurs über die Darstellungsadäquanz: Die emotionalen Argumente der von Baruch (im Gegensatz zu den „Neuen Israelis“) als „Juden“ apostrophierten Diskursteilnehmer seien mehr oder minder elementar gewesen: Tumarkins abstrakte Formgestaltung erwecke keine Gefühle, keinen Schmerz, keine Identifikation, auch keine Erinnerung. Sie sei eine „uns fremde“ Kreation, ihrem Wesen nach „architektonisch kalt“ und nicht „menschlich warm“; entsprechend entfremde sie sich den „einfachen Menschen“, besonders aber den Shoah-Überlebenden. Der „moderne Text“ der Denkmal-Anhänger sei indes nicht minder elementar gewesen: Das Abstrakte, hieß es, sei erhaben; es befreie vom Konkreten. Ein handlungsmotiviertgegenständliches Denkmal würde das Denken und die Fantasie einsperren. Zu Beschimpfungen sei es sogar gekommen: von „Kitsch“ und „Faschismus“ habe man auf der einen Seite, von „Holocaust-Vermarktern“ und „Pöbel“ auf der anderen gesprochen. In diesem Zusammenhang nun stellten sich für Adam Baruch (2002, S. 365) einige gewichtige Fragen: „Warum waren wir (die Tel-Aviver Kunstgemeinschaft) uns so sicher, den Holocaust mit den Mitteln der Kunst darstellen zu können? Warum nannten wir das Denkmal [. . .] ‚Denkmal für die Shoah und die Auferstehung‘? Haben wir den Begriff ‚Auferstehung‘ reflektiert? Was macht ‚Auferstehung‘ aus? [. . .] Hat die zionistisch-säkulare (moderne) Stimme andere Stimmen an der Bestimmung von ‚Auferstehung‘ partizipieren lassen? Haben die orthodoxen Juden eine wirkliche Vertretung im Denkmalsausschuß gehabt? Waren nichtzionistische Organisationen in ihm repräsentiert? Und die sephardischen Juden? War der Ausschuß etwa pur ‚aschkenasisch‘? [. . .] Warum erhielten gerade die professionellen Mitglieder des Ausschusses eine ‚doppelte Stimme‘? Vielleicht um den Sieg des ‚Modernismus‘, welcher sich des lokalen Diskurses bemächtigt und alles Andere zum Verstummen gebracht hatte, zu garantieren? Hatte eine zionistisch-säkulare Elite ‚die Erinnerung‘ erobert? [. . .]“. Baruchs Fragen reflektieren mit großer Deutlichkeit die spezifisch soziologische, dabei aber auch eigentümlich ideologische Dimension der israelischen Kultur des Shoah-Gedenkens. Dass nationale Gedenkkulturen seit jeher über das eigentlich zu

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Gedenkende interessengeleitet hinausschießen, mithin Geschichtsereignisse, historische Gestalten wie auch Orte heteronom vereinnahmen, dürfte mittlerweile als Binsenweisheit gelten. Im Falle der israelischen Staatsgründung und der mit dieser einhergehenden Konstruktion einer neuen nationalen Identität zeitigte dieser Umstand eine besondere, von einiger Tragik getragene Vereinnahmung der Geschichte. Das zu Gedenkende gerann zum ideologischen „Argument“ einer Rechtfertigung ebendieser Staatsgründung, wodurch die Opfer des Holocaust zum „Beweis“ der historischen Notwendigkeit der Gründung eines Judenstaates mutierten, zugleich aber die in den gegründeten Judenstaat einwandernde Überlebende das verkörperten, was es zu überwinden galt: alles Diasporische im zionistischen Leben (vgl. hierzu Zuckermann 1998, S. 18 ff.). Für den hier erörterten Zusammenhang ist gleichwohl eine in Frage gekleidete Feststellung Baruchs von besonderer Relevanz: „Wer waren wir“, fragt er, und bietet folgende Möglichkeit (eine von einigen) als Antwort an: „‚Neue Israelis‘, die zwar das Shoah-Andenken verewigen wollten, die Dinge jedoch verzerrten, mithin die Verewigung mit Gewalt einem abstrakten, modernistischen Konzept unterwarfen, dabei allerdings jegliches wirklichkeitsgetreue, gegenständliche, narrative, handlungsmäßige, gefühlsgetragene Anzeichen [der Gestaltung] eliminierend?“ Und um das Problem in seiner vollen Tragweite auszubreiten, fügt er hinzu, fragend und antwortend zugleich: „Wie kann eine ‚Formgestaltung‘ überhaupt die Shoah repräsentieren? Ist die ‚moderne Kunst‘ nicht zu subtil, um die Shoah zu repräsentieren? An welchen Rezipienten richtet sich das moderne Denkmal? An einen Rezipienten, der fähig ist, ‚ein Denkmal zu lesen‘, weil er ‚Bildhauerei‘ zu lesen vermag, weil er im Geist der modernen Kunst erzogenen worden ist? An einen Rezipienten, dem die moderne Kunst und ihre Ausdrucksmittel fremd geblieben sind?“ Und weiter: „Ist ein abstraktes Denkmal vorzuziehen? Oder etwa ein handlungsmotiviertes-emotionales Denkmal (das Bildnis eines Menschen, allbekannte Symbole, Schmerzbilder)?“. Baruch fragt also einerseits nach der schieren Möglichkeit, die Shoah-Unsäglichkeit mit Kunst zu repräsentieren, was an Adornos berühmtes Diktum (und dessen normativen Implikationen) gemahnt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch (vgl. Adorno 1963, S. 26). Andererseits befasst sich Baruch, von der Problematik der ästhetischen Formimmanenz abweichend, mit dem Gebrauchswert der Repräsentation (in diesem Fall der bildhauerischen Denkmalsrepräsentation), mithin mit der Frage nach dem, was mit Bourdieu als das kulturelle Kapitel des Kunstadressaten genannt werden mag. Es erhebt sich die schlichte Frage: Vermag das breite Publikum, das ihm im öffentlichen Raum präsentierte (materiell gewordene) Erinnerungsangebot überhaupt zu rezipieren, das Kunstobjekt zu dekodieren und adäquat zu interpretieren? Diese Fragestellung gemahnt wiederum an die Kontroverse zwischen Adorno und Benjamin infolge der bahnbrechenden Schrift Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (vgl. Benjamin 1969). Mit dem Verfall der Aura des Kunstwerks, so eine der sich aus diesem Aufsatz ergebenden Einsichten, paart sich dieser Verlust mit einer gewissen qualitativen Wahrnehmungserfahrung: Den Platz der hingebend kontemplativen Rezeption des

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traditionellen Kunstwerks nimmt nunmehr die durch Zerstreuung und Irritation geprägte „Chok“-Erscheinung ein, eine Unfähigkeit, Beständiges in seiner Bedeutungskohärenz zu erfassen. Benjamin sieht im Kinofilm das optimale Medium solch objektiver, mithin unumkehrbarer Re- und Perzeptionswandlung. Unerörtert soll hier die Detailanalyse dessen bleiben, was ihn zur Schlussfolgerung leitet, im Film vollziehe sich das formale Prinzip chokhafter Wahrnehmung, da sich in der Rezeption des Kinofilms letztlich der Produktionsrhythmus am Fließband niederschlage. Von ausschlaggebender Bedeutung im hier erörterten Zusammenhang ist die von Benjamin postulierte neue Funktion von Kunst überhaupt, besonders aber ihrer (damals) modernsten Gattung – dem Film. Denn, wenn es – nicht nur rezeptionspsychologisch, sondern auch (damit freilich zusammenhängend) politisch – darum geht, die Dinge an die Massen heranzubringen, sie ihnen gleichsam zu „nähern“, so sieht Benjamin im Doppelprozess des Verfalls der Kunstwerk-Aura und der Entstehung neuer Wahrnehmungsbedürfnisse beim modernen Massenpublikum die Chance einer Annäherung zweier traditionell separierter gesellschaftlicher Gruppen: die Kunst und die kritische Intelligenz einerseits und die in den Perzeptionsbedürfnissen neu ausgerichteten Massen andererseits. In den Kunstmedien der von ihm analysierten technischen Reproduzierbarkeit treffen sich diese polar auseinandergerissenen Kollektiventitäten, und es entstehe die revolutionäre Konstellation von Masse und Intelligenz, eine Tendenz, die innerhalb der Massen selbst ausmachbar ist: „Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten, zum Beispiel einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste, zum Beispiel angesichts eines Chaplins, um. Dabei ist das fortschrittliche Verhalten dadurch gekennzeichnet, daß die Lust am Schauen und am Erleben in ihm eine unmittelbare und innige Verbindung mit der Haltung des fachmännischen Beurteilers eingeht.“ (Benjamin 1969, S. 37). Diese Verbindung sei ein „wichtiges gesellschaftliches Indizium“. Denn im Film – anders als in den anderen traditionellen Kunstbereichen – fallen die kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen. Dabei tritt ein entscheidender Umstand zutage: „[. . .] nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt (Benjamin 1969, S. 38).“ Adorno widersprach einer solchen optimistischen Schlussfolgerung. „Das Lachen der Kinobesucher“, heißt es in einem Brief an Benjamin von März 1936, „ist [. . .] nichts weniger als gut und revolutionär sondern des schlechtesten bürgerlichen Sadismus voll.“ (Adorno 1990, S. 146 f.). Dass gar „der Reaktionär durch Sachverständnis vorm Chaplinfilm zum Avantgardisten werde“, schien ihm „eine Romantisierung durchaus“. Ähnlich skeptisch äußerte er sich über „das Sachverständnis der Sport diskutierenden Zeitungsjungen“ und distanzierte sich entsprechend von Benjamins Theorie der Zerstreuung, „trotz ihrer chokhaften Verführung“ (Adorno 1990, S. 147). Benjamin selbst, sei hier angemerkt, hegte durchaus Zweifel hinsichtlich möglicher weitreichender Wirkungen der Aurakrise, vor allem im Hinblick auf die sich diese Krise manipulativ zunutze machende Kulturindustrie. Anders als Adorno war er aber bestrebt, ein neues, die traditionelle Aura ersetzendes Kriterium herauszuar-

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beiten, und vermeinte es auch, wie immer präliminär, in den neuen Formen der Massenkultur erkennen zu können. Dabei machte er durchaus keinen Hehl aus den politischen Intentionen, die seinem „nachgiebigen“ Zugang zugrunde lagen, ein Zugang, der sich als funktional, wenn nicht gar taktisch erweist, wie unschwer an folgender, die politische Bedeutung des Kinofilms erörternden Passage ausmachen lässt: „Nie wäre der Sozialismus in die Welt getreten, hätte man die Arbeiterschaft nur einfach für eine bessere Ordnung der Dinge begeistern wollen. Daß es Marx verstand, sie für eine zu interessieren, in der sie es besser hätten und ihnen die als die gerechte zeigte[,] machte die Gewalt und die Autorität der Bewegung aus.“ Mit der Kunst steht es für ihn genauso: „Zu keinem, wenn auch noch so utopischen Zeitpunkte, wird man die Massen für eine höhere Kunst, sondern immer nur für eine gewinnen, die ihnen näher ist. Und die Schwierigkeit, die besteht gerade darin, die so zu gestalten, daß man mit dem besten Gewissen behaupten könne, die sei eine höhere.“ Dies könne für das, „was die Avantgarde des Bürgertums propagiert“, schlechterdings nicht gelingen. Die Masse verlange vom Kunstwerk „etwas Wärmendes“, einen „Komfort des Herzens“, der die Kunst „zum Gebrauche qualifiziert“. Für „werdende, lebendige Formen“ gelte demnach, dass „sie dialektisch den ‚Kitsch‘ in sich aufnehmen, sich selbst damit der Masse nahe bringen und ihn dennoch überwinden können. Dieser Aufgabe ist heute vielleicht allein der Film gewachsen, jedenfalls steht sie ihm am nächsten. Und wer das erkannt hat, wird dazu neigen, den Hochmut des abstrakten Films – so wichtig seine Versuche sein mögen – zu beschränken. Er wird eine Schonzeit, einen Naturschutz für denjenigen Kitsch erbitten, dessen providenzieller Ort der Film ist. Der allein kann die Stoffe zur Explosion bringen, die das 19. Jahrhundert in dieser seltsamen, früher vielleicht unbekannten Materie gespeichert hat, die der Kitsch ist“ (Benjamin 1982, S. 499 f.).

Die inhaltliche Kontroverse zwischen Adorno und Benjamin blieb unentschieden. Der Streitpunkt hätte weiterer, tiefergehender Erörterung bedurft, die aber nicht zustande kam, weil Benjamin vier Jahre nach dem Erscheinen seines KunstwerkAufsatzes aus dem Leben schied. Man kann nur darüber spekulieren, was Benjamin wohl über das kulturindustriell vereinnahmte Phänomen des Hollywood-Films als Massenprodukt, als welcher er sich nach seinem Tode erweisen sollte, zu sagen gehabt hätte. Zugleich darf man sich heute fragen, ob Adorno auf sein unerbittlich rigoroses Postulat der Kunstautonomie hätte beharren können, gemessen daran, dass der avancierten Kunst in vielen ihrer Bereiche das Publikum abhandengekommen ist. Aber unabhängig von dem, was er noch Benjamin gegenüber zu dessen Lebzeiten artikulierte, war es Adorno trotz der Verzweiflung, die ihn angesichts dessen, was im Zweiten Weltkrieg geschah, erfasste, offenbar doch um eine des Unsäglichen eingedenkende Kultur –„nach Auschwitz“ – zu tun. In der Negativen Dialektik heißt es: „Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, daß er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete. Enteignet wird das Individuum des Letzten und Ärmsten, was ihm geblieben war. Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muß das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen. Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht

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werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt“ (Adorno 1982, S. 355). Adornos Entsetzen darüber, dass Kultur nichts gegen diese Integrationstendenz vermochte, findet ihren prägnanten Ausdruck im Weiteren: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll. Indem sie sich restaurierte nach dem, was in ihrer Landschaft ohne Widerstand sich zutrug, ist sie gänzlich zu der Ideologie geworden, die sie potenziell war, seitdem sie, in Opposition zur materiellen Existenz, dieser das Licht einzuhauchen sich anmaßte, das die Trennung des Geistes von körperlicher Arbeit ihr vorenthielt“ (Adorno 1982, S. 359 f.). Aus dieser „nach Auschwitz“ entstandenen, ihrem Wesen nach aporetischen Situation gibt es offenbar keinen wirklichen Ausweg: „Wer für Erhaltung der radikal schuldigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge“ (Adorno 1982, S. 360). Unter diesem Gesichtspunkt begreift Adorno Auschwitz als Kulminationspunkt eines umfassenden Zivilisationsprozesses, der sich in der „total verwalteten Welt“ der Moderne als zunehmende Auslöschung des Individuums manifestiert. Gemeint ist die moderne Welt, die ihren historischen Ausgangspunkt gerade im „Glücksversprechen“ der Aufklärung, im Ideal des Individuums und der Autonomie des Subjekts hatte, aber auch die Welt, die diese Hoffnungen mit unfassbarer Rigorosität zerschlug: Nicht nur entwickelten sich ihre kommunistischen Emanzipationsversuche sehr bald zu totalitär gehandhabten, autoritären Herrschaftsmechanismen und das mörderische Potenzial des späten Kapitalismus nahm zeitweilig die repressive Form eines „Führer“-Faschismus an, sondern auch die immanente Logik, die der Moderne von ihrem Anbeginn zugrunde lag, (die Verbindung von rationalem Aufklärungsoptimismus und segensreicher technologischer Entwicklung von „materiellen Lebensformen“) wurde angesichts des Holocaust in ihren Grundfesten erschüttert. Dialektik der Aufklärung (als konkretes Umschlagen des Fortschritts in extremste Repression bzw. als Instrumentalisierung einer Wohlstand verheißenden Technologie zum Zweck gegenteiliger Zerstörung und Vernichtung) war von nun an keine bloß hypothetische Möglichkeit mehr, sondern wurde zum wirklichen Ereignis, zur konkreten Manifestation einer ihre Fähigkeiten, Leistungen und Mächte gegen sich selbst richtenden Zivilisation. Es waren denn in der Tat die rationalen institutionellen Errungenschaften der Moderne (Industrie, Bürokratie, Administration), die das eigentliche Ausmaß der monströsen Vernichtung – den Triumph des dialektischen Motivs eines „Umschlags von Quantität in Qualität“ – erst ermöglicht hatten. In diesem Sinne postuliert Adorno: „Was die Sadisten im Lager ihren Opfern ansagten: morgen wirst du als Rauch aus diesem Schornstein in den Himmel dich schlängeln, nennt die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt: schon in seiner formalen Freiheit ist er so fungibel und ersetzbar wie dann unter den Tritten der Liquidatoren. Weil aber der Einzelne, in der Welt, deren Gesetz der universale individuelle Vorteil ist, gar nichts anderes hat als dies gleichgültig gewordene Selbst, ist der Vollzug der altvertrauten Tendenz

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zugleich das Entsetzlichste; daraus führt so wenig etwas hinaus wie aus der elektrisch geladenen Stacheldrahtumfriedung der Lager“ (Adorno 1982, S. 355). Trotz der sich aus dieser historischen Tendenz einer „Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen“ ergebenden Ausweglosigkeit begnügte sich Adorno indes nicht mit deren Feststellung, sondern insistierte darauf, dass Hitler „den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen [habe]: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe“ (Adorno 1982, S. 358). In einem 1966 abgehaltenen Rundfunkvortrag behauptete er darüber hinaus resolut, dass jede Debatte über Erziehungsideale „nichtig und gleichgültig“ sei dem einen zentralen Erziehungsziel gegenüber, dass sich Auschwitz nicht wiederhole: „[Auschwitz] war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen“. Und noch heißt es dann: „Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte“ (Adorno 1971, S. 88). Die Einzigartigkeit des Geschehenen ist, so besehen, als ein Allgemeines zu denken, als Kulminationspunkt einer „nach weltgeschichtlichem Maß“ angelegten Permanentbedrohung. Dass, wie Adorno meint, „in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar“, somit also der nazistische Völkermord „die absolute Integration“ veranstaltete, ist demnach als Symptom einer welthistorischen Entwicklung, darüber hinaus aber auch als die Universaldiagnose einer Zivilisation mit dem steten Potenzial eines Rückfalls in die Barbarei zu verstehen. Daher der Auftrag – der von Adorno sogenannte „neue kategorische Imperativ“ –, dass das einzigartig durch Auschwitz als Maßstab Gesetzte sich nicht wiederhole, nichts diesem Maßstab sich auch nur Näherndes, „nichts ähnliches“, geschehe. Abgesehen von der großen Frage, welche Gesellschaft zu errichten wäre, damit die wesentlichen „Bedingungen“ für einen solchen Rückfall in die Barbarei ein für alle Mal ausgemerzt würden, wird hier auch eine Forderung an die Menschen „im Stande ihrer Unfreiheit“ erhoben: ihr Denken und Handeln stets gegen mörderische Unterdrückung, gegen die systematische Verursachung von immer neuen Opfern zu richten. In diesem Sinne wohl hat Adorno auch sein berühmt gewordenes Diktum von der Unmöglichkeit einer Lyrik nach Auschwitz in späteren Jahren, wenn nicht ganz zurückgenommen, so doch merklich revidiert. „Das perennierende Leiden“, heißt es in der Negativen Dialektik, „hat soviel recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“ (Adorno 1982, S. 355). Zu fragen gilt es im hier erörterten Zusammenhang, wie es sich nicht nur grundsätzlich mit der kulturellen Repräsentation von Auschwitz verhalte, sondern, zumindest was Adorno anbelangt, mit der Repräsentation, die nach seinem rigiden Maßstab der Kulturindustrie zuzuordnen wäre. Denn sosehr der Holocaust zunächst als tabuisiert gelten mochte, da es der Kategorien zu dessen Erfassung, mithin seiner künstlerischen Repräsentation ermangelte, hat es sich die Kulturindustrie schon frühzeitig nicht nehmen lassen, sich auch dieses „Themas“ kommerziell zu bemäch-

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tigen. Hierbei darf man zwischen verschiedenen Niveauebenen der darstellerischen Auseinandersetzung mit dem Undarstellbaren unterscheiden. Im Jahr 1978 entstand in den USA die TV-Miniserie „Holocaust“, welche die (fiktive) Geschichte der zur Zeit des Nazismus in Berlin lebenden jüdischen Arztfamilie Weiss erzählt. Die Serie zeitigte große Resonanz beim Publikum, und zwar sowohl in den USA als auch in Deutschland und selbst in Israel. Die Wirkmächtigkeit dieser Resonanz manifestierte sich in vielen teils heftigen Diskussionen über die NS- Vergangenheit, riss gleichsam das Publikum aus seinem Erinnerungslethargie, mithin aus kollektiver Verdrängung heraus. Inhaltlich wurde gleichwohl heftig debattiert, „ob es legitim sei, die undarstellbaren Schrecken des industriellen Mordes an den Juden fiktional zu inszenieren. Eine fiktionale Darstellung des Holocaust führe zu einer Trivialisierung der Geschichte“, hieß es (vgl. hierzu: https://de. wikipedia.org/wiki/Holocaust_–_Die_Geschichte_der_Familie_Weiss). Es ging indes nicht nur um das Problem des Fiktionalen, sondern auch um die Form seiner Umsetzung bzw. um die dem Genre (der TV-Serie) eigenen Ausdrucksmittel. So bemängelte etwa der Schriftsteller Elie Wiesel, selbst Holocaust-Überlebender, die letztlich aus „kommerziellem Kalkül“ produzierte „Seifenoper“, welche eine „Beleidigung für die, die umkamen, und für die, die überlebten“, darstelle (vgl. ebd.; Reichel 2007, S. 253). Und doch hieß es aber auch: „Nach der Ausstrahlung der Serie überwogen die positiven Stimmen zu dieser ‚Geschichtsvermittlung‘, die ohne prinzipielle Verfälschung und ohne Kollektivschuldvorwurf gegen alle Deutschen ausgekommen sei.“ (ebd., S. 258 f.) Von Belang ist hier die Gegenüberstellung von postulierter Undarstellbarkeit des Schreckens und der zweckrational geleiteten Argumentation für die immerhin erreichte Geschichtsvermittlung. Menschen, die keinen Bezug zum Holocaust haben, und ihm mit Ignoranz begegnen, würden mit einer solchen populären TV-Serie an das Geschichtsereignis und seine historische Bedeutung herangeführt. Eine persönliche Erfahrung Ende der 1970er-Jahre hat mir die Tragweite des hier angezeigten Dilemmas deutlich vor Augen geführt. Bei einem Gespräch, das ich mit jungen Israelis über die TV-Serie führte, sagte ein junger Mann, ihm habe diese Serie viel bedeutet, sie hätte ihn an die Shoah angebunden. Mit Erstaunen gefragt, wie es sein könne, dass in einem Land, das ein Yad Vashem errichtet und einen ShoahGedenktag institutionalisiert, Shoah-Unterricht in den Schulen und ShoahForschung an den Universitäten aufzuweisen hat, vor allem aber einem Land, in dem die Überlebenden noch unter uns weilten, dass also in einem solchen Land gerade eine kulturindustriell fabrizierte Seifenoper ihn an die Shoah angebunden habe, antwortete er schlicht, dass, wenn er die Dokumentarfilme über die in Bergen Belsen von Baggern angehäuften Leichenberge sehe, fühle er sich paralysiert; wenn er hingegen die individuelle Geschichte der Familie Weiss verfolge, fühle er sich „an die Shoah emotional angebunden“. Die erste Reaktion war eine (verwunderte) Einsicht in die – wie immer zweckdienliche – Funktion, die ein Produkt der Kulturindustrie beim hier erörterten Zusammenhang offenbar zu erfüllen vermag: Was der Dokumentarfilm nicht vermochte, leistete die Seifenoper. Erst Tage später kam mir in den Sinn, was ich diesen jungen Mann zu fragen versäumt hatte – nämlich, was er eigentlich damit meine, dass er „an die Shoah emotional angebun-

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den“ worden sei. Geht es überhaupt um die emotionale Anbindung an die Shoah? Um eine kathartische Wirkung? Um den „reinigenden“ Gefühlsausbruch? Wäre nicht gerade die psychische Paralyse die adäquate Reaktion auf den Anblick des Monströsen? Das Gefühl eines keinerlei Befriedigung zulassenden Entsetzens bei der Begegnung mit dem Unfassbaren, mit dem eben nicht Darstellbaren? Ähnliches lässt sich auch im Hinblick auf Steven Spielbergs 1993 erschienenen Film „Schindlers Liste“ (im englischen Original: „Schindler’s Ark“) sagen. Einerseits wurde der Film gelobt, wenngleich mit gebührenden Einschränkungen. So heißt es im „Lexikon des internationalen Films“: „In zurückhaltendem Schwarzweiß und vorwiegend an Originalschauplätzen gedreht, überzeugt der Film vor allem in der Darstellung von Personen und Details, die sich zu einem bewegenden Zeugnis aktiver Menschlichkeit in einer unmenschlichen Umgebung entwickelt. Nicht ohne stilistische Mängel und stilistische Zugeständnisse an Hollywood, doch insgesamt auf hohem Niveau und von großer Eindringlichkeit.“ (Lexikon des internationalen Films: Schindlers Liste) Trotz des „hohen Niveaus“ werden die „stilistischen Zugeständnisse an Hollywood“ moniert. Nicht von ungefähr wurde der Film gerade in dieser Hinsicht scharf kritisiert. So etwa vom ungarischen Auschwitz-Überlebenden, dem Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, der den Film als „den schlimmsten Film von allen“ apostrophierte. Er begründete dies damit, dass schon der Ausgangspunkt des Filmes falsch sei: „Dieses positive Denken. Spielberg erzählt die Geschichte aus dem Blick eines Siegers. Am Ende laufen die Leute in einer Reihe und singen, als ob die Menschheit gesiegt hätte. Der Ausgangspunkt eines KZ-Filmes kann nur der Verlust sein, die Niederlage der europäischen Kulturzivilisation“ (Kertész 2009). Nicht minder kritisch ging auch der französische Filmemacher Claude Lanzmann mit Spielbergs Film ins Gericht. Bereits 1994 schmetterte er ihn als „kitschiges Melodram“ ab, das bewusst mit den Emotionen des Publikums spiele und den Holocaust trivialisiere. Er kritisierte besonders die Verfälschung der historischen Realität, welche sich daraus ergebe, dass der Film aus der Perspektive eines Deutschen, also eines Protagonisten der Täterseite, gedreht worden sei, und verstieg sich zur Behauptung: „Nichts von dem, was geschehen ist, hat auch nur Ähnlichkeit mit dem, was da gezeigt wird, selbst wenn alles authentisch scheint“ (Lanzmann 1994). Gegenüber diesen kulturindustrieller Produktion verhafteten Werken (bei denen aber „Schindlers Liste“ höher einzustufen ist, als „Holocaust“ von 1978) stach Claude Lanzmanns eigenes Werk „Shoah“, ein zweiteiliger Dokumentarfilm aus dem Jahr 1985, als alternative Möglichkeit der Darstellung dessen, was als undarstellbar aufgefasst wird, hervor. Es ist ein Film, in dem die Zeitzeugen zu Wort kommen: „Kein einziger Leichnam wird gezeigt (auch nicht als Archivbild). Die Filmaufnahmen bestehen überwiegend aus Interviews und langsamen Kamerafahrten an den Orten, die Schauplätze waren für tausende Juden, die im Zweiten Weltkrieg dorthin deportiert wurden, um sie zu ermorden. Shoah ist mit neun Stunden ungewöhnlich lang und gilt als ein Meilenstein in der filmischen Auseinandersetzung mit der vom Deutschen Reich systematisch betriebenen Vernichtung der Juden“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Shoah_(Film)). Die bemerkenswerte Leistung von Lanzmanns „Shoah“ liegt also darin, dass der Film dem Problem einer Repräsentation des Unsäglichen formalen Ausdruck ver-

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liehen, dabei es aber doch geschafft hat, mittels multiperspektivischer Zeugenaussagen verschiedener Protagonisten des monströsen Weltereignisses eine vorsichtige, gleichwohl suggestive Rekonstruktion der Strukturen, Motivationen und Auswirkungen des Grauens vorzulegen. Wie immer man an den Film herangehen möchte, kann ihm diese kolossale Errungenschaft nicht abgesprochen werden. Nicht das wäre die an Lanzmann zu richtende Kritik, wenn es um sein geistiges Werk geht. Anders aber die Konstellation, in die Lanzmanns Meisterwerk von ihm selbst gestellt wird. Reiht man nämlich seine Filme „Warum Israel“ (1973), „Shoah“ (1985) und „Tsahal“ (1994) zur bewusst angelegten oder auch unbeabsichtigt entstandenen Trilogie zusammen, so erweist sich das Prekäre seiner Gesinnungsausrichtung an der ideologischen Matrix dieses suggerierten Kausalnexus: Israel ist zur Welt gekommen, weil sich die Shoah ereignet hat, und das israelische Militär ist die Garantie dafür, dass Israel fortbesteht, es mithin zu keiner weiteren Shoah kommt. Abgesehen davon, dass Lanzmann dabei das, was ihm selbst als so unfasslich erscheint, dass er mit beachtenswerter Vorsicht an seine Rekonstruktion herangeht, zum schlichten Argument degradiert (und dabei mutatis mutandis dem unvorstellbaren Schindluder, den Israels gängige Politrhetorik mit diesem Argument qua Ideologem über Jahrzehnte getrieben hat, das Wort redet), – ist er bei alledem auch noch blauäugig genug, das an den Palästinensern begangene historische Unrecht, mit welchem die israelische Staatsgründung einherging, nicht angemessen zu beachten, unfähig, sich Rechenschaft darüber abzulegen, welche Folgen der israelische Militarismus für die israelische Gesellschaft selbst hat, und ob er Israels Sicherheit längerfristig wirklich zu garantieren vermag; vor allem aber manipulativ genug, sich dieses Arguments zu bedienen, um Judentum, Zionismus und Israel, mithin Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik wie selbstverständlich in eins zu setzen. Als „paranoiden Falken“ hat ihn mal ein israelischer Publizist angesichts seiner hysterischen Ausfälle in Israel während des Golfkriegs von 1991 apostrophiert. Die kritische Erörterung dessen wäre eine ungleich gewichtigere Aufgabe gewesen, als die Aufdeckung dieser oder jener Persönlichkeitsmängel und menschlicher Lebensdefizite, die man ihm zuweilen vorgehalten hat. Denn zwar entschlägt er sich mit seinem Meisterwerk den Fallen der Kulturindustrie, gerät aber dennoch ins Ideologische, das sich aus der Konstellation erschließt, in welche sein Meisterwerk gestellt ist (vgl. Zuckermann 2011, S. 428–430). Die Frage, die sich angesichts dieser Fallbeispiele erhebt, ist einem bekannten Vorwurf, den man der gesamten klassischen Kritischen Theorie über Jahre zu machen pflegte, namentlich den ihrer Diagnose eignenden aporetischen Ausweglosigkeit, verschwistert. Denn wenn die Kulturindustrie sich im 20. Jahrhundert nicht nur uferlos, gleichsam alle Poren der Gesellschaft infiltrierend, ausgebreitet, sondern sich auch in den Gefilden der „hohen Kultur“ eingefräst hat, mag sich der Zweifel einstellen, ob sie überhaupt noch eine im operativen Sinne brauchbare diagnostische Kategorie abgeben kann. Dies gilt nicht minder für den hier erörterten Zusammenhang. Dazu abschließend noch einige Anmerkungen. Der wohl rigoroseste Spruch, der das besagte Sackgassen-Gefühl befestigte, stammt bekanntlich von Theodor Adorno: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ (Adorno 1977, S. 30). Er hat an diesem zuweilen leicht modi-

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fizierten Satz gehalten, bis er ihn in der „Negativen Dialektik“ im Jahre 1966 zumindest teilweise revidierte. Da heißt es: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen“ (Adorno 1973, S. 355). Es heißt, diese (partielle) Wende habe Paul Celans Lyrik eingeläutet, allen voran die „Todesfuge“. Das Diktum zeitigte auch heftigen Widerspruch, nicht zuletzt von Celan selbst (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Nach_Auschwitz_ein_ Gedicht_zu_schreiben,_ist_barbarisch). Für den hier erörterten Zusammenhang scheint indes ein anderer Aspekt von Bedeutung zu sein. Denn, wenn Celans „Todesfuge“ zum Kriterium einer möglichen Revision von Adornos Apodiktik hinsichtlich der Unmöglichkeit einer Lyrik nach Auschwitz erhoben wird, stellt sich zugleich die Frage, welchen Stellenwert dieses Kriterium im Hinblick auf die allgemeine Erinnerungskultur beanspruchen darf. Celans Lyrik gilt nicht von ungefähr als nahezu hermetisch; es bedarf einer besonders reichen und tiefschichtigen kulturell-literarischen Kenntnis und Bildung, um sich ihr auch nur zu nähern. Kann das den Standard für eine kollektive Erinnerungskultur abgeben? Und kann eine Erinnerungskultur ihrem Anspruch gerecht werden, wenn sie nicht kollektiv wirkt? Ist sie „brauchbar“, wenn sie nicht zur kollektiven Matrix gerinnt? Diese Fragen knüpfen an die eingangs vorgestellten Überlegungen Adam Baruchs zu Yigal Tumarkins Tel Aviver Holocaust-Mahnmal an. Die moderne Abstraktion des israelischen Bildhauers bewirkte bei Baruch eine ähnliche Skepsis wie die modern-selbstbezogene Kunsthermetik Celans, in der gleichwohl Adorno offenbar eine Darstellungswahrheit wahrnahm, die sich den allzu verführerischen Fängen der Kulturindustrie, des kitschigen Klischees, der routinemäßigen Verdinglichung und letztlich der Entfremdung von dem, was es für ihn zu erinnern galt, entschlug. Bedenkt man, was für ein Schindluder mittlerweile mit der ShoahErinnerung in den meisten diesbezüglich relevanten Ländern betrieben wird, kann man sich eigentlich nur Adornos Emphase anschließen. Aber sein Kriterium kann im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft keins sein; es ist untauglich für eine Kultur, die ihrem Wesen nach auf Breitenwirksamkeit ausgestellt ist, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre kulturindustriellen Vorgehensweisen, sondern auch auf ihren immanenten Anspruch als Erinnerungskultur. Das Dilemma löst sich weder bei Baruch noch bei Adorno. Daran ins gleichwohl weder der Anspruch auf Wahrheit noch der auf kollektive Wirkung schuld. Dessen ist einzig ein gesellschaftlicher Zustand anzuklagen, welcher die Unvereinbarkeit beider Ansprüche aus der ihm zugrunde liegenden Strukturlogik generiert und sie zur unauflösbaren Aporie gerinnen lässt.

Literatur Adorno, T. W. (1951). Minima Moralia. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1963). Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. München: Deutscher Taschenbuch.

Erinnerungskultur und Kulturindustrie

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Adorno, T. W. (1971). Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (Hrsg.). (1977). Kulturkritik und Gesellschaft. In Gesammelte Schriften (Bd. 10.1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (1982). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (Hrsg.). (1990). Über ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘ (London, 18.03.1936). In Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Baruch, A. (2002) Unser ödes Leben mit dem Denkmal für die Shoah und die Auferstehung. In Ha’ir, 11.04.2002, S. 30–34 (hebräisch). Benjamin, W. (1969). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benjamin, W. (1982). Gesammelte Schriften (Bd. V-1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kertész, Imre „Was Auschwitz möglich gemacht hat, ist noch nicht verschwunden“: Der ungarische Nobelpreisträger für Literatur im ALBUM-Interview. In Der Standard, 14./15. November 2009. https://derstandard.at/1256744776006/Imre-Kertesz-Ein-Leben-nach-dem-Tod. Zugegriffen am 05.01.2019. Lanzmann, C. (1994). Ihr sollt nicht weinen. Einspruch gegen „Schindlers Liste“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.1994. https://de.wikipedia.org/wiki/Schindlers_Liste. Zugegriffen am 05.01.2019. Reichel, P. (2007). Erfundene Erinnerung – Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch. Zuckermann, M. (1998). Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands. Göttingen: Wallstein. Zuckermann, M. (2011). Zur Notwendigkeit der Unterscheidung von Werk und Person. Replik auf Ingrid Galsters Rezension der Autobiographie von Claude Lanzmann. Das Argument, 292, 428–430. Theodor W. A. (1973) Negative Dialektik (S. 355). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Internetquellen https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_–_Die_Geschichte_der_Familie_Weiss https://de.wikipedia.org/wiki/Nach_Auschwitz_ein_Gedicht_zu_schreiben,_ist_barbarisch https://de.wikipedia.org/wiki/Shoah_(Film) Lexikon des Internationalen Films: Schindlers Liste. https://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/? sucheNach=titel&wert=55606. Zugegriffen am 05.01.2019.

Neue Medien und Ideologie: Zur Dialektik der digitalisierten Aufklärung Wolfgang Bock

Zusammenfassung

Die Kritische Theorie der ersten Generation befasst sich noch nicht mit der Digitalisierung als technischem Vorgang, wohl aber mit deren theoretischen Grundlagen. Max Horkheimers Aufsätze aus den 1930er-Jahren kritisieren die Reduktion der Vernunft auf einen logischen Positivismus. Marcuse und Fromm werden in den 1960er-Jahren die scheinbar alternativlose Technologie bzw. den kybernetischen Sozialcharakter insbesondere in den USA als neue Ideologie beschreiben. In Deutschland nimmt Jürgen Habermas in seinem Beitrag „Wissenschaft und ‚Technik als Ideologie‘“ das Thema auf. Die Digitalisierung beschränkt sich aber nicht allein auf theoretische Konzepte, sondern wirkt in einer bestimmten instrumentellen Praxis, u. a. als Fertigungsform in der industriellen Produktion der Arbeitswelt (Rationalisierung und Sabotageresistenz) oder als Neue Medien im Bereich der Freizeit (siehe Pollock über Automation und Benjamin-Adorno über technische Reproduzierbarkeit). Spätestens mit dem Aufkommen der Personal Computer verändern sich diese Bereiche der bürgerlichen Öffentlichkeit nachhaltig und schlagen ineinander um. In den 1990er-Jahren wird die Digitalisierung in ihren Grundzügen sichtbar. Die postmodernen Philosophen Foucault, Lyotard, Deleuze und Derrida beschreiben die ersten Effekte; Befürwortern wie Kittler und Flusser stehen Kritiker der Ambivalenz wie Agamben oder Baumann gegenüber. Wenn eine auf der Grundlage der digitalen Medien organisierte Öffentlichkeit das Modell der zukünftigen Bürgerbeteiligung an der Demokratie abgegeben soll, sieht Habermas diese in seinen jüngsten Veröffentlichungen als gefährdet an. Dem widerspricht beispielsweise Han. Die Digitalisierung aber muss als technisches Instrument kritisch verstanden werden; dazu

W. Bock (*) Programa de Pós-Graduação em Filosofia - PPGF, Universidade Federal do Rio de Janeiro, Rio de Janeiro, Brasilien E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_67

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gehört auch die Aufdeckung der in ihr inhärent transportieren Phantasmagorien einer technizistisch betrachteten Zukunft als Ideologie. Schlüsselwörter

Kritische Theorien · Digitalisierung · Logischer Positivismus · Ideologie der Technik · Phantasmagorie

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Kritische Theorie und Digitalisierung: Erste Kontexte

Digitalisierung, Denkmaschinen und Ideologie Heute erscheinen die wesentlichen Elemente der Welt digital bestimmt zu sein: die Welt ist alles, was der digitale Fall ist, könnte man mit Ludwig Wittgenstein sagen (vgl. Wittgenstein 1984). Dieser Fall besteht aus Informationen zum instrumentellen Umgang mit Menschen und mit der Natur, über die man bereits verfügt oder doch zumindest glaubt, sie im Rahmen von big data in naher Zukunft zu besitzen. Es handelt sich bei der Digitalisierung zunächst um eine modellhafte Abbildung der Welt im entsprechenden Medium, dem Computer. Dass die Welt in absehbarer Zukunft aus nichts anderem bestehen soll, benennt die ideologische Dimension dieser Umschreibung von analog zu digital: das notwendig falsche Bewusstsein der an diesem Vorgang beteiligten Subjekte in Gestalt einer Reduzierung der Welt auf ihre digitale Relevanz. Dieser Prozess führt eine wissenschaftssoziologische Tendenz weiter, die einerseits als Positivismus und nominalistischer Konstruktivismus bekannt ist, andererseits zeigt sie sich als praktische Organisationsform der Produktionssphäre im entwickelten Kapitalismus. Diese führt nicht nur neue Kommunikations- und Registraturformen ein, sondern erlaubt zugleich auch neuartige Produktions- und Distributionsprozesse. Diese Formen ermöglichen im Prinzip eine gleichartige Rückmeldung in der Kommunikation und damit eine Erweiterung von einwegigen Kanälen wie Radio oder Fernsehen; zugleich machen sie eine zuvor ungeahnte Kontrolle der Teilnehmer möglich, wenn beispielsweise Smart TVs heute zugleich das Sehverhalten der Zuschauer obligat aufzeichnet und an die entsprechenden Kommunikationsagenturen wie Samsung, LG oder Google weitergeben oder von staatlichen Agenturen wie der NSA gleich das gesamte Mailaufkommen und alle geführten Telefongespräche in ganzen Staaten monatelang aufgezeichnet werden. Im Produktionsbereich haben wir ein ähnliches ambivalentes Bild: Durch die Herstellung auch von kleinen Stückzahlen im 3-D-Heimbetrieb kann prinzipiell eine verbilligte und demokratischere Herstellungsform antizipiert werden, die sich ihre Kunden gezielt im Internet aussucht. Die Rahmenorganisation aber wird auf absehbare Zeit noch von Großkonzernen beherrscht werden. Deutlich wird in diesen Fällen der janusköpfige Charakter der Digitalisierung. Unter den Vertretern der ersten Generation der kritischen Theorie findet sich niemand, der über die Digitalisierung unter diesem Namen nachgedacht hätte. Das hängt schlicht damit zusammen, dass der Ausdruck erst seit den 1980 Jahren Verwendung findet. Verstanden wird darunter im engeren Sinne die Übertragung und Speicherung von sogenannten analog vorliegenden Signalen in binärer, d. h.

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vom Computer lesbarer Form. Was als technisches Übertragungsverfahren aus der Nachrichtentechnik und Signalübermittlung beginnt, entwickelt sich rasch zu einer neuen Organisationsform der Produktionsmittel. Die Digitalisierung bestimmt das heutige tägliche Leben im Zusammenhang mit dem Computer und dem Internet so, dass sie nicht mehr wegzudenken ist. Sie nimmt, da sich mit ihr die Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben stellvertretend verbinden, auch eine religiöse Färbung auf. Ohne direkt als Religion zu erscheinen, verbindet sie Elemente von Heilsversprechungen durch Wundertechnik mit einem entsprechenden kybernetisch eingestellten Sozialcharakter. Dieser sieht die Welt papierlos und im Stande des Internets zu ihrer reinen Form gekommen. Ignatio Ramonet, der langjährige Chefredakteur der Zeitung Le Monde Diplomatique, spricht hier von einem MedienMessianismus, der mit den Phantasmagorien der Digitalisierung Hand in Hand gehe (vgl. Ramonet 1999). Die Digitalisierung kann, da sie nicht allein eine theoretische Konzeption aus der formalen Logik, sondern auch eine praktische technische Umsetzung umfasst, als Grundlage einer mikroelektronischen Revolution verstanden werden. In der Sache handelt es sich um eine Modellbildung einer bestimmten Form des Denkens in der Wissenschaft, die als Technik zugleich praktische und weltanschauliche Folgen zeitigt. Handfest wird dieser Vorgang zunächst in der kybernetischen Denkmaschine. Die diese vorbereitenden und begleitenden philosophischen, soziologischen und ökonomischen Konzepte werden von Max Horkheimer und Friedrich Pollock in ihren Aufsätzen aus den 1930er-Jahren in der Zeitschrift für Sozialforschung diskutiert. Es ist dann hauptsächlich Herbert Marcuse, der nach der Emigration in Amerika geblieben war und die dortige technische und ideologische Entwicklung in seinem Buch Der eindimensionale Mensch aufnimmt und kritisch beschreibt. Sein Text trägt den Untertitel: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (vgl. Marcuse 1967). Eine der seltenen direkten Verweise auf den Computer bei Theodor W. Adorno stammt von 1963 aus den Anmerkungen zum philosophischen Denken, die Herbert Marcuse gewidmet sind: „Aber Denken ist gleichzeitig mit seiner Verselbstständigung zur Apparatur Beute von Verdinglichung geworden, zur selbstherrlichen Methode geronnen. Grob offenbart sich das an den kybernetischen Maschinen. Sie stellen den Menschen die Nichtigkeit des formalisierten, seiner Sachgehalte entäußerten Denkens vor Augen, insofern sie manches von dem, woran die Methode subjektiver Vernunft ihren Stolz hatte, besser vermögen als die denkenden Subjekte. Machen sich diese leidenschaftlich zu Vollzugsorganen solcher Formalisierung, so hören sie virtuell auf, Subjekt zu sein. Sie nähern sich den Maschinen als ihr unvollkommeneres Abbild. Philosophisches Denken beginnt erst, sobald es sich nicht begnügt mit Erkenntnissen, die sich absehen lassen und bei denen nicht mehr herausschaut, als man schon hineinsteckte. Der menschenwürdige Sinn des Computers wäre es, das Denken der Lebendigen so sehr zu entlasten, daß es Freiheit gewinnt zu dem nicht schon impliziten Wissen“ (Adorno 1965, S. 599–600).

Adorno gibt bei dieser Reduzierung des Denkens auf formale Logik, die in der Maschine steckt, zwei Gesichtspunkte vor: die kränkende Kritik der subjektiven Vernunft, ihr bisheriges Vermögen durch einen schnöden Apparat ersetzt zu sehen

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auf der einen Seite und die Möglichkeit einer neuen Freiheit des menschlichen Denkens durch die Entlastung von automatisierten Aufgaben andererseits. Damit folgt er seiner früher formulierten Vorstellung über die Bedeutung der Philosophie im Zusammenhang mit den anderen Wissenschaften. Dieser fiele die Rolle einer Deuterin mit Hilfe eines spekulativen dialektischen Denkens zu. Das nämlich könne im Rahmen einer Kompilation aus vorgefertigten Vorgaben, wonach der Computer als Kombinationsmaschine (engl.: to compute) benannt wird, allein nicht geleistet werden (vgl. Adorno 1931/1986). Lebendiges Denken müsse sich aufmachen, um Neues zu finden, das anders strukturiert sei als Bekanntes miteinander zu verknüpfen. Damit sieht Adorno die Denkmaschinen als zum Gegenstand geronnene Methode des Neopositivismus an (vgl. Adorno et al. 1978). Marcuse und Adorno kannten allerdings nur die frühen Computer von IBM, die um 1960 noch ganze Räume füllten. Mithilfe des Mikrochips und benutzerfreundlicher Software erobern in den 1980er-Jahren bekanntlich die individuellen Personal Computer den Markt. Die Maschinen aber dienen nicht nur den Menschen; um sie benutzen zu können, muss sich deren Denken und Handeln auch diesen anpassen. Joseph Weizenbaum zeigt im historischen Teil seiner Untersuchungen zur Entwicklung des Computers auf, wie sich die Kraftmaschinen zu Denkmaschinen entwickeln, deren Modelle die Uhren und die Monaden der Barockzeit abgeben. Diese Konstellation der Denkmaschinen und der darin steckenden Konzepte erlaubt am Ende des 20. Jahrhundert ihre rapide Entwicklung zur vorherrschenden Alltagstechnik. Das Bild des Automaten als die Inkarnation der objektiven und besseren Welt, dass aus der Barockzeit stammt, wird mit modernen Fertigungstechniken verknüpft. Weizenbaum stellt diese Genese in den Kontext der Etablierung der instrumentellen Vernunft gegenüber der Logik der Psychoanalyse. Er beschreibt unter anderem anhand der Meteorologie die Ausscheidung anderer qualitativ bestimmter Methoden aus dem gängigen Forschungstableau; dieses werde nun von operationalisierbaren Faktoren bestimmt. Weil der auf immer mehr und immer genaueren Messdaten angewiesene computergestützten Methode der Vorzug gegeben werde, trete die Bedeutung einer an anderen qualitativen Momenten orientierten Forschung zurück (vgl. Weizenbaum 1986). Wissenschaft und Technik als Ideologie Die kritische Theorie wendet sich den entsprechenden Denkmustern unter der Perspektive der Ideologiekritik zu. Sie untersucht in der Neuzeit, ausgehend von der Religionskritik, den subjektiven bürgerlichen Idealismus und die Idee des historischen und zivilisatorischen Fortschritts. Das frühbürgerliche Denken im 17. und 18. Jahrhundert hatte sich bei Descartes im Namen des Rationalismus, bei Locke und Hume als Empirismus vor allem gegen die überkommene Metaphysik ihrer Epoche gewandt. Im 19. und 20. Jahrhundert fallen unter solche Kritik für Max Horkheimer auch die Wissenschaft und die Technik selbst als wichtige Faktoren gesellschaftlicher Progression im Zusammenhang der Naturbeherrschung. Diese hatte in den vorherigen Epochen die bürgerliche Emanzipation von der Welt des Klerus und des Adels erlaubt, welche die Wissenschaft als Produktivkraft noch unterdrückte. Mit dem Erfolg des Bürgertums gegen die anderen Klassen verändert sich nicht allein das Versprechen des Fortschritts; auch die dabei verwendeten Mittel

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der Wissenschaft und Technik werden in diesen Prozess mit einbezogen. Dieser Vorgang ist historisch gesehen der Zusammenhang, den man erklären muss, wenn man sich der aktuellen Form des wissenschaftlichen Fortschritts, der Digitalisierung und ihrer Ideologie, im Rahmen der Frankfurter Theorie zuwendet. In den Worten Max Horkheimers: „Die Verteidigung der Wissenschaft gegen die Theologie mittels erkenntnistheoretischer und logischer Argumente war fortschrittlich im siebzehnten Jahrhundert, die Philosophen machten sich zum Anwalt eines Faktors der neuen gesellschaftlichen Lebensweise. In unseren Tagen, in denen diese geschichtliche Form ihre Bedeutung für die Menschen längst geändert hat, immer noch zu meinen, das ihr zugehörige Fachwissen und der Betrieb seiner Herstellung sei die einzig legitime intellektuelle Betätigung, und was über sie hinausgehe, sei prinzipiell Theologie oder sonst ein transzendenter Glaube, oder die krasse Reaktion und Sinnwidrigkeit, zu meinen, der entscheidende Gegensatz habe sich nicht verschoben und sei nach wie vor und in derselben Schattierung Wissenschaft contra Metaphysik und Metaphysik contra Wissenschaft, setzt eine unendlich einfache Ansicht der historischen Situation voraus.“ (Horkheimer 1937a, S. 51)

Mit einer solchen Kontextualisierung der Digitalisierung treten wir in einen bestimmten Zusammenhang ein, der bereits ein früher Gegenstand des Interesses im Institut für Sozialforschung ist. Dieser wird, wie bereits angedeutet, in den 1930er-Jahren von Max Horkheimer und seinen Aufsätzen zur Kritik der bürgerlichen Philosophie gebildet. Dazu gehört auch der logische Positivismus, der über die Formalisierung der Aussagenlogik die größte Nähe zur kybernetischen Steuerungswissenschaft besitzt (vgl. zum Positivismus ausführlicher den Beitrag von Müller/Bittlingmayer in diesem Handbuch). In der Formulierung seiner Kritik arbeitet Horkheimer zunächst vor allem eng mit Friedrich Pollock, Herbert Marcuse und Erich Fromm zusammen. Diese Ansätze werden anschließend von ihm 1944/1947 mit der Dialektik der Aufklärung zusammen mit Theodor W. Adorno und 1947/1967 mit der Kritik der instrumentellen Vernunft weitergeführt (vgl. Horkheimer und Adorno 1987; Horkheimer 1967). Dazu treten dann im industriellen produktionstechnischen Feld weiterhin Friedrich Pollocks Untersuchungen aus den 1950er-Jahren über Automatisierung und in der nächsten Dekade dann Herbert Marcuses Studien zu den durch die neue Technologie beeinflussten Bewusstseinsformen (vgl. Pollock 1956; Marcuse 1967). Auch Erich Fromm antizipiert in seinen nach der Trennung vom Institut Ende 1939 unabhängig entstehenden Schriften eine Charakterisierung des marktkonformen technischen Menschen, die er als „kybernetische Religion“ bezeichnet (vgl. Fromm 1976). Theodor W. Adorno und Walter Benjamin diskutieren bereits in den 1930er-Jahren in ihrem Briefwechsel anhand ihrer Arbeiten über Musik und Film ebenfalls über die Kategorie der neuen Reproduktionstechnik in der Ästhetik (vgl. Adorno und Benjamin 1994). Adorno schließlich betont in den 1960er-Jahren die Reduktion des Diskurses auf Aspekte formaler Logik; er hebt aber zugleich wiederum den Fetischcharakter der Ware und den Schleier der Technik hervor, die beide auch im Zusammenhang mit den neuen digitalen Apparaten einem falschen Bewusstsein unterlägen. Das mache den ideologischen Charakter des Umgangs mit den Maschinen wie

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Auto, Radio und Fernsehen aus. In besonderem Masse gilt dieses Urteil vorausweisend auch für den Verkehr mit dem Computer (vgl. Adorno 1965). Neuere Analysen Jürgen Habermas knüpft 1968 an Herbert Marcuses Überlegungen an und findet im Zusammenhang mit seiner eigenen Fassung von Erkenntnis und Interesse zu der Formulierung von „Wissenschaft und Technik als ‚Ideologie‘“ (vgl. Habermas 1968, S. 9–47). Er setzt aber bereits die Ideologie in Anführungszeichen und deutet damit an, dass der kritische Ideologiebegriff, der sich von Hegel und Marx herschreibt, in Bezug auf die neue Technik bis an seine Grenzen angespannt wird. Er untersucht, wie die Wissenschaft, die mit der Rationalisierung in der bürgerlichen Emanzipation antritt, um das Ancien Regime zu beerben, im weiteren Verlauf selbst Züge eines neuen Mythos annimmt. Dabei geht es ihm darum, den Selbstaufklärungsprozess der bürgerlichen Öffentlichkeit zu forcieren, den er im Rahmen der politischen Interessen in der Studentenbewegung vorantreiben will. Dazu wendet er sich vom marxistischen Realismus seiner Vorgänger ab und verändert die Modelle der Technikkritik von Marcuse, Adorno, Benjamin und Horkheimer hin zu einer tendenziell nominalistischen Kommunikationstheorie, der es bei der Arbeit nicht allein um Mehrwertproduktion, sondern primär um die gegenseitige soziale Anerkennung gehe (vgl. Habermas 1968, S. 57). Dieses Motiv, das von Hegel herstammt, wird Axel Honneth zusammen mit einer Hinwendung zur Psychoanalyse Donald Winnicotts weiter aufnehmen (vgl. Honneth 1994). Habermas selbst versucht an einem kritischen Begriff des Diskurses festzuhalten, den er heute durch die Machtverhältnisse des Internets immer weniger gewährleistet sieht (vgl. Habermas 2008, S. 138–191). Die Enthüllungen über die Datenkraken Google, Microsoft, Apple, Facebook und Co, die für private Ziele die Daten der Nutzer aufarbeiten und weiterverkaufen sowie die nächste Reihe der staatlichen Spionageagenturen wie CIA, NSA, MI6 usf. geben ihm darin Recht. Will man heute etwas Kritisches zur Ideologie der Digitalisierung sagen, so kann man sich allerdings nicht allein auf Habermas beziehen, sondern muss einerseits wiederum an Marcuse, Benjamin, Horkheimer und Adorno anknüpfen, sich andererseits aber auch auf Theoretiker wie Friedrich Kittler, Vilém Flusser, Rudolf zur Lippe, Jean Baudrillard, Paul Virilio, Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Giorgio Agamben, Zygmunt Bauman oder auch Byung Chul Han einlassen. Daher soll, nachdem im Anschluss die Referenzen zur ersten Generation der kritischen Theorie aufgezeigt worden sind (Abschn. 2, 3 und 4), in den weiteren Teilen (5 und 6) ein solcher aktualisierender Versuch unternommen werden.

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Zur Kritik der philosophischen Grundlagen

Die Frage nach der Reduktion des modernen bürgerlichen Denkens von der Freiheit zur Technokratie treibt Max Horkheimer bereits in seiner knappen Ideenskizze Wissenschaft und Krise um, den ersten Text mit dem er 1932 die Edition der Zeitschrift für Sozialforschung einleitet (vgl. Horkheimer 1932/1980, S. 5–9). Im Anschluss an

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Max Weber bestimmt er die Wissenschaft im entwickelten Kapitalismus als Produktivkraft. Seine Darlegung über die entsprechende Ideologie bleibt allerdings noch allgemein; es geht ihm um die in diesem Bereich herrschende Unordnung. Darin enthalten aber ist bereits eine Kritik an Max Webers reduzierter Rationalität des modernen Kapitalismus und der entsprechenden Ideologie: „Nicht bloß die Metaphysik, sondern auch die von ihr kritisierte Wissenschaft selbst, insofern sie eine die Aufdeckung der wirklichen Krisenursachen hemmende Gestalt bewahrt, ist ideologisch.“ (Horkheimer 1932, S. 5) In seinen nächsten Texten wendet er sich bald der Kritik des zeitgenössischen Rationalismus und des logischen Positivismus, namentlich der Wiener Schule und Bertrand Russels zu. Horkheimer sieht diese Konzepte als die „neueste bürgerliche Ideologie“ an, die den Geist als frei sich vorstellt und damit noch einmal auf eine andere Weise als der deutsche Idealismus des 19. Jahrhunderts, den Marx und Engels in der Deutschen Ideologie kritisiert hatten, ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen hypostasiere. Horkheimer aktualisiert mit dieser Einschätzung einer Ideologie der scheinbaren Unabhängigkeit des bürgerlichen Denkens von der Sphäre der Arbeit. Dabei handele es sich nicht um ein moralisches Fehlverhalten oder um einen logischen Denkfehler. Dieses notwendig falsche Bewusstsein gehöre vielmehr, so der grundlegende Gedanke, zum Leben in der ungerecht eingerichteten bürgerlichen Tauschgesellschaft hinzu. Es sei die strukturelle Verlängerung der ungerechten Welt in die Sphäre des affirmativen Denkens hinein. Im 18. und 19. Jahrhundert käme der Philosophie die Rolle zu, die gesellschaftliche Entwicklung objektiv vorauszusehen. Verpasste aber das Denken seine Verwirklichung, so verlöre es diesen lebendigen Charakter und konserviere selbst bereits überholte Verhältnisse. Für das 20. Jahrhundert gelte: „Das gesellschaftlich bedingte falsche Bewußtsein von heute ist nicht mehr objektiver Geist, auch in dem Sinne, daß es keineswegs blind, anonym aus dem gesellschaftlichen Prozeß sich kristallisiert, sondern wissenschaftlich auf die Gesellschaft zugeschnitten wird.“ (Horkheimer et al. 1956, S. 176 und Adorno 1954a, S. 457–477).

Horkheimers drei große Aufsätze Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, Der neueste Angriff auf die Metaphysik und Traditionelle und kritische Theorie befassen sich dementsprechend mit der neopositivistischen Philosophie (vgl. Horkheimer 1934, 1937a, b; Haag 1985). Diese geht für Horkheimer nach dem Muster der unhistorischen naturwissenschaftlichen Erkenntnis vor. Sie verwende eine Logik ohne Dialektik, die nur noch sogenannte Tatsachen in Form von Protokollsätzen zulasse und mit der Ablehnung einer affirmativen Metaphysik auch eine von Aristoteles, Kant und Hegel sich herschreibende negative metaphysische Skepsis aus der Welt verbannen wolle (vgl. Wittgenstein 1984). Angesprochen wird hier ein formales und modellhaftes Denken der Welt, das es nicht allein bei einem verstehenden Nachvollzug belässt, sondern auf solcher reduzierten Grundlage zugleich die Welt normativ neu entwirft. Horkheimer ist keinesfalls pauschal gegen die wissenschaftliche Aufklärung eingestellt, wie ihm von ungenauen Lesern oft unterstellt wird (vgl. Bense 1950). Die Kritik an der affirmativen Metaphysik teilt er durchaus mit Otto Neurath, Ernst

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Mach, Ludwig Wittgenstein und anderen Vertretern des Wiener Kreises. Immerhin dachte er in der Emigration noch bis 1937 ernsthaft darüber nach, zusammen mit Neurath und anderen ein gemeinsames Forschungsinstitut zu gründen. Der Plan wird dann aber fallengelassen (vgl. Wilsmann 2005). Horkheimer hebt im alten Rationalismus ein selbstbewusstes bürgerliches Subjekt hervor, das im neuen auf bestimmte nachvollziehende Funktionen reduziert werde. Kritisches dialektisches Denken sperre sich bereits mit Hegel gegen eine Formulierung in kybernetischer Logik; die Kritik an Hegel, die er daraufhin mit Marx übt, treibt dieses Argument noch weiter und aktualisiert es angesichts des rationalisierten Kapitalismus, der ebenfalls die Gestalt einer blinden Struktur annehme. Horkheimer wird seinen Standpunkt 1944 und 1947 im ersten Abschnitt zum „Begriff der Aufklärung“ in der Dialektik der Aufklärung gemeinsam mit Adorno nochmals zuspitzten. Der Neopositivismus wird nun mit den allerfrühesten theoretischen Veranstaltungen der Menschheit zusammengedacht, die mit Magie, Animismus und imitierender Mimesis einer Welt sich anzuähneln und zugleich vergeblich zu entkommen versuchten: „Technik ist das Wesen dieses Wissens [als Macht, W. B.]. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital.“ (Horkheimer und Adorno 1987, S. 26). Im Abschnitt über die Kulturindustrie wird diese Kritikfigur von beiden Autoren dann auf die spätbürgerliche Öffentlichkeit, ihre Kommunikationsagenturen und die darin eingepasste affirmative Kunst übertragen (vgl. Horkheimer und Adorno 1987, S. 144–196). In ihren weiteren Arbeiten greifen beide Autoren auf diese Kritiklinie zurück, die die Reduktion der Philosophie und Soziologie auf einen „logischen Empirismus“, externe und interne Verhaltenssteuerung, Kybernetik und die Tendenz zur quantitativen Verzifferung der Welt angreift. Horkheimer nimmt sie in seinem nächsten Buch Zur Kritik der instrumentellen Vernunft nochmals auf und führt sie weiter (vgl. Horkheimer 1967). Sie findet sich etwas anders akzentuiert auch in Adornos Minima Moralia und dessen Texten zur Genese des Autoritären Charakters, insbesondere nun im Zusammenhang mit einer Kritik des „Schleiers der Technik“ (vgl. Adorno et al. 1950, S. 143–144). In Adornos Engagement gegen den Positivismus in den Sozialwissenschaften im Nachkriegsdeutschland wird diese Kritik dann in den folgenden Jahrzehnten fortgesetzt (vgl. Horkheimer und Adorno 1962; Adorno 1969). Prinzipiell bleibt das Faktum bestehen, dass die Menschen sich und der Welt nicht als Naturwesen gegenübertreten, sondern als Subjekte, die sich und ihre Arbeitskraft in der bestehenden antagonistischen Welt des Kapitalismus reproduzieren müssen. Das bestimmt auch ihr Denken dann noch, wenn sie sich selbst als frei empfinden und geht unerkannt in ihre entsprechenden Urteile mit ein. Vom regulierten autoritären zum deregulierten kybernetischen Sozialcharakter Obwohl sie von solchen Theorien auf Funktionen reduziert werden, spielt bei dieser Art der Wissensproduktion das Bewusstsein der Forscher und ihrer Probanden dennoch eine tragende Rolle. Adorno reflektiert diese Zusammenhänge in seinem kleinen Text Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika (vgl. Adorno 1977, S. 702–738). Die gesellschaftlichen Bedingungen in der technologisch hochgerüsteten Gesellschaft

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evoziert eine Bewusstseinslage, die in den späten 1960er-Jahren den autoritären Charakter abzulösen beginnt. Diese trat in den USA durch den technischen Entwicklungsvorsprung deutlicher hervor und war dort leichter zu beschreiben als im Europa der Nachkriegszeit. Dieser Entwicklung gelten die Arbeiten von Herbert Marcuse und Erich Fromm. So verschieden die entsprechenden Ansätze sind und von ihnen selbst auch beurteilt werden, so richten sie sich doch gemeinsam auf einen besonderen Typus von ideologischem Bewusstsein. Dieser gehört zu einer technisierten Welt des Kapitalismus, den technokratischen Veränderungen und seinen funktionalen Anforderungen dazu. Die entsprechenden Charaktere stellen das nicht infrage und kommen dieser Entwicklung von sich aus entgegen. Im Eindimensionalen Menschen heißt es: „Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft nicht nur vermittelst der Technologie, sondern als Technologie, und liefert der expansiven politischen Macht, die alle Kulturbereiche in sich aufnimmt, die große Legitimation. [. . .] Technologische Rationalität schützt auf diese Weise eher die Rechtmäßigkeit von Herrschaft, als dass sie sie abschafft [. . .]“ (Marcuse 1967, S. 172–173)

In seinem Aufsatz von 1965 über die Doppeldeutigkeit von Max Webers Begriff der Rationalisierung im politisch orientierten Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts heißt es zugleich weiter gegen eine gängige marxistische Auffassung, die Technik sei als Konzept ideologiefrei und müsse nur richtig eingesetzt werden: Der Begriff der technischen Vernunft ist vielleicht selbst Ideologie. Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft. Bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft sind nicht erst „nachträglich“ und von außen der Technik oktroyiert – sie gehen schon in die Konstruktion des technischen Apparats selbst ein; die Technik ist jeweils ein geschichtlich-gesellschaftliche Projekt; in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden Klassen mit den Menschen mit den Dingen zu machen gedenken. Ein solcher Zweck der Herrscher ist „material“ und gehört zur Form selbst der technischen Vernunft. [. . .] Die formale Rationalität des Kapitalismus feiert ihren Triumph in den alles gleichgültig zu welchem Zweck berechnenden electronic computers, die als mächtige Instrumente manipulierender Politik eingesetzt werden und die Gewinn- und Verlustchancen mit höchster Sicherheit berechnen – einschließlich der Chance der Vernichtung des Ganzen, mit dem Einverständnis der ebenfalls berechneten und gehorchenden Bevölkerung. Die Massendemokratie wird plebiszitär auch in der Wirtschaft und Wissenschaft: die Massen wählen selbst ihre Führer ins Gehäuse der Hörigkeit (Marcuse 1965, S. 179–180).

Marcuse aktualisiert für seine Analyse auch die von ihm rezipierte Abhandlung Edmund Husserls über die Krisis der europäischen Wissenschaft, sowie Martin Heideggers Kritik der abendländischen Metaphysik und der Technik als Gestell (vgl. Husserl 1936/2012; Heidegger 1962/1996). Sein technologischer Begriff des Computers zielt aber, wie bereits gesagt, auf die großen IBM-Maschinen ab, die im militärisch-industriellen Komplex und der Wissensproduktion der USA eingesetzt wurden. Auch das Internet existiert noch nicht, obwohl bereits an der militärischen Vorform als Arpanet geforscht wird. Die kleineren Maschinen von Apple und

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anderen werden dann flexibler und tragen den Operationalismus weiter in die Alltagswelt. Sie ermöglichen im zivilen Internet zumindest prinzipiell zugleich eine zweiseitige Kommunikation, die anders als die Einbahnstraßen der großen Massenmedien Rundfunk, Film, Fernsehen oder Presse funktionieren. Entsprechend ist das Verhältnis von Möglichkeit und Kontrolle anders positioniert. Erich Fromm hatte bereits 1976 in Haben oder Sein in der Weiterentwicklung des protestantischen einen „kybernetischen Sozialcharakter“ ins Auge gefasst. Er diskutiert das im Kontext einer heidnischen Technikreligion, analog etwa zur Astrologie als Mythos des Alten, dem nun ein Mythos des Neuen umstandslos hinzugefügt wird. Obwohl er selbst tendenziell undialektisch vorgeht und seinem „Haben-Charakter“ pauschal einen „Seins-Charakter“ entgegenstellen will, bemüht er sich dennoch, die Rezeption und den Gebrauch der Technik in den Kontext des sich bereits abzeichnenden Medienmessianismus zu stellen (vgl. Fromm 1976; Ramonet 1999).

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Digitalisierung und industrielle Produktion

Automation In Theodor W. Adornos Analysen der 1960er-Jahre widmet sich dieser ebenfalls einer entsprechenden neuen ideologisch unterfütterten Theorieproduktion in der Wissenschaft. Diese wende sich einer reduzierten Empirie zu und wolle technikaffine Weltbilder gegen eine dialektische kritische Theorie der Gesellschaft setzen (zum Motiv der Dialektik vgl. die Beiträge von Demirovic und Holzer im Handbuch). Die Digitalisierung als ein technologisches Verfahren, das computergesteuerte Regelungsmethoden verwendet, taucht hier als Begriff immer noch nicht auf. Sie steht aber bereits im Hintergrund bereit. Heute gängige technizistische Vorstellungen der Digitalisierung reduzieren diese auf eine scheinbar neutrale, den angeblich ideologiefreien Werkzeugcharakter der Technik wiederholenden Übertragung von Texten, Bildern, Musik oder dreidimensionalen Objekten durch einen digitalen Code. Aber bereits seit den 1940er-Jahren finden wir in der Militärtechnik, in der Elektrobranche und in der metallverarbeitenden Industrie solche Regeltechniken als Herstellungsverfahren und als Konzepte in deren konzeptuellen Überbau. Friedrich Pollock diskutiert nach seinen Einlassungen zum Staatskapitalismus der Epoche in einer wegweisenden Arbeit über den Wandel der technologischen Grundlage der Produktion die entsprechenden Verfahrensweisen (vgl. Pollock 1942, 1956 und Van Reijen und Bransen 1987, S. 453–457). Der Vorgang, der an Taylors und Fords Rationalisierungsmaßnahmen der Fließbandproduktion und der wissenschaftlichen Betriebsführung der späten 1920er-Jahren anknüpft, wird zunächst als zweite industrielle Revolution bekannt, als Maschinen, die Maschinen steuern. Daran schließt sich später eine durch die Minimierung und Verfeinerung dieser Technik geprägte (beispielsweise in Mikrochips und durch das Internet gestützte) dritte digitale Phase an (vgl. Hack 1998, 2007; Hack und Hack 2005). In den 1940erund 1950er-Jahren ist noch hauptsächlich von Automatisierung, Kybernetik, Regelkreisen und der automatischen Fabrik die Rede, in welcher die muskuläre menschliche Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt wird. Diese versucht, die motorischen

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Arbeiten der Grobgriffe, zunehmend aber auch bereits sensualistische Feingriffe wie Fühlen, Spüren und Prüfen, schließlich intelligente Funktionen wie Planen und Ausführen telematisch nach und nach zu ersetzen. Letztere basieren auf des sogenannten selbstregulierenden Theoremen der frühen Kommunikations- und Kognitionswissenschaften, die Elemente wie Regelkreisläufe, Rückkoppelungen (Feedback), Servo-Mechanismen, Kalkulationen und Überprüfungen von Arbeitsabläufen durch Computer integrieren. Diese Transformation der Arbeitswelt führt dann in den frühen 1980er-Jahren in der Autoindustrie zu kompletten und vollautomatischen Bandstraßen durch Roboterfertigung. Andere Branchen ziehen nach. Das Ideal besteht darin, dass der Erfinder-Ingenieur mit seinem intelligenten Fabrikroboter so allein ist, wie Daniel Düsentrieb und sein Helferlein oder Ironman mit seiner Konstruktionsmaschine. Wir treffen nur noch den Geist und die regulierte Materie; was jeweils fehlt, sind die Arbeiter. Im Film Metropolis von Fritz Lang von 1927 gab es immerhin noch die Jugend als Herz und Vermittler zwischen Kapitalisten und Arbeiter. In den zeitgenössischen filmischen Phantasmagorien der Comic-Hefte von Walt Disney, DC und Marvel, die heute die Bilder der 1950er- und 60er-Jahre mit Hilfe der digitalen Filmtechnik umsetzen, fällt ebenfalls systematisch die Seite der Arbeit fort. Das ist kein Zufall, sondern bewusst intendiert. Diese zugunsten einer verallgemeinerten Rationalität vergessen machen zu wollen, bildet den ideologischen Hauptgegenstand der Filme mit ComicUmsetzungen von allegorisierten industriellen Kräften in Ironman, X-Men oder Thor (vgl. Bock und Schramke 2009). Im 19. Jahrhundert stellen Allegorien wie der Herkules noch Bilder der arbeiteten Massen selbst dar; heute sind nur noch die Bilder geblieben, wofür sie stehen, ist tendenziell verloren. Von der Automation zur Digitalisierung Nach Karl Marx’ kritischer Analyse aus den Grundrissen besitzt die Rationalisierung der Arbeitsvorgänge zwei unterschiedliche Quellen: Einmal eine Vereinfachung und Optimierung der Produktionsabläufe als technisch-ökonomische Seite des relativen Mehrwerts in der Konkurrenz der Einzelkapitale und zum zweiten eine Sabotageresistenz gegen Eingriffe durch die Arbeiter als deren soziale und politische Dimension. Das gilt in besonderem Maße auch für die Digitalisierung als den folgenden Automatisierungsschritt. Als Reaktion auf die großen Streiks der Jahre 1969–73 in der italienischen Automobilindustrie wird die Digitalisierung in den 1970er-Jahren als dezentrale Produktions- und Organisationssteuerung eingeführt, die beide von Marx angesprochenen Bereiche abdeckt. Große Teile der Produktion werden in kleine Fabriken und Zuliefererfirmen ausgelagert, deren Wege leichter zu kontrollieren sind als die streikanfälligen Großproduktionsanlagen des Fordismus (vgl. Morini 1994, S. 115–116). Hier setzt dieses Verfahren im großen Maßstab als weitergehende Taylorisierung und detailliertes Operationalisieren der einzelnen Arbeitsprozesse ein, die kaum noch Facharbeiter benötigen und leichter überwacht werden können. Durch die Ablösung der vormaligen zentralistisch eingesetzten Großcomputer, die fast ausschließlich von IBM oder an den US-Universitäten in Eigenarbeit hergestellt worden waren, durch Mikrocomputer, nehmen diese Tendenzen noch einmal zu.

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Auch der Charakter der Arbeit verändert sich dadurch nachhaltig. Für die Arbeiter bleiben im digitalen Produktionsmodell mit flachen und vernetzten Hierarchien als Handarbeit tendenziell nur noch die Anlieferung („Input“) und die Ablieferung („Output“) als Hebearbeit und als Kopfarbeit die weitere Programmierung und das Controlling von Arbeitsabläufen übrig. Das führt zum Rückgang der Facharbeiter, zur Zunahme der Bedeutung der IT-Ingenieure und, bedingt durch das weitere Outsourcen in kleinere Einheiten, weiter tendenziell zur Zusammenarbeit und Identifikation auch der unteren und mittleren Arbeitsschichten mit dem Manager und seinen Aufgaben. Richard Sennett gibt zu diesem Wechsel in der Arbeitsorganisation in seinen Büchern Der flexible Mensch, Handwerk und Zusammenarbeit eindrückliche Beispiele aus verschiedenen Branchen im Westen (vgl. Sennett 2000, 2009, 2012). Die Chip- und Halbleiterproduktion wird einige Jahre später von fast allen Herstellern in Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen verlegt, hauptsächlich nach Ostasien, das heißt Korea und China (vgl. Böhle und Milkau 1988; Schmiede 1996; Baukrowitz et al. 2006). Wie bereits Friedrich Pollock beschreibt, besitzen die tayloristisch und fordistisch geprägten Arbeitsvorgänge der 1950er-Jahre durch die wissenschaftliche Betriebsführung einen engen Zusammenhang mit den Kommunikationstheorien der Epoche. Das gilt erst recht für die aktuellen Entwicklungen. Diese Verbindungen gehen auf entsprechende organisationspsychologische und Bewegungsstudien von Hugo Münsterberg und dem Ehepaar Liane und Frank Gilbreths vom Anfang des 20. Jahrhundert zurück (vgl. Giedion 1948/1987, S. 126; Bock 2006, S. 76–107). Ihr Ansporn entsteht im Zweiten Weltkrieg aus kriegswichtigen Steuerungsaufgaben beispielsweise von Bordkanonen in Flugzeugen und anderen Problemen im US-amerikanischen Heereswesen. Die Pionierleistung der Mechanisierung der Kommunikation wird durch die Arbeiten Norbert Wieners und denjenigen von Claude Shannon mit Warren Weaver aus solchen kriegswichtigen Fragen heraus geleistet. Die Ergebnisse werden anschließend generalisiert und wieder auf die Kommunikation zwischen Menschen, Tieren und Maschinen zurück übertragen (vgl. Shannon und Weaver 1949; Wiener 1968; Frisch 1957/1998). Diese Verfahrensweise, die dann unter anderem systemtheoretisch fundierte autopoietische Regelkreisläufe, flache Hierarchien und intrinsische Motivation ihrer Mitarbeiter einsetzt, beginnt in der erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Produktionssphäre durch die weitreichende Übertragung von Kommunikationstheorien auf die Herstellungstechnologie und vice versa. Sie greift in den 1960er- und 70erJahren als ästhetische Verfahrensweise des Pop bald auf die Sphäre der Kulturindustrie einschließlich der Werbung und der Medien über, sie lässt auch die Kunst nicht unbeeinflusst, die zuvor eigene Zugänge zur Reproduktion entwickelt hatte. In den 1980er- und 1990er-Jahren schließlich erfährt so gut wie alles, was in der öffentlichen und nichtöffentlichen Sphäre als präsentierbar gilt, eine entsprechende Umwidmung. Etwa seit dem Jahr 2000 wird die digitale Repräsentation und Darstellungsweise, der digital turn, vollends zur technologischen Grundlage dieser Gestaltung, der sich auf diese Weise neue informierenden Öffentlichkeit. In einer Studie wird geschätzt,

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„daß 2007 bereits 94 % der weltweiten technologischen Informationskapazität digital war (nach lediglich 3 % im Jahr 1993). Es wird angenommen, daß es der Menschheit im Jahr 2002 zum ersten Mal möglich war, mehr Information digital als analog zu speichern (der Beginn des „Digitalen Zeitalters“)“ (Hilbert und López 2011; vgl. Bock 2005, S. 12–23).

Auf diesem schleichenden Übergang zu einer neuen technischen und damit ein verändertes Bewusstsein hervorbringenden technologischen Form gründet die ideologische Bedeutung der Digitalisierung. Sie ist keine technische Übertragungsmethode allein, sondern zugleich eine Passage in eine Welt, die sie nun nach ihren Regeln ordnet, nicht umgekehrt. Heute leben wir in einer Umgebung, die aufgrund der geschilderten Vorgänge und anderer durchgreifender Methoden in der Wissenschaftsorganisation gegenüber den Technik der 1950er- und 1960er-Jahre ganz erhebliche Änderungen erfahren hat. Diese Tendenz wird in der Zukunft noch zunehmen. In diesem Zusammenhang spricht man vom Internet der Dinge (IoT) (vgl. Engemann und Sprenger 2015). Kaum ein Gegenstand im Haushalt in den westlichen Industrieländern wird sich nicht mit dem Internet verbinden lassen. Auch bietet zum Beispiel das Elektroauto nicht allein Treibstoff aus der Steckdose, sondern kann komplett und mit allen Teilen online gehen. Es wird damit von außen kontrollierbar und liefert auswertbare Datensätze über die Maschine, die zurückgelegte Strecke und den Fahrer. Ähnliche Steuerungen verbinden im E-Home Solaranlagen, Heizung, Kühlschränke und Türschlösser mit Küchengeräten, Sound- und Filmmaschinen ebenso wie Staubsauer und Rasenmäher. So malen sich jedenfalls die Konzernchefs von Volkswagen, Siemens, Linde oder Bosch ihre Zukunft aus (vgl. Lamparter und Tatje 2014). Neben Schmuck oder in Kleidung eingewebten Computerbauteilen, die mit Antennen und Empfangsgeräten ausgestattet sind, wird auch die Grenze zum Körperäußeren und -innern übersprungen; Prothesen, Herzschrittmacher, subkutane Chips und Hormondepots geben hier einen Weg zum Cyborg vor, den Piercings und Tattoos zuvor angebahnt hatten. Bei den prinzipiellen Gestaltungsprojekten für die Dinge haben wir es mit dem zu tun, was Norbert Bolz das „BANG Design“ nennt: Bits, Atoms, Neurons, Gene. Wir fügen hinzu: die kybernetische Steuerungswissenschaft, die auf telematischer Ebene diese Vorgänge ermöglicht, macht die Digitalisierung als technisches Verfahren und instrumentelles Denk- und Rationalisierungsschema erst möglich (vgl. Bolz 2006). Zugleich nimmt so auch die Tendenz zu, das Internet durch eine besondere Art von Aufhebung zu naturalisieren, so dass es nicht mehr wahrgenommen werden soll. Die IT-Industrie gibt dazu den Slogan aus, dass das Internet verschwinden werde – eben, weil es überall sei, wie Google-Boss Eric Schmid auf dem Weltwirtschaftsforum 2015 in Davos erklärt (Chip 2015).

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Von der manuellen über die mechanische zur digitalen Reproduzierbarkeit

Benjamins und Adornos Debatte Die Digitalisierung ist nicht allein ein technisches Phänomen, das den Schleier der Technik als Ideologie und Religiosität mit sich führt. Sondern es ist damit zugleich

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eines der ästhetischen Repräsentation der Weltmodelle, die sich nicht zuletzt an Darstellungsverfahren entwickeln. Walter Benjamin bearbeitet die entsprechenden Motive in seinem programmatischen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ in vier verschiedenen Fassungen von 1935–39 (vgl. Benjamin 1992, S. 681–682; Schöttker in Benjamin 2007; Lindner 2006, S. 229–250 oder Habermas 1972, S. 173–223; Kaiser 1974; Wiggershaus 1986; Wizisla 2004). Darin nimmt er vor allem Impulse auf, die er vom Bauhaus und der Diskussion über Kunst und Design übernommen hat und die er im Passagen-Werk um historische Analysen zum Verhältnis von Kunst und Design ergänzt – hier steht László Moholy-Nagys kleiner Text über Produktion und Reproduktion im Hintergrund (vgl. Moholy-Nagy 1978). Daneben orientiert er sich an Bertolt Brechts Überlegungen zur Aufhebung der Kunst in der proletarischen Gesellschaft. In der Fußnote 12 heißt es: „Analoge Überlegungen stellt, auf anderer Ebene, Brecht an: „Ist der Begriff Kunstwerk nicht mehr zu halten für das Ding, das entsteht, wenn ein Kunstwerk zur Ware verwandelt ist, dann müssen wir vorsichtig und behutsam, aber unerschrocken diesen Begriff weglassen [. . .].““ (Benjamin 1992, S. 484)

Benjamin macht eine Reihe von Annahmen über die Kunst unter den technischen Möglichkeiten der Zukunft. Diese erscheinen Adorno in seiner Kritik der zweiten Fassung im Brief vom 18.03.1936 aus London noch weitgehend absurd (vgl. Adorno und Benjamin 1994, S. 168–177). Im Lichte der neueren technischen Entwicklungen aber bekommen diese ein anderes Gewicht. Benjamin beginnt seinen Essay im Anschluss an Paul Valéry mit der Umwandlung des Materiebegriffs im Kunstwerk unter den Voraussetzungen der neuen Physik. Der bürgerliche autonome Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts wird von ihm für die Zukunft in Richtung Technik und Design einerseits und Massenreproduktion durch die Arbeiter andererseits aufgelöst. Diese Tendenzen machen Benjamin wiederum die historischen Phasen wie die Spätantike und das Mittelalter interessant, in welchen nicht die bürgerliche Vorstellung vom Original und vom Genie des individuellen Künstlers im Mittelpunkt steht, sondern bereits kollektive und serielle Fertigungsmethoden. Von dort aus schlägt er eine Brücke über die Wertschätzung der Wiener Kunsthistorischen Schule um Franz Wickhoff und Alois Riegl hin zur Betonung nicht mehr des autonomen Charakters des Kunstwerks und seines Kultwerts, den er diesem, anders als Adorno, noch zurechnet. Sondern er betont den Ausstellungswert, d. h. die Rezeption der Kunst durch das Publikum unter politischen Voraussetzungen, die etwa Napoleon in seinem Treffen mit Goethe 1808 mit dem Satz beschreibt: „Was will man jetzt mit dem Schicksal? die Politik ist das Schicksal.“ (Boerner 1999, S. 103). Dieses Motiv der direkten Ausrichtung der Kunst auf die Politik wird am Ende des Aufsatzes noch einmal aufgenommen, wenn es explizit um den Film geht, der in der Rezeption durch die Menge das Kunstwerk als Original ablösen wird: Im Film trete der rezipierenden Masse der Arbeiter die ihnen im Kunstmittel entsprechende Form entgegen:

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„Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.“ (Benjamin 1992, S. 477).

Dazu geselle sich im Umgang mit den neuen Apparaten eine neuartige Bildung, eine Kennerschaft gleichsam unter der Hand, die die Fähigkeiten zum Test, zur sozialen Ächtung durch das Lachen im Publikum und durch andere progressive Sozialformen einschlösse. Benjamin zitiert auch hier Paul Valérys Bemerkungen über das Haus der Zukunft: „Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden .wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.“ (Benjamin 1992, S. 475). Das schließt an seine eigenen Überlegungen zum Intérieur aus der Einbahnstraße, an Adornos Kierkegaard-Buch und an Motive aus Chaplins Film „Modern Times“ an (Benjamin 1928a; Adorno 1933/1979). Zugleich warnt Benjamin vor der Konstruktion eines falschen Scheins der neuen Technik, deren eigentliches Telos eine betonte Nüchternheit sei. Dem Film solle im Kapitalismus der Fetischcharakter der Ware als falsche Aura weiter anhängen und so seine Befreiung und die des Publikums verhindern, die beide im Film auch angelegt seien (vgl. Benjamin 1992, S. 492). Benjamin schließt mit einem Appell an zukünftigen Kunstformen und einem Modell der Zerstreuung, das er der bürgerlichen Rezeptionsform der individuellen Konzentration entgegenstellen will. Dieses ist an der Architektur und der zerstreuten Körperwahrnehmung gebildet und wendet sich gegen eine rein intellektuelle Aufnahme. Sie kann neben Verbindungen zu Herder auch mit dem Bild des von George bevorzugten kopflosen Menschen, des Acéphale, beschrieben werden. Im Hintergrund steht hier bei beiden Nietzsches Polarität von apollinische Bilderwelt und dionysischer Bilderlosigkeit (vgl. Herder 1769; Bataille 1997; Nietzsche 1872/1988). Die Betonung der zerstreuten Wahrnehmung und die Medien als neue Grundlage einer Kunst, die zu einem nach Hause kommen, hatte bereits der Bauhauslehrer László Moholy-Nagy gefordert. Benjamin hatte den Designer 1929 durch die Vermittlung von Ernst Bloch und Victor Klemperer kennen gelernt (vgl. Benjamin 1997, S. 441; Moholy-Nagy 1978, S. 41). Diese Gedanken müssen für Adorno, der generell auf den Möglichkeiten des autonomen Kunstbegriffs in der säkularen Emanzipation vom Mythos und vom Kultwert beharrt, die Benjamin damit auch abschaffen will, selbstzerstörerisch wirken. Daher wählt er eine pädagogische Form für seine Kritik. Zunächst betont er die Gemeinsamkeiten ihrer bisherigen Zusammenarbeit, die er in der Liquidation der traditionellen Kunst in der Moderne sehen will, an der beide in ihren früheren Arbeiten über Musik und Kunst festhielten (vgl. Adorno und Benjamin 1994, S. 168). Dann geht er aber rasch dazu über, Benjamin eine „undialektische Behandlung“ des Scheins der Kunstwerke vorzuwerfen, wenn dieser nach seiner Ansicht auf der Präsenz einer magischen Aura auch in der modernen Kunst beharre (vgl. Adorno und Benjamin 1994, S. 170). Schließlich gelangt er zu der pejorativen Formel von

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der „zweiten Romantik“ für Benjamins Entwurf, nämlich der Betonung reduzierender brechtscher Motive als Anbiederung an das Proletariat und dessen beschränkten Rezeptionsformen der Kunst, wie Benjamin das in seiner Terminologie als „fortschrittlich“ am Film wahrgenommen haben will. Dagegen hält nun Adorno, dass das Lachen der Kinobesucher angesichts eines Chaplin-Films keinesfalls befreiend sei, sondern vielmehr sadistische Züge und solche sozialer Kontrolle trage. Prekär erscheint ihm auch Benjamins optimistische Rede von der vermeintlichen Sachverständigkeit der Zeitungsjungen. Suspekt ist ihm auch die dahinterstehende Bildungstheorie, wonach die entfremdeten Teilnehmer am technischen Produktionsprozess und an der Distribution über lange Sicht klüger und im kritischen Sinn versierter im Umgang mit der Technik würden. Schließlich will ihm auch Benjamins Schlussstein, die Theorie der Zerstreuung und der design- und gebrauchswertorientierten Gewöhnung, nicht einleuchten. Er führt dagegen ins Feld, dass in der zukünftigen Gesellschaft die Menschen nicht notwendigerweise so müde zu sein bräuchten, dass sie Zerstreuung überhaupt noch nötig hätten (vgl. Adorno und Benjamin 1994, S. 172). Kurz: Benjamin verewige in seinem Ansatz tendenziell zufällige Elemente der kapitalistischen Reproduktion wie die Bedeutung der Tests und des testenden Zuschauers und schlüge diese einem interaktiven und avantgardistischen Charakter des Films dort zu, wo dieser und ähnliche Formen, die sich einer Repräsentanz des Publikums im Kunstwerk anheischig machten, höchst ambivalent seien. Insbesondere Charlie Chaplin, dessen körperliche Präsenz als Filmfigur für Benjamin und Siegfried Kracauer das Muster für einen Menschen abgeben, der die neueren Technikformen zu überleben sich anschickt, verfällt in Adornos Perspektive der Kritik. Diese wird er etwas später umfassend an der Jazzmusik gerade als falsche Dialektisierung der technischen Möglichkeiten der Kunst kritisieren (vgl. Adorno 1938/ 1980). Was Benjamin also als Möglichkeiten einer neuen Technik aufführt, unterbricht Adorno mit seinen Befürchtungen und hält diese gerade für das wichtigste Einfallstor neuer Barbarei. Insgesamt fordert Adorno von Benjamin eine stärkere „Durchdialektisierung des autonomen Kunstwerks: Sie unterschätzen die Technizität der autonomen Kunst und überschätzen die der abhängigen; das wäre vielleicht in runden Worten mein Haupteinwand.“ (Adorno und Benjamin 1994, S. 173) In diesem Zusammenhang gehören auch die Forderung nach der Liquidierung der brechtschen Motive und der Appell, die Vorstellungen einer Unmittelbarkeit der Kunstrezeption im Proletariat fallen zu lassen. Adorno versichert sich des Standpunktes seiner Kritik an Benjamin zugleich in einem Brief, den er wenige Tage später an Max Horkheimer abschickt. Hier nimmt er im Gegensatz zum pädagogisch gehaltenen Brief an Benjamin kein Blatt vor den Mund und nennt dessen Position die eines Masochisten: „Es hat wirklich etwas von einem wahnsinnig gewordenen Wandervogel und die Emanzipation von Brecht ist ihm längst nicht gelungen.“ (Adorno und Horkheimer 2003, S. 128–133). Antizipation der Neuen Medien Nun besitzt dieser Brief Adornos trotz seines vordergründig verständnisvollen Charakters zugleich offenkundige Spitzen gegenüber Benjamin, der abhängig von

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den Zuwendungen des Instituts für Sozialforschung aus New York in Paris buchstäblich um sein tägliches Überleben kämpfte. Die Zeugnisse zur Editionspraxis des Aufsatzes machen deutlich, dass Benjamin von Horkheimer kaum Unterstützung erfährt und den Überlebensdiskurs systematisch mit dem der richtigen theoretischen Linie verbindet. Horkheimer stellt sich dabei pauschal hinter seinen unfähigen Mitarbeiter Hans Klaus Brill im Pariser Büro der Zeitschrift, der Benjamins Texte mit seiner ausdrücklichen Billigung zusammenstreicht (vgl. Benjamin 1992, S. 982–1000). Wenn Adorno an das „Modell einer gemeinsamen Philosophie“ anknüpfen will, so spricht er in Wirklichkeit weniger von seiner Arbeit mit Benjamin, als vielmehr von derjenigen mit Horkheimer, dessen Vorgaben ihm gegenüber er nun an Benjamin in gleicher Münze weitergibt. Die beiden sind nur so lange auch theoretisch Freunde, bis Adorno sich in seinem Kierkegaardbuch Hegel zuwendet und das gleiche Vorgehen nun gebetsmühlenartig auch von seinem früheren Lehrer verlangt (vgl. Adorno 1933/1979). Benjamin geht dagegen in seinen Überlegungen nicht wie von Adorno unterstellt mit einer kryptischen, sondern einer neukantianischen und an Schlegel orientierten Umschlags-Dialektik im Zusammenhang der Melancholie-Rezeption aus, als von der hegelianischen, auf die Adorno ihn einseitig festlegen will (vgl. Bock 2013, S. 61). Benjamin hält Hegel und dessen Methode bekanntlich für die eines „Gewaltmenschen“ (vgl. Benjamin 1918a, S. 422–423). Daher verstehen sich die beiden in diesem Briefwechsel nicht: Unter den heutigen Gesichtspunkten der Digitalisierung erscheinen viele von Benjamins Vorschlägen in Richtung auf die Möglichkeiten der neuen digitalen Reproduktionstechnik, die ihm im Film bereits vorliegen, erst mit den neuen Medien zu sich zu kommen. Das Verschwinden der historischen Form des Kunstwerks und die Bindung an die neuen materialistischen Produktionsmöglichkeiten, die Benjamin von Georg Lukács übernimmt, seine Hinwendung auf den Ausstellungswert des Kunstwerks und schließlich die Theorie der Zerstreuung nehmen diese sozialen Effekte als Emanzipation der Dinge von der Kunst vorweg, die Adorno rundweg abgelehnt (vgl. Dewitz 2002, S. 78–85). Diese können wir erst heute in den Geräten der digitalen Technik erkennen, wenn wir unsere Smartphones und Tablets in der Hosentasche Spazieren tragen und mit ihrer Hilfe Fahrräder und Autos leasen, Türen öffnen oder die Heizung und den Fernseher bedienen. Es gehört also zur Dialektik unserer Epoche, dass die Einwände, die Adorno aus seiner Sicht der Errettung der Gehalte im autonomen Kunstwerk dagegen aufbringt, sowohl richtig als auch falsch sind. Adorno hat dort nicht Recht, wo er in besserwisserischer Manier alle Tendenzen und Fühler, die Benjamin in die zukünftige Zeit auszustrecken versucht, abschneidet und mit dem Verweis auf das hegelsche Modell einer Durchdialektisierung abzuweisen versucht. Dass er damit gegen Benjamins Unternehmungen dennoch auch richtige Argumente vorträgt, schließt jedoch nicht aus, dass diese Verhältnisse sich nicht auch zu ändern vermögen. Denn Benjamin entwickelt eine Reihe von Motivketten, die weit über das hinausgehen, was Adorno in immerwährender Einmütigkeit desselben Arguments diesen entgegenhält. Solange die digitalen Techniken zur Reproduktion des ungerechten Gesellschaftssystems verwendet werden, solange bleiben diese Möglichkeiten allerdings im ideologischen Schatten auch der Digitalisierung. Das bedeutet freilich nicht, dass

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sie nicht auch in Form einer Umstülpung oder anderen dialektischen Figuren ans Licht zu treten vermöchten. Es ist Benjamins Unterfangen eigen, gerade nicht auf die gesellschaftliche Umorganisation einer Revolution zu warten, um dann die Technik zu befreien, sondern solche Tendenzen zugleich durch die Technik bereits angebahnt zu denken. Damit greift er etwas von Marx Geist auf, der ein immanentes revolutionäres Telos in der gesellschaftlichen Entwicklung angelegt sieht, dass nicht allein von außen angestoßen wird. Diese Momente der Entwicklung auf einen qualitativen Umschlag hin aber schiebt die Digitalisierung zugleich auch immer weiter heraus. Anders gesagt, das Verfahren des Verweises auf immanente Motive kommt dort an ein Ende, wo die Linie des Medienfortschritts als Malerei, Fotografie, Film, die Benjamin von Moholy-Nagy übernimmt, nicht bruchlos durch die die Elemente TV, Video und schließlich Digitalisierung – so wie wir sie heute kennen – ergänzt werden kann. Denn diese ist, wie wir mit Marcuse gesehen haben, zugleich auch zentral an der Erhaltung der bestehenden Welt beteiligt, statt automatisch zu deren Zusammenbruch zu drängen. Speziell die Digitalisierung bleibt damit hochgradig ambivalent. Benjamin entwirft in seinen Aufzeichnungen zum Glasbau, die er zur selben Zeit anstellt, bereits die Utopie des gläsernen Menschen (vgl. Tiedemann und Schweppenhäuser 1989, S. 763 und Steiner 2000). Freilich denkt er dabei an den gläsernen Politiker und nicht an den gläsernen Staatsbürger, wie er heute in den Enthüllungen von Snowden und Wikileaks sichtbar wird. Diese utopischen Motive wären im Sinne des erweiterten Ideologiebegriffs, wie er von Marx gegen Feuerbach sich herschreibt, einzulösen und nicht vorschnell abzutun (vgl. Marx und Engels 1958, S. 13–14). Adorno ist dagegen dort auf der richtigen Spur, wo er die verschiedenen Formen des falschen Entgegenkommens dem Publikum gegenüber an den neuen Reproduktionstechniken kritisiert. Er wird dann diese Kritik nochmals im Kapitel zur Kulturindustrie der Dialektik der Aufklärung zuspitzen, dass Punkt für Punkt gegen Benjamins Kunstwerkaufsatz geschrieben ist. Eine besondere Rolle spielt weiter der Jazzhörer mit seiner zappelnden körperlichen Abfuhr von inneren und äußeren Spannungen, der ihm auch als prototypisches Modell für eine Pseudobildung dient (vgl. Bock 2013, S. 131–145; Türcke 2012). Was Benjamin im Sinne einer Mortifikation, wie es im Trauerspielbuch heißt, in ihrem damaligen gemeinsamen philosophischen Programm als eine Überlebensform beschreibt, ist beim späteren Adorno bereits untrügliches Zeichen eines nicht mehr einzuholenden Verfalls geworden (vgl. Benjamin 1928a, S. 357).

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Das digitale Weltbild

Kunst, Kitsch, Technik, digitaler Schein Wie wir in den vorherigen Abschnitten sahen, entfaltet sich die Digitalisierung in den Feldern der Alltagswelt, der industriellen Produktion, der Ideologie und in der Kunst. Sie wird damit zur Methode der Darstellung und Repräsentation der Welt, die neue Möglichkeiten und Spielräume eröffnet, zugleich aber andere verschließt und

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neue Kontrolltechniken implementiert. Einem Gedanken von Jean Baudrillard folgend, wird in den digitalen Medien das Moment, das die Kunst von der empirischen Wirklichkeit unterscheidet, zugunsten eines Realismus’ zurückgenommen, der diese Art von Wirklichkeit zunehmend auch in der Kunst fordert. Adorno hatte diese Kritik an dem vermeintlichen Realismus bereits in seiner Analyse der frühen TV-Novellen formuliert (vgl. Adorno 1953, 1954b). Umgekehrt ist die Autonomie der digitalen Welt eine Parodie und Hypostasierung einer solchen ästhetischen Sphäre, die am ehesten als Kitsch zu beschreiben wäre. Der ästhetische Schein der Kunstwerke wird nun durch alltägliche technikgesättigt Motive ersetzt, die wie beispielsweise die Wallpapers auf den Rechnern artifizielle Bilder der Natur und des Universums zeigen oder entsprechende Zeitschriften einen „Goldenen Computer“ küren wollen. Eine Wirklichkeit, die zunehmend durch die digitalen Medien vorgegeben wird, entwickelt einen Maßstab, der jedes andere utopische und ästhetische Moment zu verdrängen beginnt (vgl. Baudrillard 1994). Walter Benjamin denkt sich diesen Wechsel in seinem Kunstwerkaufsatz mit einem offiziell nicht angegebenen Rekurs auf Nietzsches Tragödienschrift als das Verschwinden des bildliche apollinischen und das Zunehmen des unanschaulichen dionysischen Pols der Kunstauffassung. Freilich verschwinden auch bei ihm die Gehalte des Scheins, den er als Aura fasst, nicht, sondern sie sollen vielmehr in dem Akt einer komplexen Aufhebung im Sinne des dialektischen Melancholie-Konzeptes umgestaltet werden. Während der Kunstwerkaufsatz diese Zertrümmerung des ästhetischen Scheins der Bilder durchspielt, gestaltet die spätere zweite Baudelairestudie von 1940 die Aufhebung stärker, die sich ebenfalls durch eine Mortifikation als eine Passage in eine noch unbekannte Form gleichsam rhizomatisch vollziehen soll (vgl. Benjamin 1939, S. 471–508 und 605–654; Bock 2010, S. 94–108). Beide Texte bearbeiten das gleiche Modell einer Verschiebung der ursprünglichen Motive der Ästhetik hin in den Splitter, den Funken und die Ruine, die zugleich als Monaden wiederum den Keim einer neuen besseren Welt in sich tragen. Gespenster und Archive Bei Jacques Derrida erscheint dieses Motiv ebenfalls als verrätselter Splitter des Signifikats im in den Medien erscheinenden Signifikanten. Was Benjamin im Rückgriff auf eine heterogene Fassung des jüdischen Messianismus formuliert, erscheint bei Derrida nüchterner und theologisch säkularer, als différance (vgl. Derrida 1988 und 1994, S. 63–64). Entsprechend versteht er die Figuren im analogen Film als Gespenster ihrer selbst, die sich zwar von ihrem Ursprung gelöst haben, aber wie schwach und heterogen auch immer, noch auf diesen verweisen. Derridas Konstruktion besitzt Ähnlichkeit mit Roland Barthes Auffassung der magischen Repräsentanz der Fotografierten im Foto, auf die dieser in seinem letzten Buch Die helle Kammer zu sprechen kommt (vgl. Barthes 1998). Derrida kommentiert: „Das Haftvermögen des „fotografischen Referenten“, auf dem er [Barthes, W. B.] zu Recht besteht, bezieht sich nicht auf eine Anwesenheit und nicht auf ein Reales, sondern in anderer Weise auf den Anderen, und jedes Mal je nach dem Typ von „Bild“ auf verschiedene Weise, sei es nun ein fotografisches Bild oder nicht, und auch wenn alle differenziellen Vorsichts-

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maßnahmen getroffen werden, so wird dadurch nicht das reduziert werden, was er als Spezifikum der Fotografie bezeichnet und woanders als pertinent annimmt: ich sagte sogar überall. Es handelt sich zugleich darum, zu erkennen, überall dort, wo die Möglichkeit sich zeigt, einschließlich in der Fotografie, den Referenten (nicht die Referenz) aufheben zu können und einen so häufig verbreiteten naiven Begriff vom Referenten ebenfalls aufheben zu können.“ (Derrida 1987, S. 27–28)

Derrida verwendet diese Referenz des Gespenstischen auch in seinem Kommentar im Kurzfilm Ghost Dance (vgl. Derrida 1983). In seinem späten Text Dem Archiv verschrieben geht er dann der Vorstellung nach, wie die Psychoanalyse ausgesehen hätte, wenn Freud und seine Kollegen sich E-Mails geschrieben hätten. Er kommt mit Rückgriff auf die Wunderblock-Theorie zu dem erwarteten Schluss, dass Archiv nicht allein den neutralen Aufbewahrungsort, sondern einen aktiven Schauplatz darstellt, der auf den Inhalt einigen Einfluss besitze: „Die technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung [. . .]. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet. Das ist auch unsere politische Erfahrung mit den sogenannten Informationsmedien. [. . .] Man erlebt nicht mehr in derselben Weise, was sich nicht mehr auf dieselbe Weise archivieren läßt. Der archivierbare Sinn läßt sich ebenfalls und vorab von der archivierenden Struktur mitbestimmen.“ (Derrida 1997, S. 35–38)

Ähnliche Überlegungen zum Archiv als Schauplatz der Erinnerung hatte Walter Benjamin in den 1930er-Jahren in seiner Berliner Chronik entwickelt: „Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen.“ (Benjamin 1970, S. 486)

Die Selbstständigkeit des Medium und der Kommunikationsform gegenüber einer einsinnigen Vorstellung eines freien Inhaltes nehmen auch Gilles Deleuze und Michel Foucault auf. Foucault denkt sich die neuen digitalen Techniken, von denen beide nur erst den Anfang der Entwicklung mitbekommen – Foucault stirbt 1984, Deleuze 1995 und Derrida 2004 – als einen ambivalenten Übergang von den Disziplinar- zu den Kontrolltechniken (vgl. Deleuze 1987). Deleuze geht in seinen beiden Filmbüchern, die 1983 und 1985 auf Französisch erscheinen, noch nicht auf den digitalen Film ein (vgl. Deleuze 1989 und 1991). Er bestimmt aber bereits im Anschluss an Henri Bergson nicht mehr das stockende Einzelbild des Kinematografen als dessen Grundform, sondern den Fluss der Bilder, wie er im Wahrnehmungsstrom des Betrachters auftauchen soll. Das ist aber ein technisches Merkmal erst der Fernseh- und Videobilder und erst recht der digitalen. Anders als Bergson, der einer Maschinenhaftigkeit des Intellekts eine synthetisierende Intuition gegenübersetzen will, übergeht Deleuze dessen Bedenken und Abgrenzung zur Maschine; vielmehr prägt er zusammen mit Felix Guattari den Ausdruck der Psyche als organischer Apparat und Wunschmaschine (vgl. Bergson 1991; Deleuze und Guattari 1974; Vinnai 2011). Dennoch behält er auch eine kritische Position der Digitalisierung

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gegenüber. Vor allem in seinem Essay Das digitale Halsband bestimmt er diese als neu geformte Macht. Diese rufe im Dienste der Reformierung als neues Regime schlimmere Zustände hervor, als diejenigen, die vorgeblich verbessert werden sollen (vgl. Deleuze 1990, S. 5–13). Diesen Gedanken einer verschlimmbessernden neuen Macht übernimmt er aus der entsprechenden Theorie von Michel Foucault. Foucault hatte in seinen letzten Vorlesungen zur Gouvernementalität den Liberalismus als eine politische Form herausgestellt, die Geben und Nehmen, Kontrolle und Freiheit in einer totalisierenden Hand vereine: „Der Liberalismus in dem Sinne, in dem ich ihn verstehe, dieser Liberalismus, den man als neue Regierungskunst charakterisieren kann, die sich im 18. Jahrhundert gebildet hat, enthält in seinem Zentrum ein Verhältnis der Herstellung/Zerstörung gegenüber der Freiheit/. . ./, ein Verhältnis/. . ./des Vollzugs/der Aufhebung der Freiheit. Mit einer Hand muß die Freiheit hergestellt werden, aber dieselbe Handlung impliziert, daß man mit der anderen Einschränkungen, Kontrollen, Zwänge, auf Drohungen gestützte Verpflichtungen usw. einführt.“ (Foucault 2004, S. 98)

Was Foucault hier als Freiheitsdispositiv beschreibt, besitzt trotz aller strukturellen Differenzen durchaus Ähnlichkeit mit der Kritik der Vernunft in der Dialektik der Aufklärung. Der späte Foucault liebäugelt bekanntlich mit der kritischen Theorie ebenso wie mit der Warburgschule; er ist aber in der Sache zugleich ebenso fremd wie sich Derrida und Habermas auch nach ihrer offiziellen Verständigung (vgl. Foucault 1992, S. 25, 2001). Man benötigt aber keine „erpresste Versöhnung“ (Adorno) heterogener Inhalte und Formen, um die produktiven heterogenen Momente beider Theorien zu verstehen. Foucault und Horkheimer weisen beide auf das zerstörerische und zugleich kreative Potenzial der, wie wir nun sagen können: sich digital gerierenden Aufklärung hin. Innerhalb der älteren kritischen Theorie ist es wohl Walter Benjamin mit seiner programmatischen Kritik an Kant, der in seiner Denkstruktur die größte Ähnlichkeit zu Foucaults Projekten aufweist, die dieser in der Ordnung des Diskurses sich vornimmt (vgl. Benjamin 1918b; Foucault 1974; Bock 2010, S. 112–123). Giorgio Agamben, der ansonsten sich eher an Heidegger und Benjamin ausrichtet, aber auch an Deleuze und Foucault, will sich ebenfalls in diesem polyvalenten Feld verorten. In seiner kleinen Schrift Was ist ein Dispositiv? verfolgt er den Weg des Begriffes von kirchlicher Verordnungen hin zu neuen Subjektivität verarbeitende Technikzusammenhänge. Konkret spricht er vom Dispositiv des Telefoninos, also des Handys: „Wer sich vom Dispositiv „Mobiltelefon“ gefangennehmen läßt, wie intensiv auch immer das Verlangen, das ihn dazu getrieben hat, gewesen sein mag, erwirbt deshalb keine neue Subjektivität, sondern lediglich eine Nummer, mittels derer er gegebenenfalls kontrolliert werden kann; der Zuschauer, der seine Abende vor dem Fernseher verbringt, erhält im Tausch für seine Desubjektivierung nichts als die frustrierende Maske des zappen oder die Einbeziehung in die Berechnung der Einschaltquote. Vor diesem Hintergrund erscheinen die wohlmeinenden Reden über die Technik, die behaupten, daß sich das Problem der Dispositive auf die Frage ihres richtigen Gebrauchs reduzieren lasse, in ihrer ganzen Vergeblichkeit. Offensichtlich ignorieren sie, daß jedem

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Dispositiv ein bestimmter Prozeß der Subjektivierung (oder, wie in diesem Fall, der Desubjektivierung) entspricht, was es absolut unmöglich macht, daß das Subjekt eines Dispositivs es „auf die richtige Weise“ nutzen kann. Im übrigen sind diejenigen, die solche Reden führen, ihrerseits ein Resultat des medialen Dispositivs, in dem sie gefangen sind.“ (Agamben 2008, S. 36–38)

Agamben ist zwar 2008 noch nicht bekannt, dass die neuen Smart-TVs auch direkt das Sehverhalten der Zuschauer ausforschen und ebenfalls in der Lage sind, die Gespräche im Raum mitschneidet. Samsung rät daher seinen Kunden, vor dem Fernseher keine Passwörter oder Pins auszusprechen, da die gleiche Software, über die die Stimmkontrolle des Fernsehers funktioniert, obligatorisch sämtliche Gespräche im Raum aufzeichnet und über das Internet an den Server weiter zur Auswertung gibt. Daer gibt es nun bereits Benimmregeln für das kluge Verhalten vor dem intelligenten Fernseher, die solange taugen, bis die eingebauten Kameras so gut sind, die Gespräche von den Lippen abzulesen (vgl. Ebbinghaus 2016). Aber auch Agamben will in der neuen Technik ein grundsätzliches heterogenes Potenzial erkennen: „Die Frage der Profanierung der Dispositive – das heißt des Verfahrens, mittels dessen das, was in ihnen eingefangen und abgesondert wurde, dem allgemeinen Gebrauch zurückgegeben wird – ist deshalb umso dringlicher. Um sie richtig stellen zu können, müssen jene, die sie sich zu eigen machen, in der Lage sein, sowohl in die Subjektivierungsprozesse als auch in die Dispositive einzugreifen, um jenes Unregierbare zum Vorschein zu bringen, das zugleich Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik ist.“ (Agamben 2008, S. 40–41)

Angesichts der neuen technischen Möglichkeiten schrumpft jenes „Unregierbare“ allerdings zu homöopathischen Rest zusammen. Ähnliche Überlegungen stellt in jüngster Zeit Zymunt Baumann an. Der polnische Soziologe, der in Leeds mit der Kritik der Postmoderne eine zweite Karriere begann, beschäftigt sich in seinen letzten Publikationen zunehmend mit der Tendenz der ephemeren Überwachung, die mit den digitalen Techniken verbunden ist. Seine Forschungen zielen auf neue Verbindungen von sozialen und technischen Lebensformen, die in den neoliberalen Gesellschaften insbesondere des früheren englischen Weltreiches in Australien, Indien oder auch Kanada auf eine besondere Sensibilität stoßen (vgl. Bauman 2008; Bauman und Lyon 2014). Geschichte und Kritik der Realität, falsche Abfuhr des Scheins Ein wichtiges Merkmal der Digitalisierung ist, dass sie Motive der Produktion und Distribution mit pseudo-religiösen und vor allem mit einer pseudo-nüchternen Zerstörung des ästhetischen Scheins zu einer neu sich gerierenden Realität dereguliert (vgl. Türcke 2004). Im historischen ästhetischen Schein drückt sich die Perspektive eines besseren Lebens aus, das in der heidnischen Antike und im christlichen Abendland zunächst in kultischen und religiös-kanonischen Zusammenhängen gebunden ist. Zum Ausgang des Mittelalters beginnt sich diese Hoffnung zu säkularisieren, gewinnt dabei eine gewisse Freiheit und geht in der Renaissance auf höfische, im 18. und 19. Jahrhundert dann auf Formen der bürgerlichen Institutionen der Kunst über (vgl. Sennett 1986; Bourdieu 1999; Crary 1996). Jonathan Crary

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fasst solche Übergänge im weiteren Kontext von Foucaults Machttheorie, für ihn fungiert die Aufmerksamkeit als „ein Scharnier zwischen verschiedenen Formen der Macht“ (Crary 2002, S. 66). Adorno und Benjamin diskutieren, wie wir sahen, in ihrem Briefwechsel über die Aufhebung des Scheins in der neuen ästhetischen Reproduktionstechnik des Films, der bildenden Kunst und der Musik. Die emphatische abstrakte moderne Kunst zielt auf säkulare Nüchternheit. Beide sind sich einig, dass die Aura der bürgerlichen Kunstwerke und ihre magischen Substitute zerstört werden müssten, um den egalitären anderen Charakter ihrer Produktion und ihrer Rezeptionskategorien freizulegen. Aber eben auch darin, dass sie und ihre Gehalte im Übergang vom Kultwert zum Ausstellungswert kritisch aufgehoben werden müssten. Wo das nicht passiere, handele es sich um eine bloße Technikaffirmation, die einen falschen Schein hinter sich her zöge. Dieses Moment ist heute in besonderer Weise kritisch festzuhalten. Der heutige Schein des Sichtbaren findet sich auf diese Weise zunehmend in der Technik selbst als zwiespältiger. In einer Utopie der Technik liegt prinzipiell nichts Frevelhaftes, solange man dieser zutraut, dass sie das Leben der Menschen tatsächlich verbessert und nicht notwendig neue Zwänge und Kontrollregime einführt. Diese Diskussion ist alt; Ivan Illich findet die entsprechenden Figuren einer Selbstreferenz oder Konvivialität der Technik bereits bei Hugo von St. Viktor aus der Pariser Schule des 13. Jahrhunderts (vgl. Illich 1975, 1991). Die Technik zieht aber, wie wir mit Marcuse gezeigt haben, in ihrer heute vorherrschenden Form zugleich alle soziale und politische Fantasie an sich. Das heißt, sie droht jede andere Möglichkeit des besseren sozialen und politischen Lebens in technische Utopie zu verwandeln. Fortschritt wird tendenziell synonym mit einer Welt der besser funktionierenden Flachbildschirme, Handys, Computer und Funknetze als moderne Warenfetische. Das Mittel Technik mutiert damit selbst zum Subjekt und die Menschen und ihre Körper werden zu deren Anhängseln: ihre Käufer, ihre Datengeber, ihre Ausbeutungsobjekte (vgl. Adorno 2003, S. 539–545; Schneider 2011, S. 286–288). Diese Relation bildet die Kehrseite der neuen Möglichkeiten der Benutzung digitaler Geräte. Diese Art der digitalen Darstellung beginnt die Vorstellung der Realität, die historisch selbst als bürgerliches Konzept gegen die Welt der Adeligen und des Klerus anfängt, fast vollständig einzunehmen und die alte Form abzulösen. Von dieser Warte aus erscheint eine Kritik an der Digitalisierung absurd, die eine ursprüngliche menschliche Wahrnehmung gegen eine durch die neuen Techniken überfremdete setzen will. Wie Rudolf zur Lippe zeigt, ist die Konstruktion der Realität bereits die Ideologie der bürgerlichen Welt, die sich im Zeitalter der digitalen Revolution nun selbstreferenziell im Rahmen dieser Kategorien denkt. Es gibt in diesem Sinne keine erste Realität, die heute von nicht wenigen Kritikern der virtuellen Welt wehmütig gegenübergestellt wird (vgl. zur Lippe 1997, S. 77–78). Wunsch, Perspektive, Ästhetik und Nutzen entwickeln vielmehr einen produktiven und projektiven Anteil in der Wahrnehmung, deren kultureller Hintergrund nicht zu leugnen ist. Er führt zur Konstruktion der Welt, die nicht nur passiv rezipiert, sondern im Sinne von Max Horkheimers Beschreibung der modernen Ideologie aktiv produziert ist.

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Die digitale Form ist damit keine Darstellungsform neben anderen, sondern sie wird implizit zur besseren und zukünftigen stilisiert, neben der alle anderen Möglichkeiten verblassen sollen. Jedes Ding verliert seine realistische Qualität und wird unterschiedslos zur digitalen Abbildung und tendenziell im 3-D-Drucker herstellbar. Die Digitalisierung selbst wird von den Adepten der Technik zum göttlichen Code erhöht, den der Mensch damit meint gefunden zu haben und den er nun glaubt, beliebig reproduzieren zu können. In diesem Sinne heißt es durchaus euphorisch und affirmativ bei dem gemeinhin als Kritiker der Digitalisierung geltenden Vilém Flusser: „Wenn nämlich alles trügt, alles ein digitaler Schein ist – nicht nur das synthetische Bild auf dem Computerschirm, sondern auch diese Schreibmaschine, diese tippenden Finger und diese sich mit den Fingern ausdrückenden Gedanken –, dann ist das Wort Schein bedeutungslos geworden. Übrig bleibt, daß alles digital ist, also, daß alles als eine mehr oder weniger dichte Streuung von Punktelementen, von Bits, angesehen werden muß. Dadurch wird es möglich, den Begriff „real“ in dem Sinne zu relativieren, daß etwas desto realer ist, je dichter die Streuung ist, und desto potenzieller, je schütterer sie ist. Was wir real nennen und auch so wahrnehmen und erleben, sind jene Stellen, jene Krümmungen und Ausbuchtungen, in denen die Partikel dicht gestreut sind und sich die Potenzialitäten realisieren. Das ist das digitale Weltbild, wie es uns von den Wissenschaften vorgeschlagen und von den Computern vor Augen geführt wird. Damit haben wir von jetzt an zu leben, auch wenn es uns nicht in den Kram passen sollte.“(Flusser 1991, S. 156).

Flusser meint das bei aller Kritik an den von ihm sogenannten Technobildern einer numerischen, also errechneten Optik durchaus ernst. Sein Schein-Begriff ist allerdings kein kritisch-ästhetischer, sondern stammt aus der Materie-Metaphorisierung der Quantenphysik-Modelle und der Mathematik. Die Kunst löst sich bei ihm restlos so in eine rationale und technische Funktionalität auf, wie das Ideal des mathematischen Beweises die schnörkellose abstrakte Formel ist. Solchem Denken hatte Max Horkheimer bereits 1940 am Ende seines Aufsatzes „Autoritärer Staat“ entgegengehalten: „Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.“ (Horkheimer 1940, S. 319). Das bei Flusser die frühbürgerlichen philosophischen Gegner Rationalismus und Empirismus, wie noch Horkheimer es beschreibt, nun als Wortungetüm „logischer Empirismus“ Hand in Hand gehen, fällt in dieser Debatte anscheinend niemandem mehr auf. Flussers Essay ist exemplarisch für diese Rhetorik am Ende des 20. Jahrhunderts (zur Kritik an Flusser vgl. Bock 2002, S. 86–87 und 2011). Hier ist ein Kampf um die praktische Definitionsmacht der Wirklichkeit im Gange, bei dem die Befürworter der Neuen Medien sich, wie Horkheimer ebenfalls aufzeigt, einer überkommenen aufgeklärten Rhetorik des Frühbürgertums der Neuzeit und der technischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts bedienen. Insbesondere ihre heilsgeschichtliche Seite ist eine Spielart technischer Soteriologie. Sie können an entsprechende Seiten der künstlerischen Avantgarden anknüpfen, die Leben und Theorie vorschnell zusammenfallen lassen wollen (vgl. Bürger 1974, 2000, 2014). Eine ähnliche technikaffine Position wie Flusser vertritt auch Friedrich Kittler. Bei Flusser handelt es sich um einen Physiker und Mathematiker, der im Brasilien

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der Diktatur eine kleine Radiofabrik betreibt und im akademischen Betrieb Sao: auf dem a einen Schweifakzent! Paulos eine eher randständige Existenz führt, bis er Ende der 1990er-Jahre in Europa entdeckt wird (vgl. Flusser 1999). Kittler beginnt dagegen als Literaturwissenschaftler, der sich auf der Suche nach unauratischen Kunstkonzepten der von ihm bürgerlich eingeordneten Kategorie des Scheins zu entledigen versucht und sich stattdessen nun emphatisch der Technik zuwenden will. In seinen frühen Untersuchungen beispielsweise über Aufschreibesysteme ist er auf der Suche nach materialistischen und positivistischen Grundlagen der Medien (vgl. Kittler 1985, 1986, 2002). Er vernachlässigt dabei eine dialektische Betrachtung der alten und neuen Apparate gegenüber einer über weite Teile als haltlos sich gebärdenden Maschinen- und Medieneuphorie. Die Materialität, die er damit zumindest im Ansatz gegen eine kommunikative Medientheorie wie die von Habermas gewinnen will, gibt er durch eine reduzierte Fassung der Technik rasch wieder auf. Wie nicht wenige Geisteswissenschaftler, die dem eigenen idealistischen Betrieb der Echtheit und Eigentlichkeit (im Sinne des zweiten Positivismus) entkommen wollen, erhofft er sich bei den positivistischen technischen Wissenschaften ersten Grades einen neuen Sinn. Den es aber in der Technik und in der Naturwissenschaft so wenig gibt, wie den Geist in der Parapsychologie. So geht Kittler idealistisch davon aus, der Sprung westlicher Gesellschaften in die Neuzeit sei durch das System der modernen Mathematik induziert worden (vgl. Kittler 2000). Hier liegt eine für seine Vorgehensweise typische Rückprojektion der Kybernetik und ihrer Bedeutung im entwickelten Kapitalismus auf die Vergangenheit vor. Aus der Schere des notwendigen Verlusts der Tradition des Scheins und der unkritischen Fetischisierung der Technik kommen auch er und seine Schüler nicht heraus (vgl. Hartmann 2008, S. 251–256; Arabatzis 2014, S. 99–117). Leviathan oder Behemoth? Der Computer macht damit also auf eine einseitige, Horkheimer würde hier sagen: hypostasierte Weise Ernst mit der Forderung der künstlerischen Avantgarde, das Original wie den Künstler abzuschaffen und durch Algorithmen zu ersetzen. Dada, der Futurismus, die Konstruktivsten, die Surrealisten oder auch die Gruppe um Oswald Wiener wenden sich gegen die Vorstellung von Genie, Individualismus und bürgerlicher Einmaligkeit als l’art pour l’art, ästhetische Autonomie und so fort der vorherigen Epoche. Sie benutzen dazu schematische Verfahren der Kunstproduktion wie das automatische Schreiben, die Traumanalyse oder scheinbar willkürliche Zuordnungen von Bild, Ding und Wort. Der Computer löst die schematischtechnische Seite dieser Utopie einer Betrachtung der Welt als solche Materie ein. Aber er tut es auf eine Weise, die die Kunst und ihren Schein nicht aufhebt, sondern diesen tendenziell abschafft, indem die rechenhaften und maschinenhaften Tendenzen der Wirklichkeit im digitalen Kosmos nochmals verdoppelt werden. Der wesentliche Prozess, den die Digitalisierung im Bereich der Ästhetik und der Medien damit fortführt, ist derjenige der selbstreferenziellen Vereinheitlichung im eigenen Medium. Der mediale Haupteffekt der Digitalisierung ist neben den Momenten der Rationalisierung und der sozialen Sabotageresistenz aus der Produktions- und der politischen Sphäre darin zu sehen, dass verschiedene Bereiche in einer

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Form miteinander verschmolzen werden können. Auf diese Weise entsteht weniger ein emphatisches ästhetisches Gesamtkunstwerk als vielmehr dessen Parodie, eine Kunstwelt, die allerdings nicht nur vorspielt, wirklicher zu sein als die wirkliche, sondern es – und darin besteht das Gespenstische des Vorgangs – in gewisser Weise auch ist, da diese Technik einen wirklichkeitsprägenden Charakter besitzt. Hier ist zu fragen, welches Wirklichkeitsmodell jeweils gemeint ist. Will man diese Entwicklung ernsthaft kritisieren, so steht man tendenziell auf verlorenem Posten, wenn man, wie beispielsweise der Marshall McLuhan-Schüler Neil Postman, eine eigentliche analoge gegen eine uneigentliche digitale Wirklichkeit ausspielen will – also beispielsweise die Zeitung gegen einen Internet-Channel (vgl. Postman 1987, 1988). Vielmehr muss man sich dem zuwenden, was die historischen und die ästhetischen Qualitäten der im entsprechenden Medium erzeugten Kunstwelt ausmacht. Neben die Frage, ob die Welt adäquat in ästhetischen und physikalischen Kategorien ausgedrückt werden kann, tritt diejenige nach den spezifischen Bedingungen der neuen Welten, die vorgeblich so neu und so anders sein sollen als das, was wir schon kennen. Das kritisiert bereits Richard Hamiltons programmatisches Bild Just what is it that makes today’s home so different, so appealing von 1959. In gewisser Weise wiederholt sich damit auch die Dichotomie, die Thomas Hobbes bereits 1651 anhand der überregulierten Staatsform des Leviathans gegenüber der deregulierten Form des Behemoths beschrieben hatte (vgl. Hobbes 1651/1996). Die Frage also, ob diese Techniken in der radikalen Veränderung der Lebensbedingungen diese auch in einem umfassenden Sinne verbessern, ruft damit auch weitere ältere Kategorien in Erinnerung. So ist im Bereich der Kunst relevant, ob diese gut oder schlecht ist; ein Urteil darüber implizierte andere Urteile. Es ist erstaunlich, dass diese Frage nach der Qualität von Kunst im alltäglichen Umgang mit den Neuen Medien kaum gestellt wird und einem anything goes gewichen ist. Das steckt hinter dem Begriff der best practice, die sowohl Peter Sloterdijk als auch Jürgen Habermas in seltener Einmütigkeit unkritisch gebrauchen. Ähnliches gilt im persönlichen Bereich: Was passiert mit einer „Kommunikation“, die nur noch über Geräte läuft und damit automatisch von Google, Facebook oder der NSA mitgeschrieben wird? Die amerikanische Soziologin Sherry Turkle beschreibt in den USA die sozialen Passagen diese neuen Verhaltensformen, insbesondere bei der jungen Generation, aber nicht nur, nicht einmal beim Essen die Geräte auszuschalten (vgl. Turkle 2012). Der französische Epistemologe Michel Serre veröffentlicht dazu eine von keinerlei Sachkenntnis getrübte naive Liebeserklärung an die digitale Generation, die rasch zum Bestseller avanciert (vgl. Serre 2013). Das ist ohne Zweifel eine Annäherung an eine digitale Existenz, die auch in transhumane Motive übergeht, die die totalitären Motive des Futurismus beerben (vgl. Hänßler 2013). Hier bereitet die Gattung Mensch sich anscheinend darauf vor, sich nicht zu überleben. Stattdessen wäre ganz konkret die Frage von Hugo von St. Viktor zu stellen: Was ist an der neuen Technik tatsächlich praktisch und nützlich? Brauchen wir das? Und welche neuen Abhängigkeiten werden hier geschaffen? Die Diskussion über ein postdigitales Zeitalter ist gerade erst eröffnet, sie wird in unserer Epoche noch von einer „Praxis“ aus Kitsch, Verschlimmbesserung und Kontrolle dominiert, die erst herstellt und dann danach fragt. Mit der Überwindung der Digitalisierung werden die

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Umrisse einer anderen Welt sichtbar, die diese Art von Kontrolle hinter sich lassen will. Dazu muss man einen historisierenden Blick bemühen.

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Zur historischen Kritik der Zukunftsbilder der Digitalisierung

Die Digitalisierung im Bereich der Medien ist nur ein kleines Segment dessen, was wir eingangs als mikroelektronische Revolution im Prozess zwischen Mensch und Natur beschrieben haben. Die neue Maschinerie erlaubt eine enorme Verringerung der herkömmlichen Kosten im Bereich der Produktion, der Warendistribution und des Datentransfers. Sie erreicht alle gesellschaftlichen Sektoren und verändert sie. Doch die neue Technik ist nicht nur wie der partielle Zweck, für den sie in der kapitalistischen antagonistischen Konkurrenzgesellschaft eingesetzt wird, beschränkt rational, sondern auch in nicht. Sie bleibt weiterhin instrumentelle Vernunft. Zugleich produziert sie hinter ihrem phantasmagorischen Schirm neue Kosten, selbstreferenzielle Zeitstrukturen, Aufmerksamkeits-Dispositive und nicht zuletzt erhebliche Umweltbelastungen. Auch die neuen angeblich so smarten Geräte der Informationsgesellschaft arbeiten mit elektrischem Strom, der, wo er nicht aus dem Atom kommt, keinesfalls besonders intelligent noch lange Zeit durch Verbrennung oder Biogas, dass im Weltmaßstab immer stärker in Konkurrenz zur Nahrungsproduktion steht, erzeugt wird. Der entropisch sich einstellende Elektroschrott wird zusammen mit den Plastikflaschen, zudem in Zukunft so weiter gen Himmel wachsen, wie sie heute schon die Peripherien von Sao Paulo, Bangkoks, Neu-Delhis oder Kairos bedecken. Die Fragen nach der Qualität der zweiten Wirklichkeit, nach den sozialen und ökologischen Kosten und nach der Zunahme der Kontrollgesellschaft von subjektiver Rationalität geprägten Formen werden in der Regel gegenüber den phantasmagorischen Seiten der Neuen Medien notorisch unterbewertet. Dazu trägt ihre Ideologie der einseitigen Traumbilder bei, die die Welt der subjektiven Vernunft bis auf den St. Nimmerleinstag hin verlängert (vgl. Horkheimer 1967). Auch die sozialen Effekte liegen für nüchterne Beobachter auf der Hand. Die neuen technischen Errungenschaften schaffen einen enormen Anpassungsdruck auf diejenigen, die das Rennen der ökonomischen Konkurrenz nicht verlieren wollen. Der technische und ökonomische Entwicklungsprozess fordert geradezu von allen Mitgliedern der Gesellschaft, up to date zu sein, wollen sie nicht vom Arbeitsmarkt und den integrierenden und zugleich desintegrierenden Sozialformen der Zukunft, die in Wirklichkeit so neu nicht sind, ausgeschlossen werden. Diese Zukunft wird, wie die Dinge heute liegen, digital sein oder sie wird nicht sein. Die heute bereits mögliche Praxis der 3-D-Drucker eröffnet eine neue Dimension der dinglichen Welt: Ersatzteile für Maschinen, Autos, Flugzeug- und Schiffsrümpfen, aber auch von Prothesen und Zähnen werden heute bereits aus besonderen Metalllegierungen in verschiedenen Schichten in großer Stabilität gedruckt. Auch kleinere Gebrauchsgegenstände wie Tassen, Waffen oder auch Lebensmittel werden auf diese Weise hergestellt (vgl. Strassmann 2014).

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In der Digitalisierung macht sich eine Reorganisation des Verhältnisses der Menschen zu den Dingen breit, die den Kapitalismus nicht überwinden, sondern ihn zugleich im neuen Regime der Deregulierung zu verewigen droht. Steve Jobs und Bill Gates sind keine neuen Befreier der Menschen, sondern sie heben den Kapitalismus auf eine neue Stufe (vgl. Gates 1997; Isaacson 2011). Das Wechselspiel dieser Formen gleicht, je mehr es sich in solcher Einseitigkeit weiter ausprägt, dem, was Friedrich Nietzsche in Anlehnung an Auguste Blanqui treffend als die Wiederkehr des Immergleichen beschrieben hat (vgl. Blanqui 1872/1996; Nietzsche 1882/1988, S. 571). Wie aber lässt es sich aus diesem Zirkel herauskommen? Die Diskussion, die der Philosoph Byung Chul Han in seiner kleinen, aber instruktiven Studie Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns beginnt, ist nicht unoriginell. Der Deutsch-Koreaner, der bislang als Autor schmaler Reclam-Hefte bekannt wurde, versucht wie es der Titel andeutet dieser neuen bedrohlichen Lage noch andere Aspekte als Jürgen Habermas abzugewinnen (vgl. Han 2013; Habermas 2008, S. 162). Freilich muss man ihm wie auch Habermas zugutehalten, dass beide das vor der Veröffentlichung von Snowdons Material einer umfassenden Datenspionage von Internet, Telefon und Fernsehen getan haben. Jedoch waren die nun aufgedeckten Hauptstrukturen der Digitalisierung für den, der sehen konnte, bereits zuvor deutlich zu erkennen. In der Diskussion bezieht sich Han auch auf Vilém Flussers Vorschläge für eine „Cyberdemokratie“ (vgl. Han 2013, S. 35–41; Flusser 1997, S. 130–132). Diese aber lässt außer Acht, dass das, was auf dem Bildschirm erscheint, nur das bereits zugrichtet Ergebnis der maßgeblichen Prozesse darstellt: Wer über den Rahmen entscheidet, welche Informationen ausgewählt werden und welche nicht, über die dann abgestimmt werden soll. Das ist aber immer noch bei aller Rationalität der Digitalisierung die Irrationalität der antagonistischen kapitalistischen Gesellschaft. Diese bietet ihre ungerechte Markt- und Verteilungslogik, die auf dem ungleichen Tausch und der ungleichen Voraussetzung zum Verkauf der Arbeitskraft nun digital flankiert als Weltsystem an: Vermittlung als Gott hat der Leipziger Philosoph Christoph Türcke das einmal in anderen Zusammenhängen genannt (vgl. Türcke 1994). Solange das nicht verstanden und zusammengedacht wird, bleiben alle Versuche einer Deutung der Digitalisierung hilflos, von welcher Seite sie auch vorgenommen werden. Die kritische Theorie hätte immerhin eine Tradition zu verteidigen, die die Vermittlung von Überbau und Basis auf neue Weise verstehen will. Das darf nicht vorschnell aufgegeben werden. Helfen könnte hier beispielsweise die Beschreibung der allerneuesten Zukunftsbilder als historische. Eine ähnliche Impfung legt Walter Benjamin seinem Projekt des Passagen-Werks zugrunde. Das wird deutlich, wenn man es von den entstellenden Interpretationen Adornos und seiner Schüler befreit. In diesen Durchgängen will Benjamin die früheste und die spätesten Formen des Warenfetischismus nebeneinander vorliegen sehen (vgl. Benjamin 1983, S. 1044–1045). Betrachtet man mit solchen Augen heute beispielsweise die englischen Fernsehserien von Gerry Adams, die in den 1970er-Jahren Bilder der Maschinerie und des sozialen Lebens des 21. Jahrhunderts entwerfen, so werden die strukturellen Motive solcher kulturindustriellen Wunschprojekte deutlich. In der Serie UFO (GB 1969) beispielsweise wird permanent geraucht und die Silhouetten schlanker Frauenkörper in Catsuits einer

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phallischen technischen Apparatur aus Flugzeugen, Unterseebooten u. ä. zur Seite gestellt. Die Analyse der Darstellungsformen der antizipierten „Technik von morgen“ kann hier an den älteren Bildern den Mechanismus erkennen, der an den neueren noch verschleiert ist. Auf diese Weise kann das Prinzip freigelegt werden, nach welchem auch die in dieser Hinsicht noch zu erwartende phantasmagorische Wunschproduktion funktioniert. Nicht die einzelnen Bilder wären zu kritisieren, sondern der Horizont, vor welchen diese aufgebaut werden. Benjamin denkt sich hier ein Aufwachen aus dem Traum, dass nicht, wie noch bei Adorno, auf äußere Momente setzt, sondern auf immanente Motive, die aus dem Traum heraus selbst von sich aus zum Aufwachen drängen. Entsprechend heißt es bei ihm: „Das kommende Erwachen steht wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traumes.“ (Benjamin 1983, S. 495). Benjamin untersucht verschiedene dieser verkitschen Traumbilder in der Werbung, im Surrealismus, bei Walt Disneys Micky Maus oder den Utopien Grandvilles, Charles Fouriers oder Paul Scheerbarts auf ihren materialistischen anthropologischen Gehalt hin (vgl. Benjamin 1983, S. 971–982). Entsprechendes kann man der Digitalisierung abringen.

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Critical Theory and the Digital CultureIndustry Audience-Work, Serious Leisure, and Recognition Moshe Elhanati

Abstract

The emergence of millions of amateurs and unpaid works on the web during the blooming of social media and the rise of sharing discourse over the past decade has resulted in a large corpus of criticism on both academic and popular levels. Yet this corpus is primarily binary in nature: It either praises and glorifies these sharing praxes in almost messianic terms, or it criticizes them by focusing on work-leisure relations and the familiar consequences of exploiting audience work. Either way, the criticism fails to fully grasp the emancipatory potential inherent to the world of amateurs, who willfully act within the sphere of serious leisure. The article thus aims to cater to the growing need for a critical theory that neither falls into the positivistic honey trap of techno-utopian discourse, while also avoiding total negation. To this end, the article utilizes two theoretical components: serious leisure and social recognition, whose combination offers the foundations for forming an adequate critical theory. Keywords

Critical theory · Web · Audience-work · Serious-leisure · Recognition · Newcapitalism

Hi I am Jennifer Lyn Morone™ Inc. and I have established a new business model that is designed to determine the value of an individual relative to society and to the data he or she creates. . . Life Means Business

M. Elhanati (*) Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_68

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M. Elhanati

Jennifer Lyn Morone, Inc. has advanced into the inevitable next stage of Capitalism by becoming an incorporated person. This model allows you to turn your health, genetics, personality, capabilities, experience, potential, virtues and vices into profit. In this system You are the founder, CEO, shareholder and product using your own resources. (http:// jenniferlynmorone.com/)

Jennifer Lyn Morone [JLM], an American living in London, has decided that in order to regain a measure of control over her life and her personal data, she must become Jennifer Lyn Morone Inc. She has registered as a company in Delaware, and what began as a ‘protest design’ project at the Royal College of Art in London has transformed her into an ‘incorporated person’; part person, part corporation. Besides data, the Jennifer Corporation intends to offer a list of additional services and goods: biological resources, beginning with a blood donation for $50 and bone marrow for $5,100 through to egg donations for $170.000, mental services, such as problem solving (offered at a discount if the corporation learns something in return), physical labor, and any other kind of asset. Morone has yet to determine how to price certain other services that she now offers for free, such as compassion. As a personcorporation, she must price such services profitably in the best interest of current and future stockholders. The Economist, in a July 2014 report about Morone, concluded that her project captured an important truth about the ‘data-driven economy’: Ms Morone concedes that this is all an experiment, but one she is determined to stick with even though she concedes it scares her a little. And being an ‘incorporated person’ has its advantages, such as tax breaks, limited liability and deductions for incurred costs. (On the downside, companies can’t marry, although they can enter into legal partnerships.) But Ms. Morone is primarily trying to prove a point: that personal data are more valuable than the majority of people realize . . .Ultimately, the data-driven economy will have to move in that direction if it is to be sustainable: no marketplace can thrive in the long run without some notion of fair value exchange. (‘Who owns your personal data? The incorporated woman’, The Economist, 27 Jun, 2014. Retrieved from http://www.economist.com/blogs/schumpeter/2014/06/whoowns-your-personal-data) Who is Jennifer Lyn Morone? Is she an artist offering us an ironic and critical political artistic action? An independent worker in the new realm of production that unites the multitude of activities known as ‘creative labour’? Or yet another sophisticated startup entrepreneur, a legitimate player in the web economy? Alternatively, is she a subject that has undergone a process of commodification and reification? And maybe all of the above? In a society capable of regarding even compassion as a commodity, does JLM Inc. offer an escape from the instrumental grip of the big web corporations? Or is she merely a reflection of the wish to avoid, via an independent web-production, the alienation embodied in the interests of these all-encompassing corporations. As if JLM hopes, through creative labour, to transform herself from an alienated piece of commodity, stripped of agency, into an entity that claims full ownership of her work time as well as of the surplus value embodied both in her physical body, and in the cumulative data that has already been produced and continues constantly to be aggregated by her web

Critical Theory and the Digital Culture-Industry

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presence. (On the concept of creative-work and its inherent problems, see Hesmondhalgh and Baker (2010), and (2013)).

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Introduction

The paradox that characterizes the case of JLM Inc. – on the one hand, an active and creative critical agent in the digital culture-industry, and on the other hand, a subject that affirms and legitimizes its own existence as an outright commodity in the language of the very same ideology that made it so to begin with – lies at the heart of the problematics of critical theory, hindering its adequate formulation for over two decades. As we shall see below, it is becoming increasingly clear that in the absence of such a theory it is difficult to generate theory-based research plans that avoid the kind of positivistic approaches that presuppose that the social reality of a web society is beneficial and exists as a natural fact, uninfluenced by its researchers and interpreters, who are obliged to ‘market’ it to the public as their contribution to the creation of ‘The Good Society’. Moreover, and perhaps no less importantly, an adequate theory is required so that we may find our way within the labyrinth of normative critical theories, which have in common only the assumption that the role of a critical theory is to observe society while dismantling its capitalist ideology. This article proposes that a critical theory whose subject is the totality of voluntary web-life practices as they are expressed in sharing sites and various social networking services (SNS), cannot make do with this, but must rather focus on exposing the pathologies that obstruct or disrupt the actual subject’s emancipatory wish. In other words and perhaps more precisely, it must investigate the absence or presence of the basic conditions that allow the expression of this emancipatory wish. In this sense, criticism of the broad implications of web-society and the new media industry should adopt the same basic critical impulse that has already accompanied late capitalism’s mass society, which ideologically sanctified the creation of a monolithic consumer audience under the false pretense of eliminating hierarchies and promising uniqueness. For, both in late capitalism, against which the critical category of culture-industry was set, and in the neo-capitalism of networking and sharing, the problem, as articulated by Moshe Zuckermann, is still always ‘the danger of turning the human being into the object of the reification mechanisms of reality itself, the danger of binding human awareness to merchandised logic [. . .].’ (Zuckermann 2001). This article thus strives to tackle the increasing need for a critical theory through a three-step movement. First, I show how both popular and academic digital discourses treat digital technology and web life as an axis of emancipatory social change. In this ‘brave new world’, neo-capitalism is presented as a correction of the curse of alienation that afflicted old ‘Fordist’ capitalism, while by doing so it nullifies all critical discourse of issues of exploitation, commodification, reification, and subjectivization, which have yet to vanish. As succinctly put by Eran Fisher (2010):

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[. . .] network technology is constructed in contemporary technology discourse as amending the pitfalls of Fordist production by responding to concerns regarding individual emancipation and harnessing those human facets that have been suppressed during Fordism – individualism, authenticity, creativity, personal expression, and so forth – into the productive process. (p. 244)

In the second stage, I review the problematic ways in which media criticism attempts to expose the ideological mechanism that serves the discourse of digital technology and participatory culture to justify the modes of production and distribution offered today by neo-capitalism. I address a number of the weaknesses of this media criticism, which all too often neglects its role in locating the wish for emancipation in social reality itself, in the actual subject’s life sphere. This is in contradistinction to productive criticism, whose desirable principles have been concisely articulated by Axel Honneth (2007b, p. 6): [Critical theory] which can also inform us about the pre-theoretical resource (vorwissenschaftliche Instanz) in which its own critical viewpoint is anchored extra theoretically as an empirical interest or moral experience.

Finally, in the article’s last section I outline an initial draft for a hermeneutic approach and methodological foundation that will enable observation of the web’s lifeworld, and especially of the relation between work and leisure. In other words, the article attempts to articulate certain preliminary features of an adequate critical theory through which to observe the lifeworld [Lebenswelt] of those web actors involved voluntarily in many different forms of unpaid work. In this context, I will propose considering two basic theoretical concepts – serious-leisure and recognition – which to the best of my judgment stand to enrich and assist any effort of critical analysis. In particular, I believe that these concepts can help us to decipher the codes that motivate the actions of unpaid workers, especially amateurs, and perhaps more importantly, to comprehend the manner in which these workers attempt, sometimes successfully, to avoid becoming an object of the reification mechanisms of the digital discourse and the web culture-industry. The article is guided by the belief that an adequate critical theory should strive first and foremost to clarify the real moral expectations incorporated in the daily process of social communication. Furthermore, it should help us identify the necessary conditions for fulfilling an individual’s expectation to have his value acknowledged within the web culture-industry. Otherwise, within the diverse network lifeworld, the criticism is in danger of throwing out the baby with the bathwater [Das kindt mit dem bad vß schitten]. That is, we risk dehumanizing web subjects and treating them as mere objects of a powerful system that reproduces and maintains itself. Given this predicament, it is undisputable that a critical theory grounded in social praxis and addressing the emancipatory wish as manifested in actual social life is urgently needed. In the absence of such a theory, we might find ourselves under the spell of critical theories that, in the words of Craig Calhoun (1995, pp. xiv), ‘[might] reduce our freedom by occluding recognition of what could be’.

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Digital Discourse and Neo-positivism: Speaking Participatory Language

Since the late 1990s and the accelerated blossoming of social media and sharing sites, a corpus of unprecedented breadth has formed, consisting of both academic and popular writing that praises and glorifies social media as the main route towards revolutionary sociopolitical change, sometimes portraying it in nearly messianic terms. These researchers/writers, often hard to tell apart preachers, paint us an alluring picture when they claim that the new media in general and sharing practices in particular embody an emancipatory trend and constitute a corrective to the injustices and distortions of the old, hierarchical, Fordist capitalism. Two typical examples of this corpus, which also illustrate its variety, are the writings of Yochai Benkler, of Harvard University, and those of Henry Jenkins, who is arguably the most prominent and challenging writer on participatory culture. Benklerʼs writing is vast and abundant, and for the present purpose I have deliberately chosen to focus on his popular book The Penguin and the Leviathan: How Cooperation Triumphs over Self-Interest (Benkler 2011) as a clear example of an exceedingly common popular-academic discourse whose main theme is that of the web culture as representing a global redemption. In his earlier book The Wealth of Networks, Benkler had already begun setting the foundations for the notion that the electronic environment, digital connectivity, and the economics of information offer humans an opportunity to join together and share resources with each other. Web culture, he tells us in the book, allows us to reassert the principle of liberty rather than libertarian anarchism, that is, the Anarcho-Capitalism that ruled in the 1990s, and to act within a politics that remains embedded in the principle of levelheaded sharing in a liberal, open, and inclusive democracy. In the face of the internet’s overtaking by Mammonism, Benkler holds fast to a far-fetched and rather speculative faith in web culture, identifying and underscoring its inherent structural features that support an open sharing economy and a distributed exchange system that could free social industry from the proprietary ethic – the prerequisite for all of this being independence from ‘government control’ (Benkler 2006, pp. 180–85). In Penguin and Leviathan, which was written from the outset as a polemical and popular book, Benkler ‘markets’ to broad audiences the essence of the liberal network world articulated earlier in academic detail in Wealth of Networks. Benkler proposes an image of a human who is fundamentally more cooperative, generous, fair, and altruistic than is commonly held. He contrasts the motivations of this neo-human with two familiar models: Hobbs’ fearful subject as described in the Leviathan – narcissistic and greedy, and motivated solely by interests and fear; and Adam Smith’s model of human nature in The Wealth of Nations. As opposed to these two models, and drawing loosely on Rousseau, Proudhon, and even Hume, Benkler suggests perceiving humans as innately capable of ethical action, since they are endowed with a tendency towards cooperation and generosity as an evolutionary imperative. The social and generous penguin is offered as a symbol of this human nature and an alternative metaphor to Hobbes’ Leviathan. For Benkler, web economy and the technology that enables it are no less than a historic opportunity to

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found a new social order that rejects the subjectʼs narcissistic empowerment. A basic principle of this social order is ‘peer-production’, which ensures egalitarian reciprocity and distribution. In other words, like many others, Benkler celebrates what Kellner (1989) named back in the late 1980s ‘technocapitalism’. According to Benkler, unequivocal proof of the inherent participatory attribute of humans is to be found not only in a social network environment, such as the collaboration of open-code programmers worldwide or Wikipedia entry-writers, but also, and perhaps mainly, in all kinds of scientific research. Through the work of hundreds of scientists, we have begun to see mounting evidence in psychology, organizational sociology, political science, experimental economics, and elsewhere that people are in fact more cooperative and selfless [. . .] even in the study of human biology, evolutionary biologists and psychologists are now finding neural and possibly genetic evidence of a human predisposition to cooperate. [. . .] there is much evidence that evolution may actually favor individuals (and societies that include these individuals) who are driven to cooperate with or help others, even at cost to themselves. (Benkler 2011, p. 13)

It is no coincidence that Benkler’s insights in this popular book as in many of his other essays rely on evidence from empirical and quantitative studies, which are based, methodologically, upon hard or semi-hard scientific praxes. In this sense, Benkler can be included in what Max Horkheimer named in the first half of the twentieth century ‘New Positivism’. In a manner that is characteristic of this neo-positivistic approach, the humanities, social philosophy, and critical theories receive only a very modest place in The Penguin and the Leviathan, their treatment seeming like little more than lip service, as noted in one of the few critiques of the book: Apart from some brief opening and closing remarks on philosophical approaches to the morality or social function of benevolence and self-interest, The Penguin and the Leviathan has almost nothing to say about debates in the Humanities regarding the potential for collaborative and co-operative [. . .]. (Leonard 2013, p. 56)

Benkler’s techno-scientific determinism encapsulates a paradox; the meaning of this determinism contradicts the very humanistic message he wishes to convey. Benkler’s Homo Participans is a technological person who apparently takes control of his while simultaneously lacking sovereignty, since his ethical and political decisions are necessarily derived from nature; his collaborative altruism is merely cultural genetics. For Benkler,[. . .] it is nature that gives, nature that produces what it means to be human[. . .] “Current evolutionary science”, [Benkler] tells us, “is beginning to explain why cooperative behaviours are passed down both culturally and genetically” (38). Such a claim means, of course, that the self here ceases to be the cause or source of action [. . .]. (Leonard 2013, p. 59)

The ideal society that Benkler describes, then, is one that renounces the political in favor of a dream: that technology in general and the rational technologization of interpersonal reciprocity in particular, rather than the class conflict or social injustice

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that are inherent to capitalism. It is a new era of humane capitalism and freedom for the subject and the worker, along the lines proposed as early as the 1970s by Daniel Bell, one of the most brilliant sociologists from among the American neoconservatives (see Ross 2004, p. 11). Benkler should thus be read and understood as a perfect example of managerial literature. In his account, it is not only the subject who gains from participatory culture but also and perhaps chiefly, the industrial corporations and companies that succeed in adopting the rationale of this culture and thereby gain the upper hand. His book brims with examples of the commercial successes of corporations and companies, such as Toyota, Chinese motorcycle factories, Southwest Airlines, and of course the software companies that have adopted the management principle of ‘high-commitment, high-performance’ (Benkler 2011, p. 205). These companies provide their workers with a large degree of autonomy, encourage emotional involvement, instill interpersonal communication skills, and emphasize collaboration, team work, and autonomous decision-making by work teams based on ‘creation nets’ (Benkler 2011, p. 109). Benkler appears to fail here twofold: first, in the almost cynical harnessing of the workers’ collaboration and emotional involvement to the commercial benefit of large corporations; and second, in his overvaluation of the web’s effect and of the social revolutionary benefit supposedly embodied in peer-producing networks – a criticism noted by one of the critics of his The Wealth of Networks: Benkler falls into this trap in emphasizing perhaps too strongly the radical implications of peer-production through network forms of organization, failing to recognize the extent to which, if they are indeed so wealth-generating, they will be co-opted into mainstream ‘industrial’ ways of production. To paraphrase Steve Jobs, the corporate world may soon provide peer-production for the rest of us. (Berry 2008, p. 364)

And so, on the basis of studies, mostly in psychology, economics, network theory, and management and organizational culture research, Benkler concludes that in the era of the web society and participatory culture, material motivations and traditional production relations no longer suffice to promote quality work: [. . .] we should also focus on harnessing [worker’s] social and intellectual motivations by making cooperation social, autonomous, rewarding and even – if we can swing it – fun. (Benkler 2011, p. 200–201)

Such approaches have, of course, already been defined in the 1980s by Smythe and Van Dinh as ‘administrative ideology’, which is essentially neo-positivist and utilitarian: [. . .] By ‘administrative’ researchable problems we mean how to make an organization’s actions more efficient [. . .] By “administrative” tools, we refer to applications of neopositivist, behavioral theory to the end of divining effects on individuals. [. . .] By “administrative” ideology, we mean the linking of administrative-type problems and tools with interpretation of results that supports, or does not seriously disturb the status quo. (Smythe and Van Dinh 1983, p. 118)

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If Benkler bases the majority of his claims and insights on a deterministic evidence system of a scientific and administrative-utilitarian character, Henry Jenkins opts for an entirely different and more challenging strategy. Jenkins speaks a sociocultural language that is deeply rooted in the Birmingham School’s tradition of culture studies, which taught us to attribute to audiences an active ability not only to decipher and extract significance and ideological messages from the media and cultural texts produced in the social space, but also to resist them. Jenkins’ creative subject is therefore not motivated by some kind of bio-evolutional presupposition; rather, being interpretative by nature, the subject partakes in creating meanings and significances (Jenkins 1988). In the words of John Fiske, the consumer is endowed with ‘semiotic productivity’, that is, the active ability to decipher texts and symbols and to create meanings, whether they oppose or accord with the prevalent ideology.1 Indeed, like Benkler, Jenkins supports participatory culture, yet his approach is based upon the essential sociocultural distinction between the passive old media and the interactive new media as a body that potentiates consumer opposition: If old consumers were assumed to be passive, the new consumers are active. [. . .] If the old consumers were isolated individuals, the new consumers are more socially connected. If the work of media consumers was once silent and invisible, the new consumers are now noisy and public (Jenkins 2006, pp. 18–19). In his view, the cultural consumer audience should no longer be taken as a separate entity from culture producers; instead, the two groups should now be perceived as jointly interacting with each other according to a new set of rules that none of us, Jenkins admits, as yet clearly understands. In any case, the vision of freeflowing, unsupervised information, and the quality of a communicative act based on mutuality, is finally fully materializing.2 Jenkins emphasizes that the instrumental strategies of economic agents and the technological media and spontaneous tactics of creative consumers merge and converge to form a cultural constellation altogether different than the one described by the category of traditional culture industry.

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With respect to Jenkins“ work, it is appropriate to mention John Fiske’s (1992, pp. 30–49) influence on the establishment of a new field of research, namely, fan studies, which centers around the concept of the “productive viewer”, suggesting the viewer’s position not merely as an active agent but as an actual consumer opposition. 2 It is hard not to sympathize with Jenkins’ good-hearted humane optimism, which wishes to bestow upon the spectator an active and productive role. This kind of optimism reminds us of Bertolt Brecht, who wrote, as Moshe Zuckermann (2001, p. 39) noted: “The radio should be converted from a distributive device to a communicatory device. Radio could be the most spectacular communicatory device of public life. . . an unbelievable channeling device; that is, to cause the listener not only to listen, but also to talk. . ..” [my translation]. Regarding this statement, Zuckermann comments that Brecht “could still allow himself at that time to hold the opinion that the very communicatory act – an act based on the mutuality between the radio and its listeners – holds the promise of a free public sphere. . . Yet it seems that even he did not successfully take into account the integrative logic that underlies the communicatory merchandise market, the trends of fetishization of mutuality and the reification of the communicative act, namely, the media’s ability to turn the “discourse” itself into merchandise, the “talk” into a “show”. . ..” [my translation].

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Jenkins’ convergence culture converges towards a liberalization of content circulation, for the greater well-being of all. The society described by Jenkins, then, is guided by the logic of market democratization and by spontaneous organization that produces variety and multiplicity, as Jenkins stated in a 2007 lecture that it is all “.[. . .] about acquiring greater power and greater visibility and grater clout in the culture” (Jenkins 2007). In light of this picture, the pertinent question is how, if at all, does this participatory culture of Jenkins’ actually alter the structure of the relations between consumers and producers? Is it fundamentally annul the conflict inherent in the capitalistic method? In the same 2007 lecture, Jenkins attempted to tackle this question by offering the concept of the ‘collaborationist position’, which concerns not merely the collaboration between producer and consumer but the empowerment of ‘prosumers’ so that they can take part not only in content design and distribution but also in the production of value. [. . .] maybe get revenue back from the production of value they’re involved in. That’s my utopian fantasy that we may get to a point where I get some money back; when YouTube was sold for a billion dollars, if some of that money goes to those kids in the dorm room in China who lip-synched Backstreet Boys songs [. . .]. (Jenkins 2007)

This formula that Jenkins offers presents a society in which participation in cultural production is not determined by ownership over the means of production but by the user or amateur’s skill, initiative, and passion. As such, it embodies a critique of old Fordist norms and an identification, albeit non-explicit, with the promises of neo-capitalism – all this in the spirit of ‘artistic criticism’, as coined by French sociologists Luc Boltanski and Chiapello (2002), discussing the new spirit of capitalism: We label the second form of criticism [. . .] ‘artistic criticism’. This form first emerged in small artistic and intellectual circles, and stresses other characteristics of capitalism. In a capitalist world, it criticises oppression (market domination, factory discipline), the massification of society, standardisation and pervasive commodification. It vindicates an ideal of liberation and/or of individual autonomy, singularity and authenticity (p. 16). (See also Boltanski and Chiapello (2005), pp. 466–468.)

According to Boltanski and Chiapello, this new spirit of capitalism, which speaks the language of the active-subject, freedom, de-alienation, autonomy, and authenticity, thus renders social and political criticism redundant. In this sense, Jenkins’ discourse of collaboration is intimately connected to the new spirit of capitalism, and as such, inadvertently plays an ideological role in affirming the status quo. Or as Nicholas Garnham (1995) writes, taking the perspective of the ‘active audience’ theory entails bowing to ‘ethnographic worship’, and therefore an abandonment of the critical stance. Jenkins’ collaborative culture, then, is not neutral but, rather, part of a discourse that legitimizes neo-capitalism’s exchange and production regulations, which in turn promise to promote authenticity by mitigating alienation. Yet it is precisely Jenkins’ insistence, or as he puts it, ‘my utopian fantasy’, regarding the possibility that his

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creative subject will be integrated into the economic system, that ironically suggests the opposite – namely, that the repressed conflict between producers and consumers, the one that has supposedly been solved through prosumerism and participatory culture, is related precisely to the scenario that Jenkins wishes to avoid: the commodification of the prosumer him- or herself. For the moment prosumers strive for a share of the profits, they are thereby subjected to the instrumental principle of exchange value. When prosumer/amateur goodwill, and even bona fide creative effort, is translated into exchange value, it undergoes a process of commodification, thereby losing its emancipatory potential. This paradox is intrinsic to web and collaborative production, since the latter is based on the blurring of distinctions not only between producers and consumers but also between work and pleasure. Since it is usually carried out via personal digital communication, web production has no trouble mobilizing resources that would ordinarily not be exploitable, such as leisure, joy, pleasure, self-study, and passion, making use of them for the refinement of the industrial process and for price reduction, thereby enhancing corporate profitability. The reduction of prosumer, amateur, and user work into value units that distribute between producers and consumers, this renewed quantification of the exchange value, leads, as we will see below, to the very homogenization against which Adorno and Horkheimer had warned. It turns out, then, that user-generatedcontent is intended to be an inseparable part of neo-capitalism’s web production, a state of affairs about which Jenkins voice no disapproval, while at the end of the day, the participating-prosumer, even if he or she acts within sharing-communities, functions as an autonomous production unit; no longer ‘a worker’ but a creative, individualist, and privatized-to-the-bone entrepreneur.

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The Critique of Informational Capitalism

We have seen that in the new order of collaborative web production, information and cultural objects are perceived as commodities despite honest intellectual attempts on the part of theoreticians such as Jenkins to mitigate this fact. It appeared also that the new positivism is similarly unsuccessful in dealing effectively with the double conflict: collaborationism versus commodification, and individualization versus collaborationism. This suggests that the question of commodification – not only of the communicative market of objects and acts but also of production methods, work, leisure, professional-amateur relations, and the communicative act itself – is the central and essential question incumbent upon the critical discourse currently taking place in the digital culture industry. And indeed, as we will see shortly, at the heart of this critical project lies the amalgam of social praxes and human interactions that have undergone commodification – whether material or web/virtual – with respect to which the discourse attempts to determine how they sustain and feed, in a type of feedback act, the cultural products that mediate social relations and the modalities of cultural production, work and leisure practices, throughout the virtual world, thereby mediating neo-capitalist ideology.

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It is no coincidence, then, that a significant part of the critical corpus that deals with the question of audience-work and work-leisure relations in the web age draws its inspiration from Dallas Smythe’s (2006) seminal work as a starting point for the establishment of a new media critique. For the media theory of political economy underwent a fundamental transformation towards the end of the 1970s and in the early 80s when it began perceiving the media as a production system in itself and turned to focus upon the audience’s productive role in creating the media’s surplus value through what is called ‘audience labor’. Smythe’s work, whose beginnings are to be found back in the 1950s, was central to this shift, as he claimed that mass media does not necessarily entail a large audience consuming media contents produced by media corporations, but that mass media reigns over the commodification of spare time, as well as of cognition and emotion. (Smythe notes that he began delving into the issue of „the blind spot“ and audience-work as far back as 1951, in his article “The Consumer’s Stake in Radio and Television”.) According to Smythe, then, mass media is interested in transforming the attention and the time that the audience dedicates to the media in general and to advertisements – that is, marketable commodities – in particular. In this respect, the audience is an active entity, whether willingly or not, in the media economy; an aggregate of subjects who perform cognitive and emotional work. Here Smythe broadens the definition of work by claiming that it is not necessarily an action performed in return for wages but an inclusive category defined simply as ‘doing something creative’ (See Fuchs (2012)). To Smythe, then, the media is not merely another component of the meta-structure that functions as an ideological platform to support production relations in the corestructure. Media that is based on audience-work as surplus labour time thus becomes an inseparable part of the inexhaustible effort towards capital accumulation through the very transformation of the audience into a marketable commodity, not only as a buying force but as a work and distributive force (Jhally and Livant 1986, p. 129). This move made by Smythe was eloquently summarized by Fisher (2012): In some respects, Smythe transplanted the Birmingham School’s notion of the active audience from the realm of meaning-making to that of money-making. (p. 172)

Smythe’s criticism came in response to what he described as a ‘blindspot’ that mars most Marxists cultural analyses as well as those analyses advanced by members of the Frankfurt School. These critical approaches usually focus on the manipulative contents of media products, or as Lawrence Grossberg (2006, pp. 616–618) suggested, are based on a simple model of domination in which people are taken to be passive and manipulatable ‘cultural dupes’. In the same vein, Christian Fuchs (2012; see also, Fuchs 2011) claims that unlike dogmatic critical theories, Smythe’s theory is more complex and evenly balanced with regard to the way in which the audience is perceived. Dallas Smythe had a very balanced view of the audience: capital would attempt to control audiences, but they would have potentials to resist: People are subject to relentless pressures from Consciousness Industry; they are besieged with an avalanche of consumer goods and

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services; they are themselves produced as (audience) commodities; they reproduce their own lives and energies as damaged and in commodity form. But people are by no means passive or powerless. People do resist the powerful and manifold pressures of capital as best they can (p. 699). (Based on Smythe, D. W. (1981). Dependency road: Communications, capitalism, consciousness, and Canada. New York: Ablex Publishing Corporation, p. 70.)

But alongside this partial agency that Smythe attributes to the audience, Fuchs adds in the same breath that Smythe made sure to emphasize that given monopolistic capitalism’s material reality, most hours of the day are work hours. This is because most of the audience’s off-the-job work time is sold to advertisers in the media, so that the audience forcibly performs marketing and distribution work. Smythe proceeds to determine rather blatantly that ‘For the great majority of the population [. . .] 24 hours a day is work time’ (cited in Fuchs 2012, p. 701). The extent to which this approach consists of a paradox, not to mention an absurdity, can be discerned in David Hesmondhalgh’s (2010) sarcastic remark: It is unclear whether Smythe is demanding payment for the unpaid labour of audiences; and in fact it is unclear to me why he does not include payment for sleep in his demands, given that this too seems to involve the reproduction of labour power (p. 280). In any case, Smythe’s pessimistic contribution to the topic of the essential lack in leisure time reverberates in the vast and rich corpus of media criticism. A salient example of this is Kücklich’s work, in which the author attempts to demonstrate the exploitation of the digital-worker through the use of the neologism ‘playbour’ (play + labour), or more specifically, the exploitation of ‘modders’, namely, those who are entirely immersed in ‘modding’ (computer game modification). Kücklich (2005) claims that the exploitation of the latter, most of whom are amateurs performing audience-work, is based on the utter collapse of the differentiation between work time and leisure time: Modders [. . .] are rarely remunerated for taking the risks the industry itself shuns [. . .] many modders are either uninterested or unable to translate the social capital gained through modding into gainful employment. The precarious status of modding as a form of unpaid labour is veiled by the perception of modding as a leisure activity, or simply as an extension of play.

The tension embodied in the concept of audience-work and the ambivalent discussion that has evolved around it has actually intensified with the shift from the old media to the new one. (For a concise but comprehensive overview, see Fuchs (2012), pp. 701–706.) I would like to claim that underlying the charged discussion on this topic lies a functional approach to the concept of ‘work’, and that this naturally leads to an exaggerated discussion on the topic of exploitation-alienation relations. This approach also gives rise to the question of how the prosumer who functions in the web world might receive his remuneration or salary, even if indirectly. According to one approach, in the spirit of Jenkins’ ‘utopian fantasy’, the surplus value embodied in audience-work will eventually reach the user in the form of hard currency. In other words, the user will be awarded a certain portion,

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albeit miniscule, of the profits made by media companies that have become rich thanks to his work. According to Jenkins, then, audience-work and the participatory economy signify a real chance for change in production relations, in the power structure, and in capital distribution within capitalism. Brett Caraway, on the other hand, is not endowed with a similarly ‘utopian’ spirit, since he analyzes Smythe’s work with a revisionist eye and finds that internet prosumers cannot be studied from the viewpoint of the audience commodity theory in the senses that Smythe aims for, if only because [t]he activities of the audience are not under the direct control of the capitalist. Nor is it clear that the product of the labor of the audience (whatever that may be) is alienated from the audience. (Caraway 2011, p. 697)

Moreover, according to Caraway (2011), Smythe, followed by contemporary researchers who adhere to different aspects of the audience commodity theory, does not sanction the assumption that there is actual leeway for consumer resistance: True, Smythe [. . .] was careful to acknowledge some modicum of resistance in the core area. But any honest appraisal of Smythe’s work will demonstrate that Smythe only recognized such resistance in the abstract, and ignored it in his analysis because he believed it to be insignificant, “minuscule”, or defeated. (p. 704)

Fuchs, whose interpretation of Smythe sets out from functional Marxism, disagrees with Caraway, even situating him and his analysis’. . .on par with social media determinists like Henry Jenkins’ (Fuchs 2012, p. 705). According to Fuchs, the audience is the entity forced by capitalism in general and new capitalism in particular to sell both its working power and its free time. He claims that it currently seems like audience-work in the social media world and sharing sites, is coerced by ‘ideological violence’, which brandishes a real threat. Since without engaging in such work or productive sharing, the subject risks losing a major part of his social resources due to a chronic lack of information and of the communication capacities that have become so essential to the existence of social relations in this era. If, for example, people stop using Facebook and social networking sites, they may miss certain social contact opportunities. They can refuse to become a Facebook worker, just like an employee can refuse to work for a wage, but they may as a consequence suffer social disadvantages in society. Commercial media coerce individuals into using them (Fuchs 2012, p. 704). But that is not all. Fuchs emphasizes the fact that unlike traditional media, and especially television, in the digital world and web economy the definition of audience commodity, as offered by Smythe, not only is not rendered redundant but indeed expands, given that all of the data regarding the user is constantly updated and automatically turns into a commodity. Such as, networks of social contacts, demographic details, the individual user’s browsing history, and even his behavior in sharing sites. This massive commodification not only reinforces Smythe’s observations but also points to a fundamental change in the very understanding of the notion of the user’s subjectivity. As Fuchs writes:

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[. . .] on the Internet the users’ subjective creations are commodified. Therefore, Smythe’s original formulation holds here that the audience itself – its subjectivity and the results of its subjective creative activity – is sold as a commodity. (Fuchs 2012, p. 704)

On the other hand, and in the same breath, Fuchs, probably unwittingly, hints at the subversive potential of the work of the very same audience that has just been robbed of its subjectivity. If the surplus value yielded from the audience’s work is so essential to web economy and neo-capitalism’s capital gain processes, then a decision by users to halt their work for Google or Facebook, for example, would bring about a plunge in the profits of these giants. If such activities were carried out on a large scale, a new economic crisis would arise. This thought experiment shows that users are indispensable for generating profit in the new media economy. Furthermore, they produce and co-produce parts of the products, and therefore parts of the use value, value, and surplus value that are objectified in these products (Fuchs 2012, p. 725). And so, Fuchs on the one hand exposes and condemns the ‘ideological violence’ and exploitation embodied in audience-work, while on the other hand acknowledges, as in the passage quoted above, that audience-work in the age of Informational Capitalism and Immaterial Labour holds the potential for refusal in the spirit of Autonomist Marxist activism. Autonomist Marxists do not seek additional work, do not concern themselves with the right to work or the demand for fair wages, do not protest worker exploitation and do not even advocate a mitigation of the alienation that plagues work; instead, their aim is to point to the refusal of work as a political – potentially revolutionary – act. This is because, as Negri argues, to refuse work is fundamentally to challenge capitalism: “The refusal of work does not negate one nexus of capitalist society, one aspect of capital’s process of production or reproduction. Rather, with all its radicality, it negates the whole of capitalist society”. (Gill and Pratt 2008, p. 4)

This contradictious mixture of ideological oppression on the one hand and the possibility of refusal on the other – much like Fuchs’ argument in his Internet and Society (2008) that the web enables the dialectical existence of two contradictory trends: competition and collaboration – successfully reflects the ambivalence, and especially the perplexity involved in the very comprehension of the concept of audience-work and free labour in the web era. Another expression of this tension appears in Fuchs’s account when he attempts to draw attention to the fact that [n]ot all prosumer work on social media is commodified [. . .] Work that contributes content, attention or comments to non-commercial non-profit projects [. . .] is work in the sense that it helps creating use values (alternative news, critical discourse etc.), but it is non-commodified work, it cannot be exploited, does not have exchange value and does not yield profit. Non-commercial non-profit online projects are expressions of the struggle for a society and an Internet that is not ruled by the logic of commodities and exchange value. [. . .] the existence of alternatives shows that social media and media in general are in capitalism shaped by [. . .] “gaps and contradictions” that constitute “cracks and fissures” that allow “currents of criticism and movements of contestation”. (Fuchs 2012, p. 725)

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Of course, one can wonder whether only someone who succeeds in evading the financial world, the commodities, and the market, while taking advantage of the “cracks and contradictions” in capitalism’s meta-structures and foundations, deserves to be regarded as a ‘grassroots alternative’, or whether there are other ways for subjects to exercise their right to refuse commodification and actualize their emancipatory wish, but let us return to this point later.3 Optimistic scholars, who doubt the criticism and warnings sounded by political economy, claim that this criticism is exceedingly one-sided when it conceives of audience-work as an opportunity for the exploitation of free labour and goodwill. Caraway, in keeping with his criticism of Smythe’s audience-work thesis and the manner in which contemporary criticism makes use of it, believes that ‘[t]he harnessing of free labor to the logic of accumulation is a contingent, contradictory and contested process’ (Fuchs 2012, p. 694). He claims that since this approach consists of an extreme form of determinism and an excessively functionalist perception of new technology and of the concept of work that this technology enables, it drains the concept of free labour of its emancipatory and subversive potential. [. . .] current scholarship rarely examines the subversive uses of technology. Too often, there is only engagement with the rhetoric of techno-utopians and the digerati on the participatory potential of new media in what has become something of a ritualized straw man argument among political economists. (Fuchs 2012, p. 705)

To Caraway, the creative energy that propels non-material labour in the new media environment and motivates those active in it challenges the pessimism of the critical oppressive thesis, or as he puts in, ‘defies this morbidity’ (Fuchs 2012, p. 706). In an attempt to deconstruct the positivistic ‘hegemonic technological discourse’, as well as to escape the vicious cycle of criticism and counter-criticism, Fisher proposes returning to a more dialectical theoretical position vis-à-vis exploitationalienation relations. Fisher identifies the weakness of Marxist media criticism in the fact that it focuses mainly on one side of the equation. That is, it focuses more on exploitation than on alienation, a tendency that he finds questionable given that Marx treated the link between exploitation and alienation as ‘inextricable’ (Fisher 2012, p. 173). As a key concept, alienation highlights neo-capitalism’s unique maladies from a standpoint that is more humanistic than the material economic calculation underlying claims of exploitation. Fisher draws from the aforementioned work by Boltanski and Chiapello, who claim that the new spirit of capitalism is 3

It is impossible not to recall here the early work of Michel de Certeau (1984), whose spirit undoubtedly hovers over the debate about cultural audience-work as a kind of alternative action “from below”. According to de Certeau, what used to be a matter that concerns a marginal minority is now becoming a tool for the silent majority, or in his words: “Marginality is today no longer limited to minority groups, but is rather massive and pervasive; this cultural activity of the non-producers of culture, an activity that is unsigned, unreadable, and unsymbolized, remains the only one possible for all those who nevertheless buy and pay for showy products through which a productivist economy articulates itself. Marginality is becoming universal. A marginal group has now become a silent majority” (p. XVII).

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characteristic of the neo-liberal shift, which inspired capitalism to internalize and contain the anti-authoritative criticism of the counter movements of the 1960s. In addition, with the expansion of electronic mediation, a new capitalism was constructed: ‘web capitalism’, committed to authenticity, liberty, and autonomy. This made it possible [. . .] for capitalism to equip itself with a spirit which [. . .] is required for people to engage in the profit-making process, it indirectly serves capitalism and is one of the instruments of its ability to endure. (Boltanski and Chiapello 2005, p. 490)

Capitalism’s new spirit thus links alienation to the lack of communication resources, which plunges the subject into social isolation; alienation is purportedly an evil to be cast off through personal communication, that is, through work in the social media. In short, the more subjects ‘work’, that is, the more they are involved in authentic self-expression and in interpersonal communication on web platforms, the more their sense of alienation is supposed to be mitigated. And yet there is a fly in the ointment: the more they work and produce an ever greater surplus value, the more they are exploited. [. . .] immaterial labour [. . .] has a greater potential to be enjoyable, involve personal, idiosyncratic components, carried out during leisure time or even be perceived as a form of leisure activity, playful, emotional and communicative. On the other hand, to the extent that such labour is performed on SNS, it is also commodified and entails the creation of surplus-value. (Fisher 2012, p. 182)

Fisher’s dialectical approach successfully tackles both techno-optimism, which Fisher characterizes as typical of the networks’ new spirit, and the techno-pessimism that has always accompanied the former. Fisher views both of them as equally deterministic. In many ways, Fisher’s proposal resembles a number of other dialectical approaches that have been mentioned above, such as Fuchs’ approach concerning the contradictory dialectic between collaboration and competition; or Michael Hardt and Antonio Negri, who, in the spirit of Operaismo and Autonomism, see in the decentralized web structure an ‘empire’ of the multitude, which can now unite, precisely through technological-instrumental mediation, for the sake of a significant political act (Hardt and Negri 2001, 2005). Yet more than they are dialectical, all of these approaches, as I have already indicated, are ambivalent and suffer from a certain perplexity and even an inherent paradox, suggesting that this dialectic is oftentimes no more than a destructive ‘dialectic’ (Fuchs 2012, pp. 728–729).4 It’s destructiveness lies in the extent to which it creates a certain kind of mutual recursion process, with one side of the equation containing the other side, and vice

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It is only fair to note here that Fuchs (2012) uses this term in a different sense, namely to designate the manner in which capitalism binds work to play, while subordinating the principle of erotic vitality (Eros) to the Thanatic death dimension (Thanatos): “[. . .] dialectic of Eros (the drive for life, sexuality, lust) and Thanatos (the drive for death, destruction, aggression)” (pp. 728–729).

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versa. In other words, the definition of exploitation necessarily contains the definition of alienation, and labour contains leisure, as well as vice versa. This dialectical approach might be taken to imply, then, that leisure time and handicrafts that produce surplus value, intentionally or otherwise, are a ‘fee’ that the subject pays to achieve the de-alienation offered him or her by neo-capitalism. I would like to argue that these notions regarding the dialecticality of web society might be futile, since they do not enhance our understanding of important dimensions of human life, such as leisure activity and the world of hobbies as expressions of the wish for emancipation; henceforth I would like to focus on these dimensions.

4

Leisure or Leisure Industry

The discussion of the centrality of the concept of leisure and of leisure-labour relations within the narrative of modernism has generated an expansive discourse in which partake not only sociologists but also historians, culture theoreticians and philosophers. Within this discourse, the notion of the ‘culture industry’ as proposed by Horkheimer and Adorno in 1944, including Adorno’s reference to the illusion of free time, is undoubtedly one of the categories that has most influenced the suspicious attitude of cultural criticism and especially, as we have seen, of the critique of digital discourse towards the concept of leisure and free time in all of its forms, including audience-work, non-material work, and consumer participation (Adorno 2001, pp. 187–198). The fact that there are those who challenge the critical tradition of the Frankfurt School and question the relevance of the culture industry as a critical criterion does not attenuate the concept’s influence on critical literature. Scott Lash and Celia Lury claim, for example, that in the web era, culture can no longer be perceived as belonging to the super-structure; with its integration and deep intertwining into the economy, it seems to be seeping through to the foundations, and therefore a new and up-to-date critical approach needs to be founded. If Horkheimer and Adorno’s culture industry was governed by uniformity and intractability, they argue, then the global culture industry is governed by singularity and complexity: Singularities are very much the opposite of Horkheimer and Adorno’s atomized and atomizing cultural goods. . . Opposed to the atom were the monads of Leibniz (1992). Adorno’s commodities are atomistic; the global culture industry singularities are monads. . . Monads are all different from each other. Atoms are the stuff of simplicity; monads are the stuff of complexity. Monads are self-organizing and, in this sense, reflexive. The atomized products of Horkheimer and Adorno’s classic culture industry worked like mechanisms. The selftransforming and self-energizing monads of global culture industry are not mechanistic, but vitalistic. (Lash and Lury 2007, p. 12)5

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Regarding the authors use of the monad concept, it is interesting to note that Max Horkheimer had already addressed the metaphor of the social monad in 1937, yet for him monads are not “singular” units that stand on their own, but entities bound together by the power of the “healthy human mind”. See Horkheimer (1972), p. 202.

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But do complexity and singularity in any way alter the discussion of the question of audience-work and leisure? Does the metaphorical unique and spontaneous monad actually replace the reproduced social subject? Or perhaps the original emancipatory meaning of the ideal of authenticity has evolved into a means of justifying the entirety of neo-capitalism’s arrangements (Hartmann and Honneth 2006, p. 50). And maybe we are facing a subtle form of philosophical public relations that presents the web as a kind of breathing, vital entity that stands on its own, seemingly independent of society, while the monads that inhabit it are supposedly autonomous and un-reproduced. Yet it is precisely the web’s apparent autonomy that brings us back to the basic hypothesis underlying the idea of the culture industry, according to which the integration of consumers becomes total through the effective enhancement of technology and administration, operating synergistically. In this sense, the interests of the mechanisms of the culture industry become invisible once they turn into ideology; according to Adorno, they even break free of the need to sell their cultural commodities: ‘The culture industry turns itself into public relations, the manufacturing of “goodwill” per se, without regard for particular firms or saleable objects’ (Adorno and Rabinbach 1975, p. 13). Within this speculative context of the reproduced subject versus the unique monad, it seems that a renewed examination of Horkheimer’s and Adorno’s readings (and especially Adorno’s) of the concept of leisure or free time is an essential and fertile task. Notably, the concept of leisure presented by Horkheimer and Adorno was the result of neither a detailed historical study nor sociological empiricism, but was derived directly from the very idea of the culture industry, in all of its monolithicity and lack of spontaneity. The products produced by this industry are tailored to the dimensions of mass consumption, while the masses appear in it not as subjects but as manipulatable objects. To Horkheimer and Adorno, it is not necessarily the contents, but the form – namely, the template that produces uniformity (particularly aesthetic) among all cultural products and social practices – that constitutes the decisive element in transforming the culture industry into an iron cage from which there is no escape. As succinctly put by Shane Gunster: This quality of “ever-sameness” does not apply to the surface content of popular culture, which is constantly changing, but to its form, to the structures that hold everything in place [. . .]. (Gunstrer 2000, p. 42)

Keenly aware of the tendency of the consumer audience, wherever it may be, to be drawn by ‘the new,’ and of the threat of ‘boredom’ hovering over each and every member of this audience, the wizards of the culture industry, then as now, offer a deceptive magic recipe containing pseudo-individuation through an illusion of particularism that conceals the actual uniformity and repetitiveness of the contents. This illusion is destructive to the subject’s capacity for self-criticism, since to the subject, the culture industry constitutes both the world and its representation, all in one. There is no other world for which to strive, and in the absence of any reality

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external to the one offered by the culture industry, the subject is stripped of the reflexive ability to evaluate his situation correctly and to set him- or herself ethical and political goals that transcend the world of the culture industry. Reality and mass culture are inseparably intertwined. It follows that the consumer is not a ‘king’ but a ‘subject’ shaped through the mental cloning that infiltrates all strata of life, from work to leisure. And so was formed a negative link between work and ‘free time’: the fewer work resources were required of individuals for social work, the more free hours they gradually gained. But this was not enough to liberate the individual from the oppressive ethos of the labour world, as leisure activities reproduced the conditions of the labour world and its aims with ‘puritanical zeal’, as Adorno observed. Worn out and drained though he may be by the demands of the labour world, the subject nonetheless seeks refuge precisely within familiar thought and behavior patterns that have been set in that very same world. The standardization and schematization of the cultural commodities market, which abides by the principle of popularization, as well as the rationalization of its modes of consumption, perpetuated the individual’s subordination to the capitalistic work ethos. It is in this sense, as Adorno claimed, that commodification was applied also to leisure. They want standardized goods and pseudo-individuation, because their leisure is an escape from work and at the same time is molded after those psychological attitudes to which their workaday world exclusively habituates them. (Adorno and Simpson 2002, p. 38)

Standardization sacrificed the very values that distinguish the logic of autonomous creation or action from the logic of instrumental wisdom. Liberal cultural industry is so ‘democratic’ that it turns everyone equally into consumers deprived of independent voices, and even worse, strips them of any reaction mechanism, as demonstrated by Horkheimer and Adorno in the example of radio broadcasts: No machinery of rejoinder has been devised, and private broadcasters are denied any freedom. They are confined to the apocryphal field of the “amateur,” and also have to accept organization from above. But any trace of spontaneity from the public in official broadcasting is controlled and absorbed by talent scouts, studio competitions and official programs of every kind selected by professionals. (Horkheimer and Adorno 2006, p. 42)

The meaning of the word ‘amateur’ as used in this passage harbours a deep ambivalence, as does by extension the associated concept of a ‘hobby’. Here we see that even the ‘amateur’, who transmits private broadcasts that might have ventured beyond the boundaries of the culture industry to signify freedom, is subordinated to an industrialized culture of deceit and forgery (‘apocryphal’). Anyone who stands in opposition can survive only by integration. When the culture industry detects difference and deviance, like that of the amateur, it does everything in its power to assimilate him or her via a well-organized inclusive mechanism of seizing the ‘unique’ and the exceptionally talented.

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In this way, liberalism’s tendency to give free rein to its ablest members survives in the culture industry. To open that industry to clever people is the function of the otherwise largely regulated market, in which, even in its heyday, freedom was the freedom of the stupid to starve, in art as elsewhere. (Horkheimer and Adorno 2006, p. 49)

And subsequently: “Anyone who does not conform is condemned to an economic impotence which is prolonged in the intellectual powerlessness of the eccentric loner” (Horkheimer and Adorno 2006, pp. 49–50). The ambivalence encoded in Adorno and Horkenheimer’s attitude towards the amateur as a deviant-recluse is further exposed when they argue, as part of a discussion on the relations between ‘serious art’ and ‘light art’, that art and amusement are subordinate to one and the same goal as both are equally included in the totality of the culture industry as mechanisms of production. In order to achieve this totality, troubling elements from the past must be eliminated, as the culture industry indeed does ‘[. . .] by imposing its own perfection, by prohibiting and domesticating dilettantism [. . .]’ (Horkheimer and Adorno 2006, p. 51).6 And so, the dilettante, or the amateur, is a possible hindrance to the smooth functioning of the culture industry; so much so, that these deviant elements have already been trained and domesticated. Notably, this perception of the ‘amateur’ coincides with the dominant leisure historiography from the 1960s and 70s, which dealt with the broad strata of workers and the middle class from the second half of the nineteenth century and into the twentieth century. In the accounts of most historians the subjects are depicted as a passive collective that consumes the products of the leisure industry as products of mass consumption. Those who operated outside the market of products of mass consumption, such as productive leisure agents, and especially devout amateurs, were presented as a marginal phenomenon – amiable eccentrics at best and ‘dangerously obsessed’ at worst (Gelber 1999, p. 3).7 If historians detected any creative independent leisure at all that does not abide by the market’s rational logic, it was usually associated with deviant practices, such as unbridled drinking, gambling, absenteeism, and vulgar

Although the word “dilettante” appears in the German source, it is not by chance that at least one translation opted to render “dilettantism” as “amateurish”, apparently reflecting the difficulty inherent in the concept. 7 In presenting the nineteenth-century American perception of hobbies as that of a “dangerous obsession”, Gelber draws on a linguistic analysis focused on the negative connotation associated typically with the word “hobby”, at least until the 1880s. And indeed, the nineteenth-century discourse about hobbies was almost entirely negative. Hobbies were defined and presented as a sort of compensation and escape, and as habits that imply addiction and an irresponsible submission at the expense of work, rather than as a positive social instrument. Etymologically, at least, this is unsurprising insofar as the word “hobby” has always had negative connotations. The word’s origin is probably in equine culture; in old English, “hobby” is a small horse, but also a type of toy horse or wooden pony. This is probably why “hobby” was defined as a preferred action/activity or subject, an interest pursued solely for the sake of amusement and enjoyment. This meaning received an immediate negative connotation as the hobby activity was compared to riding a wooden horse – that is to say, riding nowhere. 6

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popular amusement. At best, these activities were portrayed as spontaneous but futile acts of defiance against the dominant hegemony.8 Yet the culture industry according to Adorno and Horkheimer leaves no room even for deviant and marginal actions such as these. It subordinates the collective of subjects, even in their leisure time, to the rule of consciousness and to the rhythm of that very same work world they are so eager to escape. Adorno and Horkheimer’s conclusion is as somber as it is decisive: Even during their leisure time, consumers must orient themselves according to the unity of production. The active contribution which Kantian schematism still expected of subjects – that they should, from the first, relate sensuous multiplicity to fundamental concepts – is denied to the subject by industry. (Horkheimer and Adorno 2006, p. 44)

In the absence of authentic leisure, only amusement that is no more that ‘a mere appendage to work’ remains. Thus, those who seek amusement and entertainment in the hope of escaping the boredom of work do so only so as to gather the strength to face it anew. Yet even this more modest hope, which is the consumer’s perennial yearning, is repeatedly dashed as ‘amusement congeals into boredom [. . .]’ (Horkheimer and Adorno 2006, p. 52). In the essay ‘Free Time’, written in his final year, Adorno revisited the helplessness and the false consciousness of free will in the era of social integration, which is unequalled in its totality and functionality: [. . .] it is hard to ascertain anything in human beings, which is not functionally determined. This is an important consideration for the question of free time. It means to say that even where the hold of the spell is relaxed, and people are at least subjectively convinced that they are acting of their own free will, this will itself is shaped by the very same forces, which they are seeking to escape in their hours without work. (Adorno, “Free Time”, p. 187.)

In this sense, the leisure that has been commoditized becomes a deceptive apparatus; free time is far from freedom, and is [. . .] becoming a parody of itself. Thus unfreedom is gradually annexing free time, and the majority of unfree people are as unaware of this process as they are of the unfreedom itself. (Adorno, “Free Time”, p. 187.)

The assumption is that the economic, cultural, and social beliefs of most members of society belong to a comprehensive thought pattern, to an ideology that warps their ability to perceive reality correctly, let alone to act outside the social utilitarianism as

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The premises and conclusions of this historiography have mostly been refuted over the years. Among the first to point out the problematic nature of the scholarship’s pessimistic perception of popular leisure was British historian Gareth Steadman Jones (1975), who attributed this perception to the scholarship’s use of limited sources: it relied largely on historical documents by leisure entrepreneurs and reformists from the high bourgeoisie, and disregarded the social praxis as it appears in various reports by members of the working class, “. . .as if the only records of the bourgeoisie came from the bankruptcy courts, the only evidence of marriage from divorce petitions” (pp. 162–170).

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it materializes within the market. The possibility of ‘escape’ that the subject is offered by the mechanisms of the culture industry is not an escape from an evil reality but an escape from the very idea that this reality can at all be rejected. In his book The Digital Sublime, Vincent Mosco claims that the digital discourse creates the constitutive myth of our times insofar as it presents digital technology as heralding a new historical era in which the subject is apparently granted the ability to ‘escape’, to act outside instrumental rationality. But this myth masks the continuous trends that prove that the global market’s trajectories as we observes them today are largely reflective of a deepening and expansion of old forms of power and reproduction. (Vincent Mosco, The Digital Sublime: Myth, Power, and Cyberspace (Cambridge, MA: MIT Press, 2004), p. 83.) It turns out that some of Horkheimer and Adorno’s observations are still valid; with regard, at least, to the culture industry’s reproductive power and the manner in which it makes affirmative use of free-time activities, one may conclude that their ideas are applicable to the digital culture industry and its instrumental logic. Nevertheless, it would be a mistake to grasp the concept of the culture industry as a general ideological system or as the complete negation of individual subjectivity.9 This point is particularly relevant within the context of the discourse on leisure habits in the web world, the status of the amateur, and unpaid work, all of which are social elements with both a real and a symbolic potential to oppose current developments in capitalism. Adorno, in a moment of biographical self-disclosure (a rare sight in academic texts), brought up the problem of leisure and hobby activities sharply and bluntly: I have no hobby [. . .] But, as far as my activities beyond the bounds of my recognized profession are concerned, I take them all, without exception, very seriously. So much so, that I should be horrified by the very idea that they had anything to do with hobbies. (Adorno 2001, p. 187.

Unlike the dialectical recursive conception that characterizes, as we have seen, the main body of digital media criticism, and from which there is no way out, Adorno, precisely out of what appears to be a negation hints at a positive thesis: a productive synthesis that might, or should, stem from the dialectics between leisure activity (‘hobby’) and work (‘recognized profession’). This synthesis is embodied in its entirety in the single word ‘seriously’: the moment that leisure activity on the one hand and necessary work on the other hand are carried out with the same degree of passion and seriousness, the distinction that late capitalism tried so hard to maintain 9

It is noteworthy that in a publication from the 1950s Adorno himself discerned the considerable degree of agency and cultural choice possessed by the subject. „Although personality is a product of the social environment of the past, it is not, once it has developed, a mere object of the contemporary environment. What has developed is a structure within the individual which is capable of selfinitiated action upon the social environment and of selection with respect to varied impinging stimuli [. . .]“. Adorno T.W., Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson and R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality: Studies in Prejudice, vol. 1 (New York: Harper & Brothers, 1950), Studies in Prejudice, Social studies series, sponsored by the American Jewish Committee.

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is clearly cancelled out. This is the same distinction that contemporary web capitalism took pains to blur in favor of the interests embedded in the various types of audience-work. In other words, Adorno implies that when applied to leisure activity, ‘seriousness’ is the way to extricate oneself from the reification that petrifies both work and leisure in their respective roles: the former as alienated and instrumental and the latter as a commodity, pleasurable entertainment, and downright fetish. Seriousness, then, signifies not the negation of hobby and its denunciation but, rather, its internalization and incorporation as an inseparable component of the individual’s free essence. And this may offer a way out of the vicious cycle in which [t]he more inexorably the principle of exchange-value destroys use-values for human beings, the more deeply does exchange-value disguise itself as the object of enjoyment. (Adorno 1992, p. 279.

In this sense, the intellectual legacy of the culture industry’s critique, according to Adorno, contains the possibility of serious leisure as a contrast to superficial leisure, which is affirmative by its very nature. Unfortunately, those media criticisms that address the concept of the culture industry, grounded as they often are in the tradition of political economy, have mostly adopted its denunciative aspect. In other words, in one way or another they focus on the dialectics of alienation versus exploitation, adopt (even if they do not admit it) the discourse of technological determinism that claims to have created new social power arrangements, and lastly, are not open to a less functional broadening vision of the concept of work, including leisure-work as an autonomous component of the individual’s life. David Hesmondhalgh claims in this context that a sizable proportion of cultural production has always been done without pay, as these leisure activities have always been an inseparable part of the dilettante’s and the amateur’s life experience (Hesmondhalgh 2010, p. 277). Indeed, he adds, there is room to argue that these non-paying tasks represent activities that are wittingly or unwittingly subordinated to the creation of surplus value in culture industries and the media, since these tasks produce, inter alia, an upcoming workforce in whose training these industries have not invested a cent. And more generally, critics may well claim that the internet itself, as a profit-making economic object, would not have evolved and prospered without the free labour of millions of users; as opined, for example, by Tiziana Terranova and others who share her view that ‘free labour and network flows are wholly immanent to current capitalism’ (Terranova 2000, pp. 33–58). 10 In light of this criticism, Hesmondhalgha attempts to extricate free work from the iron cage of recursive dialectics and to posit it as a value in itself – otherwise, he claims, we will face the danger of the commodification of modes of activity that we would ultimately rather keep outside the boundaries of the market. Therefore, Hesmondhalgh notes in this context that according to Terranova, „The internet itself can be seen as a sign of that vitality. “Free labour”, then, has something of a double meaning. It refers to unpaid work, but, in line with Terranova’s explicitly autonomist sympathies, it also refers to the way in which labour cannot be fully controlled [. . .]“ (Hesmondhalgh 2010, p. 273).

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[. . .] it would surely be wrong to imply that any work done on the basis of social contribution [. . .] represents the activities of people duped by capitalism. Actually, it seems to me that this would run the danger of internalising capitalism’s own emphasis on commodification. We have to hold on to the value of work done for its own sake, or as “gift” labour [. . .] and complaints about free labour – unless the normative basis for the complaints are spelt out very carefully – risk undermining that value. (Hesmondhalgh 2010, p. 277.

Yet this attempt to ‘salvage free labour’ suffers from the same problem afflicts both the digital discourse and its criticism. Couched, as mentioned above, in the language of political economics, the criticism employs terminology that appears to restrict the discourse from the outset. Terms like free labour, audience-work, unpaid labour, creative work, and exploited or alienated work, which are frequently used by critics and interpreters, all focus on the work experience in a rationalistictechnological society, yet they exclude from the discourse the experience of leisure as an independent concept. By doing so they disregard the pragmatic power of informal modes of work, of leisure and the hobby activities it encompasses, in virtue of which these become an important resource for the actual individual, a tool that enables him or her to make sense of their lives and to be rewarded with recognition for their work. The denunciative social theories I have thus far reviewed are all characterized in one way or another by an overly functional approach to work. These fallacies are also addressed by Honneth: [. . .] the negativist social theories arising in the wake of Adorno’s work are also tied to a critical diagnosis in which a particular type of instrumental reason is perceived as growing into a life-threatening power in technology, science and systems of control. (Honneth 2007b, p. 43)

In order to enable a hermeneutic space that is not thus restricted and an adequate critical theory pertaining to the amateur and the aforementioned internet leisure agent, I believe a greater focus is required on mutual meaning-making processes by individuals and groups, and through this focus a connection may emerge to Herbert Marcuse’s refined observation that critical theory ‘[has a] concern with human happiness’ (Marcuse 1988, p. 135).

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The Demand for Recognition: Towards a New Critical Theory

Based on this broadening comprehension of the hermeneutic and critical space, I propose below preliminary thoughts about the link between the internet amateur’s pursuit of leisure and the concept of recognition as articulated by Honneth. Drawing on a number of aspects of Honneth’s work, I would like to reintroduce the actual subject into the picture, while suspending to a certain extent what Paul Ricœur has called the ‘Hermeneutics of Suspicion’. In the present case, this term denotes an implicit hermeneutic premise that leisure activity and hobby work conceal some other, more basic reality; a reality invisible to the real people, who are no more than

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passive carriers of modes of discourse, of economic interests, of a reproduced system power, and of forced social constructs. (For more on Ricœurʼs notion of the hermeneutics of suspicion, cf., Josselson 2004, pp. 1–28.) My use, in what follows, of Honneth’s work does not presume to contain the full wealth of its components and contradictions, but rather focuses selectively on what I take to be essential for the present purpose. This includes, first, Honneth’s disagreement with fundamental aspects of the critical theory that evolved from the works of Horkheimer and Adorno, and second, his concept of recognition insofar as it helps clarify the concept of work in neo-liberal capitalism. I consider Honneth’s discussion on the current place of contemporary critical theory is one that I regard not only as part of the revision he proposes with regard to the Frankfurt School’s original theoretical thought but also as a challenge to the different contemporary versions of the negativist social critique, which he claims [. . .] is always characterized by a tendency toward dehumanization: what generally transforms human beings into mere objects of an auto-poietically reproducing systemic power [. . .]. (Honneth 2007b, p. 67)11

The heart of the problem that Honneth diagnoses in critical theory is its inability, or unwillingness, to turn its sights directly on the social sphere in which the social subjects’ actual interest in emancipation may be identified. For if there is no longer a real wish for emancipation in the world of the living, then it follows that there are also no grounds or motivation for significant social criticism. Therefore, Honneth clarifies that [. . .] we must first re-establish theoretical access to the social sphere in which an interest in emancipation can be anchored pre-theoretically. Without some form of proof that its critical perspective is reinforced by a need or a movement within social reality, Critical Theory cannot be further pursued in any way today [. . .]. (Honneth 2007b, p. 66)

The significant critical/hermeneutic task for Honneth, then, is to expose the category of social reality in a way that will permit the rediscovery of its ‘intermundane element of transcendence’ in order to ensure a ‘social foothold for critique’ that will make it possible ‘to enter into a reflexive relationship with pre-theoretical praxes’ (Honneth 2007b, p. 67). In any case, Honneth’s interpretation of neo-capitalism and most of his findings are essentially similar to the main body of the criticism of web capitalism reviewed here. Honneth is similarly of the opinion that neo-capitalism is rife with contradictions, as reflected by modes of operation and action that are relatively free of late capitalism’s edicts insofar as they are based, as described earlier, on a language of

The term „auto-poietically“ used here by Honneth is probably related to „autopoiesis“, which refers to a system capable of reproducing and maintaining itself. The term was introduced in 1972 by Chilean biologists Humberto Maturana and Francisco Varela to define the self-maintaining chemistry of living cells.

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solidarity and sharing and on a yearning for self-realization. His critical theory of contemporary capitalism breaks with these critiques, however, when he claims that the erosion of emancipatory significance cannot be explained using the dialectics between the colonizing system and the subject but only through the existence of a continuous paradox. In other words, no longer the ‘[. . .] colonizing attack of capitalist imperatives on the action model of the lifeworld’ (Hartmann and Honneth 2006, p. 46.), but neo-capitalism as a paradoxical ideology that manages to raise justifications for inequality and injustice based on an individualistic emancipatory vocabulary. The grounding for his countering of denunciatory social theories, precisely in the sense that it may pave the way for an emancipatory sphere of action, Honneth finds, at least partly, in Jürgen Habermas’ communication theory, which he believes stands to revitalize Horkheimer’s ideal of social criticism. This goal can be achieved, he says, [by] shifting from the Marxist paradigm of production to the paradigm of communicative action, within whose framework it should become clear that the conditions of social progress are located not in social labor but in social interaction. (Honneth 2007b, p. 67)

Habermas’ theory of society assumes that the contemporary world, with its various independent systems, threatens the communicative achievements of the lifeworld [Lebenswelt] to the extent that the human potential for linguistic comprehension is beginning to diminish. At first glance, Habermas’ theory seems to echo the denunciatory approaches of contemporary critical theory; those theories that claim that powerful systems (such as technology) have broken free of their previous dependence and now threaten the social core through their ‘colonization’ of the world with systems that follow a utilitarian rationality. The difference in Habermas’ approach, however, is that he shifts the critical effort from the paradigm of production to the paradigm of communication, thereby exposing a real social sphere. This is because he claims that in the communicative-linguistic act, subjects are supposed to meet and challenge normative expectations, thereby providing a source of moral demands that are the prerequisite, or ‘pre-theoretical praxis’, of any social critique. Honneth clarifies Habermas’ unique approach by way of comparison: Whereas Horkheimer saw capitalist relations of production as setting unjustified limits on the development of the human capacity for labor, Habermas sees the social relations of communication as putting unjust restrictions on the emancipatory potential of intersubjective understanding. (Honneth 2007b, p. 69)

Yet according to Honneth, the emancipatory potential that Habermas’ socialcommunicative theory is supposed to reflect is not expressed in the moral experiences of the involved subjects. Moreover, Habermas’ conception ‘[. . .] is not aimed [. . .] at giving expression to an existing experience of social injustice’ (Honneth 2007b, p. 70). A possible remedy for this problem of the disruption between praxis and theory lies, according to Honneth, in interpersonal theory, according to which

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ethical experiences do not necessarily suffer from linguistic-communicative restrictions, but rather are shaped by an infringement upon real identity claims that arise repeatedly in socializing situations. Thus, the experience that can really be defined as pre-theoretical praxis is always located in a person’s expectations of receiving recognition of his worth and achievements from a fellow human. Obtaining social recognition is therefore a prerequisite of any communicative act, since [. . .] subjects encounter each other within parameters of the reciprocal expectation that they be given recognition as moral persons and for their social achievements. (Honneth 2007b, p. 71)

Honneth therefore proposes basing critical theory on the communicative paradigm, which is founded not exclusively upon linguistic theory, as it is for Habermas, but rather on a theory of granting recognition. Once ‘pathologies of recognition move to the center of critical diagnosis’ (Honneth 2007b, p. 71), the criticism’s aim ought to change. The focus of interest can no longer be the tension between system and lifeworld, but the social causes responsible for the systematic violation of the conditions of recognition. Critical social theory must shift its attention from the self-generated independence of systems to the damage and distortion of social relations of recognition [. . .]. (Honneth 2007b, p. 72)

Honneth enumerates three levels of recognition: the first, love, encompasses close relations such as love and friendship; the second, respect, includes the acknowledgement of rights in general, and especially legal rights, without which the subject cannot cultivate self-respect; and the third, esteem, involves the social appreciation for achievements and personal merit upon which self-esteem is conditional. For the purpose of this article, I will focus only on the last dimension of recognition, within which a person is measured by his contribution to the world of work and action. Work in the current neo-liberal era is different from work as known by Adorno and Horkheimer, as emerges in the brilliant and comprehensive analysis conducted by Honneth with Martin Hartmann, his co-author of the article ‘Paradoxes of Capitalism’ (2006). According to them, capitalism has always been a dynamic and adaptive social order insofar as it allowed subjects to demand a fulfillment of the promise of individualism based on the prospect of achieving autonomy and authenticity. The neo-liberal revolution has greatly intensified this possibility via the promises embodied in ‘the new spirit of capitalism’, which, as shown above, has been described and analyzed extensively by Boltanski and Chiapello. Hartmann and Honneth concur with Boltanski and Chiapello and indeed further clarify and underscore the ways in which capitalism has managed to harness to production processes human resources that had not heretofore been taken as an integral part of the work world. This includes employees’ free time, leadership, creative joy, pleasure, and personal initiative, which are above and beyond what is traditionally required of an employee. As a result, an increasing number of workers

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no longer perceive their work as a fulfillment of the traditional and necessary obligation to earn a living, nor do they view it as part of the ethical foundations of society; instead, work has come to be seen as a step on the way to individualistic selfrealization. Consequently, a new and problematic image of work and vocation in the work world has emerged whereby subjects are supposed to relate to ‘work’ as a series of projects that embody the realization of a ‘calling’. Workers in many different sectors are blatantly required to manifest creative skills and to invest mental and spiritual resources in their work, in return for which they are supposed to gain recognition as an accomplished individual. Though this reward itself needs to be qualified, since workers typically no longer receive respect for work performed or skills mastered in the past, but only for capabilities they demonstrate here and now. Thus, in a world based on random networks and temporary projects, the degree of uncertainty regarding the personal and social value of subjects and the fruits of their work grows, and this motivates them to fight for attention as well as to seek acknowledgement for their achievements, their qualities, and their personal capabilities beyond the professional work sphere. In Honneth’s opinion, social-critical theory has a hard time accounting for or indeed acknowledging this predicament because it has traditionally denied the emotional aspect of action and because it fails in evaluating types of work performance that do not fit into the functional definition of ‘work’, such as the complex web of roles and work related to child-rearing and housekeeping. Hence, even in neo-capitalism there still is a rather traditional cultural definition of the concept of work, which is distinctly functional, especially when it comes to acknowledging action/work that does not fulfill all the familiar criteria of social work. Unfortunately, Honneth does not develop this line of thought; aside from the example of domestic work, which received extensive treatment in the discourse that evolved around Honneth’s project on work and gender or on the links and contradictions between ‘family work’ and ‘gainful employment’, he barely addresses non-paid work and the sphere of leisure activity as an acknowledgeable resource (See Rössler 2007, pp. 135–163). Furthermore, in certain cases the struggle for attention outside the work world – for example, in the world of mass entertainment – involves (even if Honneth does not say so overtly) clear elements of disrespect, alluded to in the dissatisfaction that Honneth expresses with regard to the participation of too many people in ‘[. . .] innumerable exhibitionistic television talkshows’ (Hartmann and Honneth 2006, p. 50). The question is then whether in the neo-liberal world, which demands infinite flexibility at work as a condition for self-realization, we must assume that it is difficult, indeed almost impossible, to win recognition for achievements in meaningful free leisure activities. It seems that the first signs of a possible answer are provided by Honneth himself when he portrays the uncompromising demands imposed on the subject in the era of new individualism: Increasingly prevalent is also the tendency of expending a great deal of mental energy on so-called leisure activities, which, however, are no longer experienced as bringing recuperation or release from the working day’s demands, but are instead seen to comprise the experimental attempt to define the dimensions of one’s own self. (Honneth 2004, p. 471)

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Which activities is Honneth referring to here? Is he referring to the growing variety of forms of unpaid audience-work carried out in the subject’s free time? These activities, as aforementioned, do not contradict the needs of neo-capitalism and have even become a production force within web economy. And perhaps he is referring to the mentally intensive modes of leisure activities, the ‘serious’ ones as defined above by Adorno, which are carried out with no intention, direct or indirect, for profit, and which enable acknowledgement of an autonomous self? At least methodologically, it seems that Honneth himself provides hints as to how we ought to go about attempting to answer these questions. For if the aim of a theory of acknowledgment is to create a ‘reflexive relationship with pre-theoretical praxes’, as Honneth has suggested, it follows that our focus out to be on the ‘quasi-sociological’ attempt to identify the wish for emancipation within social reality itself, or to identify it, as suggested by Thomas McCarthy: “[. . .] by reconstructing the normative presuppositions of interaction with the help of ethnomethodology” (Honneth 2007b, p. 71). (See also McCarthy 1994.) Honneth’s sociological insight, which is an integral part of his project, highlights the fact that an adequate critical theory can no longer avoid reconstructing the subjects’ normative assumptions, using the main tool that ethno-methodology has to offer, namely, the report, or the testimony. This is because ethno-methodology takes into account the objective realness of social facts that are reflexively reportable by each member of society. A report is the manner in which people explain, praise, justify, complain about, and criticize life situations and interpret the world in which they live. In this spirit, I propose examining the nature of web players’ leisure activities and free-work, their lifeworld, through the prism of ‘serious leisure’ (a concept to which I will return shortly in greater detail), and in particular, to listen to the way in which leisure agents/amateurs, as consistent participants in purposeless leisure projects, report on their activities, both amongst themselves and to objective observer. In this way, the question of whether particular players do indeed experience themselves as receiving recognition and social respect for their contribution to a joint project, or whether conversely, they find themselves in a position of non-recognition and disrespect, can be examined. Testimonies regarding the seeking and granting of recognition, which reflect human intentions and yearnings, are that which ought to guide the critical efforts to focus on and identify the basic conditions that preclude the possibility of granting recognition.

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Serious Leisure: Between Homo Otiosus and Homo-Economicus

While these ideas about the possibility of leveraging Honneth’s theory of recognition to explain the concept of serious leisure in the context of the internet are indeed only preliminary, I believe they carry the potential to enable an alternative evaluation of significant leisure activities in general and of internet leisure players in particular. By this, I mean to refer to those activities that can be defined as ‘serious leisure’, a concept coined by Canadian sociologist and leisure researcher Robert Stebbins as

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early as the 1970s and which he has continued to develop methodically to this day. According to Stebbins, [s]erious leisure is the systematic pursuit of an amateur, hobbyist, or volunteer activity sufficiently substantial, interesting, and fulfilling for the participant to find a (leisure) career there acquiring and expressing a combination of its special skills, knowledge, and experience. (Stebbins 2007, p. 5)

The concept of ‘serious leisure’ should be understood as distinct, first and foremost, from the ‘casual leisure’, which is defined by Stebbins as [. . .] the immediately, intrinsically rewarding, relatively short-lived pleasurable activity, requiring little or no special training to enjoy it’ (Stebbins 2007, p. 5). Also, it is distinct from the concept of ‘project-based leisure’, which is defined by Stebbins as ‘[. . .] short-term, reasonably complicated, one-shot or occasional, though infrequent, creative undertaking carried out in free time, or time free of disagreeable obligation’ (Stebbins 2007, p. 5). Stebbins delineates five main attributes that differentiate between serious leisure and the other forms. The first attribute is necessity and the need to pursue the hobby persistently, to solve problems and to cope with difficulties and distresses, some of which are external to the hobby and some of which are inherent to the activity itself. The second attribute is revealed through the aspiration on the part of many participants to cultivate a career of sorts, but one that remains always within the bounds of the world of hobbies and leisure, with no pretense of crossing over into the professional field. The third attribute is the ongoing personal effort of each participant to acquire knowledge and expertise in their field of activity, with the players’ rhetoric usually emphasizing that the relevant knowledge has been attained outside of any formal system: it is knowledge that is the evident product of independent learning, often carried out in less than favorable conditions. The fourth attribute is located in the communal sphere. ‘Serious leisure’ agents meet in communities or social networks that have what Stebbins calls a ‘unique ethos’ that defines them. These social networks are made up largely of the amateurs themselves, but also of outsiders, including professionals who come to observe the leisure-products. The latter comprise an audience whose presence is vital to these social network insofar as it infuses the activity of ‘serious leisure’ with normative characteristics of value. This attribute is closely associated with the fifth attribute, which defines serious leisure as an activity characterized by a high level of identification between the participant’s self and the hobby activity as a source of selfesteem. Systematic participants in serious leisure hope to cultivate self-esteem far more than they seek pleasure. In their hobby they find the kind of sense of pride that Cicero might well have had in mind when he coined the expression ‘Otium cum dignitate’ (leisure with dignity).12 12

The literature that addresses the complexity of this expression, its sources, and its place in the political tradition of the republic is rich and long-standing. Cf., Wirszubski and Cicero 1954, pp. 1–13.

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These clear attributes of serious leisure activity allow us to use this concept as a litmus paper of sorts for distinguishes between the different hues that comprise the spectrum of unpaid work. It will be thus possible to identify different forms of leisure activities and to evaluate the extent of acknowledgment that the subject can receive for them, or conversely, to identify what Honneth calls ‘pathologies in recognition’, that is, the disrespect or false recognition that these activities might evoke. The qualitative difference between serious leisure agents and those engaged in unpaid work can be illustrated through two examples, which, though they are not based on an empirical sociological study, are well known both at the phenomenological level and in daily popular web discourse. I am referring to the varied group of journalism bloggers on the one hand, and the science enthusiasts who are active on the web on the other. Turning to the first group, we may observe that the writers of journalism blogs who are active in the field of independent web media are strictlyspeaking considered ‘amateurs’ insofar as they act under the ethos of ‘non-work obligation’, and that most of them fulfill all five of the basic criteria of ‘serious leisure’; and yet it would be incorrect to classify them as serious leisure agents, since they are ‘propelled’ beyond the realm of those defined as ‘Homo Otiusus’ (Stebbins 2013, p. 19).13 Based on their own testimonies, they do not make do with their marginal status as amateurs and do not renounce the professional pretense, but rather wish to act within the journalistic field and to apply action strategies that are characteristic of newcomers to the field, as Pierre Bourdieu has already shown (Bourdieu 1993). For example, they present their web praxis as a return to the origins of journalism and themselves as a subversive alternative to the backsliding journalistic vocation. (Symptomatic of this ‘subversive’ spirit is, to take one example of many, the title of a popular 2007 non-fiction book by the blogger and law professor Glenn Reynolds (2007): An Army of Davids: How Markets and Technology Empower Ordinary People to Beat Big Media, Big Government, and Other Goliaths.14) It turns out, then, that in order to receive recognition and avoid the kind of disrespect often shown ‘amateurs’, these agents choose to act within the ideal world of neo-capitalism while subordinating themselves to the ideal of self-realization and to the ideology of web industry. Paradoxically, they strive to be non-conformist by way of conformism. They adopt a self-perception precisely to the expectations of the web culture industry: instead of the traditional journalist employed by the established media, they present the new-journalist as an ideal type that befits the web production system. In other words, instead of an ‘employee’, we have an indepen-

“Homo Atiosus versus Leisure Man: These two are synonymous, with “man” being the standard translation into English for homo. Nonetheless, in English, “leisure man” carries some gender relations baggage that we avoid when using Homo Atiosus” (Stebbins 2013, p. 20). 14 A law professor at the University of Tennessee, Reynolds is also known as the blogger Instapundit. An Army of Davids celebrates the network society as a site that empowers individuals vis-à-vis social institutions. 13

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dent entrepreneur acting outside the old system of work relations; instead of a ‘worker’ – a self-managing, autonomous homo economicus.15 The recognition accorded this independent writer, however, is not social in the fullest sense of the word; it is not, in this case, merely instrumental but ideological recognition insofar as it serves the creation and maintenance of an individual selfperception that sits well with the prevailing system of work distribution. And so, subjects gradually lose their ability to forge long-term relations with colleagues in the same line of work, who are an authentic source of acknowledgment.16 Reciprocal relations, interactions, and even the very granting of ‘recognition’ thus become a type of commodity. Consequently, argues Honneth, drawing here on the French psychologist Alain Ehrenberg, [. . .] the permanent compulsion to draw the material for an authentic self-realization from their own inner lives requires of individuals an ongoing form of introspection which must sooner or later leave them feeling empty [. . .]. (Honneth 2004, p. 475)

Similarly, Boltanski and Chiapello pessimistically point out (in The New Spirit of Capitalism) that this new individualism, designed to satisfy the needs of a work world that favors short-term projects, turns into a system of uncompromising demands placed on the individual to the point of becoming a burden. Honneth claims that in this case we are dealing with [. . .] forms of recognition that must be regarded as being false or unjustified because they do not have the function of promoting personal autonomy, but rather of engendering attitudes that conform to practices of domination. (Honneth 2007a, p. 325)

The commodification embraced willingly by the bloggers described above suggests that theirs is not an instance of the autonomy of unpaid work, but rather of heteronomy. That is to say, that the inclusive totality of the web economy causes unpaid work to abide by a set of values that is alien to its essence as free action guided by use value and which subordinates it instead to the rules of exchange value. The same is not true of the second group of agents, however. Whereas the activity of journalism bloggers highlights the ideologically ‘alternative’ dimension of their practice and the blurring of the line between producer and consumer, neither attribute is manifested in the domain of scientific knowledge collected, produced and distributed by amateurs. The term ‘science enthusiasts’, to be clear, refers not to fans or 15

The economic aspect of the blogosphere is attested by the abundance of articles and popular guidebooks that instruct the beginner blogger on how to generate income from blogs (and social media in general). One example among many is Duane Forrester and Gavin Powell (2007). 16 Honneth is, of course, well aware that the distinction between ideological recognition and justifiable forms of recognition is a complex matter. Therefore, he writes: „As long as we have no empirical evidence that the concerned parties themselves experience particular practices of recognition as being repressive, constricting or as fostering stereotypes, it is extremely difficult to distinguish between ideological and justified forms of recognition in any reasonable way“ (Honneth 2007a, p. 327).

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fanciers, but to amateurs in the full sense of the word: individuals who in their very essence neither can nor want to act as a professional or even as a pseudoprofessional. In other words, an amateur scientist is someone for whom doing science is an active and productive hobby, or, as we shall subsequently see, a methodical practice of serious leisure.17 Yet the clearest attribute in the case of science enthusiasts is the presence of a genuine tension, an inherent gap, between the professional and the amateur, so that a complete blurring of the lines between producer and consumer is impossible. In this sense, science enthusiasts who act within scientific-social media are an excellent test case for understanding the autonomous dimension of serious leisure, since as marginal players in the scientific field they do not wish to be ‘scientists’, do not partake in field struggles, and do not presume to offer an alternative to the scientific field’s core activity. Before we focus on the science enthusiast as a serious leisure agent, it is worth pausing briefly to note that the questions surrounding the practice and status of science enthusiasts form part of a broader discourse that has emerged over the last three decades about ‘citizen science’. This debate evolved as a response to the challenge mounted by the various social networking services and the Internet as a whole to the policy of total segregation between formal scientific activity and publication, on the one hand, and the informal and interpersonal network of scientific communication on the other (Lievrouw 2010, p. 220). (See also Wagner 2009; and Wiggins and Crowston 2011). In the spirit of the unbridled optimism of networking ideology, it has been claimed that an essential transformation is underway in the very way in which scientific knowledge is formed, arranged and distributed. No longer the exclusive purview of established ‘big science’, knowledge arisen within an informal global scientific network. And thus, thanks to the network’s unique qualities, a ‘new invisible college’ has been established that allows for an unprecedented level of accessibility and sharing. The scientific world is therefore expected to shift gradually from a relatively hermetic system of gatekeepers to an open and decentralized system based upon collaborations, reactions, critiques, and modifications. The discursive interactivity that characterizes scientific communication on the internet has been perceived by many as a clear sign of the democratization of science and the revival of ‘small-science’ (Lievrouw 2010, p. 220, see also de Solla Price 1963). To those who hold this view, the changes described above are an exciting historic process wherein ‘collective intelligence’, ‘mass wisdom’, and even ‘mass amateurism’ herald the arrival of ‘citizen science’. Indeed, initiatives in a variety of research fields, including astronomy, the climate sciences and ecology, genome research and botany, have applied sharing practices in order to carry out tasks that usually require many human resources. Evidence of the excitement surrounding this trend is contained, for example, in a 2002 article by the famous senior physicist Freeman Dyson in which he claimed that in the Baconian stage of science, when the world is

The activity of science enthusiasts can be included in the category that Stebbins calls „liberal arts hobby“: „the systematic and fervent pursuit during free time of knowledge for its own sake“ (Stebbins 2001, p. 29).

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discovered through observation and gathering, ‘amateurs and butterfly collectors are in the ascendant’. The work of amateurs is vital, he argues, and without it, Cartesian science, which is driven by ideas and creates theoretical hypotheses and mathematical models, will not flourish. To Dyson’s mind, the most important tools for this endeavor today are the personal computer and the net, which provide not only the scientist but also the amateur (or as Dyson justly prefers to call him or her, the ‘serious amateur’) access to scientific texts and to arguments even before their publication within the closed field of scientific journals, permitting ‘amateurs from all over the world to communicate and work together’ (Freeman 2002, pp. 4–8).18 Dyson recognizes, for example, the special contribution that these ‘serious amateurs’ through network initiatives to the methodical monitoring of dust storms on Mars, the calculation of asteroid occultation times, and the discovery of new comets. Amateurs have contributed to the public their talents of observation and their perceptiveness, but to Dyson, they also provide the public and science with something else, no less important, namely the very ability to collaborate amongst themselves, which constitutes a social and ethical value in itself. Indeed, Dyson notes that within each of these initiatives and on their sidelines flourish multiple communities and networks whose participants meet, exchange opinions, assist one another, and evaluate findings and observations together. Its optimism and even utopianism notwithstanding, Dyson’s rhetoric highlights something essential: the unique importance of the ‘serious amateur’ within the digital culture industry, and the promise it holds for a less functionalistic perception of the concept of work. The serious amateur’s renunciation of the desire to be a real scientist or to guarantee that his work be acknowledged as real science echoes the somewhat utopian renunciation of a profession as a role for life alluded to by Marx Engels in The German Ideology: [. . .] and thus makes it possible for me to do one thing today and another tomorrow, to hunt in the morning, fish in the afternoon, rear cattle in the evening, criticise after dinner, just as I have a mind, without ever becoming hunter, fisherman, herdsman or critic. (Marx and Engels 1964, pp. 44–45)

The serious amateur thus teaches us that in every site of cultural production whose basic conditions allow for the practice of serious leisure, a player can seek recognition and receive it; not necessarily from professional circles, but from other players who act alongside him in the same environment and take his activity to be of social value. For within such a system it becomes possible to cultivate the ‘unique 18

Dyson, praising the book Seeing in the Dark: How Backyard Stargazers Are Probing Deep Space and Guarding Earth from Interplanetary Peril (New York: Simon and Schuster 2002), by Timothy Ferris, writes of „[. . .] a serious amateur astronomer (who) spends a substantial amount of his time and money roaming around at night among planets and stars and galaxies. He owns a place called Rocky Hill Observatory in California where he can stargaze to his heart’s content through telescopes of modest size and excellent quality. He belongs to the international community of observers who are linked by the Internet as well as by the shared sky in which they are at home“ (Freeman 2002, New York Review of Books, Vol. 49, No.19).

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ethos’, or joint interest, that maintains a community of serious leisure players as a framework whose members can each gain a sense of self-esteem for their achievements, efforts, and contributions to the joint interest independently of professional value judgments (these judgments, as is well known, never being fully free of practices of control and expressions of disparagement). Thus it is not a psychosocial explanation relying on some vague notion of ‘belonging to something bigger than oneself’ that accounts for the motivation of the serious amateur, nor the abstract and widespread concept of ‘sharing’, so much as the need for spontaneous peerrecognition as expressed through direct communicative acts amongst players. It is a recognition granted in response to expressions of vitality, or in Honneth’s words, recognition that ‘[. . .] represents a moral act anchored in the social world as an everyday occurrence’ (Honneth 2007a, p. 239).

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Conclusion

This form of recognition accorded the serious leisure player or the serious amateur, then, provides us with a key for resolving the difficulty embedded in the criticism sounded by political economics, which unwittingly identifies free work and all leisure activity with the audience work that is indeed imposed by neo-capitalistic ‘ideological violence’. The humanistic vision of serious leisure activity, as implied by Adorno’s personal confession, stands to contribute to the foundation of a critical theory that goes some way toward correcting this overly functionalistic view, which voids the concept of un-alienated free work of its emancipatory potential. Moreover, such a theory will help provide a way out of the determinism of recursive dialectical approaches that make sweeping claims about the link between de-alienation and a greater exploitation of human work, whether free or unfree. Assumptions of this kind are usually related inversely to a theory’s ability to understand the possible advancement of a culture of mutual recognition in a world that no longer associates work exclusively with the principle of gainful employment.

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The Counterculture Industry Queering the Totalitarian Male Physique in the Pet Shop Boys’ Go West and Lady Gaga’s Alejandro Gilad Padva

Abstract

Whereas Neo Marxist thinkers regularly focus on the hegemonic heterosexual Culture Industry, the idea that a counterculture can constitute and maintain its own profitable Culture Industry is generally unrecognized. This essay problematizes two popular countercultural music videos: the Pet Shop Boysʼ “Go West” which ironizes the Soviet fetishization of muscular male physique, and Lady Gagaʼs “Alejandro” which erotically objectifies the athletic bodies of fascist soldiers and their quasi-Nazi regalia. This essay suggests that the totalitarian male bodies in these music videos, however, are not only commercialized and objectified but are also inverted and subverted. Keywords

Culture Industry · Queer theory · Male body · Pet Shop Boys · Lady Gaga

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Introduction

“Culture has always contributed to the subduing of revolutionary as well as of barbaric instincts,” Max Horkheimer and Theodor Adorno (1997 [1944]) note in their Dialectic of Enlightenment (p. 123). The intricate relationship between culture, dissidence, destruction and deconstruction of social orders is particularly embodied in modern gay male culture and its commercialized eroticization of the male physique. The prevalent homoerotic cult of male beauty, often criticized as “body fascism”, glorifies controversial masculine subcultures, including authoritarian machismo. Notably, subcultural admiration of stylized leather uniforms, martial accoutrements and belligerent parades of muscular bannermen does not mean an immediate adoption of destructive G. Padva (*) Faculty of Social and Cultural Sciences, Beit Berl College, Beit Berl, Israel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 U. H. Bittlingmayer et al. (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12695-7_71

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ideologies which are connoted with totalitarian, barbaric and homophobic forces. Still, an explicit gay appropriation of such controversial imageries provokes a communal debate about the ethical and political responsibilities of contemporary gay culture as an increasingly profitable counterculture industry. In her critical commentary “A Queer Eye for Nazi Guys,” published in the British newspaper The Guardian, the influential queer scholar B. Rubi Rich (who coined the term New Queer Cinema in 1992) problematizes the 2004 London Lesbian and Gay Film Festival (LLGFF) decision to include Leni Riefenstahlʼs Nazi film Olympia in its program. Rich totally condemns the inclusion of this notorious film, a spectacular celebration of the (Aryan) male physique, in this queer film festivalʼs schedule. Apparently, this film be reinterpreted in a playful, campy, ironic and countercultural manner (a homoerotic black-and-white Arcadian celebration of athletic torsos, muscular thighs and swaying penises), in contrast to its original fascist, dystopian meaning. Yet, Rich insists that Olympia remains “a Nazi glorification of a physical ideal attained by editing out the unfit (Rich 2004).” She explains that “the athleticism attained through euthanasia and extermination of queer and Jewish and Catholic and Gypsy bodies, among so many others. Put that way,” she adds, “I wager, the spectacle is not so sexy (ibid.).” Notably, a campy reading of Olympia primarily means an ironic, theatrical and dissident perspective on this film and subverting, rather than confirming Riefenstahlʼs corporeal justification of the atrocious Nazi regime and its dreadful ideology. In response, however, the LLGFF programmers at BFI (the British Film Institute) claim that what Rich interprets as camp appropriation, they regard as “an important opportunity for audiences to explore the issues these works raise (BFI’s LLGFF programmers, 244).” The festival programmers clarify in a letter to the Guardian that they do not wish to endorse Riefenstahlʼs project. “Rather,” they ambiguously add, “to situate ideas about body image within a political and aesthetic history (ibid.).” Whether the programmersʼ somewhat enigmatic labor of “situating ideas” should be appreciated or not, I believe that this public debate within the queer community demonstrates the intricate relationship between the mainstream Culture Industry, dissident reading of its cultural products, and the emergence of a Countercultural Industry (subaltern communitiesʼ cinemas, festivals, media and arts which are often highly profitable) – a multi-layered, often contradicted phenomenon which is initially theorized in this essay in a queer perspective. The idea that a counterculture can constitute and maintain its own (counter) culture industry is generally unrecognized by cultural scholars. Neo Marxist thinkers regularly focus on the hegemonic, mainstream culture industry (Kulturindustrie, according to the Frankfurt school) and its commercializing and cooptative, voracious mechanisms. The Frankfurt School were one of the first neo-Marxist groups to examine the effects of mass culture and the rise of the consumer society on the working classes which were to be the instrument of revolution. According to Douglas Kellner (2002), they also analyzed the ways that the culture industries and consumer society were stabilizing contemporary capitalism “and accordingly,” he notes, “sought new strategies for political change, agencies of social transformation, and models for political emancipation that could serve as norms of social

The Counterculture Industry

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critique and goals for political struggle” (p. 17). Controlled by giant corporations, the culture industries were organized according to the limits of mass production, manufacturing products that generated “a highly commercial system of culture which in turn sold the values, lifestyles and institutions of American capitalism” (Kellner 2002, p. 18). According to the Frankfurt Schoolʼs members Max Horkheimer and Theodor Adornorʼs Dialectic of Enlightenment (1997 [1944]), culture industrialists attempt to distribute their products to the broadest audiences in order to increase their profits. To accomplish their task, they must appeal to the lowest common denominator and adhere to the simplest and most vulgar formulas. Any appearance of spontaneity, originality or innovation diverging from the mainstream immediately confronts resistance from the economy. Any attempt to digress from the accepted signification is confronted with problems of financing, marketing and distribution. This is the sphere of business rather than of transcendence; of industrialization rather than inspiration; and of consumption rather than art. Horkheimer and Adorno (1997 [1944]) maintain that reproduction mechanisms flood the culture consumer with multiple variations of the same themes according to the same standard that the industry submits to the vote which it has itself generated. Furthermore, “By craftily sanctioning the demand for rubbish it inaugurates total harmony” (p. 134). The homogenizing regime of capitalism primarily yearns to produce uniform desires, tastes and behavior in what might be seen as the end of the individual. As Adorno (1990 [1975]) notes in his critique of the capitalist ideology, “in a supposedly chaotic world, [ideology] provides human beings with something like standards for orientation” (p. 279). Democratic pluralism, in this context, is revealed as camouflage for the particular interests of the dominant group. The ruling class imposes a consensus manufactured according to its own needs. Individuals and groups who are marginalized by the consensus, politically and culturally, find it difficult, often impossible, to bear the contradiction between the dominant representation and their own representation and identification (Padva 2000). Consequently, alienation increases and counter-subcultures and counter-praxis are constituted. Antonio Gramsci (1990 [1971]) maintains that “creating a new culture does not only mean oneʼs own individual ‘originalʼ discoveries. It also, and not particularly,” he claims, “means the diffusion in a critical form of truths already discovered and their ‘socializationʼ as it were” (p. 49). Horkheimer and Adorno (1997 [1944]) regard television as particularly hybridized medium of the culture industry, a medium that aims at a synthesis of radio and film, “and is held up only because the interested parties have not yet reached agreement, but its consequences will be quite enormous and promise to intensify the impoverishment of aesthetic matter so drastically, that by tomorrow the thinly veiled identity of all industrial culture products can come triumphantly out into the open, derisively fulfilling the Wagnerian dream of the Gesamtkunstwerk, the fusion of all the arts in one work. The alliance of word, image, and music,” they add in The Dialectic of Enlightemnment, “is all the more perfect than in Tristan because the sensuous elements which all approvingly reflect the surface of social reality are in

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principle embodied in the same technical process, the unity of which becomes its distinctive content” (cited by Kellner 2002, p. 18). In particular, the Frankfurt School criticizes stereotyping in television, ‘pseudorealism’, and its highly conventional forms and meaning. Herbert Marcuse, in his seminal work One-Dimensional Man (1964), claims that the silliness of commercial radio and television confirm his analysis of the individual and the demise of authentic culture and oppositional thought, portraying television as part of an apparatus producing the thought and behavior needed for the social and cultural reproduction of contemporary capitalist societies.

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Problematizing the Capitalism’s Oppositional Moments

John DʼEmilio (1983) notes that capitalism and the institution of wage labor have created the material conditions for homosexual desire and identity. Yet, capitalist enterprise creates a tension: materially it “weakens the bonds that once kept families together,” but ideologically it “drives people into heterosexual families.” Hence, “while capitalism has knocked the material foundations away from family life,” D’Emilio contends, “lesbians, gay men, and heterosexual feminists have become the scapegoats for the social instability of the system” (p. 109). In her analysis of “Commodity Lesbianism,” inspired by DʼEmilioʼs critique, Danae Clark (1993 [1991]) notes that the result of this tension is that “capitalists welcome homosexuals as consuming subjects but not as social subjects” (p. 195, emphasis added). The ambivalent attitude of the heteronormative American society and its capitalist Culture Industry towards sexual minorities is problematized by Sherry Wolf, in her introduction to Sexuality and Socialism: History, Politics, and Theory of LGBT Liberation (2009). Wolf exposes a significant contradiction that pervades the politics and culture of U.S. society regarding lesbian, gay, bisexual, and transgender (LGBT) people in the 2000s. On the one hand, top-rated TV shows and Academy Awardwinning movies, such as Will and Grace, The L Word, and Milk, portray gays and lesbians in a favorable light. On the other hand, federal and most state legislation in America denies equal marriage, workplace, and civil rights protections for sexual minorities. “Rates of violence against LGBT people remain alarmingly high, including incidents of murder,” Wolf claims. “This contradiction is a product of both the emergence in modern capitalism of greater sexual freedom to form sexual identities outside the traditional family,” she explains, “and capitalismʼs continued need to reinforce gender norms that bolster the ‘nuclearʼ family” (p. 9). Renate Lorenz (2012) suggests that a radical queer politics requires us not only to propose images and living strategies for alternative sexualities and genders, “but also to promote all kinds of economic, political, epistemological, and cultural experiments that see to produce difference and equality at the same time” (p. 17). Lorenzʼs criticism echoes Larry Gross (2001) who notes that we are all colonized to some degree by the majority culture. “Those of us who belong to one minority group or another will inevitably have absorbed many mainstream values,” he suggests, “even when they serve only to demean us” (p. 17). Gross remarks that in the case of sexual

The Counterculture Industry

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minorities, however, there have been responses to the mediaʼs hostile treatment of sexual minorities that represent degrees of subversion and resistance. “Ultimately,” he explains, “the most effective form of resistance to the hegemony of the mainstream is to speak for oneself, to create narratives and images that counter the accepted, oppressive, or inaccurate ones” (Lorenz 2012, p. 19).

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Commercialized Queers and Profitable Countercultures

Kevin Floyd, in his book The Reification of Desire: Toward a Queer Marxism (2009), understands Marxism and queer theory as forms of critical knowledge, as critical perspectives on social relations that operate from a subordinated situation within those relations (p. 3). In a highly hostile world that demands sexual conformity and does not tolerate erotic transgressions, persecuted minorities create a counterculture with its own values, symbols, and beliefs, reflecting their membersʼ quest for a countercultural haven in an alienated, unsafe, and homophobic world, traumatized by the AIDS crisis, for example, as much as violent attacks and hate crimes (see Padva 2014). Alan Sears (2005) stresses, however, that open lesbian and gay life has thrived primarily in commodified forms: bars, restaurants, stores, coffee shops, commercial publications, certain styles of dress and personal grooming, commercialized Pride Day celebrations with corporate sponsorship. “The early period of the PostStonewall movement saw a variety of non-commercial spaces opened up,” he notes, “such as community centers, non-profit publications (e.g., Body Politics and Gay Community News), community dances or movement gatherings.